Black Cerise von Chase (Jahre des Löwenzahn) ================================================================================ Kapitel 1: Lilt --------------- Jedes Jahr, wenn der Frühling beginnt, wächst in meinen Wiesen der Löwenzahn. Ich leg mich gerne zu ihnen ins Gras, rücke ganz dicht an sie, bis ich jedes einzelne Blütenblatt genauestens betrachten kann, auch das Krönchen, das den Blütenstaub trägt. Dieses Jahr, als der Frühling spät kam, explodierten die Wiesen in einem gelben Schauspiel. Überall, wo ich ging, wuchs mein Löwenzahn. Miyuki senkte langsam die Hand mit dem Schreibblock und strich gedankenverloren mit den Fingern über ihre Lippen. Lautlos formten sie Worte, der Kopf nickte leicht zu einem Takt, den nur sie hörte. Viele Stunden hatte sie ähnlich verbracht und jetzt war das Lied fast fertig. Sie war stolz darauf, denn in dem Text lagen Gedanken, Gefühle und Erinnerungen der letzten Monate. Fast ein wenig zu persönlich um es tatsächlich der Öffentlichkeit vorzustellen, aber wenn man bei allen Liedern auf die jeweiligen Songwriter überschließen würde, verbarg sich hinter dieser Berufsgruppe eine heimliche Schicht an Massenmördern. Früher hatte Miyuki es nie verstanden, wieso dermaßen viele Lieder Liebe thematisierten. Langsam begann sie es zu erfassen. „Lan.“ Sagte sie, als sie aufstand und den Übungsraum durchquerte, um dem Gitarristen Text und angedachte Akkorde zu geben. „Wenn es so in Ordnung ist, können wir nächste Woche mit den Proben beginnen.“ Ihr Lächeln wirkte müde und Lan sah ihr noch eine Weile zu, wie sie Shin beim Ausräumen und Aufstellen des Schlagzeugs und seiner Percussion half. SogarJake hatte diese spezielle Stimmung dazu bewegt, ausnahmsweise ebenfalls Hand anzulegen. Erst jetzt erinnerte Lan sich an den Text und begann die Zeilen zu lesen. Für Miyuki hatten die letzten Monate viel verändert. Dinge, auch Träume, waren in Bewegung geraten und nun kaum mehr zu stoppen. Begonnen hatte alles mit dem harmlosen Tipp eines Schulkameraden, der einer Unterhaltung zwischen ihr und Shin zuhörte. Die beiden spielten mit dem Gedanken neben der Schulband eine eigene Gruppe aufzuziehen. Allerdings mangelte es an ernsthaften Mitgliedern und so schlug Ryu einen gewissen Lan vor. Sie legten als möglichen Vorstellungstermin Donnerstag nach der Probe fest und so wurde es vereinbart. „Ich bin schon gespannt, was das für ein Typ ist, dieser Lan.“ Begann Shin zu überlegen. „So wie sich Ryu anhörte, spielt er wohl relativ viel.“ „Ja und was nützt Dir das? Noch keine Band. Will nicht jeder gute Musiker mit anderen zusammen spielen? Wahrscheinlich ist er klein, dick und hässlich.“ Ärgerte Shin sie. „Wenn er klein, dick und hässlich ist und wie Ritchie Blackmoore spielt ist mir das gleich. Ansonsten stellen wir ihn einfach zu dem anderen kleinen, dicken, hässlichen hin. Nebers Schlagzeug nämlich!“ konterte Miyuki und lachte. Der restliche Tag verging wie im Fluge und kaum das es sich die beiden versahen, bereitete sich die daVinci Big Band auf ihre wöchentliche Probe vor. Alles war schon auf den Weihnachtsball ausgerichtet, der dieses Jahr ganz dem Swing gewidmet war. Sie befanden sich allerdings noch in den Vorbereitungen. Noch fehlten ein gut ausgewähltes Repertoire und die entgültige Besetzung. Leiter gab es ebenfalls keinen und somit einen Berg von Dingen, die erledigt werden wollten. Heute jedoch trat eine seltene Harmonie ein, man war gut vorbereitet und die Probe verlief reibungslos bis zur Pause. Lan hielt seine Notizen in der einen und die Gitarre in der anderen Hand. Er stand bereits eine gute halbe Stunde zu früh vor dem Schulgebäude, keineswegs versehentlich. Zunächst einmal interessierte es ihn, wie gut diese Mi.. – Sängerin – wie auch immer, und ihr Schlagzeuger tatsächlich waren. Es bot sich einfach an, sie bei der Probe zu belauschen, beziehungsweise, ihnen dabei unbemerkt zuzuhören. Wenn beispielsweise beide so grottenschlecht spielten, ohne dass er davon wusste, würde er sich nur unnötig blamieren. So entschied es sich also in den folgenden Minuten, ob er zu dem Vorspiel überhaupt erschien. Er fand den Proberaum und setzte sich unter das gekippte Fenster in das Gras, und drehte nachdenklich eines der rot gefärbten Blätter zwischen den Fingern. „Okay, wir machen jetzt weiter!“ Allgemeines Stuhlrücken und Stimmengewirr verriet, dass alle aus der Pause und an ihre Plätze zurückkehrten. Es folgten kurze, organisatorische Diskussionen und Lan begann erst wieder zuzuhören als Miyuki angekündigte, man würde ein paar Stücke aus dem Repertoire spielen. Den Titel verstand er akkustisch nicht und die ersten Akkorde allein von der E-Gitarre erklangen. Dann setzten die anderen ein und eine warme Frauenstimme sang in melancholischem Ton. Ihre Stimme füllte den ganzen Raum mit ihrem Klang. Obwohl das Stück sicherlich schon etliche Male gespielt wurde, war sie mit voller Leidenschaft dabei. „What becomes of the broken hearted…“ sang sie und er starrte weit in den blauen Himmel, den Text leise vor sich hin summend. „Ja, machs gut Hana!“ verabschiedete Miyuki eine Saxophonistin über die Schulter. Sie und Shin hatten sich übermäßig viel Zeit gelassen, das Equipment abzubauen. Nun war die letzte gegangen und Miyuki sah immer häufiger nervös auf ihre Armbanduhr. „Es ist schon halb, Shin“, jammerte sie verunsichert. „Hmm.“ Er mochte keine Unpünktlichkeit und vertrat den Standpunkt: lieber gehen, bevor sich der Hausmeister beschwert. Zumal dieser Lan anscheinend kein Interesse zeigte, bei ihnen vorzuspielen. „Ich geh jetzt.“ Setzte er dem Ganzen ein Ende. „Gut. Du hast Recht. Ich will auch nicht auf jemanden warten, der nicht erscheint. Lass uns hier Schluß machen und noch einen Kaffee trinken gehen.“ Shin nickte müde während sie zu den großen Atelierfenstern schritt um sie zu schließen. Die laue Abendluft wehte über ihr Gesicht und sie lehnte sich leicht der Brise entgegen. Die Sonne färbte den Himmel in brilliant rot und samten goldende Töne. Sämtlicher Verkehrslärm wurde allmählich leiser und die Vögel zogen sich nach und nach zurück. Ansonsten hätte Miyuki das leise Atmen gar nicht bemerken können, das friedliche ein- und ausatmen der milden Herbstluft. Sie senkte den Kopf, blickte in den Grünstreifen, der die Schule einrahmte und sah wie dort jemand schlief. Sie lehnte sich noch ein Stück weiter heraus, ein Stück tiefer hinunter und konnte so dem Schlafenden direkt ins Gesicht sehen. Ob eines markanten Gesichts waren die Züge fein und seine etwas längeren, sehr hellen Haare lagen nun ungeordnet über seinen Augen. Gerade als sie sich bewusst wurde, wie genau sie ihn musterte, schlug er ziemlich plötzlich die Augen auf und sah direkt in ihre. Dieser unvermutete Blick erschreckte sie zwar, aber trotzdem schaffte sie es nicht, ihre Augen abzuwenden. In seinem Blick lag etwas unerwartet Wildes, er strotzte nur so vor Kraft und neben diesen Eindrücken nahm Miyuki einen solch ungezügelten Freiheitsdrang war, dass sie zurück taumelte. All diese Emotionen stürmten in jenem Blick auf sie ein. Als er aufgestanden war und sich streckte schien nur noch eine schwache Resonanz dessen übrig geblieben zu sein. Shin, der die ganze Szene nicht mitverfolgt hatte, missverstand Miyukis Reaktion und trat genervt zwischen die beiden. Da der Fremde erklärenderweise eine Gitarrentasche im Arm hielt, ging Shin direkt auf ihn zu und bot ihm die Hand an. „Ich bin Shin. Und dein Name ist Lan, richtig?“ „Richtig.“ Er schlug ein und zog sich an der Hand über den Fenstersims. „Entschuldige, dass ich nicht pünktlich bin.“ „Was solls. Wir haben dich ja noch rechtzeitig gefunden.“ Langsam ging es Miyuki auf die Nerven, dass sie so hartnäckig ignoriert wurde. Nachdem Lan aufgewacht war hatte er sie weder eines Blickes noch eines Wortes bedacht und nun entschuldigte er sich zwar, allerdings ausdrücklich nur bei Shin. Ihr Gedultsfaden begann zu fasern. Shin grinste innerlich. Der versprochene Gitarrist war zwar leider nicht klein, dick und hässlich, aber er schien sich für die durchaus sehr attraktive Miyuki nicht im Geringsten zu interessieren. „Und wir können ja gleich anfangen, bevor ich dich frage, wieso du während einer unserer Proben vor dem Fenster einschläfst.“ Machte Miyuki auf sich aufmerksam und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen Tisch. Widererwartend grinste Lan leicht und nickte. Dann öffnete er den Reißverschluss der Tasche und zog seine Akkustikgitarre heraus. Er war zufrieden gewesen, eigentlich mehr als das. Als Miyuki ihre Stimme anhob, wusste er schon bei den ersten Tönen, was er wollte. Wenn sie ein Stück öfter nacheinander probten, variierte sie ihre Stimme, kein Lied hörte sich gleich an, aber alle wirkten. Er hob die Gitarre an und begann zu spielen. Alle seiner ausgewählten Lieder waren mit solch einerm Gefühl gespielt, dass Miyuki bald ihre aufsässige Haltung lockerte und sanft mit dem Körper der Melodie folgte. Gerade setzte er ein neues Stück auf, stimmte die Gitarre darauf ein und begann mit den Akkorden. Miyuki hörte auf und lächelte. Schließlich begann sie beim Refrain einzustimmen. “You see I've been through the desert on a horse with no name It felt good to be out of the rain In the desert you can remember your name 'Cause there ain't no one for to give you no pain La, laaaa la, la la ...” Fast zeitgleich hatte Shin begonnen, die beiden auf zwei kleinen mit Leder bespannten Trommeln rythmisch zu unterstützen. Die Ballade floß vor sich hin und schnell waren alle drei so ergriffen von ihrer Musik, dass sie, als das Stück endete, noch kurz innehielten. Miyuki lächelte und ihr Blick traf auf Lans, der diesmal Ruhe ausstrahlte, dennoch immer von einer Stärke beseelt, die sie neugierig machte. Shin brach den Bann. „Ich würde sagen, das war für eine Improvisation sehr gut.“ Er war zu beeindruckt, um den Blickwechsel der beiden anderen zu bemerken, doch Miyuki und Lan stimmten ihm zu. Sie erhob sich und aus einem Impuls, den Shin sich nicht erklären konnte, stand er ebenfalls auf. „Dann darf ich Dich als neuen Gitarristen begrüßen.“ Diesmal bot Miyuki Lan ihre Hand freundschaftlich an. Allen war klar, dass der Höflichkeit halber dies als Frage formuliert werden sollte, doch ebenso sicher war die Entscheidung. Lan schlug ein. Shin nickte andächtig. Dann grinste er. Es juckte ihm bereits in den Fingern, seine Sticks in die Hände zu nehmen um mit diesen Leuten fantastische Musik zu machen. Lan war das ideale Mitglied für ihre Gruppe. Er spielte mit derselben Passion und lebte denselben Traum, es musste einfach funktionieren. Gerade hätte er nichts lieber getan, als sich hinter sein Schlagzeug zu setzen und sofort zu beginnen. Doch der Tag neigte sich nicht grundlos dem Abend zu und so verschoben sie ihre erste Probe zunächst einmal. So waren sie zusammen gekommen, eine Fügung die man fast als schicksalshaft bezeichnen könnte.Es war ihnen fast, als hätte sie ein Geist, eine Vision ergriffen. Die Gruppe löste sich auf. Shin schloß zu Lan auf, Miyukis Heimweg hingegen jedoch führte in die entgegengesetzte Richtung. Die Sonne warf ihr letztes Licht über die Bäume und tauchte die verspiegelten Hausfassaden, an denen sie vorbeispatzierte in ein dämmriges Licht. Nach und nach flackerte die Straßenbeleuchtung auf, sodass immer mehrere ihrer Schatten um Miyuki herumliefen. Mit gemischten Gefühlen machte sie sich auf den Weg. Einerseits war dieser Lan ein sehr guter Gitarrist und wenn sie ehrlich war hatte sie Schlimmeres erwartet. Auch schien er mit derselben Begeisterung bei der Sache zu sein. Doch irgendein Punkt sagte ihr nicht zu, ohne dass sie diesen bestimmen konnte. Wahrscheinlich hatte es mit diesem Blick angefangen. Irgendwie musste sie ihn doch aufgeweckt haben. Doch soweit sie sich erinnerte, war sie lediglich über ihm gelehnt, eigentlich hätte nicht einmal eine ihrer Haarsträhnen sein Gesicht berühren können. Trotzdem war er ruckartig aufgewacht als sie versuchte, seine Augen auszumachen, die sich hinter seinen Haaren verbargen. Wo sie zuvor versteckt waren glühten sie förmlich zu ihr empor. Und dann diese Welle der puren Kraft. Er sah sie an als wäre sie jemand, den es zu bekämpfen galt. Miyuki bemühte sich, diesen Gedanken zu verscheuchen. Es war eben ein interessanter Mensch mit Facetten. Etwas Ähnliches hatte Ryu auch erwähnt. Lan würde allen wichtigen Bereichen seines Lebens mit besonderer Leidenschaft begegnen. Doch wie ihr Mitschüler es formulierte, schien es, als wäre da mehr als nur die Musik, in der Lan aufging. Eine Freundin? Sie ertappte sich dabei, wie dieser Gedanke einen neidischen Unterton hatte, als sie ihn dachte. Wieder schob sie einen Gedanken beiseite. Jetzt bemühte sie sich auf die letzten Details zu konzentrieren. Ein nicht ganz so kleines Detail war der Bassist. Laut seufzend beschleunigte sie ihren Gang und eilte nach Hause. Am nächsten Morgen traf sie Shin wie gewöhnlich ein paar Ecken vor der Schule. Das hatte sich irgendwann in der Oberstufe eingebürgert, als sich die beiden anfreundeten. Zu dieser Zeit begann sich die Schulband zu wandeln. Vom eher verkannten Orchester das mehr oder minder fähig klampfte wollte man mehr auf Big Band und Show setzen. Das war soweit kein großer Akt. Die komplizierten klassischen Werke mit ihren vielen Soli wurden durch einfachere, aber sehr bekannte Lieder und Chansons ersetzt. Sangret, der alte Leiter, ging ohnehin in Pension, sodass niemand um Erlaubnis gebeten werden musste. Allerdings fehlte die Stimme. Vorsingen wurden veranstaltet, die nervenzehrend und ergebnislos waren. Das Projekt war schon am Kippen, als Shin eines Tages nach dem Unterricht von Miyuki angesprochen wurde. „Shin, hallo! Entschuldige, aber sucht ihr noch jemanden für die Band?“ „Das Vorsingen ist eigentlich beendet.“ Wich er aus. „Habt ihr denn jemanden besetzt?“ „Nein.“ Seine kurzatmigen Antworten schienen sie langsam aus dem Konzept zu bringen. „Besteht die Möglichkeit, dass ich mich bei euch vorstelle?“ Shin gab ihr die gleiche Antwort, die er allen gegeben hatte und am schwarzen Brett hing. „Wir proben jeden Donnerstag, ab 18 Uhr. Komm das nächste Mal vor der nächsten Probe vorbei und wir werden dich anhören.“ Mit diesen Worten war wohl alles gesagt, denn er hiefte sich die Tasche auf die Schulter und verließ das Klassenzimmer. Mit leicht gehobenen Brauen sah sie ihm nach. Die bisherigen Bewerber mussten furchtbar gewesen sein, wenn er auf diese Weise darauf reagierte. Es war Dienstagnachmittag, noch gut zwei Tage bis zur Probe. Zeit, selbst ein bisschen zu üben. Als sie am folgenden Donnerstag die Aula betrat, war ein Großteil der Musiker schon anwesend. In den Unterricht schaffen sie es nie so pünktlich, dachte Miyuki. „Du solltest dir Mühe geben.“ Sagte jemand leise in ihr Ohr. Dann trat Shin neben sie. „Die Stimmung ist gereizt genug. Ohne einen Sänger, oder eine Sängerin, können wir unser Projekt wieder einstampfen. Und dann werden die meisten ganz abhaun. Sie haben sich alle zu sehr darauf gefreut, etwas anderes zu machen und jetzt funktioniert es nicht.“ Miyuki war von seinen Worten erstaunt. Es erschien ihr, als würde der Schulsprecher Schule und Orchester ganz klar von einander trennen, denn hier wirkte er offen und fast familiär . Mit prüfendem Blick übersah er die Aula, ganz als wolle er seine Schäfchen zählen. Shin wies ihr einen Stuhl in der Nähe der Fenster, unweit davon, wo sich die Gruppe aufbaute. Als offenkundig alle da waren, richtete er ein paar Worte an sie. „Wenn ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten dürfte! Bevor wir alle den Kopf in den Sand stecken möchte ich euch Plan B zu den Vorsingen präsentieren.“ Er wies mit der offenen Handfläche auf Miyuki. „Das hier ist Miyuki Yamada aus meiner Stufe. Leider war sie die letzten zwei Wochen krank und konnte nicht an dem Wettbewerb teilnehmen. Sie hat erst vor kurzem von einem musischen Gymnasium auf unsere schöne Schule gefunden und sich sofort bereit erklärt, sich bei uns vorzustellen. Neben ihrer zauberhaften Stimme hat sie ein sehr feines Gehör und ich bin sicher sie würde sich auch gern als Dirigentin zur Verfügung stehen, damit wir mit ihrer Hilfe an unseren Schwachstellen feilen können. Wollt ihr sie anhören?“ Das Murmeln im Saal war immer lauter geworden, mit jedem Wort das Shin ausgesprochen hatte. Er hatte sich gesteigert wie ein Marktschreier und zuletzt wie ein Sport-Kommentator, der den Gewinner feiert. Neugierige Blicke trafen sie, ein paar bekannte Gesichter blickten skeptisch zu ihr. Miyuki hingegen wusste nicht mehr, wohin sie noch blicken sollte. Fast alles von dem was Shin gerade gepredigt hatte war erstunken und erlogen, gut, sie war von einem musischen Gymnasium. Aber weder war sie erkrankt, noch am Wettbewerb interessiert gewesen. Für eine gute Dirigentin hatte sie sich schon früher nicht gehalten, sie verließ sich lieber auf ihr Taktgefühl als auf ständiges Zählen. Dazu kam auch, dass sie es kaum hörte, wenn ein verstimmtes Instrument unter den anderen spielte. Jetzt jedoch hatte Shin sie als Genie gepriesen und Hoffnungen in die Köpfe aller gesetzt. Nun durfte sie niemanden enttäuschen. Er hatte sich entschieden und sie brachte es nicht fertig, ihn als schamlosen Lügner bloßzustellen. Also machte sie mit in Shins wundersamer Show. Achtzehn erwartungsvolle Blicke lagen auf ihr, als sie sich erhob und vor sie trat. Kapitel 2: Unison ----------------- UNISON Das Vorsingen war erfolgreich. Einstimmig wurde sie zur neuen Sängerin benannt und mit Fragen bestürmt bis Shin Einhalt gebot und an die Probe erinnerte. Kraft ihres neuen Amtes unterstütze Miyuki ihre neue Big Band nach bestem Wissen. Am Ende der Stunde war ihr leichter Ärger über Shins Lügen gänzlich verflogen. Zurück blieb viel mehr ein grenzenloses Staunen über den Schulsprecher. Man musste sich Shin als pflichtbewussten Schüler vorstellen. Einer, der Regeln achtete und sich nach ihnen richtete. Verlässlich und vertrauenswürdig wären ebenfalls Eigenschaften, die ihn gut umzeichneten. Diese faustdicke Lüge stand also in einem bemerkenswerten Kontrast. Er hatte sie geschickt eingesetzt um seine Geschichtchen zu untermauern und ihr immer wieder genügend Hinweise zugespielt, um auf das Theater eingehen zu können. Wenn sie die hoffnungsvollen Blicke der Jugendlichen sah fühlte sie sich gezwungen, ihnen die Wahrheit vorzubehalten um die Big Band zu erhalten. „Sie haben sich heute alle sehr bemüht.“ Begann Shin, als nur noch sie beide da waren. „Ja das habe ich gesehen.“ Lächelte Miyuki, entzückt über den Einsatz der 15-17 jährigen Bandmitglieder. Dann erst viel ihr der Knackpunkt ein. „Aber du hast sie alle belogen! Und wie unverschämt noch dazu!“ Shin wich ihrem Blick nicht aus. „Ist das so? Miyuki, überlass den Moralisten mal lieber mir, dir steht das nicht. Was meinst denn du? Sie hätten dich nicht einmal angehört wenn ich sie nicht so forciert hätte! Die meisten von ihnen haben genug vorsingende Mitschüler angehört, als sich noch jemanden antun zu wollen. Und du vergisst, wie arrogant du auf sie wirken könntest, immerhin hast du dich über die Ausschreibung hinweggesetzt und bist gekommen wann du lustig warst. Zumal es keine Lüge aus Freude an Unwahrheiten. Eine Notlüge eher, wenn überhaupt. Die werden dir doch hoffentlich keinen Zacken aus der Krone brechen.“ Von diesem Ausbruch verunsichert wich sie zurück. Stumm griff sie nach ihren Sachen. Miyuki hinterließ ihn wie angewurzelt, schloss die Tür leise hinter sich und nahm einen anderen Weg als gewöhnlich aus dem Gebäude hinaus. Jetzt noch ein bekanntes Gesicht aus dem Orchester zu treffen hätte ihre Nerven auf eine harte Probe gestellt. Die darauffolgenden Tage waren sie sich gegenseitig aus dem Weg gegangen, was die Kluft zwischen beiden immer größer und tiefer werden ließ. Shin hielt Miyuki inzwischen für eine geltungssüchtige, arrogante Kuh. Sie wiederrum verurteilte seinen Umgang mit der Band zutiefst. Ihrer Meinung nach könne er nicht loslassen, falls sie auseinander fiel und versuchte die Band mit immer neuen Lügen an sich zu binden. Die restliche Big Band hatte einstimmig beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Hätten Miyuki und Shin ihnen etwas mehr zugetraut, wären sie vielleicht hinter den Plan gekommen. Ein kleiner, schmaler Junge stand nun auf einem Stuhl vor den anderen. „Also. Noch einmal für alle. Wir sind heute hier weil wir auf unser Schulrecht § 36b zurückgreifen wollen. Wir, als Orchester, wollen eine Freizeit veranstalten. Das müssen wir den beiden nur klar machen. Ich schlage ein Zeltlager vor, dann haben wir alle Zeit Ideen zu sammeln, was wir mit den beiden anstellen. Es kann nicht angehen, dass sie sich weiter angiften. Wir brauchen ihren Halt und sie unsere Unterstützung. Seid ihr einverstanden?“ Er redete laut und gefühlvoll. Die anderen fühlten sich mitgerissen und stimmten zu. Der Vorschlag war erst ein paar Tage alt, hatte aber, nicht zuletzt wegen der Option auf ein Zeltlager, beigeisterte Anhänger gefunden. „Miuyki ist auf dem Gang!“ meldete ein Mädchen, das sich gerade durch den Türspalt zwängte. Sie war als eine Art Späher platziert worden damit der geheime Plan der Truppe nicht durch ein pünktliches Eintreffen der beiden Älteren zerstört wurde. Miyuki musste noch immer schmunzeln, wenn sie daran zurückdachte, wie sie es geschafft hatten, dass sich Shin und sie seitdem mit Verständnis und Respekt begegneten. Gleichermaßen waren sie auf der Fahrt alle zusammengewachsen, was auch ihren musikalischen Leistungen einen Schub gab. Nun war sie an der Straßenkreuzung angekommen. „Morgen Miyuki.“ „Hallo Shin. Na, alles klar?“ „Sowieso.“ „Hast du noch mit Lan reden können?“ „Ja, wir haben das Ganze mal ein bisschen geplant. Wir haben uns darauf geeinigt, zusammen trinken zu gehen, weggehn, mal ins Kino. Was Freunde halt so machen.“ Shin zuckte mit den Schultern. „Ich nehm auch an, dass wir uns ab und zu zum Musik machen zusammen setzen werden. Hast Du was Bestimmtes geplant?“ Nein, das hatte sie nicht. Doch allmählich befielen sie die Zweifel über ihren vermeintlich gut überlegten Plan. Alles was sie tun wollte war sich zurücklehnen um zuzusehen, wie sich alles entwickelte. Sicherlich würden sich noch genügend Gelegenheiten ergeben, die Chemie untereinander auszutesten. Und die Gelegenheiten kamen. Allerdings erst zwei Wochen später. Lan meldete sich von einer Reise zurück und versprach, die anderen beiden nach der Bandprobe abzuholen. Shin fing Miyuki im Kopierraum ab, um ihr Bescheid zu geben. Sie war gerade dabei, Abzüge der Probenpläne für alle zu machen. „Shin, gut dass du vorbeischaust..“ begann sie und war schon dabei, ihm die genaue Auflistung der Pläne genauer darzulegen, als er sie unterbrach. „Hey Mi-chan! Kannst du dir nächsten Donnerstagabend freihalten? Lan wollte nach der Probe vorbei schaun.“ „Ja, das ist schon recht. Solang er nicht zu früh kommt.“ Jetzt hatte sie die passende Überleitung, hielt ihm den Packen Kopien hin und erklärte. „Wir haben nur noch sechs Wochen bis der Ball stattfindet. Ich hab schon mit den anderen geredet, sie haben nichts dagegen, anstatt ein-, zweimal die Woche zu proben. Dann haben wir noch ein bisschen Puffer nach hinten raus.“ Er seufzte und murmelte etwas in der Art „sag das mal den Lehrern mit ihren Klausuren..“ Sie schob sich an Shin vorbei, schloß die Tür und gemeinsam gingen sie zurück. Die folgende Stunde wurde vom Jahrgangsleiter gehalten. Ein nicht allzugroßer, dünner Mitt-Fünfziger, der sich hinter einer großen runden Brille versteckte und ständig den Eindruck machte, als befürchte er seine Schüler könnten sich jeden Moment auf ihn stürzen und ihn zu Kleinholz verarbeiten. Es gab größtenteils organisatorische Dinge zu bereden. Kursbelegungen, Zensurenverteilung der letzten Klausur und schließlich der baldige Weihnachtsball. „Wie ihr alle wisst, findet in sechs Wochen unser schöner, schöner Weihnachtsball statt. Diese Tradition erhalten wir schon seit Jahrzehnten an dieser Schule. Leider haben wir in den letzten Jahren die Erfahrung machen müssen, dass manche, viele, nicht erschienen sind. Das mag teils daran liegen, dass die Paare nicht sorgfältig zusammengestellt wurden und teils daran, dass die Veranstaltung an sich nicht ernstgenommen wird. Ich möchte nicht so weit gehen, es eine Pflichtveranstaltung zu nennen, aber es muss doch möglich sein, dass Sie sich für sowas erwärmen können! Zudem haben wir ja dieses Jahr schon im Frühjahr begonnen, Ihre Sport- in Tanzkurse umzuwandeln, sodass Sie alle gut trainiert sind. Also möchte ich bis Ende der nächsten Woche Ihre Tanz-Zusammenstellung inklusive Unterschriften beider Partner auf den Listen an den Klassenzimmertüren vorfinden! Natürlich ist alles Klassen- und Stufenübergreifend.“ Im darauffolgenden Stimmengewirr gingen die Anweisungen des Lehrers soweit unter, dass er resignierend das Zimmer verließ. Es war ohnehin Ende der 9. Stunde. Er hatte nicht alles gesagt, was er sich vorgenommen hatte, doch er hoffte, den Zweck dieser Veranstaltung erfolgreich transportiert zu haben. Ebenso war es nämlich Tradition, das ganze schulintern zu halten, ohne dass Auswärtige hinzugezogen wurden. Das war merkwürdiger Weise ein Teil davon, der immer recht reibungslos funktionierte. Natürlich war der Ball schon am nächsten Morgen das Gesprächsthema schlecht hin. In den Pausen sah man viele im Schulgebäude hin- und herlaufen. Aufgrund der sinkenden Temperaturen blieb man jetzt im Haus anstatt die kurze Zeit im Hof zu verbringen. So saß man etwas näher auf einander als gewöhnlich, was natürlich der Sache nur förderlich war. Nach und nach füllten sich die aushängenden Listen und man sah dem Ball mit wachsender Spannung entgegen. Miyuki vermied es, genauere Blicke auf sie zu werfen. Sobald ihre Gedanken um den Ball kreisten, durfte sie nichts anderes erwarten, als einen guten Auftritt. Der Hintergrund für ihre leeren Blicke war die Tatsache, dass sie bisher niemand zum Ball gebeten hatte und vermutlich würde sich daran nicht viel ändern. Sie hatte keinen speziellen Wunschkandidaten, doch es hatte ihr einen Dämpfer versetzt, zu sehen, wie sich Shin und Hana eintrugen. Beide lachten verlegen. Auch war Miyuki altmodisch genug, dass sie erwartete von einem Jungen aufgefordert zu werden, anstatt selbst jemanden danach zu fragen. Sie fand, dass sie das wohl erwarten durfte. Wie peinlich wäre es gewesen, einen jungen Mann zu bitten, der am Ende schon vergeben war, besonders jetzt wo es ohnhin schon recht spät dafür war. ‚Du solltest dich auf den Auftritt konzentrieren. Dann klappt wenigestens das.’ Dieser Gedanke half ihr. Es gab noch genügend Vorgänge zu organisieren und einen Haufen von Dingen, die bewerkstelligt werden wollten. Sie öffnete die Flügeltür zur Aula und fand ihre Truppe wie gewohnt bereits beim Einstimmen ihrer Instrumente. Sie waren vollzählig, sodass sie sogleich mit den Planungen begannen. „Wie schon angekündigt habe ich hier die erweiterten Probenpläne bis Weihnachten. Der zusätzliche Tag ist Montag. Ich hab mich bemüht, das mit den Stundenplänen abzugleichen, ich hoffe, ihr seid alle damit einverstanden. Auf dem Beiblatt ist das Repertoire aufgelistet, das abgerufen werden können muss.“ So wurde abgestimmt, welche Lieder man entgültig spielen wollte, man besprach zeitliche Abläufe, korrigierte Tonfolgen und machte und tat so viel, das bis zum Ball nur noch geprobt werden musste. Shin war erstaunt darüber, wieviel Miyuki in dieser kurzen Zeit mit ihnen durchgepaukt hatte. Auch über ihre Strenge und Disziplin wunderte er sich. Das schadete zwar keinem von ihnen, aber an ihr war es ungewohnt zu beobachten. Ihnen allen lag das Fest sehr am Herzen. Aber wovon versuchte sich Miyuki so offensichtlich abzulenken? Pünktlich um dreiviertel acht erschien Lan auf der Bildfläche. Miyuki hatte schon den Stapel Kopien für nächste Woche am Sortieren und Shin versuchte sich möglichst unauffällig am hinteren Ausgang von Hana zu verabschieden. „Hallo Lan“, begrüßte Miyuki ihn, „wie geht’s Dir?“ „Danke gut, obwohl die Fortbildung wirklich anstrengend war. Ich bin erst vor drei Stunden zurückgekommen. Aber ich habe euch noch ein bisschen proben gehört. Der Ball dieses Jahr wird echt super, wenn ihr spielt!“ Er zwinkerte ihr zu, ohne dass sie verhindern konnte, leicht rot zu werden. „Stimmt Du warst ja auch hier auf der Schule.“ Das Schicksal ließ den Gedanken nicht schnell genug reifen. Könnte es sein, dass Lan ebenfalls Lust hätte, zum Ball zu gehen? Und woher sollte er schon wissen, dass sie keinen Tanzpartner hatte. Miyuki beschloss, das Risiko einzugehen. „Lan, gehst du heuer zum Ball? Ich habe nämlich noch...“ Doch in dieser Sekunde unterbrach Shin die beiden. Freundschaftlich klopfte er Lan auf die Schultern. Er schien ausgelassen und grinste übers ganze Gesicht. „Na Lan, wie war Dein Urlaub? Schon was geplant für heute Abend?“ Der Schlagzeuger sah Miyuki kurz fragend an, als sie den Blick senkte und sich wieder den Noten zuwandte. „Eigentlich gar nichts. Ich hab mir allerdings überlegt euch heute Abend ins Cardinal zu schleifen. Da spielen öfter junge Bands. Vielleicht wärs mal ganz interessant reinzuhören. Andererseits ist da nichts mit unterhalten oder so.“ „Dann gehen wir doch einfach wo was trinken.“ Schlug Shin vor. „Auf Konzert hab ich grad eh nicht unbedingt Lust. Und Mi würden sie nicht mal reinlassen.“ Miyuki war des Streitens zu müde um sich dagegen zu wehren. Sie sah an sich herunter. „Da hat Shin Recht. Also, wohin geht es?“ Ihre Gedanken kreisten fast nur noch um den Ball. Ihr Gesicht glühte förmlich und in ihrer Brust breitete sich ein unangenehm stechendes Gefühl aus. Sie war nicht der draufgängerische Typ und sie würde es nicht schaffen, Lan noch einmal zu fragen. Abgesehen davon hatte Shin nicht allzu Unrecht. Im Gegensatz zu ihr, wirkten die beiden ausgangsfertig, während sie ihrem einfachen Shirt und der Latzhose nicht unbedingt dazupassen wollte. Lan musterte sie gedankenverloren. Sie wollte ihn etwas bezüglich der Weihnachtsfeier fragen, nur was konnte er sich nicht zusammenreimen. Shin hatte ihm erzählt, dass „Mi-chan“ auf die Schule gewechselt hatte, sie war also nicht von kleinauf hier aufgewachsen, so wie die meisten anderen. Vielleicht war sie auch noch nicht auf dem Weihnachtsball gewesen und hatte einfach diesbezüglich Fragen. Aber so wie es schien hatte sie alles dermaßen gründlich durchorganisiert, dass eher er die Fragen hätte stellen müssen. Dennoch, sie wirkte bedrückt und etwas fahl, nicht so lebendig wie sonst. ‚Aufgebraucht’, fiel ihm ein. Er betrachtete sie immer noch, während sie noch die letzten Hinterlassenschaften aufräumte und ihren Mantel anzog. Sie wirkte verloren, irgendwie, ohne dass er es genauer hätte erklären können. Gerne hätte Lan ihr geholfen, doch er wollte ihr nicht mit seiner Neugierde auf die Nerven gehen. ‚Vielleicht hat sie Probleme mit einem Kerl’ dachte er, ebenfalls nicht neidlos. Laut sagte er jedoch: „Richtung Innenstadt.“ Sie landeten in einer kleinen Bar, unauffällig in einer abzweigendem Gasse auf ihrem Schulweg gelegen. Das „Sakander“ ließ sie an längst vergangene Zeiten denken. Im Inneren war alles mit Holz verkleidet und das Mobilar eher rustikal gehalten. Nichts desto trotz herrschte eine gemütliche Atmosphäre. Sobald man eintrat, hatte man das Gefühl, wichtige geheime Pläne schmieden zu müssen. Miyuki ging dies wohl gerade ebenso wie Lan durch den Kopf, unwissend natürlich, und ihre Laune hob sich ein wenig. Etwas, das sie hier planen würden, schien unter einem guten Stern zu stehen. Die Tür öffnete sich abermals und ein weiterer Gast kam herein, schritt an ihnen vorbei und zielstrebig auf einen der letzten freien Tische zu. Lan wählte einen rückwärtigen Tisch, der fast ein wenig in einer Nische stand und bot Miyuki den Platz ihm gegenüber an. Shin setzte sich an den Kopf der kleinen Tafel. Seit sie eintraten, tat der Gitarrist etwas geheimnisvoll, behielt die Katze allerdings vorerst noch im Sack. Er bemühte sich, seine zu Sorge mutierten Gedanken um Miyuki ein wenig zurückzustellen und ließ dann die Bombe platzen: „Warum ich euch hier her gebeten habe“ Er machte eine kleine Kunstpause. „Wir haben die Anfrage auf einen Gig. An Sylvester.“ Die Bombe platzte. Shin und Miyuki sahen sich ungläubig an. „Wer engagiert eine Band, die er nicht kennt?“ wollte Shin wissen, als er sich vom ersten Schock erholt hatte. Lan blinzelte ihm verschwörerisch zu. „Jemand, der meinem guten Geschmack vertraut. Ich hab nicht gelogen, wenn Du das meinst. Aber ich habe mich getraut zu behaupten, dass unser Konzept vielversprechend ist. Natürlich ist das ganze erst sicher, sobald wir einmal vorgespielt haben. Na, was sagt ihr?“ „Wir haben keinen Bass.“ Merkte Miyuki ruhig an. „Wir sind ein sehr gutes Team und ohne mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen: Wenn wir wollen können wir weit kommen. Aber ich bin auch dafür, klassischer Weise eine Bass-Gitarre mit einzugliedern. Und das wird schwer sein, in unserer Harmonie jemanden zu finden, der sozusagen perfekt ist. Solche Gitaristen findet man nicht einfach so auf der Straße.“ „Auf der Straße nicht“, mischte sich eine fremde Stimme ein, „aber hier vielleicht.“ Kapitel 3: Trill ---------------- TRILL Der junge Mann, der kurz nach ihnen eingetreten war, saß lässig zu ihnen gedreht auf seinem Stuhl und grinste. „Hier im Sakander scheint so einiges möglich zu sein. Ihr sucht einen ambitionierten Bass-Gitarristen und meine Suche nach einer fähigen Band scheint ebenfalls beendet zu sein.“ Eine kurze, ungläubige Stille folgte. „Aber ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Jake Winter.“ Er war inzwischen aufgestanden und hielt Shin, der ihm am nächsten saß, freundschaftlich die Hand entgegen. Dieser schlug ein und stellte sie der Reihe nach vor. Miyuki rückte einen Platz auf, sodass sie nun zu allen vier Seiten des Tisches saßen, Jake Lan gegenüber. So hartnäckig sich letzterer bemühte, gegen den Neuen keine Vorurteile aufzubauen, gelang es Lan nicht richtig. Er glaubte, Jake vom Sehen zu kennen und allein schon seine Anrede Miyuki gegenüber missfiel Lan. Möglicherweise glaubte er, der Neuling würde ihm sein Revier streitig machen. Abwegig schien dies nicht. Jake, der sich inzwischen vorgestellt hatte, war ein australischer Einwanderer, der bereits 10 Jahre in Japan bei seinen Großeltern lebte. Das erklärte, wieso er trotz seiner Statur leichte japanische Züge trug. Sein Gesicht war leicht gebräunt und von langem, schwarzen Haar eingerahmt. Seine tiefgrünen Augen fixierten immer wieder mit einem besonderen Blick Miyuki. „Tut mir leid, dass ich mich einfach so in eure Unterhaltung eingemischt habe. Aber meine neugierigen Ohren konnten etwas für mich so interessantes unmöglich überhören.“ Er schob ihnen eine CD zu. „Survivor Project“, las Shin laut vor, „Hatten die vorletztes Jahr nicht soetwas wie ein lokales ‚One Hit Wonder’? Was sollen wir damit anfangen?“ „Es war nicht ganz ein One Hit Wonder“, korrigierte Miyuki, „hier in der Gegend waren die schon bekannt mit einen Song, der in die mittlere Top 50 der Charts gekommen ist. Danach ist die Band auseinandergefallen, weil der Sänger durch eine Überdosis im Krankenhaus landete.“ „Da ist aber jemand gut informiert! Nachdem Taro einige Male rückfällig geworden war, hatten unsere Proben schon über ein Jahr ausgesetzt, niemand kannte uns mehr und ehrlich gesagt trauten wir ihm keinen Neustart zu.“ „DU bist deren Bassist gewesen?“ „Nein, nicht ganz, Gitarrist. Aber da ihr bereits einen Guten zu haben scheint, biete ich mich fürs Bass an. Na, wie wärs? Meine Erfahrungen können euch nur von Nutzen sein.“ Ganz geschickt, dachte Lan. Er bootet mich nicht aus, sondern handelt frei nach dem Motto ‚Wenn du den Kavalier töten willst, töte erst das Pferd’. Nämlich indem er Respekt und offenes Vertrauen zeigte. Von Lans Fähigkeiten konnte er wohl kaum allein durch dieses kurze Gespräch überzeugt sein. Die Frage war nur, ob Miyuki auf den Möchtegern-Star hineinfiel. Sie meldete sich zu Wort. „Es ist wirklich unglaublich wen man hier so alles zufällig trifft.“ Begann sie in einem schwärmerischen Ton, dass Lan sie beinahe abschrieb. Doch ihr Ton veränderte sich. „Ich kann es mir kaum erklären, wie ein solcher Zufall zustande kommen kann. In dem Artikel über ‚Survivor Project’ habe ich gelesen, dass ihr etwas ausserhalb lebt, wie also kommst du ausgerechnet in dieses stinklangweilige Wohnviertel? So ganz allein mit eurer CD im Anschlag.“ Lan begann in sich hinein zu grinsen und Shin begann langsam, Miyukis Ausführungen zu folgen während Jake mit einer Mischung aus Verlegenheit und Interesse weiter zuhörte. „Ich frage mich nur, wieso du mir so bekannt vorkommst. Nicht von Zeitungsberichten, sondern von der Art her. Jetzt könnte ich mich fast daran erinnern, dass ich einen kleinen Jungen im Orchester habe, Ko-chan, der ebenfalls auf den Nachnamen ‚Winter’ hört.“ Jake seufzte laut. „Alright Ms. Marple. Unser Treffen hier war nicht ganz so zufällig wie es den Anschein haben sollte. Aber ganz so kalt kalkuliert, wie Sie es hier darlegen, war es auch nicht. Wenn man einen kleinen Bruder hat, so wie der Angeklagte, der urplötzlich von einem Tag auf den anderen mit Freude und Motivation in seine Orchesterproben hüpft, wird man zwangsweise neugierig. Man fragt nach dem Grund. Oder besser gesagt, man frägt nicht. Denn dann beginnt ein Wasserfall von Lobeshymnen auf die begnadete neue Sängerin. Er ist nicht so leidenschaftlich, dass er es von allein erzählt hätte, aber wenn man ihn hört, wie er von dir schwärmt wird man direkt neidisch.“ Miyuki wusste kaum wie sie reagieren sollte. Einerseits freute sie sich, bei den Kindern einen solchen Eindruck hinterlassen zu haben, jedoch fragte sie sich andererseits, was Jake mit diesem Ausschweifen bezwecken wollte. Lan bemühte sich eisern, seine Fassung nicht zu verlieren und den Schleimbolzen ungespitzt in den Boden zu rammen und auch Shin klappte seine Kinnlade erst wieder hoch, um nicht im Strom von unerhöhrlichen Dingen zu ertrinken. „Du hast deinen Bruder auf Miyuki angesetzt?“ „Auf Miyuki, ihre Band, auf jeden einzelnen von euch“ bestätigte er stolz. Als sich in seinen beiden männlichen Gegenübern jedoch nicht das geringste bisschen Verständnis regte, sie im Gegenteil misstrauisch und launisch wurden, bemühte er sich die Lage zu beschwichtigen. „Meine Herren, jetzt tut doch nicht so, als wäre ich ein Stalker! Als ich Ko-chan einmal von der Probe abholte, hab ich lediglich gefragt, wer das denn sei und er erklärte es mir. Natürlich war da mein Interesse mehr als geweckt und ich bat ihn, mich auf dem Laufenden zu halten. Das ist alles.“ Die anderen drei tauschen skeptische Blicke aus und trafen still eine Entscheidung. Der Sängerin war es überlassen, das Urteil auszusprechen: „Nächsten Donnerstag, nach Orchesterprobe.“ Dann erhob sie sich und entschuldigte sich mit einer kurzen Geste zur Toilette. „Was ist denn mit ihr los? Irgendwie wirkt sie gestresst.“ Shin lehnte sich zu seinem Freund. Mit einem kurzen Blick zu Jake erwiderte Lan: „Kein Wunder dass sie entnervt ist. Aber ist ausser ihm hier noch was los?“ „Nichts besonderes. Nur Klausuren, Orchesterproben. Das bedeutet, momentan mehr Orchesterproben, damit auch alles sitzt. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ihr das zu schaffen macht, es ist ja ihr Hobby und sie kümmert sich gern um die Kids.“ „Meinst Du, es hat mit dem Ball zu tun? Neulich bei der Probe wirkte sie so ernst, ich glaube, sie wollte etwas fragen.“ Nun hielt Jake nicht mehr an sich. „Ihr habt den Weihnachtsball noch? Das ist ja irre. Seid ihr beide auf dem daVinci?“ „Ich bin es noch, Lan ist schon vor einer Weile abgegangen.“ Lan bestätigte. „Hab vor zwei Jahren meinen Abschluss gemacht.“ „Achso. Naja, bei mir ist es inzwischen sogar schon ungefähr vier Jahre her. Na, aber wenn euer Goldstück da auftritt, werdet ihr doch hingehen hoffe ich? Für Shin ist es ja fast eine Pflicht eine seiner Mitschülerinnen auszuführen und Lan und ich sind doch sicherlich als Ehrengäste eingeladen.“ „Natürlich. Es kommen immer viele Ehemalige. Ich werde auf jeden Fall mit Hana dort sein.“ Miyuki kam zurück und spitzte die Ohren. Kaum war sie weg wurde ihr unliebsamstes Thema Nummer eins aufgeschlagen. Sie setzte sich gerade als Jake nach Hana fragte. „Sie ist inzwischen am Ende der Mittelstufe. Und wie sieht es mit deiner Lady aus, Lan?“ Mit einem Mal wurde es still am Tisch. Das Thema driftete in Ebenen ab, die Miyuki schlecht beeinflussen konnte. Nachdem sie Lan abgehandelt hatten, wäre sie an der Reihe. Aber Lan, abgehandelt? Sie beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. „Lan, würdest Du…“ „Allerdings.“ Sie erstarrte mitten im Satz. Diese Antwort war natürlich nicht ihr zugedacht, wie auch, hatte sie doch noch nicht einmal fertig gesprochen. Blieb also nur Shins Frage nach der Tanzpartnerin. Lan blitzte Jake an. „Eine gute Freundin von mir hat dieses Jahr mit der Oberstufe begonnen. Ich habe sie mitgebeten, damit ich auch dabei sein kann.“ Beim zweiten Satz zwinkerte er Miyuki verschwörerisch zu. Diese stöhnte innerlich. ‚Der Zug ist dann wohl abgefahren’ dachte sie traurig. Kein Lan. Kein Tanzpartner. Kein Happy-End. Wobei letzteres hauptsächlich bedeutete, dass sie überhaupt hingehen konnte. So viele Gedanken zuckten ihr innerhalb von Sekundenbruchteilen durch den Kopf, dass sie gerade noch schnell genug reagieren konnte als sich drei neugierige Augenpaare auf sie richteten. „Oh einen Moment, ich glaube, da ruft gerade wer an.“ Entschuldigte sich und kramte hektisch und umständlicher als nötig in ihrer Handtasche. Endlich zog sie ihr Handy mit einem „Ha!“ heraus, das unschuldig und nicht klingelnd in ihrer Hand lag, während sie so tat, als lese sie den Anrufer vom Display ab. „Hallo Mam! Was gibt’s?“ meldete sie sich zu ihrem imaginären Telefonat. Dann hörte sie eine Weile und erwiderte in lässigem Tonfall. „Aber die kommen doch erst am siebzehnten!“ Shin gab Handzeichen, um ihr zu bedeuten, dass es bereits der 17. war. Miyuki riss die Augen auf, bedeutete ihrer Mutter, die Gäste in Schach zu halten und legte auf. „Tut mir leid Leute, aber ich hab völlig vergessen, dass meine Großeltern für dieses Wochenende hier sind, ich muss mich wirklich schicken!!“ sprachs und entschwand aus der Schenke. Sie hinterließ drei etwas verdutzte junge Männer, ein halbes Glas Spezi und die Zeche dafür. „Das aber war ein schneller Abgang.“ Kommentierte Jake trocken. „Allerdings.“ Nickte Lan und sah zur Tür, die eben entgültig ins Schloss fiel. Miyuki verlangsamte ihren Gang erst, als sie gute fünf Minuten vom Sakander entfernt war. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihr hoch und trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Wieso, warum hatte sie niemand aufgefordert? Sie war weder eine graue Maus noch unbeliebt an der Schule. So kitschig es auch klang, sie wollte den gleichen Stress, den es bedeutete, ein Kleid auszuwählen, sich an besagtem Abend zurecht zu machen. Es war ja ihr erster Ball. Diese Stimmung des ersten Males, die Aufregung, bevor er sie abholen würde und so fort. Zudem hatte sie keine Ahnung wie sie sich beim Ball und dessen striktem Aufbau davon schleichen sollte. Die Planung sah zuerst ein kleines, halb- bis dreiviertelstündiges Konzert der Big Band vor, währenddessen sich die Gäste mit einem Willkommens-Cocktail (je nach Stufe auch alkoholfrei) in Stimmung brachten. Dann, nach dem Auftritt sollte ausgerechnet das Orchester den Ball mit einem Walzer eröffnen. Wie Miyuki die Proben dafür ohne lästige Fragen überstanden hatte, wusste sie schon gar nicht mehr. Aber man würde genau auf die Sängerin achten, da das Orchester in strikter Ordnung, und nebenbei gesagt freiwillig, schwarz und weiß trug. Über die Solokünstlerin wurde abgestimmt, sie habe farblich hervorgehoben zu sein. Egal wie man es drehte und wendete, es würde immer eine peinliche Situation dabei herauskommen, würde sie tatsächlich – und danach sah es aus – tanzpartnerlos bleiben. Der Ball rückte immer näher und die Sängerin wurde in dieser Zeit immer stiller und nachdenklicher. Jake stellte mit dem Probespiel seine Qualitäten unter Beweis, wurde in die Band aufgenommen und trug wesentlich zu deren Namensgebung bei: Cerise Black. Das einzige, was noch etwas haperte war das Zusammenspiel, doch auch das wurde von Mal zu Mal ein kleines bisschen besser. Auch legte sich Jake jetzt mehr ins Zeug. Seine Bemühungen richteten sich mehr auf Shin und Lan, seit er begriffen hatte, wie wichtig deren Freundschaft in der Band waren. Was nicht bedeutete, dass sie schnell Freunde wurden. Miyuki dachte im Gegenzug nicht viel über Jake nach. Sie war verletzt und kam aus dem Grübeln nicht mehr hinaus. Keiner, niemand, nicht ein einziger hatte auch nur annähernd versucht, sie probeweise zum Ball einzuladen. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf und verursachte ein hartnäckiges, unangenehmes Stechen in ihrer Brust. Gedemütigt fühlte sie sich und sie suchte nach der Eigenschaft, die sie für andere, so glaubte sie zumindest, so abstoßend wirken ließ. Ihre Konzentration litt stark darunter, so auch Big Band- und Cerise Black-Proben und nicht zuletzt der Unterricht. Es ging soweit, dass einer der Lehrerinnen sie nach dem Kurs zu sich rief. „Miyuki, ist momentan alles in Ordnung bei dir?“ fragte sie in ihrer direkten Art ohne Umschweife. „Ja, eigentlich.. Nein ist es nicht.“ Resignierte Miyuki. „Ich bin nur ein bisschen neben der Spur wegen des Balls.“ Es fiel ihr sichtlich schwer, sich der Frau anzuvertrauen. „Es hat mehr mit mir als mit anderen zu tun.“ „Vielleicht könntest du versuchen die positiven Seiten davon zu finden, was auch immer es ist. Es wird vorbei gehen und sich eine Lösung finden, da bin ich mir ganz sicher. Nur darfst du dich nicht so gehen lassen. Bestimmt setzt nicht nur das Orchester auf dich.“ Mit diesen Worten und einem ernsten Blick aus ihren milden Augen verließ sie das Klassenzimer. Sie bemühte sich den ganzen restlichen Donnerstag keinen Gedanken an das bevorstehende Fest zu verschwenden und wenn dann nur an die guten Seiten. Wenn Freundinnen von wunderbaren Abendkleidern oder ihren Tanzpartnern schwärmten freute sie sich nach Kräften für sie. Sie zuckte auch nicht mehr zusammen, sobald jemand sie und den Ball in einen Satz brachte und unterdrückte jedes Gefühl von Trauer oder Missmutigkeit. Die Orchesterprobe entfiel wegen einer großen Klassenarbeit und so fanden sich die vier bereits um 17 Uhr ein. Zumindest theoretisch, denn von Jake war noch keine Spur zu sehen und auch Shin schien sich diesmal zu verspäten. Die Sängerin öffnete gerade die Tür zum Musiksaal, als sich eine warme Hand auf ihre Schulter legte und jemand nah an ihrem Ohr sagte: „Schau doch nicht immer so traurig.“ Tatsächlich stiegen ihr gerade wieder sämtliche Erlebnisse hoch und sie glaubte unbeobachtet leise seufzen zu dürfen, doch nicht einmal das war ihr gestattet. Sie wandte sich zu dem Sprecher um und sah mit großen, leicht glasigen Augen in Lans besorgtes Gesicht. Die Situation war rührselig. Miyuki, die so dringend jemanden brauchte, der eine Schulter zum Anlehnen hatte und dem sie die Geschichte erzählen konnte. Und Lan, dem sie so allein und hilfebedürftig vorkam, dass er sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Doch noch während er über ihr leeres Gesicht grübelte, verflog dieser Moment und sie traten in den Raum. „Sag doch wenigstens was los ist.“ Die Tür wurde geschlossen. „Das geht schon bald seit zwei Wochen, diese Stille an dir. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich darauf tippen, dass es mit Jake zu tun hat.“ Jetzt war Lan es, der schwieg. Vermutlich, da ihm aufging, dass er es gar nicht besser wusste. Eifersucht? „Nein, Jake war nicht der Auslöser.“ Beschwichtigte Miyuki ihn. ‚Vielmehr warst es du’ fügte sie in Gedanken hinzu. Der Moment in dem Lan mit einem Augenzwinkern verkündete, er wäre mit einer Freundin mit auf dem Ball, hatte in ihr viel ausgelöst. Sie wusste nicht, woher dieses Gefühl kam. Es war ein bisschen Eifersucht, eine Prise Schlag in den Magen, abgeschmeckt mit Enttäuschung, Trauer und Wut auf sie selbst. Denn es war der Moment, in dem er klar aussagte, dass er vorher noch keine Tanzpartnerin gehabt hatte. Die Sekunde, in der sich Miyuki wie ein Volltrottel vorkam, weil sie ihn nicht gefragt hatte. Und schließlich auch die Einsicht, dass die letzte Chance nun auch vorbeigezogen ist. Verliebt? Lan war für sie inzwischen ein guter Freund geworden, jemand, zum Pferde stehlen. Auf eine etwas unerklärliche Art und Weise ergänzten sie einander im Spiel ideal und auch sonst waren sie auf einer Wellenlänge. Vielleicht war es tatsächlich mehr als sie sich selbst eingestand. Sie hatte jedoch keine Möglichkeit, diesen Faden weiterzuspinnen, denn der Schlagzeuger von Cerise Black trat soeben ein und fragte: „Nicht Jake? Es gibt größere Probleme als ihn?“ Doch er grinste. Der neue Bassist war zwar tatsächlich eine schiere Katastrophe, wenn man versuchte, ihm irgendeine Art von Ordnung beibringen zu wollen, aber alles in allem schloss er sich ihrem Teamgeist an. Ihr Gespräch mit der Lehrerin, Lans besorgte Miene als er hereinkam und nun Shins sprühende Lebenslust brachten Miyuki dazu, eine Entscheidung zu treffen. Mit seiner üblichen fünf- bis dreißigminütigen Verspätung trat nun auch Jake mit einem kurzen, Verlegenheit heuchelnden Grinsen ein. Nach allen Floskeln der Begrüßung wandte sich Miyuki an den Rest. „Ich würde gern mit euch Reden.“ Begann sie zögerlich. Sprechen vor vielen Leuten war eigentlich kein Problem. Zumindest nicht vor dem Orchester. Jetzt verhaspelte sie sich und obwohl sie den Mund ein paar Mal öffnete, kamen ihr die gewählten Formulierungen nicht über die Lippen. „Ich habe keinen Tanzpartner zum Ball.“ Kam plötzlich der Ruck. ‚Ich bin rot, ganz sicher bin ich bis über die Ohren rot angelaufen.’ Rasten die Gedanken durch ihren Kopf während sie sich eingehend mit der Maserung des Parketts beschäftigte. „Und das hat mich irgendwie ständig runtergezogen, ich weiß, dass das kindisch ist. Tut mir leid. Lasst uns jetzt bitte einfach anfangen wie üblich, okay?“ Lan wurde schlagartig einiges klar. ‚Das wollte sie mich immer fragen... Ich Volltrottel! Was hätte es nahe liegenderes gegeben?’ In Gedanken nannte er sich noch so einiges anderes. Laut sagte er, etwas harscher als gewollt: „Deshalb dein plötzlicher Aufbruch neulich im Sakander!“ Er war von sich selbst enttäuscht. Alles, was er wollte, war doch nur auch dabei sein. Sie vielleicht einmal zu einem Tanz aufzufordern und mit ihr an die Bar oder nach draußen zu schlendern. Stattdessen serviert er ihr auch noch noch mit einem Zwinkern die Tanzpartnerin. Woher sollte sie denn auch wissen, was für eine Beziehung er zu ihr hatte? Bestimmt ging Miyuki vom Schlimmsten aus. Derweil war Lans Begleitung nicht übermäßig begeistert gewesen und hatte noch ob der langen Freundschaft schließlich und recht spät, eingewilligt. Wie mochte das nur erst nach Aussen, auf SIE wirken? Und Shin setzte hinzu: „Und die Themenwechsel, das urplötzlich Beschäftigt-sein und deine Ablehnung.“ Unter dieser Kanonade von Fragen wich Miyuki zurück und stieß mit ihrem Rücken gegen den Flügel. Beschämt gab sie alles zu und entschuldigte sich mehrmals. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Zwar hatte sie sich jetzt frei von einer großen Last geredet, doch sie wusste, wie irrig die Vorstellung war, Lan könnte bloß deswegen alles stehen und liegen lassen und seine Verabredung rückgängig machen. „Darf ich Dich bitten, mich zum Ball zu begleiten, Miyuki?“ Kapitel 4: Discord ------------------ DISCORD Lan trabte aus der U-Bahn. Er war unglaublich wütend. JAKE. Mensch gewordenes Grauen, personifizierte Antipathie und Wolf im Schafspelz. Er war so dermaßen dreist, dass man ihm erst einmal Absicht unterstellen musste um auf die Frechheit zu kommen. Alles was der Bassist seit Bandeintritt getan hatte, schien ihm geplant, was völlig weit her geholt war. Alles Gesagte schien konzipiert und alles Ungesagte erst recht. Sicherlich, Lan wusste dass er gerade wie mit Scheuklappen stumpf geradeaus dachte. Doch es half, zumindest für den Moment. Jake hatte Miyuki vor ihm und Shin zum Ball gebeten: Der strahlende Ritter in goldener Rüstung streckt die helfende Hand der am Boden liegenden Maid zu. Rettung in letzter Not. Heroisch, wenn man davon absah, dass dieser Dreckskerl… Nun blieb er stehen. Lächerlich benahm er sich. Die blinde Wut sollte lediglich von seinen eigenen Fehlern ablenken, von seiner Enttäuschung. Irgendwo war er hilflos. Aber warum dieser Gefühlsausbruch. Er atmete tief durch und begann, das Geschehene möglichst sachlich zu betrachten. Wie ein Theaterstück spielte sich das Szenario vor seinem inneren Auge ab. ERSTE SZENE: Die Beichte Miyukis. Das Mädchen berichtet den anderen drei Bandmitgliedern von ihren Sorgen. Ohne Tanzpartner würde sie den Ball nicht besuchen können und erklärt somit ihr Verhalten die letzten Akte über. ZWEITE SZENE: Zentraler Knotenpunkt. Die Reaktion der Jungen: Erstaunen und Mitleid regen sich bei ihnen. Schnell fallen ihnen die Ungereimtheiten der letzten Tage ein. Miyuki ist unangenehm berührt und entschuldigt sich. FINALE: Stimme aus dem Off Bittet das am Boden zerstörte Mädchen zum Ball. Nach einer kurzen Pause allgemeiner Verblüffung sagt sie freudig zu. UND DAS WARS! Inzwischen ärgerte sich Lan nicht nur über sich selbst und Jake sondern auch über Miyuki. Sie waren eine Band, alle zusammen. Man sollte meinen, dass man innerhalb über Probleme reden könnte. Aber so war es ja wesentlich dramatischer. Typisch Weiber. Zwar interessierte es ihn, warum er so aufbrausend wurde, aber das schrieb er mit fadenscheinigen Ausreden ab. Etwas empfinden? Für jemanden wie sie? Wohl kaum. Sie war temperamentvoll, manchmal – ach was, öfter! – eigen, um nicht zu sagen: egoistisch. Gut, sie sah nett aus und konnte singen, aber da war sie nicht die Einzige. Was er sich jedoch nicht ausreden konnte, war ihr Umgang miteinander. Dieselbe Wellenlänge sagte man wohl dazu. Aber nun wurde es ihm zu lästig. Diese Art von Gedanken legt man normaler Weise mit der Pubertät ab, das wusste er. Alles was er wollte, war nachhause. Wobei dort ein nicht minder großes Problem auf ihn wartete. Seine Schwester. Vor kurzem hatte sie sich verlobt, mit irgendeinem blöden Offizier. Nun war ein Kind unterwegs, die Hochzeit stand an und er wurde wie Ungeziefer aus der Wohnung geekelt. Die Gitarre sei zu laut. „Denk doch mal an meine Nerven! Und wie soll das erst werden, wenn das Kind da ist?“ – So oft wie sie von dem Kind sprach könnte man meinen, es würde gleich aus einem Schrank springen oder hinter der Couch hervorkriechen. Sein Lebensrythmus sei grauenvoll. „Wie kann man so gar nichts aus sich machen? Musiker! Dass ich nicht lache! Schau Dir doch einmal Akira an!“ – Punkt zwei nach dem Kind: Ihr komischer Ehemann, der es ja zu ach so viel gebracht hatte. Nur nicht zu einer eigenen Wohnung, denn sonst müsste Lan ja nicht gehen. Unfair war zudem von ihr, über einen Musiker in so abwertender Weise zu reden. Sie wusste ja, dass er nicht auf der faulen Haut lag und nur wenn er lustig war, auf seiner Gitarre klampfte. Im Gegenteil, er arbeitete seit geraumer Zeit in dem damals eröffneten Vergnügungspark und mimte dort anfangs den Crèpe backenden Barden, den Geschichtenerzähler im Turm oder wie momentan, und daran fand er am meisten Gefallen, den heldenhaften Ritter beim Turnier. Die Wohnung, aus der er grad in einem langwierigen Prozess rausgeschmissen wurde, gehörte zum Besitz seiner Eltern. Diese hatten bis kurz vor ihrem Tod noch ein beachtliches Anwesen und ein paar Häuser in der Stadt besessen. Alles was sie retten konnten, war diese eine, wenn auch sehr schöne Wohnung in der Innenstadt für ihre Kinder. Woran sie nicht gedacht hatten war, dass es gewisse Schwierigkeiten aufwirft, ein Ding zwei Personen zu hinterlassen. Nun wollte eben seine Schwester diese Wohnung. Und Lan hätte es sich eingehen lassen, wäre sie in aller Ruhe zu ihm gegangen und hätte wie mit einem normalen Menschen mit ihm geredet. Aber sie kam mitten beim Abendessen mit ihrem Anstandswauwau darauf zu sprechen und zwar auf die Art, mit der er auch bei Lehrern schon nicht zurecht gekommen war. Sie stellte ihn vor vollendete Tatsachen und erwartete absoluten Gehorsam. Dass viele Erwachsene, wie Lehrer, ihn nicht als gleich gestellt betrachteten, war bei deren Impertinenz nicht anders zu erwarten. Aber seine Schwester… Die Zeit, in der sie reibungslos miteinander auskamen, war längst vorbei. Sie ließ sich nicht zurückholen. Es war wie ein Windhauch, der Gedanke daran. Die beiden Geschwister hatten sich selten gut verstanden, so dass sie oft gleichzeitig dasselbe dachten und aussprachen. „Die selbe Wellenlänge.“ Diese Formulierung schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. Miyuki. Merkwürdig, dass er über zwei Personen so ähnlich dachte. Miyuki würde kaum etwas annähernd idiotisches verbrechen wie seine Schwester. Ausser sie würde mit Jake nicht nur zum Ball gehen… Zuhause angekommen erwartete ihn der allabendliche Irrsinn. Schwester und Fastschwager in der Küche. Er saß bei der Lektüre der Tageszeitung und trank eine Tasse Kaffee während sie in vorehelicher Stimmung brav am Herd stand und kochte. Nur etwas lag in der Luft. Lans feine Sinne waren alarmiert. Emotionale Veränderungen bemerkte er bei sich zuhause meist sofort. Das mochten winzige Details sein, für jemanden wie Akira kaum zugänglich. Doch er sah all die kleinen Zeichen, wenn Emi aus ihrer gewohnten Strenge ausbrach. Wenn sie hier und da ein bisschen dekorierte, oder einmal den Mantel an einem anderen Platz weghing. Meistens waren dies positive Zeichen. Anfangs, als sie Akira kennen gelernt hatte, unterstützte dieser das auch noch mit einem Heer aus unterschiedlichen Blumen. Wenn Lan daran zurückdachte, fragte er sich ob dieser Mensch jemals Ansätze eines Geruchsinns entwickelt haben mochte. Lan betrat die Küche, grüßte die beiden, indem er sie intensiv nicht ansah – denn umgekehrt war es genauso – und setzte sich an seinen Platz. Aufgedeckt war bereits und allem Anschein nach war auf ihn mit dem Essen gewartet worden. Langsam begann sich das ungute Gefühl zu entwickeln. Und dann begann Akira in der Innentasche seines Jacketts zu kramen. Er fand offensichtlich, wonach er suchte, zog daran und reichte es Lan. Das mehrfach gefaltete Zeitungspapier stammte wohl aus dem Mietmarkt des Anzeigenteils. Natürlich war ein Gesuch fett rot markiert. „Älteres Ehepaar sucht Zumietung für Enkel (21) in 3-Zimmer Parterre-WG mit Gartenanteil auf dem Grund. Pro Zimmer ~18qm². Küche und Mobiliar auf Wunsch vorhanden.“ Danach folgten Preisvorstellung und Kontaktdaten der Großeltern. „Wir haben zufällig diese Anzeige gesehen und dachten, wenn die Großeltern so fürsorglich sind, dann können wir das auch.“ Erklärte Akira den Ausschnitt. Erstens findet man nicht zufällig Mietgesuche wenn man Zeitung liest, ausser man sucht gezielt danach und zweitens bekomm ich gleich ’nen Lachkrampf, wenn Du das mit dem fürsorglich ernst gemeint hast. Hätte Lan gerne gesagt. Aber er blieb der Diplomat und beschränkte sich auf ein. „Ihr denkt aber auch wirklich an alles.“ Emi, die bis dahin völlig im Hintergrund gehalten hatte, drehte sich um. Mit einer Miene, die von einem schlechten Gewissen zeugte wischte sie verlegen Wasserspritzer von der Arbeitsplatte. „Weißt du, es ist eine rein rationale Entscheidung. Denk nur mal daran, wie uns die Decke auf den Kopf fallen würde, wären wir hier zu viert. Ausserdem denken wir, dass es deiner Selbstständigkeit gut tun würde, einem geregelten Tagesablauf zu folgen.“ Der Diplomat in Lan verabschiedete sich auf unbestimmte Zeit in den Urlaub. „Rationalität! Ich bitte Dich! ‚Wir denken dass…’ Die Emi, die ich kannte, hat für ein Gleichgewicht gesorgt und an ihrer eigenen Meinung festgehalten. Jetzt ist dieser Mann da und du wirfst mich für ihn über Bord. Ich verstehe nicht, wie man so tief sinken kann. Wenn…“ Doch er brach den Satz ab. Ja, wenn seine Eltern davon wüssten, dann. Aber sie konnten davon nicht mehr erfahren und außerdem hatte er bereits mehr gesagt als er wollte. Selbst für diese Emi musste es klar sein, wie der letzte Satz hätte enden sollen. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in sein Zimmer. Dort sank er gegen eine Wand und wartete ab. Doch niemand kam ihn holen. Lan erwachte erst am nächsten Morgen. Gerade recht, um in der Wohnung niemandem über den Weg zu laufen. In seiner zu einer Faust geballten Linken knisterte es, als er sich stöhnend versuchte aufzusetzen. Der Zettel. Er hatte den Zeitungsabschnitt die ganze Zeit über behalten. Resignierend beschloss er, dem Gesuch nachzukommen. Sich streckend und auf die kalte, harte Wand schimpfend verließ er sein Zimmer. Beinahe wäre er dabei über ein Tablett mit Frühstück gestolpert. Auf dem Tablett hatte wohl noch vor einer Stunde eine heiße Schokolade neben dem Croissant gedampft und vermutlich war die Butter noch etwas schwer streichbar, als sie Emi aus dem Kühlschrank genommen hatte. Die weiße Fahne seiner Schwester. Für Lan allerdings auch ein Zeichen, dass sie ihrem merkwürdigen Offizier klein beigegeben hatte. Für ihn war wohl die Zeit angebrochen, auszuziehen. „Ja, OMA, äh?“ meldete sich eine zarte, zaghafte ältere Frauenstimme. „Guten Morgen“ antwortete Lan und in Ermangelung eines Namens „Oma. Ich rufe an wegen der Zumietung. Sie haben gestern im Lokalblatt inseriert.“ „Ah ja, natürlich. Hm? Wenn Sie möchten, können Sie gerne anrufen, dann machen wir einen Termin aus. Ich gebe Ihnen unsere Nummer.“ Lan starrte den Telefonhörer an. Da die gute Frau allerdings gerade im Begriff war, aufzulegen, setzte er hinzu. „Ich rufe an wegen eines Termins. Das Zimmer ist doch noch frei?“ „Ähm. Ja, das Zimmer ist frei. Woher wissen Sie, dass wir vermieten?“ In diesem Moment schien jemand an die alte Dame getreten zu sein, um ihr das Telefonat abzunehmen. „Guten Tag, Junge. Sie wollen also das Zimmer mieten? Nun, schön dass so rasch jemand auf unsere Anzeige reagiert. Ich würde Sie bitten, sich im Laufe des Tages persönlich vorstellig zu machen.“ Lan versicherte dem Ehepaar, ihnen unverzüglich einen Besuch abzustatten. Allerdings war er nicht sicher, dass dieser von Erfolg gekrönt werden würde. Immerhin war zumindest „Oma“ reichlich schrullig. Trotzdem, oder gerade aus Dankbarkeit dem Alten gegenüber, der das Telefonat an der Schwelle zum Wahnsinn in Verständlichkeit gerettet hatte, war er auf dem Weg. Er schwang sich statt auf sein Motorrad nur auf das Rad, zwecks des ersten, äußerlichen Eindrucks, und fuhr Richtung Stadtrand. Wohnblocks wurden abgelöst vom Waldpark, dann kamen allmählich Einfamilienhäuser, alleinstehende Häuser, das Villenviertel. Noch auf dem Weg überprüfte er immer wieder irritiert, dass er sich nicht verfahren hatte, oder schlimmer, am Telefon verhört. Doch es hatte alles seine Richtigkeit: Auf dem Klingelschild in der Ahornallee 4 stand in altmodischer Handschrift feinsäuberlich: Wakamoto. Ebenso wie notiert. Jetzt wurde er unsicher. Hier, in dieser Einöde würde ihn niemand schreien hören… Doch was hatte er groß zu verlieren ausser eines ersten Platzes bei den nächsten Ritterspielen. Er trat ein. Es war eine liebenswürdige, japanische Villa. Der Haupttrakt umfasste sicherlich zehn oder mehr Räume, während der eine Nebenflügel, früher sichtlich eine Stallung, zur Garage umfunktioniert wurde. Diesem gegenüber auf der rechten Seite stand das selbe kleine Gebäude, welches wohl als kleines Wohnhaus genutzt wurde. Was für einen Zweck es früher erfüllte, darauf konnte sich Lan keinen Reim machen, es wirkte etwas zu prunkvoll, als dass es das Dienerhaus hätte sein können. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch auf das Hauptgebäude gerichtet, als dort das alte Ehepaar auf den Hof trat. Er hager, aber gerade aufgerichtet, sie zierlich und klein. Zudem kniff sie stängig die Augenlider zusammen, als ob sie in zu hellem Sonnenlicht stünde. Sie waren noch ausser Hörweite, deswegen war Lan sich nicht ganz sicher, doch er bildete sich ein, als hätte der Mann eben zu seiner Frau gemeint: „Ich finde nicht, dass der pervers aussieht.“ Diese Äußerung verwunderte ihn doch sehr, obwohl skurriles zu erwarten gewesen war. Laut sagte der Alte nun: „Herr Sekiei, das konnten Sie wirklich schnell einrichten.“ Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln führten sie ihn zu dem kleinen Nebenflügel, der tatsächlich als Wohnraum diente. Der Gang in der Mitte trennte zwei Wohnräume von einem weiteren, Bad und Küche. Besagter Enkel war nicht da, doch trotzdem hatte Lan das Gefühl, sich mit ihm zu verstehen. Durch die nur halb geschlossene Türe seines Zimmers konnte er im Vorbeigehen einen Gitarrenständer und ein paar bekritzelte Notenblätter erkennen. Zudem einen Computer und ein Gestell mit Hanteln. „Das hier wäre dann Ihr Zimmer, ähm?“ Sie zog die Tür auf und Lan sah in ein sonnendurchflutetes Zimmer. Es war leer, aber groß und an der Fensterseite gab es eine Schiebetür in den Garten. „Natürlich nur, wenn Sie hier Einziehen wollten.“ Ergriff der Alte das Wort, fast als befürchtete er, seine Frau wollte etwaige Verhandlungen führen. „Unseren Enkelsohn wollen Sie bestimmt zunächst ebenfalls kennenlernen. Nun bei ihm ist es ungewiss, wann man ihn hier zu Gesichte bekommt. Aber es ist ein junger Mensch, in Ihrem Alter, wir erwarten gar nicht, dass er sich bei uns an- und abmeldet.“ „Würden Sie mich denn ohne andere Mieter gesehen zu haben hier wohnen lassen?“ „Oh es waren schon zwei, drei junge Männer hier, aber sie haben keinen guten Eindruck gemacht. Und eine konkrete Wunschvorstellung haben wir nicht. Wir nahmen an, dass sich jemand im selben Alter bewerben würde und da unser Enkel selbst niemanden fand, sind wir jetzt aktiv geworden. Er ist ein guter Mensch, nur manchmal etwas ungenau.“ „Wieso vermieten Sie hier eigentlich? Wäre es Ihrem Enkel nicht lieber das kleine Haus allein für sich zu haben?“ „Junger Mann ich fürchte vorerst muss es Ihnen ausreichen, zu wissen, dass vermietet wird. Ob Sie hier wohnen möchten oder nicht, obliegt Ihnen.“ Sie waren bei ihrer Runde wieder im Hof angelangt und das alte Ehepaar nahm die Stufen zur Haustüre. Die plötzliche Stimmungsschwankung des Alten ließ Lans Zweifel aufkommen. Er blickte nochmal zu dem Wohnhaus hinüber. Im Garten wuchs Löwenzahn. Urplötzlich erinnerte er sich an eine Szene seiner Kindheit. In ihrem Garten hatte diese Blume ebenfalls geblüht. Seine Schwester hatte immer auf das „Unkraut“ geschimpft und als er daraufhin seine Mutter fragte, warum sie diese Pflanze wuchern ließe, sagte sie ihm: „Der Löwenzahn ist die Pflanze des Wandels. Er erinnert mich immer daran, dass nichts so bleibt, wie es ist, alles ist ständig in Bewegung, alles verändert sich, verstehst Du? Für mich ist er ein Zeichen, etwas in Bewegung zu bringen. Wie ein Mutmacher.“ Lan hatte damals nicht verstanden, warum seine Mutter eine lästige Pflanze nicht aus dem Garten tilgte, er war noch etwas klein gewesen. Doch jetzt hatte er das Gespräch ganz bewusst vor Augen. Wie ein Zeichen. „Herr Sekiei?“ Die Stimme des Alten holte ihn in die Realität zurück. „Herr Wakamoto. Ich möchte gerne bei Ihnen wohnen.“ So ging Lans Tag zuende. Ereignisreich, denn er hatte mit seiner Schwester gesprochen und begonnen, sein wenig Hab und Gut in Kisten zu packen. Stichtag für den Einzug war für das Ehepaar Wakamoto ab sofort und Lan wollte keine überflüssige Stunde in einem Hause verbringen, in dem er nicht willkommen war. Seine Schwester half ihm packen und ihr Verlobter versprach ihm, Möbel und Kartons in der folgenden Woche in sein neues Zimmer zu bringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)