Der Nähe so fern von Elster (Yohji & Aya) ================================================================================ Heimweg ------- Memo an mich selbst: Beachte, dass Tiefgaragen groß sind und die Parkplätze Nummern haben. Die Geräusche in einer Tiefgarage erinnern mich immer an die verzerrten Echos in einer Höhle. Ich war noch nie in einer echten Höhle, aber trotzdem. Man könnte jetzt einwenden, dass es dumm ist, einen Vergleich zu etwas zu ziehen, was man nicht kennt, aber die Wahrheit ist doch, dass wir uns eine Vorstellung von allem bilden, über das wir nachdenken, bevor wir es kennen lernen. Man kann das Vorurteile nennen, aber letztendlich ist es nur ein Versuch unseres Verstandes, mit dem Unbekannten klarzukommen. Vielleicht sind echte, natürliche Höhlen ganz anders als Tiefgaragen, aber da Tiefgaragen eine Art Höhle sind, eine künstliche, menschengemachte Höhle, stelle ich mir eine Höhle vor, wie eine Tiefgarage. Und die Geräusche einer Tiefgarage sind somit die einer Höhle. Aber vermutlich ist das falsch. Ich meine, wer außer mir hat schon einen so romantischen Blick auf Tiefgaragen? Nicht, dass ich Tiefgaragen romantisch finde, aber Höhlen, also echte, natürliche Höhlen, die sind doch romantisch. Oder sollten es zumindest sein. Zumindest solange man sich nicht in ihnen verläuft und verhungert. Das ist dann wieder weniger romantisch. So was kann einem natürlich in einer Tiefgarage nicht passieren. Macht das Sinn? Nein, vermutlich nicht. Aber das ist wohl nicht weiter erstaunlich, wenn man eine gute Stunde damit verbracht hat, sein Auto zu suchen, nachdem man die Stunden davor genutzt hat, um sich zu betrinken. Ich weiß, dass ich es in dieser Tiefgarage abgestellt habe, ich weiß es ganz genau. Und trotzdem... Es gibt drei Parkdecks und ich habe keine Ahnung, in welchem der Seven steht. Ich bin durch jedes dieser Parkdecks gelaufen und habe ihn nicht gefunden. Vielleicht wurde er geklaut. Wahrscheinlich steht er noch genau an der Stelle, an der ich ihn heute Abend abgestellt habe und ich finde ihn nur nicht. Es ist jetzt so ungefähr halb fünf Uhr Nachts. Warum ist die Tiefgarage auch um diese Uhrzeit noch so voll mit Autos? Es wäre leichter, ein einzelnes Auto zu finden, als eines unter vielen. Es wäre cool, wenn ich so eine Fernverriegelung hätte, dann müsste ich nur klicken und dann würde der Seven zurückklicken und piepen und mir mit den Scheinwerfern zublinzeln. Der Seven hat aber keine Fernverriegelung und so bin ich auf meine eigenen, alkoholgeschädigten Sinne angewiesen, wenn ich ihn finden will. Wenn ich jemanden finden würde, der mir helfen könnte... ... würde nichts daran vorbeiführen, dass derjenige sieht, dass ich stockbesoffen bin und mir davon abrät, Auto zu fahren. Die Welt ist voll von gutgemeinten Ratschlägen. Ich könnte mir ein Taxi nehmen. Allerdings weiß ich nicht, wo hier der nächste Taxistand ist, habe keine Nummer von einer Vermittlung und da es im Handyzeitalter keine Telefonzellen mehr gibt und somit auch keine Telefonbücher, bin ich aufgeschmissen. Ich könnte öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Ich denke und denke, aber mir fällt wirklich nicht ein, wo der nächste Bahnhof ist. Mir ist so, als hätte ich es einmal gewusst, aber jetzt ist es einfach weg. Außerdem gießt es draußen in Strömen. Ein weiterer Grund, warum die Tiefgarage klingt, wie eine Höhle. Dieses Tropfen von Wasser... Ich frage mich, wenn plötzlich alle Menschen aus dieser Stadt verschwinden, wenn sie einfach fort sind, von einem Moment auf den anderen, wenn sie sterben - wie lange würde es dann dauern, bis diese Tiefgarage wirklich eine Höhle ist? Ein echte Höhle mit Tropfsteinen und ohne rechte Winkel und raue Betonoberflächen? Hundert Jahre? Zweihundert? Wahrscheinlich mehr... Es ist ganz erstaunlich, wenn man mal darüber nachdenkt. Aber jetzt muss ich einen Weg finden, nach Hause zu kommen. Möglichst ohne nass zu werden. Also ohne rauszugehen. In meinem Wagen liegt ein Regenschirm. Irgendwer hat ihn da liegen lassen. Irgendeine Frau, denke ich, denn er hat ein ganz eigenartiges Rankenmuster. Eine Mischung aus Blumentapete und Paisley. Ziemlich hässlich, aber ich bin irgendwie nie dazu gekommen ihn rauszuräumen. Es wäre gut, wenn ich jetzt einen Schirm hätte. Dann könnte ich mich auf die Suche nach einem Bahnhof machen. Oder nach einem Taxistand. Was natürlich sinnlos wäre, denn um den Schirm zu bekommen, müsste ich ja erst mal mein Auto finden und dann würde ich damit fahren und nicht mit der Bahn oder einem Taxi. Aber so ist alles was mir bleibt mein Handy. Ich starre es eine Weile an, dann kommt mir eine gloriose Idee. Ich könnte zu Hause jemanden anrufen und mich abholen lassen. Das klingt gut. Zu Hause jemanden anrufen und mich abholen lassen... zu Hause... Der Gedanke fühlt sich an wie die Sonne im Winter... Das Problem ist, dass nach Abziehen aller Zweiräder, die sich in unserem Besitz befinden, nur ein mögliches Fahrzeug übrig bleibt, nämlich Ayas Porsche. Und damit bleibt auch nur ein möglicher Fahrer, nämlich Aya. Ich kann mir das Gespräch sehr gut vorstellen: „Aya, mir ist da eine dumme Sache passiert. Ich habe meinen Wagen in einer Tiefgarage verloren, bin zu betrunken, ihn wiederzufinden und will nicht raus in den Regen. Hol mich bitte ab.“ Woraufhin Ayas einzige Antwort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Tuten in der Leitung ist. Andererseits... Fragen kostet nichts. Ich wähle seine Nummer und bin erstaunt, als er schon nach dem zweiten Klingeln abhebt. Er meldet sich immer mit seinem Nachnamen, der bei ihm wie ein mürrisches „Was?“ klingt. Kein Gruß, kein gar nichts. Aber immerhin klingt er als wäre er schon eine Weile wach. Das steigert meine Chancen. Ich versuche meine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das was ich sage, so klingt, wie ich es mir vorstelle. „Guten Morgen, ich bin’s. Könntest du mich vielleicht abholen, ich fürchte, ich bin hier irgendwie gestrandet.“ Das klang vielleicht ein wenig zu fröhlich oder zu betrunken, denn es herrscht eine ganze Weile Schweigen und ich weiß, er überlegt, ob er jetzt auflegt oder nicht. Ich kann mir richtig vorstellen, wie er das Telefon anstarrt. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, der Mund eine dünne Linie. Ich denke, er telefoniert so ungern, weil er sein Gegenüber dann nicht in den Boden starren kann. Gerade als ich die Hoffnung schon aufgeben will, ist seine Stimme plötzlich wieder da. „Wo bist du?“ Es dauert eine Weile, bis mir einfällt, wo sich diese Tiefgarage befindet. Es ist nicht ganz leicht wach zu bleiben, mit diesem monotonen Tropfen von Wasser als stetiges Hintergrundgeräusch. Aber nach einigem hin und her scheint er eine ungefähre Ahnung meiner derzeitigen Position zu haben und legt auf. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er jetzt kommt oder nicht, aber ich gebe es so oder so auf, mein Auto zu suchen und stelle mich an die Ausfahrt zur Tiefgarage, an eine Stelle, die relativ trocken ist. Mir kommt kurz der Gedanke, dass das hier nicht der einzige Ausgang ist, aber ich bleibe trotzdem hier stehen und sehe hinaus in den Regen. Es ist nicht besonders kalt, eigentlich recht angenehm und das Rauschen des Regens, das ferne Geräusch vorbeifahrender Autos üben eine hypnotische Wirkung auf mich aus. Meine Gedanken schweifen ziellos umher und ich schrecke erst aus ihnen auf, als ein Auto vor mir zum Stehen kommt, anstatt weiterzufahren. Aya. Selbst wenn man seinen Fahrstil berücksichtigt, muss er fast eine Stunde bis hierher gebraucht haben. Während ich einsteige, ärgere ich mich über meine Unachtsamkeit. Ich bin es gewohnt, aber trotzdem beunruhigt es mich, wenn ich den Überblick über die Zeit so verliere. Ich kann mich nicht mehr erinnern, woran ich die ganze Zeit gedacht habe... Die Heimfahrt verläuft schweigend. Nur das Geräusch des Regens auf dem Auto und das Surren und Quietschen der Scheibenwischer. Ich habe noch nie erlebt, dass Aya beim Autofahren Musik hört. Oder in irgendeiner anderen Situation. Mich würde interessieren, welche Musik er mag, aber es scheint so, als würde er überhaupt keine Musik hören. Ich kann mir einen Menschen, der keine Musik hört nicht vorstellen. Andererseits scheint Aya sich mit Stille zu umgeben wie mit einer Rüstung. Ich lehne meine Stirn gegen die kalte Fensterscheibe und sehe zu, wie sich das Wasser in kleinen, sich ständig verändernden Rinnsalen seinen Weg hinunter sucht. Plötzlich fühle ich mich sehr müde. „Weißt du“, murmle ich, „Ich habe gedacht, ich rufe zu Hause an und lasse mich zurückbringen. Nur so eine Idee. Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst.“ Ayas Äquivalent eines Schulterzuckens ist eine winzige Änderung in seiner Haltung. Es ist nicht wirklich so, dass er keine Körpersprache hat, man muss nur ein verdammt guter Beobachter sein, um sie zu sehen. „Ich war schon wach.“ Er hat immer eine Entschuldigung oder Ausrede parat, wenn er etwas unerwartet freundliches tut. Manchmal ist es amüsant. „Alpträume, hm?“ Es ist einer dieser Momente, in denen einem anhand der Dinge, die man tut und sagt, klar wird, wie betrunken man sein muss. Es war unfair, das zu sagen. Er kann mit Mitgefühl und Verständnis nicht umgehen. Er will nicht, dass andere ihn durchschauen, genauso wenig, wie ich das will. „Entschuldigung.“ Seine Schultern, seine Hände am Steuer, seine ganze Haltung wirken angespannter als noch vor wenigen Sekunden. Es ist unangenehm in seiner Nähe zu sein, wenn er so ist. Ich bereue, was ich gesagt habe, kann es aber nicht mehr zurücknehmen. Den Rest der Fahrt über harren wir in angespannter, schwerer Stille aus, dann kommen wir an. Als ich aussteige merke ich, dass sich das Licht irgendwie verändert hat und bleibe neben dem Wagen stehen, um nach oben zu sehen. Der Regen hat etwas nachgelassen. In einiger Entfernung sind die blaugrauen Wolken aufgerissen und enthüllen einen rotgoldenen Morgenhimmel. Auch Aya ist stehen geblieben und sieht den Himmel an. Oder durch ihn hindurch auf etwas ganz anderes. Es ist unmöglich zu sagen, was er denkt, aber das warme Licht lässt ihn nicht ganz so blass wirken und die feuchten Haare geben ihm ein etwas realeres Aussehen. Nach und nach entspannt er sich wieder ein bisschen. „... Danke,“ sage ich nach einigem Zögern. „Ich bin dir wa-“ „Vergiss es einfach.“, unterbricht er mich, bevor er ins Haus flüchtet. Das war klar. Er kann auch mit Dankbarkeit nicht umgehen, vielleicht ist das der Grund dafür, dass er so selten offen hilfsbereit oder freundlich ist... Ich muss gähnen. Zeit, in meine Wohnung zu verschwinden und vielleicht noch ein paar Stunden zu schlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)