Der Nähe so fern von Elster (Yohji & Aya) ================================================================================ Winterschlaf ------------ Wecke nie ein Tier im Winterschlaf. Es gibt Dinge, die sich beschleunigen lassen und Dinge, die das nicht tun. Die Schwierigkeit ist wie immer nur das Unterscheiden. „Und in schlechten Zeiten, wenn es kalt ist und sie kein Futter finden, dann legen sie sich schlafen, bis es Frühling wird...“ Aya ist mir ein Rätsel. Er sieht wirklich selten fern, aber wenn er es tut, überrascht einen die Wahl der Programme. Ich weiß nicht genau, was man von ihm erwarten würde. Vielleicht, dass er sich Samurai-Filme ansieht oder die Kendo-Weltmeisterschaften. Möglicherweise tut er das auch, aber ich habe ihn noch nie so etwas gucken sehen. Es ist selten, dass er fernsieht und wenn er es tut, dann scheinbar nie mit dem Ziel, eine bestimmte Sendung anzuschauen. Wenn einer von uns anderen fernsieht, bleibt Aya manchmal und schaut mit. Oft die Nachrichten, ab und zu Filme. Viele Programme interessieren ihn so wenig, dass er sich mit einem Buch dazusetzen kann. Ich finde das erstaunlich, weil mich alles, was im Fernsehen läuft vom Lesen ablenken kann, aber Aya hat ohnehin ein beeindruckendes Konzentrationsvermögen. Wenn er selbst auf den Gedanken kommt, den Fernseher einzuschalten, dann zappt er solange rum, bis er irgendwo hängen bleibt und sieht die Sendung dann bis zum Schluss. Ich habe das ab und an erlebt. Am meisten erstaunte mich, als ich ihn dabei erwischte, eine amerikanische Talkshow anzusehen. Ich bin geblieben, um herauszufinden, warum er sie interessant findet, aber es war nichts besonderes. Ein Thema nach dem Muster „Mein Freund betrügt mich mit meiner besten Freundin – ich mache Schluss!“ Als ich ihn gefragt habe, warum er das sieht, hat er etwas verwirrt gewirkt. Vielleicht hat er nicht wirklich die Sendung gesehen, sondern seinen eigenen Gedanken nachgehangen. Ich finde es wieder erstaunlich, dass er das kann. Ich sehe Fernsehen, gerade weil ich dann keine Gelegenheit habe, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Auf meine Frage hin hat er mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass er diese Leute nicht versteht. Ich meinte, dass man die Untertitel lesen müsse, wenn man kein Englisch kann, aber er hat nur die Augen verdreht und den Fernseher ausgeschaltet. In Wirklichkeit weiß ich ganz genau, was er damit gemeint hat. Manchmal kommt es mir auch so vor, als wären einige ganz alltägliche Probleme so weit entfernt von der Welt, in der ich lebe, dass sie... nicht real erscheinen. Wie Leben auf einem anderen Planeten. Und doch anders, vertrauter. Es ist das Gefühl, das man hat, wenn man mikroskopische Aufnahmen von der Haut oder dem Boden sieht. Ein Kosmos, mit dem man täglich in Berührung kommt, aber den man doch nicht sieht. Und durch das Bild wird dir für einen flüchtigen Augenblick klar, dass es so viel mehr gibt, als die Dinge, die du wahrnimmst. Dass es ganze Welten gibt, die dir für immer fremd bleiben werden. Dann kommt es mir vor, als wäre ich von allem Bekannten losgelöst. Völlig fremd. Und wenn ich das schon so empfinde, wie stark muss Aya es dann spüren, der sogar von den Menschen, die ihm am nächsten stehen durch eine scheinbar undurchdringliche Barriere aus Stille getrennt ist? Wenn ich raten müsste was er am liebsten sieht, würde ich auf Dokumentationen tippen. Reiseberichte, Wissenschaftssendungen. Das ist es zumindest, was ich ihn am häufigsten habe gucken sehen. Und jetzt sitzt er da und sieht eine Reportage über das Phänomen Winterschlaf. Eine angenehme Frauenstimme spricht. „In diesem Zustand reduzieren sich alle lebenswichtigen Funktionen auf ein Minimum. Der Herzschlag der Winterschläfer verringert sich auf wenige Schläge pro Minute, die Atempausen werden minutenlang. Bei Fledermäusen können zwischen den Atemzügen eine bis eineinhalb Stunden vergehen. Die Körpertemperatur sinkt auf unter zehn Grad...“ Ich bin beeindruckt von den Zahlen und setze mich zu ihm. Er scheint mich gar nicht zu bemerken. Es folgen ein paar Bilder von schlafenden Siebenschläfern. Sie sehen aus wie besonders lebensechte Plüschtiere, nicht wie echte Lebewesen. „Durch die Reduktion aller lebenswichtigen und Kraftstoff zehrenden Funktionen sind Winterschläfer dem Tode näher als dem Leben...“ Ich frage mich, woran Aya denkt, wenn er diese Sendung sieht. Als ich ihm einen kurzen Blick zuwerfe, merke ich, dass er anders aussieht als sonst. Sein Blick ist ungebrochen auf den Fernseher gerichtet, sein Gesicht erstarrt in einem Ausdruck, den ich nicht beschreiben kann. Es scheint nichts zu geben, das anders ist als sonst, aber dennoch ist das neben mir nicht der Aya, mit dem ich sonst zu tun habe. Ich kann nicht sagen, was diesen Eindruck vermittelt. Es ist als wäre hinter seinem gewohnten Gesicht ein anderes, unsichtbares. Ein mir fremdes Gesicht, dessen Schemen ich zum ersten Mal sehe, anstatt es nur zu erahnen. Vielleicht kann dieses Bild es am ehesten beschreiben: Die Leinwand eines Schattentheaters - sie selbst bleibt unbewegt und unverändert, aber die Schatten, die von hinten auf sie fallen, bewegen sich und schaffen so unterschiedliche Bilder. „Bewegungslos verbringen sie den Winter in einem hilflosen Starrezustand, ausgekühlt, mit unregelmäßiger, seltener Atmung und drastisch abgesenktem Stoffwechsel und Herzschlag.“ Ayas Lippen öffnen sich ein wenig, aber er sagt keinen Ton, während er weiter auf den Bildschirm starrt - oder auf was auch immer er dort sieht. Seine Veränderung wird stärker. Es beunruhigt mich. „Aya?“, frage ich. Er reagiert nicht, also stoße ich ihn leicht an. Als er mich ansieht, macht er den Eindruck eines Menschen, der aus tiefem Schlaf erwacht, als wäre er gerade erst aus einem Traum wie aus dunklem Wasser aufgetaucht. Er schweigt einige Minuten, in denen die Frauenstimme weiterredet, dann schüttelt er ganz leicht den Kopf und fährt sich mit der Hand über die Stirn. „Sie schläft.“, flüstert er, wie zu sich selbst. „Nur... manchmal bin ich mir nicht sicher. Vielleicht bin ich es auch, der schläft. Bin ich nicht auch... fast tot...“ Er hat die Hand über seinen Augen, ich kann sein Gesicht nicht sehen, habe Mühe zu verstehen, was er sagt. Seine Stimme ist so flach und hohl... Doch dann hebt er den Kopf, holt tief Luft und sieht mich an. Jemand hat die Lampe ausgeschaltet, keine Schatten tanzen mehr über die Leinwand. Es ist wieder der Aya, den ich kenne. Der gewohnte Aya mit der minimalen Körpersprache und dem leeren Gesicht. „Du wolltest doch immer wissen, wer Aya ist.“, sagt er mit seiner gewohnten, festen Stimme und geht. Aya ist mir ein Rätsel. Ich sehe ihm nach, sehe die Tür an, durch die er verschwunden ist, bevor die Stimme aus dem Fernsehen meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Die genaue Ursache für das Aufwachen im Frühjahr ist noch immer nicht genau bekannt. Doch in vielen Fällen ist vermutlich das Steigen der Temperaturen der Auslöser für das Erwachen zu neuem Leben-“ Ich schalte den Fernseher aus und sehe aus dem Fenster. Es ist kalt draußen, der Frühling kommt spät dieses Jahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)