Zum Inhalt der Seite

Die letzten zehn Tage

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Tag 5 - Dienstag

Müde und ohne jegliche Konzentration saß ich an meinem Platz und schaute aus dem Fenster. Ich hätte eigenlich aufpassen müssen, aber ich würde nicht viel verpassen. Schließlich waren da noch die anderen aus der Klasse, die im Moment nicht gerade fleißig mitarbeiteten, und der Lehrer hatte große Mühe, sie unter Kontrolle zu halten. Um nicht zu sagen, er redete und hoffte darauf, dass sie von selbst irgendwann aufhören würden.

Als die Tür zufiel, schrak ich auf. "Wo ist denn der Lamb hin?", fragte ich den Jungen, der mir noch am nächsten saß. "Geht was kopieren", sagte der und redete weiter mit seinem Nachbarn. Ich seufzte und sah weiter zum Fenster hinaus. Na super. Kein Wunder, dass die Klasse tobte. Auch, wenn man es sich schlecht vorstellen kann, aber innerhalb einer halben Minute war es noch lauter als sonst geworden. Vielleicht sollte ich die Klasse wechseln...?

"Sag mal, was sollte das eigentlich am Sonntag in der Stadt?", fragte mich die Klassenbeste unfreundlich und stieß mich rüde mit dem Ellenbogen auf die Fensterbank. Ich begriff nicht, was sie von mir wollte. Was hatte ich denn am Sonntag getan, was so schlimm war, dass sie sich mit mir abgab? "Was meinst du?", fragte ich zurück. Sie schnaubte. "Ich hab dich gefragt, wie ein so hässliches Suppenhuhn wie du dazu kommt, mit Christian durch die Gegend zu watscheln." Im Raum war es still geworden und jeder sah in unsere Richtung. "Was soll schon los gewesen sein?", fragte ich möglichst ruhig. Es war unschwer zu sehen, dass etwas in der Luft lag, und dieses Etwas würde mir nicht gefallen. "Stell dich nicht so dumm", zischte sie mich an, "ich hab dich gefragt, warum du mit Chris am Sonntag so in der Eisdiele gemacht hast. Ist dir eigentlich überhaupt klar, dass er von dir nichts will? Selbst wenn", sagte sie hämisch und musterte mich von oben bis unten, "selbst wenn er was von dir wollte,dann wäre es doch höchstens, dass du endlich wieder abhaust." Einige in der Klasse lachten. Ich merkte, wie ich heiße Ohren bekam. "Meinst du nicht, dass das seine Entscheidung ist?" Ihre Gesichtszüge entgleisten ihr innerhalb von einer, maximal zwei Sekunden. "Wie bitte?", fauchte sie wie eine wild gewordene Katze, "was hast du gerade gesagt? Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden." Ich nahm meinen Mut zusammen, sah ihr so direkt ich nur konnte in die Augen und sagte dann mit fester Stimme: "Dann soltlest du dir ein Hörgerät kaufen."

Jegliches Rascheln hatte aufgehört, alle sahen sie an, wie sie wohl reagieren würde. Ich konnte sehen, dass sie wütend war. Sehr wütend. Kurz davor, zu explodieren, sozusagen. Dann kniff sie die Augen zusammen, funkelte mich noch einmal kurz an und drehte sich zu den beiden Mädchen um, die hinter ihr standen. "Haltet sie fest", befahl sie ihnen. Kurz darauf wurden mir von hinten die Arme festgehalten und hinter der Stuhllehne schmerzhaft verdreht. Mir schossen vor Schmerz die Tränen in die Augen. Mühsam biss ich die Zähne zusammen. "Versprich mir, dass du deine dreckigen kleinen Wurstfinger von Christian lässt", raunte die Klassenbeste bedrohlich leise. Wütend versuchte ich, mich zu befreien, tat mir dabei aber nur selbst weh, und gab schließlich auf. "Versprich es", wiederholte sie, diesmal eine Oktave höher, und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Mein Kopf flog zur Seite, und im gleichen Moment hörte ich, wie mein Genick schmerzhaft knackte. "Du hast ihn nicht verdient, du Schlampe, und nur weil du dich jetzt so anziehst wie wir heißt das noch lange nicht, dass du dazugehörst! Versprich es!" Die letzten Worte hatte sie geschrieen und nun fing sie an, mich heftig zu schütteln, bis ich Blut schmeckte und ich Sterne sah. Als sie mich endlich losließ und außer Atemvor mir stand, mich mit ihrem Blick geradezu anspuckte, hob ich den Kopf und sah sie trotzig an. "Nein." Ungläubig starrte sie mir ins Gesicht. "Wie bitte?" "Ich sagte nein", wiederholte ich. "Wenn du ein Problem damit hast, dass er sich mit mir trifft, dann solltest du dich bei ihm beschweren, nicht bei mir. Er ist nicht dein Besitz."

Was die nächsten Minuten passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich bekam nur noch mit, wie sie mich von Stuhl riss, auf mich eintrat und alle, die daneben standen, mitmachten. Nach wenigen Tritten schon tat mir alles weh, und als ob das nicht genug gewesen wäre, schlug mir irgendwann jemand eine Wasserflasche gegen den Kopf. Wimmernd krümmte ich mich zusammen, versuchte, auf die Beine zu kommen, aber sie stießen mich jedes Mal wieder zu Boden. Ich wustse, dass sie mich nicht mochten, aber dass sie mich so sehr hassten, dass sie jemals dazu in der Lage gewesen wären, mir so weh zu tun, hätte ich niemals gedacht. Ich hatte ihnen doch nichts getan. Irgendwann gab ich auf und blieb liegen, in der Hoffnung, es würde bald vorbei sein.

Dann wurde mir schwarz vor Augen.
 

Ich wachte in einem kleinen, weißen Zimmer wieder auf, in dem außer dem Bett – oder vielleicht sollte ich es lieber Pritsche nennen – auf dem ich lag nichts mehr stand. In der Ecke lag mein Ranzen. Als ich mich hinsetzen wollte, fuhr mir ein stechender Schmerz durch den Kopf und ich überlegte es mir anders. Vorsichtig legte ich mich wieder in die Waagerechte. Dann kam bruchstückhaft die Erinnerung wieder und ich stöhnte unwillkürlich leise auf. Ich hatte den Lehrer gehört. Und dann jemanden, den ich nicht hatte einordnen können. Dann kam ein riesiges Loch. Und jetzt ...

Die Tür öffnete sich langsam und ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren kam leise herein. Zu erschöpft, um etwas zu sagen, blieb ich einfach regungslos liegen, und wartete darauf, dass er mich bemerkte. Zuerst sah es so aus, als würde er wieder das Zimmer verlassen bevor er merkte, dass ich wach war, dann aber drehte er sich zu mir um. "Oh", sagte er leicht überrascht, "du bist wieder bei Bewusstsein. Das ist gut." Da mir alles weh tat verzichtete ich auf eine dumme Bemerkung und schluckte mein trotziges 'ich hätt jetzt gedacht, das wär schlecht' runter. Stattdessen zuckte ich mit den Schultern. Er seufzte. "Du warst ungefähr zehn Minuten ohnmächtig. Ich weiß nicht, was du deinen Klassenkameraden", die ironische Betonung auf 'Kameraden' war unüberhörbar, "angetan hast, aber sie scheinen es dir sehr übel genommen zu haben. Du hast Glück, dass dein Lehrer noch gerade rechtzeitig zurückgekommen ist. Sonst hättest du in ernsthaften Schwierigkeiten gesteckt." Mein Sarkasmus übernahm die Oberhand. "Oh", bemerkte ich schon fast zynisch, "ich dachte, das würde ich jetzt schon." Meine Stimme war nur ein leises Krächzen und jedes Wort tat mir am Hals weh. Was hatten sie nur mit mir gemacht? Was hatte ich ihnen getan? "Aber vielleicht habe ich nur nicht mitbekommen, dass Ohnmächte gar nicht so schlimm sind." Irgendwie wurde die Welt um mich herum klarer und ich stellte fest, dass mein Ranzen auf einem kleinen Sitz stand und dass der Mann nicht hereingekommen war, sondern die ganze Zeit auf der anderen Seite meiner Liege gesessen hatte. Da, wo ich vorhin nicht hatte hinsehen können, weil ich den Kopf nicht hatte bewegen können, standen verschieden Apparaturen und schaukelten leicht. Ein Erdbeben? "Wir sind in einem Krankenwagen", erklärte mir der Mann und friemelte an einem seltsamen Flimmern herum, das sich kurz darauf als Schlauch entpuppte.

"Wir bringen dich ins Krankenhaus, damit wir dich weiter untersuchen können." Ach nee, dachte ich und stöhnte auf, als der Wagen heftig rumpelte. Ich hätte gedacht, es ginge direkt zum Friedhof. Obwohl, bereute ich den Sarkasmus in meinem Gedanken, ich hätte eigentlich nichts dagegen einzuwenden gehabt. "Du hast ganz schön was abbekommen, aber mir scheint, du bist recht zäh." Ich nickte behutsam. Das hatten mir schon so einige gesagt. "Willst du erzählen, was passiert ist?" Ich schloss die Augen. Nochmal erleben? Und das bei den Schmerzen, die mir jedes Wort verursachte? Langsam, um nicht wieder von meinem Brummschädel ins Aus geschickt zu werden, schüttelte ich den Kopf. Er seufzte. Nachdem ich nichts weiter sagte, fuhr er fort. "Es hätte locker schlimmer asugehen können. Du bist mit einigen Prellungen und einer kurzen Ohnmacht davongekommen, wenn du Pech hast, ist eine deiner Rippen gebrochen. Das konnte ich nicht genau erfühlen. Aber es ist nichts Wichtiges getroffen worden." Auf meinen Vorwurfsvollen Blick hin verbesserte er sich. "Zumindest ist nichts Wichtiges schlimmer beschädigt worden. Ist dir schlecht?" Nein, dachte ich, und schloss die Augen. Ich werde ihm nicht antworten. Ich werde den Würgreiz bekämpfen und nichts sagen, bis wir da sind.

Meine Umgebung fing wieder an, sich zu drehen.
 

Gegen acht Uhr abends saß ich wieder zu Hause. Es war nichts gebrochen, Gehirnerschütterung hatte ich keine, die Prellungen waren nicht sehr schlimm und auch, wenn mir alles weh tat, mehr als blaue Flecken und Aufschürfungen hatte ich nicht abbekommen.

Müde und deprimiert schüttelte ich die Futterdose der Katzen und sah zu, wie die drei lautlos um die Ecke huschten. Auch Li war dabei, aber das wunderte mich nicht weiter. Meine Begeisterungsfähigkeit war im Moment nicht gerade groß. Das einzige, was ich mich in dem Moment fragte, war, warum ich mir in den letzten Tagen so gut wie gar keine Gedanken um sie gemacht hatte. Sie war weg gewesen, aber um es in der harten Version zu sagen: Es war mir egal gewesen.

Meine Gedanken wanderten weiter zu Chris. Sollte ich ihn anrufen? Ich füllte die Fressnäpfe auf und stellte die Futterdose wieder weg. Nein. Ich hatte keinen Grund. Und seine Telefonnummer hatte ich auch nicht.

Ich drehte mich um und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Dort schiss ich die Tür zu und warf meine Klamotten achtlos in die Ecke. Morgen würde ich sie wegräumen.

Vielleicht.

Dann drehte ich das Licht aus und legte mich schlafen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2006-06-29T15:10:06+00:00 29.06.2006 17:10
oohhh....jetzt kommt die andere seite der Geschichte zum Vorschein, die etwas ernstere...naja...etwas ist gut...damit hab ich nicht gerechnet...ist echt gut geschrieben...ich hoffe im nächsten Kapitel erfährt man wieder was über Chris...ich bin zumindestens schon auf das nächste Kapitel gespannt
Von: abgemeldet
2006-06-29T10:35:20+00:00 29.06.2006 12:35
ohoh ... mannoman so was möchte man nich erleben cool geschrieben aber =)
freu mich schon aufs nächste kapi und was dann mit chris is ^^ bis dennchen
MICROMINNI


Zurück