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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.
von

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Die Bekenntnisse des Meisters

Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.

(mit Überlegungen von Andrea Malcolm

und Übersetzung von Yoru no Tenshi)
 

Ich schreibe dies in dem ohne Zweifel letzten Kapitel meines Lebens, um etwas in Worte zu fassen, das ich nicht mit in mein Grab nehmen kann. Ich weiß nicht ob diese Zeilen jemals gelesen werden und vielleicht wäre es auch besser wenn nicht. Doch in jedem Falle muss ich diese Geschichte, von der die Öffentlichkeit nichts ahnt, niederschreiben. Es geht mir dabei gar nicht so sehr um mich, sonder viel mehr um Sherlock Holmes. Er musste in seinem Leben vieles ertragen und davon war der Druck der Öffentlichkeit nicht das Geringste. Er war - zeitweise - dazu gezwungen, jemand zu sein, der er nicht war. Ich kenne ihn besser als jeder andere und deshalb nehme ich meine Feder wieder auf, um eine teure Seele schlussendlich zur Ruhe zu betten und die Wahrheit über diesen Mann zu zeigen und nicht nur über den Meister.
 


 

Kapitel 1
 

Rückblickend war das Jahr 1891 eines der glücklichsten und zugleich traurigsten Jahre meines Lebens. Niemals hatte ich solche Freude und solche Trauer im Zeitraum von nur wenigen Monaten erfahren und mehr noch, in jenem Jahr schien sich eine dunkle Wolke nicht nur auf meine Familie, sondern in der Tat auf London selbst zu senken. Doch dies soll noch rechtzeitig erzählt werden. Um die Ereignisse, die in jenem schicksalhaften Jahr und danach geschahen, völlig zu verstehen, ist es notwendig, auch zu verstehen, wie alles begann – an jenem Tag, an dem mein Leben eine unerwartete Wendung nahm.

Es war Ende Februar, wie ich mich erinnere, ein kühler, grauer Tag, an dem man gemütlich zu Hause vor einem knisternden Feuer bleibt, in der Hand ein heißes Getränk und vielleicht ein gutes Buch. Doch obwohl ich mich an all das gut erinnere, weiß ich noch genau, dass ich mich nicht im Geringsten darum kümmerte. Es war kurz nach dem Mittagessen, als ich beschloss meine Praxis für heute zu schließen und meiner alten Unterkunft in der Baker Street und vor allen Dingen meinem alten Freund Mr. Sherlock Holmes einen Besuch abzustatten.
 

„Ah, Doktor“, begrüßte mich die Wirtin Mrs. Hudson, als sie die Tür öffnete. „Was für eine angenehme Überraschung“
 

„Mrs. Hudson“, rief ich voller Bewegung, nicht nur weil ich mich freute sie nach vielen Monaten wieder zu sehen, sondern auch wegen der Neuigkeiten, die ich zu verkünden hatte. „Sie sehen reizend aus, wie immer!“ Ich küsste sie auf die Stirn und eilte die Treppe hinauf, ohne mich mit der Frage aufzuhalten, ob mein Freund zu Hause sei.
 

„Dr. Watson!“, hörte ich ihren Ausruf hinter mir. Sie lachte vergnügt wie ein Schulmädchen.
 

Als ich die Tür zum Wohnzimmer aufriss, sah ich sofort Holmes, der wie so oft in seinem Lehnstuhl am Feuer saß. Die schwarze Tonpfeife hing von seinem hageren Kinn. Seine grauen Augen waren blank und weit geöffnet – auf etwas gerichtet, was nur er sehen konnte. Zuerst dachte ich er hätte sich Kokain gespritzt, doch weil ich weder seine Spritze noch ein Kokain-Fläschchen herumliegen sah, entschied ich mich im Zweifel für den Angeklagten. Es war schließlich ein recht vertrauter Anblick für ihn, ob er nun unter Drogen stand oder nicht. Doch obwohl ich ihn in einem solchen Zustand für gewöhnlich in Ruhe gelassen hätte, tat ich an jenem Tag nichts Derartiges.
 

„Holmes!“, rief ich, während ich die Tür hinter mir schloss. „Ich muss dir etwas erzählen!“
 

Wie es seine Gewohnheit war, befasste er sich noch mehrere Sekunden mit dem seltsamen Rätsel, das wohl gerade seinen großartigen Geist plagte, doch schließlich kehrte er in die Gegenwart zurück und seine Augen blitzten mich an. „Na, wenn das nicht mein alter Kollege ist, der verehrte Doktor Watson. Wie geht es dir, alter Freund?“
 

„Mir geht es wirklich ausgezeichnet.“ Ich konnte mich kaum davon abhalten, sofort mit meinen Neuigkeiten herauszuplatzen. „Und ich muss…“
 

„Bitte, nimm noch Platz“, unterbrach Holmes und deutete mit seiner Pfeife auf meinen alten Lehnstuhl.
 

„Danke. Und nun muss ich dir etwas erzählen…“
 

„Oh, ja. Dein erstes Kind ist selbstverständlich eine aufregende Neuigkeit, in der Tat. Meinen herzlichen Glückwunsch, mein Freund, an euch beide, dich und Mrs. Watson.“ Er sprang von seinem Stuhl, wie ein Jagdhund auf die Beute und drückte meine Hand aufs Herzlichste.
 

Ich muss zugeben, dass ich vollkommen sprachlos war. Nun bist du, werter Leser, dir zweifellos darüber im Klaren, dass Sherlock Holmes und ich uns vor meiner Heirat sehr nahe standen und ich bei zahllosen Gelegenheiten Zeuge seiner Brillanz geworden war. Ich habe gesehen, wie er nur von einem unscheinbaren Filzhut [1] oder einem gewöhnlichen Gehstock [2] genaue Details über das Leben eines Mannes herleitete – nur zu oft in genau diesem Raum, doch was mein eigenes Leben anging, so konnte ich nicht erraten, woher er dies hätte wissen können.
 

Meiner Kehle entkam ein Laut, der dem eines Ochsenfrosches recht ähnlich war und ich bin mir sicher, wäre ich nicht gesessen, hätte ich recht weiche Knie bekommen. „Du musst in der Tat mehr als nur menschlich sein, Holmes.

Übernatürlich, oder so ähnlich.“
 

Er brach in schallendes Gelächter aus. „Aber, aber, mein Freund. Ich hätte gedacht, dass wenigstens du von allen Menschen, mir nicht so etwas unterstellen würdest. Es ist alles ganz einfach, das versichere ich dir.“
 

„Für dich, Holmes, ist es immer ganz unbegreiflich einfach. Aber diesmal bist du zu weit gegangen. Irgendwie, “ Ich deutete mit meinem Zeigefinger auf ihn, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Irgendwie musst du dieses Mal einen Wink bekommen haben. Ich weiß nicht wie, aber du konntest unmöglich wissen, dass meine Frau schwanger ist.“
 

„Ich versichere dir, Watson, es ist nichts in der Art geschehen. Wenn du so freundlich wärst, dich selbst aus meinem Humidor[3] zu bedienen. Ich habe einige ausgezeichnete Havannas, von denen ich sicher bin, du würdest sie genießen. Und dann will ich es erklären.“
 

Erwartungsvoll sank ich in meinen Sessel zurück und zündete meine Zigarre an. Ich konnte nicht im Geringsten erahnen, wie er das herausbekommen hatte, aber ich musste hören, was er zu sagen hatte.
 

Holmes, dessen Gewohnheit es war, einen auf die Folter zu spannen, zündete sich eine zweite Pfeife an und nahm ein paar Züge. Als er damit zufrieden war, wand er sich mir mit einem schnellen Grinsen auf seinem Gesicht zu. „Mein lieber Doktor“, sagte er. „Ich habe deine Neuigkeiten schon seit genau jenem Moment vorhergesehen, als du begannst an meine Zimmertür zu klopfen[4].“
 

„Aber wie…“, begann ich, doch er hob seine Hand.
 

„Die Uhrzeit, Watson, die Uhrzeit.“
 

„Wieso es…ist Viertel nach eins.“
 

„Nein, nein. Ich wusste es wegen des Zeitpunktes, als du hereinkamst. Siehst du, Watson, es war genau zehn Minuten nach eins, als du hier ankamst. Ich versicherte mich dessen. Wenn man nun die übrigen Faktoren berücksichtigt – die Tatsache, dass es eine achtminütige Kutschenfahrt von deinem Büro zur Baker Street ist (außer bei zu heftigen Verkehr) und natürlich dass du dein Mittagessen immer von zwölf bis genau ein Uhr einnimmst – dann schließe ich daraus, dass dich deine Frau in deiner Praxis während der Mittagspause besuchen kam. Währenddessen erzählte sie dir zweifellos von ihrer Schwangerschaft. Und nach dem Essen suchtest du mich unverzüglich auf, um mir die Neuigkeiten zu erzählen – ich fühle mich selbstverständlich sehr geehrt, dass du sogleich hierher geeilt bist.“
 

„Aber…aber…“ Ich versuchte das alles im Geiste zu verbinden, aber ich muss zugeben, ich konnte es nicht.
 

„Aber woher wusstest du überhaupt, dass meine Frau mich besucht hat? Ich kann die Verbindung nicht sehen.“
 

„Du kannst es nicht? Oh, komm schon, Watson. Du bist schließlich ein Doktor. Denkst du wirklich, dass sie, sobald sie sich über diese Sache erst einmal sicher sein würde, gewartet hätte, bis du am Abend nach Hause kämest? Und natürlich wärst du bereits am Morgen zur Arbeit gegangen. Nein, nein, sie würde dich in deiner Praxis besuchen. Besonders weil es euer erstes Kind ist. Die Aufregung, nehme ich an. Aber da ich weiß, dass sie eine Lady von ausgezeichnetem Benehmen ist, bin ich sicher, sie würde dich nicht stören wollen, während du einen Patienten hast. Daraus schließe ich: Mittagspause.“

„Na gut“, sagte ich. „Ich gebe zu, dass das Sinn macht. Dir sollte klar sein, dass du, mein teurer Freund, der erste wärst, dem ich davon erzählen wollte und dass ich sofort zu dir eilen würde, nachdem Mrs. Watson und ich gegessen hätten. Ich gebe auch zu, dass du von meinem Verhalten leicht auf aufregende Neuigkeiten schließen konntest. Aber ich verstehe immer noch nicht…“

„Parfum“, antwortete Holmes schlicht.
 

„Parfum…was?“
 

„Du riechst nach Mrs. Watsons Parfum, mein Freund“ Seine Augen leuchteten – er genoss nichts mehr, als mir die Erklärung zu einem mysteriösen Geheimnis zu präsentieren. „Parfum haftet nur so lange am Jackett eines Mannes, Watson, bis der Geruch seiner Zigarre oder auch Zigarettenrauch es übertünchen. Da ich es aber an dir riechen konnte, war mir klar, dass du erst vor kurzem von deiner lieben Frau umarmt wurdest, irgendwann nachdem du zuletzt geraucht hattest. Von hier aus war es eine einfache Deduktion, dass du deine Frau zur Mittags-zeit sahst. Und da ihr normalerweise nicht zusammen esst, wusste ich, dass es einen besonderen Anlass haben musste. Und welcher besondere Anlass könnte eine Ehefrau sonst dazu bringen, ihren Mann während der Arbeit aufzusuchen? Sie erzählte dir die wundervollen Neuigkeiten, du umarmtest sie in einem Anflug von Freude, wobei ihr Parfum auf dein Jackett gelangte und dann riefst du dir - so schnell du konntest - eine Kutsche. Und hier bist du nun.“
 

„Hier bin ich in der Tat!“ sagte ich lachend. „Mein lieber Holmes, ich muss sagen selbst nach all diesen Jahren tiefster Vertrautheit zwischen uns, erstaunst du mich immer wieder. Ich hätte niemals gedacht, dass du so etwas so leicht herausfinden könntest.“
 

„An Dinge, für die es kein Heilmittel gibt, sollten auch keine Gedanken verschwendet werden[5], Doktor. Doch eigentlich war es kein so schwieriges Rätsel, wie es scheint. Und ich gestehe - nur dir, Watson, nur dir - dass ich zwar recht überzeugt von meinem Heilmittel war, aber ich war trotzdem nicht…“ Er lächelte kurz und kaum merklich, „komplett sicher.“
 

„Ha!“, rief ich aus. „Holmes, du verschlagener alter Teufel!“
 

Er schlug mir kameradschaftlich auf die Schulter. „Und nun, Watson, müssen wir aber auch ein wenig feiern. Mrs. Hudson!“, rief er, dass es in meinen Ohren gellte. Meine alte Wirtin erschien - zuverlässig wie immer, trotz der etwas rohen Manieren meines Freundes. „Wir brauchen etwas von dem exzellenten Champagner, den Sie aufbewahrt haben, Madam. Wir müssen auf den bevorstehenden Abkömmling unseres werten Doktors anstoßen.“
 

„Abkömmling?“ fragte Mrs. Hudson. „Welcher Abkömmling?“
 

„Meine Frau und ich erwarten ein Kind, Mrs. Hudson.“ sagte ich von plötzlichem Stolz erfüllt.
 

Sie nahm einen tiefen Atemzug und klatschte in die Hände. „Tatsächlich? Oh, das sind ja wundervolle Neuigkeiten, Dr. Watson! Wirklich wundervoll! Ich freue mich so sehr für Sie!“
 

„Vielen Dank, meine Liebe, vielen Dank.“
 

„Mrs. Hudson…“, unterbrach uns Holmes. „Der Champagner?“
 

„Ohh…“ sie runzelte ärgerlich die Stirn. „Zumindest Sie haben es für sich zu etwas gebracht, Doktor. Wir werden wohl niemals eine Frau oder Kinder von dem hier sehen. Ich weiß einfach nicht, was mit manchen Männern los ist. Sobald sie auch nur in die Nähe einer Lady kommen, können sie sich nicht mehr vernünftig benehmen. Können nicht einmal eine einfache Beziehung haben.“
 

Ich musste mich sehr hart am Riemen reißen, um nicht laut loszulachen. Der bloße Gedanke an Sherlock Holmes in einer Ehe mit kleinen Holmes' um ihn herum, schien völlig absurd! Ich war mir allerdings nicht ganz sicher warum. Oh, ich gebe gerne zu, dass es teilweise wohl daher stammte, dass Holmes bei mehreren Gelegenheiten von seiner Geringschätzung für das weibliche Geschlecht im Ganzen gesprochen hatte, doch ich hatte niemals wirklich darüber nachgedacht.
 

Bis zu jenem Moment. Als Holmes kaum hörbar die seltsamste Aussage murmelte, die ich jemals von ihm gehört hatte.
 

„Und Sie werden mich auch niemals in einer solchen Beziehung finden. Mit keiner Frau.“
 

- Ich erinnere mich an diese Begebenheit als den Anfang dieser Geschichte, denn sie war nicht nur für mein Leben sondern auch für das von Holmes von so unglaublicher Bedeutung. Nur Monate später zog uns das finstere Auftauchen Professor Moriatys in jenes Abenteuer, das schließlich zum scheinbaren Tod meines Freundes bei den Reichenbachfällen führte. Und ich muss zugeben, dass die Erinnerung, an jenem teuflischen Ort zu stehen mit seiner letzten Nachricht in der Hand, noch ohne mir wirklich darüber im Klaren zu sein, dass sein Genie, seine Schönheit für immer verloren sein sollte, mich bis heute verfolgt. Und es war noch schlimmer, dass niemand es verhindern konnte. Nicht einmal ich – sein engster Vertrauter und treuster Freund. Ich werde die Ereignisse, die zum Untergang meines Freundes führten, hier nicht noch einmal erzählen, da ich sie bereits vor langer Zeit veröffentlicht habe. Aber ich muss berichten, was im Winter des Jahres 1894 [6] geschah, dreieinhalb Jahre nach Sherlock Holmes Tod. Und zu einer Zeit als es mich kaum noch kümmerte, ob ich selbst leben oder sterben sollte.
 

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[1] „Der Blaue Karfunkel“

[2] „Der Hund der Baskervilles“

[3] Eine Art Aufbewahrungsbehälter für Zigarren

[4] Holmes zitiert Poe – „Der Rabe“

[5] aus „Macbeth“ (3.2.11) (Original: “Things without all remedy should be without regard”)

[6] Ich weiß, dass Holmes eigentlich im Frühling 1894 nach London zurückkehrt, aber aus handlungstechnischen Gründen, habe ich mir die Freiheit genommen, es in Winter zu ändern.

Nun es tut mir Leid, dass zwischen dem 1. und dem 2. Kapitel so viel Zeit vergangen ist, aber ich verspreche, dass es nun schneller voran gehen wird.
 


 

Kapitel 2
 

Die Schönheit des Frühlings stand in voller Blüte, als Sherlock Holmes an den Reichenbachfällen in der Schweiz in seinen Tod stürzte. Niemals werde ich die entsetzlichen Widersprüche jenes Schauplatzes vergessen. Die sanfte Briese, die leuchtenden Blumen und die Alpen immer noch mit Schnee und Eis bedeckt. Gottes ganze Schönheit schien sich auf diesen Flecken zu ergießen, es schien wie ein wahr gewordenes Paradies. Doch die Fälle selbst…es ist kaum möglich passende Worte zu finden für jenen kalten, dämonischen Ort. Schon ihr bloßer Anblick erfüllte mich mit tiefster Furcht und Abscheu. Vielleicht war es eine dunkle Vorahnung, die mich ergriff. Doch wie man es auch nennen will, es war damals und an jenem Ort, dass mir beinahe alles genommen worden war, was mir in dieser Welt etwas bedeutete.
 

Sie werden sich erinnern, werte Leser, dass ich über Sherlock Holmes’ Rückkehr in einer Geschichte mit dem Titel „Das leere Haus“ berichtete. Ich bereue, dass beinahe alles, was ich damals niederschrieb, erlogen war. Zu jener Zeit war es notwendig, dass die Öffentlichkeit glaubte, ich hätte Holmes’ Rückkehr voller Freude aufgenommen. Das zumindest war es, was ich ihnen, zutiefst beschämt, glauben machen wollte. Dass Holmes zurückkehrte, alles erklärte und wir dann zusammen dem letzten verbliebenen Mitglied von Moriatys Bande, dem Colonel Sebastian Moran, das Handwerk legten. Dem Mann, der für den Tod von Ronald Adair und den versuchten Mord an Sherlock Holmes verantwortlich war. Tatsächlich war es mein Freund selbst, der mich – viele Monate später – zu jenem Bericht ermutigte. Sogar jetzt, viele Jahre danach, schäme ich mich immer noch darüber, wie ich mich an jenem schicksalhaften Tag benahm. Nichtsdestotrotz fühle ich mich dazu verpflichtet, zuletzt dennoch zu erzählen, was damals wirklich geschah.
 

Es bleibt eine Tatsache, dass der Tod des jungen Ronald Adair auf mich in der Tat eine Art Faszination ausübte. In meiner neuen Position als Polizeichirurg sah ich sehr viel Tod in jenen Jahren. Ich muss zugeben, dass ich nicht recht zufrieden mit dieser Stelle war, doch sie war notwendig für meine wachsende Familie. Mein erstes Kind war im Oktober 1891 geboren worden, etwa fünf Monate nach Sherlock Holmes’ Tod. Und nun, im September des Jahres 1894, erwartete meine geliebte Frau Mary unser zweites Kind. Deshalb nahm ich diese Stelle an und verrichtete meine Arbeit so gut ich konnte, stets mit dem Hintergedanken, wie wichtig sie für mein ein und alles war – eine wunderschöne und liebevolle Ehefrau, ein entzückender Sohn und bald ein weiterer Segen. Doch leider – wie stets wenn ein Mensch sich am Gipfel der Welt wähnt – war es unvermeidlich, nun umso tiefer zu fallen.
 

Bis zum heutigen Tag träume ich von jener Nacht. Manche Ereignisse verblassten – zum Glück – in meiner Erinnerung, doch das meiste ist immer noch so frisch wie nasse Farbe. Ich war gerade dabei die Arbeit in meinem Sprechzimmer irgendwann am Abend des 30. Septembers zu beenden, als ein Botenjunge an meine Tür klopfte.
 

„Für Sie, Sir“, sagte er und reichte mir einen Briefumschlag. Der Ausdruck auf seinem schmutzigen, sonnengebräunten Gesicht ließ mich vermuten, dass der Inhalt nicht angenehm sein würde.
 

Ich gab ihm ein Trinkgeld und erkannte sofort die Handschrift unseres Hausmädchens Ivy:
 

Werter Herr, las ich,
 

Ich bitte Sie unverzüglich nach Hause zu kommen. Die Niederkunft steht unmittelbar bevor und der Dame des Hauses geht es sehr schlecht. Bitte beeilen Sie sich.
 

„Oh Gott“, rief ich. Ich erinnere mich genau an das Gefühl, als mein Herz qualvoll gegen meine Rippen schlug. Doch es war keine Zeit zu verlieren. Auch nicht für Schmerz. Mein Assistent war an jenem Tag schon nach Hause gegangen, doch trotzdem rannte ich los, ohne auch nur die Tür zu versperren. Niemals sonst würde ich so etwas tun.
 

Obwohl ich sofort eine Droschke fand und zu meiner Adresse schickte, glaube ich jetzt, dass ich zu Fuß wahrscheinlich rascher dort gewesen wäre. Wie ein Echo hämmerte jedes Stampfen der Pferdehufe auf dem Pflaster gegen meine Brust. Ich umklammerte die Nachricht so krampfhaft, dass ich später, als ich sie ins Feuer warf, deutlich meine Fingerabdrücke darauf erkennen konnte.
 

Der Kutscher schaffte die Strecke in kurzer Zeit. Die Aussicht auf eine Guinea war genug, um das zu sichern. Und trotzdem saß ich während der ganzen Fahrt atemlos vor mich hinmurmelnd.
 

„Schneller…schneller…oh Gott, Mary, halte durch. Du musst durchhalten.“
 

Ein anderer Doktor mit dem Namen Joseph Blakely, der eine florierende Praxis in der Harley Street führte, war bereits dort, als ich ankam. Ich erkannte seine Kutsche, da sie eine der elegantesten in ganz London war. Ihr Anblick beruhigte mich für den Moment, denn wenn es irgendeinen anderen Doktor gab, dem ich Mary anvertraut hätte, dann wäre es mit Sicherheit Blakely. Seine Fähigkeiten als Arzt waren ziemlich außergewöhnlich.
 

Ich riss die Tür auf und ignorierte sowohl Ivy als auch die Tatsache, dass ich noch immer meinen Mantel trug. Ich hatte nicht einmal daran gedacht Hut, Handschuhe und Gehstock mitzunehmen. „Sir, Sir, Sie sollten nicht dorthinein gehen“, hörte ich sie rufen, doch in jenem Moment lag mir nichts ferner als Schicklichkeit.
 

Genau als ich schleudernd vor der Tür zu halten kam, trat mir Blakely entgegen. Er war ein Mann in seinen Fünfzigern, mit dichten silbergrauen Koteletten und einem gleichfarbigen, vollen Haarschopf. In seinen hellbraunen Augen leuchtete ein steter Funken von tiefstem Intellekt, aber auch von Freundlichkeit. Er kleidete sich stets tadellos, war immer auf eine elegante Erscheinung bedacht und in der Tat kannte ich nur einen einzigen Mann, der mehr auf sein Äußeres achtete. Aber ich wusste, ich wusste im selben Moment, als sich die Tür öffnete und ich ihm in die Augen sah, dass er mir nicht die Nachricht brachte, für die ich betete.
 

„Blakely“, sagte ich. „Wie geht es ihr?“
 

„Watson, ich denke Sie sollten sich setzten.“ Er deutete auf mein privates Arbeitszimmer gleich links von unserem Schlafzimmer.
 

„Ich will mich nicht setzten, verdammt! Sagen Sie mir, was los ist!“
 

Aber es war nicht nötig, dass er etwas sagte. Die Art und Weise wie er seine Hand ausstreckte, um sie auf meinen Arm zu legen, war genug. „Gut, wie Sie wollen. Ich fürchte, Ihr Kind ist tot. Eine Todgeburt.“
 

Ich schloss meine Augen für einen Moment. Ich konnte es kaum ertragen, ihn so vor mir zu sehen, sein sonst so heiteres Gesicht voller Mitgefühl. „Und…“ hauchte ich in dem Wissen, dass dies noch nicht alles war.
 

„Und“, sagte er. „Ich fürchte, die Belastung ist zu viel für Mary. Ich denke, dass sie diese Nacht nicht überstehen wird.“
 

Ich muss wohl zurückgetaumelt sein, denn das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Blakely mich unter den Armen packte, zweifellos in der Furcht, ich könnte zusammenbrechen. „Setzen Sie sich, mein Freund, ich bitte Sie. Sie müssen sich setzten. Mädchen!“ – rief er die Treppe hinab. „Einen Brandy, sofort!“
 

„Nein, nein“, sagte ich. „Das brauche ich nicht. Blakely, warum haben Sie, oder die Hebamme oder irgendjemand, mich nicht früher gerufen?“
 

„Es geschah alles so furchtbar plötzlich.“ erklärte er. „Die Hebamme wurde kurz nach dem Dinner gerufen. Ihr zufolge war alles in Ordnung – bis vor etwa einer Stunde, als ich hier ankam. Ihre Frau hatte begonnen zu bluten und das Baby war immer noch nicht gekommen.“
 

„Warum haben Sie nicht nach mir geschickt?“ rief ich. Niemals zuvor hatte ich mich so gefühlt wie in jenem Moment. Ich hatte Dr. Joseph Blakely als einen Freund angesehen, einen Freund der meine Frau und mein Baby nicht einfach würde sterben lassen, ohne dass ich zumindest anwesend war. „Ich bin Arzt, Herrgott noch mal!“
 

„John“, sagte er, während er sanft meinen Arm ergriff. „Es gibt nichts, was du an meiner Stelle für sie hättest tun können. Eigentlich war es besser, dass du nicht auch hier warst. Denkst du wirklich, du hättest vernünftig handeln können, um Mary und das Baby zu retten? Sag mir, dass dein Kopf klar gewesen wäre. Du weißt, dass du das nicht kannst!“
 

In Wahrheit wusste ich, dass Blakely Recht hatte. Mein Kopf funktionierte nicht einmal jetzt im Nachhinein richtig. Ich konnte nur daran denken, dass mein Baby tot war und dass meine Mary es auch bald sein würde. Drei Menschen waren nun tot, drei Menschen die ich vielleicht hätte retten können, aber ich war nicht dazu in der Lage gewesen. Oder hatte es einfach nicht getan.
 

„Darf ich Mary sehen?“ Es war keine Frage. Es war ein Befehl.
 

Zunächst war er widerwillig, aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mir dies zu verwehren. Er nickte kurz mit seinem großen silbergrauen Kopf und hielt mir die Tür auf. „Sie ist sehr schwach“, sagte er mit leiser Stimme. „Du musst sanft sein. Und du solltest nichts sagen über…das Unvermeidliche.“
 

„Als ob ich das täte.“
 

Mich an Blakely vorbeidrängend betrat ich schweigend unser Zimmer. Es war mir unbegreiflich, dass mir in diesem Raum so viel Glück widerfahren war – selbstverständlich die Liebe meiner Frau, aber auch die Geburt meines Sohnes, all meinen privaten Reichtum – und nun war es so sehr wie Reichenbach – ich sah nichts mehr als Schmerz und Tod.
 

Die Hebamme, eine mir unbekannte Frau, saß in einer entfernten, leicht abgedunkelten Ecke meiner Kammer in einem samtenen Lehnstuhl. Sie war im Begriff etwas in eine weiße Wolldecke zu wickeln, das mich entfernt an die Miniaturausgabe einer Mumie erinnerte. Ich hatte Angst davor, zu wissen, was es war. Meine Augen schlossen sich instinktiv für eine Sekunde oder zwei, mein Geist wurde mit Bildern überflutet, die ich nur zu gerne unterdrückt hätte. Und doch konnte ich mein Kind unmöglich zu Grabe tragen, ohne es zumindest einmal gesehen zu haben.
 

„Nein“, sagte ich. „Ich werde…“ In diesem Moment erkannte ich, dass ich nicht einmal wusste, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. „Ich nehme das Kind.“
 

Die Frau überreichte mir das Mitleid erregend kleine Bündel und verließ den Raum. Ich war sehr froh darüber, denn ich spürte, dass ich meine Trauer nicht länger zurückhalten konnte. Das Kind war weiblich und so erstaunlich klein. Ich saß, wo die Hebamme gesessen hatte, und hielt sie einfach nur in den Armen, ebenso unfähig sie anzusehen, wie mich von ihr abzuwenden. Sie war nur so lang wie die Spanne von meinen Fingerspitzen zu meinem Handgelenk, vielleicht acht Zoll, und bedeckt von einer fast durchsichtigen puderweißen Haut, durch die ich jede einzelne blaue Vene sehen konnte. Ihre Augen waren geschlossen, natürlich, doch sie hatte wundervolle zarte Wimpern, lang und federleicht. Da war sogar Haar, überraschend viel davon, volle, blonde Locken, die mich an ihre Mutter erinnerten. Unbeschreiblich sanft strich ich mit meinem Zeigefinger über ihre Brauen. Es war wie Samt. Doch es war kalter, harter Samt.
 

„Ist sie nicht wunderschön, John?“
 

Ich blickte auf und sah Mary. Sie war wach oder zumindest teilweise. Ihre Augen waren offen, zwei Löcher von undurchsichtigem Blau, doch hätte es keinen Arzt gebraucht, um zu sehen, dass sie ernsthaft krank war. „Mary“, Ich eilte rasch zu dem Bett. „Mary, mein Liebling, wie geht es dir?“
 

„Ich denke, wir werden in nächster Zeit wohl nicht tanzen gehen können.“
 

Ich lächelte. Ich liebte ihren sanften Sinn für Humor, der sie selbst in der dunkelsten aller Stunden nicht verließ. In der einen Hand hielt ich noch immer das Kind, doch die andere streckte ich nun aus, um die ihre zu ergreifen. „Du bist so tapfer, Liebling, so tapfer. Ich…Ich hätte…“
 

„Oh, John, das einzig Wichtige ist, dass du jetzt hier bist. Und dass du deine Tochter zumindest einmal gesehen hast. Es tut mir nur Leid, dass du nun niemals die wunderschöne Frau sehen wirst, die sie einmal geworden wäre.“
 

Ich erinnere mich deutlich daran, dass sie sagte ‚du wirst’ anstatt ‚wir werden’. Ich wollte sie korrigieren, sie tadeln, ja sie sogar anschreien, weil sie es wagte anzudeuten, dass sie nicht da sein würde. Aber wie konnte ich das?
 

„Vera“, flüsterte Mary.
 

„Was?“
 

Ihre Lippen formten die Andeutung eines Lächelns. „Vera. So hätte ich sie genannt. Ist es nicht ein wundervoller Name?“
 

Irgendwie gelang es mir zu nicken. „Ja…ja das ist er.“ Mein Gott, ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Nicht vor meiner Frau. Nicht so. Ich wand mich kurz von ihr ab, kaum in der Lage, die dunklen Schatten unter ihren Augen zu ertragen, die Blässe ihres Gesichts, die schlaffe Feuchtigkeit ihrer Hand in meiner.
 

Sie sprach nur noch ein weiteres Mal, nur wenige Augenblicke später, während sie meine Hand mit einer letzten, konzentrierten Kraftanstrengung drückte. „John“, hauchte sie. „Versprich mir eins.“
 

„Alles, Mary.“
 

„Du musst versprechen…Josh…du musst versprechen immer da zu sein.“
 

Es war das erste Mal, dass ich an meinen Sohn dachte, seit ich dieses verdammte Telegramm bekommen hatte. In nur einer Woche würde er drei sein, doch er war schon sehr klug für sein Alter. Und einfühlsam. Manchmal schien es, als könne er spüren, was seine Mutter und ich fühlten. Die Vorstellung ich müsste ihm erklären, dass seine Mutter fort wäre, war etwas, woran ich noch nicht einmal denken konnte. „Ich werde auf ihn Acht geben, mein Liebling. Mach dir keine Sorgen.“
 

„Du…du darfst ihn nicht fortschicken. Er braucht dich…“ Ihre Stimme wurde immer schwächer. „Er braucht dich.“
 

„Ich werde ihn nicht fort schicken. Niemals. Wir werden immer zusammen sein, Liebling.“ Ich hatte nun begonnen leere Worte zu plappern, aber ich hätte alles gesagt, ihr alles versprochen, was sie wollte. Es war das letzte Mal, dass sie jemals zu mir sprechen würde.
 

Daraufhin fiel sie in einen komaähnlichen Schlaf und ich konnte es nicht mehr ertragen, auch nur eine einzige Minute in diesem Raum zu verbringen. Ich wickelte meine Tochter in die Wolldecke ein und legte sie in Marys Arme. Ich glaube, dass ich die Ruhe und den Frieden damals beinahe körperlich spüren konnte, aber ich wollte es nicht. Mein Herz platzte fast vor Wut und ich wusste nicht, wie ich sie herauslassen konnte. Nachdem ich zitternd Atem geholt hatte, beugte ich mich über sie und küsste ihre Stirn. „Gute Nacht, mein Herz“, flüsterte ich.
 

Blakely wartete immer noch draußen, als ich das Zimmer verließ. Ich war dankbar, denn ich wusste, dass am Ende ein Doktor nötig war, um es zu verkünden und auch dass ich es nicht ertragen hätte, dies selbst zu tun. In seinen Augen las ich die Frage, für die er keine Worte finden konnte. Ich entließ ihn aus dieser Sorge.
 

„Sie werden bleiben, nicht wahr, Blakely?“
 

„Ja, wenn du es wünscht.“
 

„Ich bin dann im Arbeitszimmer.“
 

„John“— Er griff nach meinem Arm. Doch er redete nicht weiter.
 

„Ich danke dir, Joseph.“
 

Im Erdgeschoß traf ich auf das Hausmädchen. Ihre Augen waren rot und verschwollen; ihre Nase lief. Es war offensichtlich, dass ihre Aufmerksamkeit von der Hausarbeit abgelenkt war, doch das war mir egal. Vielmehr bereitete es mir ein gewisses Gefühl perverser Zufriedenheit, diese tiefe Treue zu sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass Ivy und Mary sich so nah standen. Ich vermutete, dass ein Teil ihrer Trauer auch von der Angst um ihre Stelle stammte. Sie konnte unmöglich wissen, was ich nun tun würde; nun da ich ein Witwer geworden war. Doch was das angeht, wusste ich es selbst nicht.
 

„Oh, Sir, “ rief sie, während sie die Tränen mit ihrer Schürze trocknete. „Es…es tut mir so Leid. So Leid.“
 

Ich tätschelte tröstend ihre Hand. „Aber, aber, Mädchen. Das muss doch nicht sein.“
 

„Ja, Sir“ Sie versuchte das Schluchzen zu unterdrücken, doch ihre Lippen zitterten immer noch.
 

„Du musst mir jetzt gut zuhören“, erklärte ich. „Serviere Master Josh sein Abendessen so wie immer im Kinderzimmer. Aber du darfst ihm auf keinen Fall sagen, was hier passiert.“
 

„Oh nein, Sir! Das würde ich niemals!“
 

„Gut. Behalte ihn bis zur Schlafenszeit dort. Wenn er fragt, wo seine Mutter oder ich sind, musst du ihm erzählen, wir seien ausgegangen.“
 

„Aber“—wollte sie beginnen, doch ich packte sie am Arm, um ihr zu zeigen, wie ernst es mir war.
 

„Kein Aber, Mädchen! Du musst ihn im Kinderzimmer behalten. Geh jetzt!“
 

Ihre Augen weiteten sich und sie widersprach nicht mehr. Nach einem raschen Knicks eilte sie in Richtung des Kinderzimmers. Ich konnte ihren Schrecken verstehen. Ich hatte weder sie noch irgendjemand anderen in meinen Diensten jemals zuvor grob behandelt. Auch wenn ich damals im Krieg in der Armee gedient hatte, hatte ich niemals Gefallen daran gefunden, Gewalt gegen andere anzuwenden. Es ist gänzlich gegen meine Natur. Doch damals wurde mein Handeln nicht von meiner Erziehung und auch nicht von meinem Urteilsvermögen, sondern von bloßem Adrenalin bestimmt.
 

Mein Arbeitszimmer war eigentlich eher ein Familienzimmer, das Mary und Josh ebenso benutzten wie ich. Ich bewahrte meine Geschäftunterlagen und meine Bücher dort auf, zusammen mit meinen Schreibutensilien und all den Originalausgaben meiner Manuskripte für The Strand. Alle Abenteuer meines teuren Freundes Sherlock Holmes, jene die die Öffentlichkeit las und auch viele unbekannte. Aber nun würde es keine weiteren mehr geben.
 

In dieser Nacht wurde ich nur ein einziges Mal gestört, und zwar von Blakely, irgendwann nach neun – irgendwo zwischen meinem dritten und vierten Whiskey. Mary hatte ihren Frieden gefunden. Das waren seine Worte. Ich war noch nicht wirklich betrunken, aber schon nah an der Grenze und ich denke er war froh, dass ich ihn nicht bat zu bleiben. Lassen Sie mich nur anmerken, werter Leser, dass ich wahrlich kein Trinker bin, tatsächlich war jene Nacht das erste Mal seit über zehn Jahren, dass ich mehr trank als nur einen Brandy oder Whiskey nach dem Abendessen. Der Alkohol bewirkte etwas in mir in jener Nacht, etwas anderes als nur den Schmerz in meiner Brust zu betäuben. Es versetzte mich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. Ich stand am Kamin und blickte in die orangen und gelben Flammen, fühlte die wirbelnde Wärme an all jenen Teilen meines Körpers, die der Whiskey nicht berührte und lauschte dem Knistern der berstenden Holzscheite. Und ich begegnete all jenen Menschen, die ich im Laufe der Jahre verloren hatte.
 

Auf dem Sims über dem Kamin standen mehrere Bilder von meiner und Marys Familie. Zwei waren sehr alt, aufgenommen, als wir noch Kinder waren. Das erste zeigte meine geliebte Mary als sie erst vier oder fünf Jahre alt war, kurz bevor ihre Mutter starb. Ihr Vater Captain Morstan trug die Uniform eines hochrangigen, indischen Offiziers der Siebzigerjahre und stand voller Stolz neben einer jungen Frau mit flachsblondem Haar und einem zarten Lächeln. Neben ihr stand, eine der behandschuhten Hände haltend, ein kleines Mädchen, meine Frau, die von ihrer Mutter sowohl ihr Aussehen als auch ihre Haltung geerbt hatte. Ich lächelte das kleine Mädchen an, das heute noch genau so aussah wie damals, nur noch viel schöner.
 

Das andere bejahrte Foto war das von meiner Familie. Es war mit meinen engsten Verwandten aufgenommen worden, als ich etwa zehn Jahre alt war. Meine Eltern saßen für den Fotografen mit steinernen Gesichtern da und ich konnte mich noch an jenen Tag erinnern. Ich hatte gedacht, ich müsse für immer so stehen bleiben und verzweifelt versuchen mich weder zu bewegen, noch angesichts der Hitze im Atelier des Fotografen meinen hohen Kragen zu lockern oder gar zu zucken. Mein großer Bruder Henry, acht Jahre älter als ich, stand zu meiner linken und sah ganz so aus wie der Mann, der er zu sein versuchte. Ich kann nicht sagen, dass es ihm gelang. Vor nur fünf Jahren starb er an ungeklärten Ursachen. Es tut mir Leid, sagen zu müssen, dass er seinen Trost für die Probleme des Lebens im Trinken fand. Auch meine Eltern waren bereits verstorben. Mein Vater verschied als ich vierzehn war aufgrund von Brustkrebs und meine Mutter in meinem zweiten Jahr an der Universität, als Folge von jahrelanger Schwindsucht. Nun waren nur noch meine fünf Jahre jüngere Schwester Abigail und ich am Leben. Sie war unverheiratet und lebte in dem Familienwohnsitz in Kent, doch wir standen uns nicht nah. Es war als stände ich als Waise in der Welt. Es war ironisch. Seit ich ein kleines Kind war, hatte ich davon geträumt Mediziner zu werden. Ich denke, diese Neigung nahm ihren Anfang, als ich etwa sieben war und ein Cousin, der nur ein Jahr älter war, an den Röteln starb. Er und ich waren Kameraden gewesen und sein Verlust, erweckte in mir den Wunsch anderen Menschen zu helfen. Und obwohl ich das sicherlich schon zahllose Male getan hatte, schien es mein Schicksal zu sein, denen, die ich am meisten liebte, nicht helfen zu können. Nicht meinen Eltern, meinem Bruder, meinem Freund und nicht einmal meiner Frau oder meinem Kind.
 

Auf dem Sims standen noch drei weitere Fotografien. Auf dem ersten war Josh abgebildet und es war erst vor drei Monaten aufgenommen worden, das zweite zeigte ihn zusammen mit seinen Eltern und das letzte schließlich war unser Hochzeitsfoto. Dieses war es, welches ich betrachtete. Ich hatte es in letzter Zeit nicht angesehen und der Ausdruck der Glückseligkeit, in dem sowohl Marys als auch mein eigenes Gesicht erstrahlten, schenkte mir in jenem Moment nur wenig Trost. Sie war an jenem Tag unbeschreiblich hübsch gewesen und, wenn ich das sagen darf, wir ergaben ein schönes Paar. Mary hatte ihre engste Freundin Anne Spencer als Brautjungfrau gewählt und ich hatte, natürlich, Sherlock Holmes darum gebeten mein Trauzeuge zu sein. Ich war gekränkt, dass er zu Beginn zögerte, erklärte mir seine Vorbehalte aber schließlich mit seiner Abneigung zu Hochzeiten und der Ehe im Allgemeinen. Außerdem stimmte er am Ende doch zu und ließ mich dieses eine Mal im Mittelpunkt stehen. Doch auch wenn ich mich gut an seine Glückwünsche hinterher erinnerte, schien er sich nicht wirklich für mich zu freuen, sondern mir lediglich aus Respekt und Kameradschaft zu gratulieren. Und dann, 15 Monate später, war auch er fort.
 

Ohne nachzudenken schleuderte ich das Bild zurück auf den Sims und beobachtete, wie das zerberstende Glas meine Hand mit rasiermesserscharfen, quälenden Splittern überschüttete. Wie konnte ich mich daran erinnern? Wie konnte ich es auch nur wollen? Ich war wahrlich ein beklagenswerter Mann.
 

Der Rest dieser schlimmsten Nacht meines Lebens verging ohne Zwischenfälle. Ein Wirbel aus brennender, bernsteinfarbener Flüssigkeit und verblichenen Träumen der vergangenen Jahre. Schließlich brach ich auf dem Sofa zusammen und versank in einem Rest jener grässlichen Alpträume, die mir der Alkohol gebracht hatte. Ich rührte mich nicht und ich glaube wohl, dass es mich in jenen Stunden wenig kümmerte, ob ich selbst leben oder sterben würde.
 

Ich will mich nun nicht weiter in den Schilderungen der nächsten Tage verlieren. Es genügt zu sagen, dass meine Frau würdig und angemessen bei der St. Paul Cathedral zur Ruhe gebettet wurde, begleitet von vielen unserer Freunden und zahlreichen meiner Patienten. Die Inschrift des Grabsteins sprach von tiefster Liebe, Liebe für Ehefrau, Mutter und totgeborene Tochter. Und dann war alles vorbei.
 

Es gibt nur noch eine weitere Begebenheit, die ich mir in Erinnerung rufen möchte, ehe ich mich der erstaunlichen Rückkehr des Mr. Sherlock Holmes zuwende. An diesem Punkt der Erzählung möchte ich gerne meinen Sohn Josh vorstellen, der, auch wenn es die Leser von The Strand niemals von ihm erfuhren, in diesen Memoiren eine sehr wichtige Rolle spielt. Das Prahlen über die Fähigkeiten seiner Sprösslinge ist zwar unter Vätern weit verbreitet, aber trotzdem übertreibe ich nicht im Geringsten, wenn ich sage, dass er in der Tat ein außergewöhnliches Kind war. Das ist auch wahrscheinlich der Grund dafür, dass Holmes, der niemals auch nur die vagsten väterlichen Gefühle für ein Kind gezeigt hatte, ein so heftiges Interesse an ihm hatte. Doch von alldem später. Damals war er, ein Junge von noch nicht einmal drei Jahren, der einzige Lichtfleck in meinem Leben, das so plötzlich in die Dunkelheit katapultiert worden war.
 

Am nächsten Nachmittag hatte sich der dumpfe Schmerz in meiner Brust schließlich soweit beruhigt, dass ich ihn aufsuchte, um ihm den Verlust zu erklären, der er erlitten hatte, auch wenn er es noch nicht einmal wusste.
 

Josh war beinahe einen Monat zu früh geboren worden und klein für sein Alter. Mit seinen kurzen Armen und Beinen und dem großen Kopf erschienen seine Proportionen ein wenig verschoben, doch trotzdem war er ein ganz und gar prächtiger Junge. Wie seine Mutter hatte er blondes, leicht rötliches Haar, das sich voll und lockig um seine Stirn und Ohren kringelte. Seine Augen waren von einem unglaublichen Blau, wie zwei im Wasser schimmernde Saphire. Seine Wangen waren rosig wie die eines jungen Mädchens und wenn er lächelte, schien es, als könne die Welt nie mehr finster aussehen. Sein Anblick ließ einen unwillkürlich an jene Engel denken, die auf den verstaubten Fenstern zahlloser Kirchen verewigt worden waren.
 

An jenem grauen Tag lag er mit einem Bilderbuch ausgestreckt auf dem Boden des Kinderzimmers. Es ist keine leere Prahlerei, wenn ich sage, dass er in seinem Alter schon einige Wörter lesen konnte und ein paar davon sogar schreiben, darunter seinen vollen Namen. Mein eigener Intellekt mag sich nicht sehr von dem meiner Mitmenschen abheben, aber ich kann ohne zu prahlen sagen, dass er seinen unstillbaren Hunger nach Wissen von mir geerbt hat. Ich las ihm jeden Abend vor, lehrte ihn das Alphabet und die Zahlen von eins bis zehn, noch bevor er überhaupt sprechen konnte. Als er zwei geworden war, verfügte er über einen größeren und klareren Wortschatz als jedes andere Kind dieses Alters, das ich jemals gesehen hatte und seine Fragen nahmen kein Ende. Oft genug konnte ich sie kaum zu seiner Zufriedenheit beantworten. Es hätte mich nicht sehr erschreckt, hätte er mich nach dem Sinn des Lebens gefragt, noch bevor er alt genug war, um Hosen zu tragen. Aber obwohl allgemein angenommen wird, dass Kinder, deren geistige Fähigkeiten so weit ausgeprägt sind, unvermeidlich in einer anderen Hinsicht, nur zu oft in ihrem Herzen, zurückgeblieben sein müssen, traf dies auf meinen Sohn nicht zu. Allerdings ich muss auch zugeben, dass ich bei meiner ersten Begegnung mit Holmes ebenfalls diesem Vorurteil zum Opfer fiel. Es war unmöglich ein freundlicheres und liebevolleres Kind als Josh zu finden. Deshalb wusste ich, dass er die einzige Seele auf dieser Welt war, die begreifen würde, was wir verloren hatten.
 

„Hallo, Papa“, sagte er, als ich sein Zimmer betrat. Es war für ihn nicht ungewöhnlich, mich hier zu sehen, denn im Gegensatz zu vielen anderen Männern, verbrachte ich jede freie Sekunde mit meinem Kind.
 

„Was liest du gerade?“, fragte ich, während ich mich neben ihn auf den Boden setzte.
 

„Mother Goose. Ich kann das alles schon lesen.“ Mit einem pummeligen Finger deutete er auf den Einband der bunten Geschichte und las es laut vor. „Ich kann es auch schreiben, Papa“ Auf der kleinen Tafel, die ich ihm vor ein paar Monaten gekauft hatte, standen die Worte mit Kreide hingekritzelt, für meine geübten Doktoraugen gerade noch lesbar.
 

„Du bist wirklich ein kluger Junge. Das hast du sehr gut gemacht.“
 

„Ja“, erklärte er mit aller Bescheidenheit, zu der ein Kind seines Alters fähig war. „Das hab ich wohl.“
 

„Aber jetzt muss ich mit dir reden, Josh. Bitte, leg für einen Moment dein Buch beiseite.“
 

Ich glaube, dass er trotz seines Alters wusste, dass ich ihm nichts Angenehmes erzählen würde, denn ich sah die Angst in seinen Augen. Doch er kletterte auf meinen Schoß, ohne zu widersprechen und es blieb mir überlassen, ihm etwas zu erklären, dass ich kaum in Worte fassen konnte.
 

„Joshie“, begann ich. „Gestern ist etwas passiert. Deine Mutter hat eine kleine Schwester für dich bekommen.“
 

„Wo ist sie?“
 

„Lass mich ausreden. Unterbrich mich nicht. Ich fürchte, das Baby war zu klein für diese Welt. Deshalb musste sie in den Himmel, um dort zu leben.“
 

„Wieso?“
 

„Weil das der Ort ist, an den Babys kommen, wenn sie zu klein sind, um hier zu leben.“

„Du meinst hier in London, Papa?“
 

„Äh…ja. Hier in London. Oder irgendwo. Indien, Amerika, Frankreich. Alle Babys müssen im Himmel bei Gott leben, wenn sie es hier nicht können. Und das ist auch deiner kleinen Schwester passiert.“
 

„Das ist schade“, erklärte er ernsthaft. „Ich hätte gerne eine kleine Schwester gehabt.“
 

Ich lächelte in seine weichen, blonden Locken und hoffte, er würde die Trauer verstehen, die sich dahinter verbarg. „Aber das ist noch nicht alles. Ein Baby kann nicht ganz alleine in den Himmel gehen, verstehst du. Es ist zu klein und kann nicht auf sich selbst Acht geben. Deshalb musste auch deine Mutter mitkommen, um sich um sie zu kümmern.“
 

Er verstummte und versuchte, in seinem Kopf zu verknüpfen, was ich ihm eben erzählt hatte. „Du meinst…Mama ist auch im Himmel?“
 

„Ja. Das ist sie.“
 

„Für wie lange?“
 

„Für immer. Wenn jemand in den Himmel geht, kann er nicht mehr zurückkommen. Es ist für immer.“
 

„Du meinst, sie ist jetzt nicht mehr meine Mama?“
 

„Aber nein, mein Junge. Sie wird immer deine Mama sein. Aber sie wird nicht mehr hier sein. Sie muss im Himmel bleiben, bei dem Baby. Und ich muss hier bleiben, um für dich zu sorgen.“
 

„Aber warum können wir nicht auch im Himmel bei Mama und dem Baby leben?“
 

„Weil…“ Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Wie ich ihm die Geheimnisse des Lebens nach dem Tod, von Gott und dem Jenseits, erklären sollte? Dinge, die kein Sterblicher verstehen konnte. Und von mir wurde erwartet, es in Worten auszudrücken, die ein Dreijähriger begreifen konnte. „Weil das einfach nicht geht. Nur Mama und Baby Vera konnten in den Himmel. Du und ich müssen hier bleiben. Ich muss mich um meine Patienten kümmern und du musst aufwachen. Du wirst sie eines Tages wiedersehen, Josh. Aber nicht jetzt. Und auch nicht bald, fürchte ich.“
 

Das war der Augenblick, an dem er zu weinen begann und begriff, was ich versucht hatte, ihm zu erklären. „Aber ich will nicht, ohne Mama hier bleiben. Ich will zu ihr in den Himmel gehn!“ Er vergrub sein Gesicht in meiner Weste und benetzte sie mit seinen Tränen, während ich nichts tun konnte, als da zu sitzen und sanft über seinen Kopf zu streicheln. Es war der zweitschlimmste Tag seit sehr langer Zeit.

So, hier ist also Kapitel 3. Viel Spaß damit!
 


 

Kapitel 3
 

Und so, werter Leser, kennen Sie nun die Details, die ich in meinen Veröffentlichungen zu einer einzelnen Zeile reduzierte und weshalb ich damals – nachvollziehbar wie ich meine – nicht der Mann war, der ich normalerweise bin. Auch nicht zwei Wochen später, als ich beschloss wieder in meine Praxis zurückzukehren. Ich muss zugeben, dass mein Assistent Parks ein recht bemerkenswerter Zeitgenosse war und ich sollte niemals dazu in der Lage sein, ihm meine Dankbarkeit dafür auszudrücken, dass er während meiner Abwesenheit alles geregelt hatte. Er war ein wundervoller Kerl und ich glaube, ich wusste ihn nie wirklich zu schätzen.
 

Ich denke, dass meine Faszination für den Mord an Ronald Adair zumindest zum Teil von meiner Freundschaft zu Holmes ausging, der mein Interesse für Verbrechen mit so außergewöhnlichen Umständen erweckt hatte. In der Gegenwart meines Freundes war es unmöglich keine Leidenschaft für das Ungewöhnliche und Groteske zu entwickeln und auch ich war da keine Ausnahme. Aber ich denke auch, dass ich mich mit jenem Fall befasste, um meinen Schmerz zu lindern. Ablenkung ist die beste Methode, um mit Trauer fertig zu werden.
 

Ich war gerade auf dem Rückweg von der Untersuchung anlässlich seines Todes, als ich durch Zufall mit einem alten Buchhändler zusammenstieß. Ich war recht abwesend zu jenem Zeitpunkt. In Gedanken ging ich die Fakten noch einmal durch und versuchte, meine Schlüsse daraus zu ziehen, so wie mein verstorbener Freund es getan hätte. Ich kannte seine Methoden nur zu gut, aber sie in der Praxis anzuwenden, schien weit jenseits meiner Fähigkeiten. Ohne Zweifel wissen all jene Leser, die auch meine Erzählung „Das Leere Haus“ kennen, dass ich völlig ahnungslos war, was die Identität des älteren Gentlemans anging, und ihn im selben Moment schon wieder vergessen hatte.
 

Da mein Arbeitstag so gut wie zu Ende war, kehrte ich rasch zu meiner Praxis zurück, plauderte kurz mit Parks über den Fall, um dann mit ihm zusammen abzuschließen, ehe wir uns gegenseitig eine gute Nacht wünschten. Ich war kaum zu Hause in meinem Arbeitszimmer angelangt, als Ivy einen Besucher ankündigte. Es war derselbe alte Knabe, der Buchhändler, der sich für seine frühere Grobheit entschuldigen wollte. Ich hatte ihm gerade erklärt, dass er sich um eine solche Kleinigkeit keine Sorgen zu machen brauchte, als ich erneut aufblickte und niemand anderes vor mir stand als Sherlock Holmes.
 

Es ist zweifellos klar, dass es dieser Schrecken gewesen war, der – zusammen mit meinen ohnehin schon stark strapazierten Nerven – daraufhin den einzigen Ohnmachtsanfall in meinem gesamten Leben verursachte. Aber was ich in meinen früheren Aufzeichnungen ausließ, war die Tatsache, dass ich meiner Intelligenz und jeglicher Vernunft zum Trotz davon überzeugt war, einen Geist zu sehen.
 

Ich erwachte mit dem prickelnden Gefühl von Brandy auf der Zunge und einem geöffneten Kragen. „Mein lieber Watson“, erklärte Holmes. „Ich entschuldige mich tausendfach. Ich hatte nicht erwartet, dass du so betroffen sein würdest.“
 

„Holmes, bist du es wirklich?“ Ich packte ihn am Arm in der Erwartung, einfach durch ihn hindurch zu greifen. „Wie kann es sein, dass du am Leben bist?“
 

„Warte einen Augenblick. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich jetzt besprechen sollten. Mit meinem unnötig dramatischen Auftritt habe ich dir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.“
 

Natürlich bestand ich darauf, dass es mir gut ginge und er mir sofort erklären müsse, wie er in mein Arbeitszimmer kam, wo ich ihn doch auf dem Grund Reichenbachs wähnte. Dies alles habe ich bereits an anderer Stelle erzählt. Aber während ich in meinem Bericht über die glorreiche Rückkehr des Sherlock Holmes nichts als freudige Erregung und maßloses Erstaunen empfand, ist nun schließlich der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zugeben muss, dass die Wahrheit vollkommen anders aussah.
 

Er lehnte sich gegen meinen Schreibtischsessel und rauchte eine Zigarette – so selbstverständlich, als wären wir wieder in der Baker Street und diskutierten über einen Fall. „Und so geschah es, dass ich überlebte und alle außer meinem Bruder Mycroft mich für tot hielten.“
 

Während ich sein gleichgültiges Benehmen beobachtete, konnte ich spüren, wie sich mein Puls beschleunigte. „Wie kommt es, dass du es mir nicht erzählt hast?“, fragte ich.
 

„Ich entschuldige mich, Watson, aber du musst verstehen, dass ich das nicht konnte. Es war unerlässlich, dass du die Öffentlichkeit von meinem vorzeitigen Ableben überzeugst. Wer sonst, als mein treuer Freund und Biograf wäre in der Lage ein solches tief empfundenes und authentisches Gefühl zu Papier zu bringen? Nein, nein, mein lieber Doktor, es gab wirklich keinen Weg, dich einzuweihen.“
 

„Wie kannst du es wagen!“, rief ich. Niemals zuvor hatte ich einen solchen Hass für jemanden verspürt, dem ich normalerweise nichts als tiefste Liebe und Respekt entgegenbrachte. „Wie konntest du nur? Ist dir nicht klar, wie sehr mich dein Tod verletzt hat? Dass ich teilweise mir die Schuld daran gab, weil ich dich nicht hatte retten können? Wie konntest du nur so grausam sein!“
 

Er war auf die Füße gesprungen. Auf seinem Gesicht waren deutlich Fassungslosigkeit und Trauer zu erkennen. „Watson, mein teurer Freund, es tut mir Leid. Das tut es wirklich. Aber du musst verstehen, dass es keine Möglichkeit gab, es dir zu verraten! Mein Leben hing davon ab, dass jedermann glaubte ich sei tot.“
 

Es erforderte jeden Funken von Beherrschung, den ich aufbringen konnte, um ihn nicht einfach ins Gesicht zu schlagen. Ich hatte so viel, so unglaublich viel verloren, mich selbst so heftig für seinen Tod beschuldigt und er besaß nicht einmal den Anstand, mich von dieser Schuld zu erlösen. „Und trotzdem hast du deinem Bruder vertraut. Ihn hieltest du für vertrauenswürdig aber mich nicht? Mir ist klar, dass ich nicht über die…Herzlosigkeit verfüge, die euch offensichtlich in der Familie liegt, aber mit Sicherheit bin ich nicht ein solcher Idiot, dass du mir in dieser Sache nicht hättest vertrauen können.“ Sogar in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme entsetzlich sarkastisch und verbittert.
 

„Doktor, das ist deiner nicht würdig. Ich verstehe, dass dich die Tragödie, die ich vor kurzem inszeniert habe, sehr betroffen hat und ich versichere dir, dass du mein tiefstes Mitgefühl hast, aber du musst verstehen…“
 

„Mitgefühl!“, schrie ich. „Ich habe dein Mitgefühl! Was weißt du schon von Mitgefühl? Für dein kaltes, gefühlloses Herz ist das doch nur ein Wort, eine Definition für etwas, von dem du nicht die geringste Ahnung hast! Ich hätte niemals gedacht, dass du zu einer solchen…unmenschlichen Farce in der Lage wärst, aber nun…“ Ich hielt inne. „Nun erkenne ich, dass ich Unrecht hatte“
 

„Watson…“ Aber er konnte nur seinen Kopf schütteln. Für zumindest ein einziges Mal in seinem Leben hatte es ihm die Sprache verschlagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals so mit ihm reden würde. Ihn so vor mir stehen zu sehen – wie ein ungehorsames Kind, das gescholten wird – erweckte beinahe Mitgefühl in meinem eigenen Herzen, das mich dazu gezwungen hätte, zu sehen, dass ich handelte ohne nachzudenken. Aber der Schmerz und der Verrat, die meine Wut immer weiter schürten, behielten schließlich die Oberhand.
 

„Ich fürchte, Sir“, sagte ich mit kalter und ausdrucksloser Stimme. „Dass ich Sie bitten muss mein Haus zu verlassen.“
 

„Aber…“
 

„Sofort, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
 

Sein Mund klappte zu und seine grauen Augen blinzelten mehrmals voller Entsetzen. Aber so still wie die tiefste Nacht, sammelte er die Überreste seines Buchhändlerkostüms und verließ mein Haus so zivilisiert wie immer. Damals hatte ich gedacht, ich würde ihn nun niemals wieder sehen. Und wäre es so gekommen, dann wäre es mir völlig Recht geschehen.
 

In der Woche nach meinem Zusammentreffen mit Holmes, überlegte ich, ob ich die Baker Street aufsuchen sollte, und sei es nur um zu beweisen, dass ich mir die ganze Begegnung nicht nur eingebildet hatte. Mein Zorn war noch in derselben Stunde verraucht, als er mich verlassen hatte und wenn ich nun mit einem klaren Kopf darüber nachdachte, erkannte ich, dass das was ich gesagt hatte, nicht nur nicht der Wahrheit war, sondern auch grässlich und ganz und gar würdelos. Aber jedes Mal wenn ich dem Kutscher die wohlbekannte Adresse nennen wollte, versagte meine Zunge und ich konnte es nicht. Ich hatte Angst, dass er mich nach allem, was geschehen war, nie wieder würde sehen wollen. Aber ich hätte ihn besser kennen müssen und eine Woche danach, wurde mir das auch klar.
 

„Sir, an der Tür ist ein Gentleman, der Sie zu sehen wünscht“, berichtete mir Ivy spät am Abend.
 

Es waren jene Abende, an denen ich Mary am meisten vermisste. Einfach ihre Gesellschaft, wenn ich an meinem Schreibtisch arbeitete und das tröstende Geräusch ihrer Nähnadeln neben mir. Es gab keinen mehr, der sich nach meinem Tag erkundigte. Ich wand mich sofort von ihr ab, in der Hoffnung, dass sie meine Tränen nicht bemerkt hatte. „Bitte ihn zu gehen, Ivy, wer auch immer es ist. Ich bin einfach nicht in der Stimmung, mich mit jemandem zu unterhalten.“
 

„Nun…er ist ziemlich hartnäckig, Sir.“
 

„Es ist mir egal, was er ist“, schrie ich. „Bitte ihn zu gehen!“
 

„Watson“, hörte ich eine vertraute Stimme sagen.
 

Ich sah auf und erblickte Sherlock Holmes auf der Türschwelle. Zum ersten Mal gekleidet wie ich ihn in Erinnerung hatte, als er selbst und nicht als ein alter Buchhändler. Seinen Zylinder immer noch auf dem Kopf, den Anzug ganz in Schwarz und in der Hand, wie es typisch für einen anspruchsvollen Gentleman war, einen teuren Gehstock aus Silber und Mahagoni. Es war beinahe, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen, seit er mir das letzte Mal unter die Augen gekommen war (unter normalen Umständen, meine ich), als ob diese letzten drei Jahre nichts als eine schwache Erinnerung wären. Ein Teil von mir war bestürzt über seinen Anblick und das Wissen, wie ich ihn vor nur einer Woche behandelt hatte, brannte schmerzhaft in mir. Aber mehr als alles andere fühlte ich mich unglaublich dankbar und erleichtert, ihn hier, in meinem eigenen Haus, zu sehen, denn ich wusste nun, dass er mir nichts nachtragen würde.
 

„Trotz meiner unerwünschten Hartnäckigkeit, Doktor, würdest du wirklich deinen ältesten Freund aus deinem Haus und auf die Straße werfen?“ Auf seinem Gesicht erkannte ich einen Anflug von Sarkasmus, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies einfach Teil seines bizarren Humors war.
 

Mit einer schnellen Bewegung wischte ich mir über die Augen und hoffte, dass es keiner bemerkt hatte. „Nein, nein, natürlich nicht“, sagte ich mit einem Räuspern. „Komm herein, Holmes. Danke, Ivy.“
 

Er schob mein Hausmädchen beiseite und gab ihr kaum Zeit das Zimmer zu verlassen, bevor er die Tür hinter ihr schloss. Auch hielt er sich nicht damit auf Hut, Mantel oder Handschuhe abzulegen. Anstatt etwas zu sagen schritt er im Zimmer auf und ab, während er sich heftig die Hände rieb, ein sicheres Zeichen für seine Nervosität. In der Tat ähnelte er sehr einem ruhelosen Geist, wann immer er es wagte, etwas von seinem Herzen zu preiszugeben und nicht von seinem Genie. Und ich wusste genug, um zu wissen, dass er genau deshalb hier war.
 

Ich stand von meinem Sessel auf und versuchte unter größter Anstrengung einigermaßen gelassen zu wirken, während ich zu meinem Spirituoseschrank ging; unverschlossen, wegen des Brandys, in dem ich damals gelegentlich Halt suchte. „Darf ich dir etwas anbieten?“, fragte ich ihn.
 

Aber Holmes trank so gut wie nie Alkohol, außer wenn er in ruhiger oder ausgelassener Stimmung war. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern, versuchte er nicht, damit seine Nerven zu beruhigen. Dafür hatte er andere Mittel. „Nein, danke, das ist nicht nötig. Aber es stört dich doch sicher nicht, wenn ich eine Zigarette rauche?“
 

„Natürlich nicht.“
 

Ich bin mir sicher, dass diese gezwungene Unbefangenheit uns beiden sofort unangenehm wurde. Und tatsächlich, während er mein Wohnzimmer mit dicken Schwaden blauen Rauches füllte, erkannte ich, dass ich ihn anstarrte – und er mich – in einem wortlosen Tête-à-tête voller Unbehaglichkeit. Es war wahrscheinlich das einzige Mal in meiner Erinnerung, da weder er noch ich auch nur ein einziges Wort zu sagen wussten. Aber ich vermute, der einzige Grund dafür war, dass keiner von uns das sagen wollte, von dem wir wussten, dass es nötig war. Aber schließlich, getrieben von liebevoller Rücksichtsnahme und von – ich wage, es beim Namen zu nennen – tiefster Scham über mein Benehmen, begann ich als erster zu sprechen.
 

„Holmes“, sagte ich. „Ich muss mich wirklich für letzte Woche entschuldigen. Ich…habe mich furchtbar benommen.“
 

„Nein, nein.“ Er wedelte abweisend seine Hand durch die Luft und wirbelte damit zirkulierende Rauchschwaden um sich herum auf. „Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Ich habe dich furchtbar behandelt. Von dir zu erwarten, du würdest mich mit offenen Armen empfangen, nachdem ich dich in diesen letzten Jahren so grässlich hintergangen haben. Ich hätte dich niemals in dem Glauben lassen dürfen, ich sei wirklich tot.“
 

Nichtsdestotrotz erfüllte sein Ernst mein Herz mit noch weiterer Schuld. Denn ich wusste, auch wenn er sich in seinem Urteil über mich geirrt hatte, dass es entsetzlich selbstsüchtig von mir war, von ihm zu erwarten, sein Leben zu riskieren, nur um mein Gewissen zu erleichtern. „Holmes, du schuldest mir nichts. Keine Entschuldigungen, nein, nicht einmal Worte. Mein Benehmen letzte Woche war…“ Ich konnte kaum ein passendes Wort dafür finden. „Abscheulich. Alles, was ich dir als Erklärung dafür geben kann, ist, dass ich in letzter Zeit nicht ich selbst gewesen bin. Aber es ist nicht meine Absicht, dies als Entschuldigung zu missbrauchen.“
 

Seine darauf folgenden Taten waren, wie ich denke, von Mitleid gelenkt. Der Blick in seinen stahlgrauen Augen verlor etwas von seiner Härte und schien nun beinahe menschlich. Sein ganzes Auftreten entspannte sich. Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf sie dann ins Feuer. „Mein lieber Watson“, sagte er mit seltsam sanfter Stimme. Eine Stimme, die ich niemals zuvor gehört hatte. „Dein Benehmen mag dir unentschuldbar vorkommen. Aber mir nicht. Dir ist so viel Schreckliches in einer so kurzen Zeitspanne widerfahren. Und ich darf wohl sagen, dass meine Liebe für alles Dramatische deinen Kummer noch vergrößert hat. Wenn ich gewusst hätte…“ Er hielt inne, versuchte zweifellos die richtigen Worte zu finden. Offenkundige Gefühlsäußerungen waren bei Gott nicht seine Stärke. „Ich denke, dass ich mich wohl genauso verhalten hätte, wenn unsere Plätze vertauscht gewesen wären.“
 

Vielleicht lag es an dem, was er gesagt hatte und ich so dringen hatte hören müssen, vielleicht aber auch an etwas ganz anderem, etwas verwandt mit dem zerrütteten Zustand meiner Nerven und meines Herzens in jenem Augenblick, aber warum auch immer, ich tat etwas, was ich nie zuvor in Gegenwart eines anderen Mannes getan hatte; ich begann zu weinen.
 

Vermutlich schockierte es Holmes, mich so zu sehen, aber es ließ es sich kaum anmerken. Nur ein kaum merkliches Stirnrunzeln und ein leichtes Zucken der Unterlippe verrieten ihn. Ich kann nicht wirklich sagen, was als nächstes passierte, so sehr war ich damit beschäftigt inhaltslose Entschuldigungen zu plappern und, natürlich, mich unbeschreiblich zu schämen. Irgendwie war er plötzlich geradewegs neben mir. Im ersten Moment stand er noch neben dem Kamin und im nächsten direkt vor mir.
 

„Ich…ich weiß nicht, was über mich gekommen ist“, sagte ich, als ich mich von ihm abwandte. Ich konnte es nicht ertragen, ihm in die Augen zu sehen.
 

Ich konnte fühlen, wie sich seine geschmeidigen Hände auf meine Schultern legten. Mein Körper erstarrte zu Eis, denn das Letzte, was ich wollte, war sein Mitleid. Geschweige denn diese Berührung. Mein Verhalten war eines englischen Gentlemans vollkommen unwürdig.
 

„Watson“, sagte mein Freund in einer Stimme, die sehr sanft klang und so überhaupt nicht nach Holmes. „Dreh dich um.“
 

„Bitte geh einfach.“
 

Sein Griff wurde fester und bestätigte die Sturheit, die ich an ihm bereits kannte. Er würde erst gehen, wenn es ihm passte und es würde ihm erst dann passen, wenn er gesagt hatte, was er sagen wollte. Ich wurde von einer kurzen Wut erfasst, dass er sogar in meinem eigenen Haus die Überhand behalten sollte, aber dann begann er erneut zu sprechen. „Bitte, Doktor, dreh dich um.“
 

Und ich gab nach. Weil ich ihm niemals etwas abschlagen konnte, früher nicht und damals auch nicht. Er blickte auf mich herab mit all der Zärtlichkeit, zu der ein solcher Mann wie er fähig ist, blickte mich an trotz meiner Erniedrigung, und tat etwas vollkommen Schockierendes. Die Hand, die auf meiner Schulter gelegen hatte, zog mich dicht an ihn, während er die andere auf meinen Hinterkopf legte. Was auch immer ich von ihm in jenem Moment erwartet hatte, mich zu umarmen, gehörte ganz bestimmt nicht dazu. Ich war viel zu erschrocken, um auch nur an Gegenwehr zu denken, und so stand ich einfach nur da, meine Wange an seine Brust gepresst und atmete den vertrauten Geruch nach Pfeifentabak ein, den sein Jackett verströmte, während ich der Frage nachging, was in Gottes Namen bloß in über ihn gekommen war. „Mein lieber Watson“, sagte er schließlich. „Du sollst wissen, dass ich nicht schlechter von dir denke als früher. Wenn ein Mann jemals das Recht hatte, zusammenzubrechen.“
 

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er mich wieder losließ und wieder zu jenem messerscharfen Wesen aus Stahl wurde, als das die Welt ihn sah. Es zog noch eine Zigarette hervor und stand da mit diesem seltsamen Lächeln, als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre. „Ich…ich danke dir, Holmes. Für dein Verständnis.“
 

Aber er zuckte nur die Achseln. „Das war nichts weiter“, meinte er. „Und nun.“ Er hielt inne, um sich die Hände zu reiben. „Nun haben wir Pläne zu machen.“
 

„Pläne? Was für Pläne…warte mal, du lieber Himmel! Du bist ja verletzt.“ Nun da ich seine Hände aus der Nähe sah, bemerkte ich den selbst gemachten Verband auf seinem linken Ringfinger. Der Schwellung nach zu urteilen, war er eindeutig gebrochen. Es sah aus, als hätte jemand versucht ihn aus dem Gelenk herauszureißen. Mit dem geübten Auge eines Doktors, inspizierte ich rasch und instinktiv den Rest von ihm. Auf den ersten Blick erkannte ich einen zweiten Verband, fast völlig von seinem Kragen verdeckt. Der Verband war nicht besonders sorgfältig gemacht, unverkennbar hatte er es selbst getan und das, was ich von der Wunde sehen konnte, zeigte mir deutlich, dass ihm tiefer Kratzspuren zugefügt worden waren. Zweifellos von einem Menschen, der Größe nach zu schließen. „Wurdest du in einen Kampf verwickelt?“, fragte ich.
 

Er lächelte. „Es ist nichts. Die Visitenkarte eines Freundes, das ist alles.“
 

„Einem Freund? Wenn das ein Freund war, dann will ich nicht wissen, was ein Feind…“, ich brach ab und fühlte Hitze in meinem Gesicht aufsteigen, als ich merkte, was ich da sagte. Innerlich sah ich die Wassermassen Reichenbachs, die sich nicht auf einen, sondern auf zwei Körper ergossen. Vor meinen Augen zerfielen sie, bis nur noch die Knochen übrig waren, das Ergebnis von einem Jahrhundert von Verschwendung und Nachlässigkeit. Eilig räusperte ich mich und wand mich wieder seinen Verletzungen zu. „Ich könnte mich ein wenig besser darum kümmern.“
 

„Nein, nein, achte einfach nicht darauf. Eine Kleinigkeit sonst nichts. Das reizende Souvenir eines Shakari. Es war mir ein Vergnügen, London von dem Colonel zu befreien.“
 

Ich wollte ihn fragen, wovon er da überhaupt redete und Holmes erkannte das zweifellos, denn er wechselte sofort das Thema. „Und jetzt zu unseren Plänen.“
 

„Pläne…ach, ja. Von was für Plänen sprichst du überhaupt?“
 

„Für dich alter Junge. Für dich und deinen Sohn.“
 

„Für mich und meinen…warte mal, woher wusstest du, dass ich überhaupt einen Sohn habe? Hat dir dein Bruder von ihm erzählt?“
 

„Ha! Als ob Mycroft sich jemals mit häuslichen Ereignissen außerhalb seiner eigenen Angelegenheiten beschäftigen würde! Das glaube ich kaum. Nein, nein, er hat ihn nicht mit einem Wort erwähnt. Es war eine ganz simple Deduktion.“
 

Mit einem schnellen Blick durchsuchte ich den Raum und versuchte den Hinweis zu finden, der ihm die Existenz meines Sohnes verraten hatte. „Ich sehe nichts, wovon du deduzieren könntest.“ Mein Blick streifte den Kamin und erinnerte mich daran, direkt vor einem Foto meines Sohnes zu sitzen. „Du sahst zweifellos das Bild.“
 

„In der Tat.“
 

„Aber das kann nicht alles sein.[1]“
 

„Nein, nicht ganz.“ Mit einem Lächeln deutete er auf den Boden neben meinen Schreibtisch. „Was meine Methoden betrifft, bist du wohl aus der Übung. Das hier war ziemlich einfach.“
 

Ich blickte zu meinen Füßen hinab und sah einen hölzernen Spielzeugsoldaten, ungefähr 5 Zoll groß mit einer schön gemalten roten Jacke sowie einer recht detailreichen Uniform und einem sorgsam gefertigten Gesicht. Er gehörte zu einem Satz, den ich dem Jungen erst vor einer Woche an seinem Geburtstag gekauft hatte. Kopfschüttelnd hob ich ihn auf und stellte ihn auf den Schreibtisch.
 

„Nun erkennst du es, Doktor! Falls du also deine Tochter nicht mit Spielzeugsoldaten Krieg spielen lässt, würde ich sage, das Bildnis auf dem Kaminsims ist das eines männlichen kleinen Watson junior.“
 

„Ganz offensichtlich sind deine außergewöhnlichen Fähigkeiten über die Jahre nicht eingerostet.“
 

Er ließ das typische, pfeilschnelle Grinsen auf seinem Gesicht aufleuchten, während er Richtung Kamin schlenderte, um das Bild meines Sohnes in die Hand zu nehmen und es so eingehend zu betrachten, wie er es sonst mit Proben unter seinem Mikroskop zu tun pflegte. „Er…wird bald drei, nicht wahr?“
 

„Ist es gerade geworden“ Dies war einer der ganz seltenen Momente, in denen es mir erlaubt war ihn zu verbessern. „Sein Geburtstag war am fünften Oktober.“
 

„Ah, dann war er eine Frühgeburt.“
 

„Ja…fast einen Monat, soweit wir das sagen können. Aber woher weißt du das?“
 

„Eine einfache Rechnung, da ich mich noch an das Datum des Tages erinnere, als du voller Freude über deine bevorstehende Vaterschaft in mein Wohnzimmer gestürzt bist.“ Er wand seine Aufmerksamkeit erneut der Fotographie zu. „Dein Sohn ist ziemlich intelligent, würde ich sagen, bereits dabei das Schreiben zu lernen. Trotz seines Alters ist er ein ungeduldiges Kind, aber das muss nichts Schlechtes heißen. Ich sehe außerdem, dass er ein recht lebendiger Junge ist, aber noch recht wackelig auf den Beinen. Ah, und ein Tierfreund. Das ist gut, ja. Sehr gut.“
 

Ich hörte mein eigenes Lachen, mein Lachen darüber, wie er da stand und den Charakter meines Sohnes von einem drei Monate alten Foto beschrieb. „Ach Holmes. Ich weiß, ich sollte nicht überrascht sein. Ich bin sicher, du bist nicht überrascht, zu hören, dass du Recht hast – in jeglicher Hinsicht. Aber ich muss wahrlich blind sein, denn wäre er nicht mein Sohn, könnte ich nichts davon auf diesem Bild erkennen.“
 

„Aber, aber Watson. Schau genau hin. Nimm das Foto. Ja, so ist’s gut. Und jetzt.” Er verschränkte seine Hände vor seinem Gesicht und betrachtete mich gefühlvoll. „Sieh es nicht nur an. Erkenne.“
 

Ich versuchte es. Ich versuchte, das Bild nicht mit den Augen eines Vaters sondern denen eines geübten Beobachters zu sehen. „Nun, ich vermute, du wusstest von seiner Intelligenz, da er, wie ich zugeben muss, einen recht großen Kopf hat.“
 

„Und seine Augen, Watson. Darin schimmert geistige Aktivität. In Ordnung, mach weiter.“
 

„Ich erinnere mich, dass du einmal sagtest, an der Entwicklung der Handmuskulatur könne man einen Rechts- von einem Linkshänder unterscheiden. Und ich schätze, du konntest auf dem Bild sehen, dass seine rechte Hand von den häufigen Schreibübungen für ein Kind seines Alters ziemlich dünn und muskulös ist.“
 

„Sehr gut, Doktor!“
 

„Was den Tierfreund angeht, das ist er mit Sicherheit und du erkanntest es, weil er mit der linken Hand Blackie umklammert, äh…seinen Stoffhund.“
 

„Ganz recht…Watson…du kommst wieder in Übung. Bitte mach weiter.”
 

Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich fürchte, mehr kann ich nicht sagen.“
 

„Aber, aber…na ja, Ich schätze, da du vier Jahre lang überhaupt nichts getan hast…“
 

„Wie bitte? Da ich überhaupt nichts getan habe?“
 

Aber er winkte ab. „Du weiß, was ich meine. Wie ich gerade sagte, vier Jahre lang nichts zu tun, würde wohl jeden etwas aus der Übung bringen. Das sollte sich bei Zeiten wieder legen. Nun, seine Ungeduld ist ziemlich offensichtlich an der Art zu erkennen, wie er nach dem Stoff seines Kleides greift. Siehst du es? Er zerrt daran. Zweifellos war es schwer für ihn, so lange für den Fotografen stillzusitzen. Seine Beinmuskulatur ist sehr angespannt, ein deutliches Zeichen dafür, dass er dieser Situation überdrüssig ist. Und was die Aktivität angeht, bemerkte ich, dass sein rechter Ellebogen aufgeschürft ist. Das ist genau, was man bei einem Kind erwarten würde, das stürmisch und lebhaft, aber noch nicht ganz sicher auf seinen Füßen ist. Zweifellos sind auch seine Knie, die ich auf diesem Bild nicht erkennen kann, zerkratzt und ramponiert.“
 

Ich konnte spüren, wie sich gegen meinen Willen ein Lächeln auf meine Lippen schlich. Zum ersten Mal seit Holmes auf so unerwartete Weise wiederaufgetaucht war, begann ich mich in seiner Gegenwart wieder so zu fühlen, wie ich es früher getan hatte. Unbeschwert, fröhlich, aufmerksam, hin und wieder verwirrt und trotzdem...Es gibt keinen anderen Mann, dessen Gesellschaft ich mehr genoss als die seine. Sein bloßer Anblick – zurück und wieder bei der Arbeit…nun ja, es war genug, um mein Herz beinahe wieder in denselben Zustand zurückzuversetzen, in dem es vor meinem Verlust gewesen war. „Ich wage zu sagen, du hast Josh fehlerlos beschrieben, Holmes. Es ist fast so, als würdest du ihn schon sein ganzes Leben lang kennen.“
 

„Er heißt also Josh?“, erkundigte er sich.
 

„Nun ja, eigentlich ist sein Name John Sherlock Watson. Mary kam auf die Idee mit Josh. Das ‚JO’ von seinem ersten und das ‚SH’ von seinem zweiten Vornamen.[2]“
 

„John…Sherlock? Zum Teu…Watson, ich fühle mich geehrt. Und du hast dein Kind wirklich nach mir benannt?“
 

Ich freute mich über seine Worte, auch wenn ich ihm übel nehme, dass er offensichtlich Mühe gab, nicht besonders geehrt zu wirken. „Nun ja, seinen zweiten Namen. Und außerdem hatte ich eigentlich gedacht, es ist dein Andenken, das ich ehre.”
 

Er schenkte mir eines jener Grinsen, die so typisch für ihn waren. „Tja, was auch immer deine Motive waren, es ist, wenn ich das sagen darf, die wohlwollendste Geste, die mir jemals zu Teil wurde“
 

Da ein solche Anerkennung aus Holmes’ Mund wahrlich eine Seltenheit war, konnte ich nicht anders, als vor Freude zu erröten. Was den Namen meines Sohnes anging, hatte ich mir aus logischen Gründen niemals Gedanken über seine Reaktion gemacht, aber wäre er am Leben gewesen, als ich beschlossen hatte, meinem Sohn diesen Titel zu verleihen, wäre ich davor auf der Hut gewesen. Ungerechtfertigte Bezeugungen der Bewunderung waren etwas, worüber er die Nase rümpfte; einmal hatte er sogar einen Ritterschlag von der Queen höchst persönlich ausgeschlagen. Schlicht und einfach weil er sich selbst als nicht würdig für diesen Prunk und eine solche Stellung empfand [3]. Deshalb war ich sehr glücklich, dass er in diesem Fall offensichtlich viel davon hielt, dass ich meinem Kind diesen ehrenvollen Namen vermacht hatte. So glücklich, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, noch hinzuzufügen: „Außerdem bist du Joshs Taufpate, Holmes. Posthum natürlich, zumindest war es das, was ich dachte, aber ich konnte den Vikar davon überzeugen, dass dies ein besonderer Fall war.“
 

Holmes antwortete nicht sofort, sondern schien in seiner eigenen Welt gefangen und betrachtete die Flammen im Kamin, als enthielten sie irgendwelche wundersamen Geheimnisse, während er langsam an einer weiteren Zigarette sog. Ich wurde etwas beunruhigt, als bereits eine ganze Minute vergangen war und er noch immer nichts gesagt hatte. Ich wusste, dass Holmes’ religiöses Bekenntnisse im allerbesten Fall recht flüchtig waren und während ich zumindest hin und wieder die Messe besuchte, tat er es nie. Was dieses Thema betraf, hatte er seine Meinung eigentlich niemals genau geäußert, aber vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht hatte ich ihn mit meinem anmaßenden Handeln sogar gekränkt.
 

Doch als schließlich seine Zigarette ausgeraucht war, warf er sie ins Feuer und schlug mir auf die Schulter, wodurch sich ein Anflug von Schmerz in meiner alten Wunde regte[4].
 

„Ich kann es kaum erwarten, den Jungen zu treffen!“, rief er aus. „Ich hätte nicht erwarten, jemals ein Patenkind zu bekommen.“
 

Erleichterung durchflutete mich und ich atmete unbemerkt auf. Trotz allem erschien es mir recht ungewöhnlich, dass Holmes sich darauf freuen sollte, ein Kind kennen zu lernen, selbst wenn es sich um mein eigenes handelte. Ich hatte in ihm nie einen Mann gesehen, der viel mit Kindern anfangen konnte, außer wenn er selbst einen Nutzen daraus zog, wie bei den Irregulars. Vielleicht schwang allerdings auch ein Hauch von Ironie in seinem Ausruf mit, aber ich beschloss, nicht darauf einzugehen. „Nun, das wirst du auf jeden Fall. Schon morgen, wenn es dir Recht ist. Ich, zumindest, würde mich sehr freuen meine alte Unterkunft wieder zu sehen. Wie ich das alte Wohnzimmer vermisse!“
 

„Ist das so?“ Auf diese Aussage hin, schien sich sein Gesicht vor Freude zu erhellen und er lehnte sich erwartungsvoll vor. „Hast du es auch genug vermisst, dass du einverstanden wärst zurückzukehren und es rund um die Uhr in Beschlag zu nehmen?“

„Rund um die Uhr…wovon sprichst du, alter Freund?“
 

Er zuckte mit den Schultern. „Wie kann ich es noch klarer ausdrücken, mein Bester? Ich bitte dich um deine Einwilligung, dir die 221B wieder mit mir zu teilen“
 

„Aber, Holmes, jetzt warte doch mal…“
 

Doch er schüttelte nur den Kopf und ich wusste, dass keine noch so große Masse an Protest, seine eiserne Hartnäckigkeit erschüttern konnte. „Aber, aber, ich habe die ganze Sache schon gut durchdacht und du wirst an meiner Überlegungen nichts auszusetzen finden. Du brauchst nun kein so großes Haus mehr, nur für dich und das Kind und wie ich dich kenne, hast du ohnehin schon daran gedacht, zu verkaufen und näher zu deiner Ordination zu ziehen, nicht wahr?“
 

„Nun ja, schon…ich habe daran gedacht…“
 

„Großartig! Die Baker Street ist nur drei Straßen davon entfernt und außerdem wirst du, wenn du als Arzt gerade nicht so viel zu tun hast, sicher wieder mit mir arbeiten wollen, nicht wahr?“
 

„Aber Holmes, was ist mit meinem Sohn? Oder hast du einfach keinen Gedanken an ihn verschwendet, weil er nicht in deine Pläne passt?“
 

Holmes schnaubte, was bei ihm ein sicheres Zeichen von Ärger war. „Selbstverständlich nicht. Ich habe bereits mit Mrs. Hudson darüber gesprochen. Sie ist einverstanden, die Dachkammer einzurichten und als Schlafzimmer für Josh zu nutzen.“
 

„Aber wo soll das Kindermädchen wohnen?“
 

„Wozu braucht er schon ein Kindermädchen? Mrs. Hudson wird sich um ihn kümmern, wenn du bei der Arbeit bist, und natürlich auch, wenn die Jagd wieder begonnen hat.“
 

„Aber nein, so etwas kann ich doch unmöglich von ihr verlangen.“
 

„Dann wirst du sie, fürchte ich, sehr enttäuschen, Watson. Als ich das Thema zum ersten Mal anschnitt, war sie begeistert. Alle ihre Kinder sind erwachsen und ausgeflogen und du weißt, wie viel sie ihr bedeuten.“
 

„Aber, Holmes, das ist es doch gar nicht.“ Obwohl in jenem Moment, das gebe ich zu, war ich mir nicht recht sicher, was es war. Ich vermute, es geschah alles zu schnell. Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit dazu war, das Zuhause meiner Frau so bald zu verlassen und mein altes Leben völlig zu ändern. Aber ich musste zugeben, dass die Idee einen gewissen Reiz auf mich ausübte. Zurück in der Baker Street, zurück zu Holmes’ Fällen, zurück zu meinem Lebenszweck…Gott, hatte ich das wirklich gerade gedacht? Mein Lebenszweck war die Kranken zu heilen, und nicht diesem exzentrischen, arroganten Kerl hinterher zu laufen und über ihn in einer Art kindlicher Heldenverehrung zu schreiben. Ganz sicher…
 

„Watson…“ Holmes versetzte mir einen kleine Stoß, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. „Woran denkst du, Doktor?“
 

Ich schüttelte den Kopf, während ich die Hände in meine Hosentaschen steckte. „Ich weiß es nicht. Ich sollte mir etwas Zeit nehmen und die ganze Sache durchdenken. Du bist gerade erst zurückgekehrt und überhaupt…mein Leben ändert sich so abrupt. Gib mir eine Nacht und…“
 

„Aber natürlich! Nimm dir alle Zeit, die du brauchst! Und nun, Watson, wenn es dir nichts ausmacht, ich habe noch eine andere Verabredung. Bis morgen, zehn Uhr in der Baker Street, bring den Jungen mit und wir werden die Feinheiten über den Umzug klären. Ich wünsche dir eine Gute Nacht und Watson…“ Er hielt inne und sein Gesicht verwandelte sich für eine Sekunde von Stahl zu Fleisch…oder vielmehr zum dritten Mal in jener Nacht – nur für einen Sekundenbruchteil, ehe der Zynismus zurückkehrte. „Es ist wundervoll dich wieder zu sehen“
 

„Mir geht es genauso, alter Freund. Mir geht es genauso. Ich…äh, bin froh, dass ich das sagen kann, weißt du. Und ich entschuldige mich…“
 

„Unnötig. Ganz und gar unnötig, Watson!“ Er unterbrach mich einmal mehr, aber angesichts seiner guten Stimmung konnte ich ihm kaum böse sein. Und ich muss zugeben, dass es meinem alten Herzen verdammt gut tat, ihn hier zu sehen, in meiner Diele, wie er sich den Stock auf die Schulter schwang und sich mit einem breiten Grinsen an die Hutkrempe tippte, ehe er in der Kälte von Londons nebliger Nacht verschwand.
 

Nachdem Holmes und ich nun also unseren Streit bereinigt hatten, erwartete ich in jener Nacht friedlich wie ein Baby zu schlummern. Der Zustand meiner Nerven schien sich wieder einigermaßen normalisiert zu haben und trotz allem was geschehen war, geschweige denn was in naher Zukunft noch geschehen sollte, erfüllte mich ein tiefer Frieden, wie ich ihn seit Monaten nicht mehr gekannt hatte.
 

Aber mit einem Mal war ich überhaupt nicht mehr müde und hatte viel zum Nachdenken. Ein schneller Blick auf das Feuer zeigte mir, das es in der Zeit, die ich mit meinem Freund verbracht hatte, zu knisternder Schlacke zusammengesunken war. Ich bewahrte die Zeitungen der vergangenen Wochen stets in einem Korb auf, um das Feuer damit anzufachen. Es muss Schicksal gewesen sein, dass die, nach der ich griff, fünf Tage alt war und ich aus irgendeinem Grund von der Schlagzeile auf der Titelseite angezogen wurde. Adairs Mörder gefasst, hieß es da. Ich war so in meine eigene verzwickten Angelegenheiten verwickelt gewesen, dass ich die ganze Woche lang auf keine einzige Zeitung geachtet hatte. Dennoch hatte Ivy, pflichtbewusst wie immer, nicht aufgehört sie zu sammeln und hier aufzubewahren. Schnell überflog ich den ganzen Artikel.
 

Inspektor Lestrade von Scotland Yard gab heute bekannt, dass Colonel Sebastian Moran – ehemals tätig in der Indischen Armee Ihrer Majestät – unter Arrest gestellt wurde. Er beging den Mord an Ronald Francis Adair, der am Abend des 30. Septembers in seinem eigenen Haus zu Tode kam. Obwohl diese Verhaftung Lestrade zugeschrieben wird, beharrt dieser darauf, dass ein Gutteil des Erfolgs einem anonymen Dritten zu verdanken ist. Bei Colonel Moran wurde eine Art von Luftgewehr gefunden, von dem angenommen wird, dass es sich dabei um die Mordwaffe handelt.
 

An diesem Punkt hielt ich im Lesen inne, denn plötzlich traf mich ein Gedanken daran, was Holmes über seinen verletzten Hals und den gebrochenen Finger gesagt hatte. Es war mir ein Vergnügen, London von dem Colonel zu befreien. Er musste von Colonel Sebastian Moran gesprochen haben. Aus verschiedenen Gründen erinnerte mich dieser Name an etwas. Der Band ‚M’ des Namensverzeichnisses, das Holmes über alle berichteswerten Personen führte, mit denen er eines Tages beruflich zu tun haben könnte, war mit besonders schweren Verbrechern gefüllt. „Nach Moriaty“, hatte mir mein Freund vor einiger Zeit erzählt. „Ist Colonel Moran der zweitgefährlichste Mann in London.“ Ich hatte mir in all dieser Zeit nichts dabei gedacht, aber nun konnte sogar ich die Verbindung erkennen. Holmes hatte mich in jener Nacht gebraucht, gebraucht um diese letzte Bedrohung, die seiner sicheren Rückkehr im Weg stand, zu eliminieren und was hatte ich getan? Ihn aus meinem Haus geworfen!
 

Mein Körper versteifte sich leicht, als ich in einen Sessel niedersank und nach meiner Pfeife aus Kirschholz griff. „Oh, Holmes, ich hätte es mir niemals verzeihen können, wenn dir ein wirkliches Unglück geschehen wäre“, murmelte ich. Die Pfeife fühlte sich glatt und angenehm warm in meinen bloßen Händen an. Um die Wahrheit zu sagen, war sie ein Weihnachtsgeschenk, das ich vor fünf Jahren von meinem teuren Freund bekommen hatte. Hin und wieder gönnte ich mir den Genuss einer guten Pfeife, aber der eigentliche Pfeifenliebhaber war er. Diese spezielle war ein besonders schön gearbeitetes Stück und auch wenn ich nie etwas gesagt hatte, fand ich, dass er nicht so viel für mich hätte ausgeben sollen. Und in jenem Moment, als ich das ‚Tschack’ des Streichholzes hörte und die Rauchschwaden sah, die um meinen Kopf wirbelten, wurde mir klar, dass ich mich irgendwie bei ihm für all das revanchieren musste. Ich musste zurück. Zurück zur Baker Street, zurück zu The Strand und mehr als alles andere zurück meiner Aufgabe als Assistent und – egal wie eigensinnig es auch war – zurück zu Sherlock Holmes.
 


 

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[1] Watsons Aussage bezieht sich darauf, dass zu jener Zeit bei kleinen Kindern kaum zwischen Jungen und Mädchen unterschieden werden konnte. Joshs Haare waren wahrscheinlich lang und bis zu einem Zeitpunkt zwischen drei und sieben Jahren trugen alle Kinder eine Art Kleid.
 

[2] Na gut, dass ist wahrscheinlich ein sehr verbreiteter Name für einen Sohn von Watson in Fanfiction. Aber es passte einfach so perfekt. Und um wenigstens ein bisschen Kreativität zu zeigen, gab ich ihm den Spitznamen Josh.
 

[3] Eigentlich hat nicht Viktoria sondern Edward Holmes den Ritterschlag angeboten und es geschah im Jahr 1902 (in „Die drei Garridebs“), acht Jahre nach dieser Gesichte. Allerdings habe ich mir die dichterische Freiheit genommen, es etwas vorzuziehen.
 

[4] Es gibt einiger Diskussionen darüber, an welcher Stelle Watson im Canon nun verwundet wurde. In „Studie in Scharlachrot“ ist die Wunde in seiner linken Schulter, aber in „Im Zeichen der Vier“ ist sie in seinem Bein. Für diese Geschichte habe ich mit einem recht beliebten Kompromiss begnügt und der arme Watson wurde an beiden Stellen verletzt.

So, dieses Update hat definitiv länger gedauert, als ich es beabsichtigt hatte. Ich habe nämlich während August einen Ferienjob angenommen und der nimmt (wie man sich wohl denken kann ^.~) recht viel Zeit in Anspruch.

Vielen Dank für die Kommentare von RedRose, Moonrose (beide von Fanfiktion.de) und Sasuke_Uchiha. (Huch, diese Gesichte scheint Rosen anzuziehen…ist mir noch gar nicht aufgefallen… *grins*)

Und um auf die Frage von Moonrose einzugehen: Ja, hierbei handelt es sich um Slash, wenn auch um den bestgeschriebenen über den ich im Internet jemals gestolpert bin. Tja, das ist wohl auch der Grund, weshalb ich beschlossen habe, es zu übersetzen.
 

Kapitel 4
 

Am nächsten Morgen informierte ich Ivy während des Frühstücks, dass ich sie entlassen würde und dass ich mein Haus in Kensington verkaufen wollte, um näher zu meiner Praxis zu ziehen. Sie wusste natürlich wenig, wenn nicht gar überhaupt nichts über die Identität meines Besuchs in der letzten Nacht und ich fand es nicht notwendig, sie über die wahren Hintergründe meines Umzugs aufzuklären. Ich versprach ihr einen angemessenen Bonus zu ihrem letzten Gehalt und außerdem die besten Referenzen. Sie wirkte nicht besonders überrascht – zumindest bis sie fragte, was ich mit Josh vorhatte.
 

„Werden Sie ein neues Kindermädchen einstellen, Sir?“, fragte sie.
 

„Nein, ich werde mich selbst um ihn kümmern.“
 

Ihr Blick brachte mich dazu, plötzlich ein reges Interesse an meiner Kaffeetasse und einem Artikel über französische Handelszölle zu zeigen. „Nun, außerdem wird mir noch ein alter Freund dabei helfen.“ Als schuldete ich ihr eine Erklärung.
 

„Ja, Sir.“ Sie begann das Tablett abzuräumen. In jenem Moment wurde mir klar, wozu ich mich da eigentlich verpflichtet hatte. Zwei Junggesellen, die sich eine Wohnung teilten, waren weder ungewöhnlich, noch wurden sie mit schiefen Blicken bedacht. Ein seltsamer, eigenbrötlerischer alter Kauz und eine Witwer mit einem kleinen Sohn, die zusammen lebten ohne ein Kindermädchen und nur mit einer Wirtin, die kochte und putzte, würden es dagegen ganz sicher. Ein Mann mit meinen finanziellen Mitteln, der ein Kind mit…nun ja, eben einem anderen Mann aufzog, würde auf jeden Fall einige hochgezogene Augenbrauen verursachen.
 

Als ich schließlich das Kinderzimmer betrat, hatte Ivy Josh bereits gefüttert und angezogen. Ausgestreckt auf dem Bauch liegend war er gerade, dabei Worte aus seinen Alphabet-Bauklötzen zu bilden. Ich erkannte die Wörter ‚Josh’, ‚Papa’, ‚Mama’ und ‚Baby’. Ich senkte den Kopf und betrachtete scheinbar interessiert das Blumenmuster des Teppichs. Es würde das Beste sein, ihn so schnell wie möglich in sein neues Zuhause zu bringen. Wenn ich schon kaum mit der Situation fertig wurde, wie konnte ich es dann von einem dreijährigen Kind erwarten.
 

Er sah auf, als ich darüber nachsann und schenkte mir ein fröhliches Grinsen. „Hallo, Papa.“

„Hallo, hallo. Hast du gut gefrühstückt?“
 

„Es gab Speck“, erklärte er, während er nach einem ‚d’ suchte, um das Wort ‚Hund’ zu vervollständigen. „Ich mag Speck.“
 

„Ach wirklich?“, meinte ich lachend. „Nun, ich habe dir noch etwas zu sagen, von dem ich weiß, dass es dich freuen wird. Wir gehen heute aus. Um eine sehr wichtige Person zu treffen.“
 

Er blickte auf und ich sah das Interesse, das in seinen saphirblauen Augen aufleuchtete. „Ist es die Queen?“, fragte er.
 

Ich lachte. „Oh, nicht ganz so wichtig.“
 

„Der Premierminister?“
 

„Nein, nein. Du kannst es gar nicht erraten, weil du noch nie von ihm gehört hast. Und trotzdem ist er in der Tat dein Taufpate.“
 

„Ich habe einen Taufpaten?“
 

„Oh ja, das hast du.“
 

Er nahm sich einige Zeit, um das zu überdenken und krabbelte dabei mit seinem Stoffhund im Mund auf meinen Schoß. Er war genau so schlimm wie Holmes mit seinen Pfeifen und Zigaretten, nicht zufrieden, ehe er nicht an etwas kauen konnte. „Was ist ein Taufpate?“, wollte er wissen, als ich Blackie befreit hatte.
 

Ich wusste, dass er es nicht wissen konnte. „Nun ja…es ist jemand, der auf dich aufpassen wird, wenn mir etwas zustoßen sollte.“ Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, ihm den religiösen Aspekt zu seiner Zufriedenheit erklären zu wollen. „Sein Name ist Mr. Sherlock Holmes.“
 

„Oh, ich kenne ihn“, erklärte Josh. „Er ist der Mann aus deinen Geschichten. Der so gerne Rätsel löst.“
 

„Ganz genau, das ist er. Aber er ist auch dein Taufpate und Namensvetter.“
 

„Aber du hast gesagt, er ist tot.“
 

Er sagte es so unbewegt, dass mir mulmig wurde. Er verstand nicht, was das Wort ‚tot’ bedeutete. Zweifellos meine Schuld. Meine Erklärungen hatten sich widersprochen, denn ich gab ihm einen gefühlvollen Bericht über seine Mutter und seine Schwester, die eine Reise in den Himmel machten, aber als ich von Sherlock Holmes sprach, hieß es einfach, er sei tot. Kein Wunder, dass Joshs Worte so mitleidlos waren.
 

„Das war es, was ich jahrelang gedacht hatte“, erklärte ich. „Allerdings habe ich vor kurzem erfahren, dass ich mich geirrt hatte. Mr. Holmes ist in Wirklichkeit am Leben und wir werden ihn noch heute treffen.“
 

Er zuckte die Achseln. „Ist gut, Papa. Vermutlich wäre es nett, meinen Taufpaten zu treffen.“
 

Ich musste an all jene Leute denken, die ich im Laufe meiner Jahre mit Holmes gesehen hatte, die von seinem wohl verdienten Ruf gehört hatten und ganz versessen darauf waren, endlich seine Bekanntschaft zu machen. Es erschien mir belustigend, dass für meinen eigener Sohn etwas, das viele Leute als Wendepunkt in ihrem Leben ansahen nicht mehr war, als ein gewöhnlicher Tagesausflug. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gedacht, dass er irgendwie Holmes’ typisch skurrilen, sarkastischen Humor geerbt hatte. Wie, wusste ich nicht, aber…
 

„Ich denke, du wirst ihn sehr interessant finden, Josh. Also, komm her. Wir wollen doch nicht zu spät kommen.“
 

„Nehmen wir eine Kutsche?“, fragte er.
 

„Natürlich.“
 

Er grinste breit, während ich ihm Mantel, Hut und Fäustlinge anzog. Er liebte das Fahren in einer Kutsche, mehr als alles andere natürlich wegen der Pferde. Ich konnte sehen, dass er nun dachte, die Fahrt würde der Höhepunkt des Tages werden. Damit sollte er sich allerdings sehr irren.
 

Ich war in diesen letzten Jahren natürlich mehrmals an der 221B vorbeigekommen, aber es schien immer eine solch abweisende Kälte von ihr auszugehen. Ich dachte stets daran, anzuhalten und der guten, alten Mrs. Hudson einen Besuch abzustatten, aber schlussendlich konnte ich es nicht. Das Wohnzimmer wieder zu sehen, von Mycroft Holmes ganz genau so bewahrt, wie es gewesen war, wäre mehr gewesen, als ich ertragen hätte. Den persischen Tabak-Pantoffel…die verstreuten Chemikalien…den alten gepolsterten Lehnstuhl…die Violine…nein, ich konnte es nicht ertragen, dieses leere Haus zu sehen.
 

„Lebt hier mein Taufpate?“, fragte Josh, während er das Haus mit großen Augen betrachtete. Er war ein wenig vorsichtig und schüchtern Leuten gegenüber, die er zum ersten Mal traf, und mir war klar, es würde, wenn auch sonst nichts, eine ungewöhnliches Treffen zwischen dem Kind und dem Mann werden, die sich in manchen Punkten so sehr glichen und in anderen völlig verschieden waren.
 

„Ja, in der Tat. Und wir werden…“ Aber dann fiel mir ein, dass ich ihm noch nichts von meinen Plänen, wieder hier einzuziehen, erzählt hatte. Es wäre besser, auf einen passenderen Moment zu warten. Ich war mir nicht sicher, was er darüber denken würde. Er hatte niemals ein anderes Zuhause als unsere Unterkunft in Kensington gekannt und nun sollte er das Haus verlassen, in dem so vieles an Mary erinnerte…nun, es würde wohl für uns beide einigen Zeit brauchen, eher wir uns daran gewöhnt hatten.

„Wir werden was, Papa?“
 

„Mach dir keine Gedanken. Gib mir die Hand und denk daran, so höflich wie möglich zu sein.“
 

Mrs. Hudson reagiert sofort auf mein Läuten und für eine Sekunde – aber wirklich nur eine Sekunde – traf mich das seltsame Gefühl, nicht zu wissen, was ich sagen oder tun sollte und dass Holmes’ Aussage, sie wäre über die ganze Situation überglücklich, nichts weiter sei als…bloße Erfindung. Doch mein Glaube wurde wiederhergestellt, als ich das gute alte Gesicht von einem unbeschreiblich strahlenden Lächeln erleuchtet sah. „Oh, Dr. Watson. Es ist so schön, sie wieder zu sehen.“ Sie umklammerte meine freie Hand mit den ihren und ich konnte fühlen, wie der Londoner Smog bei diesem Anblick in einem erleichterten Aufatmen aus meinen Lungen entwich. Der bloße Gedanke, mir würde hier in der Baker Street 221B so etwas widerfahren, war absurd. Hier war…und ich vermute wird auch immer – mein wahres Zuhause sein.
 

Mit einem offenen Lächeln beugte ich mich zu ihr und küsste sie auf die Wange. „Es ist auch schön Sie zu sehen, Mrs. Hudson. Es ist wirklich lange her.“
 

„Oh ja, das war es wirklich, Sir. Der Gedanke daran, Sie beide wieder hier in diesem Haus zu haben. Oh, es wird genau wie in der guten, alten Zeit, Doktor Watson.“
 

Ich nickte, auch wenn ich wünschte, sie hätte den letzten Teil mit dem wieder hier im Haus haben weggelassen. Ich hoffte, dass Josh es nicht verstanden hatte. „Mrs. Hudson, das ist mein Sohn Josh. Josh, das ist Mrs. Hudson, mit der du dich hoffentlich gut verstehen wirst.“
 

„Hallo“, sagte der Junge. „Machst du guten Kuchen?“
 

Ich erstickte fast vor Lachen und es war klar, dass meine alte Wirtin bereits jetzt seinen Pauspacken und erdbeer-blonden Locken verfallen war. „Dr. Watson, er ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten, in diesem Alter! Allerliebst…einfach allerliebst. Und ja, mein Schatz, wenn du Kuchen möchtest, sollst du welchen bekommen!“
 

„Sie sollten aufpassen, dass Sie ihm nicht zu viel versprechen. Er wird es auch von Ihnen einfordern.“
 

„Ach Unsinn“, sagte sie und streichelte seinen großen Kopf. „Es wird mir ein Vergnügen sein, für jemanden zu kochen, der es auch zu schätzen weiß.“ Sie hob ihre Augen in Richtung Zimmerdecke und ich wusste ganz genau, von wem sie sprach.
 

Josh ertrug solche Aufdringlichkeiten besser als die meisten kleinen Jungen. Er erinnerte mich an Holmes in der Beziehung, gewissermaßen immer bereit, gestreichelt zu werden. Ihre Freundschaft war mit dem Versprechen von Kuchen und Süßigkeiten besiegelt.
 

„Ich muss jetzt hinaufgehen und Mr. Holmes besuchen“, erklärte ich ihr.
 

„Ich werde Ihnen einen Kanne Tee hinaufbringen, Sir. Und etwas Kuchen für den kleinen Gauner hier.“
 

Ich hob meinen Sohn auf, um die siebzehn Stufen zum Wohnzimmer zu überqueren, da er, was Gefälle anging, noch recht wackelig auf den Beinen war. Das erste, was ich bemerkte, war ein höchst ungewöhnlicher Geruch, der aus dem Wohnzimmer kam. Holmes spielte zweifellos wieder mit seinen Chemikalien.
 

Das Zimmer allerdings war genau, wie es mir von den Jahre, die wir beide es uns geteilt hatten, in Erinnerung geblieben war. Mein alter Stuhl stand allein nahe dem Feuer und wirkte so einladend. Da war mein Schreibtisch, an dem ich so viel Zeit verbracht hatte, um die Abenteuer meines gefeierten Kameraden in Worte zu fassen. Und auch der Humidor, den Holmes stets großzügig mit meinen Lieblingszigarren gefüllt hatte. Aber der Großteil des Raumes gehörte ihm. Besonders in solchen Momenten mit dem scharfen, verstaubten Geruch einer bläulichen, in einem Reagenzglas vor sich hin köchelnden Chemikalie. Ich hatte nicht die geringste Ahnung was er tat oder was er benutzte, aber der Geruch nach Chemikalien an sich, vermischt mit einer dichten Tabakwolke war mir vertraut und willkommen.
 

„Hör mal, Holmes, was machst du da?“
 

Er hatte sich tief über den Tisch gebeugt und sah nun auf, als hätte er uns erst in jenem Moment bemerkt. „Holla, Dr. Watson! Dann ist es also schon halb? Nun, tatsächlich, tatsächlich!“ Er war sofort auf die Füße gesprungen und stand nun direkt vor uns mit einem breiten, sehr holmesischen Grinsen. Ein Grinsen, das Glück eine Lüge strafte und jenen berüchtigten, messerscharfen Verstand enthüllte, auch wenn ich nicht sagen konnte, mit welchem Problem er sich gerade beschäftigte. Er hatte meine Frage schlichtweg übergangen.
 

„Na ja, wie auch immer, welchen Trank du auch zusammenbraust, es wird dir wohl nichts ausmachen, ihn für einen Moment sich selbst zu überlassen, damit ich euch ordentlich vorstellen kann. Holmes, das ist mein Sohn John Sherlock Watson. Josh, das ist mein alter Freund und dein Taufpate, Mr. Sherlock Holmes.“
 

„Es ist mir eine Freude, deine Bekanntschaft zu machen, Josh. Falls du Äpfel magst, ich habe in der Schüssel dort drüben ein paar frische. Und auch Weintrauben.“
 

„Woher weißt du, dass er Äpfel liebt?“, fragte ich ihn. Ich konnte mich nicht erinnern, ihm etwas in der Richtung erzählt zu haben.
 

„Ach, Watson…Watson, Deduktionen, Deduktionen! Es ist so offensichtlich wie die Nase in deinem Gesicht.“
 

Aber ich konnte nichts tun, außer mit den Achseln zu zucken. „Ich kann nichts deduzieren.“
 

Holmes streckte einen seiner langen Finger aus und deutete auf den spitzenbesetzten Kragen am Kleid meines Sohnes. Als ich ihn näher betrachtete, sah ich einen sehr schwachen Fleck von goldbrauner Farbe. Da der Kragen ansonsten in jungfräulichem Weiß erstrahlte, erkannte ich, dass es genau die Sorte von Fleck war, die ein unachtsames Kind beim Essen eines saftigen Apfels bekommen würde. „Aha, ich verstehe.“
 

„Nein, danke“, meldete sich Josh zu Wort. „Ich mag Äpfel, aber die Lady unten bringt mir Kuchen. Außerdem riechst du komisch.“
 

„Josh“, rief ich und wrang beschämt meine Hände. „Ich habe doch gesagt, du sollst höflich sein.“ Aber Holmes brach in schallendes Gelächter aus.
 

„Nein, Watson. Schelte ihn nicht, weil er die Wahrheit gesagt hat. Ach, wenn wir Erwachsenen doch nicht unsere kindlichen Tugenden verlören, um den Konventionen der Gesellschaft zu entsprechen. Und doch versuchen wir sie ihnen ab incunabulis auszutreiben.[1]“ Er hockte sich hin, um mit Josh auf Augenhöhe zu sein und seine stahlgrauen Augen betrachteten Joshs unschuldig blaue. „Weißt du, warum ich komisch rieche, mein Junge?“
 

„Weil du mit dem blauen Zeug da drüben gespielt hast.“
 

„Sehr gut! Und wie riecht dieses blaue Zeug?“
 

„Es riecht sehr schlecht.“
 

„Ja, aber wonach riecht es? Denk nach, mein Junge, denk.“
 

Josh ließ sich das Problem einige Sekunden lang durch den Kopf gehen. „Es riecht wie ein Buch. Ich lese gerne Bücher.“
 

„Großartig! Großartig, Josh! Ich wusste, dass meine Einschätzung von dir richtig war!“ Ich war mehr als nur überrascht, als Holmes den Jungen in seine Arme hob, was dieser mit einem überraschten Jauchzen quittierte. „Weißt du“, begann er mir zu erklären. „Ich habe gerade mit Rhodamin gearbeitet. Das ist ein Farbstoff, er durch die Verbindung eines Aminoderivats mit alkoholhaltigem Phenol und Phthalsäureanhydrid erzeugt wird. Ich habe meine Gründe anzunehmen, dass es die essentielle Zutat für ein neues Puder ist, das ich gerade entwickle. Damit soll das Aufnehmen von Fingerabdrücken sehr viel leichter werden. Aber außerdem – wie dein Sohn bemerkt hat – wird Rhodamin auch bei der Papierherstellung verwendet.“
 

„Ah, ja, gut…es ist schon länger her…seit ich das letzte Mal Chemieunterricht hatte.“
 

„Ich schlage vor, dass du nicht zu lange warten solltest, bis du mir erlaubst Josh in diesem Fach zu unterrichten. Je früher jemand anfängt, desto mehr wird er im Endeffekt lernen.“ Er setzte den Jungen zurück auf den Boden und streichelte seinen Kopf. „Nun, Junge. Was deduzierst du außerdem noch über mich?“
 

„Was heißt deduzieren?“
 

Nun war ich an der Reihe, zu lachen. „Siehst du, Holmes! Er ist noch nicht so weit, wie du es gerne hättest!“
 

„Eine Lappalie.“ Er unterstrich seine Antwort mit einer abweisenden Handbewegung. „Die Kunst der Deduktion, mein junger Freund, ist das Wichtigste, was du jemals lernen wirst. Deduzieren heißt zu erkennen, zu schlussfolgern und zu verstehen. Es bedeutet, deinen Geist zu nutzen, um das logisch zu erschließen, was nicht offensichtlich ist, sondern geheim gehalten wird.“
 

Ich saß gemütlich ein Ship[2] rauchend in meinem Sessel und wollte Holmes gerade erklären, dass seine Definition, wenn auch exakt und kunstvoll, für meinen Sohn etwa genauso verständlich war, wie es seine Ausführung über den Nutzen des Rhodamin für mich gewesen war, als Josh plötzlich mit dem Kopf nickte. „Ist gut. Ich verstehe gerne Dinge. Ich edduziere…“
 

„Deduziere“, korrigierte ihn Holmes den Zeigefinger erwartungsvoll auf die Lippen gelegt.
 

„Ich deduziere, dass du zu viel rauchst.“
 

Ich war so schockiert, dass ich beinahe meine Zigarette in meinen Schoß fallen ließ. Und auch wenn das nicht der Fall war, sprang ich doch auf meine Füße, als wäre ein brennendes Loch in meinem Sitz. „Woher um Himmels willen weißt du das?“
 

„Das war leicht, Papa“, erklärte Josh und kletterte auf meinen Schoß. „Ich schlussfolgere von seinen Pfeifen dort drüben. Keiner hat so viele Pfeifen, wenn er nicht viel raucht.“
 

„Ah, aber woher willst du wissen, dass ich sie wirklich rauche? Vielleicht dienen sie nur zur Dekoration.“
 

„Nein…du raucht sie. Sie sind innen ganz schwarz vor Rauch.“
 

„Nun, ich hätte niemals…“, murmelte ich in meinen Bart, während ich meinem Jungen über den Kopf streichelte. „Scheint so, als müsse ich mich jetzt mit zwei von der Sorte rumschlagen.“
 

„Erschließendes, logisches Denken, Watson“, sagte Holms und klopfte sich auf den Kopf. „Der kleine Josh, hat Unmengen davon. Wir müssen aufpassen, dass er es nicht verliert.“
 

„Ja, in der Tat. Josh“, sagte ich. „Warum läufst du nicht hinunter zu Mrs. Hudson und siehst nach Tee und Kuchen?“ Ich setzte ihn auf die Füße und klopfte ihm auf den Hintern.
 

„Ist gut, Papa“, sagte er und rannte durch die Tür. Aber dann drehte er sich um und warf Holmes den seltsamsten Blick zu, denn ich auf seinem jungen Gesicht jemals gesehen hatte. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, die Brauen gefurcht und seine Lippen geschürzt. Dieser Blick konnte mich an nur eines erinnern. An einen ganz bestimmten Mann vor dem Kamin der 221B mit seiner Church Warden[3] zwischen den dünnen Lippen. Ich erwartete vollauf, etwas wirklich Philosophisches von den Lippen meines Sohnes zu hören. Aber wie auch immer, ich war auf eine seltsame Art unglaublich erleichtert, als das nicht der Fall war. „Wie soll ich dich nennen?“, fragte er meinen Freund.
 

„Du nennst ihn Mr. Holmes, Josh“, sagte ich, aber irgendwie wusste ich, dass Holmes, der scheinbar eine verwandte Seele im Körper eines Dreijährigen entdeckte hatte, das nicht zulassen würde.
 

„Nein, nein, Watson, das geht nicht. Das geht einfach nicht. Nun, mein Junge, wie würdest du mich denn gern nennen?“
 

„Onkel“, erwiderte Josh, als hätte er bereits stundenlang ernsthaft darüber nachgedacht.
 

„Aber er ist doch nicht dein Onkel“, sagte ich lachend.
 

„Das macht wenig aus. Wenn du mich gerne so nennen willst, dann soll es so sein.“ Und die beiden lächelten sich an, ein Lächeln voller Sicherheit und Ähnlichkeit, ein Lächeln der Vergangenheit und der Zukunft. Und schließlich öffnete Josh die Türe und ich konnte seine langsamen, wackeligen Schritte auf der Treppe hören.
 

Ich drehte mich zu meinem Freund, nur um zu bemerkten, dass er mich bereits ansah. „Er ist ein recht bemerkenswertes Kind.“
 

„Das denke ich auch. Allerdings, ich muss zugeben, Holmes, ich habe niemals zuvor gesehen, wie du dich für eine so…häusliche Angelegenheit begeisterst.“
 

„Nun, bis jetzt kam es auch noch nie dazu. Aber wie auch immer, heben wir uns dieses Thema für ein anders Mal auf. Wir, mein Freund, haben wichtige Dinge zu besprechen. Dinge, die die Frage betreffen, ob du dieses leere Zimmer direkt über uns noch einmal in Besitz nehmen wirst. Das wirst du doch, nicht wahr?“
 

Ich hätte über seine Unverschämtheit wütend sein können. Von den Dingen, die ich als seine Fehler ansah, lag, zu viel von anderen (besonders von mir selbst) mit größter Selbstverständlichkeit zu fordern, ganz oben auf der Liste. Aber ich hatte mich schon so lange damit abgefunden, dass ich vermutlich irgendwann den Punkt verpasst hatte, da dieser Teil von ihm immer ausschweifender wurde. Kein anderer Mann kannte mich so gründlich. „Nun, Holmes, du hattest dir vermutlich bereits ausgerechnet, dass ich nicht nein sagen kann, bevor du das Thema überhaupt ansprachst. Deshalb würde ich mich natürlich freuen, wieder hier einzuziehen.“
 

„Du musst nichts tun, was du nicht auch willst, Watson. Dein Ton deutet an…nun, ich hatte natürlich darauf gehofft, aber ich will nicht, dass du gegen deinen eigenen Willen handelst.“
 

„Nein, nein“, sagte ich mit einem Lächeln. „So hab ich es nicht gemeint. Vergib mir. Ich habe nur gemeint...Nun, ich schätze, ich mache mir etwas Sorgen, wie sich das alles auf meinen Sohn auswirken wird.“
 

Holmes beschäftigte sich gerade damit, seine Pfeife anzuzünden, aber ich hatte keinen Zweifel, dass er sich über dieses spezielle Thema keine Sorgen machte. Er warf das Streichholz ins Feuer. „Du machst dir Sorgen über…lass mich sehen…meinen Einfluss auf das Kind?“
 

„Überhaupt nicht!“, rief ich aus, bevor ich mich daran hindern konnte. Aber er war der Wahrheit näher gekommen, als mir lieb war. Und das seltsame Grinsen trotz des langen Griffs der Pfeife zeigte mir, dass auch er das erkannt hatte. „Es ist nur…Holmes, ich kenne mein Kind besser als du. Er ist sehr eifrig. Und es braucht nicht erst deinen Verstand, um zu sehen, dass er bald ziemlich an dir hängen wird. Und ich habe ein paar Vorbehalte gegen deine…Lebensart. Ich denke du weißt, was ich meine.“
 

Er kaute nun auf dem Stiel und rollte ihn in seinem Mund herum, wie er das Problem in seinem Geiste herumrollte. „Was forderst du von mir?“
 

Ich hatte seit der vergangenen Nacht überlegt, wie ich mich diesem heiklen Thema am besten annähern sollte. Aber bis jetzt hatte ich keinen günstigen Weg gefunden. „Nun, wir müssen – zumindest in gewissem Maße – darauf achten, wen wir hier alles hereinlassen. Ich will nicht, dass er mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten in Berührung kommt.“
 

„Ah-hmm…gut, zwielichtige Gestalten. Ich werde mein Bestes tun. Was noch?“
 

„Holmes“, sagte ich und umklammert meine Knie mit verschwitzten Händen. „Du weißt was noch. Deine Abhängigkeit.“
 

Eigentlich sah er fast amüsiert aus. Ich hasste es, aber er hörte mir niemals zu, wenn es um dieses verdammte Kokain ging. „Was ist damit? Willst du mir befehlen damit aufzuhören, Doktor?“
 

„Dazu habe ich kein Recht. Auch wenn du meine Ansicht zu diesem Thema kennst. Wie auch immer, wenn Josh hier zusammen mit dir und mir leben soll, will ich nicht, dass er mit deinen…sagen wir, düstereren Stimmungen in Berührung kommt. Es wäre ihm gegenüber nicht gerecht, denn du weißt so gut wie ich, dass er es nicht verstehen würde. Er darf nichts wissen, von dieser…Einrichtung.“ Ich zeigte in Richtung der verschlossenen Schublade in seinem Schreibtisch. Darin war seine Spritze und mindestens eine Flasche siebenprozentige Kokainlösung. Drei Jahre hatten mich das nicht vergessen lassen.
 

„Dann gebe ich dir mein Wort, Doktor, dass Josh niemals Zeuge einer meiner kleinen Schwächen sein soll. Die Nadel eingeschlossen.“
 

„Vielen Dank“, sage ich ratlos, was ich noch hinzufügen könnte.
 

„Ach, Watson, das wird wieder so wie in den alten Zeiten.“ Er war nun wieder auf seinen Füßen und schlenderte wie ein ruheloses Tier im Zimmer auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Du, mein Freund, bist das einzig Konstante in einer sich immer verändernden Zeit. Ich fürchte, Watson, das ich deine Gesellschaft in diesen kommenden Jahren brauchen werde. Das ist der Grund, warum ich so sehr darauf bestanden habe, dass du wieder hier einziehst. Eine dunkle Wolke hat sich über diese große Stadt gesenkt und es wird unsere Pflicht sein sie mit hellem Licht zu durchbrechen. Wir sind Pilger in einem unbezähmten Land.“
 

„Pilger? Dunkle Wolken? Ist das nicht alles etwas zu philosophisch für dich, alter Junge?“
 

„Vielleicht“, sagte er und hielt inne, um den Londoner Verkehr unter uns zu betrachten. Sein Schatten schien sich vage und schillernd an der flimmernden Wand abzuzeichnen. Es war als spräche jemand zu mir, der sich nur als Holmes verkleidet hatte. „Aber ich war am Abgrund des Todes. An jenem Punkt, an dem man nicht nur sehen kann, was war, sondern auch was sein wird. ‚Es ist das Schicksal, das uns befehligt und die Zukunft die unsere Gegenwart lenkt.’[4] Und düster ist die Zukunft in der Tat“
 

„Holmes“, sagte ich und bewegte mich leise neben ihn. „Ich weiß, dass du eine Tendenz zum Zynismus hast. Aber niemals zuvor habe ich solche seltsamen Worte des Zornes von dir gehört.“
 

„‚Eine Miene, mehr des Leidens als des Zorns’[5], mein lieber Watson. Nein, es ist nur, dass wir an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert stehen. Dem zwanzigste Jahrhundert. Denk nur, Watson! Dies wird das großartigste Jahrhundert in der ganzen Geschichte des modernen Menschen. Ein neues Jahrhundert und ein neuer krimineller Geist. Und es kann gut sein, dass ich erkennen muss, dass ich selbst mit allen meinen Kräften, die bevorstehenden Herausforderungen nicht werde meistern können.“
 

„Ach, komm schon, Holmes. Wenn überhaupt jemand würdig dazu ist, dieses neue Zeitalter zu beraten, dann bist du es.“
 

Er lächelte und tätschelte meinen Arm. „Wir werden sehen, Doktor. Ja, wir werden sehen. Wie auch immer, der Gedanke, dass ich dich an meiner Seite haben werde, erfüllt mich mit neuer Hoffnung.“
 

Ich kann hier nur anmerken, dass die jüngsten Erlebnisse meines Freundes mit Professor Moriaty in Reichenbach wohl doch einen größeren Effekt auf ihn gehabt haben mussten, als ich zuerst angenommen hatte. Er hatte niemals von der Zukunft gesprochen, und wenn doch dann sicherlich nicht in verworrenen Voraussagen, dass er nicht fähig sei, ihr entgegenzutreten. Und trotzdem würde er in den kommenden Monaten der Zukunft in einem Fall entgegentreten, den ich niemals zuvor zu Papier gebracht habe. Aber nun habe ich mich dazu entschlossen, um zu zeigen, warum Holmes das Unbekannte fürchtete. Diese kommenden Jahre würden eine der größten Veränderungen in meinem Leben mit sich bringen und einige der größten Enthüllungen über meinen teuren Freund. Vielleicht hatte er eine Art von Vorahnung. Oder vielleicht erkannte er schlussendlich, dass unsere Beziehung nie mehr dieselbe sein würde. Und all das nahm seinen Anfang in einem Fall, einem Fall der begann wie jeder andere, aber völlig anders endete.
 


 

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[1] Latein: „von frühster Kindheit an“
 

[2] Umgangssprachlich für Marinetabak. Watson erzählt Holmes in „Studie in Scharlachrot“, das er immer „Ships“ raucht. Es scheint ein wenig ungewöhnlich für einen alten Soldaten, aber wie ihr seht, bleibe ich dem Canon treu.
 

[3] Eine langstielig Tonpfeife
 

[4] Holmes zitiert oder besser gesagt zerstückelt Nietzsche. Das ganze Zitat lautet: „Unser Schicksal befehligt uns selbst dann, wenn wir es noch nicht kennen, es ist die Zukunft, die unsere Gegenwart beherrscht.“ (Original: “Our destiny commands us even when we do not yet know what it is, it is the future which guides the rule to out present.”)
 

[5] Zitat von Horatio aus Hamlet. (Original: “A countenance more in sorrow than in anger.”)

Ich ärgere mich wirklich über mich selbst, dass es so lange gedauert hat, aber der August ist wirklich stressig gewesen. Ich hatte einen Ferienjob und nicht viel Zeit.

Nun, hier ist das 5. Kapitel und das 6. folgt in den nächsten paar Tagen.
 

Kapitel 5
 

Es dauerte nicht so lange, wie ich erwartet hatte, bis ich meine tägliche Routine wiederaufnehmen konnte. Nicht dass ich Mary oder die seltsamen Ereignisse der letzten paar Wochen vergessen hätte, aber es war irgendetwas an der Baker Street, das einen heilenden Effekt auf mich ausübte. Es war alles so vertraut. Es muss all die Zeit gewesen sein, die ich dort – mit Holmes – verbracht hatte.
 

Aber ich war nicht darauf vorbreitet, dass genau das, wovor ich mich gefürchtet hatte, tatsächlich eintreffen würde. Es geschah nur wenige Tage, nachdem ich mein Haus in Kensington verkauft hatte, genau als ich glaubte, es würde nun endlich wieder bergauf gehen…
 

Es wütete gerade eine Grippewelle im West End, wo der Großteil meiner Patienten lebten und ich versuchte sie – gemeinsam mit den meisten anderen Ärzten – einzudämmen, ehe sie eine Epidemie auslöste. Das zusammen mit meinem Umzug und der Frage, was ich mit den Besitztümern meiner verstorbenen Frau tun sollte, erforderte meine ganze Aufmerksamkeit, weshalb ich, was meinen Sohn betraf, für die Unterstützung von Mrs. Hudson und Holmes selbst sehr dankbar war. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich den ‚Geflüsterten Klatsch der Harley Street’, zunächst nicht bemerkte.
 

Meinen damaligen Assistenten James Parks sollte ich immer als guten Mann und fähigen Arzt in Erinnerung behalten. Ich bin ihm zu tiefem Dank verpflichten, für all die Male, in denen er in jenen schrecklichen Wochen für mich einsprang. Allerdings war er noch jung und beizeiten etwas ungestüm und außerdem war er für meinen Geschmack ein wenig zu leichtgläubig, was jene hässlichen Gerüchte anging.
 

„Und wie geht es dir so, Watson?“, fragte er mich eines Abends, als wir uns bereitmachten für die Nacht zu schließen. „Wieder zurück im alten Trott?“
 

„Ja, so scheint es.“ In Wahrheit wollte ich so schnell wie möglich nach Hause. Ich hatte in jenen Tagen einfach keine Zeit für inhaltslose Gespräche. Ich musste immer irgendwo hin, hatte immer irgendwas zu erledigen.
 

„Es ist schon komisch, weißt du…“, fuhr er fort, als er mir meinen Mantel reichte. „Dass du dich entschlossen hast, wieder zurück in deine alten Unterkünfte zu ziehen. Ich meine, ich verstehe gut, dass du das Haus los sein wolltest. Zu viele Erinnerungen und alles, aber wieder zurück in diese alte Wohnung? Ausgerechnet zusammen mit Sherlock Holmes?“
 

„Es tut mir sehr Leid, Parks, aber mir ist nicht ganz klar, was dich das angeht.“
 

Er zuckte mit den Achseln. „Bitte halte mich nicht für anmaßend, dass ich so in deiner Privatsphäre herumstochere. Es ist nur…“
 

„Was ist es, Mann?“
 

„Jetzt komm schon, John. Wir kennen uns doch schon recht lange. Ich dachte, wir könnten offen miteinander reden.“
 

Mir gefiel die Richtung nicht, in die sich das Ganze bewegte. Aber ich sah ihn ausdruckslos an, als hätte ich nicht die geringste Ahnung, was er damit meinte. Nonchalant zog ich meinen Mantel an und gab vor nicht existenten Staub von meinem Hut zu klopfen. „Sprich dir nur alles von der Seele, James. Ich mag es nicht, wenn jemand um den heißen Brei herumredet, wie es so schön heißt.“
 

Er leckte sich über die Lippen, faltete seine Hände und trat von einem Fuß auf den anderen. Es erforderte keinen Sherlock Holmes, um das Unbehagen in unserem Sprechzimmer fühlen zu können. „Die Leute reden“, sage er. „Alle. Osgood, Johnson, sogar dein alter Freund, Joseph Blakely. Du bist ein Witwer. Außerdem hast du ein Kind. Und…“ Er lehnte sich so nah zu mir, dass ich die Überreste von Jod auf seiner Haut riechen konnte. „Du lebst bei einem andern Mann. Und ohne Kindermädchen für deinen Sohn. Es…es ist einfach nicht normal.“
 

Ich musste beinahe darüber lachen, wie beschwörend seine Stimme auf einmal klang. Seinem Tonfall nach hätte ich erwartet, er sähe meinen plötzlichen und schrecklichen Tod voraus. „Mein lieber Parks“, sagte ich. „Wenn dieses unschuldige, kleine Arrangement zwischen mir und Sherlock Holmes wirklich so viele Gerüchte und Spekulationen hervorruft, dann habe ich das Gefühl, dass wir Mediziner viel zu viel Freizeit haben. Ich will gerne zugeben, dass das Arrangement etwas…unorthodox ist. Aber du weißt sehr gut, wie gerne ich Holmes in meiner Freizeit assistiere. Du hast doch sicherlich das Strand-Magazin gelesen? Das ist wesentlich einfacher zu erreichen, wenn ich mit ihm unter einem Dach lebe. Ganz zu schweigen, dass ich weder Verwendung noch Verlangen nach einem so großen Haus nur für mich und Josh habe. Und was meinen Sohn angeht, er wird sehr gut von meiner Wirtin versorgt, von einer Frau zu der ich vollstes Vertrauen habe. Ich bin nicht in der Lage, darin eine unglaubliche Blasphemie an den akzeptierten Lebensstandards zu erkennen.“
 

„Nun…“ Parks versuchte offensichtlich eine vernünftige Antwort darauf zu finden. Ich lächelte innerlich und fühlte mich recht siegessicher. Ich nahm meinen Stock und berührte meine Hutkrempe.
 

„Wenn dieses Gespräch dann also beendet ist, dann wirst du es sicherlich nicht als unhöflich empfinden, wenn ich jetzt gehe? Ich werde zu Hause erwartet.“ Aber als meine Hand bereits auf dem Türknauf lag, begann Parks wieder zu sprechen.
 

„Denkst du wirklich, Watson, dass es eine so gute Idee ist, Josh so viel Zeit mit Mr. Holmes verbringen zu lassen?“
 

Diese Aussage erstaunte mich so sehr, dass ich beinahe sowohl Hut als auch Stock fallen gelassen hätte. Langsam drehte ich mich wieder zu ihm um. „Warum sollte es keine gute Idee sein?“
 

„Sogar du hast zugegeben, dass er ein etwas eigenartiger Kerl ist. Wenn ein Mann sich niemals entschließt zu heiraten, mein Freund, fragt man sich da nicht warum?“
 

„Holmes ist einfach kein Mann für die Ehe, Parks. Er…nun ja, er hält Frauen für nicht besonders vertrauenswürdig. Ich weiß nicht, woher dieses misogyne Verhalten stammt, aber…auf was willst du da eigentlich anspielen, Mann?“ Der Griff um meinen Gehstock festigte sich bedeutend. Ich denke wirklich, dass ich in jenem Moment bereit gewesen wäre, ihn zu benutzen, sollte es notwendig sein.
 

„Bist du dir sicher, dass das der einzige Grund ist, weshalb er niemals geheiratet hat? Willst du mir wirklich erzählen, du hättest nicht zumindest ein einziges Mal darüber nachgedacht, dass es düstere Motive für sein Handeln geben könnte?“
 

Vor lauter Wut schoss mir das Blut in den Kopf. Zum Teufel mit meinem Stock, ich würde ihn mit bloßen Händen verprügeln! Das wäre auf jeden Fall wesentlich befriedigender. „Wie kannst du es wagen, Parks! Wie kannst du es wagen, auch nur anzudeuten, dass er und ich…“
 

„Nein! Guter Gott, John! Das habe ich damit doch gar nicht gemeint!“ Er stolperte rückwärts und wedelte mit seinen kurzen Armen abweisend durch die Luft. Sein ganzer Körper zeigte deutliche Anzeichen der Angst und ich atmete tief aus. Wenn Körpersprache auch nur irgendetwas aussagte, dann war es offensichtlich, dass er es wirklich nicht so gemeint hatte. „Ich weiß, dass du ein ganzer Mann bist, Watson, und ich würde mir niemals erlauben, etwas anderes zu behaupten. Du hast dich sowohl vor deinem Vaterland als auch vor deinen Kollegen bewiesen. Und ich weiß, dass du Mary geliebt hast und wie wichtig dir Josh ist. Aber es wurde vermutet…nur vermutet wohlgemerkt, Sherlock Holmes sei…nun ja, kein… ganzer Mann…in gewisser Hinsicht…“
 

„Glaub, was du willst, James.“ Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich vermute, meine Versicherung, dass Sherlock Holmes der großartigste Mann ist, den zu treffen ich jemals das Privileg hatte, wird dich wohl kaum überzeugen. Aber ich sage es trotzdem. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich keine Ahnung, was dieser Mann in seinem Herzen fühlt. Sollte er tatsächlich Neigungen verspüren, zu etwas…etwas, das in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert wird, dann ist es mir nicht bewusst. Wie auch immer, ich habe keinerlei Bedenken darüber, dass er viel Zeit mit meinem Sohn verbringt, genauso wenig wie ich Bedenken gegen ihn, als Mitbewohner, Freund und Mann im Allgemeinen habe. Und du kannst Osgood, Johnson, Blakely und jeden anderen, dem es gefällt widerliche Gerüchte zu verbreiten, gerne darüber informieren. Guten Abend, Dr. Parks.“
 

Und nachdem ich dies gesagt hatte, öffnete ich die Tür und schloss sie nicht allzu sanft hinter mir.
 

Es war nur eine kurze Kutschenfahrt bis zur Baker Street, aber in jener Nacht erschien sie mir länger als gewöhnlich. Parks’ Worte überfluteten meinen Geist und wütend wie ich war konnte ich nicht aufhören, sie immer und immer wieder zu wiederholen. Ich war mir sicher, dass er sich irrte. Holmes war brillant und exzentrisch, wie es die meisten wahren Genies sind, aber das war mit Sicherheit auch alles, was er war. Er mochte keine Leidenschaft für Frauen empfinden, aber das bedeutete schließlich nicht automatisch, dass er deshalb welche für Männer empfinden musste. Immerhin hatten wir mehr als ein Jahrzehnt zusammen gelebt. Sollte er tatsächlich solche Gefühle hegen, hätte ich mit Sicherheit irgendwelche Anzeichen dafür erkennen müssen. Wenn es überhaupt einen Grund gab, Josh von ihm fernzuhalten, war es viel eher seine Neigung zur Verantwortungslosigkeit, was seine eigene Sicherheit anging. Diese verdammten Chemikalien…eines Tages würde ich sicherlich nach Hause kommen und das Haus in Stücke gerissen vorfinden. Ganz zu schweigen von den Menschen.
 

Aufgrund meiner lebhaften Unterhaltung mit Dr. Parks war ich schließlich fast eine Stunde später nach Hause gekommen, als ich es beabsichtigt hatte. Mrs. Hudson stand in der Küche und kochte das Abendessen, also ließ ich mich selbst hinein und ging ins Wohnzimmer. Ich war mir sicher, dort würde ich Josh und Holmes finden.
 

Damit lag ich nicht nur vollkommen richtig, ich kam auch noch genau rechtzeitig um Zeuge der leuchtenden Explosion eines rötlichen Gases zu werden. Ein Ekel erregender Geruch erfüllte meine Nase und brannte in meinen Lungen. Das erste, was mir durch den Kopf schoss, war ein alter Instinkt aus Armeezeiten und ich warf mich auf den Boden. Als Antwort fühlte ich sogar einen flüchtigen, schmerzhaften Stich in meiner Schulter und meinem Bein; jene verfluchten Jezail-Patronen bohrten sich ein zweites Mal in meinen Körper. Mein zweiter Gedanke war jedoch der, mir mein Kind zu schnappen und das tat ich auch.
 

„Josh! Geht’s dir gut? Bist du verletzt?“ Ich bedeckte seinen Körper mit meinem, da der Rauch noch immer wirbelnd den ganzen Raum erfüllte.
 

„Mir geht’s gut, Papa…Ich bin nicht verletzt“ Er sah mich mit verwirrten und etwas wässrigen Augen an. „Ich und Onkel haben nur ein ‚Speriment’ gemacht.“
 

„Davon bin ich überzeugt!“, sagte ich hustend. „Holmes, was hat das zu bedeuten? Was zur Hölle hast du dir bloß dabei gedacht! Ihr hättet beide sterben können!“
 

Mein Freund erhob sich seelenruhig und ging in Richtung Fenster, um die Rauchschwaden hinaus in die Londoner Nacht zu entlassen. „Nun, das war etwas unerwartet, nicht wahr, Josh? Ich fürchte, wir haben ein paar Milliliter zu viel Brom benutzt. Seine Toxizität zusammen mit der Hitze war zu viel für das Glas. Na ja. ‚Lernen kommt durch Leiden’[1] Nächstes Mal wissen wir es besser.“
 

„Nächstes Mal!“, rief ich aus. „Toxizität! Ist dieser Rauch giftig, Holmes?“
 

„Oh, nein, nein…natürlich nicht, Watson“, erwiderte er mit einer gleichgültigen Handbewegung. „Hältst du mich für verrückt? Nein, Brom ist nur giftig, wenn es eingenommen wird. Auch wenn du sicher schon gemerkt hast, dass der Geruch nicht sehr angenehm ist.“
 

„Josh“, sagte ich und setzte ihn zurück auf den Boden. „Bitte geh hinunter und besuch Mrs. Hudson. Ich muss mich mit Mr. Holmes unterhalten.“
 

„Aber Papa“—
 

„Sofort, Junge!“
 

Sein Kinn zitterte wegen meiner Rüge, als er auf die Tür zuging, aber er gehorchte ohne weiteren Protest. Ich wusste, dass er Streit noch mehr verabscheute als ich und hätte ein Jahreseinkommen darauf verwettet, dass er mich hatte bitten wollen, nicht wütend auf seine ‚Onkel’ zu sein. Aber ich war wütend. Nicht einmal unbedingt auf Holmes, sondern einfach auf die Welt im Allgemeinen.
 

Holmes wedelte mit einer Hand über seinem Pfeifengestell hin und her, als ob er versuchte irgendeine großartige Illusion zu beschwören. Schließlich entschied er sich für seine alte Lieblingspfeife, die Calabash und ließ sich damit, nachdem er sie mit Tabak aus dem persischen Pantoffel gefüllt hatte, in seinem Lehnstuhl nieder. Der widerliche rote Rauch von dem schief gelaufenen Brom-Experiment hatte sich ausgebreitet und nun fuhr er fort das Zimmer auch noch mit dicken blauen Rauchschwaden zu erfüllen. „Du wirkst zerstreut, Doktor“, sagte er schließlich. „Unangenehmer Tag?“
 

Ich war mir sicher, dass dies keine Frage sondern eine Feststellung war. Das war die Art, wie er arbeitete. Sein Tonfall allerdings klang amüsiert. Ich verstand wirklich nicht, was aus dem Holmes geworden war, an den ich mich so sehr gewöhnt hatte. „Ich weiß nicht, warum du in letzter Zeit immer so guter Stimmung bist. Du hast keine erstaunlichen Rätsel, mit denen du deinen Geist beschäftigen könntest. Und trotzdem bist du nicht in einer deiner düsteren Stimmungen, die ich ansonsten erwarten würde. Woher kommt bloß deine gute Stimmung?“
 

„Ach, das Leben ist zu kurz für düstere Stimmungen, mein Freund. Außerdem wie kommst du auf die Idee, dass es nichts gibt, womit sich mein Geist beschäftigt?“
 

Ich war mir sicher, nicht richtig gehört zu haben. Das Leben ist zu kurz? Nein, das war etwas, das Sherlock Holmes niemals sagen würde. Für einen Moment sah ich das Bild des einen Holmes – zynisch und kaum menschlich – der mit dem Wasser der Schweizer Alpen eine Klippe hinab stürzte und das eines anderen Holmes – einem weit menschlicheren Holmes – der wieder aus den dunklen Tiefen herauskletterte, ganz so wie eine wundervolle Wiedergeburt. Plötzlich erschien mir die ganze Unterhaltung mit James Parks völlig infantil. Sollte ich mich wirklich darüber sorgen, dass es in der Stadt ein wenig Klatsch über mich und Holmes gab? Und der betraf auch noch größtenteils ihn.
 

Ein Atemzug voller dichter, giftiger Atmosphäre verließ meine Lungen; alles was ich tun konnte, war den Kopf zu schütteln. „Holmes, ich bin mir nicht sicher, wie oder woher dieser plötzliche Sinneswandel kommt – wenn es denn einer sein sollte – aber du musst wirklich vorsichtiger sein. Die Leute…ach, sei einfach vorsichtig, ja? Besonders mit meinem Kind.“
 

Er kaute schon wieder auf dem Stiel seiner Pfeife, etwas, das mich im Innersten verärgerte, obwohl ich nicht sagen konnte warum. Es erinnerte mich an Josh und seinen Stoffhund. „Ich würde niemals die Sicherheit des Jungen gefährden, Watson.“
 

„Ha! Und du denkst nicht, dass explodierende Reagenzgläser voller giftiger Chemikalien seine Sicherheit gefährden? Von meiner und deiner ganz zu schweigen?“
 

Er wand sich schnaubend ab. Das war seine Art, eine Antwort zu verweigern. Und sein Mund würde felsenfest verschlossen bleiben, bis er sich wieder beruhigt hatte. Unser Gespräch war beendet.
 

„Sei stur, wenn du es willst“, sagte ich. „Aber wenn dir irgendetwas an unserer Freundschaft liegt, wirst du von nun an vorsichtiger sein. Ich werde jetzt meinen Sohn ins Bett bringen.“
 

„Doktor“, rief er, als ich das Wohnzimmer etwa halb durchquert hatte. „Bittest du mich das um John Sherlocks oder um deinetwillen?“
 

Ich schloss die Tür lautlos hinter mir.
 


 

Josh bestand darauf, dass ich ihm jeden Abend vorlas. Es war eine Gewohnheit, die ich nicht nur ermutigte sondern auch von ganzem Herzen genoss. Er mochte die Märchen der Gebrüder Grimm und die von Hans Christian Andersen, ebenso wie die Geschichten von Mother Goose. Mich langweilten sie schrecklich und ich sehnte mich nach dem Tag, an dem wir zusammen über Bücher diskutieren konnten, die uns beiden gefielen. Vielleicht würde er sogar eines Tages in meinen Fußstapfen treten und dem Berufsstand der Mediziner beitreten. Aber erst einmal hieß es ‚Aschenputtel’.
 

„Du bist nicht böse auf Onkel? Oder, Papa?“, fragte er, als ich geendet hatte.
 

„Nein“, sagte ich lächelnd. „Ich habe ihn nur gewarnt, dass er teilweise etwas… bodenständiger sein sollte.“
 

„Was soll er den auf dem Boden?“
 

„Schon gut“, sagte ich mit einem Lachen. „Geh schlafen, Liebling.“
 

Als ich aufstand, um das Gas abzudrehen, rief seine kleine Stimme: „Bleiben wir hier für immer?“
 

„Nun…ob wir für immer bleiben, kann ich dir nicht sagen. Aber wir bleiben zumindest für die nächste Zeit. Gefällt es dir hier nicht?“
 

„Doch. Aber ich vermisse Ivy. Und Mama…“, seine Augen fielen auf das gerahmte Bild von Mary und mir, das ich ihm gegeben hatte. Es stand auf dem kleinen Nachttisch neben seinem Bett.
 

„Ich weiß…“, sagte ich. „Ich vermisse sie auch. Aber du magst Mr. Holmes, nicht wahr? Und Mrs. Hudson?“
 

Sein Gesicht hellte sich sofort wieder auf. In der Tat war das Erstaunlichste in jenen ersten Wochen zurück in der Baker Street der Effekt, den mein Kind auf Holmes hatte. Ich war mit meiner Praxis beschäftigt, viel zu beschäftigt, wie ich schon sagte, und Josh verbrachte den Großteil der Zeit mit Holmes. Er hatte mir schon von all den Dingen erzählt, die sie gemeinsam unternommen hatten. Er erzählte mir von Ausflügen zum Chemielabor der Universität und der Zeit, in der sie dort ‚mit den bunten Fläschchen spielten’, wie Josh es gerne nannte. Sie hatten sogar einen Ausflug zu Scotland Yard gemacht, über dessen Zweck ich mir nicht ganz klar bin. Ich weiß nicht, warum Holmes ganz plötzlich die Gesellschaft eines Dreijährigen schätzte, aber es war leicht zu sehen, dass sich die beiden gut verstanden.
 

„Ich werde einmal sein Pro-tei“, erklärte Josh stolz und setzte sich in seinem Bett auf.
 

„Sein was?“
 

„Sein Pro-tei. Er sagt, ich hab alles, was es dazu braucht. Eines Tages kann ich genau wie er sein.“
 

„Gott bewahre…soll das heißen, er hat gesagt, dass er dich als seinen Protegé will?“
 

„Ich glaub schon.“
 

Was konnte ich darauf sagen? Außer das ich meine Meinung noch einmal überdenken musste und dass die beiden offensichtlich viel zu viel Zeit zusammen verbrachten. Ich gab gerne zu, dass Josh einen angenehmen Effekt auf meinen Freund hatte und dass ich weder eine seiner depressiven Stimmungen, noch einen Gebrauch seiner scheußlichen Nadel bemerkt hatte, und das obwohl er im Moment anscheinend keinerlei Arbeit hatte. Ich erinnerte mich an unser letztes Gespräch. Das Leben ist zu kurz, und so weiter. Hatte Holmes seinen neuen Lebenszweck darin gefunden, einen anderen aufzuziehen, der ihn ersetzten konnte, wenn er einmal nicht mehr da war? Es war ein verrückter, bizarrer Gedanke, aber er macht Sinn. Würde er das wirklich tun? Ich war mir nicht sicher. Holmes war ein sehr unvorhersehbarer Bursche und in letzter Zeit noch mehr als sonst. Außerdem war er ein Mann, den ich immer noch für ziemlich labil hielt.
 

So ging das einfach nicht. Ich würde von nun an mehr Zeit zu Hause verbringen müssen. Selbst wenn das bedeutete, dass ich meine Praxis verkaufen und von meiner mageren Kriegsrente leben musste. Ich musste anfangen, an mein Kind zu denken.
 

„Geh schlafen, Joshie. Wenn du wirklich Holmes’ Protegé oder was auch immer sein willst, dann meinetwegen. Aber ich hoffe, dass ich bald genug Zeit für dich haben werde, dass du auch mein Protegé werden willst. Immerhin bist du mein Sohn.“
 

„Du meinst, du wirst für einige Zeit zu Hause sein?“ Er sah so hoffnungsvoll aus, dass ich mich sofort schuldig fühlte.
 

„Ja, das werde ich. Also schlaf gut.“
 

„Gehen wir in den Zoo?“
 

„Ja, aber nicht jetzt. Gute Nacht.“
 

Mit einem Lächeln legte er sich wieder hin. „Nacht, Papa.“
 

Ich stand dort im Dämmerlicht des ehemaligen Dachbodens und beobachtete ihn für mehrere Minuten. Die Welt war wirklich ein guter Ort, wenn man seine Kinder schlafen sehen konnte. Seine blonden Locken über dem Kissen verteilt, seine pausbäckigen, rosigen Wangen und das rhythmische Heben und Senken seiner kleinen Brust. Mit einem traurigen Lächeln schloss ich die Tür. Das letzte, was ich gesehen hatte, waren seine kleinen Hände gewesen, über und über mit roten und gelben Chemikalien befleckt.
 

Das war das erste gewesen, was mir bei meiner ersten Begegnung mit Sherlock Holmes an ihm auffiel.
 


 

Anstatt zum Abendessen zu bleiben, bat ich Mrs. Hudson (die dankenswerterweise nichts von all den seltsamen Ereignissen wusste) auf Josh aufzupassen und machte mich wieder auf den Weg durch die mondlose, neblige Winternacht, um in meinem Klub zu essen.
 

Parks war dort und Joseph Blakely und außerdem noch ein paar mir ebenfalls bekannte Mediziner. Warum ich es für eine gute Idee hielt, nach einem solchen Tag ausgerechnet hierher zu kommen, kann ich nicht sagen, abgesehen davon, dass ich von einer intensiven Sehnsucht nach Normalität erfüllt war. Und es schien mir nicht besonders normal, zu Hause zu sitzen und alle meine jüngsten Entschlüsse in Frage zu stellen, während ich betäubendem Violinenspiel lauschte und viel zu viel starken Pfeifentabak und Chemikalien einatmete.
 

Nach einem köstlichen Mahl bestehend aus Geflügelbraten und roten Kartoffeln, nahm ich meinen Brandy mit zu Parks’ Tisch, wo ich fröhlich begrüßt wurde. Kein Wort von irgendetwas Unangenehmen. Nur die üblichen Gespräche, die man in jedem Klub mit einem Tisch voller gebildeter Männer erwarten würde: Politik und das Parlament, Geschäfte, Medizin und Sport. Ich glaube es war ein junger Bursche mit dem Namen Davis, den ich erst ein- oder zweimal gesehen hatte, der das Gespräch schließlich auf ein Konzert brachte, das er letzte Nacht in Albert Hall besucht hatte.
 

„Es war unglaublich“, sagte er. „Ich habe mir immer gewünscht, selbst etwas musikalischer zu sein. Vielleicht hätte ich meinen Klavierstunden als Junge mehr Aufmerksamkeit widmen sollen.“
 

Allgemeines Gelächter folgte. „Ich habe gehört – oder eher gelesen – dass Ihr Freund Mr. Sherlock Holmes ein Virtuose auf der Violine sein soll. Hat er jemals daran gedacht, in einem Orchester zu spielen?“, fragte Davis.
 

„Ah…ich denke, dass er zumindest Angebote hatte. Aber die Leute erwarten immer zu viel von jenen, die als Berühmtheiten angesehen werden.“ Das Letzte, was ich im Moment wollte, war, dass sich die Unterhaltung nun ihm zuwandte.
 

„Also ist er doch kein solcher Meister, wie Sie ihn in Ihren Geschichten beschreiben?“
 

„Oh doch, er ist ein Meister. Aber er würde wahrscheinlich leugnen einer zu sein. Zumindest was die Violine betrifft“ Ich trank den letzten Schluck meines Brandys. „Aber meiner Meinung nach ist er sehr gut. Er kann alles improvisieren. Und ich denke, dass er beinahe jedes Solo beherrscht, das jemals geschrieben wurde. Er ist…ein wenig perfektionistisch.“
 

„Er klingt faszinierend“, fuhr Davis fort und lehnte sich begeistert näher zu mir. Seine Jugend und Naivität gingen mir auf die Nerven und brachten ihm bei mir sicher keine Punkte ein. „Welchen Klubs gehört er an?“
 

Ich winkte dem Kellner für ein weiteres Getränk. „So weit ich weiß keinem…haben Sie schon von der Arbeit dieses österreichischen Arztes gehört? Ich denke, sein Name war Freud. Es scheint, dass er faszinierende Arbeit im Bereich der Seelenheilkunde leistet.“
 

Bevor auch nur ein einziger Atem holen konnte, um zu antworten, unterbrach dieser elende Davis schon wieder. „Was Sie nicht sagen! Kein einziger Klub? Wie außergewöhnlich!“
 

„Er ist wahrscheinlich ein sehr beschäftigter Mann, Davis“, sage Parks mit tadelnder Stimme. „Sie sollten das wissen. Sie haben doch, wie ich meine, jede Ausgabe von The Strand gelesen.“
 

Davis nahm beinahe die Farbe des Sherrys an, den er gerade trank und die anderen brüllten vor Lachen. Ich verstand den Witz nicht wirklich, bis Parks erklärte: „Aber wusstest du das etwa nicht, John? Sanford Davis ist dein leidenschaftlichster Anhänger! Oder eher der von Mr. Holmes. Er spricht von nichts anderem. Kennt jeden Fall auswendig, nicht war, alter Junge?“
 

„Ich…äh…“, stammelte er.
 

Ich fiel nun auch in das Gelächter mit ein. Niemals war ich Parks dankbarer gewesen. „Vielleicht kann ich Ihnen sogar ein Autogramm besorgen, mein Junge?“
 

Das brachte die anderen nur noch mehr zum Lachen. Sie zogen den armen Jungen immer noch damit auf, als ich schließlich beschloss mich zu verabschieden. James Parks folgte mir.
 

Der frühe Abendnebel hatte sich etwas verzogen und die Nacht war inzwischen sehr kalt geworden. Aber mir war noch warm vom Abendessen, zwei Gläsern Brandy und einem herzhaften Lachen und ich war wieder in der Verfassung in die Baker Street zurückzukehren. „Ich schulde dir eine Entschuldigung, alter Junge“, sagte Parks, als wir vor dem Gebäude standen. „Ich habe vorhin ein paar sehr unwürdige Dinge zu dir gesagt. Ich habe eingesehen, dass ich falsch lag.“
 

„Mach dir darüber keine Sorgen. Ich stehe immer noch in deiner Schuld, für das, was du für mich getan hast.“
 

„Nicht der Rede wert.“ Er rückte sich den Hut zurecht und verabschiedete sich. „Dann bis morgen.“
 

„James, warte einen Moment“, hielt ich ihn auf. „Es gibt einen Gefallen, um den ich dich bitten will.“
 

„Sag es und ich werde es tun.“
 

Ich lächelte. „Du solltest dich zu nichts verpflichten, bevor du weißt worum es geht. Ich denke, dass ich etwa Freizeit brauche. Ein paar Monate, vielleicht. Momentan geschieht so viel in meinem Leben und ich vernachlässige…nun, ich fühle mich nachlässig. Ich brauche etwa Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen.“
 

„Einen langen Urlaub, wie?“
 

„So etwas in der Art. Ich sollte jetzt bei meinem Sohn sein. Er hat bereits seine Mutter verloren und ich will nicht, dass er denkt, er verliert auch mich. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber ich denke, die Grippewelle ist ziemlich eingedämmt. Und ich könnte dir Merriman als Assistenten…“
 

Aber Parks hob nur breit grinsend die Hand. „Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich kann mich um alles kümmern, bis du wiederkommst.“
 

„Vielen Dank, mein Freund“ Ich gab ihm einen warmen Händedruck und zog mir den Schal über das Gesicht. Ohne Kutsche würde es ein recht kalter Spaziergang werden, aber innerlich fühlte ich mich wunderbar warm.
 

„Ich habe selbst zwei solche kleinen Racker, Watson. Ich verstehe dich. Komm einfach als ausgeruhter und erholter Mann zurück. Anweisung des Arztes.“
 

Lachend bat ich ihn Mrs. Parks meine Grüße auszurichten und machte mich auf den Heimweg. Es gab etwas, was ich tun musste.
 

Holmes war immer noch genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, genau dort, wo ich wusste, dass er sein würde. „Holmes?“, rief ich, während ich die Tür öffnete. „Ich wollte mich entschuldigen“—
 

Er war zwar da, aber nur körperlich. Die Violine war auf seiner Schulter und ich erkannte sofort Pachelbels Kanon. Er musste in einer ungewöhnlichen Stimmung sein, denn außer wenn ich da war und ihn darum bat, spielte er kaum jemals vollständige Stücke. Aber obwohl ich dieses Stück schon früher gehört hatte und es großartig fand, war dies irgendwie anders, irgendwie…unheilvoll. Die Töne fühlten sich an, als würde der Tod selbst seine Hand um meine Kehle legen. Jeder langsame und schmerzhafte Streich des Bogens war Verzweiflung, jede Änderung in der Tonlage erfolgte mit dem schrecklichsten aller Herzen. Ja, es war Pachelbels Kanon, aber irgendeine groteske Fassung davon. Ich hatte einen Krieg gesehen, den Tod meiner Eltern, meines Bruders, meiner Frau und meines Kindes erlebt, aber ich muss gestehen, dass ich in jenem Moment das hoffnungsloseste, entsetzlichste Gefühl in meinem ganzen Leben empfand. Es war wie langsam im Wasser zu versinken, beinahe in der Lage, die Oberfläche, die Sicherheit der frischen Luft zu erreichen, aber nicht in der Lage, meine Lungen damit zu füllen. Sein Spiel berührte mich so sehr, dass ich einfach dort in der Tür stand und ihn anstarrte.
 

Und dann sah ich die Tränen in seinen Augen.
 

Ich hatte meinen Freund niemals zuvor so gesehen. Auch wenn es kein wirkliches Weinen war, so war es doch das Höchste, was er jemals an Gefühlen gezeigt hatte. Musik berührte ihn öfters. Sogar mehr als alles andere. Aber nicht so. Das war Leid. Das war seelischer Schmerz, den er fühlte. Ob er sich durch die Musik selbst in diese Stimmung versetzt hatte oder ob es von einem Teil seines Geistes kam, der nicht mit jenen unheilvollen Tönen verbunden war, weiß ich nicht. Aber was es auch war, ich war vollkommen sprachlos.
 

Ich hatte meine geplante Entschuldigung und die Erklärung, dass ich mir Urlaub genommen hatte, völlig vergessen und alles, was ich konnte, war schnell die Tür zu schließen und in mein eigenes Zimmer zu hasten. Ich wollte ihn nie mehr in einem solchen Zustand sehen.
 

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[1] Zitat nach Aeschylus (Original: ‘It is through suffering that learning comes.’)

Dieses Mal konnte ich meinen Zeitplan für den Upload einhalten. ^^ Viel Spaß bei Kapitel 6!
 

Und noch einmal vielen Dank an Redrose für ihre treuen Kommentare!
 

In jener Nacht wünschte ich mir nichts sehnlicher als Schlaf. Mein Herz brauchte nichts mehr als ungestörte Ruhe. Wie ich bereits an anderer Stelle berichtet habe, bin ich nicht unbedingt ein tatkräftiger Mensch[1]. Ich halte mich gerne an die erste Hälfte des alten Sprichwortes ‚Früh zu Bett’ (aber der Rest sollte lauten ‚spät aus dem Bett’).
 

Als ich jedoch meinen Körper warm und behaglich ausgestreckt hatte, waren meine Gedanken kalt und unruhig. Ich konnte hören, wie Holmes unter mir hin und her schritt, ruhelos wie eine Katze. Normalerweise war er, wenn er gerade keinen Fall bearbeitete, so lethargisch wie eine Leiche und bewegte sich höchstens gezwungenermaßen aus seinem Sessel oder dem Bett. Doch wenn er eine Spur verfolgte, dann schien sein hagerer Körper beinahe schon verliebt in die Energie. Dann würde er tagelang nicht ruhen, ohne dass es ihn im Geringsten beeinträchtigte. Ich weiß nicht, ob er in jener Nacht überhaupt schlief, aber ich war dankbar, dass ich zumindest kein grässliches Violinespiel mehr hörte. Ich hätte es nicht ertragen. Ich wage zu sagen, dass ich nun für immer anders über jenes Instrument denken sollte.
 

Der Schlaf fand mich schließlich irgendwann, nachdem die Uhr eins geschlagen hatte. Aber selbst dann war es ein seltsamer Halbschlaf, erfüllt mit farblosen Bildern. Ich war nicht in der Lage, jenen wirklich erholsamen Schlaf zu finden, aus dem man erfrischt aufwacht. Stattdessen wurde ich von erinnerungsgeladenen Alpträumen geplagt:
 

Die Hitze der afghanischen Sommersonne brannte auf meiner Haut, während ich in einer trockenen Wüste stand, umgeben von Männern, die ich zu kennen glaubte. Die guten alten 5th Northumberland Fugeleers. Smyth…Bennett…Hampstead…sie alle waren da. Ich befand mich in einem provisorischen Chirurgenzelt und versuchte den gebrochenen Oberschenkel eines jungen Soldaten zu versorgen. Wir alle lachten über einen von Patrick Bennets Scherzen. Irgendetwas über die O-Beine des Captains.
 

‚Glaubt ihr, er trägt einen Kaktus in seiner Hose mit sich rum?’, erklärte uns Bennette seine eigene respektlose Theorie.
 

Wir alle lachten. ‚Eines Tages wird man dich für deine Unverschämtheit verprügeln’, sagte ich ihm.
 

In jener Sekunde verfüllte ein schreckliches Kreischen die Luft, scheinbar begleitet von tausenden Gewehrschüssen. Das Zelt wurde in große rote Fetzen zerrissen, als ich einen brennenden Schmerz in meiner Schulter und meinem Oberschenkel fühlte. Ich wurde auf den Boden geschleudert, ein Umstand, der mein Leben gerettet haben dürfte. Alles geschah in nur einem einzelnen Augenblick; der überraschende Rebellenaufstand war schon vorbei, bevor er richtig begonnen hatte. Alles was ich tun konnte, war am heißen Boden zu liegen und unter unerträglichen Schmerzen zu husten, kaum fähig die Augen offen zu halten. Bennett lag neben mir mit drei Kugeln in der Brust, über und über bedeckt mit seinem eigenen Blut. Der Junge, dessen Bein ich versorgt hatte, baumelte halb vom Tisch. Seine Augen, blank wie Glasmurmeln, starrten mich an. Eine Hand fiel herab, streifte meinen Kopf, die Finger zitterten noch leicht, sein Blut tropfte gemächlich – Tropfen für Tropfen – auf mein Gesicht. Ich dachte nur daran, von ihm weg zu kommen…aber der Schmerz, der mich durchbohrte, machte es mir unmöglich.
 

Eine Violine begann hinter mir zu kreischen, übertünchte all die Schreie meiner Männer. Es war keine Musik. Nur Geräusch, entsetzlich lautes Geräusch, lauter und immer lauter…bis plötzlich ein schwarzer Schatten über mir erschien, ein großer, schlanker Schatten mit spitzen Zügen und langen scharfen Klauen. ‚Watson…’, zischte er und beugte sich über meine Kehle. Nein…nein…nein…
 

„Nein!“
 

„Watson?“
 

Ich schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit meiner Kammer. Es war Holmes. Ich war nicht in Afghanistan, sondern hier in meinem Bett in London. Mein Herz schlug so schnell, dass ich eine Sekunde lang glaubte, ich würde einen Herzinfarkt bekommen. Ich fühlte mich so kalt…und nass. Über und über bedeckt mit meinem eigenen Schweiß. Ein krächzender Laut entkam meiner Kehle, doch mein Hals war so trocken und ausgedörrt, dass ich nicht sprechen konnte.
 

„Was fehlt dir, Doktor?“, hörte ich ihn sagen.
 

„Wa…“
 

Seine Hand war plötzlich auf meiner Schulter. Schaudernd wich ich zurück. Obwohl lange verheilt konnte ich immer noch einen Stich in den Wunden meines Körpers fühlen. Und er war es gewesen, der…nein, es war nur ein Traum. Oder?
 

„Geht es dir gut?“ Seine Stimme klang jetzt besorgt. „Du bist so blass…bist du krank?“ Ich beobachtete, wie er nach dem Krug auf meinem Nachttisch griff, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. „Soll ich einen Arzt rufen?“
 

In seinem letzten Satz könnte ein Hauch Ironie mitgeschwungen haben, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Das Wasser war lauwarm, aber es verscheuchte den seltsamen Dämon, der meine Kehle zu umklammern schien und ich fühlte mich wacher. Lebendiger.
 

„Nein, es geht mir gut.“, brachte ich hervor. „Es war nur…es war nur ein Traum. Sonst nichts.“ Ich versuchte zu lächeln, die Situation herunterzuspielen. Ich wollte nicht, dass er dachte ein bloßer Traum war genug, um mich in einen solchen Zustand zu versetzen. Schließlich war ich weder ein Schwächling noch ein Angsthase.
 

Aber stattdessen schenkte er mir ein trauriges Halbgrinsen. „Wir alle haben von Zeit zu Zeit unsere Alpträume, Doktor.“
 

„Ja. Holmes, was machst du Mitten in der Nacht in meinem Zimmer?“
 

Er lachte. „Mein lieber Freund, du musst wirklich durcheinander sein. Es ist im Moment genau Viertel nach sieben. Und ich bin hier, um dich zu drängen.“
 

Mein ganzer Körper erstarrte für mehrere Sekunden. Ich hoffte nur, dass er es in dem immer noch dunklen Zimmer nicht sehen konnte. „Zu drängen…in welcher Hinsicht?“
 

„Mir im Wohnzimmer Gesellschaft zu leisten, natürlich. Soeben ist eine Klientin angekommen. Was hast du denn gedacht?“ Seine Augen verengten sich misstrauisch und ich schluckte eine mundvoll staubige Luft.
 

„Nichts…überhaupt nichts. Aber eine Klientin? So früh?“
 

„Ja…und endlich ein Fall in den ich meine Zähne schlagen kann, wenn ihre Erscheinung überhaupt etwas aussagt. Also musst du kommen. Zieh dich an. Schnell jetzt, Watson! Wir dürfen die Dame nicht warten lassen!“ In einem Anfall von Energie sprang er von meinem Bett auf und klopfte mir auf den Arm, ehe er die Treppe hinunter eilte.
 

Im Licht der Gaslampe konnte ich wieder klarer denken. Es war Morgen. Es war nur ein Traum gewesen…oder eher eine geträumte Erinnerung, bis Sherlock Holmes erschienen war…wie der Teufel, der mich mit sich hinab in die Hölle reißen wollte. Trotzdem war es ungewöhnlich. Ich war normalerweise kein Mann für solchen Unsinn. Vielmehr konnte ich mich nur ganz selten überhaupt daran erinnern, was in meinem Kopf ablief, während ich schlief. Und im Moment war ich sehr dankbar dafür. Ich würde eher nie wieder die Augen schließen wollen, als noch einmal das zu durchleben, was gerade passiert war.
 


 

Ich war in Rekordzeit angezogen – sogar für meine Verhältnisse, war mir doch in der Armee Schnelligkeit gelehrt worden. Ich schnappte mir mein Notizbuch, spritzte mir etwas eisiges Wasser ins Gesicht und eilte nach unten. Ich hoffte sehr, dass sich der Schrecken, den ich gerade durchlebt hatte, weder in meinem Auftreten noch in meinem Verhalten widerspiegelte.
 

Unsere Klientin war eine schöne Frau, ziemlich jung, mit weichem kastanienbraunem Haar, einem rosigen Glanz auf ihrem feenhaften Gesicht und kleinen dunklen Augen, umrandet von zarten Wimpern. Ihr Kleid und ihr Benehmen ließen auf Vermögen und Kultiviertheit schließen, aber ich verfügte über genug Menschenkenntnis, um den Geist in ihr zu erkennen. Ein humorvoller, abenteuerlicher Zug – bei Zeiten unterdrückt und bei Zeiten losgelassen. Ich hielt sofort sehr viel von ihr, noch bevor sie ein einzelnes Wort gesprochen hatte. Sie hatte irgendetwas an sich, das mich an Mary erinnerte.
 

Holmes nahm – wie immer – nicht im Geringsten von solchen Feinheiten Notiz und konzentrierte sich stattdessen auf das Bedeutungslose. Was das in diesem Fall sein würde, konnte ich nicht erraten, aber er war zweifellos gerade dabei, sich ihre gesamte Vergangenheit und Gegenwart von einem Handschuh, einem Stiefel oder einer Sommersprosse auf ihrer Nase zusammenzureimen. Hatte er oben in meinem Zimmer nicht irgendetwas von ihrer Erscheinung gesagt? Ich war mir nicht sicher. Aber für ihn waren diese Kleinigkeiten die Würze in seinem Leben.
 

„Miss…Bishop“, sagte er, nachdem er einen schnellen Blick auf ihre Visitenkarte geworfen hatte.
 

„Ja“, sagte sie mit einer Stimme erfüllt von einer Intelligenz jenseits ihres Alters und Geschlechts. „Und Sie sind Mr. Sherlock Holmes, nicht wahr?“
 

„In der Tat. Das ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson.“
 

Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln. „Ich habe Ihre Berichte über Mr. Holmes’ Fälle in The Strand gelesen. Sie haben mich davon überzeugt, Sie beide hier aufzusuchen.“
 

Holmes hatte sich mit seiner Lieblingspfeife, der Calabash, in seinen Lehnstuhl niedergelassen und ignorierte ihren Kommentar. Es war mir immer klar gewesen, dass er nicht sehr stolz auf meine Berichte über ihn war, abgesehen von ihrer Beliebtheit. Er hatte nichts übrig für die romantischen und fantastischen Elemente, die ich gewöhnlich mit einfließen ließ, auch wenn er nicht verleugnen konnte, wie bekannt er dadurch geworden war. „Wenn Sie also so freundlich wären, uns zu verraten, was Sie so früh am Morgen in die Baker Street führt?“
 

Ich warf meinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu, aber falls Miss Bishop sich an seiner Unhöflichkeit stieß, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Sicherlich, Mr. Holmes. Der Grund für mein Hiersein ist, dass mein Vater am Dienstag im Schlaf erstochen worden ist und die Polizei nicht damit vorankommt.“
 

„Großer Gott…Ihr Vater wurde ermordet?“
 

„Ich fürchte, Dr. Watson.“
 

„Sie haben mein tiefstes Mitgefühl, Miss Bishop.“
 

„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie mit der leichten Andeutung eines Lächelns. „Ich hatte jedoch schon vier Tage, um mit dem Schock fertig zu werden. Ich kann klar und offen sprechen, dass versichere ich Ihnen, falls Sie sich Sorgen um einen seelischen Zustand machen.“
 

„Exzellent“, sagte Holmes. „Dann bitte, von Anfang an. Und bitte, seien Sie so genau und detailliert wie möglich.“
 

„Vielleicht hätte Miss Bishop zuerst gerne eine Tasse Tee, Holmes.“ Als er meinen Gesichtsausdruck sah, sank er mit einem Seufzen zurück in seinen Sessel. Er wand sich fragend an unsere Klientin.
 

„Ja, das würde ich in der Tat sehr begrüßen. Wenn es Ihnen keine Umstände macht. Ich stand ziemlich früh auf, wie Sie sehen können.“
 

„Oh, das ist kein Problem“, sagte Holmes. „Mrs. Hudson!“
 

„Holmes!“, sagte ich. „Musst du so schreien? Josh schläft noch und wenn du nicht willst, dass er hier tausende von Fragen stellt, sollte das auch so bleiben.“
 

Ich wusste, dass er das nicht gerne hörte. Wenn es etwas gab, das er am meisten verabscheute, dann war es gesagt zu bekommen, was er zu tun hatte. Das war etwas, das er nicht einmal von mir ertrug. Nummer zwei auf dieser Liste war, seine Gewohnheiten ohne guten Grund zu ändern. Und lauthals nach Mrs. Hudson zu schreien, war seine Gewohnheit, seit er sie zum ersten Mal getroffen hatte.
 

„Verzeihung“, sagte er, während er sich seine Pfeife wieder anzündete. Seien Zähne würden wahrscheinlich dauerhafte Abdrücke darauf hinterlassen. „Ich hatte den Jungen vergessen.“
 

„Wenn ich fragen darf“, sagte Miss Bishop. „Wer ist Josh?“
 

„Mein Sohn. Er ist erst drei und schrecklich neugierig. In dieser Hinsicht sogar schlimmer als Holmes.“
 

Sie lachte sanft und wirkte noch mehr wie Mary. „Ich wusste nicht, dass sie Kinder haben, Dr. Watson. Er wird in keinem Ihrer Fälle erwähnt.“
 

Während wir auf den Tee warteten, erzählte ich ihr von meiner verstorbenen Frau und Holmes’ Rückkehr. Ich ließ alles Notwendige aus, wie zum Beispiel meine Empörung über seinen Betrug seinen ‚Tod’ betreffend und schloss mit meiner Rückkehr in die 221B, um ihm hier zu assistieren. Wenn sie diese seltsam fand, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Sie war eine echte Lady, wie Mrs. Hudson es gerne ausdrückte.
 

Holmes ertrug diese Vertraulichkeiten so lange, wie es ihm sein Gemüt erlaubte – was nicht besonders lang war. Als Mrs. Hudson mit dem Tee kam, warf er ihr einen durchdringenden Blick zu und sagte: „Nun, wenn jetzt niemand etwas dagegen hat, würde ich meine Aufmerksamkeit gerne wieder dem Fall ihres verschiedenen Vaters zuwenden, Miss Bishop. Das ist der Grund Ihres Hierseins und es ist schrecklich früh.“
 

„Ja, Mr. Holmes, wissen Sie“—
 

„Diese Uhrzeit ist für Sie allerdings nicht ungewöhnlich, da ich sehe, dass Sie ein Frühaufsteher sind. Ein wirklicher Frühaufsteher, denn es ist mindestens eine zweistündigen Kutschenfahrt von Dartmoor oder Exmoor, egal von welchem dieser beiden Orte sie kommen mögen.“
 

„Wie haben Sie“—
 

„Sie leben zweifellos in einem größeren Anwesen und Sie unternehmen dort recht viele Spaziergänge. Ihre Familie hält sich Pferde und Sie sind eine begeisterte Reiterin. Sie müssen Pferde wirklich sehr mögen, Miss Bishop, Ihre eigene Kutsche zu lenken. Nur eine wirklich geschickte Lady ihres Standes würde sich zu so etwas verpflichten. Und es ist klar, dass der Tod Ihres unglücklichen Vaters, nicht Ihre einzige Sorge ist. Es gibt vieles, was Sie momentan beunruhigt.“
 

Sie lachte wieder, wie es die meisten Klienten tun, wenn Holmes sie fertig zusammengefasst hatte. „Es ist ganz erstaunlich. Von dieser Kunst zu lesen, Mr. Holmes, davon zu lesen, wie Sie es auf andere anwenden, ist schon großartig genug. Aber wirklich Zeuge zu sein, wie es an einem selbst angewendet wird, ist noch viel unglaublicher.“
 

„Das ist es nicht“, sagte er mit seinem üblichen Maß an falscher Bescheidenheit. „Nur ein paar Deduktionen, die selbst der Doktor machen könnte.“
 

„Vielen Dank, Holmes.“
 

Er fuhr fort, ohne sich auch nur im Geringsten an meinem Sarkasmus zu stören. „Dass Sie aus einem Gebiet im Südwesten kommen, ist leicht an den Schlammresten an ihren Stiefelabsätzen zu erkennen. Es ist ein zäher, ländlicher Dreck, der nur in feuchten, moorigen Gebieten wie Dartmoor oder Exmoor vorkommt. Ihr gebräunter Nacken und die Tatsache, dass Ihre Stiefel entlang der äußeren Naht abgenutzt sind, deuten beide darauf hin, dass sie viel draußen sind. Die Ringe unter Ihren Augen verraten mir, dass sie in letzter Zeit wohl viele Sorgen haben. Und was die Pferde betrifft, was sonst könnte die Krümmung Ihres Rückgrades verursacht haben – außer viel Zeit auf dem Pferderücken oder durch das Spinnen. Und eine Lady Ihres Standes, Miss Bishop, verbringt ihre Zeit nicht vor einem Spinnrad.“
 

„Aber woher wusstest du, dass sie ihr eigenes Gespann lenkt?“, fühlte ich mich gezwungen zu fragen.
 

„Ihre Handschuhe“, sagte er begleitet von einem Schwung seiner Pfeife. „haben exakt solche schwarzen Male, wie sie durch die Zügel eines Gespannes entstehen.“
 

„Und die Tatsache, dass ich eine Frühaufsteherin bin, wussten sie, weil ich um diese Uhrzeit zu Ihnen gekommen bin, Mr. Holmes?“
 

„Meine liebe Miss Bishop…das ist eine unbrauchbare Annahme. Es liegt viel mehr daran, dass Sie tadellos angezogen sind, woraus sich schließen lässt, dass Sie, wie die meisten jungen Damen Ihres Alters, sehr auf Ihre äußere Erscheinung achten und Sie Ihrer Morgentoilette viel Zeit widmen. Ihre Schuhe allerdings sind willkürlich zugeknöpft. Das lässt mich vermuten, dass Sie heute Morgen bis auf die Schuhe schon recht früh angezogen waren. Danach trieb Sie zweifellos etwas so schnell wie möglich nach London, weshalb Sie sich nicht mehr die Zeit nahmen, die Sie normalerweise für Ihre Stiefel aufbringen würden.“
 

„Erstaunlich, Mr. Holmes.“
 

„Nein, Miss Bishop…es ist nur Logik. Und nun wären Sie bitte so freundlich und erzählen mir, was genau Sie dazu gezwungen hat, so plötzlich nach London aufzubrechen, dass Sie Ihre Stiefel vernachlässigt haben? Wenn Ihr Vater, wie Sie schon sagten, bereits seit vier Tagen tot ist, hatten Sie es offensichtlich nicht eilig, mich aufzusuchen.“
 

Sie senkte ihren Blick auf ihre Teetasse, als suchte sie sorgsam nach den richtigen Worten. Ich wünschte wirklich, Holmes würde lernen, ein wenig höflicher mit Frauen umzugehen. Es war seltsam. Es gab Zeiten wenn er vollkommen charmant zu ihnen war, Zeiten, in denen ich dachte, jedes Mädchen könnte sich glücklich schätzen, ihn zum Ehemann zu haben. Und manchmal war er so energisch…kaum mehr ein Gentleman. Ich dachte nicht, dass ich diesen Mann jemals wirklich verstehen würde. „Der Grund dafür, Mr. Holmes“, sagte sie mit leiser Stimme. „Ist, dass Inspektor Clayton, der den Mord an meinem Vater bearbeitet, sehr früh heute Morgen vorbeikam. Er informierte mich darüber, dass er Thomas Kingston unter Mordverdacht festgenommen hatte und Mr. Kingston auch passende Motive dafür hätte. Deshalb nahm ich den ersten Zug von Dartmoor nach London.“
 

„Und dieser Thomas Kingston ist wer?“
 

Ich bemerkte das leichte Erröten ihrer makellosen, porzellangleichen Haut, als sie antwortete: „Er ist unser Stallbursche. Er arbeitet für unsere Familie seit er zehn war, seit etwa elf Jahren mittlerweile. Seine Mutter war gestorben und sein Vater ein Trinker, der ihn schlug. Mutter hatte damals ein weiches Herz und nahm ihn bei uns auf. Er ist wundervoll zu den Pferden. Er und ich…nun, wir stehen uns recht nah.“
 

„In der Tat. Sie lieben ihn, nicht wahr?“ Er tauchte seine Pfeife in den Pantoffel, um sie zum dritten Mal nachzufüllen. Ich fragte mich, wie irgendjemand so viel Tabak auf leeren Magen vertragen konnte.
 

„Ich…ja, Mr. Holmes. Das tue ich. Ich werde ihnen diese Tatsache nicht verheimlichen. Ich bin in Tom verliebt, seit ich noch ein ziemlich junges Mädchen war und er in mich. Wir hatten vor, in diesem Sommer zu heiraten. Jedenfalls bis diese hässliche Sache geschah. Oh, Mr. Holmes, Sie müssen ihm helfen!“, rief sie voller Gefühl, Gefühl, dass mein eigenes Interesse sofort schwinden ließ. Es war offensichtlich, dass diese junge Lady bereits versprochen war. „Wenn Sie ihn nur kennen würden. Sie würden sofort sehen, dass er zu so etwas niemals in der Lage wäre. Tom könnte genauso wenig einen Mord begehen wie ich. Er hat schon so viel Zorn und Schmerz in seinem kurzen Leben gesehen, dass ich weiß, er würde nie derart der Gewalt erliegen! Ich weiß es, Mr. Holmes, aber Inspektor Clayton ist so ein eigensinniger, sturköpfiger Mann, dass er mir nicht zuhören will!“
 

„Beruhigen Sie sich, Miss Bishop…“, sagte Holmes sanft und hob beruhigend die Hand. „Ich werde tun, was ich kann. Aber sie müssen ruhig bleiben. Vergessen Sie Ihren Mr. Kingston für einen Moment. Ich bin momentan viel mehr an Ihren Eltern interessiert. Holen Sie einmal tief Luft und erzählen Sie mir den Anfang der ganzen Geschichte.“
 

Miss Bishop nickte und warf meinem Freund einen dankbaren Blick zu, während sie einen Schluck Tee nahm. Einen Blick, wie er ihn sonst nie von einer Frau bekam. Und dann begann sie zu sprechen: „Meine Mutter ist die Tochter des Earl of Cantor, dessen Vorfahren schon seit Generationen im Osten von Dartmoor beheimatet sind. Tatsächlich könnten wir entfernte Verwandte der Baskervilles sein, durch die ich zum ersten Mal mit Ihren Geschichten in Berührung kam, Mr. Holmes.“
 

„Hm! Ich hoffe doch sehr, dieser Fall wird bedeutend weniger unordentlich“, unterbrach sie Holmes.
 

„Komm schon, alter Junge. Von all deinen Fällen war es eindeutig der Hund, der deinen Namen in der Öffentlichkeit am meisten verbreitet hat. Es war eine faszinierende Angelegenheit.“
 

„Es war faszinierend unordentlich, noch dramatischer und reißerischer als der Großteil deiner anderen veröffentlichten Werke, Watson, dass ist der Grund, warum du ein solches Theater darum machst. Der Fall, das Geheimnis selbst war absolut simpel. Und nun, unterbrich Miss Bishop nicht mehr. Bitte fahren Sie fort.“
 

Es waren genau jene Gelegenheiten, an denen ich meinem Freund am liebsten den Hals umdrehen würde. Nur er konnte die Frechheit besitzen, zu behaupten, ich hätte unsere Klientin unterbrochen. Aber er war auch der einzige Mann, den ich damit durchkommen lassen würde. Bei jedem anderen hätte mich selbst in der Anwesenheit einer Lady nicht zurückgehalten.
 

„Mein Vater – Bruce Bishop“, erläuterte sie auf einen Blick von Holmes hin. „War ein Fischer, bevor er meine Mutter kennen gelernt hatte. Er ist kein Mann für das trockene Land, Mr. Holmes. Ich habe das mittlerweile erkannt, aber er und Mutter verliebten sich so leidenschaftlich, dass sie beide glaubten, sie könnten dieses Hindernis überwinden. Ebenso wie die Tatsache, dass meine Großeltern mütterlicherseits gegen sie waren. Sie war zwar kein Sohn (tatsächlich hatten meine Großeltern keine männlichen Kinder) und auch nur die zweitgeborene Tochter, aber sie blieb immer noch die Tochter eines Earls. Und sie wollte einen einfachen Arbeiter heiraten.“
 

„Also heiratete sie heimlich“, erklärte Holmes.
 

„Ja. Und mein Großvater war so zornig, dass er sie, sobald er es herausgefunden hatte, aus der Familie ausschloss und dazu zwang mit ihrem Ehemann in einer kleinen Hütte zu leben…nun ja, klein im Vergleich mit dem Anwesen, in dem sie aufgewachsen war. Aber als Großmutter nur ein paar Jahre später starb, änderte er seine Meinung. Er erkannte wohl die Wichtigkeit der Familie. Er bot dem Paar Hilton Grange an, einen der zahlreichen Familiensitze. Ich war damals ein Kind von sechs Jahren und mein Bruder, Richard, erst eins. Ich sollte Ihnen sagen, dass ich und mein Bruder die einzigen Kinder meiner Eltern sind. Meine Mutter hatte drei Totgeburten, bevor ich auf die Welt kam und noch eine vor Dicky. Ich kann Ihnen sagen, dass es meine Mutter sehr mitnahm.“
 

„Davon bin ich überzeugt“, hörte ich mich selbst sagen, unfähig mein Mitgefühl zurückzuhalten. Auch ich hatte die schreckliche Erfahrung eines totgeborenen Kindes gemacht. Und ich war ein Mann. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie viel schlimmer es für eine Frau sein musste, vier Kinder bei der Geburt zu verlieren, nachdem sie sie neun Monate lang in sich getragen hatte. Ich warf meinem Freund durch den Rauch meiner Zigarette einen Seitenblick zu und erwartete einen tadelnden Ausdruck auf seinem Gesicht. Aber da war keiner. Er schien tief in Gedanken versunken, während er lautlos kleine Rauchwolken ausstieß.
 

Miss Bishop fuhr fort. „Mein Vater war nicht zufrieden mit seiner neuen Position als Herr eines so großen Anwesens. Black Bishop – so taufte Mutter Hilton Grange wegen des Achats, der in seiner Konstruktion verwendet worden war – wurde bald ein respektierter Wohnsitz in Dartmoor. Aber abgesehen von unseren Pferden gab es dort nichts was Vater von seiner Meeressehnsucht ablenken konnte. Und so kaufte er sich schließlich ein kleines Schifferboot und legte es in Plymouth vor Anker. Er fuhr damit hinaus, manchmal sogar ganze zwei Wochen. Mutter mochte es nicht, aber es war die einzige Unstimmigkeit zwischen ihnen, daher beschwerte sie sich nicht. Eines Tages jedoch, es war März ’88, also vor fast sechs Jahren, ging Vater wieder einmal an Bord der Catherine und wurde niemals mehr gesehen.“
 

„Was?“, rief ich unwillkürlich aus. „Aber ich verstehe nicht. Wenn Ihr Vater vor sechs Jahren verschwand, wie kommt es dann, dass er vor vier Tagen ermordet wurde?“
 

„Oh…sehen Sie, Dr. Watson, ich hätte sagen sollen, mein Vater verschwand vor sechs Jahren, nur um auf magische Weise vor drei Wochen wieder zurückzukehren. Ganz ähnlich wie Sie es mir von Mr. Holmes berichtet haben. Alle hielten ihn für tot. Auf See verschollen oder etwas Ähnliches. Aber dann vor drei Wochen kehrte er bei bester Gesundheit zurück. Mein Bruder, ich und alle, die ihn gekannt hatten, waren unbeschreiblich schockiert.“
 

Holmes schlug sofort die Augen auf. Wäre er auch eine Maschine, er hätte die Sekunde, in der unsere Klientin ihren Mund schloss, nicht genauer treffen können. „Nein, nein, nein“, sagte er. „So geht das nicht, Miss Bishop. Wenn Sie die Wahrheit sagen und Ihr Vater scheinbar von den Toten wiederauferstanden ist, dann müssen Sie mir schon genau erzählen, was passiert ist. Bitte, lassen Sie nichts aus.“
 

Sie nickte. „Nun, zunächst sollte ich Ihnen erzählen, dass meine Mutter seit einiger Zeit krank ist. Sie fiel vor fast einem Jahrzehnt der Schwindsucht zum Opfer und wird nun, wie der Arzt mir erzählt hat, nicht mehr lange in dieser Welt weilen. Ich sage das nicht, um Ihr Mitleid zu wecken, meine Herren, sondern weil ich fürchte, darin könnte der Grund für Vaters plötzliche Rückkehr seinen Ursprung finden.“
 

„Um Ihre Mutter noch einmal zu sehen, bevor sie stirbt?“, fragte ich.
 

„Nicht ganz“, sagte sie mit einem traurigen Schütteln ihres hübschen Kopfes. „Vielmehr deshalb, weil in dem einzigen Testament, das Mutter jemals aufgesetzt hat, Vater immer noch der Alleinerbe des Hiltonvermögens ist, das mein Großvater ihr bei seinem Tod vor sieben Jahren hinterlassen hat. Sehen Sie, Mutter hat niemals aufgehört meinen Vater zu lieben, auch als jedermann sie von seinem Tod überzeugen wollte. Aber sie weigerte sich. Sie weigerte sich sogar ihr Testament zu ändern. Sie war davon überzeugt, dass er eines Tages zurückkehren würde. Bis vor drei Wochen dachte ich, es wäre bloße Einbildung, verursacht vielleicht von dem Zustand ihrer kranken Nerven…aber nun scheint es, dass sie Recht behielt.“
 

„Das ist wirklich faszinierend“, murmelte ich und zündete mir geistesabwesend eine Zigarette an. „Ich habe noch nie eine solche Geschichte gehört, du etwa, Holmes?“
 

„Niemals…nun, Sie sagten, Miss Bishop, dass Sie fürchten, Ihr Vater kehrte nur zurück, weil er irgendwie davon erfuhr, dass er so nach dem Tod Ihrer Mutter Black Bishop sowie eine Große Summe Geld aus dem Nachlass Ihres Großvaters erben würde?“
 

„Ja. Die ältere Schwester meiner Mutter starb unverheiratet und daher sind Richard und ich die einzigen lebenden Hiltonerben. Aber obwohl ich bereits volljährig bin, hat Mutter ihr Testament nie geändert, abgesehen von ein paar kleinen Änderungen, um mich und meinen Bruder nicht völlig leer ausgehen zu lassen. Vater hätte so gut wie alles bekommen…“, sie hielt inne und errötete leicht, als fiele es ihr nicht leicht fortzufahren. „Ich weiß, dass es nun scheint, ich selbst könnte schuldig sein. Wenn Vater wirklich tot gewesen wäre, dann wäre ich durch sein Nichtantreten des Erbes in der Tat die Begünstigte. Aber ich versichere Ihnen, weder Tom noch ich haben irgendetwas…“
 

„Oh, das würden wir niemals von Ihnen denken, Miss Bishop!“, rief ich unbändig. „Nicht wahr, Holmes?“
 

„Hmm?“ Er wand sich vom Feuer ab, in das er bewegungslos gestarrt hatte. „Oh…ich denke nicht…Miss Bishop, es gibt nur noch eines, was ich gerne wissen würde und dann, denke ich, können Sie gerne nach Black Bishop zurückkehren. Es wäre gut, wenn Sie mir die Details über die Rückkehr Ihres Vaters so genau wiedergeben könnten, wie Sie sie noch in Erinnerung haben. Die Lösung des Falles könnte damit zusammenhängen.“
 

„Natürlich, Mr. Holmes…ich erinnere mich sehr gut daran. So einen Tag vergisst man nicht leicht. Es war Sonntag, morgen genau vor drei Wochen, und Richard und ich hatten die Kirche in Darby, dem nahe gelegensten Dorf, besucht. Es liegt fast eine Stunde weit weg, aber nach Vaters Verschwinden, schien sich Mutter plötzlich in ihren Glauben zu verlieben und seitdem gehen wir jeden Sonntag in die Kirche. Als sie selbst zu krank dafür wurde, gingen mein Bruder und ich ohne sie. Sobald der Gottesdienst beendet war, hatte ich die Kirche verlassen und wollte zu unserer Kutsche zurückgehen. Dicky war noch in der Kirche. Ein Mann stand bei meinem Gespann, ein Mann, den ich trotz all der Zeit fast augenblicklich wieder erkannte. ‚Lizzie, meine Kleine’, sagte er und dann war ich mir sicher. ‚Vater!’, rief ich. ‚Vater, du bist nach Hause gekommen!’“
 

„Und dann?“
 

„Nun, wir alle waren so aufgeregt…der ganze Haushalt. Mutter allerdings…nun, ich glaube nicht, dass sie wirklich verstand, was geschah. Sie war beinahe katatonisch. Sie erlaubt nur Richard und ihrem Leibarzt nach ihr zu sehen. Dicky und sie standen sich immer sehr nah.“
 

„Welche Erklärung gab Ihr Vater für sein mysteriöses Verschwinden und seine wunderbare Rückkehr?“
 

Miss Bishop runzelte die Stirn. „Ich fürchte keine wirklich zufrieden stellende. Nur dass er sein Leben auf See zu sehr vermisst hatte. Er war so beschämt darüber, dass er uns verlassen hatte, dass er nicht einmal den Mut fand, uns zu schreiben und zu sagen, dass er noch lebte. Er dachte es sei besser, wenn wir glaubten, er sei tot, als dass er uns im Stich gelassen hatte. Aber über eine Sache blieb er unerbittlich, Mr. Holmes…er wusste nichts vom Testament meiner Mutter, sogar nachdem Mr. Bullard ihn davon in Kenntnis setzte…und er war zurückgekehrt, um seinen Frieden mit uns zu machen. Er sagte, er könne diese Schuld nicht mit ins Grab nehmen. Oh, ich glaube wirklich, dass er bereut, Mr. Holmes! Ich weiß, das Geld kann nicht der Grund für seine Rückkehr gewesen sein! Das kann einfach nicht sein! Schon allein deshalb weil er nicht wissen konnte, dass Mutter ihr Testament niemals geändert hat!“
 

„Einen Augenblick…Sie sprachen gerade von einem Mr. Bullard, nicht wahr? Wer ist er?“
 

„Mr. Ambrose Bullard“, sagte sie. „Vaters bester Freund und seit vielen Jahren der persönliche Solicitor[2] unserer Familie. Er war über die Jahre hinweg sehr freundlich zu uns. Nachdem Vater verschwand, kümmerte er sich um die rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten von Black Bishop.“
 

„Ich verstehe. Eine letzte Frage noch, Miss Bishop. Wer war in der Nacht, als Ihr unglücklicher Vater sein Ende fand, alles anwesend?“
 

„Nun…ich, natürlich, und Richard. Mr. Kingston war draußen in seiner Wohnung nahe den Ställen. Mrs. Oliver, unsere Köchin. Jane Merriweather und Anne Duncan, unsere Hausmädchen. Und Mr. Bullard war auch da.“
 

„Mr. Bullard?“
 

„Ja. Seit Vaters Rückkehr blieb er gelegentlich über Nacht. Die beiden hatten viel Geschäftliches zu erledigen, wie Sie sich vorstellen können.“
 

„Natürlich…trotzdem scheint mir das recht ungewöhnlich…“, murmelte Holmes mehr zu sich selbst, bevor er auf die Füße sprang, zur Tür ging und sie öffnete. „Das wird erst einmal reichen, Miss Bishop. Ich habe noch ein paar Dinge hier in London zu erledigen, aber wenn es keine Probleme gibt, würde ich den Tatort gerne noch heute besichtigen. Sagen Sie mir, ist Ihr Vater schon beerdigt worden?“
 

„Aber nein. Die Beerdigung ist für morgen in der Kirche von Darby angesetzt. Keine andere Kirche, als die, in der wir uns vor ein paar Wochen erst wieder gesehen haben.“
 

„Exzellent! Das ist in der Tat ein Glück! Ich glaube, heute fährt ein Zug, der in Dartmoor kurz nach fünf Uhr abends ankommt. Wäre es möglich, dass Sie sich mit dem Doktor und mir dort treffen könnten?“
 

„Nun…ja, ich denke schon. Aber Mr. Holmes, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt. Zum Beispiel, wie er ermordet wurde. Es ist nicht etwas, über das ich gerne spreche, aber es ist sicher sehr…“
 

„Nein, nein“, winkte Holmes ab. „Das würde ich lieber mit meinen eigenen Augen sehen und meine eigenen Schlüsse daraus ziehen. Momentan habe ich mehr als genug Daten. Die wichtigsten Fakten, die Sie mir aus zweiter Hand berichten können, sind alle angekommen und gespeichert. Was übrig bleibt, muss ich mit eigenen Augen sehen.“
 

In genau jenem Moment erschien mein Sohn. Er trug nichts als sein Nachthemd, seine Haare standen in alle Richtungen und seine Augen waren immer noch glasig vom Schlaf. Er bahnte sich vorsichtig seinen Weg die Treppe hinunter, indem er sich mit beiden Händen unten am Geländer festhielt. Ich muss zugeben, dass der Zeitpunk nicht schlechter hätte sein können. Fünf Minuten später und Miss Bishop wäre sicher aus dem Haus gewesen und ich müsste mich nicht mit den endlosen Fragen herumschlagen, die uns nun sicher waren.
 

Er warf einen Blick auf die Lady und jegliche Schüchternheit, die ihn sonst auszeichnete, war sofort weggewaschen. „Wer bist du?“, fragte er geradeheraus.
 

„Nun, ich bin Elizabeth Bishop. Eine Klientin von Mr. Holmes. Und du musst Josh Watson sein.“
 

„Ja. Hast du einen Fall?“
 

Sie lächelte. „Du bist ein wirklich scharfsinniger junger Mann. Ich habe tatsächlich einen Fall. Mr. Holmes wir ihn für mich untersuchen.“
 

„Kann ich dir helfen, Onkel?“
 

Holmes sah mich an und versuchte erfolglos ein Lächeln zu unterdrücken. Ich fand die ganze Sache weit weniger amüsant. „Nein, wirklich nicht, Josh. Miss Bishop muss nun zurück zu ihrem Zuhause und du musst frühstücken. Du und dein…Onkel könnt ein anderes Mal Detektiv spielen.“
 

„Es war nett dich kennen zu lernen, Josh“, sagte Miss Bishop und streichelte seine Wange. „Ich hoffe wir treffen uns irgendwann wieder.“
 

Er schmollte nun und hatte seine kurzen Arme vor der kleinen Brust verschränkt. Aber sein Ärger war auf mich gerichtet und nicht auf die Lady. „Das hoffe ich auch. Ich will deine Pferde sehen.“
 

Mein ganzer Körper erstarrte. Ich war froh, nicht auf der Treppe zu stehen, denn ich fürchte, ich wäre gefallen. Miss Bishop hielt mitten in der Bewegung inne und auch Holmes wirkte wie betäubt. „Wie…“, begann ich, aber meine Stimme versagte. „Woher wusstest du…es ist unmöglich…“
 

„Wusste ich was, Papa?“, fragte er.
 

„John Sherlock Watson, hast du gerade eben unsere Unterhaltung mit Miss Bishop belauscht?“
 

Er wurde vor Angst mehrere Zoll kleiner. Dass ich ihn bei seinem vollen Namen nannte, war ein deutliches Zeichen dafür, wie aufgebracht ich war. „Nein, Papa. Hab ich nicht. Ich bin gerade erst aufgewacht. Ich schwör’s.“
 

„Lüg mich nicht an, Junge! Es ist völlig unmöglich, dass du von ihren Pferden wusstest, wenn du es nicht getan hast!“
 

„Ich lüge nicht!“, rief er und die ersten Tränen begannen seine blauen Augen zu trüben und fanden ihren Weg seine Wangen hinab. „Es war ihr Handschuh. Deshalb wusste ich es! Ich hab nichts gehört, was ich nicht sollte!“
 

„Ihr…Handschuh…“ Ich akzeptierte, dass Holmes von ihrem Handschuh, oder besser gesagt, den frischen Striemen darauf, auf ein eigenes Gespann schließen konnte. Aber mit Sicherheit…nein, das konnte nicht sein. Ein Dreijähriger konnte die Verbindung einfach nicht herstellen. Das war nicht möglich…„Was ist mit ihrem Handschuh?“
 

Zuerst schien er zu verschreckt, um zu antworten, aber dann siegte seine Sturheit. „Sie hat Zeichen auf ihrem Handschuh. Von dem Pferdeding. Den Schnüren.“
 

„Den Zügeln, John Sherlock, den Zügeln“, verbesserte Holmes.
 

„Ja. Von den Zügeln.“
 

Ich war völlig fassungslos. „Aber woher wusstest du das bloß?“, fragte ich kopfschüttelnd.
 

„Ich weiß nicht. Ich wusste es einfach. Sonst nichts, Papa.“
 

„Das ist wirklich sehr erstaunlich, Dr. Watson“, sagte Miss Bishop. „So ein kleiner Junge… nun, ich hätte wirklich gedacht, er sei Ihr Sohn, Mr. Holmes! Er scheint Ihre Beobachtungsgabe zu besitzen.“
 

Ich presste unwillkürlich die Zähne zusammen, ein Instinkt der mich wohl vor großer Scham bewahrte. Holmes lächelte – ein wenig zu breit – aber er hatte nicht den Mut mich nach dieser Bemerkung anzusehen. Aber es war offensichtlich, wie sehr er es genoss. „‚Wenn wir nach frühen Anzeichen beurteilt würden, wären wir alle Genies.’[3]“ Er bewegte sich in Richtung Treppenhaus und im nächsten Moment waren beide gegangen, gegangen bevor ich etwas sagen konnte, dass ich später bereuen würde. Nur Josh blieb, verständnislos, immer noch in seinem zerknitterten Nachthemd, mit rot geweinten Augen und wirkte ganz und gar nicht wie das Genie, das er mit Sicherheit eines Tages sein würde.
 

„Es tut mir Leid, Papa“, sagte er schniefend. „Ich werd keine Edduktionen mehr machen, das versprech ich! Ich wusste nicht, dass es dich wütend macht.“
 

„Ich…oh, Joshie, ich bin nicht wütend auf dich.“ Ich hob ihn auf und genoss seine Wärme an meinem kalten Gesicht. „Eines Tages wirst du verstehen, wie schwer es ist, als einfacher Sterblicher unter den Göttern zu leben.“
 

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[1] Watson sagt in „Studie in Scharlachrot“, dass er notorisch faul sei, allerdings ich habe nie auch nur ein Anzeichen davon entdeckt.
 

[2] Anmerkung des Übersetzers: Ein Solicitor ist in der britischen Rechtssprechung ein hauptsächlich bei niederen Gerichten zugelassener Anwalt.
 

[3] Ähnelt einem Zitat nach Goethe: „Wenn Kinder sich beim Aufwachsen an frühe Anzeichen hielten, so gäbe es nichts als Genies.” (“If children grew up according to early indications, we should have nothing but Geniuses.”)

So Kapitel 7!

Viel Spaß bei der Suche nach Bruce Bishops Mörder und dem was dabei noch so alles passiert.
 

Holmes war immer noch mit Elizabeth Bishop im Erdgeschoß, als Mrs. Hudson mit dem Frühstückstablett in Händen das Wohnzimmer betrat. Der Teller voller immer noch brutzelnden Würstchen und flaumigem Rührei, war genug, um mich von meinem Ärger über Joshs Beobachtungen abzulenken. Je mehr Zeit Holmes und der Junge miteinander verbrachten, umso mehr Leute würden denken, er sei sein Sohn. Ich erkannte, dass ich mich nicht darüber aufregen sollte. Es war schließlich nicht die Wahrheit. Und doch…
 

„Oh, Dr. Watson“, unterbrach Mrs. Hudson meine Gedankenkette. „Sie wissen gar nicht wie froh ich bin, dass Mr. Holmes einen neuen Fall hat.“
 

„Wirklich? Warum das?“
 

„Nun, Sir“, erwiderte sie stirnrunzelnd. „Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Aber Sie haben ihn sicherlich in letzter Zeit beobachtet. Ich denke wirklich, dass er etwas Ablenkung gebrauchen könnte. Ich…ich mache mir Sorgen um ihn, wenn er aus Arbeitsmangel in diese Depressionen verfällt.“
 

Ich bemerkte, wie ich ihr zartes, wettergegerbtes Gesicht anstarrte. Das silberne Haar zu einem dicken Knoten gebunden, die faltige Stirn, die grauen Augen. Aus Selbstsucht war ich nie auf den Gedanken gekommen, auch Mrs. Hudson könnte sich um das Wohlergehen meines Freundes sorgen. Natürlich hatte ich gewusst, dass sie immer ganz erpicht darauf war, ihn jeden Morgen aus den Tiefen seines Bettes auftauchen zu sehen. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie die Änderung seines Verhaltens bemerkt hatte, geschweige denn sich darüber Sorgen machte. Im ersten Moment erklärte er ausgelassen, das Leben sei zu kurz für düstere Stimmungen und im nächsten spielt er herzzerreißende Melodien auf seiner Violine und brach fast zusammen. Ich verstand es einfach nicht.
 

„Sie müssen sich keine Sorgen machen“, sagte ich ihr. „Sie kennen Mr. Holmes. Er hat immer diese…Phasen. Am Boden zerstört zu sein, meine ich. Es besteht kein Grund zur Sorge.“ Gut, ich sollte es zugeben. Sogar in meine eigenen Ohren klangen meine Worte abgedroschen.
 

„Das hoffe ich, Sir. Das hoffe ich wirklich.“
 

Als ich in einem Versuch, zur Abwechslung einmal nicht an Holmes zu denken, nach meiner Kaffeetasse griff, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Josh mich mit breiverklebtem Gesicht anstarrte. Bevor ich Vater wurde, hätte ich niemals gedacht, ich könnte jemals ein so aufmerksames Kind hervorbringen. Woher hatte er nur diese Gabe? „Hat Mr. Holmes dir gegenüber vielleicht erwähnt, dass er sich über irgendetwas Sorgen macht?“
 

Josh schürzte die Lippen, allerdings nicht aus Eigensinnigkeit sondern weil es typisch für ihn war, wenn er ernsthaft über etwas nachdachte. „Er spricht nicht gerne über solche Sachen, Papa. Solche Sachen wie traurig sein.“
 

„Als ob ich das nicht wüsste“, antwortete ich und griff nach der morgendlichen Times.
 

„Außer“—
 

Mein Blick flog hoch. „Außer was?“
 

„Nun.“ Er zögerte und spielte mit seinem Frühstück. „Ich hab unten mit Mrs. Hudson gekocht. Aber dann bin ich wieder hier rauf gegangen. Onkel hat etwas gelesen. Er sah aus…“ Er sah mir in die Augen. „Wie du als Mama gestorben ist.“
 

„Äh…du meinst er…was meinst du damit, mein Sohn?“
 

Er zuckte mit den Achseln und versuchte sich etwas Brei in den Mund zu stecken. Das meiste endete auf seinem Latz. Mittlerweile hatte ich erkannt, warum Kinder normalerweise im Kinderzimmer essen sollten, bis sie neun oder zehn sind.
 

„Weiß nicht, Papa. Richtig traurig eben. Er hat das Buch ganz schnell zugemacht, als er mich gesehn hat und wollte mir nicht sagen, was es ist. Das ist alles.“
 

„Weißt du noch, welches Buch es war?“
 

Er schüttelte den Kopf. „Es war rot und dick. Mehr weiß ich nicht mehr.“
 

Im selben Moment flog die Wohnzimmertür auf, Holmes kam hereingerauscht und warf sich auf einen leeren Stuhl am Tisch. Ihm lag etwas an dramatischen Auftritten, wie meine Leser zweifellos schon bemerkt haben. „Dieser Fall!“, rief er. „Dieser Fall ist schrecklich durcheinander! Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Was denkst du darüber, Watson?“
 

„Ich denke, dass ich jetzt mein Frühstück beenden werde. Was denkst du darüber?“
 

Er schnaubte, starrte mich an und schob den vollen Teller von sich. „Ich denke, dass wir, bevor wir nach Black Bishop aufbrechen, diesem Solicitor, Ambrose Bullard, einen unangekündigten Besuch abstatten sollten. Unserer Klientin zufolge unterhält er ein Büro hier in der Stadt. Es gibt Fragen, die mir nur er und nicht Miss Bishop beantworten kann.“
 

„Was ist Black Bishop?“, fragte Josh.
 

„Das ist der Ort, an dem Elizabeth Bishop wohnt. Mr. Holmes und ich gehen dort heute hin, um ihr mit ihrem Fall zu helfen.“
 

Seine Augen leuchteten auf. „Kann ich mit?“
 

„Es heißt ‚Darf ich mit’. Und nein, du darfst nicht.“
 

„Warum nicht?“
 

„Weil du noch ein Kind bist und tun musst, was ich sage. Wenn du ein…äh, inoffizieller beratender Detektiv werden willst, musst du schon warten, bis du volljährig bist. Fürs Erste wirst du hier bei Mrs. Hudson bleiben und mit deinem Spielzeug spielen und ein Nickerchen machen und Dinge tun, die normale Dreijährige tun.“
 

„Eine sehr gründliche Erklärung, Doktor“, bemerkte Holmes lächelnd.
 

„Ich wäre dir sehr dankbar, Holmes, wenn du in dieser Sache freundlicherweise auf meiner Seite wärst.“
 

„Aber das bin ich, das bin ich! Mein lieber John Sherlock, dein Vater hat Recht. Es gibt noch so vieles, was du zu lernen hast, bevor du auch nur an Feldstudien denken kannst!“
 

Ich stöhnte tief und herzergreifend. Das verstand er unter ‚auf meiner Seite’?
 

„Aber Onkel“—jammerte der Junge. „Das ist nicht…ähm, logisch. Ich würde besser im Edduzieren sein, wenn ich gleich anfinge. Bring Papa dazu, dass er mich mitkommen lässt! Du würdest mich lassen!“
 

Zum mindestens dritten Mal in ebenso vielen Tagen, war ich an dem Punkt, an dem ich meine Befürchtungen, meine Verwirrung und vor allem meinen Zorn Oberhand gewinnen ließ. Ohne mir überhaupt klar zu sein, was ich tat, schlug ich mit der Faust so fest auf die Tischplatte, dass das Silber klirrte. „Hör auf!“, rief ich. „Josh, das ist genug! Ich habe bereits gesagt, dass du nicht mit uns kommst! Und dabei bleibt es, Junge, hast du verstanden?“
 

Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ja, Sir“, flüsterte er.
 


 

„Ich glaube, du warst etwas zu grob“, sagte Holmes, als wir eine Kutsche zu Bullards Büro bestiegen.
 

Beinahe hätte ich darüber gelacht. Ich weiß nicht, wie oft ich in der Vergangenheit diesen Satz benutzt habe, um zu beschreiben, wie er mit anderen umging. Erst heute morgen bei Elizabeth Bishop. „Holmes, du musst das verstehen“, sagte ich. „Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Josh ordentlich erzogen wird“—
 

„Und nicht so wird wie ich.“
 

„Das hab ich nicht gesagt!“
 

Er lächelte wieder, aber diesmal war es wehmütiger und währte länger als sein normales blitzschnelles Grinsen. „Hast du nicht?“
 

„Nein, hab ich nicht – oh, um Himmels Willen, Mann, wir haben mehr als genug zum Nachdenken – du diesen Fall und ich zahllose andere Dinge. Lassen wir das erstmal. Was meinst du?“
 

Er klopfte mit seinem Stock an die Decke der Kutsche und sprang aus der Tür, noch bevor die Pferde tatsächlich anhielten. Dem Fahrer das Geld zuwerfend drehte er sich zu mir um „Du hast Recht, Watson. John Sherlock ist dein Kind. Du musst ihn erziehen, wie du es für richtig hältst. Und was das erstmal angeht – damit hast du auch Recht. Der Fall erfordert meine volle Aufmerksamkeit. Und von dir Stift und Notizbuch. Wir sollten uns beide auf die Fakten konzentrieren und nicht auf diese familiären Hypothesen.“
 

Er drehte sich um und floh ins Gebäude, ohne meine Antwort abzuwarten. Wofür ich ihm ohne Zweifel ausgesprochen dankbar war, denn alles was ich tun konnte, war im hektischer werdendem Londoner Morgenverkehr zu stehen und den Kopf zu schütteln. Entweder hatte er nicht verstanden, oder er wollte es nicht. Aber was sollte ich tun? Ich verstand es doch selbst nicht.
 


 

Mr. Ambrose Bullards Arbeitsplatz war in Kensington und er musste zumindest einigermaßen erfolgreich als Solicitor gewesen sein, denn sein Büro war privat und geräumig, übersäht von teuren Gemälden des letzten Jahrhunderts und elisabethanischen Möbeln. Tatsächlich glich es viel eher einem Museum als einem Büro und ich fragte mich kurz, wie er sich das wohl alles leisten konnte.
 

Ich hatte gedacht, dass er uns vielleicht nicht empfangen würde, da wir keinen Termin hatten und ich bezweifelte, dass Elizabeth Bishop ihm von uns berichtet hatte. Ein Portier schickte uns allerdings direkt und ohne irgendwelche Einwände hinein.
 

„Kommen Sie nur herein, meine Herren“, sagte er und deutete auf einige Stühle. „Und bitte setzen Sie sich. Wenn Sie Freunde von Elizabeth Bishop sind, sind Sie mit Sicherheit auch meine Freunde.“
 

Bullard war ein großer Mann, besonders im Gesicht und um die Mitte herum. Gerade erst aus seinen besten Jahren heraus, würde ich sagen. Sein Kopf zeichnete sich durch einen bemerkenswerten Mangel an Haaren und einen dichten Schnurrbart aus. Seine Augen ließen auf Intelligenz und Sinn für Humor schließen, sein eleganter, mit Samt und Seide gefütterter Anzug auf Erfolg. Auch wenn dieser schon durch das teure Büro offensichtlich war. Alles in allem wirkte er wie ein normaler Gentleman der Oberschicht, auf dessen Wort man vertrauen konnte. Aber andererseits sollte ich solche Überlegungen wohl meinem Freund überlassen, dessen scharfer Verstand zweifellos viel mehr entdeckte.
 

„Ich werde mich kurz fassen, Mr. Bullard“, sagte Holmes, während er sich auf einen ledernen Sessel setzte und sich ohne zu fragen eine Zigarette anzündete. „Da Ihnen Ihre Zeit mit Sicherheit ebenso kostbar ist, wie mir die meine. Ich bin Sherlock Holmes und ich wurde von Miss Elizabeth Bishop engagiert, um den Mord an ihrem Vater aufzuklären. Oh, und das ist mein Kollege, Dr. Watson.“
 

In Situationen wie dieser bin ich oft ratlos, wen ich beobachten soll – Holmes oder die Person, die er befragt. Beide zeigen faszinierende Reaktionen – nur zu oft auf die unschuldigsten Fragen oder Erwiderungen. Damals allerdings hatte ich mich für Mr. Bullard entschieden. Zuerst saß er ruhig an seinem Schreibtisch, die dicken Finger lässig auf der Tischplatte gefaltet. Aber seine Reaktion auf Holmes Worte war eine der bemerkenswertesten, die ich jemals gesehen hatte. Sein Gesicht verlor augenblicklich alle Farbe und jene fahlen Augen, die mich auf Intelligenz schließen ließen, wurden so groß wie Melonen. Ein unerfindliches Geräusch entkam seiner Kehle. Für einen Moment dachte ich wirklich, er würde eine Art Anfall oder sogar einen Herzinfarkt bekommen. Ja, ich sprang sogar auf die Füße, um ihm zu helfen. Holmes jedoch packte mich am Arm, um mich zurückzuhalten. Ich war mir nicht sicher, ob ihm die Tatsache, dass Bruce Bishops Tod aufgeklärt werden sollte, oder die bloße Erwähnung des Namens Sherlock Holmes, diese Reaktion entlockt hatte.
 

„Stimmt etwas nicht, Mr. Bullard?“, erkundigte er sich mit offensichtlichem Misstrauen.
 

„Ähm…“ Bullards Blick wand seinen Blick direkt auf meinen Freund. Die Farbe kehrte langsam in sein Gesicht zurück und färbte es hochrot. „Ich…Sie müssen mich entschuldigen, meine Herren. Es ist nur…nun, ich dachte Lizzie…Miss Bishop…hätte endlich akzeptiert, dass Tom Kingston der Täter ist.“
 

„Dann halten sogar Sie Kingston für schuldig?“, fragte ich.
 

„Nun, ich will es nicht glauben. Ich stehe der Familie Bishop seit Jahren sehr nah, wie Elizabeth Ihnen zweifellos erzählt hat. Ich hielt Kingston immer für einen vorbildlichen Arbeiter, gutherzig, höflich…sogar charmant. Aber dieser Polizist – Clayton, wenn ich mich nicht irre – hat ihn verhaftet. Und dafür muss es doch sicherlich einen Grund geben.“
 

„Ja. Natürlich“ Sein Tonfall sagte mir sofort, dass er Bullard nicht glaubte. Vielleicht traf das, was er früher gesagt hatte, eben doch genau den Punkt. Dieser Mann war wirklich ungewöhnlich. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Bullard, erzählen Sie mir doch bitte, wie Sie mit der Bishopfamilie in Kontakt kamen.“
 

„Nun, Mr. Holmes…ich kannte Bruce Bishop schon mein ganzes Leben lang. Sehen Sie, unsere Väter waren Kindheitsfreunde, auch wenn seiner ein Fischer war und meiner ein erfolgreicher Solicitor. Ihre beiden Söhne schlugen jeweils denselben Berufsweg ein. Unsere Väter blieben auch als Erwachsen noch befreundet und Bruce und ich lernten uns bereits sehr früh kennen. Er ist…war mein engster Freund. Und auch als die ganze Welt ihn für tot hielt, brach ich den Kontakt zu Catherine, äh…Lady Hilton-Bishop, und den Kindern nicht ab. Als Bruces Freund hielt ich es für meine Pflicht für sie zu sorgen. Wir waren für einander schon immer der Bruder, den weder er noch ich jemals hatte.“
 

„Es kommt mir“, sagte Holmes und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Doch recht seltsam vor, dass er selbst ihnen als seinem Bruder niemals ein Lebenszeichen gab. Finden Sie nicht auch?“
 

„Aber er tat es nicht, Sir!“, rief Bullard. „Nur Bruce weiß warum. Trotzdem kann ich Ihnen versichern, dass auch mir diese ganze…Situation grotesk und verwirrend vorkommt.“
 

„Und Sie haben ihm nie die Frage gestellt, warum er zurückkehrte? Oder überhaupt gegangen ist?“

Bullard begann sich auf seinem Stuhl zu winden. Sein Blick ließ vermuten, dass er seine Einladung am liebsten zurückgenommen hätte. „Ich werde Ihnen dies erzählen, meine Herren, weil ich sicher bin, auf Ihre Verschwiegenheit zählen zu können. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn eines seiner Kinder davon wüsste.“
 

„Sie können sich auf mein Wort verlassen“, antwortete Holmes. „Und auf das von Dr. Watson ebenfalls.“
 

„Gut“, sagte er und lehnte sich vor. „Sie sollten wissen, dass Bruce in jeder Hinsicht ein guter Mann war, der seine Frau und seine Kinder wirklich liebte. Eine Sache jedoch liebte er noch mehr. Und das war seine Freiheit. Als er Catherine kennen lernte, dachte er, ihre Liebe wäre stark genug, um den Schmerz über den Verlust seiner Freiheit wieder aufzuwiegen. Aber schlussendlich reichte es nicht. Seine Liebe für das Meer und ein Leben, ohne jemandem Rechenschaft zu schulden, war stärker. Ich hoffe Sie verstehen, warum ich nicht will, dass Lizzie oder Dicky davon erfahren. Sie haben sehr viel durchgemacht und ich will nicht, dass sie glauben, ihr Vater hätte sie aus irgendwelchen fragwürdigen Gründen verlassen. In Wahrheit liebte er die beiden sehr.“
 

„Aber die plötzliche Rückkehr? Wollen Sie mir erzählen, es sei ein bloßer Zufall, dass er genau im günstigsten Moment zurückkehrte – schließlich hätte er, wenn er nicht ein vorzeitiges Ende gefunden hätte, schon bald den gesamten Hiltonbesitz geerbt, nicht wahr?“
 

„Bruce wollte nicht darüber reden“, behauptete Bullard. „Aber es ist wirklich nicht möglich, dass er von Lady Catherines Testament wusste. Es muss einfach ein Zufall sein, nicht wahr, Mr. Holmes?“
 

„Mr. Holmes glaubt nicht an Zufälle“, sagte ich.
 

Holmes Blick verriet mir sofort, dass meine Worte ein Fehler gewesen waren. „Aber welche andere Erklärung kann es dafür geben?“, fragte der Solicitor.
 

„Wir werden sehen. Alles zu seiner Zeit, würde ich sagen. Nur noch eine letzte Frage, Mr. Bullard. Wenn Bishop wirklich verschwand ohne jemanden einzuweihen, und das auch sechs Jahre lang so blieb, wovon hat er Ihrer Meinung dann gelebt?“
 

„Nun ja…das ist einfach zu beantworten. Als Bruces Vater vor ungefähr zehn Jahren starb, hinterließ er seinem einzigen Kind etwas Geld. Nicht viel, aber Bruce hatte wenige Laster. Selbst als Hausherr von Black Bishop blieb er ein einfacher Mann. Ich habe das Testament damals bearbeitet und denke, die Summe hätte für meinen Freund einige Jahre lang gereicht.“
 

Holmes’ Gesicht erhellte sich. „Haben Sie eine Kopie des Testaments?“
 

„Nun…irgendwo sicherlich. Es wäre eine ziemliche Arbeit, es zu finden. Ist es notwendig für Sie es zu sehen?“
 

„Oh, nein, nein…Ich bin sicher, das hat alles seine Richtigkeit“ Er sprang auf die Füße. „Das wird fürs erste genug sein, Mr. Bullard. Sie stehen mir bei weiteren Fragen doch sicher wieder zur Verfügung?“
 

„Oh, aber natürlich, Mr. Holmes. Entweder hier oder in Black Bishop.“ Er streckte seine Hand aus.
 

Doch Holmes würdigte ihn kaum eines zweiten Blickes, sondern zerrte mich kurz am Ärmel und hastete zur Tür. „Dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag. Komm, Watson, wir müssen einen Zug erwischen!“
 


 

Es war eine dreistündige Zugfahrt von Charing Cross nach Dartmoor Station und ich muss zugeben, mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, eine so lange Zeit in dem Zugabteil zu verbringen…allein mit Holmes. Früher hätte ich mir über so etwas, niemals den Kopf zerbrochen. Wir hätten uns während der Fahrt in Schweigen gehüllt: ich vertieft in eine Zeitung oder in die vorbeiziehende Landschaft und er versunken in der Welt seiner Gedanken – einer Welt, die selbst mir verschlossen war. Aber das störte mich nie. Zwei Männer, die so viel Zeit miteinander verbrachten wie wir, sollten nicht auf unbedeutendes Geschwätz angewiesen sein, und das waren wir auch nicht. Aber diesmal war es anders. Anders wegen allem, was geschehen war. Mein Gespräch mit Parks…mein entsetzlicher Traum…Holms Violinenspiel. Herrgott, wie sollte ich das nur aushalten? Und dann zu allem Überfluss auch noch diesen außergewöhnlichen Fall?
 

Dazu kam noch die Tatsache, dass ich ihn in den letzten Wochen kaum gesehen hatte. Er hatte wesentlich mehr Zeit mit Josh verbracht als ich. Und das war meiner Meinung nach das Verwirrendste von allem. Es beschäftigte mich mehr, als es sollte. Fürchtete ich tief im Inneren, dass Parks vielleicht doch Recht haben sollte mit dem, was er über Holmes gesagt hatte? Oder lag es daran, dass ich das Bild dieser kleinen pummeligen Hände übersäht mit gelben und roten Flecken nicht mehr vergessen konnte? Ich hatte Holmes sehr gern, aber er war einzigartig; ein Phänomen. Und so sollte es auch sein. Ich wollte nicht, dass mein Sohn manche seiner Weltanschauungen übernahm. Er war mein Sohn. Mein Protegé.
 

„Holmes“, begann ich, als der Zug an Geschwindigkeit gewann und unter vollem Dampf nach Südosten brauste. „Ich weiß, dass wir gerade viel über den Fall erfahren haben und dass du Ruhe benötigst, um dieses Durcheinander von Informationen zu ordnen, aber es gibt etwas, über das ich mit dir sprechen will und nun da wir allein sind…“
 

Seine Augen öffneten sich und er wand sich mir verärgert zu. „Was ist es?“
 

„Also, ich will nicht, dass du mich für undankbar hältst, aber…nun ja“, meine Stimme versagte. Ich konnte es ihm nicht sagen. Der Anblick, wie er da saß mit diesem arroganten Gesichtsausdruck, den ich geduldiger ertrug, als es wohl die meisten getan hätten, tja…ich machte mir immer noch Sorgen über die ganze Situation. Diese offenen Gefühlsausbrüche, die er seit seiner Rückkehr hin und wieder hatte. Mein Verstand – ganz zu schweigen von meinen Nerven – konnten einfach nicht noch einen davon ertragen. Alles was ich sagen konnte war: „Ich…äh, ich überlege, ob ich mir ein paar Monate frei nehmen soll. Von meiner Praxis, meine ich. Ich habe es schon mit James Parks besprochen und er stimmte zu, mich zu vertreten.“
 

„Und was genau lässt dich vermuten, ich würde dich deshalb für undankbar halten?“ Seine Augen verengten sich misstrauisch und verstanden zweifellos besser, was ich mit meinen Worten meinte, als ich selbst.
 

„Nun…so habe ich das nicht gemeint“, Ich räusperte mich und wünschte, ich wäre nicht hier mit ihm gefangen. Ich sah aus dem Fenster und tat so, als entwickle ich plötzliches Interesse an dem näher rückenden Moor.
 

Holmes’ Augen schlossen sich wieder und er ließ sein Kinn auf die Brust sinken. Für einige Momente blieb er still. Dann plötzlich kehrte wie durch einen plötzlichen Stoß geistiger Energie das Leben in ihn zurück. „Das ist wirklich eine gute Idee, weißt du.“
 

„Was meinst du?“
 

„Deine Praxis zu verkaufen, alter Junge! Es trifft sich, dass ich einen Kerl kenne, der auf der Suche nach einer recht erfolgreichen und etablierten Praxis ist. Es hatte den Anschein, als wäre er zu einem großzügigen Angebot bereit.“
 

Es schien ihm so ernst zu sein, dass ich sicher war, er sei nicht bei Sinnen. „Hast du den Verstand verloren?“, fühlte ich mich gezwungen zu fragen. „Ich kann meine Praxis nicht verkaufen! Wovon soll ich dann bitte leben? Sicher nicht von meiner Kriegsrente. Damit könnte ich mir kaum die Miete der Baker Street leisten! Und was ist mit James Parks? Erwartest du wirklich, dass ich ihn einfach rauswerfe nach allem, was er für mich getan hat?”
 

Ich kannte das seltsam durchdringende Glühen auf seinem farblosen Gesicht, ebenso den fest geschlossenen Mund, die verschränkten Finger, den ruckartig wechselnden Gesichtsausdruck…es war ein vertrauter Anblick. Dieser Ausdruck von Endgültigkeit. Für ihn hatte ich bereits zugestimmt, denn er konnte keinen Fehler in seinen Folgerungen finden. „Mein lieber Freund“, begann er sein Argument. „Es ist lächerlich einfach. Die Tatsache, dass ich so viel Zeit mit dem kleinen John Sherlock verbringe, setzt dir zu. Aber, aber, es ist zwecklos, das Offensichtliche zu leugnen! Hältst du mich wirklich für so naiv, dass ich nichts von dem Klatsch über uns wüsste? Komm schon, Watson!“
 

„Ich kümmere mich nicht um dieses leere Geschwätz. Sollen sie doch sagen, was sie wollen…und wenn ich Lust dazu haben, verklage ich sie wegen Verleumdung und Rufmord. Aber das alles hat nichts mit dem Verkauf meiner Praxis zu tun. Du hast noch nicht einmal begonnen, mich davon zu überzeugen, dass es die einzig…logische Schlussfolgerung ist.“
 

Meine Worte wurden mit der Andeutung eines Lächelns belohnt. Er glühte vor Vorfreude darauf, mich zu überzeugen, während er sich weiter nach vorn lehnte und die Fingerspitzen vor seinem Gesicht aneinanderlegte. „Mir ist klar“, sagte er. „Dass dein Hauptargument die Tatsache ist, dass du dir ohne den Profit aus deiner Praxis deinen Lebensunterhalt nicht mehr leisten kannst, korrekt?“
 

„Vermutlich, aber“—
 

„Nun ja, diesem Problem kann leicht Abhilfe geschaffen werden! Du verkaufst deine Praxis und kannst mich dadurch ständig begleiten, wann immer ich dich brauche, machst natürlich weiterhin deine Aufzeichnungen über die Fälle und dafür geht die Hälfte der Honorare unserer Klienten an dich“
 

Was mich dabei am meisten überraschte – und es sei Ihnen versichert, dass ich bei fast jedem seiner Worte unwillkürlich scharf Luft einsog – war das er unsere Klienten gesagt hatte. Nein, das konnte nicht stimmen. Sie waren seine Klienten. Er war der einzige inoffizielle beratende Detektiv. Der Meister. Ich war nur James Boswell[1]. Dr. John Watson, der Biograph von Sherlock Holmes. Und plötzlich redete er, als seien wir ein Team. Selbst dann ein Team wenn es zu den eigentlichen Geheimnissen kam. Ein Teil von mir war tief berührt von dieser Gefühlsseligkeit, aber ein anderer Teil… „Hast du gerade wirklich gesagt, du würdest mich bezahlen, damit ich meine Praxis verkaufe? Und dir assistiere? Habe ich dich das tatsächlich gerade sagen hören?“
 

Da war wieder dieses Grinsen. „Wenn nicht, kann ich dir einen guten Audiologen empfehlen, mein Freund.“
 

„Aber warum solltest du so etwas tun?“
 

„Um mir deine Kooperation zu sichern natürlich. Du weißt, ich bin angewiesen auf deine…“ Er brach ab und für einen Moment hatte ich keine Vorstellung, was er nun sagen würde. „Moralische Unterstützung. Geschweige denn deine Kameradschaft. Diese Fälle scheinen mir wirklich leichter zu fallen, wenn ich dich habe, um mit dir meine Schlussfolgerungen zu besprechen.“ Er musste den Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkt haben, denn er fügte eilig hinzu: „Das ist lediglich eine geschäftliche Vereinbarung zu unserer beider Nutzen, Watson, sonst nichts.“
 

„Ach, wirklich?“
 

„Natürlich…was hast du denn gedacht?“
 

Er wollte nicht wissen, was ich gedacht hatte. „Holmes…“, begann ich. „Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Das ist ein wirklich großzügiges Angebot…und lukrativ obendrein. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich das annehmen könnte. Außerdem gibt es da zunächst noch etwas anderes zu bedenken. Ich darf Parks in dieser Sache nicht vergessen. Das bin ich ihm schuldig.“
 

„Dein Kollege wird bleiben dürfen, für ihn wird sich nichts ändern.“
 

„Aber…woher willst du das wissen?“
 

Er warf die Arme in die Luft und rief: „Ich habe dir doch gesagt, dass ich an alles gedacht habe, auch an deinen Assistenten Doktor Parks. Es wäre völlig unlogisch, wenn du dieses Angebot ausschlagen würdest. Das Geld, das du für die Ordination bekommen würdest, zusammen mit dem, was ich dir zahlen würde – wenn auch nicht regelmäßig – würde einen beträchtlichen Anstieg deines Jahreseinkommen bedeuten. Und da ist natürlich noch der Bonus, dass du mehr Zeit mit deinem Sohn verbringen könntest und…mich im Auge behalten.“
 

Der erste Gedanke, der mir nach dieser letzten Aussage durch den Kopf schoss, war, dass dies die Gerüchte über uns mit Sicherheit noch verstärken würde. Ich konnte beinahe schon die Schlagzeile sehen. John Watson gibt Praxis auf, um mehr Zeit mit dem seltsamen alten Detektiv Sherlock Holmes zu verbringen. Nun, ich schätze, das zeigt, wie irrational meine Gedanken damals waren. Aber es war nicht einmal so sehr der Klatsch, der mich beschäftigte. Es war die Tatsache, dass ich mein ganzes Leben gelernt hatte ein Doktor zu sein. Ich war ziemlich jung gewesen, als ich entschied, mein Leben dem Heilen zu widmen. Ich hatte einen Krieg erlebt, zahlreiche Epidemien, hatte den Tod in beinahe jeder möglichen Form gesehen und zahllose Leben gerettet, wenn ich das sagen darf. Konnte ich wirklich das alles für diesen Mann aufgeben? Einfach für mehr Geld und mehr Zeit? Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich mein Gekritzel nur als kleines Hobby gesehen, sonst nichts. Konnte ich wirklich in Erwägung ziehen, einen Beruf daraus zu machen?
 

„Ich…ich bin mir nicht sicher, alter Freund. Halte mich nicht für undankbar, aber das kann ich wirklich nicht sofort entscheiden, so von einem Augenblick auf den nächsten. Lass uns bis nach dem Fall warten, wenn wir nicht mehr so…abgelenkt sind, und dann werde ich dir meine Antwort geben. Außerdem glaube ich, dass du auch noch mal darüber nachdenken solltest. Ich meine, die Hälfte deines Einkommens…“
 

„Ach, Watson, aber ‚die Anmaßung des Reichtums wird hervorquellen’[2]. Aber ich neige eher zu Matthäus: ‚Denn euer Herz wird immer dort sein, wo ihr eure Schätze habt’[3]. Der garantierte Erfolg mit meinem Biographen und Kollegen, bringt mir wesentlich mehr Profit als das Risiko, das zu verlieren, was mir so behaglich und vertraut ist.“
 

„Nun…“
 

Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und er offensichtlich auch nicht. Also saßen wir wieder einmal in Schweigen, während das trostlose Moor immer näher rückte. Es war so viel gesagt worden. Aber da war noch viel mehr, was verschwiegen worden war.
 

Nach mehreren schrecklichen Momenten brach mein alter Freund das Schweigen. „Denkst du, dass du jemals wieder heiraten wirst?“, fragte er völlig unerwartet.
 

„Ich…wie zum Teufel kommst du plötzlich auf so was?“
 

Er musste erkannt haben, wie seltsam seine Frage geklungen hatte oder er hatte zumindest die Überraschung auf meinem Gesicht gesehen. Ich konnte fühlen, wie sich meine Augen weiteten. Warum sollte er mich so etwas fragen? Er könnte kein…ganzer Mann sein…in dieser Hinsicht. Nein, das konnte nicht der Grund dafür sein.
 

„Ich wollte lediglich das Gespräch am Laufen halten…und wissen, ob ich mich nach einem neuen Mieter für dein Zimmer umsehen sollte.“
 

Schnaubend wand ich meinen Blick wieder aus dem Fenster. Er mochte mit Leichtigkeit lügen und betrügen, wenn es ihm gefiel und wenn es notwendig für einen Fall war. Aber nicht mir gegenüber. Nicht wenn es um so etwas ging. Dazu kannte ich seine Gedankengänge zu gut. Zumindest hoffte ich das. Aber da ich nicht in Stimmung für solche Überlegungen war, entschied ich mich im Zweifel für den Angeklagten.
 

„Nein“, sagte ich. „Das werde ich nicht. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen – über mein …Zimmer“
 

Er nickte und beließ es dabei. Ich war ihm unglaublich dankbar, dass er mich nicht fragte, warum ich niemals wieder heiraten würde. Das war ein Thema, für das ich noch nicht bereit war. Etwas drückte auf meine Kehle und ich fühlte mich, als müsste ich ersticken. Wie könnte er so etwas fragen? Und wie könnte ich ihm verraten, warum ich es niemals könnte? Es war nicht so sehr, dass ich mich Mary untreu fühlen würde, wenn ich es täte…nein, es war etwas anderes. Schuld, denke ich. Schuld über die Tatsache, dass ich sie getötet hatte. Der Grund, warum sie in jenem Bett lag, verblutete, ohne dass ich ihr auch nur beigestanden hatte, war, weil ich sie geschwängert hatte. Logik spielte damals in meinen Gedanken keine Rolle. Das einzige, woran ich denken konnte, als der Zug langsam in Dartmoor Station einlief, war, dass ich Schuld am Tod meiner Frau hatte. Warum hatte er mich daran erinnern müssen?
 


 

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[1] In „Skandal in Böhmen“ erklärt Holmes Watson, ohne seinen Boswell sei er verloren. James Boswell war der Biograph von Samuel Johnson.
 

[2] Ironischerweise Samuel Johnson in Boswells ‚Life of Johnson’ (Original: “The Insolence of Wealth will creep out”)
 

[3] Matthäus 6:21 (Original: “Where your treasure is, there will your heart be also”)

Hier ist nun also das 8. Kapitel, das einige Entwicklungen mit sich bringt, und zwar in meherelei Hinsicht.

Viel Vergnügen!
 

Nach Zwischenstopps in Salisbury und Exeter lief der Expresszug kurz nach vier in Dartmoor Station ein. Miss Bishop erwartete uns mit einer Kutsche und ihrem Gespann. Ein wundervolles Gespann, will ich anmerken, zwei makellose, glänzende Füchsen. Sie tänzelten auf dem Boden und ihre Ohren zuckten mit der nervösen Energie außergewöhnlicher Zucht. Immerhin brachte Black Bishop hervorragende Pferde hervor.
 

„Mr. Holmes! Dr. Watson!“, rief sie zu und winkte aufgeregt, während wir uns unseren Weg durch das Getümmel bahnten. Sie dort mit den Zügeln in der Hand sitzen zu sehen, war etwas überraschend. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine Frau gesehen zu haben – von einer Lady ganz zu schweigen – die ihre eigene Kutsche fuhr. Allerdings wurde mir sofort klar, dass sie ebenso nervös war wie ihre Pferde. Ihr schönes Gesicht war gerötet und ihre Stimme voller Erregung.
 

„Oh, Mr. Holmes!“, sagte sie, sobald wir etwas näher gekommen waren. „Sie haben es getan! Ich wusste natürlich, dass sie es tun wollten, aber ich kann es immer noch nicht glauben! Es muss eine Erklärung dafür geben!“
 

„Versuchen Sie Ruhe zu bewahren, Miss Bishop“, sagte Holmes und kletterte neben ihr auf den Kutschbock. „Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie hysterisch sind. Also was ist passiert?“ Mein Freund sprach so sanft…so menschlich und er griff sogar nach ihrer Hand, um sie beruhigend in seiner zu halten, eine Geste, die in meinen Augen seine frühere Unhöflichkeit zu ihr wieder aufwog.
 

Sie holte zitternd Atem und nickte. „Vergeben Sie mir, meine Herren. Es war ein harter Tag. Aber wir haben immer noch eine einstündige Fahrt vor uns. Wir sollten vielleicht aufbrechen, bevor ich Ihnen erzähle, was geschah, als ich heute Nachmittag nach Hause kam“ Sie zog an den Zügeln und die Füchse galoppierten begierig in Richtung Black Bishop.
 

Als wir uns von der Bahnstation und damit auch von der Zivilisation abwandten, geradewegs in die trostlose Gegend von Dartmoor hinein fuhren, begann Miss Bishop zu erzählen: „Inspektor Clayton erwartete mich, als ich in Black Bishop ankam. Als Erstes bemerkte ich, dass Tom…Mr. Kingston nicht da war. Der abscheuliche Inspektor erzählte mir prahlerisch, er würde ihn im Gefängnis von Dartmoor festhalten. Abgesehen von dem Streit mit Vater, gäbe es nun noch weitere Beweise.“
 

„Welcher Art sind diese neuen Beweise?“, fragte Holmes.
 

„Die Tatwaffe, Mr. Holmes. Ein Polizist, der das Anwesen bewacht hatte, behauptete, er hätte frisch umgegrabene Erde in einem abgelegenen Bereich nahe den Ställen bemerkt. Er wühlte zuerst mit dem Absatz seines Stiefels, dann mit den Händen und entdeckte schließlich ein blut- und dreckverkrustetes Messer – ein Jagdmesser mit kurzem Heft und gezackter Klinge. Mr. Kingston gab anscheinend zu, dass es ihm gehörte und dass er sogar mehrere dieser Art besäße. Deshalb hat Mr. Clayton ihn festgenommen.“
 

„Also ist dieses Messer als Tatwaffe, und die Tatsache, dass Mr. Kingston ein Motiv, den Streit mit Ihrem verstorbenen Vater, hatte, alles, was Clayton gegen ihn in der Hand hat?“
 

„So viel ich weiß, ja.“
 

Der Triumph stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Mit einem Gesichtsausdruck, als sei der Fall bereits gelöst, kletterte er zu mir nach hinten auf die Passagiersitze. Er verzog seinen Mund zu etwas, von dem ich mir nicht sicher war, ob es ein selbstsicheres Grinsen oder ein Zeichen von Ärger war. „Dann besteht kein Grund mehr zur Sorge, Miss Bishop. Ihr Mr. Kingston ist völlig schuldlos. Und bei Zeiten werde ich das auch der Polizei beweisen könnten.“
 

„Holmes“, flüsterte ich und ergriff ihn am Arm. „Hältst du es nicht für unklug, der Lady solche Versprechungen zu machen? Es scheint mir, Inspektor Clayton könnte mit seiner Inhaftierung auch Recht gehabt haben. Thomas Kingston hat nicht nur kein Alibi sondern auch noch ein Motiv. Und nun gibt er auch noch zu, Eigentümer der Mordwaffe zu sein! Das ist alles sehr belastend.“
 

„Nicht im Geringsten“, erwiderte mein Freund. „Tatsächlich befreit genau die Sache mit dem Messer ihn von jeglichem Verdacht. Überleg doch mal, Doktor. Welcher klar denkende Mann würde bei einem vorsätzlichen Mord wie diesem eine Waffe wählen, die so eindeutig auf ihn hindeutet? Und außerdem was für ein Mann würde besagte Waffe ausgerechnet beim Stall verstecken, wenn er als Pferdepfleger dort ständig aus und ein geht? Und mehr noch würde dieser Mann wirklich die Nacht des Streits wählen, um ihn zu ermorden? In dem Wissen, dass er damit sofort verdächtig wäre? Nein, nein. Das ist nicht logisch, Watson.“
 

„Also hast du den Verdacht, dass jemand Kingston das ganze anhängen will?“

„Noch habe ich gar keinen Verdacht. Aber nur keine Sorge, mein Freund. ‚Der Verdacht verfolgt stets den Schuldigen’[1] Ich werde den Täter nicht ungestraft lassen.“
 

Der Rest unserer Fahrt erfolgte recht schweigsam. Ich fühlte mich unwohl, so als hätte ich zumindest versuchen sollen, ein Gespräch mit Miss Bishop zu beginnen. Doch sie starrte nur eisern und unbeweglich nach vorn und trieb die Pferde immer weiter an. Ich wagte nicht, sie in ihren Gedanken zu stören. Und auch Holmes saß völlig still da. Er hatte das Kinn wie im Zug auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen und die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Körper schien reglos, fast schon steif. Ich wusste, dass sein Geist nun noch viel weiter von diesem schrecklichen Moor entfernt war, als ich es mir im Moment zu sein wünschte. Andere hätten wohl gedacht, er schliefe. Aber ich kannte ihn besser.
 

Also war es mir selbst überlassen, mir die Zeit zu vertreiben. Ich starrte in die schmutzigen Farben des Sumpfes, fühlte den Wind durch meine Ohren und über meinen Hals sausen, während eine – für diese Jahreszeit – viel zu warme Wintersonne trocken auf mich herab schien. Ich war seit beinahe einem Jahrzehnt, seit dem Fall der Baskervilles, nicht mehr in Dartmoor gewesen. Für mich war es ein gespenstischer Ort und das würde es auch immer bleiben. Ein Teil der Gründe dafür waren die schrecklichen Bilder riesiger Jagdhunde, die uns vom staubigen Pfad vertrieben. Über uns schien der Vollmond, aber alles was ich sehen konnte waren spitze, gelbe Fangzähne – bereit sich in meine Kehle zu vergraben. Ich versuchte diese Bilder mit einem Kopfschütteln aus meinen Gedanken vertreiben, aber konnte mich nicht davon abhalten, mir unwillkürlich über den Hals zu reiben. Es überraschte mich nicht, dass alles, was ich mir ausmalte, nur noch entsetzlicher Natur war.
 

Die frühere Hilton Grange, nun bekannt als Black Bishop, war wirklich ein Glanzstück barocker Architektur. Was noch davon unterstrichen wurde, dass es kaum mehr welche davon gab. Ich schätze es etwa aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts, vermutlich entworfen von Hawkmoor [2], mit all den erwarteten steilen Krümmungen und starken Linien, durch die sich das Haus an beiden Flügeln bis in die Ewigkeit fortzusetzen schien, bevor es plötzlich hervorsprang, was der Vorderseite eine beinahe versteckte, düstere Erscheinung verlieh. Das Dach, übersäht mit unzähligen Ornamenten, schimmerte in der Sonne wie Bronze. Tausende Fenster blickten auf uns herab. Das einzig Unerwartete war das Gemäuer selbst. Statt dem erwarteten schlichten, grauen Stein, war das Gebäude aus dunklerem Achatstein, wodurch die Fassade tatsächlich schwarz wirkte. Daher der Name.
 

Während ich versuchte den atemberaubenden Anblick dieses Anwesens, das praktisch direkt aus dem Moorboden zu wachsen schien, in mir aufzunehmen, stieß mich Holmes an und zeigte auf eine überdachte Kutsche, die direkt neben dem Eingang abgestellt worden war. Mein Freund machte Miss Bishop darauf aufmerksam. „Es scheint, Sie haben Gäste, Madame. Zweifellos die charmante, örtliche Polizei.“
 

Unsere Klientin zog an den Zügeln und die beiden Füchse wurden langsamer, bis sie schließlich ganz stehen blieben. „Clayton hat bereits Tom verhaftet. Warum also muss er meine Familie noch weiter mit seiner Anwesenheit belästigen?“
 

„Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Bishop“, sagte ich und sprang von der Kutsche. „Er wird Sie in Frieden lassen, dafür werden Holmes und ich schon sorgen.“
 

Sie belohnte mich mit einem sanften Lächeln. „Ich danke Ihnen, Dr. Watson. Aber das Beste, was sie tun können, um meinen Frieden zu sichern, ist, Ihrem Freund beim Finden von Vaters Mörder zu helfen. Lassen Sie sich von diesem… Idioten nicht ablenken.“
 

„Dieser Clayton muss wirklich ein widerlicher Kerl sein“, sagte ich zu Holmes. „Zumindest hält Miss Bishop sehr wenig von ihm.“
 

„Hm…“ Er inspizierte mit seinen scharfen Augen sorgfältig die Umrisse des Hauses. „Vielleicht. Aber vergiss nicht, dass sie auf diese scheinbare Ungerechtigkeit reagiert. Dieser Clayton hat den Mann verhaftet, den sie liebt. Es ist kaum möglich, jemanden unter diesen Umständen objektiv zu beurteilen.“
 

„Gut…vermutlich hast du Recht.“
 

„Selbstverständlich. Und jetzt komm, Watson. Wir müssen nun diesen berüchtigten Inspektor treffen.“
 

Wir hatten kaum einen Fuß ins Haus gesetzt, als wir beinahe von einem winzigen, kleinen Kerl über den Haufen gerannt worden wären. Ich kann aufrichtig und ohne schlechtes Gewissen sagen, dass er einer der seltsamsten Menschen war, der mir je unter die Augen gekommen ist. Er war wohl nicht mehr als fünf Fuß hoch, aber hatte eine breite Brust wie eine Bulldogge und ich schätzte sein Gewicht auf etwa vierzehn Stone[3]. Außerdem hatte er seltsam kurze Gliedmaßen, was sowohl Arme als auch Beine betraf. Sein Gesicht war ziemlich wettergegerbt und übersäht mit Pockennarben. Es war kein Bartwuchs zu sehen und er schien überhaupt recht wenig Haare zu haben, abgesehen von etwas Flaum über der so gut wie nicht existenten Oberlippe. In Wahrheit allerdings waren seine Augen das Außergewöhnliche an dieser Kreatur. Der Farbe nach waren sie braun, aber sie waren durchzogen von dicken Adern und ragten aus den übergroßen Augenhöhlen hervor. Seine Kleidung ließ mich sofort auf einen Polizeibeamten schließen, obwohl er keine Uniform trug. All die Jahre zusammen mit Holmes hatten meine Beobachtungsgabe geschärft.
 

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte er und warf Mantel und Melone zur Seite. Offensichtlich war auch er gerade erst angekommen. Die Stimme war nicht so hoch, wie ich aufgrund seines Äußeren vermutet hätte. Allerdings hatte er einen deutlich südlichen Akzent – die Art wie man ihn auf dem Land antraf. Auch wenn ich ihn mir nach Miss Bishops Aussagen wesentlich anders vorgestellt hatte, war mir sofort klar, dass wir nun dem ruchlosen Inspektor Clayton gegenüber standen.
 

„Das sind Privatdetektive aus London, Mr. Clayton“, lautete Miss Bishops schlichte Erklärung. „Mr. Sherlock Holmes und Dr. John Watson. Ich habe sie hierher gebeten, um den wahren Mörder meines Vaters zu finden.“
 

„Törichtes Mädchen!“, rief er aus. „Sie weigern sich immer noch, zu akzeptieren, dass Thomas Kingston der Täter ist! Nun, das ist typisch für eine Frau“, fügte er höhnisch hinzu.
 

„Achten Sie etwas mehr auf Ihren Tonfall, Inspektor“, erklärte Holmes ruhig. „Ich halte nichts von Männern, die so mit einer Lady umgehen. Wir sind nicht hier um Ihre Autorität zu untergraben. Mein Freund und ich halten uns hier auf Black Bishop als Gäste von Miss Bishop auf, das ist alles.“
 

Die Art, wie er es sagte, die Worte, die er gebrauchte – Ich wünschte sofort, ich hätte es schneller gesagt als er.
 

„Ha!“, rief Clayton. „Und Sie erwarten von mir wirklich, das zu glauben? Denken Sie wirklich, wir wären hier so weit von der Gesellschaft entfernt, dass wir nichts von Ihnen gehörte hätte? Von Ihrer…“
 

Größe…Geschicklichkeit…Perfektion…jedes dieser Wörter wäre angemessen, um Sherlock Holmes zu beschreiben. Allerdings hatte ich die größten Zweifel, dass wir eines davon aus dem Mund dieses Mannes hören würden. Und ich behielt Recht.
 

„Einmischung.“
 

Auch wenn es mich jedes Mal mit Zorn erfüllte, wenn es jemand wagte, Holmes Arbeit als bloßes Einmischen in die Untersuchungen der Polizei zu bezeichnen, bin ich davon überzeugt das Sie, werter Leser, es besser wissen. Jeder, der jemals das Privileg hatte, ihn tatsächlich bei der Arbeit zu beobachten, würde es niemals wagen so etwas anzudeuten. Und doch verärgerte es meinen Freund nicht. Die Meinung der Öffentlichkeit kümmerten ihn nur wenig. Aber mich erfüllte es mit einem so brennenden Zorn, dass ich das Verlangen verspürte, Clayton das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. Er hatte kein Recht dazu.
 

„Ihre eigene Meinung ist Ihr gutes Recht, Mr. Clayton“, erklärte Holmes gleichgültig. „Wenn sie allerdings so sehr von Thomas Kingstons Schuld überzeugt sind, dann verstehe ich nicht, wieso meine Anwesenheit sie so verärgern sollte.“
 

„Oh, ich bin nicht verärgert. Um die Wahrheit zu sagen, würde ich es sogar begrüßen Ihren Untersuchungen beizuwohnen. Es würde mir gefallen einer der wenigen richtigen Detektive zu sein, die erleben durften, wie sich Ihre Fantastereien in Rauch auflösen.“
 

„So, das reicht…“, rief ich und machte einen Schritt auf ihn zu.
 

Doch Holmes packte mich an der Schulter und schüttelte den Kopf. „Nein, Watson. Das ist es nicht wert. Miss Bishop, wären Sie bitte so freundlich mir das Zimmer Ihres Vaters zu zeigen. Ich würde gerne dort mit meinen Fantastereien beginnen.“
 

Elizabeth Bishop nickte und wir drei überließen Inspektor Clayton und zwei seiner Mitarbeiter ihrer eigenen Arbeit, was immer das auch sein mochte.
 

Sie führte uns durch die recht spärlich beleuchtete Eingangshalle und hinauf durch ein mit teuerstem französischem Marmor verkleidetes Treppenhaus. Portraits von Hiltons – sowohl vergangenen als auch gegenwärtigen – starrten mit den leeren Augen von Ölgemälden auf uns hernieder. Der Klang von Miss Bishops leichten, femininen Schritten und Holmes’ und meinen etwas mehr männlichen hallte als Echo von den Mauern des Anwesens wider. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einem solchen Ort zu leben. Er erzeugte in mir die Angst vor Mördern, die in jeder dunklen Ecke lauern konnten. Aber vielleicht waren auch daran nur meine Erinnerungen an Baskerville Hall Schuld. Die Ebenen von Dartmoor boten mir keinerlei Trost.
 

„Es ist sehr seltsam, Miss Bishop“, sagte Holmes, als wir einen langen Flur im Westflügel betraten, wo vor allem Schlafzimmer lagen. „Dass Sie in einem so großen Anwesen wie Black Bishop nur drei Diener beschäftigen. Vier, wenn man Mr. Kingston dazuzählt. Warum gibt es hier keinen Butler? Und keine Küchenmädchen?“
 

„Nun…dafür gibt es keine wirkliche Erklärung. Wir hatten früher ein Küchenmädchen, einen Gärtner und ein drittes Hausmädchen. Außerdem noch eine Gouvernante für meinen Bruder und mich. Aber über die Jahre verließen sie uns und Mutter fand es nie notwendig, sie zu ersetzen. Sie ist…nun ja, bevor sie so schwer krank wurde, war sie nicht die einfachste Arbeitsgeberin. Sie war schwer zufrieden zu stellen und ich fürchte, die meisten Diener fanden ihre andauernden religiösen Predigten unerträglich. Mrs. Oliver, unser Köchin, und Jane Merriweather, das erste Hausmädchen, haben schon fast mein ganzes Leben lang für Mutter gearbeitet und würden sie niemals verlassen. Anne Duncan, das zweite Hausmädchen, ist seit fünf Jahren bei uns und sie ist Mrs. Merriweathers Nichte. Was den Butler angeht…Vater sah darin nie eine Notwendigkeit. Ich weiß, dass es unwahrscheinlich scheint, dass sich so wenige Diener ordentlich um ganz Black Bishop kümmern können, aber es gibt so viele Teile des Hauses, die schon seit Jahren niemand mehr betreten hat. Es ist ein großes, trauriges Haus, Sir.“
 

„Ja…Sagen Sie mir, wenn Ihr Vater hier im zweiten Stock schlief, wo ist dann das Zimmer Ihrer Mutter?“
 

„Oh…Mutter schläft im Erdgeschoß, im Ostflügel. Sie verlässt den Raum niemals. Ein ortsansässiger Arzt aus Darby kommt zweimal pro Woche vorbei, um sie zu untersuchen. Ansonsten kümmern sich Richard und die Mädchen um sie.“
 

„Richard? Tatsächlich?“
 

Sie wirkte ein wenig beschämt. „Ich weiß, dass es ungewöhnlich ist…aber Mutter und ich standen uns nie wirklich nah. Sie zog mir meinen Bruder immer vor. Sie liebt ihn sehr und er sie ebenfalls. Er liest ihr die Bibel vor…spricht mit ihr…hilft ihr sogar beim Essen.“
 

Es gab einige Fragen in Bezug auf den Fall, von denen ich gedacht hätte, dass Holmes sie nun stellen würde, aber zu meiner großen Überraschung nickte er nur kurz und erwiderte schlicht: „Ich verstehe.“
 

Miss Bishop hatte Holmes einen großen Gefallen getan, indem sie den Raum offensichtlich ziemlich unberührt gelassen hatte. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt unmöglich zu sagen, welchen Schaden die Polizei angerichtet hatte. Was Dekoration anging, war das Zimmer mehr als nur spärlich eingerichtet. An der einen Wand stand ein geschlossener Kleiderschrank. Ein kleiner Schreibtisch, ähnlich einem Davenport, stand direkt unter dem Fenster. Er hatte allerdings keine Schubladen, und versteckte daher auch keine Papier oder andere Dokument, die uns hätten weiterhelfen können. Das einzige andere Möbelstück war ein Waschtisch mit einem Krug und einer Schüssel. Eine Spirituslampe stand auf einem kleinen Nachtkästchen. Es hingen keine Bilder an den Wänden. Es gab keinen Klingelzug und nicht einmal einen Vorleger auf dem Boden. Es war eine der kahlsten Räume, die ich je gesehen hatte.
 

Und dann war da natürlich das Bett des armen Kerls. Die Laken, ursprünglich jungfräulich weiß, waren nun auf immer getränkt mit großen Blutlachen. Ich kann nicht wirklich sagen, ob ich jemals so viel rot auf einmal gesehen habe, zumindest nicht seit dem Krieg. Und damals…das hier war anders. Ungeheuerlich. Das geronnene Blut hatte sich an manchen Stellen des Federbettes gelblich verfärbt und das eichene Bettgestell war mit unzähligen dunklen Flecken übersäht. Das Kissen konnte kaum mehr als ein solches bezeichnet werden. Es war kaum möglich, es überhaupt anzusehen. Kaum wahrnehmbar unter all dem Blut war darauf der verblasste gelbliche Abdruck eines Kopfes.
 

„Guter Gott“, murmelte ich. Ich hätte mir so etwas nicht in meinen düstersten Alpträumen ausmalen können. Ein solches Verbrechen war weit über meiner Vorstellungskraft. Und ich hatte im Laufe der Jahre viele grausame Dinge gesehen. Aber nicht so…wie dieser arme Kerl verendet sein musste…
 

Holmes’ Augen verengten sich sogleich zu silbernen Schlitzen. Ich vermute, dass er zweifellos in der Lage war, diesen Raum mit den Augen einer Maschine zu sehen, mit denen eines großen Logikers und nicht eines menschliches Wesen. Es gab Zeiten, da beneidete ich ihn um diese Fähigkeit.
 

„Sie werden erkennen, Mr. Holmes“, erklärte Clayton. Er war irgendwie aus dem nirgendwo aufgetaucht und lehnte nun an dem Türpfosten. „Dass dieses barbarische Verbrechen von einem starken Kerl begangen worden ist. Und dass er zweifellos sehr wütend war. Der einzige, der diesen Kriterien entspricht, ist Thomas Kingston.“
 

„Oh, ganz ohne Zweifel“, sagte Holmes lächelnd. „Darf ich Ihnen zu dieser sorgfältigen und raschen Festnahme gratulieren, Inspektor?“
 

„Mr. Holmes!“, rief Miss Bishop, aber ich erkannte seine List und ergriff ihre Hand. Sie drehte sich erschrocken zu mir, als ich ihr zuflüsterte: „Vertrauen Sie ihm.“
 

Aber Clayton wirkte skeptisch. „Soll das heißen, Sie stimmen mir zu, dass Kingston schuldig ist?“
 

„Ich habe…Ihnen gegenüber niemals behauptet, ich würde es nicht tun“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Allerdings halte ich Ihren Fall trotzdem noch nicht für völlig abgeschlossen. Ihnen fehlen Beweise.“
 

„Fehlen?“
 

„Ja…Sie haben kein Geständnis. Und das ist immer das eine wahre Beweisstück. Ich glaube ich könnte Ihnen eines besorgen. Wenn Sie mir morgen nur gestatten würden, den Gefangenen kurz zu sehen. Oh, und vielleicht könnte ich auch einen kurzen Blick auf die Leiche werfen…Morgenfrüh vor dem Begräbnis?“
 

Ich glaubte nicht, dass der Mann zustimmen würde. Er misstraute Holmes ganz offensichtlich und ärgerte sich über seine Anwesenheit. Aber mein Freund hatte schon härtere Nüsse geknackt als diese und ich setzte mein vollstes Vertrauen in seine Fähigkeiten.
 

Misstrauische dunkle Augen studierten ihn. „Ich glaube nicht, dass ich ein Geständnis brauche…es gibt auch so genug Beweismaterial. Allerdings denke ich nicht, dass Sie damit irgendwelchen Schaden anrichten könnten. Seien Sie vor sieben Uhr Morgens dort, Mr. Holmes, und ich werde sehen, was ich tun kann. Aber danach erwarte ich, dass Sie sich aus meinen Angelegenheiten und Ermittlungen heraushalten, Sir.“
 

„Aber natürlich“, sagte Holmes. „Natürlich.“
 

Er nickte langsam. „In Ordnung“ Wir hörten seine Schritte unten in der Halle und anschließend, wie die ganze Mannschaft sich auf den Rückweg zum Revier machte.
 

„Aber Sir! Sie glauben doch nicht wirklich…“
 

„Sie wissen, dass ich das nicht tue, Miss Bishop“, erwiderte Holmes, bevor sie auch nur ihre Frage beenden konnte. „Wie wir alle wissen, ‚erfindet die Polizei mehr als sie entdeckt’[4] Aber es war unumgänglich, dass Clayton denkt, er und ich seien einer Meinung. Ich könnte unmöglich alle Daten über diesen Fall sammeln, ohne die Leiche Ihres Vaters zu sehen. Und nun da wir das Unangenehme hinter uns haben, sollten ich damit beginnen demjenigen, der die Leiche gefunden hat, ein paar Fragen zu stellen. Das wäre dann?“
 

„Anne Duncan fand meinen Vater. Ich werde sie rufen.“
 

Das Hausmädchen, das zweite um genau zu sein, war ein großes, molliges Mädchen, hatte allerdings eine freundliche Ausstrahlung. Sie schien nicht sehr verstört ob dem Zustand von Bishops Zimmer, aber ich vermute, das sagt nicht sehr viel aus. Zweifellos hatten sich die Bewohner von Black Bishop nach vier Tagen mit der Realität abgefunden.
 

„Sie waren die Erste, die Ihren toten Herren entdeckt hatte, nicht wahr, Miss Duncan?“ Er deutete geistesabwesend auf den leeren Schreibtischstuhl, nachdem ich ihm einen tadelnden Blick zugeworfen hatte. Das war eine meiner unausgesprochenen Aufgaben bei Holmes. Darauf zu achten, dass er seinen Anstand nicht völlig vergaß, wenn seine Gedanken voll und ganz mit Daten verstopft waren. Normalerweise verschwendete er seine Zeit nicht mit solchen Belanglosigkeiten.
 

„Ja, Sir“, sagte das Mädchen. „Als er nicht zum Frühstück erschien, ging ich hinauf und klopfte an seine Tür.“
 

„Und dann?“
 

„Ich bekam natürlich keine Antwort, Sir. Im selben Moment, als ich Mr. Bishop zu Gesicht bekam, schrie ich und floh. Ich fürchte, es gibt nichts, was ich Ihnen erzählen könnte.“
 

„Das ist eine genaue Erklärung. Es ist die Leiche selbst, die mir erzählen wird, wie das hier geschehen ist. Allerdings gibt es da noch ein, zwei Punkte, die ich gerne klären würde. Zuerst einmal: Haben Sie in der Mordnacht irgendetwas gehört?“
 

„Nein, Sir“, erwiderte das Mädchen mit einem Kopfschütteln. „Weder ich noch Mrs. Merriweather haben irgendetwas gehört.“
 

Holmes seufzte und nickte. „Das habe ich mir gedacht. Zum zweiten: Ist alles in diesem Raum – soweit Sie es sagen können – so wie an jenem Morgen?“
 

Die Stirn des Hausmädchens legte sich in tiefe Falten. Ich verstand nicht wie Holmes erwarten konnte, dass diese Frau sich an solche Details erinnern würde. Gewöhnliche Sterbliche besaßen nicht sein genaues fotographisches Gedächtnis. „Holmes“, sagte ich und nahm ihn zur Seite. „Diese Frau hat bereits ausgesagt, sie sei sofort schreiend aus dem Zimmer gestürzt, als sie ihn erblickte. Und ich bin mir sicher, dass nicht einmal du ihr das übel nehmen kannst. Was glaubst du, kann sie in diesen paar Sekunden schon bemerkt haben?“
 

„Das werden wir sehen, Doktor, das werden wir sehen. Aber denk daran, dass Miss Duncan ein geübtes Hausmädchen ist. Miss Bishop zufolge steht sie schon seit fünf Jahren in ihren Diensten. Sie ist es gewohnt nachzusehen, ob alles an seinem Platz ist. Sie mag unwillkürlich Dinge bemerkt haben, ohne sich dessen bewusst zu sein.“
 

„Das Fenster, Sir!“, rief sie plötzlich. „Es ist mir bis zu diesem Moment entfallen, aber ich erinnere mich nun, dass es geöffnet war. Wahrscheinlich hat es jemand, vielleicht ein Polizist, geschlossen, aber ich bin sicher, dass es an jenem Morgen offen stand. Ich erinnere mich, dass die Vorhänge im Wind flatterten.“
 

„Das Fenster stand offen?“, sagte ich. „Nun, das ist rech bemerkenswert, nicht wahr? Vielleicht war der Mörder in Wahrheit ein Fremder, der durch das Fenster stieg und den armen Kerl ermordet hat. Wie ist das, Holmes?“
 

Holmes spazierte zum Fenster und schob den Riegel zurück. Ein heftiger Windstoß ließ die Vorhänge wild um uns herum wehen. Er streckte seinen Kopf nach draußen und ich fürchtete für eine Sekunde, er könnte tatsächlich versuchen, zu Boden zu klettern. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. „Pass doch auf, Mann!“, warnte ich. „Du wirst fallen!“
 

Aber dann sprang er zurück und gab mir ein Zeichen, selbst hinaus zu schauen. Mein Herz sank, als ich sah, was auch er gesehen hatte. Es waren mindestens dreißig Fuß[5] vom Fenstersims bis zum Boden, und es gab auch keine Kletterpflanzen oder etwas Ähnliches, das das Gewicht eines Mannes getragen hätte und auch nichts, woran man ein Seil hätte befestigen können.
 

„Würdest du es irgendeinem Mann – soweit er kein professioneller Akrobat ist – zutrauen sich Zutritt zu diesem Fenster zu verschaffen?“, fragte Holmes.
 

„Nein, das würde ich nicht. Ich denke nicht, dass irgendjemand hierherauf klettern könnte. Und Mitten in der Nacht erst recht nicht. Aber warum war dann das Fenster offen?“
 

„Eindeutig ein amateurhaftes und plumpes Täuschungsmanöver“, murmelte er. „Inszeniert von dem Mörder, um irgendeinen einfältigen Polizeibeamten zu dem Schluss zu bringen, dass der Täter durch das Fenster eingestiegen war. Nein, nein. Der Mörder kam durch diese Tür.“ Er deutete auf den einzigen Eingang.
 

„Dann…dann war es tatsächlich jemand aus dem Haus?“ Miss Bishop klang zutiefst betrübt über diese Erkenntnis.
 

Holmes nickte und schlenderte zum Bett. „Ich fürchte. Aber das war offensichtlich, bevor ich auch nur einen Fuß in dieses Haus gesetzt hatte. Ein solcher Mord, Miss Bishop, ist ein persönliches und grauenhaftes Verbrechen. Im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung begehen Einbrecher kaum einmal einen Mord. Sie ziehen es vor, ein Haus zuerst genau zu beobachten und dann einzusteigen, wenn sie wissen, dass keiner da ist. Außerdem würde ein Fremder kaum das Risiko eingehen mehrmals auf ihn einzustechen, wo er ihm doch auch einfach hätte die Kehle durchschneiden können“ Er hob die Hand und zerschnitt mit einer dramatischen Geste die Luft vor seinem Hals. „Das wäre wesentlich schneller gegangen und hätte versichert, dass Bishop nicht hätte um Hilfe rufen können.“
 

Miss Bishop erschauderte und schritt langsam zum Schreibtischsessel, auf dem immer noch das Hausmädchen saß. Ich war mir nicht sicher, ob die Schuld daran bei Holmes’ recht anschaulicher Beschreibung lag oder bei der Erkenntnis, dass sie den Mörder kannte. „Dann“, hauchte sie. „Bedeutet das, dass einer von uns Vater getötet haben muss. Aber das heißt, die verdächtigste Person ist…“
 

„Wir wissen nicht, ob Bullard es getan hat, Madam“, sagte Holmes sanft. „Es ist noch zu früh für solche Theorien. Nachdem ich Morgenfrüh die Leiche gesehen haben werde, kann ich vielleicht mehr sagen. Da ist nur noch eins, was ich wissen will: Hat Ihr Solicitor ein Zimmer hier? Oder ein Büro?“
 

„Nun…ja, das hat er. Im Erdgeschoß des Ostflügels, nur zwei Zimmer von Mutter entfernt. Er besuchte uns so oft, dass er dort ein Bett, einen Schreibtisch und ein paar persönliche Besitztümer hat. Aber ich selbst war nie in diesem Raum und die Tür ist abgesperrt. Aber wenn es notwendig ist, dass Sie ihn besichtigen, dann werde ich ihn mit einem Telegramm um Erlaubnis bitten! Wenn er wirklich der Täter ist, dann…“
 

„Nein, Miss Bishop“, sagte Holmes. „Tun Sie das nicht. Lassen Sie mich alles auf meine Art regeln. Es wird besser sein, wenn Sie nichts damit zu tun haben. Ich denke, wir sollten uns allen eine Pause gönnen. Darf ich einen kurzen Spaziergang und etwas frische Luft vorschlagen?“
 

„Ein wundervoller Vorschlag, alter Junge“, fügte ich hinzu. „Miss Bishop, Sie werden doch auch zustimmen, nicht wahr?“
 

„Aber ja, meine Herren. Dieser Raum bedrückt mich. Und außerdem, wenn wir uns zu dem Gehölz hinter dem Anwesen aufmachen, ist es gut möglich, dass wir dort auf Dicky treffen. Ich bin mir sicher, dass er dort sein wird. Und ich bin mir sicher, dass Sie ihn gerne treffen würden, habe ich nicht Recht?“
 

„Es ist notwendig“, sagte mein Freund und bot der Lady seinen Arm an.
 

Was Miss Bishop ein Gehölz genannt hatte, war genauer gesagt ein so dichtes und dunkles Dickicht englischer Pinien, dass ich mich wunderte, dass Miss Bishop darin überhaupt einen Weg finden konnte. Es war seltsam, dass es so etwas überhaupt hier gab, denn abgesehen von den trostlosen Mooren und schroffen Felsen, gab es in Dartmoor nichts als grasbedeckte Ebenen, so weit das Auge reicht. Als ich unsere Klientin danach fragte, antwortete sie: „Diese Bäume wachsen hier schon seit Generationen, gepflanzt von irgendeinem Ahnen, dessen Name ebenso wie seine Zeit in Vergessenheit geraten war. Ich bin dankbar dafür, dass meine Vorfahren sich darum kümmerten und dieser Wald heute noch existiert. Er verbreitet auf dem ganzen Anwesen einen Geruch nach Weihnachten und…glücklicheren Zeiten. Dicky kommt immer hierher. Er bleibt manchmal stundenlang. Ich weiß nicht was er tut, denn er will nicht darüber reden, aber…oh, hier ist er schon, gleich dort drüben.“
 

Ich stieß immergrüne Äste aus dem Weg und konnte fühlen, wie zähflüssiger Pflanzensaft auf meinen Handschuhen kleben blieb, bis wir schließlich zu einer Lichtung kamen. Hier lichteten sich die riesigen Pinien etwas und wir würden mit einem herrlichen Anblick belohnt.

Der Storm war nun sichtbar und es schien mir, als entspränge seine kristallene Klarheit aus dem Nirgendwo. Er war ungefähr knietief, zwanzig Fuß breit und setzte sich so weit mein Auge reichte über den schlammigen Moorboden fort. Ich fühlte eine sanfte Kühle auf meinem Nacken und meinen Wangen. Es war wahrlich ein magischer Ort.
 

Doch da war noch etwas in diesem Eden. Ein zarter, dunkelhaariger Junge von etwa fünfzehn Jahren. Auch wenn er uns nicht vorgestellt worden wäre, hätte ich ihn trotzdem sofort erkannt. Er war das männliche Ebenbild seiner Schwester. Dasselbe elfengleiche Gesicht, dieselben feinen Züge, fast kohlschwarzen Augen und kastanienbraunen Locken. Ihre dunklen Augen wurden sogar von denselben dichten Wimpern umkränzt. Er stand dort im fließenden Strom mit kurzen Ärmeln und Hosen – barfuß, ein Paar Schuhe lagen achtlos ans Ufer geworfen.
 

Da bist du also, Dicky!“, rief Miss Bishop. „Jetzt komm sofort da raus! Du wirst dir den Tod holen!“
 

Der Junge wand sich mit einem Stirnrunzeln in unsere Richtung, auf seinem Gesicht der verärgerte Ausdruck eines Kindes, das von seiner Mutter gescholten wird. Wenn man allerdings die Geschichte ihrer Eltern bedenkt, war diese junge Frau wahrscheinlich für ihn wie ein Mutterersatz. „Sie müssen meinen Ton entschuldigen, meine Herren. Aber er ist leider ein kränklicher Junge. Asthma, Hämophilie und eine chronische Lungenentzündung. Das letzte, was er gebrauchen kann, sind nasse Füße.“
 

Während er mit trotzig verschränkten Armen durch das Wasser stapfte, schien er zunächst weder Holmes noch mich selbst wahrzunehmen. Stattdessen schenkte er seiner Schwester einen wütenden Blick. „Du hast versprochen, nicht hierher zu kommen“, sagte der Junge. Aus der Nähe ähnelten sich die beiden nur noch mehr. Auch aus Richard Bishops Stimme klang eine Kultiviertheit, die auf Intelligenz und Sanftmut schließen ließ. Trotz seines Verhaltens.
 

„Sei nicht so eigensinnig, Bruder. Ich suchte dich, damit du diese beiden Herren kennen lernen kannst. Das sind Mr. Sherlock Holmes, ein Detektiv aus London, und sein Kollege, Dr. Watson. Sie werden herausfinden, wer Vater wirklich ermordet hat.“
 

Der Junge schüttelte unsere Hände herzlich, aber seine Nervosität ob dem Namen meines gefeierten Freundes war trotzdem offensichtlich. Ich bin sicher, dass Holmes dasselbe dachte. Konnte dieser Junge etwas wissen?
 

„Ich habe ein paar Ihrer Fälle gelesen, Sir“, sagte er. „Wenn Sie wirklich so klug sein sollten, wie Dr. Watson sie beschreibt, dann sollten Sie keine Probleme mit diesem Fall haben.“
 

„Richard!“, rief Miss Bishop. „Sei nicht unhöflich!“
 

„Das war ich nicht! Es ist nur…“
 

„Hast du Informationen über den Tod deines Vaters, Richard?“
 

Für eine, bestenfalls zwei Sekunden dachte ich, der Junge würde nun eine gewaltige Leiche aus dem Keller holen, irgendeinen Wendepunkt in der Lösung des Falles. In seine dunklen Augen leuchtete die Angst einer zurückgehaltenen Wahrheit, aber noch im selben Atemzug erlosch sie wieder. „Nein, Sir, ich weiß nichts. Nur was ich der Polizei bereits erzählt habe.“
 

Wenn es schon für mich völlig offensichtlich war, dass Richard Bishop log, dann musste es für Sherlock Holmes noch weit klarer sein. „Richard…“, begann Miss Bishop, aber Holmes fiel ihr plötzlich ins Wort.
 

„Vielleicht wäre es vernünftig, wenn ich kurz allein mit Master Bishop sprechen dürfte. Er und ich könnten zusammen einen kleinen Spaziergang durch diesen bezaubernden Wald unternehmen und du, Watson, kannst Miss Bishop zurück zum Anwesen begleiten.“
 

„Oh…oh, natürlich“, sagte ich. Ich war etwas enttäuscht, dass ich dieser Befragung nicht würde beiwohnen können, aber ich vertraute darauf, dass Holmes’ fotographisches Gedächtnis es mir später lückenlos würde wiedergeben können. „Mylady“, sage ich und genoss das Gefühl der zarten Kraft ihrer Hand an meinem Arm. Sie lächelte mich an und wir machten uns Richtung Black Bishop auf.
 

„Ich bin unglaublich erleichtert über Ihr Hiersein, Doktor Watson. Ich bin mir sicher, dass Mr. Holmes den wahren Schuldigen finden und Tom befreien wird.“
 

„Das wird er zweifellos, Miss Bishop. Auch wenn ich zugeben muss, dass dies ein ungewöhnlicher Fall ist, habe ich vollstes Vertrauen, dass Holmes nicht ruhen wird, eher er ihn gelöst hat“ Ich konnte den Duft ihres Parfüms deutlich über dem schweren Piniengeruch riechen. Seit Mary war das das erste Mal, dass ich mit einer Frau allein war. Und außerdem noch mit einer so wunderschönen…Guter Gott, was dachte ich da? Ich war alt genug, um der Vater dieses Mädchens zu sein. Noch dazu war sie bereits verlobt und augenscheinlich sehr verliebt. Und doch konnte ich nicht verhindern, innerlich ein wenig für sie zu schwärmen. Sie erschien mir damals sehr begehrenswert.
 

„Sie müssen meinem Bruder vergeben, Doktor“, sage sie, als wir das Dickicht endlich verlassen hatte und nun wieder das gigantische Anwesen auf uns hernieder blickte. „Er ist nicht er selbst, fürchte ich und ist es auch nicht mehr gewesen, seit Mutters Krankheit sich verschlimmert hat.“
 

„Denken Sie nicht, dass er etwas verbergen könnte? Etwas, das er nicht einmal Ihnen erzählt hat?“ Ich hoffte, dass ich nicht anklagend klang. Aber ich dachte, dass ich Holmes so vielleicht wenigstens ein bisschen helfen konnte. „Vielleicht könnte er sogar vor etwas…oder jemandem Angst haben.“
 

„Das kann ich nicht sicher sagen, Sir. Er benimmt sich in Mr. Bullards Gegenwart nicht anders als sonst auch. Und Dicky stand Tom immer sehr nah. Da er ohne seinen Vater aufwuchs, sah er Tom immer als eine Art Ersatz an. Wenn er etwas wüsste, dass ihm helfen könnte, kann ich mir nicht vorstellen, dass er es geheim halten würde.“
 

Ich nickte, als ich plötzlich Holmes aus dem Dickicht auftauchen und auf uns zusteuern sah. Richard Bishop war nirgends in Sicht und von Holmes’ Gesichtsausdruck war es schwer zu sagen, ob er erfolgreich gewesen war oder nicht. Sein Gesicht war – typisch für ihn – so ausdruckslos, als wäre es aus Stein.
 

„Wo ist Dicky?“, fragte unsere Klientin.
 

„Immer noch auf seiner Lichtung, denke ich.“
 

„Oh…na gut, was kann ich ihnen jetzt noch zeigen, Mr. Holmes?“
 

„Den Weg zum nächsten Wirtshaus, Miss Bishop“, erwiderte Holmes. „Der gute Doktor und ich müssen morgen früh aufstehen und es ist bereits kurz vor halb acht. Ein Abendessen und ein komfortables Bett sind, was wir im Moment am meisten benötigen.“
 

Auch wenn das meiner Meinung nach eine hervorragende Idee war, fand ich es höchst ungewöhnlich, dass Holmes so etwas vorschlagen würde. Ich konnte nur vermuten, dass er entweder etwas von Richard Bishop erfahren hatte oder ihm eine andere plötzliche Erkenntnis gekommen war, über die er nun nachdenken wollte. Aber was auch immer der Grund war, wir stiegen wieder in Miss Bishops kleine Kutsche mit den beiden Füchsen und fuhren in Richtung Bishop’s Gambit, dem örtlichen Wirtshaus in Darby. Es war eine Fahr von beinahe einer Stunde und Holmes erfreute mich mit der Erzählung über seine kurze Begegnung mit Master Richard Bishop.
 

„Er ist ein ungewöhnliches Kind, Watson. Scheinbar übermäßig religiös und zurückgezogen. Ich denke, dass er ziemlich intelligent ist und eine viel versprechende Zukunft hätte, wenn er nicht so hochmütig wäre. Es ist seltsam. Diese Arroganz liegt beinahe versteckt, aber ist trotzdem irgendwie so offensichtlich, dass ich sie nicht übersehen konnte. Er ist außerdem recht belesen, ein Liebhaber der Dichtkunst und ein Schwimmer, auch wenn er ansonsten sehr unsportlich ist.“
 

„Und das hat er dir alles erzählt?“
 

„Nein…aber es war trotzdem offensichtlich. Er zitierte die Bibel ebenso wie Donne, hatte eine Taschenbuchausgabe von Pope in seiner Hosentasche und ganz genau jene Schulter- und Wadenmuskulatur, die man von einem regelmäßigen Schwimmer erwarten würde. An Land allerdings ist er eher unsicher. Aber das alles ist irrelevant…die Wahrheit ist, dass Richard Bishop mit ziemlicher Sicherheit etwas verschweigt.“ Er begann zu erzählen, was passiert war:
 

“Ich weiß, dass die Rückkehr Ihres Vaters für Sie ein ziemlicher Schock gewesen sein muss“, sagte Holmes. „Und sie hat Sie vermutlich auch verärgert. Ihre Schwester erzählte uns, Sie ständen Ihrer Mutter sehr nahe.“
 

„Ich ehre sie, wie es das fünfte Gebot verlangt. Aber sie ehre ich auch, weil ich es will. Meinen Vater ehre ich nur, weil es von mir verlangt wird.“
 

„Ich verstehe. Sie teilen offensichtlich die Liebe Ihrer Mutter für die Religion.“
 

Der Junge starrte meinen Freund an, als hätte er etwas Anstößiges gesagt. „Es wäre Blasphemie, es nicht zu tun, Sir.“
 

Das war die Gelegenheit. „Ist es nicht auch Blasphemie zu lügen? Vorsätzlich ein Verbrechen zu verbergen?“
 

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen, ließ vermuten, dass Holmes ihn in der Falle hatte. Aber die Schlacht war noch lange nicht vorbei. „Es gibt kein Gebot gegen das Verbergen. Selbst wenn ich das täte.“
 

„Aber Sie, Master Bishop, sind doch sicher mit dem Brief des Jakobus vertraut? Kapitel 4, Vers 17 um genau zu sein? Wenn Sie sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, ist es mir ein Vergnügen Ihre Erinnerung aufzufrischen. ‚Wer nun Gutes zu tun weiß und es nicht tut, für den ist es Sünde.’“
 

„Lass dir gesagt sein, Watson, seine Wangen erröten merklich über diesem Zitat. Er sah aus, als wäre die Hand Gottes über ihm und wollte ihn zu Boden schmettern. Um die Wahrheit zu sagen, Watson, hatte ich etwas Mitleid mit dem Jungen. Mit einem Eiferer als Elternteil ist es niemals eine einfache Kindheit.“
 

„‚Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst’[6], Sir. Ich bin nicht fehlerlos und auch Sie sind es nicht. Diese Herrlichkeit gebührt nur Gott allein. Aber selbst wenn ich zur ewigen Verdammnis verurteilt werden sollte, für irgendeinen Missfallen, den ich Ihm bereitet habe, dann werde ich dankbar dafür sein. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als man selbst.“
 

„Dinge wie einem Mörder beistehen?“
 

Diese Worte verursachten ehrliche Überraschung in seinem Blick. „Ich stehe niemandem bei, Sir. Aber eines werde ich Ihnen erzählen: Der Tod von Bruce Bishop, meinem Vater, war ein Akt Gottes. Er hat Ihm gegenüber gesündigt und der Herr sah seine Sünde, so wie er Adam und Eva im Garten Eden sah oder Kain, als er seinen Bruder Abel erschlug. Und Vater wurde dafür bestraft.“
 

„Eine solch gleichgültige Reaktion auf Mord?“, unterbrach ich ihn. Direkt vor uns wurden langsam Häuser sichtbar und es schien mir, als könnte ich sogar eines ausmachen, das wie ein Wirtshaus mit dunklen Ziegeln aussah.
 

„Ja, auch ich fand es ungewöhnlich. Aber dieser Junge lebt sein Leben offenbar völlig nach der Heiligen Schrift.“
 

“Dann“, fuhr Holmes fort. „Wenn Sie sich schuldlos halten, Master Bishop, werde ich Sie in Frieden lassen. Vielleicht war es ein gerechtfertigtes Verbrechen – gerechtfertigt in den Augen ganz egal welchen Gottes, der Ihr Leben bestimmt. Ich hoffe allerdings, dass mein Gewissen mich trotzdem dazu bringt, die Gerechtigkeit walten zu lassen. Egal was es kostet.“
 

„Und wenn es Ihre eigene Seele kostet, Mr. Holmes?“
 

„Die Härte in seinem Blick, Doktor, mit dem er mich in jenem kleinen Abbild von Eden anstarrte, war ziemlich entnervend, das versichere ich dir. Er wirkte dabei beträchtlich älter als er war. Ich antwortete nicht, denn ich fühlte deutlich, dass unser Gespräch beendet war und überließ ihn dort den Bäumen, der Natur und der Dichtung. Trotzdem konnte ich Donne hören, als ich ihn verließ. Es war ‚Devotion upon Emergent Occasions’:
 

Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, [/í]

denn mich betrifft die Menschheit;

und darum verlange nie zu wissen,

wem die Stunde schlägt; es gilt dir selbst.
 

„Großer Gott“, murmelte ich. „Er ist in der Tat ein seltsames Kind. Aber was glaubst du, was er verbirgt?“
 

Holmes schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht sagen. Noch nicht. Aber Morgen weiß ich vielleicht mehr. Bis dahin ist es nutzlos darüber nachzudenken. Es gibt nicht genug Fakten für eine rechtsgültige Hypothese.“
 

Bishop’s Gambit, augenscheinlich nach dem berühmtesten Anwesen in der Gegend benannt, sah aus, als sei es ganz genau wie jedes andere Wirtshaus auf dem Land. Mehrer Ortsansässige genossen ihr Bier und waren über die ganze Gaststube verstreut, wo ein knisterndes Feuer sie wärmte. Nach allem, was heute geschehen war, hätte ich nichts lieber getan, als mich zu ihnen gesellt, hätte mit ihnen ein Bier getrunken und die Gesellschaft anderer Männer genossen. Aber das war etwas, an dem Holmes kaum jemals Gefallen fand und während eines Falles erst recht nicht. Er suchte den Wirt und mietete zwei Zimmer für uns. Dabei bat er gleich darum, uns das Abendessen und etwas Bier hinauf aufs Zimmer zu servieren. Er würde die Nach abgeschieden über seinen Theorien verbringen und ich würde sie allein mit ihm verbringen, ganz so wie immer.
 

Nachdem ich Mrs. Hudson und meinen Sohn durch ein Telegramm davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass wir heute nicht mehr zurückkommen würden, ließ ich mich in einem angrenzenden Wohnzimmer zwischen meinem und Holmes’ Zimmer nieder. Dort gab es einen Tisch und zwei Stühle, ebenso wie ein behagliches Feuer im Kamin. Es war komfortabel genug und ich machte mich sogleich daran, einen dicken Hammeleintopf und einen Krug Bier zu vertilgen.
 

Ich muss zugeben, dass das Bier großartig war – kräftig und kühl, herzhaft mild und vor allem lenkte es meine Gedanken von den Erinnerungen ab. Trotzdem – die Nacht schritt fort und ich hatte meinen Freund niemals zuvor drei Krüge von irgendetwas trinken sehen. Er war nervös, hektischer als sonst, fahriger als bei unseren früheren Fällen. Seine Nerven schienen abgewetzt. Die Art, wie er vor dem Feuer stand, mit dem Fuß auf den Boden klopfte, die Augen hierhin und dorthin blitzen ließ, zeigte mir deutlich, dass da etwas war – etwas anders als die Leiche von Bruce Bishop, um das seine Gedanken kreisten.
 

Und das überraschte mich nicht.
 

„Du wirkst abgelenkt, Holmes.“ Ich hatte das Gefühl, etwas – irgendetwas – sagen zu müssen. Und das war das einzige, was mir einfiel, das er nicht als beleidigend auffassen würde.
 

„Abgelenkt? Natürlich bin ich abgelenkt, Watson!“, schnaubte er und trank den letzten Schluck aus seinem Krug. „Ich kann es nicht ausstehen, angelogen zu werden.“
 

„Du denkst also, dass einer von ihnen dich anlügt?“
 

„Natürlich werde ich angelogen! Jeder der diesen Kerl getötet haben könnte, hat es geleugnet. Das heißt, einer lügt.“
 

„Natürlich…“, sagte ich und errötete leicht. „Aber Holmes, ist das nicht Teil des Rätsels? Gibt es da nicht immer eine Lüge? Das ist doch das Herzstück deines Berufes, oder nicht?“
 

„Mh…vielleicht. Aber es läuft nicht sehr gut. Diese ganze Situation. Ich denke, dass wir noch nicht am Ende angekommen sind. Es warten noch mehr Schrecken auf uns.“
 

„Schrecken?“
 

„Oh, ja. Nichts ist so, wie es scheint, Watson. Weißt du das denn nicht? Was eine Sache für einen Mann bedeutet, kann für einen anderen das genaue Gegenteil sein.“ Er starrte mich nun an, starrte so intensiv, dass der durchdringende Stahl seiner Augen von Feuer erfüllt schien. Nur sehr selten hatte ich zuvor einen solchen Blick bei ihm bemerkt.
 

Aber dann…nun, er packte mein Handgelenk, ergriff es in jenen außergewöhnlich starken Fingern. Er beugte sich zu mir. Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, was er beabsichtigte, aber als seine Lippen nur noch eine Handbreit entfernt waren, wurde ich von der kalten Erkenntnis getroffen.
 

„Holmes!“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Was zum Teufel tust du da?!“
 

Er blinzelte mehrmals, lockerte sofort den Griff seiner Hand, der meine wie ein Schraubstock umklammert hatte. „Ich…ich muss mich entschuldigen, mein Freund.“ Er räusperte sich und ein entfernt rötlicher Farbton überflutete seine Wangen. „Ich weiß nicht, welcher Dämon über mich gekommen ist.“
 

Ich lachte unsicher und wünschte mir nichts mehr, als die ganze Sache hinunterzuspielen. „Nun, das ist doch offensichtlich! Du warst ein wenig zu großzügig mit deinem Bier, alter Knabe!“
 

Er schenke mir sein pfeilschnelles Grinsen. „Vielleicht.“
 

„Was heißt da ‚vielleicht’? Du wirst diesen Fall ganz gewiss nicht mit einem benebelten Verstand lösen können. Ich bestehe darauf, dass du jetzt nicht mehr daran denkst und dich ein wenig hinlegst.“
 

Schnaubend sah er mich von der Seite an. Es erleichterte mich unsäglich, dass er nun wieder er selbst zu sein schien und nicht…was auch immer er vor einem Moment noch gewesen war. „Hinlegen…“, murmelte er. „Du glaubst wohl wirklich, alle Probleme des Lebens können entweder durch Schlafen oder Essen gelöst werden, oder, Doktor?“
 

Sofort, Holms. Ins Bett. Du bist ganz offensichtlich ein unangenehmer Trunkenbold. Ich habe bereits ein Kind zuhause und brauche sicherlich nicht auch noch hier eins.“
 

Er stieß seinen Krug auf den Tisch, schlurfte in Richtung seines Schlafzimmers und ich wusste, ich hatte gewonnen. Das war kein Privileg, das mir oft vergönnt war. Kurz bevor er die Tür schloss, blieb er stehen, ruhig und sanftmütig, eine Gebärde, die mich sehr an Josh erinnerte, nachdem ich ihn zurechtgewiesen hatte. Es war ein Anblick, wie ich ihn niemals von dem großen Detektive erwartet hätte.
 

„Du weißt, Watson“, sagte er mit sanfter Stimme. „Dass es wirklich sehr gut von dir ist.“
 

„Was meinst du?“, fragte ich vollkommen verwirrt.
 

„Bei mir zu sein.“
 

Nun war ich an der Reihe, ihn anzustarren. „Du meinst hier? In diesem Fall?“
 

Seine einzige Antwort war, mehrmals mit einem seltsamen, leichten Stirnrunzeln zu blinzeln. „Wir besichtigen die Leiche Morgenfrüh um sieben Uhr, damit sie noch Zeit haben, sie für die Beerdigung vorzubereiten. Verschlafe nicht!“ Er deutete mit einem seiner langen Finger auf mich und verschwand ohne ein ‚Gute Nacht’.
 

Ich wurde aus einem leeren Traum voller schwarzer Schatten geweckt, in dem selbst der Himmel völlig ausgehöhlt war. Drei dröhnende Schläge gegen die Tür und ich war wach genug, um Holmes mit einer Lampe in der Hand hereinkommen zu sehen. Er war angezogen, aber wirkte etwas zerzaust und ich wusste, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Ich zwang mich in eine sitzende Position und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
 

„Ich hoffe, du hast einen guten Grund, hier herein zu platzen. Um-“ Ich warf einen raschen Blick auf meine Taschenuhr. „Noch nicht einmal sechs Uhr morgens?“
 

„Das hoffe ich auch, mein Bester“, sagte er lächelnd und setzte sich neben mich. „Denn ich habe meine Nacht wesentlich Gewinn bringender verbracht als du deine. Weißt du was das ist?“ Er hielt mir eine zerknitterte Pergamentrolle entgegen.
 

„Ganz sicherlich nicht.“
 

„Natürlich nicht. Ich habe es mir letzte Nacht aus Black Bishop beschafft. Um genauer zu sein, aus dem Büro von Ambrose Bullard. Es ist der letzte Wille des verstorbenen Earl of Cantor.“
 

„Du hast es gestohlen?“, fragte ich erstaunt. „Du bist dort eingebrochen? Warum zum Teufel solltest du so etwas tun?“
 

„Es war unumgänglich, dass Miss Bishop und ihr Haushalt nichts davon wissen durften. Und es war in der Tat sehr einträglich, denn wir haben nun einen Verdächtigen, von dessen Existenz wir noch nicht einmal gewusst hatten.“
 


 

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[1] Aus Heinrich VI (von Shakespeare) – 5.6.11 (Original: „Suspicion always haunts the guilty mind“)
 

[2] Der englische Architekt Nicholas Hawksmoor (1661-1736), berühmt für seine Werke im Barockstil, besonders für seine Arbeit an Westminster Abby.
 

[3] Das müssten etwa 196 Pfund sein (ca. 98 Kilo)
 

[4] Napoleon – 1814 (Original: „The police invent more than they discover“)
 

[5] 30 Fuß = 9 Meter
 

[6] Erster Brief des Apostels Johannes, Kapitel 1, Vers 8. (Original: „If we say we have no sin, we deceive ourselves“)
 

So der Fall von Black Bishop treibt langsam aber sicher auf seinen Höhepunkt und ich bedanke mich noch einmal bei allen, die an meiner Übersetzung von Andrea Malcolms Geschichte gefallen finden und vor allem natürlich denen, die auch Kommentare hinterlassen.

Viel Spaß beim Lesen!
 


 

„Noch einen Verdächtigen? Und wer in Gottes Namen soll das sein?“
 

„Hast du jemals von einem Schauspieler namens Michael Clive gehört?“
 

Der Name kam mir dunkel bekannt vor, vielleicht wie jemand, mit dem man vor Jahren zur Schule gegangen war. Ich konnte fast ein Gesicht sehen, gebräunt und dunkelhaarig, aber es war verschwommen, so als sähe ich es unter Wasser. „Ich glaube, ich habe tatsächlich schon von ihm gehört. Aber ich kann mich nicht erinnern wann oder wo. Ich fürchte mein Geist funktioniert zu dieser gottlosen Uhrzeit noch nicht so effizient wie deiner.“
 

Holmes lächelte angesichts dieser Bemerkung und erwiderte: „Das ist ganz egal. Nun, ich müsste meine gesammelten Biographien zu Rate ziehen, um dir die genauen Details über ihn zu erzählen, aber einige grundlegende Fakten habe ich im Kopf. In seiner Jugend, vor ein paar Jahren, war er hier in London als Anhänger von Shakespeare recht bekannt. Besonders berühmt war er, wenn ich mich richtig erinnere, für seine Darstellung der Figuren. Ein paar Jahre später floh er von England nach Frankreich, um einen persönlichen Skandal zu vermeiden. So weit ich weiß, ist er bis heute dort geblieben.“
 

„Was für einen Skandal?“
 

„Hmm…nun, das könnte alles sein, nicht wahr? Aber der Punkt, Watson, ist, dass bevor er mit der Schauspielerei anfing, Michael Clive unter dem etwas viel versprechenderen Titel Lord Michael Clive Sheffield St. Elridge Hilton geboren wurden.“
 

„Hilton? Aber dann…nein, das kann nicht…Ist er etwa…?“
 

Holmes nickte kurz. „Oh ja. Er ist der einzige Sohn des verstorbenen Earl und der Countess of Cantor, der Bruder von Lady Catherine Hilton Bishop.“
 

„Mein Gott…“, rief ich aus, während neue Theorien in meinem Geist zu wachsen schienen. „Aber es erscheint logisch, dass Elizabeth Bishop wahrscheinlich nicht einmal von der Existenz ihres Onkels wusste. Ich denke nicht, dass sie irgendwelche Informationen zurückgehalten hätte, da sie ja so verzweifelt Thomas Kingstons Namen reinwaschen will. Aber wie wäre das: Wenn Richard Bishop von seinem Onkel gewusst hätte – wahrscheinlich von seiner Mutter – dann könnte er auch wissen, dass Clive seinen Schwager getötet hätte. Nun, das könnte es sein, was er verbirgt!“
 

„Ich muss dir noch den außergewöhnlichsten Teil der ganzen Geschichte erzählen, mein Bester. Es scheint, dass Clive-Hilton im Testament seines Vaters ausgelassen worden war. Hier, ich lese es vor, in den eigenen Worten des Earls: ‚Meinem einzigen Sohn, Lord Michael Clive Sheffield St. Elridge Hilton, auch bekannt als Michael Clive, hinterlasse ich nur die Schande und die Enttäuschung, die er seinem Vater mit seinem Ekel erregenden Lebenswandel bereitet hat. Die meisten der widerlichen Entscheidungen, die er getroffen hat, stammen von jenem Pseudonym. Ich wünsche ihm, dass der Einfallsreichtum, der seine Familie auszeichnet, ihm einen Weg zeigen wird, seine verbleibenden Jahre zu verbringen.’”
 

„Mein Gott…das ist hart. Hast du irgendeine Vermutung, weshalb der verstorbene Earl zu seinem einzigen Sohn so herzlos sein sollte?“
 

Holmes rollte das Pergament zusammen und stopfte es in seine Jackentasche. „Wenn du dich dabei auf das beziehst, was der Earl als ‚Ekel erregenden Lebenswandel’ bezeichnet hat, dann kann ich dir versichern, dass ich nicht die geringste Ahnung habe. Es könnte genau so gut, einfach die Tatsache sein, dass er Schauspieler wurde. Von wirklicher Bedeutung ist hier allerdings – wie du schon sagtest – dass Clive, der sich von seiner Schwester um sein Geburtsrecht betrogen sah, Rache geübt haben könnte. Ihm war klar, dass es ihm kaum Befriedigung bescheren würde, eine Frau auf ihrem Sterbebett zu töten. Deshalb beschloss er zu töten, wen sie am meisten liebte – Bruce Bishop. Wenn das der Fall sein sollte, wäre es möglich, dass er Richard Bishop zu seinem Verbündeten gemacht hat. Master Richard – dessen Hass auf seinen Vater seine Liebe zur Heiligen Schrift und Thomas Kingston überwog – lenkte allen Verdacht von dem wahren Täter ab, indem er es Kingston anhängte.“
 

Ich muss zugeben, dass meine Aufregung über all das eben Gehörte inzwischen meine Müdigkeit fast völlig vertrieben hatte. Ich konnte spüren, wie mein Herz heftig gegen meine Rippen schlug. „Holmes, du hast es gelöst! Alles passt zusammen! Das muss ganz gewiss die Antwort sein.“
 

„Aber, aber, mein lieber Doktor…wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es gibt keine Beweise, die diese Mutmaßung stützen würden. Zumindest noch nicht“ Er stand auf und öffnete die Tür. „Ich werde dir ein Frühstück bestellen. Und starken Kaffee, will ich meinen. Und dann müssen wir los, wenn wir unsere Verabredung mit Inspektor Clayton einhalten wollen.“
 

„Nein, Holmes…du musst auch etwas essen. Ich bestehe darauf, dass du für dich auch etwas bestellst.“
 

Er starrte mich sekundenlang an, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. „Deine Sorge um mein Wohlbefinden ehrt mich. Zieh dich an!“ Er schloss die Tür und sprang die Treppe hinab.

Der Morgen dämmerte kühl und hell – wesentlich kälter als der Vortag und doch war er erfüllt von einer Frische, die sowohl Blut und Sinne erweckte und die ganze Landschaft nach Blumen und Hoffung duften ließ. Seit der vergangenen Nacht schienen Jahre vergangen und als Holmes neben mir in der Kutsche saß, war alles so wie es immer gewesen war. Ich vermutete, dass ich von nun an wohl nur darauf achten musste, dass mein Freund nicht noch einmal zu viel trank.
 

Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, wie seltsam es doch war, dass ich – obwohl wir beide erwachsene Männer waren – es auf mich genommen hatte, mich sozusagen um ihn zu kümmern. Ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht. Aber so war es nun mal. Ob er sich dessen bewusst war oder nicht, er brauchte mich, um auf ihn Acht zu geben.

Und aus irgendeinem Grund rückte das alles ins rechte Licht.
 

„Ein kleiner privater Scherz, Watson?”
 

Er blickte mich an und auf seinen Lippen lag ein leichtes Grinsen. Ich lächelte zurück. Aber ich wusste, dass ich ihm nicht sagen konnte, woran ich gedacht hatte. „Oh, nein. Es ist nur…die milde Wintersonne, der frische Morgenwind, das Wiegen des Moorgrases…dieser Tag scheint mir nur weit besser als der vorherige.“
 

Er zerrte an den Zügeln und die Füchse trabten schneller. „Ich kann deine Sentimentalität nicht ganz teilen.“
 

Das Polizeirevier war ein kleines Backsteingebäude etwas außerhalb von Darby, direkt neben Dartmoor Prison. Dies war einer der meist gefürchtetsten Plätze, außerdem recht groß für ein Gefängnis und hielt einige der gefährlichsten Strafgefangene unter Verschluss, die England zu bieten hatte. Die meisten davon erwarteten hier ihre unvermeidliche Reise zum Galgen. Es war kein Ort, den ich jemals hätte besuchen wollen und ich empfand eine Art Mitgefühl für den jungen Kingston (wenn er tatsächlich unschuldig sein sollte), an so einem verhängnisvollen Platz eingesperrt zu sein.
 

Obwohl es noch nicht einmal sieben Uhr war, erwartete Clayton uns bereits direkt im Warteraum, wo mehrere große, stämmige Kerle uns mit eisernem Gesichtsausdruck anstarrten. „Sie sind also gekommen, Mr. Holmes?“
 

„Natürlich, Inspektor…Ich halte immer meine Versprechen“ Holmes lächelte höflich.
 

„Ich kann Ihnen beiden versichern, dass der einzige Grund, warum ich das hier erlaube, eine Art geschmacklose Neugier ist. Ich weiß wirklich nicht, was sie von einer vier Tage alten Leiche erfahren wollen…geschweige denn von Kingston. Er wird uns nichts sagen, außer dass er unschuldig ist.“
 

„Vielleicht stellen Sie einfach nicht die richtigen Fragen.“
 

Claytons Augen verengten sich gefährlich. Er griff nach einer kleinen Laterne, zündete sie an und zog in ihrem Licht ein kleines Jagdmesser mit einem Etikett aus dem Schreibtisch. „Hier ist das Messer. Es ist immer noch recht scharf. Ich werde Ihnen die Leiche zeigen. Wir haben hier keine Leichenhalle, denn so gut wie alle Toten kommen aus dem Gefängnis und werden sofort in unserer Verbrennungsanlage verbrannt. Deshalb ist Bishops Leiche in einer der Einzelzellen“ Er gab uns ein Zeichen, ihm durch eine kleine Eisentür und ein feuchtes Treppenhaus hinab zu folgen.
 

Obwohl ich Handschuhe trug, hatte ich das starke Bedürfnis, so wenig wie möglich zu berühren. Claytons Laterne bewegte sich vor uns als gelber Lichtkreis auf und nieder, aber trotzdem war es schwer irgendetwas zu erkennen. Die ganze Anlage stank nach Schweiß, Abfall und…nun ja, menschlichen Ausscheidungen. Über uns im Haupthaus, dem Herzen des Gefängnisses, konnte ich die dumpfen Echos von Gelächter und Schreien hören. Der Boden schien nur aus Schmutz zu bestehen und ich sah dunkle Schatten an uns vorbeihuschen, die mich stark an Ratten erinnerten. Ich schauderte bei der Vorstellung, wie es sein musste, hier eingesperrt zu sein – in Einzelhaft. Jeder normale Mann würde innerhalb von Tagen den Verstand verlieren.
 

„Er ist hier drinnen“, sagte Clayton, während er eine verrostete Tür entriegelte und unter schrecklichem Quietschen aufschob. „Der örtliche Chirurg ist gerade auf Urlaub, deshalb konnten wir keine Obduktion durchführen, was aber auch gar nicht nötig war. Wir können uns auch so recht gut vorstellen, unter welchen Qualen dieser Mann gestorben sein muss. Die Familie wird die Leiche in ein paar Stunden für das Begräbnis abholen. Ich schlage vor, Sie sollten sich für Ihre kleine Untersuchung nicht zu viel Zeit nehmen. Das heißt, wenn Sie immer noch auf ein Schwätzchen mit unserem Neuzugang bestehen.“ Er grinste uns herausfordernd an und überließ uns die Laterne, ehe er sich auf den Rückweg machte. Wir konnten deutlich hören, wie sich seine Schritte immer weiter in Richtung Warteraum entfernten.
 

„Ich finde, Holmes“, sagte ich und drehte das Licht so weit auf wie möglich. „Er ist wirklich ein ganz einzigartig unangenehmer Charakter.“
 

„Hmm…in der Tat. Bring das Licht hier her, Watson. Hier liegt unser unglücklicher Patriarch des Bishop-Clans.“
 

Die Leiche von Bruce Bishop lag nackt auf einem Tisch aus billigem Holz und war mit einem Leintuch bedeckt. Der Tisch war alt und wirkte, als sei er vor langer Zeit ein Esstisch gewesen. Aber nun war er mit rotem Blut bedeckt und mit Kerben und Kratzern übersehen. Zweifellos von der unruhigen Klinge eines empfindlichen Polizeichirurgen.
 

Auch wenn Clayton anscheinend keine Ahnung hatte, wie entscheidend eine Untersuchung des Opfers in einem Mordfall sein kann, war das Holmes und mir völlig klar. Mein Freund entfernte das Tuch und ich bereitete mich eiligst auf den fast schon vertrauten Anblick vor. Um es genau zu sagen, der Anblick von durchscheinender Haut, die langsam verrottend einen grün-violetten Farbton annahm. In der Sommerhitze hätte nach vier Tage normalerweise schon der eigentliche Verwesungsprozess begonnen. Das kalte Novemberwetter war dagegen ein Vorteil und die Verletzungen waren auf seinem geschundenen Körper noch ausgezeichnet zu erkennen. Obwohl wir von Clayton wussten, dass keine Obduktion stattgefunden hatte, war ich ein wenig überrascht, keinerlei Nähte auf der Brust zu sehen. Das allerdings, was einem von einer Leichenhalle – provisorisch oder nicht – am deutlichsten in Erinnerung bleibt, ist der Geruch. Besonders nach ganzen vier Tagen. Der Geruch der Einbalsamierungsflüssigkeit vermischt mit Fäulnis. Man muss den Gestank einer Leiche wahrlich erst selbst erlebt haben, um zu wissen, wie schrecklich er ist.
 

Bruce Bishop lag friedlich da und die Pennys waren immer noch auf ihrem Platz. In jenem Moment wurde mir bewusst, dass obwohl ich einen ganzen Tag mit seinen Kindern verbracht hatte, dies das erste Mal war, da ich ihn mit eigenen Augen sah.
 

Er hatte das Aussehen seiner Kinder – dunkles Haar und, soweit man das noch sagen konnte, dunkle Haut. Seine Größe und sein Gewicht waren durchschnittlich. Glatt rasiert aber mit recht langen Koteletten. Keine Tätowierungen oder speziellen Erkennungszeichen. Alles in allem war er keine besonders bemerkenswerte Erscheinung. Tatsächlich waren die einzigen ungewöhnlichen Merkmale, die ich an dem Opfer erkennen konnte, die fünf oder sechs Messerstiche, die seine Brust und den Unterleib durchbohrten. Bruce Bishop war wirklich kein schneller oder gar schmerzloser Tod vergönnt gewesen.
 

„Hast du das Messer?“, fragte ich Holmes. Er überreichte es mir und ich verglich vorsichtig seine Länge und Breite mit den Wunden. Es war ein fast augenblicklicher Schluss. „Das ist tatsächlich die Mordwaffe. Das kann ich beschwören.“
 

„Das habe ich niemals bezweifelt. Jetzt, erzähl mir von diesen Wunden“ Er verschränkte die Arme und schloss die Augen, um die Puzzleteile, die ich ihm beschrieb, mit vor dem inneren Auge seines unfassbaren Verstandes zu betrachten.
 

„Gut…“, sagte ich und nahm einen tiefen Atemzug. „Er wurde von der rechten Seite angegriffen. Das kann ich an diesen beiden, etwas abseits liegenden Wunden sehen…eine davon durchdringt den Deltamuskel in der Schulter…hier, und die andere, den schrägen Bauchmuskel…sie ist aber weit genug von Milz und Nieren entfernt, um nicht viel Schaden anzurichten. Dieser Einstich hier ist in der Nähe des Darmbeins, aber verfehlte die Bauchaorta…und diese beiden in den Rippen…dieser hier könnte die Subclavia-Vene…nein, warte, ich glaube das hat er nicht, die Messerspitze stieß auf die erste Rippe. Der letzte Stich liegt zwischen der zweiten und der dritten Rippe auf dem Brustbein, weit weg von jeder Hauptarterie. Holmes, das ist sehr merkwürdig“ Ich hielt in meiner Untersuchung inne und wischte meine Hände an dem Leintuch ab. „Keine dieser Wunden erscheint mir wirklich lebensbedrohlich.“
 

Holmes schlug die Augen auf. „Bist du dir sicher?“
 

„Na ja…ohne ein Skalpell kann ich mir nicht ganz sicher sein. Aber ich bin ziemlich überzeugt davon. Der Grund könnte die ziemlich kurze Klinge des Messers sein. Oder vielleicht war der Täter so unsicher und nervös, dass er auf das Zielen verzichtete. Wahrscheinlich ist es eine Kombination dieser Möglichkeiten. Aber…nun ja, obwohl er fünfmal verletzt wurde, ist es seltsam, dass er überhaupt gestorben ist. Es hätte viel länger dauern müssen, bis er verblutete, wenn weder eine Arterie noch eine Vene durchstochen wurden. Es ist sehr seltsam.“
 

„Hmm…“, sagte Holmes und zog sich seine Handschuhe an. So sanft, als liebkoste er die Wange einer Frau, strich seine Hand über die Wunden. Er versuchte sie so zu sehen, wie sie vor vier Tagen gewesen waren. „Sieh her, trotz des begonnenen Verwesungsprozesses kann man noch deutlich erkennen, dass die Wunden in der Zeit von ihrer Zufügung bis zu Bishops Tod scheinbar überhaupt nicht verheilt sind. Nach diesen Stunden würde man eigentlich bereits einen gewissen Grad von Schorf erwarten, nicht wahr?“
 

„Bei Jupiter, du hast Recht…das ist wahrlich ein merkwürdiger Tod…ich frage mich, ob…Holmes, was tust du da?“
 

„Watson, sieh dir das an…“ Er hatte sein Vergrößerungsglas hervorgezogen und fuhr mit seinen Finger durch die Haare des Mannes. Dann untersuchte er seinen eigenen Daumen und Zeigefinger unter dem Glas, während er sie aneinender rieb. „Sieh dir meine Finger an. Siehst du diesen Rückstand?“
 

Ich nahm die Lupe und starrte angestrengt auf seine Hand, versuchte zu sehen, was er sah. „Nun…ich sehe eine schwache Verfärbung. Irgendetwas Dunkles…aber es könnte alles sein. Dreck…Ruß…dieser Ort ist nicht unbedingt ein Paradebeispiel an Sauberkeit.“
 

„Es ist kein Dreck und auch kein Ruß, würde ich sagen. Es hat diese dünne, ölige Konsistenz. Ich bräuchte mein Mikroskop, um genauere Schlüsse zu ziehen, aber aus dem Stehgreif würde ich sagen, es handelt sich um eine Art Tinte.“
 

„Tinte? Warum sollte ein Mann Tinte in seinem Haar haben?“
 

„Ich bin mir nicht sicher.“ Er griff nach seinem Mantel und zog sein Taschenmesser hervor, um damit einiger Strähnen von Bishops Haar abzuschneiden und sie dann sicher in seinem Taschentuch zu verstauen. „Gib mir das Messer, Doktor. Ich glaube wir sind hier fertig. Wir haben nun eines der Opfer in diesem merkwürdigen Fall getroffen. Ich denke es wird Zeit, dass wir mit dem anderen bekannt gemacht werden.“
 

„Ich hoffe Bishop war ein unterhaltsamer Gastgeber, meine Herren“, sagte Clayton, als wir wieder im Warteraum auftauchten. „Aber sollte das nicht der Fall sein, fürchte ich, dass es mit Kingston nicht anders sein wird.“
 

„Hegen Sie irgendeine Art persönlichen Groll gegen diesen Mann, Clayton? Ich muss sagen, sie scheinen sehr viel Befriedigung über seine Lage zu empfinden.“
 

„Er ist ein Mörder, Sir!“ Er hielt abrupt an. „Es ist wahr, dass ich es genieße, einen solchen Mann seiner gerechten Strafe zuzuführen!“
 

Wir standen nun vor einer Zelle mitten in einem düsteren, tunnelartigen Gang. Scheinbar war der einzige Unterschied zwischen dieser neueren, oberen Abteilung des Gefängnisses und der abstoßenden unteren Abteilung das zischende Gaslicht an den Wänden, das uns lange Schatten voraus warf. Eine weitere eiserne Zelle war unser Ziel; doch in dieser wartete der dunkle Umriss eines Mannes.
 

„Auf die Beine!“, schrie Clayton, sobald die Tür geöffnet war und versetzte dem Gefangenen einen Tritt.
 

„Um Gottes Willen! Er ist ja kaum mehr als ein Junge!“, rief ich. Clayton wand sich mir mit einem wütenden Blick zu; zornig dass ich es gewagt hatte, ihn vor einem Gefangenen zurechtzuweisen.
 

„Bitte, meine Herren!“, sagte Holmes und ergriff meinen Arm. „Wenn Sie so freundlich wären, Clayton, uns mit ihm allein zu lassen. Das wäre ausgesprochen hilfreich.“
 

Aus irgendeinem Grund stimmte Clayton zu und ging hinaus. „Denken Sie nur daran, dass Sie meine Warnung beachten sollten, Mr. Holmes. Dr. Watson.“
 

Die Einrichtung der Zelle bestand aus einer bloßen Pritsche an der Wand, bedeckt mit einer braunen Wolldecke und einem Kissen. Darauf saß ein Bursche gegen die Wand gekauert, den Kopf auf die Hände gelegt. Er war dunkelblond und hatte breite Schultern, aber ein freundliches und kindliches Gesicht. Obwohl ich wusste, dass er mindestens achtzehn Jahre alt sein musste, wirkte er jünger. Als Clayton die Tür ins Schloss warf, zuckte er merklich und blicke uns aus dunklen, angsterfüllten Augen an.
 

„Sie brauchen keine Angst zu haben, Mr. Kingston“, sagte Holmes. „Ich bin Sherlock Holmes und das ist Dr. Watson. Wir wurden von Elizabeth Bishop engagiert, um den Mörder ihres Vaters zu finden.“
 

„Sie kommen von Lizzie?“ Sein Gesicht leuchtete voller Hoffnung.
 

„In der Tat.“
 

„Sie haben ihr nicht erlaubt, hierher zu kommen und mich zu besuchen. Es waren nur vier Tage, mein Herren, aber ich vermisse sie schrecklich. Ich würde meinem Tod glücklich gegenüber treten, wenn ich ihr schönes Gesicht nur noch einmal sehen dürfte.“
 

„Ich denke nicht, dass das notwendig sein wird“, sagte Holmes und setzte sich neben ihn. Da es keine anderen Sitzmöglichkeiten in der Zelle gab, lehnte ich mich gegen die Steinmauer und zog mein Notizbuch heraus. „Ich glaube an Ihre Unschuld in diesem Verbrechen und werde das auch beweisen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.“
 

„Wenn es das ist, was Lizzie will, dann werde ich tun, was ich kann. Aber ich muss Ihnen sagen, Sir, dass ich schon Clayton und jedem anderen hier meine Unschuld beteuert haben. Sie wollen es nicht hören.“
 

„Nun, ich will es hören, Kingston. Zunächst einmal: Was fühlten Sie, als Bruce Bishop vor drei Wochen plötzlich zurückkehrte?“
 

Kingston schüttelte den Kopf. „Ich kam erst nach Black Bishop, nachdem Mr. Bishop verschwunden war. Lizzie überglücklich über die Rückkehr ihres Vaters, also freute ich mich mit ihr. Ich hatte keinen Grund, zu irgendwelchen anderen Gefühlen, Sir.“
 

„Aber irgendwann in diesen drei Wochen, wurde Bishop sehr wütend auf Sie. Und augenscheinlich auch Sie auf ihn. Worauf gründete sich dieser folgenschwere Streit?“
 

„Es war…nun…“ Sein dunkles Gesicht färbte sich im fahlen Licht rot.
 

„Ich will Ihnen die Erklärungen ersparen, Kingston“, sagte Holmes. „Sie wollten seine Erlaubnis Miss Bishop zu ehelichen. Aber ihr Vater war widerwillig.“
 

Kingston nickte. „Ja, Sir. Auch wenn ‚widerwillig’ eine ziemliche Beschönigung ist. Um ehrlich zu sein, er war rasend. Rasend, dass ich so etwas auch nur vorschlagen konnte. Lizzie war die Enkeltochter eines Earls und ich war…nun ja, nicht vom selben Stand.“
 

„Ich bin sicher, die Tatsache, dass Elizabeth nach dem Tod ihrer Mutter 500 Pfund mehr erben würde, sollte sie verheirate sein, auch einen gewissen Einfluss auf die Ansichten ihres Vaters ausgeübt hat.“
 

„Aber…Lizzie und ich hatten kein Interesse an Geld. Das würde ich auf die Bibel schwören, Sir…“
 

„Natürlich, Kingston“, sagte Holmes und hob beschwichtigend die Hand. „Aber Sie erkennen, dass das alles Ihnen ein Motiv gibt. Das und das Messer natürlich“ Er griff in seine Tasche, zog das Messer daraus hervor und rammte es in die Holzpritsche zwischen ihnen. „Sie sind sich sicher, dass es Ihres ist?“
 

„Ich habe eine kleine Messersammlung, Sir. Ein paar habe ich noch von meinem Vater geerbt. Das einzige, was er mir jemals geschenkt hatte…ein paar habe ich über die Jahre als Geschenke erhalten. Meistens von Lizzie. Ich hatte zwei von genau dieser Art…“ Er hielt plötzlich inne, hob das Messer auf und starrte es ungläubig an. Seine Kinnlade fiel herab.
 

„Ja. Kingston?“ Holmes schien eine solche Reaktion erwartet zu haben. Ich konnte den Eifer auf seinem Gesicht sehen.
 

„Aber…nein, das ist unmöglich.“
 

„In Wahrheit ist es gar nicht Ihr Messer, oder, mein Junge?“
 

Kingstons Unterlippe zitterte. Er ballte seine recht Hand um das Messer zur Faust, drehte es immer hin und her. Er schüttelte den Kopf. „Nein!“, schrie er plötzlich und warf es hart auf den Boden. Mein eigenes fassungsloses Schweigen, machte das Klirren des Metalls auf dem Steinboden umso noch deutlicher.
 

„Es ist nicht Ihr Messer, Kingston?“
 

„Natürlich ist es das nicht, Watson. Er will jemanden schützen. Wer ist es? Sagen Sie es mir und Sie sind ein freier Mann.“
 

Kingston warf meinem Freund einen wahrlich gequälten Blick zu. Seine Augen waren geweitet. Alle Farbe hatte seine Wangen verlassen. Es war schon lange her, seit ich einen so verstörten Mann gesehen hatte. Nun, vielleicht entspricht das nicht ganz der Wahrheit, aber ich hatte trotzdem Mitgefühl mit ihm. Als er zu sprechen begann, hatte sein Stimme jeden Ausdruck verloren: „Nein, Sir. Ich habe mich geirrt. Das ist ganz sicher mein Messer.“
 

Holmes sprang auf die Füße. „Um Himmelswillen, Junge! Ich weiß, dass Sie jemanden schützen! Wollen Sie wirklich Ihr Leben wegwerfen, nur weil Sie sich dazu verpflichtet fühlen?“
 

Aber er nickte nur. „Ich muss, Sir!“
 

„Seien Sie kein Narr, Kingston!“
 

Kingston sprang auf die Füße und hämmerte mit den Fäusten gegen das Gitter. „Clayton! Mr. Clayton! Ich will ein Geständnis machen!“
 

Nichts was Holmes sagte, konnte Clayton davon überzeugen, dass Kingston log und auch nicht Kingston, dass er einen schrecklichen Fehler beging. Clayton war begeistert, dass Holmes genau das getan hatte, was er versprochen hatte – ihm ein Geständnis verschafft. Er wollte nichts davon hören, dass es erlogen war.
 

„Warum sollte er so etwas tun?“, fragte ich meinen Freund, als wir das Gefängnis verließen. „Wen will er schützen?“
 

„Den Mörder natürlich.“
 

„Aber wer ist es?“
 

Er schien mir gar nicht zuzuhören. „Es fehlt immer noch irgendetwas. Ein paar Puzzleteile passen einfach noch nicht ins Bild. Wir müssen zurück nach Black Bishop.“
 

Wir erreichten das Anwesen, genau nachdem das Begräbnis zu Ende war. Bruce Bishop war unter einem großen Marmorgrabstein hinter dem Anwesen beigesetzt worden, gegenüber dem Strom und den Pinien. Es war eine kleine, private Angelegenheit nur mit seinen Kindern, Dienern und einigen wenigen Dorfbewohnern, die als Sargträger mitgewirkt hatten. Ein runzeliger alter Vikar leitete das ganze Ereignis. Ich hatte halb die Anwesenheit von Lady Catherine erwartet, aber sie fehlte. Ich vermute, dass ihre Krankheit es nicht zuließ. Die Gäste wurden für ein kleines Mittagessen in die Bibliothek geführt. Miss Bishop, gekleidet in ein langes schwarzes Kleid, kam zu uns herüber. „Es tut mir Leid, dass Sie die Grabrede nicht miterleben konnten, meine Herren. Trotz der Umstände war sie sehr respektvoll und würdig.“
 

„Sie wurde zweifellos von Bullard gehalten?“, fragte Holmes.
 

„Nein, eigentlich…baten wir den Vikar sie zu halten. Ich fürchte Mr. Bullard ist krank und konnte nicht kommen.“
 

Holmes zog die Augenbrauen hoch. „Ist er das? Was für ein…Zufall.“
 

„Nun, Vater ruht in Frieden. Nun muss nur noch sein Mörder vor Gericht gebracht werden. Sind Sie bei Ihren Nachforschungen schon vorangekommen?“
 

Während ich mir einen starken Tee holte, war ich davon überzeugt, dass er es bereits wusste, aber noch nicht bereit war es uns zu verraten.
 

„Ich denke, dass ich am Ende des heutigen Tages eine Antwort für Sie haben werde“, sagte Holmes. Miss Bishop verließ uns darauf und Holmes und ich hatten Zeit die Bibliothek zu betrachten. Sie war wirklich beeindruckend. Alle Wände außer einer waren mit Regalen bedeckt, in denen sich vom Fußboden bis zur Decke Bücher stapelten. An dieser einen standen ein Lesetisch mit mehreren Fotographien und einigen Pistolen in Schaukästen.
 

„Bemerkenswert…“, sage Holmes und deutete mir, sie zu untersuchen.
 

„Das ist es sicherlich“, sagte ich. „Es ist zwar nicht die teuerste Sammlung, die ich kenne, aber sie haben tatsächlich einige Raritäten. Dieser Kavallerierevolver mit Steinschloss zum Beispiel stammt wahrscheinlich noch aus dem Jahre 1790. In England nach einem türkischen Entwurf gefertigt, würde ich sagen. Und, Holmes, sieh dir diese indische Toradormuskete an. Fabelhaft! Ende des letzten Jahrhunderts, verziert mit den wundervollen Goldornamenten der Koftgari.“
 

Holmes sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Mir war nicht klar, was für ein Fachmann du in Sachen Feuerwaffen bist, Doktor.“
 

„Äh…bei weitem kein Experte. Aber ich habe einiges aufgeschnappt. Es ist wirklich erfreulich, solche seltenen und gut erhaltenen Exemplare zu sehen.“
 

„Ihre Seltenheit ist allerdings nicht das Bemerkenswerte daran. Mehr die Tatsache, dass eine fehlt. Hier.“
 

Er deutete auf einen Kasten direkt über dem Schreibtisch. Er wurde von einer Trennwand geteilt und war offensichtlich dazu gedacht, darin zwei Pistolen aufzubewahren, wahrscheinlich von derselben Art: eine stupsnasige British Bulldog. Die eine Seite enthielt immer noch die Waffe; die andere war leer.
 

„Vielleicht wird sie gerade gereinigt“, sagte ich. „Oder vielleicht haben sie nur eine davon.“
 

Holmes schnaubte. „Das bezweifle ich sehr stark. Außerdem finde ich, dass es höchste Zeit ist, nach London zurückzukehren. Wir kamen hier in den Genuss der herrlichen Landluft, aber das nächste Puzzleteil liegt in der Stadt“ Ich beobachtete, wie sein Blick auf eine der gerahmten Fotographien auf dem Schreibtisch fiel. Es war ein Portrait der Bishopfamilie, aufgenommen in glücklicheren Zeiten.
 

„Ah, Miss Bishop“, sagte er und klopfte ihr auf der Schulter, während sie gerade dabei war mit einer mir unbekannten jungen Frau zu sprechen. „Entschuldigen Sie mich, aber ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Dr. Watson und ich für kurze Zeit in die Stadt zurück müssen. Und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir gestatten würden, dieses Bild Ihrer Familie auszuleihen?“
 

Sie nahm es mit einem abwesenden Lächeln in ihre Hände. „Ich kann mich noch daran erinnern, als es aufgenommen wurde. Nur Monate bevor Vater verschwand. Nehmen Sie es, Mr. Holmes, wenn es Ihnen hilft. Aber es ist die einzige Fotographie meines Vaters. Sie sollten…“
 

„Ich werde es mit meinem Leben schützen, Madam.“ Er lächelte und deutete mir mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes, zu gehen.
 

„Oh! Sie werden mich doch auf dem Laufenden halten, wenn Sie etwas Neues erfahren, nicht wahr, Mr. Holmes?“
 

Er drehte sich zu ihr um. „Darauf können Sie sich verlassen“, sagte er. „Und wahrscheinlich schon sehr bald.“
 

Holmes starrte ständig auf die Fotographie und sah während der ganzen Heimreise kaum einmal davon auf. Ich wurde fast von meiner Neugier zerfressen, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann ich ihn nicht stören durfte. Wahrscheinlich waren es das sanfte Rattern des Zuges und die vorbei rauschende Landschaft, die meine Lider immer schwerer werden ließen, bis ich schließlich in einen leichten Schlaf glitt. Trotzdem fühlte ich mich nicht im Geringsten erholt, als der Zug schließlich in der Stadt in den Bahnhof einlief. Nur leer und steif.
 

„Wir waren nur einen Tag fort und doch fühlt es sich wie eine ganze Woche an“, meinte ich, als wir in eine Kutsche stiegen. „Es muss an diesem Fall liegen, ich werde wahrlich dankbar sein, wenn du ihn gelöst hast und ich ein üppiges Abendessen und einen erholsamen Schlaf genießen kann, ohne dass mich der Mord an Bruce Bishop verfolgt.“
 

„Dein Wunsch wird sich schon sehr bald erfüllen. Wir müssen allerdings noch einen Zwischenstopp einlegen. Kutscher!“ Er gab eine Adresse an, die mir vage bekannt vorkam.
 

„Wohin fahren wir, Holmes?“, fragte ich.
 

„Zu Bullard natürlich.“
 

Eine Sache hat mich während meiner langen Bekanntschaft mit Sherlock Holmes immer besonders erstaunt hatte (und es gibt wahrlich viele Dinge an ihm, die mich erstaunten), war seine Fähigkeit, genau vorherzusagen, wann die Dinge ihre entscheidende Wendung nahmen. So wie an jenem Tag als wir gemeinsam in Bullards Büro ankamen. Genau rechtzeitig. Denn als wir an dem protestierenden Sekretär vorbeistürzten, fanden wir Bullard über einen eisernen Tresor gebeugt und hastig Papiere in einen Koffer stopfend.
 

„Ich halte das für keine besonders gute Idee, Sir“, sagte Holmes und packte ihn mit einer Hand an der Schulter. „Und wenn Sie damit weitermachen, dann werde ich Watson hier nach einem Polizisten schicken lassen.“
 

„Mr. Holmes!“, rief Bullard. Seine Stimme versagte beinahe, als er zurücksprang. „Was tun Sie hier?“
 

„Der erste Grund, der mir dazu einfällt, Bullard, ist, um Sie zu fragen, warum Sie hier alle Ihre Sachen zusammenpacken? Besonders wo wir doch erst vor wenigen Stunden von Elizabeth Bishop erfahren haben, dass Sie zu krank seien, um das Begräbnis ihres alten Freundes Bruce Bishop zu besuchen.“
 

„Großer Gott!“, sagte ich und glaubte, nun endlich alle Teile in Händen zu halten. „Wir sind gewiss gerade noch rechtzeitig gekommen, Holmes. Offensichtlich wollte er aus der Stadt fliehen, bevor wir der Polizei sagen konnten, dass er Bishop ermordet hat!“
 

„Ermordet! Ermordet…nein, nein, Sir, ich schwöre, dass ich’s nicht war!“ Bullard lief – ganz ähnlich, wie bei unserer ersten Befragung – komplett rot an und sackte in einem Sessel zusammen. „Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Schlussfolgerung kommen, aber Sie irren sich“

„Wie wir zu dieser Schlussfolgerung kommen?! Nachdem wir Sie hier auf frischer Tat ertappten, wollen Sie immer noch leugnen? Dann ist das hier wohl Ihre Art von einem Frühjahrsputz?“ Ich wand mich zu meinem Freund um, während mein Zorn sich weiter steigerte. „Ich denke es ist wirklich höchste Zeit, dass ich einen Polizisten suche.“
 

„Aber ich habe niemanden ermordet, Sir! Das schwöre ich bei meinem Leben!“ Bullard war nun verzweifelt, bat uns in einer Art und Weise, dass ich halb erwartete, er würde auf die Knie fallen und uns anflehen.
 

„Du verlogener Mistkerl…“
 

„Nein, Watson, warte“, sagte Holmes, als ich auf die Tür zuging, um meine Drohung wahr zu machen. „Er sagt die Wahrheit. Er hat Bishop nicht getötet. Nichtsdestotrotz trägt er die Schuld an einem beinahe ebenso abscheulichen Verbrechen.“
 

„Wirklich? Und das wäre?“
 

Holmes blickte verächtlich auf Bullard herab. „Sie haben mich gestern belogen, Bullard. Es war völlig offensichtlich, dass Sie wissen mussten, dass Bishop in jenen sechs Jahren am Leben war. Ohne einen Verbündeten wäre es ihm unmöglich gewesen, für so lange Zeit unterzutauchen.“
 

„Sie haben keine Beweise, Sir!“, rief Bullard. „Und selbst wenn ich es getan hätte; das ist kein Verbrechen!“
 

„Ich fürchte, Sie liegen in beiden Fällen falsch, mein lieber Sir.“ Holmes griff in seine Jackentasche und zog mehrere Stücke verblichenen Papiers hervor. „Vielleicht erkennen Sie das, Bullard? Wenn nicht, dann werde ich ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen. Dies ist das Testament des verstorbenen Warburton Bishop, des Vaters von Bruce Bishop. Sie erzählten mir gestern, ihm sei von seinem Vater eine bescheidene Summe hinterlassen worden, von der er in diesen sechs Jahren gelebt hatte. Aber diesem Testament zufolge waren ein Berg von Schulden, die er begleichen musste, und etwas persönlicher Besitz alles was Bishop erbte. Es wäre höchst unwahrscheinlich, dass ein Mann, der sein ganzes Leben als Fischer verbracht hat, viel zu vererben hätte. Sie, als sein Solicitor, hätten das gewusst.“
 

Bullard fiel zurück in seinen Ledersessel. Er war ein Mann, der einfach besiegt werden konnte.
 

„Ich hatte niemals die Absicht irgendjemanden zu betrügen, am wenigsten von allen Catherine und ihre Kinder. Aber meine Treue zu Bruce überwog mein Urteilsvermögen. Er kam zu mir, Sir, kam zu mir als gebrochener Mann. Auch er wollte seine Frau und seine Kinder nicht verletzten, denn er liebte sie sehr, aber er verabscheute sein zurückgezogenes Leben. Und so entwickelten wir einen ehrbaren Plan. Er würde verschwinden und er würde alle in dem Glauben lassen, dass er seine Familie nicht verlassen hätte, sondern tot war. Ich nahm nur so viel Geld vom Besitz der Bishops, dass Bruce davon vorsichtig leben konnte. Catherine hätte es so gewollt! Und ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, dass er jemals zurückkommen wollte. Es war für mich eine ebensolche Überraschung wie für die Bishopkinder.“
 

„Was Sie soeben gestanden haben, Bullard, läuft auf Diebstahl und Erpressung hinaus. Sie können wohl kaum behaupten, dass alle Ihrer Schuld darin liegt, einem Freund geholfen zu haben“, sagte ich. „Stimmst du mir nicht zu, Holmes?“
 

Ich erwartete, dass er nun all die anderen Beweistücke ausbreiten würde, Beweisstücke, die zeigen würden, dass dieser Mann zweifellos ein Insekt war. Ein armseliges Insekt, dass einen langen Aufenthalt im Gefängnis verdiente. Aber er tat es nicht. „Ich würde Ihnen raten, Bullard, Ihr Vorhaben hier abzubrechen“ Er deutete auf die unzähligen Papiere, den halbgefüllten Koffer und den leeren Safe. „Andernfalls würden Sie gesetzwidrige Fluch noch auf die immer länger werdende Liste Ihrer Schandtaten hinzufügen“ Er erhob sich von seinem Stuhl und steuerte auf die Tür zu.
 

„Warte! Holmes, wir können ihn doch ganz gewiss nicht einfach so hier lassen?!“
 

„Aber, aber, Watson, wenn wir ihn nun verlassen, schaffen wir es noch rechtzeitig nach Hause für ein frühes Abendessen. Ich bin mir sicher, unsere wundervolle Wirtin wird eines für uns vorbereitet haben. Wir werden hier nicht mehr gebraucht.“
 

Bullard sah so überrascht aus, wie ich mich fühlte. „Ich danke Ihnen…ich danke Ihnen vielmals, Mr. Holmes.“
 

„Wenn ich Sie wäre, Bullard“, sagte Holmes mit eisiger Stimme. „Wäre ich nicht so voreilig mit meinem Dank.“
 

In der Kutsche auf dem Weg zur Baker Street hatte ich beinahe Angst davor, das Gespräch auf das soeben Geschehene zu lenken. Aber ich konnte nicht widerstehen. „Holmes, ich muss zugeben, dass ich etwas erstaunt bin.“
 

Er lächelte und reichte mir einige Briefumschläge. „Das dachte ich mir schon. Ich hoffe, das hier wird dir alles etwas klarer machen.“
 

Ich betrachtete sie. Sie waren an einen ‚B. Warburton’ adressiert, irgendwo in Südfrankreich. „Was ist das?“, fragte ich ihn.
 

„Als ich letzte Nacht nach Lord Hiltons Testament suchte, bin ich über diese Briefe gestolpert. Es schein ziemlich unglaubwürdig, dass Bishop sie wieder mit sich zurückbringen würde oder dass Bullard es nicht für nötig hielt sie zu verbrennen. Ich denke, die einzige Erklärung ist wohl, dass sie sich mit ihren Machenschaften so sicher fühlten, dass Bullerd niemals erwartet hätte, aufzufliegen. Ich kann dir allerdings versichern, dass zahlreiche andere davon genau in diesem Moment auf ihrem Weg zu Scotland Yard sind und bevor der Tat zu Ende ist, wird sich unser ehrenwerter Solicitor in Haft befinden.“
 

„Aber was genau steht in diesen Briefen?“
 

„Nicht mehr als eine ganze Ladung Diebstahl und Betrug – zusätzlich zu unserer bereits verurteilten Erpressung. Es scheint das Bullard, der bereits zugab, mit Bishop Kontakt gehab zu haben, auch für das Testament von Lady Catherine Hilton verantwortlich war – inklusive der Tatsache, dass ihr Ehemann immer noch der einzige Begünstigte war. Bishop und er planten seine Rückkehr zu einer Zeit, wenn Lady Catherine schon auf ihrem Sterbebett läge, um sich dann das Geld zu teilen.“
 

„Und ohne einen Penny für Elizabeth und Richard?“ Meine Verachtung für diesen Mann wuchs mit beachtlicher Geschwindigkeit. „Aber er erscheint mir auch verachtenswert genug, um sich schließlich auch gegen seinen Freund zu wenden. Vielleicht entschied Bishop nach seiner Rückkehr, dass er die ganze Erbschaft für sich haben wollte. Und Bullard war so wütend, dass er ihn getötet hat!“
 

Holmes warf mir einen spöttischen Seitenblick zu. „Das denke ich nicht, Doktor. Zuallererst scheint es höchst unwahrscheinlich, dass Bishop versucht haben sollte, seinen Freund zu betrügen bevor Lady Catherine tot wäre. Dafür wusste Bullard zu viel. Er hätte das Testament ändern können, die Polizei informieren oder wer weiß was noch. Ganz zu schweigen, dass das immer noch nicht erklärt, was Tom Kingston verbirgt. Nein, trotz seines schrecklichen Benehmens können wir mit Sicherheit sagen, dass er zu feige wäre, um einen Mord zu begehen.“
 

„Gut, aber wer war es dann?“
 

Er griff nach seinem Stock und klopfte damit gegen das Kutschendach. „Aber, aber, Watson“, sagte er. „Geduld ist eine Tugend.“
 


 

„Papa!“
 

Ich hatte kaum einen Fuß in die 221B gesetzt, als ich auch schon von den aufgeregt zappelnden Gliedern eines Dreijährigen bombardiert wurde. Er umklammerte meine Beine mit einer Kraft, die ich einem so kleinen Kerlchen niemals zugetraut hätte.
 

„Ich glaube, ich hätte ganz gern meine Beine zurück, Sohn.“ Ich hob ihn in meine Arme. „So lange war ich doch auch wieder nicht weg, oder?“
 

„Doch das warst du“, sagte er, die kleinen Lippen zu einem Schmollmund verzogen. „Du warst die ganze Nach fort. Du warst nicht da, um mir vorzulesen, bevor ich ins Bett musste.“
 

„Aber Mrs. Hudson war doch hier. Hat sie dir nicht vorgelesen?“
 

„Sie ist aber nicht du.“
 

Bis zu diesem Moment hatte ich nicht einmal daran gedacht, dass dies die erste Nacht gewesen war, die der Junge ohne entweder seine Mutter, mich oder wenigstens sein Kindermädchen verbracht hatte. Nach allem, was passiert war, hätte ich erkennen müssen, wie sehr ihn das aus der Fassung bringen würde. „Es tut mir Leid, Josh. Aber Mr. Holmes brauchte mich in diesem Fall. Ich hatte nicht erwartet, dass wir über Nacht wegbleiben würden. Aber ich werde es wiedergutmachen. Sobald der Fall abgeschlossen ist, mache ich mit dir einen Ausflug in den Zoo. Na, wie klingt das?“
 

Er strahlte und schlang seine Arme um meinen Hals. „Versprichst du’s?“
 

„Natürlich. Ein Mann steht zu seinem Wort.“
 

Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich zu jenem Zeitpunkt unglaublich verbraucht. Ich hätte ihm das Blaue vom Himmel versprochen, wenn ich mich dafür nur vor dem Kamin im Wohnzimmer hätte ausstrecken dürfen. Mit einem herrlichen Abendessen natürlich und etwas starkem Tee und danach früh zu Bett. Dieser Fall hatte mich – im Gegensatz zu den vielen anderen aus Holmes’ fesselnder Vergangenheit – nicht mit Faszination erfüllt, mit dem Wunsch, ihm bei der Aufklärung zuzusehen, sondern lediglich mit dem starken Verlangen, er möge endlich vorüber sein. Ich hätte es auf die jüngsten Ereignisse in meinem Leben schieben können, oder auf die Tatsache ich nicht mehr so jung war wie früher oder auf irgendwelche andere Vorwände. Aber ich wusste, dass all das nicht die Gründe dafür waren. Etwas passierte. Etwas, das ich nicht benennen konnte. Aber sogar ich hatte genügend Voraussicht, um zu wissen, dass es noch nicht vorbei war. Ich konnte nicht sicher sagen, ob es mich erschreckte oder ich mir Sorgen machte, obwohl das vielleicht der Fall war. Alles, was ich in jenem Moment wusste, war, dass es mich irgendwo tief drinnen beschäftigte. Meine Seele spürte es. Und ich fühlte mich so verbraucht.
 

„Komm, Josh. Lass uns ins Wohnzimmer gehen und es uns dort vor dem Kamin gemütlich machen. Dann kannst du laut vorlesen üben.“ Aber wir hatten gerade erst mit Mother Goose begonnen, als Holmes ins Zimmer rauschte.
 

„Ich habe Mrs. Hudson gebeten, uns etwas Tee nach oben zu schicken. Ich muss mir diese bestimmten Haare unter dem Mikroskop ansehen.“
 

„Onkel!“, sagte Josh und blickte von seinem Buch auf. „Papa und ich gehen nach deinem Fall in den Zoo!“
 

Er starrte den Jungen an, als hätte er nicht einmal die geringste Ahnung, was ein Zoo sein sollte. „Zoo? Oh, sehr schön, John Sherlock.“
 

Der Junge beobachtete ihn mit überaus neugierigen Augen, während Holmes sein Taschentuch und die Fotographie hervorzog. „Kann ich helfen?“, fragte er.
 

„Hmm…“ Er starrte konzentriert in seinen Apparat, drehte sorgfältig an den Rädchen. „Ich hatte Rech, Watson. Es ist tatsächlich Tinte. Eine billiger Druckertinte, im Übrigen.“
 

„Wirklich?“, sagte ich mit einem unterdrückten Gähnen. „Das ist faszinierend, Holmes.“
 

„Onkel? Kann ich helfen?“
 

Holmes seufzte, während er zum Kamin schlenderte, seine Calabash aufhob und sie stopfte. „Es fehlt trotzdem immer noch etwas. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich so lange brauche, um es zu verstehen.“
 

„Ich will helfen, Onkel!“ Er packte Holmes’ Rockschöße und zog heftig daran.
 

„Josh, hör auf, ihn zu belästigen. Er versucht, zu denken. Komm her und sei einfach für ein paar Minuten still. Und dann kannst du mit uns Tee trinken.“
 

Holmes sah ihn an, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Nein, nein, Watson. Du kannst mir helfen, mein Junge. Es wäre zumindest ein exzellentes geistige Training, wenn schon sonst nichts dabei herauskommt. Jetzt nimm dieses Bild und setzt dich.“
 

„Komm schon, alter Junge, du denkst doch nicht ernsthaft, dass er erkennen könnte, was du übersehen hast?“
 

Holmes kauerte sich mir gegenüber in seinen Lehnstuhl. „Versuche ein wenig mehr Vertrauen zu haben, mein Freund.“
 

Josh nahm die Fotographie in seine pummeligen, kleinen Hände und studiert sie so konzentriert, dass ich lächeln musste. Rückblickend erkenne ich, dass ich der Einfältige gewesen war. Ich hätte es besser wissen sollen, als an meinem Kind zu zweifeln. Selbst im Alter von drei Jahren.
 

„Was erkennst du?“, fragte ihn Holmes.
 

„Sie sind glücklich.“
 

„Ja. Das ist offensichtlich. Aber du solltest mit deinen Beobachtungen tiefer gehen.“
 

„Na ja, die Frauen sind hübsch.“
 

Holmes quittierte mein Lachen mit einem Schnauben. „Das tut nichts zur Sache. Gib dir mehr Mühe, Junge.“
 

Josh legte das Bild weg und verschränkte die Arme. „Kann ich nicht. Edduzieren ist zu schwer nur mit Bildern, Onkel.“
 

„Es ist schon gut, mein Sohn“, sagte ich und wand mich zu Holmes. „Du erwartest zu viel von ihm. Es ist immer noch ein kleines Kind, um Himmels willen.“
 

Mein Freund knallte seine Pfeife auf den Tisch. „Du darfst ihm nicht erlauben aufzugeben, Watson! Er hat diese seltene genetische Veranlagung zum logischen Denken, aber sie wird verkümmern, wie jeder Muskel, der nicht trainiert wird. Nun, John Sherlock, sag mir was du siehst.“
 

Wäre ich nicht wegen der letzten 48 Stunden so erschöpft gewesen, dann wäre ich wütend über sein herablassendes Benehmen geworden. Schließlich war immer noch ich der Vater des Jungen. Aber weil ich todmüde war, tat ich es nur mit einem Schnauben ab. Sollte Holmes doch den Schulmeister spielen, wenn es ihm gefiel. Alles woran ich noch denken konnte, war endlich meine schweren Augenlider auszuruhen.
 

„Hm, der Junge und das Mädchen sind Bruder und Schwester. Müssen sie, weil sie sich so ähnlich sehn.“
 

„Ja, ja. Das ist ein Anfang.“
 

„Die Frau schaut traurig. Nein…ihr geht’s nicht gut. Sie ist krank. Sie ist so dünn und diese dunklen Flecken unter den Augen.“
 

„Hervorragend, mein Junge!“
 

„Mehr kann ich nicht sagen, Onkel. Es tut meinen Augen weh, so viel zu starren. Nur eins noch: Der Mann ist Matrose.“
 

„Matrose? Woher willst du das wissen?“
 

„Er hat eins dieser Bootsdinger auf der Hand.“ Josh deutete auf einen Flecken auf dem Foto. „Glaub ich jedenfalls. Weiß nich’ mehr, wie die heißen.“
 

„Ein Anker…“ Holmes zog die Lupe aus seiner Weste und blinzelte durch sie mehrere endloslange Sekunden auf die Fotographie. Dann sprang er plötzlich auf die Füße. Er war so blass wie ein Gespenst und wirkte, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. „Großer Gott…Watson, wie konnte ich das nur übersehen?“
 

„Übersehen? Was hast du übersehen, alter Junge?“, frage ich benommen.
 

„Es könnte alles umsonst gewesen sein…komm, Watson! Und beeil dich um Gotteswillen! Oh…und dein Revolver!“
 

Er war schon fast durch die Wohnzimmertür, während ich mich noch immer nicht aus meinem Lehnstuhl erhoben hatte. „Holmes, was ist überhaupt los? Es ist beinahe Abendessenszeit. Wo sollen wir denn jetzt noch hin?“ Seine Energie ermüdete mich nur noch mehr; schon allein ihm zuzusehen war fast zu viel.
 

Weil ich mich immer noch nicht bewegt hatte, schnappte er sich selbst mein Armeerevolver von seinem Platz auf dem Schreibtisch und steckt es in seine Manteltasche. „Nach Black Bishop, natürlich.“
 

„Aber…aber da kommen wir doch gerade erst her!“
 

Holmes’ Gesicht war entsetzlich blass, eine beachtliche Leistung für einen Mann, der ohnehin schon kaum Farbe im Gesicht hatte. Rückblickend, werter Leser, würde ich beschwören, dass er auf irgendeine Art und Weise vorhergesehen hatte, was geschehen würde, auch wenn ich nicht sagen kann wie. „Mein lieber Doktor“, sagte er mit tiefer Stimme. „Wenn wir es nicht rechtzeitig dorthin schaffen, werden wir Zeugen einer weiteren Tragödie in Dartmoor werden.“
 

Eine schnelle Kutsche und eine halbe Guinea später saßen Holmes und ich schon wieder in einem geschäftigen Zug in Richtung des Moors. Sogar Josh war zu überrascht gewesen, als dass er gegen unsere mehr als ungeplante Abreise protestiert hätte. Ich hatte nur noch Zeit gehabt, Mrs. Hudson ein schnelles Zeichen zu geben, während wir durch die Vordertür gerannt waren. Das Einzige, das nun zu klären blieb, war, was Holmes auf der Fotographie gesehen hatte, dass wir nun in halsbrecherischer Geschwindigkeit zurück nach Black Bishop jagten. In andren Worten – alles. Er erreichten Charing Cross gerade noch rechtzeitig für den 5-Uhr-40-Zug und hatte keine Zeit mehr, uns ein privates Abteil zu sichern. Also kauerten wir nun neben einen älteren Kerl mit dicken Augengläsern, einem Kindermädchen und zwei ihrer Schützlinge. Als ich Holmes fragte, was zum Teufel überhaupt los war, machte er nur eine abweisende Kopfbewegung.
 

„Nicht hier“, murmelte er.
 

Wie ich es schaffe, die nächsten drei Stunden in völliger Unwissenheit zu überstehen, ist mir bis heute ein Rätsel, aber irgendwie gelang es mir. Niemals hatte ich so oft in so kurzer Zeit die Uhrzeit überprüft.
 

Als der Zug langsam in den Bahnhof einlief, hatte ein grauer nebliger Regen die Landschaft überzogen. Es passte perfekt zu meiner aufgewühlten Stimmung. Ich hatte erwartet, wir würden Schwierigkeiten bekommen, da nur wenige Kutschen vor dem Bahnhof warteten, aber Holmes’ Adleraugen entdeckten eine, in derselben Sekunde, als sich die Abteiltür öffnete und er zerrte mich praktisch dorthin. „Black Bishop, sofort!“, sagte er.
 

„Was wolln Sie denn dort?“, fragte der Kutscher. Es war ganz ohne Zweifel kein übliches Reiseziel.
 

„Bringen Sie uns einfach hin, verdammt noch mal! Und sparen Sie die Peitsche nicht!“ Holmes kletterte hinein und wir fuhren los, bevor ich mich auch nur hinsetzten konnte. Ich hatte ihn schon seit langem nicht mehr so aufgeregt gesehen.
 

„In Ordnung…“, sagte ich, als die Kutsche uns ruckartig und mit sogar noch größerer Schnelligkeit als Miss Bishops Pferde vorwärts zog. „Du musst mir endlich erzählen, was los ist, Holmes. Was hast du auf dieser Fotografie gesehen? Oder da ich dich kenne, mein Lieber, lautet meine Frage eigentlich: Was auf dieser Fotografie hat dich zu diesen Handlungen getrieben?“
 

„Weißt du, Watson…es gibt einen Grund, warum ich so große Schwierigkeiten mit diesem Fall hatte. Zuerst dachte ich, der Grund dafür…nun ja, wäre etwas anderes. Aber größtenteils ist es, weil ich die ganze Sache völlig falsch angegangen bin.“ Er starrte mich mit eindringlich an und überreichte mir das Bishopfamilienportrait. „Das ist das einzige, überlebende Bild von Bruce Bishop. Das machte es besonders schwierig. Wenn wir deinen Sohn nicht gehabt hätten, Doktor…ich hätte es vielleicht niemals bemerkt.“
 

Ich hatte mittlerweile die Grenze zur Wut überschritten. „Was bemerkt, verdammt?!“
 

Er deutete auf Bruce Bishops Handgelenk. Der Arm ruhte auf der Schulter seiner Frau. Die Ärmel waren ihm zu kurz und ich konnte gerade noch einen Flecken auf seinem Handgelenk erkennen. „Nimm das“, sagte Holmes und reichte mir sein Vergrößerungsglas. Damit konnte ich es deutlicher sehen. Es war eine Tätowierung. Eine Tätowierung, die mit ziemlicher Sicherheit einen Anker darstellte. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich immer noch nicht verstand. Ich gab Holmes beides zurück. „Und? Der Mann hatte sich einen Anker eintätowieren lassen. Was soll das schon bedeuten?“
 

„Was es bedeuten soll? Nun, Doktor, es bedeutet, dass der Fall gelöst ist! Wie der kleine Josh es allerdings mit bloßem Auge erkannt hat, werde ich wohl niemals wissen, aber Gott sei dank hat er es! Doktor, erinnerst du dich nicht mehr daran, wie wir die Leiche untersucht haben? Die Leiche hatte keine solche Tätowierung!“
 

Ich war so verdattert, dass ich immer noch nicht verstand, worauf er hinaus wollte. „Dann…haben wir eine Tätowierung übersehen, als wir die Leiche untersucht haben. Wie soll das den Fall lösen?“
 

„Watson…ich habe keine Tätowierung ‚übersehen’. Ich würde niemals etwas so Offensichtliches übersehen. Die Leiche auf der Polizeistation war nicht derselbe Mann, wie hier auf diesem Foto.“
 

Ich musste ihn fassungslos und ungläubig angestarrt haben, denn er fügte hinzu: „Es war nicht Bruce Bishop, der vor fünf Nächten ermordet wurde.“
 

„Aber…wie…wer dann?“
 

Holmes lehnte sich zurück in seinen Sitz und rieb sich die Schläfen. Seine Hände zitterten leicht. „Ich könnte es erklären, aber dann müsste ich alles in wenigen Augenblicken noch einmal wiederholen. Übe dich in Geduld und bete, dass das, was ich befürchte, nicht bereits in Black Bishop geschehen ist.“
 

„Und was soll das sein?“, fragte ich, obwohl ich mir ganz und gar nicht sicher war, ob ich es überhaupt wissen wollte.
 

Holmes sah mir tief in die Augen. „Noch ein Mord.“
 


 

Im selben Augenblick als der eigensinnige Kutscher den Eingang des Anwesens erreichte, sprang Holmes aus der Kutsche und warf ihm einige Münzen zu. Trotzdem hatten wir uns kaum zwei Schritte von den Pferden entfernt, als Elizabeth Bishop schon auf uns zu gerannt kam. „Mr. Holmes! Dr. Watson! Aber wie konnten Sie mein Telegramm so schnell bekommen? Ich habe es doch gerade erst abgeschickt!“
 

„Ich habe kein Telegramm bekommen“, sagte Holmes. „Und warum sollten Sie mir eines schicken?“
 

Ihre dunklen Augen trübten sich und wurden so groß wie Hühnereier. „Aber woher wussten Sie dann, dass Tom entkommen ist?“
 

Ich bin mir sicher, Holmes muss genau so schockiert gewesen sein wie ich, auch wenn er sich solche Dinge so gut wie niemals auf seinem steinernen Antlitz anmerken ließ. „Tom Kingston ist entkommen? Ich hatte es erwogen…aber es ist jetzt viel wichtiger, ihren Bruder zu finden. Wir müssen Richard sofort finden.“
 

„Aber warum…“ Doch noch bevor Holmes antworten konnte, hörten wir eine Kutsche über die Felder rattern und sahen die dichten Staubwolken, die sie in der ohnehin schon trübe, kalte Nachtluft aufwirbelte. Aus 50 Fuß Entfernung konnte ich die zornige Rauchwolke sehen, die Claytons ganzer Körper auszustrahlen schien. Wie ein Hund rannte er auf uns zu, die Klauen und gelben Zähne gebleckt.
 

„Wo ist er?! Eins sag ich Ihnen…“, aber dann schien er Holmes und mich zu bemerken. „Sie! Sie! Sie sind irgendwie für das Ganze verantwortlich, stimmt doch?!“
 

Getrieben von einem alten militärischen Instinkt machte ich einen Schritt nach vorn zwischen Holmes und Clayton. Es war gut möglich, dass er eine Waffe gegen meinen Freund ziehen mochte. Wütend genug war er zweifellos. Aber – und ich war unglaublich dankbar dafür – er tat es doch nicht. Holmes drückte meinen Arm und ich wusste, dass ihm klar war, was ich hatte tun wollen. Das war seine Art, mir zu danken. „Ich versichere Ihnen, Clayton, dass ich keine Ahnung habe, wo sich Kingston versteckt. Oder wie er entkommen ist, was das angeht. Was ich Ihnen allerdings sagen kann, ist, dass das momentan unser geringstes Problem ist. Wir müssen Richard Bishop finden. Und bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wo er ist.“
 

„Und ich sage Ihnen, Mr. Holmes, dass“—
 

Doch plötzlich durchbrach ein lauter klarer Schuss in einiger Entfernung, dort wo die Baumreihen lichter wurden, die Stille. Das Geräusch einer Pistole.
 

Miss Bishop schrie. Der Inspektor und die beiden Polizisten wirkten perplex. Ich selbst fühlte, wie mein ganzer Körper erschauderte. Nur Holmes schien unbewegt. Er verzog ärgerlich seinen Mund, weil seine Warnungen nicht gehört worden waren und deutete auf das Wäldchen. „Inspektor, ich fürchte, Ihr Gejammer könnte Sie um Ihren Verdächtigen gebracht haben. Folgt mir alle, und Beeilung!“
 

Holmes, eindeutig der Sportlichste unter uns, raste voraus in Richtung der Pinien, während ich selbst mit meinem verwundeten Bein versuchte ihn einzuholen. Clayton und seine Hunde waren direkt hinter mir. Nah genug, dass ich ihren feuchten Atem in meinem Nacken spüren konnte. Miss Bishop hielt verzweifelt den Saum ihres Kleides hoch und bildete den Schluss.
 

Pinienzweige schlugen mir ins Gesicht und zweimal musste ich ganz anhalten, um nicht einen Abhang hinabzustürzen. Meine Stiefel versanken im feuchten Boden und während der Himmel immer dunkler wurde, war es hier unter den Bäumen pechschwarz. Ebenso wie Clayton verlor ich die hagere Gestalt meines Freundes rasch aus den Augen. „Hier drüben!“, hörte ich ihn rufen. „Schnell, Watson!“
 

Irgendwie gelang es mir sie zu finden, direkt am Ufer des Flusses, wo wir erst vor kaum 24 Stunden gestanden hatten. Doch dieses Mal war es ein weit schmutzigerer und hässlicherer Anblick. Holmes stand unterwürfig vor einem wütenden Richard Bishop. Er zielte mit einer British Bulldog direkt auf meinen Freund. Auf dem Boden nur fünf Fuß von ihm entfernt lag Thomas Kingston.
 

Ich ignorierte den Schrecken und rannte sofort zu ihm. Er war in die Brust getroffen worden, zwischen den Lungen und dem Schulterplatt. Er blutete zwar, aber nicht sehr heftig. Plötzlich war Miss Bishop da und rannte auf uns zu. „Oh, Gott…oh, mein Gott…Tom…Nein!“
 

Sie brach auf dem Boden zusammen. Tränen strömten über ihre Wangen, während sie die Hand an Kingstons unverletzter Seite ergriff.
 

„Es ist alles in Ordnung, Miss Bishop“, sagte ich, obwohl ich fand, dass die Wahrheit nicht weiter davon entfernt sein könnte. „Der Schuss durchbohrte den Pectorialis Major und vielleicht die zweite oder dritte Rippe, aber er hat anscheinend die Lungen und alle Hauptarterien verfehlt. Er wird leben, aber es ist notwendig, ihn sofort zurück ins Haus zu bringen, wo ich ihn ordentlich versorgen kann.“
 

„Ich fürchte, dass geht nicht“, sagte Richard Bishop. „Keiner von euch kann gehen. Ihr…ihr wisst zu viel.“
 

„Richard! Aber warum…wie konntest du?“ Miss Bishops Gesicht war entsetzlich blass. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wäre sie in Ohnmacht gefallen. Sogar ich empfand all das als großen Schock, aber für sie ging es um die eigene Familie. Ihr Bruder hatte gerade auf den Mann geschossen, den sie liebte. Unweigerlich griff ich nach ihrer Hand. Was konnte ich sonst schon tun?
 

„Es ist recht einfach, Miss Bishop, wie er konnte“, sagte Holmes. „Das ist nicht das erste Mal, dass er versucht jemanden zu töten. Ich bin dankbar, dass er dieses Mal nicht erfolgreich war. Unerfreulicherweise für Ihren verstorbenen Onkel gelang es ihm allerdings, jenen zu erstechen.“
 

„Wovon reden Sie überhaupt, Mr. Holmes“, fragte Richard. „Ich fürchte, das ist der Druck. Ja, ich habe es getan. Aber es war mein Vater, den ich tötete und nicht mein Onkel.“
 

„Ich fürchte nicht, Master Bishop. Ihre Schwester wusste nicht einmal von Lord Michael Hiltons Existenz, aber Sie taten es. Sie haben es soeben bewiesen, indem Sie mich nicht nach einem Onkel fragten, von dem Sie nichts wussten. Ihre Mutter hatte ihn zweifellos Ihnen gegenüber erwähnt. Sie fühlte sich schuldig, weil Ihr toter Großvater ihn aus der Familie ausgestoßen hatte. Allerdings bezweifle ich nicht, dass Sie niemals erkannte, wenn Sie wirklich vor fünf Tagen getötet haben. Doch es war nicht Ihr Vater Bruce Bishop.“
 

Neben mir stöhnte Kingston, so als wüsste er, was soeben geschah. Er schien zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit hin und her zu schwanken. Ich legte meinen Mantel ab und faltete ihn zu einer Art Schlinge und legte ihn auf eine Seite und drückte seine Wunde auf die andere. „Ist Ihnen klar, Richard, dass dieser Mann hier verbluten wird, wenn ich ihn nicht operieren kann? Sie werden auch noch für einen zweiten Tod verantwortlich sein…warte mal, Holmes, hast du gerade gesagt, der Junge hat seinen Onkel getötet und nicht seinen Vater?“ Ja, das hatte er. In der Kutsche auf dem Weg nach Black Bishop hatte er erklärt, das Opfer sei nicht Bruce Bishop gewesen. Aber trotzdem ergab es für mich keinen Sinn. Wie konnte Clive und nicht Bishop das Opfer dieses Verbrechens gewesen sein?
 

„Das habe ich, Watson. Ich hätte es im selben Moment erkennen müssen, als ich die Leiche untersuchte. Erinnerst du dich daran, dass du sagtest, es sei seltsam, dass der Mann überhaupt gestorben ist, da keine seiner fünf Stichwunden wirklich lebensbedrohlich sei?“
 

„Ja.“
 

„Das war das Stück de la resistance. Es war allerdings so merkwürdig, dass ich es nicht als wichtig ansah, bis es fast schon zu spät war. Siehst du, der Mann, den Master Bishop getötet hat, hatte etwas ganz bestimmtes mit ihm selbst gemeinsam. Er litt an Hämophilie. Clive starb, weil die Wunden, auch wenn sie nicht sehr tief oder gefährlich waren, einfach nicht aufhörten zu bluten. Es brauchte nur ein paar Stunden, während er dort lag und immer schwächer und schwächer wurde, bis er schließlich wortwörtlich ausblutete. Das erklärt auch, warum das Zimmer so seltsam aussah. Es gab zwar ein paar Spritzer, aber vor allem Lachen von getrocknetem Blut. Wenn eine Hauptarterie getroffen worden wäre, hätte es wesentlich mehr Blutspritzer geben müssen. Aber die gab es nicht. Das – zusammen mit der Untersuchung der Leiche – ist der eindeutige Beweis, dass das Opfer an einer schweren Form der Hämophilie litt.“
 

„Aber…aber, Holmes, woher willst du wissen, dass nicht auch Bishop selbst an dieser Störung litt? Schließlich leidet auch sein Sohn daran…“ Aber dann erinnerte ich mich an etwas. Etwas aus meiner Studienzeit, von dem ich niemals gedachte hätte, dass ich mich einmal dran erinnern müsste. „Ah…jetzt verstehe ich. Ich erinnere mich an einen Mediziner vom Beginn dieses Jahrhunderts, ungefähr 1810 denke ich. Ein Franzose, kein Amerikaner…nun, sein Name ist mir entfallen. Aber er bewies, dass Hämophilie eine Krankheit ist, die nur über die mütterliche Linie an männliche Nachkommen weitervererbt werden kann. Deshalb muss Richard die Krankheit von seiner Mutter geerbt haben. Und das bedeutet, es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Mann auf ihrer Seite der Familie auch an dieser Störung leidet.“
 

„Ja“, antwortete Holmes. „Du hast es erfasst, Doktor. Ich zog für eine kurze Zeit die ziemlich unwahrscheinliche Möglichkeit in Betrachtung, dass auch Bishop selbst Hämophilie gehabt haben könnte, aber das wäre ein zu großer Zufall…bis ich die Fotographie sah.“
 

„Welche Fotographie?“, fragte Richard mit ziemlich sanfter Stimme. Er zielte immer noch mit einer Pistole auf meinen Freund, aber wirkte, als habe er vergessen, was damit zu tun sei.
 

„Die Einzige, auf der Ihre ganze Familie zu sehen ist, Junge. Mit einer Lupe ist darauf deutlich zu erkennen, dass Ihr Vater auf dem Handgelenk einen tätowierten Anker hatte. Aber der Mann, denn Sie getötet haben hatte keinen. Ich bin sicher, dass er immer darauf bedacht war, in eurer Gegenwart lange Ärmel zu tragen und seine Manschetten immer ordentlich zuzuknöpfen – für den Fall, dass sich jemand daran erinnerte. Es war der eine verdammte Beweis, die eine Sache, die Clive in seiner ansonsten makellosen Darstellung Ihres Vaters nicht kopieren konnte. Niemand der an so schwerer Hämophilie litt wie er, würde das Risiko einer Tätowierung eingehen.“
 

„Nein!“, rief Richard. „Das ergibt keinen Sinn! Sie und Dr. Watson versuchen nur mich zu verwirren!“ Die Hand mit der Pistole zitterte leicht.
 

„Wir tun nichts dergleichen“, sagte Holmes. „Lass es mich dir so erklären. Dein Großvater enterbte deinen Onkel wegen etwas, dass er ‚Ekel erregenden Lebenswandel’ nannte. Ein paar Jahre später entwickelten dein Vater und sein Freund Ambrose Bullard einen Plan, mit dem sie ausgesorgt hätten. Bishop würde vorgeben, auf einer seiner zahlreichen Seereisen zu verschwinden und würde sein Leben im sorgenfreien Exil verbringen, bis sein Frau dem Tod schließlich nahe genug wäre, dass er zurückkehren und so tun konnte, als suche er Vergebung. Aber in Wahrheit wäre er hinter Lady Catherines Vermögen her. Es war Bullards Aufgabe, sicherzustellen, dass sie niemals ihr Testament änderte und in Zwischenzeit genügend Geld von ihrem Besitz abzuzweigen, dass Bishop davon leben konnte. Er schrieb seinem Freund regelmäßig und versorgte ihn so mit Informationen über den Zustand seiner Frau und seiner Kinder. Dafür hätte er die Hälfte des Vermögens erhalten. Unglücklicherweise für Bishop stieß er irgendwo durch einen Zufall auf seinen Schwager, von dessen Existenz er noch nicht einmal wusste. Nachdem er erstmal betrunken genug war, erfuhr Clive von ihm zweifellos alles über ihren sorgfältigen Plan und entschied, dass das seine Chance war. Er studierte Bishop lang genug, um ihn perfekt imitieren zu können und brachte ihn dann um. Bullard, der perfekte Idiot, erkannte während der ganzen sechs Jahre nicht, dass er Clive im allem versorgte, was er für diesen größten Auftritt seines Lebens brauchen würde. Er färbte sich die Haare mit Tinte dunkler – ich habe bei der Leiche noch Rückstände davon gefunden – und bräunte seine Haut, damit sie wie die eines Mannes war, der viel Zeit in der Sonne verbracht hatte. Sie ähnelten sich in Größe und Gewicht. Er ließ sich lange Koteletten wachsen und trainierte seine Stimme und seinen Gang, bis ihn niemand mehr von Bishop unterscheiden konnte. Kleine Widersprüche ließen sich mit den inzwischen vergangenen Jahren erklären. Außer natürlich der Tätowierung. Und dann kam endlich der Brief, auf den Clive gewartete hatte – Lady Catherine lag im Sterben. Würde den Monat wohl nicht überleben – jetzt war die Zeit für seine Rückkehr gekommen. Und er kehrte zurück. Seine Tochter empfing ihren geliebten Vater mit offenen Armen und glaubte an ein Wunder. Aber Clive rechnete nicht damit, wie viel Groll sein Sohn – oder eher Neffe – für seinen Vater empfand, weil er damals verschwunden war. Und als er dann auch noch erfuhr, dass er seine geliebte Mutter im Stich gelassen hatte – nun, das war mehr, als er ertragen konnte, nicht wahr, Richard? Du wolltest nicht zulassen, dass deine Mutter derartig für dumm verkauft wurde. Dir war zweifellos klar, dass deine Tat ein schreckliches Verbrechen war – sowohl in den Augen des Gesetzes als auch den Augen Gottes. Aber die Liebe zu deiner Mutter war stärker.“
 

Richard zitterte heftig.
 

„Du nahmst das Messer, dass Thomas Kingston, dir geschenkt hatte. Vielleicht war dir nicht einmal klar, dass sie ihn verdächtigen würden. Dann wartetest du, bis du sicher sein konntest, dass er schlief. Du schlichst in sein Zimmer und stachst fünfmal auf ihn ein. Clive war so schockiert, dass er nicht einmal mehr schreien konnte. Du öffnetest das Fenster in der Hoffnung, die Polizei würde denken, ein Einbrecher hätte es getan. Und dann ließt du Clive dort liegen, verblutend, in dem Glauben, es sei dein Vater gewesen, den du soeben getötet hattest. Ein gerechter Tod, wie du mir erst gestern erzähltest.“
 

„Oh Gott…“, murmelte Miss Bishop. Sie hatte meine verschwitzte Hand in fassungslosem Schweigen umklammert. „Oh Gott, Richard…wie konntest du? Wie konntest du so etwas nur tun?“
 

„Du verstehst das nicht, Lizzie!“, schrie Richard. „Du genossest den Luxus der Ahnungslosigkeit! Ich sehe sie Tag für Tag, unsere Mutter! Es war sein Verschwinden, das Mutter in die Verzweiflung trieb und ihren Zustand so sehr verschlimmerte! Ich tat nur, was die Bibel gebietet. Und das ist Aug um Aug.“
 

Ich sprang auf die Füße, konnte meinen Ärger nicht länger zurückhalten. „Wer gibt dir das Recht, Jung? Wer gibt dir das Recht, über einen Menschen zu urteilen? Dein Vater mag nicht schuldlos gewesen sein, genauso wenig wie Clive, was das angeht, aber du hast kein Recht dazu, dich zum Richter aufzuschwingen und sie zu verurteilen!“
 

„Ich weiß sehr wohl um die Konsequenzen meines Handelns, Dr. Watson“, sagte der Junge. „Ich akzeptiere die Tatsache, dass ich in die ewig Verdammnis eingehen werde. Aber wie ich Mr. Holmes erst gestern erklärte, gibt es Dinge, die wichtiger sind als man selbst.“
 

„Aber Dicky…man wird dich hängen, für das, was du getan hast! Verstehst du das denn nicht?“ Auch Miss Bishop war nun auf ihren Füßen. Heiße Tränen begannen aus ihren schönen Augen zu strömen.
 

Obwohl er so ruhig wirkte – Master Bishop, mit einem ausgeglichenen Ausdruck auf seinem Gesicht und in den leuchtenden Augen – fürchtete ich um seinen Geisteszustand. Wie konnte er eine Pistole auf drei Menschen richten, einer davon seine eigene Schwester, und davon sprechen, es sei ihm egal, wenn er für seine Taten zum Galgen oder in die Hölle gehen müsse? Wie konnte er…aber dann erkannte ich, wie er konnte…was er die ganze Zeit über vorgehabt hatte.
 

„Nein, Lizzie“, sage er friedlich. „Für mich gibt es keine Hoffnung mehr. Also werde ich unserem Schöpfer gegenüber meine Pflicht erfüllen und das Unvermeidliche akzeptieren. ‚Ich hebe meinen Blick und sehe’[1]. Es ist für Ihn” Er hob die Pistole an seine Schläfe.
 

„Keine Bewegung!“
 

Clayton und die Polizisten, die den gesamten Dialog verpasst hatten, waren plötzlich da, liefen über die Wiese auf uns zu – mit gezogenen Revolvern. Richard senkte irritiert seine Pistole. Und der nächste Augenblick geschah so schnell und verwirrend, dass ich kaum sagen kann, wie ich es alles unterbringen soll.
 

„Nein, Clayton!“, rief Holmes, als er ihre Waffen erblickte. Er griff in seine Manteltasche. Er hätte es nicht tun sollen. Ich sah etwas Silbernes aufblitzen. Es war mein Armeerevolver.

Richard Bishop sah die Pistole im selben Moment wie ich.
 

Er wand sich zu meinem Freund.
 

„Holmes, duck dich!“, rief ich.
 

Ich könnte behaupten, die ganze Welt hätte sich in diesem Augenblick verlangsamt, aber das war nicht geschehen. Tatsächlich geschah alles ganz schnell. Ich rannte auf den Jungen zu und dachte nicht einmal daran, dass ich damit mein Leben wegwerfen könnte.
 

Seine dunklen, zornigen Augen weiteten sich, als er sah, was ich tat. Ich traf ihn hart, sein kleiner Körper wurde vom Aufprall meines viel schwereren nach hinten geworfen.
 

Ich hörte den Schuss nicht einmal.
 

Aber ich fühlte ihn trotzdem. Ich denke, dass ist es, was der Krieg mit einem Mann anstellt. Nach einer Weile kann er die Schüsse nicht mehr hören, und weiß trotzdem, wann sie losgehen. Ich fühlte das stechende Brennen der Kugel, die sich in meinen Rücken bohrte. Es war ein grausamer Schmerz, ich glaube sogar schlimmer als meine früheren Schusswunden. Vielleicht schrie ich, aber ich bin mir nicht sicher. Irgendjemand – es musste wohl Elizabeth Bishop gewesen sein – tat es jedenfalls. Bis zum heutigen Tag kann ich immer noch ihren entsetzlichen Schrei in meinen Ohren gellen hören. Ich erinnere mich, dass ich – mit dem Kopf voraus – in den Fluss fiel. Als ich ins finstere Wasser eintauchte, war mein erster Gedanke, dass ich nun ertrinken würde, bevor die Kugel Zeit hatte, zu wirken. Aber ich ertrank nicht.
 

Stattdessen packte mich jemand unter den Armen und zog mich zurück aus dem eisigen Wasser. Niemals war mir so kalt gewesen. Dicke Wassertropfen, die beinahe schon zu Eis gefroren waren, fielen von mir ab. Das Gefühl der Kälte ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ehe alles dunkel wurde.
 

Aber da war eine Stimme.
 

Sie sagte:
 

„Nein…nein, oh Gott, was habe ich getan? John…“
 


 

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[1] Der Prophet Jesaja 40:26 (Im Bibeltext eigentlich: „Hebe deinen Blick und siehe, wer dich geschaffen hat.“ (engl.: „Lift thy eyes on high and see; who created thee?“)

Tut mir Leid, dass es ausgerechnet an einer so spannenden Stelle, so lange gedauert hat, aber dafür ist das nächste Kapitel ganz sicher in spätestens drei Tagen on.

Ach ja, in diesem Kapitel ist ein Zitat, das ich nicht im eigentlichen Text sondern nur in der Fußnote übersetzt habe. Es ist nämlich ein Teil von einem wirklich schönen Gedicht, dass ich nicht angemessen übersetzen konnte und zu dem ich auch keine offizielle Übersetzung gefunden habe. Wort für Wort ist die Übersetzung in der Fußnote.
 

Der Schuss traf mich in den Rücken durch den Pectorialis Minor und die Kugel setzte ihren zerstörerischen Pfad durch die neunte und zehnte Rippe direkt unter dem Schulterblatt fort. Sie durchbohrte mein Zwerchfell und kam schließlich nahe meiner Milz zur Ruhe. Sie verfehlte mein Herz nur um wenige Zoll. Es war das dritte Mal, dass eine Kugel aus meinem Körper entfernt wurde, aber das erste Mal, dass sie aus meiner eigenen Pistole stammte. Ich wurde in das nächste Krankenhaus in Plymouth gebracht, woran ich so gut wie keine Erinnerungen habe: Nicht mehr als ein kurzer Augenblick des Bewusstseins, während dem ich mich an nichts als Licht und intensive Hitze erinnern kann. Ich erfuhr später, dass eine Staphylokokkeninfektion, die auf die Operation folgte, und ein Fieber in der Höhe von 104 Grad [1] schuld daran waren. Nach einer Woche, die in meinem Geist nie existierte, wurde ich entgegen der ausdrücklichen Empfehlung der Ärzte ins Londoner Charing Cross Hospital verlegt. Holmes hatte darauf bestanden. Ich weiß das, obwohl er behauptete, die Ärzte hätten meinen Zustand für stabil genug für eine Reise von 200 Meilen erklärt.
 

Es ist unumgänglich, auch von jenen Ereignissen zu erzählen, die geschahen, bevor ich wieder gesund genug war, um mich selbst daran zu erinnern. Als erstes muss ich in jedem Fall berichten, was mit meinem teuren Freund geschah, während ich im Koma lag. Auch wenn ich diesen Ereignissen nicht persönlich beiwohnte, erfuhr ich davon zunächst von Holmes und später auch von Mrs. Hudson, Mycroft Holmes und Josh. Indem ich ihre Erzählungen nun kombiniere, habe ich – wie ich meine – einen recht guten Überblick über das, was tatsächlich passierte. So schmerzlich es auch war.
 

Holmes kam spät am zweiten Abend zuhause in der Baker Street an. Er hatte Mrs. Hudson und Josh kein Telegramm geschickt, um ihnen alles zu berichten, daher konnten sie noch nichts über meinen Gesundheitszustand wissen. Oder auch nur, wo ich war. Holmes gestand mir später – in einem seiner seltenen schwachen Momente – dass wenn ihn nicht ein Arzt nach den nächsten Verwandten gefragt hätte, er vielleicht sogar völlig vergessen hätte, nach London zurückzukehren.
 

Es war kurz nach zehn in einer dunklen, feuchtkalten Nacht, als seine Kutsche die 221B erreichte. Das sonst so geschäftige Treiben in den Straßen war bedeutend gesunken und bestand nur noch aus Betrunkenen und den Unglückseligen, die stetig durch die feuchten Gassen wanderten. Und zumindest dieses eine Mal wirkte mein Freund unter ihnen nicht fehl am Platz. Nach diesen zwei Tagen war er zerzaust, unrasiert und wirkte beinahe körperlos. So jedenfalls beschrieb ihn Mrs. Hudson.
 

„Ich sage Ihnen, Doktor“, erzählte sie mir später. „So habe ich ihn noch nie zuvor gesehen. Ich hätte niemals gedacht, er wäre überhaupt fähig, eine solche…entsetzliche Angst zu empfinden. Denn das war es, Sir, das habe ich in seinen Augen gesehen. Angst.“
 

Ich selbst, der ich schließlich den Großteil meines Lebens mit diesem Mann verbracht hatte, hatte ihn natürlich schon früher – wenn auch selten – angsterfüllt gesehen. Ich denke da an den Fall der Baskervilles und vielleicht auch an den mit dem gefleckten Band. Ich kann mich daran erinnern, dass seine Hand zitterte, als er das Licht löschte und wir in der Dunkelheit von Helen Stoners Zimmer auf das unbekannte Monster warteten. Aber ich traue Mrs. Hudsons Nerven und ihren scharfen Augen. Wenn sie in seinen Augen entsetzliche Angst gesehen hatte, dann hatte er sie auch empfunden.
 

Unsere Wirtin stand in der Küche und spülte Geschirr in ihrem nie enden wollenden Kampf um vollkommene Sauberkeit. Sie hatte sich schon zum Schlafen bereit gemacht und trug ihr Nachthemd und eine Schlafhaube. Ich bin mir sicher, dass – auch wenn sie es nicht zugeben würde – die Ungewissheit über den Verbleib ihrer Mieter bei ihr eine gewisse Schlaflosigkeit hervorrief.
 

Ihr entfuhr ein Aufschrei, als er erschien. Es war das zweite Mal in nur wenigen Monaten, dass er einfach aus dem Nichts auftauchte. „Mr. Holmes! Mein Gott…“
 

„Mir…mir geht es gut, Mrs. Hudson“, erklärte mein Freund mit dem Versuch eines beruhigenden Blickes. Er sank schwer auf einen Stuhl nieder und ignorierte die Hand, die sie hilfsbereit nach ihm ausstreckte.
 

„Du liebe Güte, Mr. Holmes! Sie sehen ja furchtbar aus! Ich werde Ihnen sofort einen wirklich starken Kaffee kochen. Sie sehen aus, als könnten Sie den jetzt gut gebrauchen.”
 

„Nein“, erwiderte er. „Keinen Kaffee. Ich werde etwas weit Stärkeres brauchen, um diese Nacht zu überstehen.“
 

Aber die pflichtbewusste Mrs. Hudson hantierte bereits mit Kanne und Filter. „Was ist mit Ihnen geschehen, Mr. Holmes? Man könnte meinen, Sie wären dem Teufel persönlich begegnet. Und wo ist der gute Doktor? Sein Sohn ist schon ganz krank vor Sorge…Ich wünschte, er würde Ihnen nicht einfach so ohne Vorwarnung hinterherlaufen. Ich weiß, wie schwer es für ihn ist, ganz allein ein Kind aufzuziehen, aber der Junge hat doch niemanden sonst…“
 

„Man hat auf ihn geschossen, Mrs. Hudson. Auf ihn wurde geschossen! Hören Sie auf damit! Er hat…auf ihn wurde geschossen.“ Ich habe auf ihn geschossen. Er liegt dort wegen mir. Ich habe abgedrückt. Das war es, was ihm durch den Kopf ging. Ich kann ihn beinahe vor mir sehen, wie er dort sitzt in Anzug und Krawatte, wie er verzweifelt versucht seine Gefühle zu unterdrücken, verzweifelt versucht die kalte Vertrautheit der Logik aufrecht zu erhalten. Und ich kann sehen, wie er den Kampf verliert.
 

„Geschossen? Was soll das bedeuten…Oh nein. Nein, Sir, er ist doch nicht…“ Mrs. Hudson brach nun selbst zusammen und sank auf einen Stuhl. In blankem Entsetzen starrte sie auf ihren Mieter, die Hände krampfhaft auf den Mund gepresst. Auf den allerschlimmsten Mieter in ganz London, aber trotzdem weiß ich nur zu gut, wie sehr sie sich tief im Innern ihrer schottischen Sturheit um uns beide sorgte. Es zeigte sich in all den kleinen Dingen: heißes Wasser, gutes Essen, die Sorge um mein Kind und natürlich durch alle Gefühlsregungen, die einer Frau erlaubt sind, wenn jemand, den sie kennt und der ihr etwas bedeutet, einfach nicht mehr da ist.
 

„Nein, Mrs. Hudson…er ist nicht tot“, sagte Holmes ausdruckslos. „Es tut mir Leid, dass ich Ihnen kein Telegramm geschickt habe…ich hatte…ich war sehr beschäftigt, verstehen Sie…und jetzt würde ich – wenn Sie erlauben – gerne ein Bad nehmen und mich umziehen.“
 

„Aber, Mr. Holmes!“, rief unsere Wirtin und packte ihn am Arm. „Was ist mit dem Doktor? Oh, und was ist mit dem armen Kind? Er hat doch schon seine Mutter verloren, das kleine Lämmchen, und nun auch noch den Vater…“
 

„Mrs. Hudson, er hat seinen Vater nicht verloren, verdammt!“
 

Ich kann wohl sagen, dass dieser Ausruf den Zustand seiner Nerven zu jener Zeit am besten widerspiegelt. Mein alter Freund war schon früher wütend auf unsere Wirtin gewesen und auf Frauen im Allgemeinen erst Recht, aber normalerweise verbarg er seinen Ärger oder zeigte ihn zumindest nur mir gegenüber. Selbstverständlich gehört es sich nicht für einen Gentleman, eine Dame anzuschreien, von fluchen ganz zu schweigen. Aber ich wage zu behaupten, dass Holmes, wenn Mrs. Hudson weiter gesprochen hätte, sogar mehr getan hätte als nur zu schreien. Der Gedanke an meinen Sohn…
 

„Ich meinte nur…das hören zu müssen, wird schmerzhaft für Josh sein“, erklärte Mrs. Hudson, wenn auch nicht ganz klar war, an wen sich ihre Worte richteten. „Ich wollte nicht…ich weiß natürlich, dass es auch für Sie hart sein muss, Sir…Sie und der Doktor stehen sich doch so nah.“
 

Holmes’ Augen weiteten sich vor Angst und er presste unwillkürlich die Kiefer zusammen. Mit zitternder Hand griff er auf dem Weg ins Wohnzimmer Halt suchend nach dem Treppengeländer. „Machen Sie sich keine Umstände…ich werde es dem Jungen sagen. Und wegen Watson…“ Er schüttelte den Kopf. Wie um alles in der Welt konnte er es erklären? „Gute Nacht, Mrs. Hudson.“ Er fasste sich wieder und nahm den Rest der Treppe, so schnell es seinem entkräfteten Körper möglich war.
 

Ich habe ihm in all den Jahren, da ich die Chroniken seines Lebens niederschrieb, nur zu oft geistige Fähigkeiten zugeschrieben, über die gewöhnliche Menschen scheinbar nicht verfügen. Eine dieser Fähigkeiten ist die der Vorahnung. Er würde das ohne Zweifel abstreiten, darauf bestehen, dass es sich dabei um bloße Logik, um reine Schlussfolgerungen handelt: Dass man, wenn man die Glieder einer Kette Stück für Stück miteinander verbindet, unweigerlich zur Lösung gelangt. Aber ich kann ihm in diesem Punkt nicht zustimmen. Alle wirklich großen Detektive müssen es erahnen können, wenn der Fall sich dem Höhepunkt zuwendet. Holmes hat diese Fähigkeit. Und er war nicht die einzige Seele in der 221B, auf die das zutraf. Auch mein Sohn besaß sie. Im Laufe seines Lebens verstärkte sie sich bei ihm zu fast schon so etwas wie einem sechsten Sinn. Sie zeigte sich in jener Nacht. Vielleicht besonders in jener Nacht. Doch ich schweife ab.
 

Anschließend an ein heißes Bad, das Holmes trotzdem nicht das erhoffte Gefühl der Sauberkeit schenkte, goss er sich ein großzügiges Glas Brandy ein (Er zumindest behauptet, es sei Brandy gewesen, ich vermute allerdings, dass es Whiskey war) und setzte sich in seinen abgenützten alten Lehnstuhl, während er in die erlöschenden Flammen des Kamins starrte. Er nahm hin und wieder Alkohol zu sich, besonders Portwein oder einen Italienischen, aber er trank niemals, nur um zu trinken. So weit ich weiß, war er niemals zuvor in den Alkohol geflohen. Aber vielleicht verursachten die Ereignisse jener Nacht (so wie jene, die noch folgen würden) in ihm mehr Emotionen, als selbst sein Geist ertragen konnte. Ich weiß, dass es so war. Was dagegen wirklich außergewöhnlich ist, ist die Tatsache, dass er dieses eine Mal nicht rauchte. Er tat nichts außer dazusitzen, ins Leere zu starren und sich gelegentlich weiteren Mut zuzutrinken.
 

„Onkel?“
 

Holmes blinzelte mehrmals und erblickte neben seinem Sessel unseren kleinen Namensvetter. Er hielt seinen Stoffhund fest umklammert und wirkte zumindest einmal wahrhaftig wie ein Dreijähriger. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass dies kein Augenblick war, nach dem sich mein Freund gesehnt hatte.
 

„Was machst du außerhalb deines Bettes? Hast du irgendeine Ahnung wie spät es ist?“ Ärger ist immer ein nützlicher Schild.
 

„Der große Zeiger ist auf der Drei“, erklärte Josh. „Und der kleine Zeiger ist auf der Elf. Das heißt es ist…ähm…“
 

„Schon lange Schlafenszeit für dich.“
 

„Aber Onkel…irgendwas stimmt mit dir nicht. Ich will wissen was es is’. Du und Papa wart ganze zwei Tage weg und habt mir nicht gesagt warum. Und jetzt siehst du krank aus. Da muss was passiert sein.“
 

Holmes blickte auf das mittlerweile leere Glas, in dessen klarem Kristall sich das Feuer spiegelte. „Wenn Trauer eine Krankheit ist, dann könnte auch alle Medizin der Welt dieses Leiden nicht lindern. ‚Es ist die Trauer, die uns alle wieder zu Kindern macht, die allen Intellekt auslöscht. Selbst der Klügste weiß nichts mehr.’[2] Das ist der schwerste Teil, John Sherlock. Das ist der schwerste Teil.“
 

Josh presste Blackie fest gegen seinen kleinen Körper. „Ich könnte Papa für dich holen gehen. Er ist der beste Doktor in London. Ich glaube du brauchst Medizin.“
 

„Nein, Josh, komm zurück“, rief Holmes, als der Junge sich zur Tür wandte. „Dein Vater ist nicht hier. Eigentlich hatte ich nicht vor, dir alles zu einer solchen Uhrzeit zu erklären, aber es ist wohl besser so.“
 

„Soll ich edduzieren, was es ist?“
 

Ich bin davon überzeugt, dass diese Frage Holmes gleichzeitig amüsierte und schmerzte. Josh versuchte selbst in solchen Momenten mit aller Kraft den großen Meister zu imitieren. „Nein, ich denke nicht. Es wäre besser, wenn ich…ich sollte dir am besten einfach alles erklären.“
 

„Ist gut“, erwiderte der Junge und kletterte auf seinen Schoß, als erwarte er, nun ein fantastisches Märchen zu hören. Und noch einmal kann ich – auch wenn ich physisch nicht anwesend war – Holmes vor mir sitzen sehen, während er die richtigen Wörter sucht, um etwas Emotionales ausdrücken zu können. Es war etwas, gegen das er schon seit so vielen Jahren ankämpfte.
 

„Mein lieber Junge“, sagte Holmes. „Trotz der seltenen Fähigkeiten, mit denen du gesegnet wurdest; Fähigkeiten, diesem Geist, dem ich nicht erlauben werde, ungeschult zu bleiben, muss ich zugeben, dass ich keinen Weg finde, dir zu erklären…“ Er konnte seinen Blick nicht von Joshs Augen wenden. Sie hatten in der Gegenwart dieses Mannes immer einen ganz besonderen Glanz.
 

„Es ist sehr schwer, weißt du, solche Angelegenheiten in Worte zu fassen…“ Besonders wenn du es bist, der es getan hat.
 

„Es gibt einen Grund dafür, dass Wat…dein Vater und ich fort waren…“ Ja, einen sehr guten Grund. Ich habe auf ihn mit seiner eigenen Waffe geschossen und nun liegt er da und ringt mit dem Tod.
 

„Verdammt…“ Er fluchte leise durch zusammengebissene Zähne. Er konnte es nicht sagen. Er konnte es nicht ertragen, meinem Sohn wehzutun. Zum ersten Mal in all der Zeit konnte ich in ihm das Erwachen väterlicher Gefühle erkennen. Doch es würde nicht das letzte Mal sein, das kann ich versichern.
 

„Onkel“, sagte Josh mit leiser Stimme. „Ist was mit Papa passiert?“
 

„Ich…ja. Ja, mein Junge. Etwas ist passiert. Es war auf unserem letzten Fall, weißt du…der Mann, den wir verfolgten, konnte nicht mehr klar denken. Dein Vater…
 

<Peng!>
 

<Oh Gott, was habe ich getan? John…>
 

Warum um Himmelswillen hat er sich zwischen uns gestellt? Welcher Teufel hat ihn nur geritten?
 

„Dein Vater hat mein Leben gerettet, John Sherlock. Dieser Mann, er hatte eine Pistole. Er hätte mich erschossen. Aber in letzter Sekunde stellte sich dein Vater zwischen uns. Die Kugel traf ihn…“
 

Lügner! Warum belügst du das Kind? Schämst du dich, die Wahrheit zu gestehen? Ist es logisch, seine Gefühle zu schonen?
 

Holmes nahm einen tiefen Atemzug der leicht alkoholgetränkten Luft. Sein logisches, sonst so kaltes Denken begehrte auf und für dieses Mal konnte er nicht damit umgehen. Zu viel war geschehen. Und zu viel würde mit Sicherheit noch geschehen.
 

„Kommt er zurück?“
 

„Was?“, fragte Holmes aus seinen Gedanken gerissen.
 

„Papa. Kommt er wieder zurück? Oder ist er auch in den Himmel gegangen so wie Mama?“ Die Stimme des Jungen war nur noch ein kaum hörbares Flüstern.
 

„Natürlich kommt er wieder zurück. Ich kenne deinen Vater seit Jahren und ich versichere dir, noch nie konnte ihn eine solche Kleinigkeit wie eine Schusswunde ernsthaft aufhalten. Du brauchst dir darüber keine Gedanken zu machen, Junge…nein, er wird zurückkommen. Ich bin mir sicher. Er…er muss. Ja. Ich bin mir sicher…“
 

„Bist du in Ordnung, Onkel? Du siehst aus…Ich wünschte Papa…ich…“ Tränen quollen aus seinen Augen und sein kleines Gesicht rötete sich. „Das ist nicht gerecht!“, weinte er und schlang seine Arme – wie es jedes kleine Kind getan hätte – Trost suchend um das nächste Ding in Reichweite, seinen geliebten ‚Onkel’. Ich kann seinen Schmerz beinahe fühlen. Das arme Kind hatte eben erst seine Mutter verloren und nun auch noch beinahe den Vater. Ich hätte all meinen Besitz, alles was ich jemals besessen hatte, hergegeben, um in jenem Moment bei ihm sein zu können und ihn zu trösten. Selbst heute noch fühle ich einen leichten Stich, wenn ich erfahre, dass mein Kind Schmerzen hat. Es ist der Fluch aller Eltern.
 

Aber es blieb alles allein Holmes überlassen. Holmes, der erst vor ein paar Monaten niemals damit gerechnet hätte, jemals einen weinenden Dreijährigen trösten zu müssen. Er saß einfach steif da, rang mit seiner Selbstbeherrschung und wusste nicht, was er tun sollte. Als seine Erstarrung schließlich schwand, presste er eine zitternde Hand auf den Rücken des Jungen. Der letzte Zweifel, ob er in der Lage wäre, diese neuen Gefühle zu kontrollieren, wurde in jenem Moment hinweggespült und er war sich dessen auch bewusst. Er wusste, dass sein großartiger Geist von nun an zwei Dachböden beherbergen musste. Einen erfüllt mit Wissen, Fakten und kalter Logik und einen zweiten erfüllt mit jenem lästigen Gefühl, das sich bisher nur in den dunklen Lücken seines Hirns versteckt gehalten hatte: der Liebe.
 

Holmes gestand mir später, dass ihm kein einziges passendes Wort hatte einfallen wollen. Der Mann, der die unverständlichsten Kryptogramme gelöst hatte, zu dessen Klienten zahlreiche Königshäuser gehört hatten, einschließlich unserem eigenen; der Mann, der so belesen war, dass er sowohl aus der Bibel wie aus Caryle, aus Darwin wie aus Poe zitieren konnte, war nicht in der Lage, einem verzweifelten Kind ein einziges Wort des Trostes zu spenden. Er saß einfach nur da, eingefroren in seiner Bewegung und hielt mein Kind an sich gepresst. Das könnte der Augenblick gewesen sein, da er endgültig erkannte, dass er nicht so weiterleben konnte.
 

Als Josh schließlich zu weinen aufhörte, erhob er sich nicht vom Schoß meines Freundes, sondern blieb starr liegen, unbeweglich wie eine Stoffpuppe, erschöpft von dem, was geschehen war. Holmes konnte sich nicht rühren, auch wenn er es gewollt hätte.
 

„Ich bin nicht fehlerlos, John Sherlock“, sagte er in einer seltsamen, beruhigenden Stimme. „Es ist für mich schwerer, das zuzugeben, als für die meisten Männer, denn nur zu viele erwarten es von mir. Teilweise habe ich das Dr. John Watson, meinem eigenen Biographen, zu verdanken.“ Er hielt inne und verweilte in einem matten Lächeln.
 

„Nicht dass ich ihn beschuldigen würde. Aber wenn du beschrieben wirst, als ein Mann bar jeden menschlichen Gefühls und diese Behauptung von tausenden Menschen gelesen wird, dann erwarten sie genau das von dir. Gott weiß, was ich dafür geben würde, einen solchen Geist zu besitzen. Zeitweise denke ich, dass ich es erreichen könnte. Aber am Ende weiß ich genau, dass es nur ein flüchtiger Wunsch ist. Ich weiß es jedes Mal, wenn ich…jedes Mal, nun, du musst dir das nicht anhören.“
 

„Onkel?“, fragte Josh schläfrig. „Bist du froh, dass Papa und ich hier bei dir sind?“
 

„Natürlich bin ich das…warum sollte ich es nicht?“
 

„Weiß nicht…wann kommt Papa wieder nach Hause?“
 

„Bald denke ich. Sehr bald.“
 

„Soll ich ihm eine Karte machen?“
 

„Er würde sich sicherlich freuen. Und jetzt solltest du aber wirklich zurück in dein Zimmer. Es ist spät.“
 

„Bitte“, sagte Josh und griff nach seiner Hand. „Kann ich nicht hier bei dir bleiben? Nur heute Nacht. Ich will nicht ganz allein da oben sein.“
 

Holmes war zu müde, um zu streiten. Normalerweise würde er sich niemals den Luxus von Schlaf gestatten, während sein Geist an einem Problem arbeitete. Schlaf war ein bloßer Lückenfüller für jene langen Tage der Lethargie, wenn sein Körper und sein Geist verbraucht waren und er keinerlei Interesse an seiner freudlosen Existenz fand. Aber nun, nachdem er 48 Stunden so gut wie katatonisch an meinem Krankenbett gesessen hatte, erkannte er, dass er mehr als alles andere zumindest ein paar Stunden brauchte, in denen er die Gegenwart vergessen konnte. Er hob den Jungen hoch und legte ihn auf das Kanapee und deckte ihn mit einer Wolldecke zu. Er selbst würde in jener Nacht in seinem Sessel schlafen, in einer Stellung, die die meisten Menschen als schmerzhaft empfinden würden. Aber es war schon immer das Wohnzimmer gewesen, das sowohl er als auch ich am behaglichsten fanden.
 

„Onkel?“
 

„Ach, schlaf endlich, Josh…“, seufzte Holmes.
 

„Kann ich dir noch eine letzte Frage stellen?“
 

„Als ob ich eine Wahl hätte…“
 

„Du hast mich und Papa sehr lieb, nicht wahr?“
 

„Ja…natürlich. Und jetzt schlaf endlich.“
 

„Aber…liebst du uns auch?“
 

Holmes’ Augen zuckten zurück zu dem Jungen. „Wieso fragst du so etwas?“ Seine Stimme war wesentlich höher als gewöhnlich.
 

Aber Josh war bei Weitem zu jung, um irgendeinen versteckte Bedeutung in seiner unschuldigen Frage zu sehen.
 

„Weil wir dich lieben.“
 

„John Sherlock…da gibt es etwas, das du verstehen musst“, begann Holmes mit einem Male hellwach und erfüllt mir einem Gefühl der Hilflosigkeit. „Es ist in unserer Gesellschaft für einen Mann nicht angemessen, Liebe zu zeigen. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen. Männer dürfen ihre Ehefrauen lieben, ihre Kinder, ihrer Mütter…aber dass ein Mann einen anderen Mann…ich meine, ob er es nun tut oder nicht, er sollte nicht…“
 

„Onkel?“
 

„Ja?“
 

„Ist schon gut. Ich schlaf jetzt. Gute Nacht.“ Er legte Blackie unter seinen Kopf und steckte sich ein paar Finger in den Mund.
 

Holmes griff nach seiner Karaffe und schüttete sich noch einen Schluck die Kehle hinab. Während der Alkohol in seiner Kehle brannte, lehnte er seinen Kopf zurück gegen die Sessellehne und starrte auf Reichenbach über dem Kamin. „Ja…Gute Nacht. Denn nur in der Nacht sitze ich da und denke an alles und an nichts. Liebe. Für manche bedeutet es alles, für manche ist es nichts. Aber schlussendlich…‚If this be love, to live a living death, then do I love and draw this weary breath.’[3]“
 

Holmes erzählte mir später von dieser Nacht mit Josh, nachdem ich aus dem Hospital entlassen worden war. Das zusammen mit dem, was ich von Josh und Mrs. Hudson erfuhr, ergab, was ich eben beschrieben habe. Jahrelang wusste ich sonst nichts über jene zwei Wochen, in denen ich im Koma lag, abgeschottet von der Welt. Erst viel später erfuhr ich von einem anderen Gespräch, das Holmes in jener Zeit geführt hatte. Dieses allerdings hatte einen gänzlich anderen Gesprächspartner: seinen Bruder Mycroft.
 

Die Holmesbrüder erschienen mir immer einmalig ungewöhnlich, angesichts der Tatsache, dass sie nur eine Handvoll Meilen von einender entfernt lebten, sich aber so selten sahen, dass ich Holmes bereits ganze fünf Jahre [4] gekannt hatte, bevor ich auch nur von Mycrofts Existenz erfuhr.
 

Die Brüder waren sich in einigen entscheidenden Punkten sehr ähnlich: Beide führten ein recht isoliertes Leben, hatten nur wenige Freunde, keinerlei Interesse am schönen Geschlecht (so weit ich das beurteilen konnte) und beide verfügten über extrem logisches Denken. Ihre Unterschiede kann ich auf zwei beschränken: Sherlock hatte den Scharfsinn und die Energie aus jener gottgegebenen Logik Nutzen zu ziehen und er hatte außerdem – irgendwann während unserer langen Bekanntschaft – ein Bedürfnis entwickelt, dass Mycroft nicht empfand. Das Bedürfnis, nicht allein sein zu wollen. An irgendeinem Punkt in ihrer Vergangenheit mussten Mycroft und Sherlock beschlossen haben, ihr Leben niemals mit jemandem zu teilen. Welches einsame oder entsetzliche Ereignis in ihrer Jugend dazu geführt hatte, konnte ich zu jener Zeit noch nicht sagen, aber bei allem, was ich über ihre Beziehung wusste, schien es mir sehr seltsam, dass Sherlock sich ausgerechnet Mycroft für sein Geständnis aussuchen sollte. Rückblickend wird mir der Grund allerdings klar. Er hatte niemanden sonst.
 

Mycroft Holmes ist, wie sich meine Leser wohl erinnern werden, einer der wichtigsten Männern der Regierung, ein Mann mit einem so rationalen Geist, dass er, wenn ein Disput entgleiste, die eine Stimme der Regierung werden konnte. Er war ein sehr großer, schwerer Mann, der seinem Bruder nicht sehr ähnelte, sah man von den Augen ab. Durchdringende graue Augen, die einen bis ins Innerste zu durchbohren schienen. Er hätte ein Detektiv werden können, mit sogar noch ausgezeichneterem Ruf als sein jüngerer Bruder, wenn er es nur gewollt hätte. Aber er hatte, wie ich von Sherlock wusste, keinerlei Ambitionen in diesen Angelegenheiten. Er spazierte jeden Tag von seinen Räumen nach Whitehall und danach in seinen Klub. Er machte ansonsten überhaupt keine Bewegung und verbrachte seine Tage damit Zeitung zu lesen, Fakten zu absorbieren, zu essen und zu schlafen und so zu tun, so als ob die ganze Gesellschaft nicht existieren würde, bis er sie benötigte. Die Brüder standen sich nicht nah, wie man es wohl ausdrücken würde und sie schienen in der Tat in zwei verschiedenen Londons zu leben; vielleicht sogar in zwei verschiedenen Welten. Aber sie verstanden einander. Mycroft verstand Sherlock in einer Art und Weise, wie ich es niemals konnte und umgekehrt war es genauso. Doch das war auch schon das ganze Ausmaß ihrer Beziehung.
 

Mycroft longierte in Pall Mall, aber wenn er nicht in Whitehall war, verbrachte er den Großteil seiner Zeit in einem Klub, den er mitbegründet hatte: dem seltsamsten Klub in ganz London – der Diogenesklub. Jedem, dem die Geschichte „Der Griechische Dolmetscher“ bekannt ist, sind zweifellos auch schon Mycroft Holmes und der einsame, isolierte Diogenesklub bekannt, in dem kein Mitglied auch nur ein Wort spricht, daher werde ich nun auf eine detaillierte Beschreibung verzichten.
 

Sherlock schickte seinem Bruder früh am nächsten Morgen ein Telegramm, während er sein übliches Frühstück in Form von starkem Tabak einnahm und ein wachsames Auge auf den immer noch schlafenden, zusammengekauerten Ball von Josh auf dem Kanapee warf. Danach würde er – wie an jedem Tag während meiner Genesung – die dreistündige Zugfahrt nach Plymouth machen, wo er lediglich da sitzen, rauchen und auf mein Krankenbett starren würde. Er hätte es niemals zugegeben, aber ich weiß, dass er da war. Zum ersten Mal seit vielen Jahren kümmerte er sich weder um seine Fälle noch um sein Kokain.
 

Mycroft erwartete ihn im Fremdenzimmer, dem einzigen Raum, in dem es erlaubt war zu sprechen.
 

Da es sich um einen Sonntagvormittag handelte, war der Klub so gut wie verlassen, allerdings bin ich überzeugt, dass das kein Zufall war. „Ah, Bruder“, erklärte der ältere Holmes, als Sherlock erschien. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber ich kann mich so früh am Morgen unmöglich mit einem deiner kleinen Probleme befassen, ohne zumindest eine gewisse Unterlage zu haben.“ Er verlangte mit einem Wink ein Tablett aus Sterlingsilber und eine große, polierte Kaffeekanne. Mycroft warf seinem Bruder einen schnellen Blick zu, während er zwei Tassen des heißen Getränks einschenkte. „Dann allerdings erkenne ich deutlich, dass es kein Fall sein kann, der dich hierher bringt.“
 

Sherlock nickte und setzte sich vorsichtig auf einen der zahlreichen leichten Sessel des Klubs. „Das ist offensichtlich. Du weißt, dass ich den Sonntagmorgen am wahrscheinlichsten deshalb gewählt habe, weil…“
 

„Ihn die meisten Männer entweder in der Kirche oder aber mit ihren Familien verbringen, ja. Und der Klub wäre leer. Außerdem war das Telegramm, dass du mir gesendet hast…“
 

„Natürlich sehr vage formuliert“, sagte Sherlock mit einem knappen Lächeln. „Außerdem lässt mein Benehmen zweifellos…“
 

„Darauf schließen, dass eine private Angelegenheit den berühmten Detektiv aus der Baker Street plagt.“
 

„Ja…ich gebe es zu.“
 

„Ha!“, rief Mycroft aus und klatschte in die Hände, ehe er sie nach einem Geflügelgericht ausstreckte. „Also ist mein Bruder schlussendlich doch ein menschliches Wesen.“
 

„Das musst du gerade sagen, Bruderherz”, erwiderte Sherlock, während er angewidert beobachtete, wie sein korpulenter Bruder Räucherhering neben seinem Hühnchen auftürmte. Dieser griff daraufhin nach dem kleineren Tablett, hob leicht den Deckel an und seufzte zufrieden, als darunter ein ziemlich großer Sirupkuchen zum Vorschein kam.
 

„Bist du dir sicher, dass du nichts essen willst? Es wäre wahrlich ein Verbrechen, wenn irgendetwas von diesen extra zubereiteten Speisen verschwendet würde.“
 

Sherlock lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog eine Zigarette hervor. Er hatte in den letzten 48 Stunden bei der Nahrung an einen strikten Plan gehalten: Tabak und Alkohol. Sein Körper war jedem Essen momentan verschlossen. Ich fürchte fast, ich habe mich geirrt. Es gibt zumindest drei Unterschiede zwischen den beiden Brüdern. „Oh, ich würde mir keine Sorgen machen, dass es verschwendet werden könnte.“ Er deutete auf den umfangreichen Bauch seines Bruders, der gerade noch von dessen Weste gehalten wurde.
 

„Wir haben doch alle unsere kleinen Schwächen, Sherlock. Unsere Kleinigkeiten, die das Leben lebenswert machen. Für mich sind das gutes Essen, Vintagewein, langes Schlafen und das Wissen, dass ich meiner Königin und meinem Land von Nutzen bin. Mehr verlange ich nicht, und mehr erwarte ich auch nicht. Aber wenn ich mich nicht sehr irre, dann ist es genau eine der Notwendigkeiten des Lebens, die dich an einem ansonsten sicher mit Klienten erfüllten Tag hierher bringt.“
 

Sogar Sherlock Holmes, normalerweise der Lieferant dieser Art von faszinierenden Schlussfolgerungen, war nun der Empfänger einer solchen geworden. „Woher wusstest du das?“
 

„Es ist recht einfach. Gesternfrüh empfing ich ein Telegramm in Whithall von deiner Vermieterin…“
 

„Mrs. Hudson hat dir ein Telegramm geschickt?“, fragte Holmes ungläubig.
 

„Oh, ja…sie ist mit Sicherheit eine reizende Frau. Aber nicht sehr gut informiert. Sie dachte tatsächlich, ich könnte etwas über deinen Aufenthaltsort wissen, da sie seit über 24 Stunden weder von dir noch von Dr. Watson gehört hat. Ich hatte natürlich nicht die kleinste, verdammte Ahnung. Ich musste augenblicklich an Genesis denken. ‚Bin ich vielleicht meines Bruders Hirte?’ Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt. Stattdessen habe ich ihr versichert, du würdest mit Sicherheit früher oder später wieder auftauchen, so wie ich dich kenne. Ich hatte anscheinend Recht. Allerdings begann ich nachzudenken…und ich kam zu dem Schluss, dass auch wenn du etwas nachlässig bist, wenn es darum geht Menschen, die sich um dich sorgen, über deinen Aufenthaltsort zu informieren, diese Eigenschaft auf den Doktor nach allem, was ich von ihm weiß, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zutrifft.”
 

„Nein, das tut es auch nicht”, sagte Sherlock ruhig.
 

„Ah! Nun, wenn er trotzdem nicht an die Sorgen seines kleinen Kindes denkt, dann ist es nur logisch, dass etwas…etwas mit ihm geschehen ist…ja, ich bin mir sicher, darum geht es.“
 

Mycroft setzte seine Tasse ab und schenke sich Kaffee nach, während er seinen Bruder beobachtet, der eben seinen Zigarettenstummel ins Feuer zwischen ihnen warf und mit zitternder Hand eine neue hervorzog. Er brauchte drei Streichhölzer, bis es ihm schließlich gelang sie anzuzünden. Während er rauchte, erklärte er seinem Bruder alles über den Fall von Black Bishop. Er hielt inne, als er bei dem Teil anlangte, in dem sie Richard Bishop beim See entgegentraten. „Er rettete mein Leben, Mycroft. Nun…Ich wünschte nur, die Kugel hätte mich getroffen. Ich glaube…nein, es ist eine Tatsache, dass alle meine Probleme dann gelöst wären.“
 

Mycroft, der gerade ein zweites Stück Siruptorte beäugt hatte, legte augenblicklich seine Gabel nieder und blickte auf seinen Bruder mit jedem Fünkchen von Autorität, das er in jenen schweren, wässrigen, grauen Augen ausdrücken konnte. „Sprich nicht in dieser Art, Bruder“, sagte er in unnatürlich tiefer Stimme. „Es ist weder logisch noch angemessen. Unsere Eltern mögen keinerlei Kontrolle über dich gehabt haben und wir mögen uns auch nicht so nahe stehen wie viele andere Geschwister, aber ich soll verdammt sein, wenn ich meinem Bruder erlaube, auf so respektlose Art zu sprechen.“
 

„Dann ist die Wahrheit also respektlos, Bruder?“ Sherlock sprang auf die Füße. „Du weißt…nur du allein weißt, warum ich wirklich vor drei Jahren beschloss, England zu verlassen. Ich dachte…vielleicht jetzt, wo er wieder allein ist…aber ich sehe mich vor dieselbe Wahl gestellt wie schon damals. Leidend dahinzuleben, nicht in der Lage, das ganze Ausmaß meiner Fähigkeiten zu nutzen, weil ich abgelenkt bin oder wieder zu gehen und es nicht zu ertragen…ohne…“
 

„Sherlock“, sagte Mycroft. „Du weißt, dass der einzige Weg dich davon zu erlösen, darin besteht, dem Doktor alles zu beichten.“
 

Welch ein verheißungsvoller Augenblick. Nach all diesen Jahren des Versteckens erfüllt von der Angst, dass seine Ehre und sein Name ruiniert werden würden, in denen er niemals zugeben konnte, was sein Herz ihm sagte (denn es war nicht das Organ, dem er normalerweise zuzuhören pflegte), nicht einmal sich selbst gegenüber. Am Ende war es sein Bruder – die einzige Familie, die ihm geblieben war und die einzige Person, die sich über ihre Verbindung zu ihm Sorgen machen konnte – der ausgesprochen hatte, was er selbst nicht konnte.
 

„Sieh mich nicht so erstaunt an, Sherlock. Mir ist klar, dass du zeitweise in der Illusion lebst, in deiner Welt völlig einzigartig zu sein. Aber trotz deiner unbestreitbaren Unnachahmlichkeit, wirst du dich daran erinnern, dass in unseren Adern das gleiche Blut fließt.“
 

„Ich habe niemals behauptet, unnachahmlich zu sein, werter Bruder. Und mir ist absolut klar, dass es dein Gehirn mit dem Orakel von Delphi aufnehmen kann. Aber trotzdem...ich habe niemandem jemals von meinen…Gefühlen in jener Hinsicht erzählt, über die du dir anscheinend bereits im Klaren bist.“
 

„Ich weiß schon seit vielen Jahren von deinen Neigungen, Sherlock. Allerdings denke ich, dass es dein Bewusstsein ganz außerordentlich erleuchten würde, wenn du es selbst aussprechen würdest.“ Die schönen grauen Augen meines Freundes schnellten zu seinem Bruder, wie ein heftiger Blitzangriff. Ich kann nur raten, was er in jenem Moment fühlte. Furcht zweifellos. Furcht und Unsicherheit. Zuzugeben, was er war, bedeutete nicht weniger, als ein schweres Verbrechen zu gestehen. Mycroft behandelte es allerdings nicht wie ein solches. „Bitte setz dich wieder, Bruder. Setz dich und ordne deine Gedanken. Und dann sprich.“
 

Mein Freund setzte sich gegenüber des älteren, weiseren Holmes und versuchte mit einer weiteren Zigarette seine zerschlagenen Nerven zu festigen. Die beiden grauen Augenpaare – beide wässrig und glänzend – glitzerten im fahlen, blassen Licht des Fremdenzimmers. Auch wenn ich nicht anwesend war, kann ich die beiden vor meinem inneren Auge sehen, die beiden Männer vor dem Kaminfeuer, eingehüllt in einen Schleier aus schweren Tabakwolken, ein so alltägliches Bild, als diskutierten sie lediglich über das Wetter oder die Politik. Und dennoch war mein Freund gerade im Begriff, etwas zu gestehen, das ihn so unendlich viel kosten konnte. „Du musst es aussprechen, Sherlock“, sagte Mycroft. „Wenn du es nicht einmal mir gestehen kannst, wirst du niemals in der Lage sein, es dem Doktor zu gestehen.“
 

„Ich…nun gut, er bedeutet mir viel.“
 

Mycroft schnaubte. „Er bedeutet dir viel? Du wirst dir wohl etwas mehr Mühe geben müssen.“
 

„Wie kann ich das?” Sherlocks Hände zitterten. „Wie kann ich das, Bruder?“ Sogar ich konnte das Beben der Mauer fühlen, als er mit der Faust dagegen schlug. „Wie kann ich gestehen, dass ich in all diesen Jahren in seiner Gegenwart eine Lüge gelebt habe? Dass meine Gefühle nicht rein geschäftlich sind? Oder auch nur freundschaftlich, brüderlich? Dass ihm in Wahrheit mein ganzes Herz gehört. Dass…“ Er hielt inne um zu schlucken und mehr von dem Tabakrauch einzuatmen. „Dass ich ihn liebe.“
 

Mycroft Holmes saß weit nach vorne gebeugt in seinem Sessel, war zweifellos so aufmerksam, wie es ihm auch nur im Entferntesten möglich war, die Hände in Konzentration verschränkt – eine Familieneigenart. Seine Augen musterten seinen jüngeren Bruder, betrachteten die Stiefel aus Kalbsleder, den perfekt geschneiderten, mit Seide gefütterten Anzug, das gestärkte weiße Hemd, das nach hinten gekämmte Haar, das leicht gerötete Gesicht, das raub-vogelartige Profil und den bebenden Körper. Er nickte, die erste Person, die akzeptierte, was sie sah, was sie wirklich sah. „Das hast du gerade, Bruder. Das hast du gerade.“ Er hievte seinen massiven Körper auf die Füße und schlenderte quer durch den Raum zu dem Sprossenfenster, wobei er gerade lange genug innehielt, um seinem jüngeren Bruder beruhigend auf die Schulter zu klopfen.
 

Sherlock rührte sich nicht. Seine Zigarette hing wie ein Anhängsel zwischen zwei seiner langen Finger, aber er hatte vergessen, sie zu rauchen. Er war verloren in der Welt seiner eigenen Schöpfung, in jene Welt, in die er in diesem Augenblick zum ersten Mal jemanden hatte eintreten lassen. Ja, er hatte schlussendlich jemandem seine wahre Natur gestanden, aber es war sein Bruder gewesen. Sein Bruder, der viele seiner Eigenheiten mit ihm gemeinsam hatte: seinen Sinn für Humor, seinen exzentrischen Lebenswandel, seine rasende Intelligenz und am allerwichtigsten seine Vergangenheit. Er verstand, wie es kein anderer verstehen konnte, was ihm zu dem gemacht hatte, was er heute war. Wie konnte er irgendjemand anderem erlauben diese Welt zu betreten. Irgendjemand anderem, der all das nicht wusste und all das nicht teilte. Wie konnte er es mir erlauben? „Nun weißt du es also“, sagte er zu Mycroft. „Ich habe es vor der einzigen Familie zugegeben, die ich noch besitze. Der einzigen Familie, die verstehen würde.“
 

Mycroft schnaubte, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt und studierte ganz London von seinem Fenster aus. „Ich kenne zumindest ein anderes Mitglied unserer Familie, das es verstanden hätte. Du nicht auch?“
 

„Wir wollen nicht über sie reden, Bruder.“
 

„Wenn du darauf bestehst.
 

„Du hast mir noch nicht erzählt“, sagte Mycroft. „Wie schwer Watsons Verletzungen sind.“
 

„Du hast Recht. Das habe ich nicht.“
 

Mycroft schüttelte leicht seinen Kopf und wand sich wieder dem Fenster zu. Aber er verstand. Es war exakt jenes Fenster, von dem mir vor Jahren, als ich den älteren Holmes kennen lernte, gesagt worden war, dass genau dies der richtige Platz war, sollte ich die Menschheit studieren wollen. Doch ich bin mir sicher, dass das, was sich an jenem Tag in diesem Fenster spiegelte, eine wesentlich interessantere Studie der Menschheit ergab.
 

„Was würdest du tun, wenn er stirbt?“
 

Sherlock warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Es war derselbe enttäuschte Blick, den ich selbst bei zahlreichen Gelegenheiten zu spüren bekommen hatte. Aber es war eine ehrliche Frage. Vielleicht sogar eine besorgte Frage. Und trotzdem eine, von der beide Männer wussten, dass darauf keine Antwort gegeben würde. „Ich muss jetzt gehen, Bruder“, sagte Sherlock. „Aber ich danke dir…für alles.“
 

„Sherlock“, rief sein Bruder und hielt ihn auf, ehe er die Tür erreichte. „Ich hoffe, du denkst an meinen Rat. Und dass du wie in der Vergangenheit die Situation mit Logik betrachten wirst. Und nicht mit voreiliger…Angst.“
 

Holmes schenkte ihm sein pfeilschnelles Grinsen, bevor er die Tür öffnete. „Ich bin mir sicher, Mycroft, dass ich keine Ahnung habe, wovon du sprichst.“
 

Aber er wusste es genau. Während er seinen Zylinder aufsetzte und nach seinem Stock griff, gab es in seinem Kopf nur einen…oder eher zwei Gedanken. Der erste war der an meinen Tod, an mein Sterben, in dem Wissen, dass er mir nichts von dem gestanden hatte, was er in seinem Herzen fühlte. Und der zweite Gedanke…nun, ich kann nur raten, dass er an eine Spritze dachte. Aber nicht an eine Nadel gefüllt mir siebenprozentigem Kokain. Er dachte an eine Spritze, gefüllt mir Luft, durch die jenes verfluchte Herz endlich aufhören würde, ihn zu kontrollieren.
 


 

___________________________________________________________________________
 

[1] Watson meint natürlich Fahrenheit. (In Celsius wären es 40°)
 

[2] Von Ralph Waldo Emerson – 1842, niedergeschrieben wenige Tage nach dem Tod seines Sohnes. (Original: “It is sorrow that makes us all children again, destroys all intellect. The wisest know nothing.”)
 

[3] Wort für Wort: “Wenn es Liebe sein sollte, einen lebenden Tod zu leben, dann liebe ich und tue diesen müden Atemzug.”
 

[4] Da “Der Griechische Dolmetscher” nicht datiert ist, habe ich keine Ahnung, wie lange Watson Holmes kannte, bevor er von Mycroft erfuhr. Fünf Jahre sind nur eine Vermutung.

So, hier kommt das 11. Kapitel. Was wird passieren, nachdem Holmes sich selbst und seinem Bruder seine Gefühle eingestanden hat?

Viel Spaß!
 

Alles war dunkel gewesen. Nicht nur dunkel – schwarz, ohne jedes Licht, jede Berührung, jede Sicht – ohne alle Empfindungen. Die Zeit wirbelte an mir vorüber, in einer solchen Geschwindigkeit, dass ganze Tage mir nur wie Sekunden erschienen. Gelegentliche Explosionen der Hitze, heißer als der schlimmste indische Sommer, waren alles, woran sich mein Geist erinnerte.
 

Bis…
 

Eine Explosion aus Farbe durchflutete mich. Mein Kreislauf wurde erschüttert, wie wenn man an einem kalten Tag in kochend heißes Wasser steigt. Oder vielleicht eher wie ein Traum. Aber es war anders als jeder Traum, den ich mir jemals hätte vorstellen können. Es begann mit einem goldenen Licht: dunstig und unklar, wie die ersten Morgennebel über der Thames, wenn die Sonne sie mit gelben und orangen Geistern erfüllt. Das Licht erfüllte mein Gehirn bis in den letzten Winkel. Eine innere Sonne durchbohrte mich wie ein Blitz.
 

Es war gleißend hell, unerträglich blendend, aber mit einem Mal war ich wieder am Leben. Der Schmerz völlig ausgelöscht.
 

Aber dann…
 

Begann sich das wunderschöne goldene Licht zu verändern.
 

Es wurde zu Millionen von Farben. Sie waren überall um mich herum. Es war eine Art Garten. Aber ein solcher Garten, wie er auf der Erde unmöglich existieren konnte. Die Bäume ragten über sechs Fuß weit hervor und waren so hoch wie die Wolkenströme, die über mir vorübertanzten. Das Gras war wie ein Teppich aus feinstem Samt und es gab Blumen: Blumen von jeder Form und Farbe, mit Blüten so groß wie meine Handfläche samt ausgestreckten Fingern. Die sanfteste aller Brisen wehte vorbei und ich war erfüllt mit tiefster und vollkommenster Glückseligkeit.
 

Alles in meinem Leben, das es wert gewesen war, sich daran zu erinnern, war hier: der Geschmack des frisch gebackenen Brotes meiner Mutter, über und über bedeckt mit Butter; der Duft nach Rosenwasser im Parfum meiner Frau; der Schrei meines Sohnes am Tag seiner Geburt; die Freude über jeden Fall, bei dem ich Holmes assistieren konnte.
 

Nicht einmal im Paradies hätte ich mit solcher unbeschreiblichen Schönheit gerechnet.
 

Und dann sah ich sie.
 

Sie trug die violette Seidenrobe mit dem geschnürten Mieder, die sie auf unserer Hochzeitsreise getragen hatte und sie wirkte so ätherisch wie ein Engel, der auf die Erde herabgestiegen war. Es war meine geliebte Mary. Sie lebte.
 

Mit einem Mal konnte ich nicht mehr nur alles betrachten, ich fühlte, dass auch mein Körper an jenem Ort war. Ich hatte Substanz. Gott…ich konnte zu ihr sprechen.
 

„Mary. Mary…bist du…du bist es wirklich.“
 

„John“, sagte sie mit jener Stimme, an die ich mich nur zu gut erinnerte. Sie lächelte, sanft und wunderschön, aber ich konnte sie nicht erreichen, um sie in meine Arme zu schließen. Sie hielt ein Bündel in ihren Armen. Es wirkte…vertraut…aber nein, das war nicht möglich.
 

Das Baby hatte einen blonden Lockenkopf ganz genau wie Josh, aber statt den blauen Augen ihres Bruder, waren die meiner kleinen Tochter so hellbraun wie meine eigenen. Ich war überwältigt. Ich konnte nichts tun, mich nicht rühren, stand einfach nur da und fürchtete, sie würden sofort verschwinden, wenn ich auch nur einen einzigen Muskel regte.
 

Baby Vera gurrte und streckte ihre kleinen Ärmchen nach mir aus. Ihr lachender Mund enthüllte zwei winzige Zähnchen und jenen köstlichen Duft nach Milch und Babypuder. Ich wünschte mir so sehr, sie in meine Arme zu nehmen. Aber ich fürchtete, dass wenn ich sie berührte, sie vergehen würde, schmelzen zu jenen Blumen und Bäumen.
 

„Sie erkennt dich natürlich, Liebling.“
 

„Aber…wie könnt ihr hier sein?“
 

Marys Lächeln verblasste ein wenig. Ich hatte das Gefühl, als flackerte ihre Essenz für den Bruchteil eines Lidschlags.
 

„Oh, John“, sagte sie sanft. „Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass all das wirklich wäre. Dass dies hier das Paradies ist und du und ich, Vera und Josh für immer zusammen in diesem Eden leben könnten. Aber unglücklicherweise ist es…zumindest für den Moment nur ein Traum. In nur einem Augenblick oder zwei wirst du aufwachen und das hier wird nicht mehr sein, als eine schöne Erinnerung.“
 

Aber das konnte nicht wahr sein. Ich konnte Marys Wärme neben mir fühlen, ich roch sogar die Rosen in ihrem Parfum. Über uns zwitscherten Vögel. Die Sonne schien klar und warm über uns. Das war wirklich. Das musste wirklich sein. „Aber Mary…das kann kein Traum sein. Das ist nicht möglich! Ich habe dich zurück. Denkst du wirklich, dass ich dich nun noch einmal gehen lasse?“
 

„Du musst“, flüsterte sie. „Eines Tages wird es wirklich sein. Aber im Augenblick hast du keine andere Wahl, als nach Hause zurückzukehren und wieder gesund zu werden. Es gibt Menschen, die dich brauchen, John. Trotz all meiner Liebe zu dir könnte ich niemals die Selbstsüchtigkeit aufbringen, dich ihnen wegzunehmen.“
 

Ihnen?
 

„Aber…Mary, nein, noch nicht!“
 

Ihre Erscheinung hatte zu flackern begonnen und ich erkaltete, wurde von ihr fortgerissen. Ich fühlte eine Schwere, so als würde ich schnell fallen, doch meine Lungen waren kaum in der Lagen, Luft ein- und wieder auszuatmen. Ich litt an Dyspnoe[1]. Oder…war ich etwa im Begriff zu sterben? Ich wusste es nicht.
 

„John“, hörte ich sie nun aus der Entfernung. „Du musst dir selbst vergeben. Für das, was geschehen ist und für das, was noch geschehen wird. In meinen Augen bist du frei von jeder Sünde. Du sollst das wissen. Und du sollst wissen, dass ich immer über dich wachen werden, dass du immer meine Liebe haben wirst…und mein Herz.“
 

„Mary!“ Ich konnte jemanden schreien hören. Es klang wie meine eigene Stimme. Aber wie war das möglich? Meine Lippen waren geschlossen; meine Augen waren es ebenso. Sogar mein Körper. Völlig verschlossen.
 

Etwas musste sich verändert haben. Denn nun erkannte ich, dass ich völlig verschlossen war.
 

Noch einmal fühlte ich ein helles Licht. Es drückte auf meine Augen wie Bleigewichte. Meine Sicht verwandelte sich von völliger Schwärze zu faserigem Rot. Mir war immer noch warm, aber es gab nun so viel mehr zu fühlen.
 

Irgendwie schaffte ich es, meine Augen zu öffnen. Ich fühlte mich sehr seltsam. Zuerst war es nur ein steifes, nebliges Gefühl, wie wenn man weiß, dass man verschlafen hat. Und dann fühlte ich den Schmerz.
 

Es ist schwer den Schmerz, den ich fühlte, genau zu beschreiben. Ich werde keine übermäßige Tapferkeit heucheln, wie es viele Männer angesichts von Schmerz tun, denn ich gebe gerne zu, dass es höllisch schmerzte. Es war wie eine Art kribbelndes Brennen – manchmal unterschwellig genug, dass ich es leicht ertragen konnte und dann wieder, als würde mir jemand eine Metallfeile mit voller Kraft über die bloße Haut reiben.
 

Als das Bild vor meinen Augen langsam aufhörte zu verschwimmen, wurde mein Geist von Gedanken und Fragen überflutet. Vielleicht ist das der Arzt in mir, aber ich hasse es, nicht zu wissen, was passiert. Besonders wenn es um mich selbst geht. Um Panik zu vermeiden, ging ich Schritt für Schritt vor.
 

Ich war in einem Bett, offensichtlich in einem Krankenhaus. Es waren keine anderen, durch Vorhänge von einander getrennte Betten zu sehen, also musste ich ein Privatzimmer haben. Aber ich konnte mich nicht erinnern, warum ich hier war. Wann ich hier her gekommen war. Oder wie. Meine Gedanken waren verschwommen, trieben zäh dahin…schienen irgendwie unzusammenhängend. Als ich auf mein Handgelenk sah, erkannte ich auch den Grund dafür. Einstichstellen. Mir war zweifellos Morphium gegen den Schmerz gespritzt worden. Das erklärte auch, warum er so willkürlich kam und ging.
 

„Nun ja…das war wirklich höchste Zeit.“
 

Als ich meinen Kopf leicht drehte, sah ich die Antwort auf zumindest einige meiner Fragen. Dort saß in einem Lehnstuhl mit einer Zigarette im Mund ein Mann, den ich immer erkennen würde – Koma hin oder her: Sherlock Holmes.
 

Ich blinzelte mehrmals und versuchte damit den Nebel der Amnesie von meinen Gedanken zu verscheuchen. „Holmes…“, brachte ich krächzend hervor.
 

Er grinste mich an, allerdings nur kurz – offensichtlich darauf bedacht nicht sentimental zu wirken. Trotzdem konnte er die unglaubliche Erleichterung nicht verbergen, die sich in jeder Facette seiner Erscheinung ausdrückte. Sein Gesicht gewann etwas an Farbe, seine Hände hörten auf zu zittern und seinen Lungen entströmte der längste und tiefste Atemzug, den ich jemals jemanden habe ausstoßen sehen.
 

„Du bist es doch…nicht wahr?“
 

„Natürlich, mein Bester.“ Er lächelte wieder und ich wusste, dass er wirklich erleichtert sein musste. Ich musste zweifellos sehr ernsthaft verletzt worden sein, um diese Reaktion zu rechtfertigen. „Es war wirklich allerhöchste Zeit, Watson, wie ich schon gesagt habe. Und ich dachte immer, ich sei der Dramatiker von uns beiden. Eine ganze Woche im Koma. Das ist wirklich übertrieben.“
 

Ich konnte nicht wirklich sagen, ob er es ernst meinte oder nicht. Bei Gelegenheiten wie dieser ist das sehr schwer bei ihm zu sagen.
 

„Was ist geschehen?“, fragte ich, obwohl es mir schwer fiel zu sprechen. Ich konnte fühlen, wie jede Silbe gegen meine Verletzung hämmerte…was auch immer sie war.
 

„Du erinnerst dich nicht?“
 

„Nein…an gar nichts.“
 

Für einen flüchtigen Moment war ich sicher, dass er erleichtert wirkte. Warum konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich war mir sicher es war Erleichterung. Doch dann verdunkelte sich sein Gesicht langsam, so als hätte er erkannt, dass er es mir würde erzählen müssen, egal wie schmerzhaft es war. Das war es jedenfalls, was ich darin sah, basierend auf allem was ich in diesem Dutzend seltsamer Jahre über ihn gelernt hatte.
 

„Du kannst es ruhig aussprechen, Holmes. Was kann es mir schlimmstenfalls schon anhaben? Mich in ein zweites Koma versetzen?“
 

Wir beide lachten, aber er wirkte dabei viel zu ernst für meinen Geschmack. Ich fand auch bald heraus warum. „Wahrscheinlich ist es nicht so ernst. Aber es könnte…dein Vertrauen in mich zerstören.“
 

Ich lachte. Und verzog das Gesicht, als ich feststellte, wie sehr ein einfaches Lachen schmerzen konnte. „Mein lieber Holmes, das glaube ich kaum. Was ist es?“
 

„Erinnerst du dich an irgendetwas von unserem letzten Fall?“, fragte er und lehne sich so weit vor, wie es ihm möglich war, ohne auf meinem Bett zu sitzen. Als ich verneinte, berichtete er den ganzen Fall von Black Bishop, natürlich in unbeschönigten, spezifischen Details und gelangte schließlich zu dem Punkt, an dem wir beide Richard Bishop am Ufer des Teiches gegenüberstanden.
 

„Welcher Teufel hat dich geritten, dich vor mich zu stellen? Es war wirklich närrisch von dir.“
 

„Mich vor dich zu stellen…“ Aber dann erinnerte ich mich…es traf mich völlig unerwartet, als ob die Erinnerung mit einem Mal heftig in mein Gedächtnis gestoßen würde. Ja. Man hatte auf mich geschossen. Holmes hatte auf mich geschossen. Aber er hatte versucht, sein eigenes Leben zu schützen…er hatte auf Bishop gezielt. Aber wenn ich nicht zwischen sie getreten wäre…dann würde er nun in diesem Bett hier liegen, wäre vielleicht sogar tot. Ja, ich erinnerte mich…
 

Oh Gott, was habe ich getan? John…
 

Das hatte er gesagt.
 

„Du hast mich bei meinem Vornamen genannt“, sagte ich, einfach weil er das niemals zuvor getan hatte.
 

Er zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. „Ja…“
 

„Und wenn ich nicht zwischen euch getreten wäre, hätte dich Bishop erschossen.“
 

„Das wäre mir lieber gewesen, Watson.“
 

„Das glaube ich dir gerne…aber ich musste schon einmal die Schuld für deinen Tod ertragen. Es scheint mir nur gerecht, dass du jetzt…um Himmelswillen, Holmes, schau nicht so grimmig…das war doch nur ein Scherz. Ist alles in Ordnung mit dir?“
 

„Ob mit mir alles in Ordnung ist? Ist dir nicht klar, wie knapp du dem Tod entronnen bist? Dass ich es deinem Sohn erzählen musste. Wenn ich gestorben wäre, hätte ich niemanden zurückgelassen…also wenn du das nächste Mal…“
 

Niemanden zurückgelassen? Herrgott noch mal, Holmes! Und was ist mit mir?! Und glaubst du etwa, Josh würde über deinen Tod nicht ebenso trauern, wie über meinen?! Ich sage dir, manchmal bist du ein entsetzlicher Egoist— Autsch!“ Ein schrecklicher Schmerz raste durch meinen ganzen Körper wie Quecksilber und mir wurde klar, dass ein Streit mit ihm meine Genesung gewiss nicht begünstigen würde. Ich umklammerte meine Seite und versuchte wieder ein ruhiges Gesicht zu machen.
 

„Stimmt etwas nicht?“ Er streckte instinktiv die Hand nach mir aus, hielt aber in letzter Sekunde inne und legte sie behutsam neben mir auf die Bettdecke.
 

„Nichts…es ist…nichts. Ich habe nicht die Kraft, um dir zu widersprechen. Erzähl mir, was passiert ist. Geht es Josh gut? Hattest du irgendwelche neuen Fälle?“
 

„Nein…du solltest dich besser ausrasten. Ich versichere dir, es ist alles in Ordnung. Ich entschuldige mich für meine Worte. Aber es war…nun ja, ziemlich hart, dich so zu sehen. Ich weiß nicht, wie ich auch nur anfangen kann, dir zu sagen…nun, ich danke dir Watson, dafür, dass du mein Leben gerettet hast.“
 

„Äh…gern geschehen.“ Das war mit Sicherheit die unangenehmste Unterhaltung, die wir jemals geführt hatten. Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Aber ich war zu müde, um ernsthaft darüber nachzudenken. „Du darfst jetzt nicht gehen, Holmes. Bleib auf jeden Fall hier. Ich genieße den Klang deiner Stimme.“
 

„Was du nicht sagst?“
 

„Sie ist sehr beruhigend…und einschläfernd“, erklärte ich ihm lächelnd.
 

„Ich vermute, das hatte ich verdient.“
 

„Ja…hattest du.“
 

„Was soll ich sagen?“
 

„Ganz egal“, sagte ich und schloss die Augen. „Sprich einfach. Ich habe…Dinge gesehen. Eine Art von Halluzinationsträumen. Es war wundervoll. Und schrecklich. Ich habe sie wieder gesehen…sie beide. Sie waren am Leben. Aber dann waren sie fort. Schon wieder. Ich konnte es nicht ertragen…aber…oh, ich schweife ab, mein Freund. Sprich einfach. Ich will…ich kann es nicht ertragen, allein zu sein.“
 

„Mach dir keine Sorgen“, flüsterte er, während er mir sanft auf die Schulter klopfte. „Das bist du nicht.“
 

Ich nahm verschwommen war, dass er zu sprechen begonnen hatte. Zuerst – glaube ich – über ein neues Gift, das er aus größtenteils harmlosen Zutaten zusammenbrauen konnte und das trotzdem zehnmal toxischer war als Strychnin. Und dann…alles schien verwischt…versteckte Botschaften in Shakespeares Werken… Theorien über die Gedankengänge eines Psychopathen…
 

Und dann fiel ich in einen unbehaglichen Schlaf. Dankenswerterweise diesmal ohne Bilder aus der jüngsten Vergangenheit.
 


 

Nur drei Tage später wurde ich aus dem Krankenhaus von Charing Cross entlassen, da ich nun offensichtlich für gesund genug gehalten wurde, mich zu Hause zu erholen. Ich hatte nichts dagegen, denn man wird des ständigen Anblicks von vier sterilen Wänden doch recht schnell überdrüssig, besonders wenn es nicht die eigenen sind. Von den letzten Tagen, die ich also dort verbrachte, gibt es nichts Interessantes zu berichten, da ich keinerlei Besucher hatte, nicht einmal Holmes. Ich erhielt einen sehr netten Blumenstrauß von Elizabeth Bishop zusammen mit einer Nachricht, dass sie mir dankte und mir eine schnelle Genesung wünschte. Außerdem hatte mir Holmes noch zwei Karten von Josh dagelassen: Auf einer war ein brauner Fleck, von dem ich glaube, dass es ein Hund sein sollte und auf der anderen ein Mann mit einem Schnurrbart und einem Loch im Bauch, der neben einem kleinen Jungen stand. Er und ich ganz ohne Zweifel, wie ich amüsiert feststellte. Tatsächlich sprachen Holmes und ich erst wieder miteinander, als er mich am letzten Tag in der Untergrundbahn nach Hause begleitete. Es war nur eine kurze Fahrt, aber sie führte zu einem recht interessanten Gespräch.
 

„Du sollst natürlich wissen, Watson, dass du nicht das einzige Opfer warst, das dieser wirre Fall gefordert hat“, sagte er, als wir aus dem Bahnhof ausliefen.
 

„War ich das nicht?“
 

„Oh nein.“ Er griff in seine Westentasche, um seine Uhr hervorzuziehen. Ich sah sofort, dass das Glas zersplittert war und die Vorderseite von einer ziemlich großen Beule geziert wurde. „Ich fürchte, sie ist nicht mehr zu reparieren“, sagte er. „Trotzdem fühle ich mich nackt ohne sie.“
 

„Was ist passiert?“, fragte ich.
 

Er schnaubte, als er die Uhr wieder zurück in die Tasche stopfte. „Weißt du, eigentlich könnte ich dir an diesem Unglück die Schuld geben.“
 

Mir die Schuld geben?“
 

„Oh ja. Siehst du, nachdem ich…unfreiwillig auf dich geschossen hatte – oder besser gesagt, nachdem du mir direkt vor die Flinte gesprungen warst – flog dem jungen Bishop seine Bulldog aus der Hand, als du ihn umrempeltest. Flog aus seiner Hand direkt gegen meine Westentasche und zerschmetterte meine Uhr.“
 

Ich bezweifle sehr stark, dass er es mir erzählte, um sich mein Mitgefühl zu erschleichen – das läge einfach nicht in seiner Natur – aber trotzdem fühlte ich einen leichten Anflug davon. Die Uhr ist gewöhnlich eines der persönlichsten Besitztümer, das ein Mann sein Eigen nennt; etwas, das er über alle anderen schätzt. Meine eigene hatte ich über meinen Bruder von meinem Vater erhalten und sie war nun so gut wie die einzige Verbindung, die ich noch zu den beiden hatte. Holmes hatte davon viel mehr schlussfolgern können, als ich es jemals erwartet hatte und hatte dadurch eine jener wenigen Gelegenheiten verursacht, da ich über seinen Mangel an Anstand wütend wurde. [2]
 

Nun ja, jedenfalls erkannte ich in jenem Augenblick, dass ich nichts über seine Uhr wusste, genau so wenig wie über den Rest seiner Vergangenheit. Ich wusste weder wo er sie erhalten hatte, noch von wem. Ich konnte nur vermuten, dass es sich wahrscheinlich nicht um ein Erbstück seines Vaters handelte, da Holmes der zweitgeborene Sohn und Mycroft noch am Leben war.
 

„War sie wertvoll?“, fragte ich.
 

„Nein…nicht wirklich. Vaters Uhr ging natürlich an Mycroft. Ich habe mir diese hier selbst nach meinem Universitätsabschluss bei McCabe[3] gekauft. Ich versichere dir, es war eine Uhr der Notwendigkeit, nicht der Sentimentalität.“
 

Das überraschte mich. „Dein Vater hat dir keine gekauft? Als du volljährig wurdest? Oder bei deinem Abschluss?“
 

„Nein“, sagte er. „Mein Vater war zu jenem Zeitpunkt bereits tot. Und meine Mutter…“ Er hielt inne, warf mir lächelnd eine schnellen Blick zu und widmete seine Aufmerksamkeit der Times, die auf dem leeren Sitz neben ihm lag. Es war das erste Mal, dass er von seiner Familie sprach, seit ich von der Existenz seines Bruders und seiner Verwandtschaft zu den französischen Künstler Vernet erfahren hatte. Um ehrlich zu sein, verging ich fast vor Neugier. Die Holmesfamilie hatte mich immer schon fasziniert, aber ich hatte niemals gewagt dieses Thema anzuschneiden. Es war dieser eine Punkt, über den Holmes nur sehr widerwillig zu sprechen schien.
 

In den nächsten Tagen, nachdem ich zuhause angekommen war, verließ ich mein Zimmer so gut wie nie. Ich tat nichts anderes, als zu schlafen. Nach und nach gewöhnte ich mir an, gelegentlich in meinem Zimmer herumzuspazieren. Ich hatte nach dem Unfall etwas Gewicht verloren und machte mich mit größtem Vergnügen daran – wie Holmes es nannte – wieder Speck anzusetzen. Mrs. Hudson, die anscheinend die Rolle der Krankenschwester übernommen hatte, verjagte sowohl Josh als auch Holmes aus meinem Zimmer und machte ein unglaubliches Theater um mein ‚Bedürfnis nach Ruhe’. Nach einer Woche hatte ich allerdings mehr als genug vom Schlafen. Ich fühlte mich mehr als bereit, wieder auszugehen, Parks in meiner Ordination zu besuchen oder einfach irgendwo anders zu sein als in der Baker Street. Angesichts des unglaublichen Widerstands hätte man meinen können, es wären meine Eltern, die ich um Erlaubnis hätte fragen müssen.
 

„Es ist wirklich keine gute Idee, jetzt schon raus zu gehen, Watson“, erklärte mein Freund eines Morgens Anfang Dezember, als er in meinem Zimmer saß und versuchte, mir Gesellschaft zu leisten. In Wahrheit war er allerdings so abgelenkt, dass er nichts anders tat, als eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. „Immerhin warst du an der Schwelle des Todes. Ich kann es ganz gewiss nicht verantworten, dass du krank wirst, weil du noch nicht gesund genug warst.“ Das war es, was Holmes mir erwiderte, ganz offensichtlich in dem Glauben, ich sei Josh und nicht dessen Vater.
 

„Mir war nicht klar, wie gut du dich in der Medizin auskennst, Holmes.“
 

„Spiel nicht den Besserwisser, Watson. Dir mag langweilig sein, aber du weißt, es ist zu deinem eigenen Besten. Außerdem gibt es genug Dinge, die du hier erledigen kannst und die dich interessieren könnten.“
 

„Ach ja, und welche?“
 

„Nun ja, du könntest diese Zeit nutzen und zu deinem Schreiben zurückkehren. Ich bin davon überzeugt, dass The Strand sehr daran interessiert wäre, dich zurückzuhaben. Du warst eine ihrer größten Zugkräfte, wenn ich mich recht erinnere.“
 

„Nun ja…“ In Wahrheit hatte ich mir schon seit seiner Rückkehr darüber Gedanken gemacht, wie (oder ob) ich meine Chroniken über Holmes wiederaufnehmen wollte. Es wäre seltsam, würde ich es nicht tun. Besonders nachdem er mir die Hälfte seiner Einnahmen dafür angeboten hatte, dass ich weiterhin meine Aufzeichnungen machte. Allerdings gab es da immer noch das Problem, dass der Großteil meiner Leser ihn immer noch auf dem Grund der Reichenbachfälle wähnte. Und außerdem war ich ganz und gar nicht davon überzeugt, ob Black Bishop der richtige Fall für eine Nacherzählung wäre – in Anbetracht meiner Verletzung und wegen seiner seltsamen versteckten Anspielungen.
 

„Und weißt du, Watson“, sagte Holmes, als erriete er wieder einmal meine Gedanken. „Ich denke, mein kleiner Zusammenstoß mit dem mittlerweile inhaftierten Colonel Moran wäre der perfekte Wiedereinstieg für die Öffentlichkeit.“
 

„Ich verzichte darauf, dich zu fragen, woher du wusstest, dass ich genau darüber nachgedacht habe…es war zweifellos eine absolut simple Deduktion. Aber soll ich den Fall etwa einfach beginnen mit…’Es war ein kalter Londoner Morgen, als Holmes und ich gemütlich bei einer Pfeife zusammen saßen und darüber diskutierten…’“
 

„Wie zum Teufel ich aus dem Wasserfall entkommen bin? Ganz quicklebendig?“, beendete er meinen Satz mit einem Lächeln.
 

„Ja, so in etwa…oder nein, das Problem ist nicht, dass ich deine dreijährige Abwesenheit und deine plötzliche Rückkehr nicht erklären könnte. Das Problem ist, dass ich nicht erklären kann…oder sollte, was geschehen ist, als du zurückkehrtest.“
 

„Tatsächlich? Und wieso nicht?“
 

„Ach, komm schon, alter Junge. Ich weiß, dass du ein viel zu logischer Mann bist, als dass du die Feinheiten anerkennst, die ich gelegentlich verändern oder erfinden muss, um mich der Gesellschaft anzupassen. Aber solltest du tatsächliche meine Berichte gelesen haben, dann sollte dir klar sein, dass ich nicht einfach schreiben kann, du kehrtest zurück, erschrecktest mich zu Tode, ich warf dich hochkantig aus meinem Haus, du ließest mich eine Woche lang schmoren und als du dann ein zweites Mal bei mir auftauchtest, erniedrigte ich mich selbst, indem ich vor deinen Augen zu weinen begann!“
 

„Guter Gott, Watson! Letzten Endes hast du doch eine Neigung zur Theatralik, alter Junge. Aber ernsthaft, du übertreibst maßlos. Immerhin hattest du gerade erst deine Frau verloren. Und was ich getan habe…nun, du hast meine Erlaubnis, aus mir den größten Unhold zu machen, den deine Vorstellungskraft nur hervorbringen kann. Ich war wirklich ganz scheußlich zu dir.“
 

Selbst zwei Monate danach dachte ich nicht einmal daran, ihm darin zu widersprechen. „Nun, selbst wenn ich die Fakten ein wenig veränderte, würde es mich ein ganz schönes Stück Arbeit kosten, bis es nicht mehr so aussieht, als hätte ich dich im Kampf mit Moran im Stich gelassen.“
 

Holmes lächelte kurz und wehmütig, als erfreue ihn meine Reue darüber, wie ich ihn in jener Nacht behandelt hatte. Die Hände hinter seinem Rücken verschränkt bemühte er sich weiter darum, unseren Perserteppich noch mehr auszutreten, indem er im Zimmer auf und ab schritt. Nach einer langen, seltsamen Stille hielt er schließlich inne. „Nun, Watson, die Antwort ist ganz simpel! Du musst nur lügen!“
 

„Lügen? Worüber soll ich lügen?“
 

„Verwandle den Fall in Fiktion! Ich habe einige Details (und mit ‚einige’ meinte er zweifellos alle) aufgezeichnet und wenn du sie dir durchsiehst, könntest du dich sicher einarbeiten und deine Leser glauben machen, dass es zwischen uns keinerlei Probleme gab, nachdem ich nach London zurückkehrte.“
 

„Aber…lügen? Wie kann ich das mit gutem Gewissen tun?“
 

„Watson…Watson…es ist ja nicht so, als wären deine Werke jemals Lehrwerke zur Deduktion gewesen. Du hast sie von Anfang an ausgeschmückt, um die Spannung zu erhöhen; du verwandeltest eine Reihe lehrreicher Fälle ohnehin in bloße Geschichten. Ich glaube kaum, dass dein Gewissen darunter leiden sollte, wenn du noch einen Schritt weiter gehst.“
 

Ein Teil von mir war fast schon erleichtert, das aus seinem Mund zu hören und sei es auch nur deshalb, weil es so sehr nach Holmes klang. Es schmerzte immer noch, aber dieses Mal half mir seine Kritik wirklich. Unsere Blicke trafen sich und wir starrten einander einfach an, als wüsste keiner von uns, was er sagen sollte. Etwas schien passiert zu sein, aber ich konnte nicht sagen was.
 

„Gut“, sagte Holmes schließlich. „Falls du deine Meinung änderst, die Aufzeichnungen über den Fall liegen bei meinen Akten. Es ist ein wenig durcheinander, aber ich bin sicher, du kannst sie finden.“
 

„Du gehst?“, fragte ich überrascht.
 

„Nur für einen Tag. Ich muss nach Dartmoor, zur Gerichtsversammlung und dort bestätigen, wie ich den Mörder von Micheal Clive entdeckt habe¬, entdeckt, so nennen sie es natürlich, nicht ich. Ich fürchte, Richard Bishop wird es nicht leicht haben. Laut Elizabeht Bishop lassen sie viele Dinge in dem Bericht aus: die Tatsache, dass ihr Vater sie verlassen hat; die Tatsache, dass er dachte, es sei sein Vater...und selbst die Tatsache, dass er erst fünfzehn ist.”
 

„Sollte ich dich nicht begleiten? Schließlich bin ich auch ein Zeuge. Der Beweis dafür ist das Loch in meinem Rücken.“
 

„Nein, nein. Du brauchst Ruhe. Nichts was du bezeugen könntest, kann ich nicht ebenso bezeugen. Ich rate dir, dich auszuruhen…und zu schreiben. Ich denke das könnt dir dabei helfen, die Dinge klarzustellen.“
 

„Klarzustellen? In welcher Hinsicht?“
 

Sein Mund zuckte und er unterbrach den Augenkontakt. „Ich muss jetzt gehen, wenn ich pünktlich sein will.“ Und dann rauschte er auch schon aus dem Zimmer, ohne sich weiter mit einem Gruß aufzuhalten.
 

Aus verschiedenen Gründen hatte mich das Gewicht unseres Gesprächs ermüdet. Er schien es sich angewöhnt zu haben, sich nur noch in kryptischen Botschaften auszudrücken und mittlerweile hätte ich mich eigentlich daran gewöhnen sollen. Aber ich konnte mir nicht helfen. Es schien mir als ob irgendetwas Ernstes mit ihm los war, irgendetwas, das er mir nicht erzählte. Ich hatte dieses Gefühl nun schon seit Monaten, aber bisher war ich immer beschäftigt genug gewesen, um es zu ignorieren. Es war nicht wirklich eine Intuition, sondern einfach ein Gefühl. Oder vielleicht kannte ich ihn auch nur gut genug, sodass es für mich offensichtlich war, wenn etwas nicht mit ihm stimmte.
 

Aber im Moment konnte ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, was es war. In der Absicht, zumindest den ersten Teil seines Ratschlags zu befolgen, schloss ich meine Augen und hoffte darauf, in einen Schlaf zu fallen, der tief genug war, um daraus nicht nur erfrischt sondern wieder auch wieder vollständig zu erwachen. Aber wie gewöhnlich bekam ich keine Gelegenheit dazu.
 

„Papa, Papa, liest du mir was vor?“
 

Diese Worte wurden von dem Gefühl begleitet von kleinen Händen und Füßen, die ungeschickt krabbelnd an mir hoch kletterten, beinahe ausgeweidet zu werden. „Au! Josh, sei doch vorsichtig!“
 

„Tut mir Leid…ich hab deinen Schuss vergessen.“
 

„Meinen was?“
 

„Deinen Schuss…Onkel hat gesagt, du bist beschossen worden. Deshalb warst du so viele Tage lang nicht da.“
 

„Oh ja…meinen Schuss“, sagte ich lächelnd. „Das tut mir sehr Leid, Liebling. Ich wollte wirklich nicht so lange fort sein. Aber es sollte dich aufheitern, wenn ich dir sage, dass es für mich eine ganz furchtbare Zeit war.“
 

„Zuerst war ich ganz traurig, weil ich dachte du kommst nicht mehr zurück. Weil Onkel doch auch so traurig war. Aber dann war alles in Ordnung. Wir waren im Zoo.“
 

Im Zoo? Sherlock Holmes im Zoo? Zum Vergnügen? Die bloße Vorstellung schien lächerlich. „Holmes war mit dir im Zoo?“
 

„Ja.“ Er nickte heftig. „Es war toll! Onkel weiß so viel über die Tiere. Woher sie kommen und was sie essen und ihr Paarungsverhalten.“
 

„Paarungsverhalten? Hat er etwa…“
 

„Es war komisch…ich weiß nicht, was er damit gemeint hat.“
 

„Ach, Gott sei Dank…ich weiß wirklich nicht, was mit diesem Kerl los ist.“
 

„Liest du mir jetzt was vor?“
 

Er ließ ein schweres Buch in meinem Schoß fallen. Es hatte einen blauen Ledereinband, auf dem das farbige Bild einer Prinzessin prangte. „Lies, Papa“, verlangte er und lehnte seinen Kopf an meinen Arm.
 

Ich las ihm sein Lieblingsmärchen der Gebrüder Grimm vor, eine Geschichte mit dem Titel ‚Iron John’[4]. Es ist eine etwas blödsinnige Geschichte über einen Prinzen, der von diesem mit Eisen bedeckten Mann lernen muss, was es heißt, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Josh mag sie, weil der Iron John stark und reich ist und natürlich weil er seinen Namen trägt. Als ich fertig gelesen hatte, waren seine Augenlider bereits sehr schwer und die Uhr schlug halb zwei, die goldene Zeit für ein Nickerchen.
 

„Ich wünschte, ich wäre wie Iron John“, erklärte Josh gähnend. „Es wäre toll, alles haben zu können, was man wollte.“
 

„Und was sollte ein so kleiner Junge von gerade erst drei Jahren denn haben wollen, was er nicht ohnehin schon besitzt?“ Ich bereute meine Worte im selben Moment, in dem ich sie aussprach. Es hätte für mich sofort offensichtlich sein sollen, dass er seine Mutter zurück haben wollte. Aber stattdessen antwortete er etwas gänzlich anderes.
 

„Ich würde mir zwei Sachen wünschen“, sagte er und hielt zum leichteren Verständnis zwei Finger hoch. „Ich will, dass alle auf der Welt glücklich sind und einen Hund.“ Er hielt inne und fügte nachdenklich hinzu. „Weihnachten ist in siebzehn Tagen. Ich hab’s gezählt. Glaubst du, ich könnte den Weihnachtsmann darum bitten?“
 

Ich wusste kaum, was ich sagen konnte. Und glaube mir, lieber Leser, ich wusste nicht, über welchen Wunsch ich mich mehr wundern sollte. „Josh, Liebling, es ist sehr lieb von dir, dass du alle Menschen glücklich machen willst…aber wie bist du auf die Idee zu diesem Wunsch gekommen?“
 

„Ich mag es nicht, wenn die Leute unglücklich sind. Es macht mich unglücklich.“
 

„Aber wer, den du kennst, ist denn unglücklich?“
 

Er warf mir einen Blick zu, einen Blick, den ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde. Es war kein Blick, wie man ihn von einem kleinen Kind erwarten würde. Und ich wusste, dass er mir nichts verraten würde. Es war nur die erste von zahllosen Gelegenheiten, an denen ich im Laufe der Jahre immer wieder vermuten sollte, dass mein Kind eine Gabe besaß, die ich weder verstehen noch erklären konnte. Ich war ihm unglaublich dankbar, als er bewusst das Thema wechselte. „Glaubst du der Weihnachtsmann bringt mir einen Hund?“
 

„Hund? Oh, einen Hund…“ Ich räusperte mich und versuchte meinen Kopf davon abzuhalten, sich weiter zu drehen. Warum konnte ich kein Kind haben, das sich so einfach Dinge wünschte wie ein Spielzeugboot, eine Trommel oder Süßigkeiten?
 

„Ähm…ich denke, du bist noch ein bisschen zu jung für einen Hund, Sohn. Abgesehen davon, dass diese Wohnung hier viel zu klein wäre.“
 

„Kann ich ihn nicht wenigstens fragen?“ Er schlief nun schon fast und gähnte noch einmal.
 

Der bloße Gedanke daran, dass es in diesem ganzen Durcheinander noch so etwas Unschuldiges gab wie Josh und den Weihnachtsmann, brachte mich fast dazu zu kapitulieren und augenblicklich in die nächste Tierhandlung zu laufen. Aber nur fast. „Du kannst tun, was du willst, Joshie. Ich werde dir dabei helfen, ihm einen Brief zu schreiben. Aber du solltest ihn auch um ein paar andere Sachen bitten, nur für den Fall, dass er meiner Meinung ist.“
 

„Is’ gut, Papa.“ Er schloss die Augen und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
 

Ich selbst war nicht mehr im Geringsten müde. Es war, als würde der ganze Schlaf der letzten Woche mit einem Mal seine Wirkung zeigen und ich fühlte mich hellwach. Oder zumindest hatte ich das Gefühl, dass ich etwas tun musste. Wenn ich mir die Gelegenheit gab, dazusitzen und nachzudenken, war es nur zu wahrscheinlich, dass mir meine Gedanken ganz und gar nicht gefallen würden. Und daher stand ich vorsichtig auf, wickelte Josh in die Decke ein und machte mich auf die Suche nach den Aufzeichnungen, die ich brauchen würde, um das zu vervollständigen, was ich im Geiste bereits ‚Das Leere Haus’ getauft hatte.
 

Ich ging ins Wohnzimmer und in Richtung der Akten, wo Holmes Exemplare der Times aufbewahrte – alles, von dem er glaubte, es könnte ihm eines Tages von Nutzen sein. Ich wusste, dass der Adairmord im September dieses Jahres geschehen war, also erst vor drei Monaten, aber ich konnte mich nicht mehr an das genaue Datum erinnern.
 

„Nun, eines wird sich wohl niemals ändern – er ist und bleibt ein Schlamper“, sagte ich zu mir selbst, während ich mich durch Zeitungen, alte Telegramme, Notizen und Gott weiß was noch alles wühlte, um das zu finden, wonach ich suchte. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie ein Mann, der so sehr auf sein Äußeres achtete, sich so wenig darum kümmern konnte, in welchem Zustand sich seine Wohnung befand.
 

Fündig wurde ich schließlich unter einem Telegramm von Lestrade und der drei Wochen alten Abendausgabe mit der Schlagzeile „Parlamentabstimmung über Beschränkungen der Amtszeiten“. Es erinnerte mich sofort an ein Gespräch, das ich mit meinem Sohn führte…Gott, wann war das gewesen? Nicht ganz drei Wochen, auch wenn es mir wie zwei Jahre vorkam. Josh hatte mir erzählt, er hätte Holmes mit einem Buch gesehen und dass er ausgesehen hatte so wie ich, als Mary gestorben war.
 

Weiß nicht, Papa. Richtig traurig eben. Er hat das Buch ganz schnell zugemacht, als er mich gesehn hat und wollte mir nicht sagen, was es ist. Das ist alles.
 

Weißt du noch, welches Buch es war?
 

Es war rot und dick. Mehr weiß ich nicht mehr.
 

Es war dieses Buch. Ich war mir völlig sicher. Holmes hatte nur eine kleine Bibliothek und fast alles davon war für seine Arbeit gedacht: Juristische Bücher, Sensationsliteratur, chemische Texte und dergleichen. Nicht viele davon waren in rotes Leder gebunden. Dies musste das Buch sein, das Josh gesehen hatte.
 

Ich hob es auf, um den Titel lesen zu können. Britische Lyrik im Wandel der Jahrhunderte. Lyrik? Ich hatte nicht gewusst, dass Holmes Gedichte las. Oder überhaupt irgendwelche emotionalen Texte. Wieso sollte er? Es diente keinem logischen Zweck. Ich muss gestehen, dass ich selbst nicht unbedingt ein begeisterter Anhänger dieser Art von Literatur war, auch wenn ich von Mary genug über die Klassiker gelernt hatte, um die Lyrik im Allgemeinen zu schätzen zu wissen.
 

Das Buch war ziemlich abgegriffen und ich überlegte, ob es vielleicht einfach ein Erbstück von einem Verwandten war, etwas, das er niemals selbst kaufen oder auch nur lesen würde, aber in seiner Bibliothek aufbewahrte wegen der Familienbande – oder etwas in der Art.
 

Wie falsch ich lag.
 

Es war in der Mitte des Buches, auf Seite 237, um genau zu sein, wo ich es fand. Ein sorgsam aufbewahrter Zeitungsartikel, datiert auf den Mai ’91. Ich kannte ihn sehr gut, denn ich selbst hatte auch eine Kopie davon in einem Album – zusammen mit meiner Hochzeitsanzeige, Joshs Geburtsanzeige, meiner Medaille und anderen Sentimentalitäten: Es war der Artikel, der ganz London Holmes’ Tod verkündete und enthielt die Eloge, die ich für ihn verfasst hatte. Die Eloge war, wie er gesagt hatte, teilnahmsvoll und fruchtlos. Es waren zweifellos die tiefempfundensten Worte, die ich jemals zu Papier gebracht hatte.
 

Aber warum sollte er eine Kopie davon aufbewahren? Noch dazu in einem Gedichtband—
 

Mein Blick fiel auf die Verse, die auf dieser Seite standen. Ich hatte das Gefühl, sie schon einmal gelesen zu haben. Ja. Es war eines von Marys Lieblingsgedichte. Von Samuel Daniel.
 

Es ist nicht wirklich bekannt, hatte sie gesagt. Aber ich finde es wunderschön. Der Sprecher ist so verliebt, dass es ihm egal ist, wie schlecht es ihm geht, oder ob seine Liebe erwidert wird.
 

Das erscheint mir sehr zweifelhaft, Mary. Warum verlieben sich diese Dichter niemals in jemanden, der ihre Liebe auch erwidert?
 

Ach John – lachte sie. Du verstehst das nicht. Aber du kannst nicht anders…Männer können nicht anders. Deshalb verzeihe ich dir.
 

Vielleicht war es ein Zufall, dass der Artikel auf dieser Seite lag. Aber nein – das konnte nicht sein. Die Seite war zusätzlich noch mit einem Eselsohr markiert. Diese Gedicht bedeutete etwas für Holmes.
 

‚If this be love, to draw a weary breath,

To paint on floods till shore cry to th’air,

With downward looks, still reading on the earth

The sad memorials of my love’s despair;

If this be love, to clothe me with dark thoughts,

Haunting untrodden paths to wail apart;

My pleasures horror, music tragic notes,

Tears in mine eyes and sorrow at my heart

If this be love, to live a living death,

Then do I love and draw this weary breath.’[5]
 

Aber das war nicht alles. Da war noch mehr. Geschrieben in roter Tinte und nicht annähernd so achtlos hingekritzelt, wie ich es von ihm gewohnt war. Trotzdem erkannte ich seine Handschrift augenblicklich. Es waren drei lateinische Zeilen:
 

Nec tecum possum vivere, nec sine te
 

Ioannes est nomen eius
 

Miserere mei
 

Mein Latein war etwas eingerostet, besonders was das Übersetzen von ganzen Sätze anging. Trotzdem erfasste mich kalte Angst im selben Moment, als ich fertig gelesen hatte. Ich raste in mein Zimmer, so schnell es meine Verletzung erlaubte. Mit jedem Schritt fühlte ich einen Stich. Dort, in meiner eigenen kleinen Bibliothek größtenteils bestehend aus Romanen und medizinischen Fachbüchern, lag auch ein Buch, das ich seit der Universität aufbewahrt hatte. Ein lateinisches Wörterbuch. Der Einband war zerfetzt und viele der Seiten verbogen und zerrissen durch meine verzweifelten Versuche, mit meinem abschweifenden alten Lateinlehrer mitzuhalten.
 

Nec tecum possum vivere, nec sine te—
 

Ich kann weder mit dir leben, noch ohne dich.
 

Ioannes est nomen eius—
 

John ist sein Name.
 

Misere mei—
 

Erbarme dich meiner. [5]
 

Ich musste es mehrmals lesen, bevor ich verstand. Ich kann weder mit dir noch ohne dich leben. John ist sein Name. Erbarme dich meiner…
 

Erbarme dich…John…weder leben…dann liebe ich…liebe…
 

Liebe.
 

Das Buch fiel aus meinen Händen.
 

Oh Gott.
 

Plötzlich machte alles Sinn. Die Art, wie er sich benommen hatte. Das Violienenspiel. Die Frage, ob ich wieder heiraten würde. Der Kuss…
 

Aber nein…
 

Nein, wie konnte das möglich sein?
 

Wie konnte dieser Mann, dem ich näher stand als jedem anderen, solche Gefühle für mich hegen? Was alle über ihn gesagt hatte, war die Wahrheit.
 

Alle Farbe schien aus dem Raum um mich zu schwinden. Meine Hand, die Hand, die das Buch gehalten hatte, begann zu zittern. Meine Knie fühlten sich an wie Butter. Mein Gesicht brannte. Zitternd taumelte ich zu meinem Stuhl. Ich musste nachdenken…Ich musste logisch nachdenken…Ich musste etwas tun. Aber was?
 

Meine Augen fielen wieder auf das Buch, das immer noch aufgeschlagen auf dem Boden lag. Nein, da stimmte etwas nicht. Irgendetwas stimmte nicht. Das alles war viel zu offensichtlich…zu geplant. Das Buch war einfach da gewesen, direkt neben den Artikeln. Und meine Eloge…lag auf genau jener Seite. Und er hatte es geschrieben.
 

Er wollte, dass ich es wusste.
 

Er wusste, dass er nicht da sein würde und er wollte, dass ich es herausfand.
 

„Oh Gott!“, rief ich.
 

Ich kann weder mit dir noch ohne dich leben…
 

Ich sprang auf die Füße. Was hatte er vor? Er konnte doch nicht…oder doch?
 

Ja.
 

Er konnte.
 

„Mrs. Hudson!“, schrie ich. „Mrs. Hudson, ich muss gehen! Bitte passen Sie auf Josh auf. Für einen Tag oder so!“
 

Ich rannte die Treppe hinab, ignorierte jeden Schmerz und riss Hut und Mantel von den Kleiderhaken. Mrs. Hudson streckte ihren Kopf aus der Küche und blickte mich an, als sei ich von allen guten Geistern verlassen. Teig klebte an ihren Fingern. „Was schreien Sie denn so, Doktor? Sie wissen genau, dass Sie ins Bett gehören. Es wird Ihrer Wunde ganz und gar nicht gut tun, wenn Sie…“
 

„Es tut mir Leid, Mrs. Hudson! Ich muss gehen! Ich muss ihn aufhalten!“
 

„Aufhalten? Wen aufhalten, Sir?“
 

Bitte, Gott, lass mich ihn rechtzeitig finden. Das kann nicht die Lösung sein. Ganz egal was er ist, oder was er getan hat…
 

Ich will ihn nicht noch einmal verlieren…
 


 

___________________________________________________________________________
 

[1] Atemnot
 

[2] Holmes schlussfolgerte in ‚Im Zeichen der Vier’ nach einer Untersuchung der Uhr, dass Watsons Bruder ein Trinker war. Es ist wirklich eine seiner besten Schlussfolgerungen und meiner Meinung nach ein faszinierender Moment zwischen den beiden.
 

[3] Anspielung auf James McCabe, einen Uhrmacher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, der von Belfast nach London übersiedelte. Sein Sohn führte das Geschäft nach seinem Tod fort und war ziemlich berühmt.
 

[4] Anm. des Übersetzers: Ich weiß, dass ‚Iron John’ auf Deutsch eigentlich ‚Der Eisenhans’ heißt, aber dann würde irgendwie der Witz verloren gehen, nicht wahr?
 

[5] Hier die Übersetzung, Wort für Wort und ohne Rücksicht auf den Rhythmus:

Wenn es Liebe ist, diesen müden Atemzug zu tun,

Auf Wellen zu zeichnen, bis die Küste zum Himmel schreit,

Mit gesenktem Blick auf der Erde zu lesen

meiner verzweifelten Liebe tristes Grabmal;

Wenn es Liebe ist, mich in dunkle Gedanken zu hüllen,

auf unbetretnen Pfaden sehnsüchtig einsam zu klagen;

Meine Freuden Schrecken, Musik tragische Töne,

Tränen in meinen Augen, Sorgen in meinem Herzen.

Wenn es Liebe ist, einen lebenden Tod zu leben,

Dann liebe ich und tue diesen müden Atemzug.
 

[6] 51. Psalm (Original: “Have mercy on me”)

Es tut mir wirklich Leid, dass ich euch ausgerechnet bei einem so gemeinen Cliffhanger wie diesem hier zwei Wochen lang habe warten lassen, aber es ging leider nicht anders.

In diesem Kapitel gab es einfach ein paar ziemlich komplizierte Redewendungen, die ich mit Andrea abklären musste und da sie sich gerade mit irgendwelchen langwierigen Prüfungen herumschlagen musste und ich auch nicht gerade viel Zeit hatte, hat das leider etwas gedauert.
 

Ich möchte außerdem noch hinzufügen, dass dieses Kapitel einen meiner Lieblingsdialoge enthält (allerdings nicht den allerbesten, das kommt noch).

Viel Spaß damit.
 

Dieses Mal verwischte die dreistündige Fahrt zu einem einzigen verschwommenen Flecken. Ich versuchte, mich auf die Landschaft zu konzentrieren, auf die vorbei fliegenden Hügel und Bauernhöfe, aber der Himmel hatte sich verdunkelt und nur Minuten später klatschten schwere Regentropfen gegen die Fenster. Nur für eines war ich dankbar – der Zug war so gut wie leer und niemand sonst saß in meinem Abteil. Ein Blick auf mich hätte vielleicht einen besorgten Fahrgast dazu verleitet, den ganzen Zug anzuhalten. Ich war mir zumindest sicher, dass ich wohl keinen schönen Anblick bot.
 

Hatte es Hinweise gegeben? War da etwas gewesen, was mir eigentlich hätte auffallen müssen?
 

Ja.
 

Es waren viele Dinge gewesen; wie Sie, werter Leser, vermutlich schon bemerkt haben. Ich werde es dir ersparen, sie alle aufzuzählen. Aber für mich waren es einfach Möglichkeiten gewesen, die mir niemals in den Sinn gekommen waren, besondern nicht bei einem Mann wie Sherlock Holmes. Ich glaubte, er wäre zu solchen Gefühlen wie ‚Liebe’ nicht fähig. Ich hatte es ganz London verkündet. [1] Wie hatte ich nur so blind sein können?
 

Aber was noch viel wichtiger war, was sollte ich jetzt tun?
 

Nein, ich konnte noch nicht darüber nachdenken. Ihn zu finden, war im Moment das allerwichtigste.
 

Der Regen klatschte dumpf gegen das Fensterglas, Millionen winziger Tode in sechzig Meilen pro Stunde. Mein Kopf dröhnte im Takt mit meinem hämmernden Herzschlag. Ich lehnte mich schwer gegen die Rückenlehne und schloss die Augen. Wenn meine Gedanken doch nur wie Joshs Schiefertafel wären! Dass ich sie einfach löschen könnte, um alles zu vergessen, was durch meinen Kopf raste, so viel schneller als der Zug.
 

Der eiskalte Regen ließ nicht im Geringsten nach, als ich auf die Plattform hinaustrat. Ich fühlte mich schrecklich. Meine Lungen waren verstopft, meine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier und ich war davon überzeugt, ein Messer müsse mein Rückgrad durchbohrt haben. Während ich gegen die Schmerzen ankämpfte, fand ich endlich eine Kutsche.
 

„Alles in Ordnung, Kollege?“, fragte der Kutscher und zeigte ein ungewohntes Interesse für irgendetwas anderes als seinen Lohn. „Sie seh’n gar nich’ gut aus.“
 

Natürlich nicht. Und er kannte nicht einmal die Hälfte davon.
 

„Mir geht’s gut“, sagte ich und wickelte mich fester in meinen mittlerweile durchnässten Mantel. „Black Bishop, aber schnell.“
 

Es kam mir seltsam vor, dass Holmes und ich gerade erst vor zwei Wochen nach Black Bishop geeilt waren, um Richard davon abzuhalten, eine Dummheit zu begehen. Kutscher äußern normalerweise keinerlei Bedenken, ob es nun um das Reiseziel oder das Befinden ihrer Fahrgäste ging. Dieser hier tat es. Ich erinnerte mich, dass es derselbe war wie an jenem denkwürdigen Tag. Hätte ich vor zwei Wochen auf ihn gehört, hätte es mir einen ganzen Haufen Schmerzen erspart.
 

Gott allein weiß, was es mir erspart hätte, hätte ich dieses Mal zugehört.
 

Mein Magen rebellierte gegen jede Unebenheit der matschigen Straße und ich war gezwungen, die Augen fest zu schließen und meinen Körper mit den Armen zu umklammern. Ich war krank, das wurde mir klar. Durch den eisigen Regen zu hetzen, war das Letzte, was ich momentan brauchen konnte.
 

Schon bald ragte Black Bishop vor mir auf – nass und trostlos. Seine schwarzen Mauern glänzten in der Dunkelheit jenes Unglückstages. Der Wind heulte von seiner Einsamkeit und der Regen fiel dicht und schwer. Wenn meine Stimmung auch nur ein winziges bisschen perfekter zum Wetter gepasst hätte, hätte ich gedacht, es würde sich danach richten.
 

Ich wies den Kutscher an, eine Minute auf mich zu warten und kletterte von dem Gefährt. Ich hatte keine Ahnung, wo das Gericht tagte und ich hoffte, dass – wenn Elizabeth und ihr Bruder auch zweifellos dorthin gefahren waren, wo auch immer es war – mir wenigstens ein Diener würde sagen können, wohin ich musste. Ich war mehr als überrascht, als Elizabeth Bishop selbst mir die Tür öffnete.
 

„Aber, Dr. Watson! Was um Himmelswillen tun Sie hier draußen?“
 

„Ich wollte…ich dachte, heute sei die Gerichtsverhandlung.“
 

„Gerichtsversammlung? Aber nein, die ist doch erst nach den Feiertagen“ Sie hielt einen Moment inne; zweifellos wurde ihr erst in dieser Sekunde klar, in welchem Zustand ich mich befand. „Was ist mit Ihnen geschehen? Sollten Sie wirklich schon so bald nach ihrer Verletzung wieder auf den Beinen sein? Sie sehen schrecklich aus, wenn ich ehrlich sein soll. Bitte kommen Sie doch herein und ruhen Sie sich kurz aus. Ich werde Ihnen einen Kaffee kochen…“
 

„Nein“, rief ich heftig. „Ich muss Holmes finden. Ich dachte, er sei hier und ich muss ihn unbedingt finden.“
 

„Wieso das?“ Und sie musterte mich noch einmal gründlich. Einen Moment lang fürchtete ich tatsächlich, sie könne meine Gedanken lesen. „Ist etwas passiert?“, fragte sie.
 

„Ja.“
 

Aber mehr würde ich ihr nicht sagen.
 

„Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?“
 

„Ich fürchte nein“ Ich schob mich langsam in Richtung Kutsche. Ich wollte nur noch weg von hier. Irgendwas lief falsch. Und sie schien es zu wissen. Nein, das konnte sie nicht. Aber es schien so. „Ich muss gehen, Miss Bishop. Danke…danke für Ihre Hilfe.“
 

„Oh, warten Sie, Dr. Watson!“
 

Ich wand mich um.
 

„Es ist mir gerade wieder eingefallen! Ich war so erschrocken, Sie hier zu sehen, dass ich ganz darauf vergessen hatte, aber jetzt erinnere ich mich. Als Mr. Holmes das letzte Mal hier war und mir von ihrem Befinden erzählte, sagte er etwas, das mir damals sehr seltsam vorkam. Aber jetzt ist mir klar, dass er genau das vorhergesehen haben muss.“
 

Mir wurde eiskalt, so als würde mir alles Blut aus den Adern gezogen. „Was war es?“
 

„Er sagte, dass falls Sie jemals hier nach ihm suchen sollten, dann sollte ich Ihnen ausrichten, er sei an jenem Ort, an dem alles begann.“
 

Ich fühlte kaltes, nasses Metal, als ich nach der Kutschentür griff, um nicht zu fallen.
 

„Wissen Sie, was das bedeutet?“
 

„Ja“, hauchte ich. „Leider.“
 

Reichenbach.
 

Ich wusste sofort, dass er dort sein musste. Er wollte, dass ich dorthin zurückkehrte. Warum? Damit ich Zeuge wurde, wie er sich selbst in den Tod stürzte? Um mir seine Sünde zu gestehen und dann, wenn ich es wusste, den Ausweg eines Soldaten zu wählen?
 

Aber nein. Das konnte nicht seine wahre Absicht sein. Welchen Zweck hätte es, wenn ich dabei wäre? Er wollte mich aus einem anderen Grund dort greifbar haben. Ob er tatsächlich weder mit mir noch ohne mich leben konnte, schien mir eher fragwürdig. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er wirklich deshalb sein eigenes Leben auslöschen wollte. Und wenn es schon keinen anderen Grund hatte, dann war er zumindest viel zu selbstgefällig, als dass er England zugetraut hätte, seine permanente Abwesenheit zu ertragen. Aber ich musste trotzdem zu ihm gehen. Und ich wusste es.
 

Doch das war auch das Einzige, was ich noch wusste.
 

Von Dartmoor aus nahm ich den Zug direkt nach Dover, zur Kanalfähre. Das allein war schon eine Fahrt von vier Stunden und die Zeit fürs Abendessen war schon lange vorbei, als ich schließlich am Hafen anlangte. Aber ich dachte nur noch an das Ziel meiner Reise und nicht daran, wie ich es erreichen wollte, oder wie lange es dauern würde.
 

In Dover schickte ich ein Telegramm an meine Sohn und Mrs. Hudson, in dem ich mich vielmals für mein plötzliches und spurloses Verschwinden entschuldigte. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich von meinen Pflichten als Joshs einziger Elternteil drückte und ich könnte es nur zu gut verstehen, wenn du, werter Leser, nun sehr schlecht von mir denkst. Aber ich muss gestehen, dass meine Vaterschaft für mich damals nicht das wichtigste Anliegen war – auch wenn sie es wohl hätte sein müssen.
 

Es war schon sehr spät als ich den Hafen von Calais in Frankreich erreichte und ich war immer noch viele Stunden von Meiringen entfernt, wo die Fälle von den Alpen herab in die Tiefe donnerten. Ich hatte das Glück einen Expresszug zu erwischen und wenn die Fahrt ohne Zwischenfälle verlaufen sollte, würde ich die Endstation am späten Nachmittag des nächsten Tages erreichen – nach einer Reise von etwa 36 Stunden. Ich hatte keine Ahnung von Holmes Plänen, ob er sich ein Zimmer in der Nähe genommen hatte oder ob er tatsächlich direkt bei den Fällen auf mich warten würde, tief in Gedanken versunken. Holmes war ein Meister im Vortäuschen von Katalepsie und ich wusste, dass er bei Bedarf stunden-, vielleicht sogar tagelang bewegungslos ohne Essen oder Schlaf verharren konnte.
 

Ich brauchte eineinhalb Tage, ohne mir die kleinste Pause zu gönnen. 36 Stunden für eine Reise, für die wir damals eine ganze Woche gebraucht hatten. Doch damals hatten wir uns Zeit und Muse genommen, die Orte zu genießen, durch die uns die Reise führte. Diese Fahrt dagegen hätte ich genauso wenig genießen können, wie mir Flügel wachsen zu lassen und davonzufliegen. Zahlreiche Menschen waren auf dem Schiff oder dem Zug an mir vorbei gezogen, hatten mich anblickt, mir sogar grüßend zugenickt, aber ich hatte keinen davon beachtet. Ein alter Knabe sagte irgendetwas über den Sturm der uns (oder zumindest mir) zu folgen schien. Er hatte sich in England zusammengebraut und bewegte sich nun südöstlich durch Frankreich. Er würde in der Schweiz auf mich warten. Es überraschte mich nicht. Ich trank jedes Mal, wenn wir anhielten große Mengen von Wasser, aber an Essen war gar nicht erst zu denken. Tatsächlich verbrachte ich praktisch die ganze Fahrt damit zwischen Schlaf und Erwachen hin und herzuschwanken.
 

Ich fühlte mich kaum besser, als ich schließlich Meiringen erreichte. Es war nun eine Wanderung von etwa zwei oder drei Meilen bis zu den Fällen und die Sonne versank gerade hinter den zerklüfteten, schneebedeckten Gipfeln der Alpen. Mir bot sich ein völlig anderer Anblick als damals im Frühling.
 

Ich hatte bereits die Herberge passiert, in der Holmes und ich vor drei Jahren abgestiegen waren. Sie wirkte seltsam unfreundlich im Halbschatten der Dämmerung. Ein Teil von mir – unter anderem meine Füße, mein Kopf und mein Magen – flehte mich an, mir ein Zimmer zu nehmen, in ein weiches Bett zu sinken und tagelang nur zu schlafen. Aber ich zwang mich vorwärts.
 

Ich war mir fast sicher, dass er dort sein würde. Er würde ausgerechnet haben, wie lange ich brauchen müsste, um anzukommen und würde mich genau dort erwarten, wo wir uns damals getrennt hatten.
 

Ich ging weiter. Die Luft brannte in meinen Lungen, aber ich hielt nicht an. Nicht einmal als es zuerst zu nieseln und dann zu schütten begann.
 

Schweiß und Regen rannen über mein Gesicht, als ich mich dem Vorsprung näherte. Jenem Vorsprung, auf dem er vor dreieinhalb Jahren einen völlig anderen Kampf ausgefochten hatte. Er stand nun am äußersten Rand: hoch aufgerichtet, und doch schien er irgendwie zu warten. Auf mich. Nein, er würde nicht springen. Er war dramatisch, aber nicht in diesem Ausmaß. Die Sonne versank und tauchte alles in rotes Gold. Von meinem Standpunkt aus wirkte es, als würde er in Flammen stehen.
 

Der Pfad verlief direkt hinter seinem Rücken und ich fühle mich entmutigt. Ich würde den ersten Schritt machen müssen. Was sollte ich sagen? Was konnte ich sagen? Gab es dafür wirklich Worte? Selbst wenn, so waren sie weder in meinem Kopf noch auf meinen Lippen.
 

Der Dezemberwind wehte weit stärker, als ich es gewünscht hätte. Dicke Eiszapfen hingen von den spiegelglatten Felsen. Eine Decke aus halbgeschmolzenem Schnee ließ meinem Stiefel im Schlamm versinken und ich hatte jetzt schon kein Gefühl mehr in Lippen und Zehen. Der Sprühnebel der Fälle durchnässte meinen ohnehin schon regendurchtränkten Körper. Das war gewiss der letzte Ort, an dem ich sein wollte.
 

An diesem Ort gab es so viele Erinnerungen.
 

Oder nein. Es war nur eine Erinnerung. Aber das war genug.
 

Ich erinnerte mich nur noch an das Gefühl, als ich im Frühling vor drei Jahren jene Nachricht fand. Wie sich der Gedanke anfühlte, dass mein teuerster Freund unter all diesen Tonnen von Wasser begraben lag, aufgespießt von messerscharfen Felsen, zusammen mit dem einzigen Mann auf diesem Planeten, der möglicherweise in der Lage war, ihn wahrhaftig zu besiegen. Wenn er nur wüsste, wie weh es getan, wie krank vor Schuld ich mich gefühlt hatte, dass ich nicht da gewesen war, um ihn zu retten.
 

Aber es war alles eine Lüge gewesen. Er hatte mir nicht vertraut.
 

Das schmerzte mehr als alles andere.
 

Das schmerzte am meisten in dieser neuen Situation.
 

Und das war es, was ich sagte. Oder eher schrie. „Warum kannst du mir nicht vertrauen? Warum kannst du mir niemals vertrauen?“
 

Er drehte sich nicht um. Rührte keinen einzigen Muskel. „Vertrauen…“, hörte ich ihn murmeln. „ ‚Oh, wir vertrauen, dass Gutes letzten Ends des Bösen Ziel wird sein…doch sieh, wir wissen nichts…[2]’“
 

„Hör sofort auf damit! Wage es ja nicht, dafür die Worte eines anderen Mannes zu benutzen. Ich will deine eigenen hören. Das zumindest schuldest du mir.“ Ich war nun direkt hinter ihm, starrte auf den Rücken seines durchweichten, grauen Wollmantels. Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte. Aber was ich bekam, war genau, was ich ganz und gar nicht erwartet hatte. Er wirbelte herum und sein ohnehin schon intensiver, durchdringender Blick loderte gefährlich. Seine Erscheinung erschreckte mich genauso sehr, wie ihn meine erschreckt haben musste. Regentropfen rannen ihm über Nase, Ohren und Kinn. Seine Haut war rot vor Kälte. Gefrorener Schlamm klebte ihm an Mantel und Hose. Seine Augen bohrten sich wie eiserne Metallsplitter in die meinen. Er war nicht der Mann, den ich kannte. Wie konnte er?
 

„Ich? Schulde es dir?“, sagte er in einer Stimme, die mehr wie ein Fauchen klang. „Warum sollte ich dir irgendetwas schulden, nach allem, was ich für dich getan habe? Ohne mich wärst du niemals als mein Biograph berühmt geworden, was dir eine festes Einkommen und einen guten Ruf verschafft hat. Und mehr noch: du hättest niemals meine Klientin Mary Morstan getroffen oder dein Kind bekommen. Du wärst nur einer von Londons zahllosen Kriegsveteranen. Ein Mann in einer einsamen Wohnung, für den das Leben einfach etwas ist, dem er begegnen, aber es nicht unbedingt leben muss!“
 

Meine erste Reaktion war natürlich Zorn. Maßloser Zorn sogar, weil ich nicht mal annähernd klar denken konnte. Tatsächlich waren die Schmerzen in meinem Magen, meinem Kopf und meiner Kehle, die während der Zugfahrt und auf dem Boot erwacht waren, nun, nach dem Gewaltmarsch und unserer Begegnung, noch schlimmer geworden. Aber ich schaffte es irgendwie, die Willenskraft aufzubringen, nicht wie ein provozierter Schuljunge sondern wie ein beherrschter Erwachsener zu reagieren.
 

Und ich erkannte, dass es viel eher so klang, als spräche er gar nicht von mir sondern von sich selbst.
 

„Oder denkst du, ich schulde es dir, weil du mein Leben gerettet hast? Und ich fast das deine genommen habe?“
 

„Red keinen Unsinn, Holmes! Du weißt, dass ich das nicht denke. Aber was soll ich über all das denken? Du hast mich seit Jahren belogen. Versteckt, was du fühlst. Ich…gebe zu, dass ich verstehe, warum du es getan hast, aber so zu reagieren. Und dann Selbstmordabsichten vorzutäuschen. Wirklich, was soll ich denken? Selbst jetzt stehst du da, gestehst mir deine Liebe in einem staubigen alten Buch und führst mich dann tausende Meilen hierher. Nun, was auch immer du beabsichtigt hast, hier bin ich! Diesmal kannst du mir nicht davonlaufen. Sprich, Mann! Ich will endlich wissen, was das alles bedeuten soll. Ich will nicht mit dir streiten, dich anklagen oder sonst was. Ich will einfach nur wissen…“
 

Holmes drehte mir den Rücken zu, blickte zurück auf den Gipfel der Welt, blickte auf Reichenbach. Wenn mich nicht immer noch diese grässlichen Erinnerung quälten, an das war geschehen war, und die düsteren Vorahnungen, über das was noch geschehen sollte, dann hätte ich vielleicht erkannt, wie wunderschön dieser Ort sein konnte. War es das was Holmes sah? Oder sah er mit jedem Tropfen, der über die Klippen in seinen Tod fiel, einen Ort voller dunkler, verborgener Geheimnisse? Ja, ich vermute, das war es, was er sah. Er sah das Böse in jedem Ort, sei es nun wirklich oder erfunden. „Ich kann dir die Bedeutung von alldem nicht erklären, Watson, denn ich kenne sie selbst nicht. Es ist eine Krankheit. Oh ja, ich sehe die Ironie meiner Krankheit und der Tatsache, dass du Arzt bist. Ich habe niemals darum gebeten, so zu fühlen. Aber was auch immer ich versuche, ich kann mich nicht davon befreien. Wenn überhaupt wird es nur schlimmer.“
 

„Aber warum hast du mich für dein Geständnis hierher gebracht? Und warum das Buch? Warum konntest du es mir nicht einfach ins Gesicht sagen?“
 

„Ach, komm schon, Watson! Was denkst du! Ist dir nicht klar, was mit meinem Ruf, meiner Ehre, meinem bloßen Namen geschehen wäre, wenn ich es dir erzählt hätte und es bekannt geworden wäre?! Ich wäre ruiniert, wäre vielleicht sogar eines Verbrechens angeklagt worden! Aber ich wusste, wenn ich mich vage ausdrücken würde, wenn ich dich weg aus England hierher locken könnte, dann ist es kaum möglich, dass jemand es herausfinden sollte.“
 

„Aber…(Oh, wie konnte ich das fragen, was waren die richtigen Worte?)…warum ich?“
 

Nein, das waren nicht die richtigen Worte. Ich wusste es sofort. „Fragst du mich wirklich, warum ich fühle, was ich fühle? Verlangst du von mir zu erklären, was ich niemals zuvor gefühlt habe und auch niemals fühlen wollte? Es ist das eine große Rätsel, das Adam und Eva zusammenführte, das Shakespeares tragische Kinder in den Tod riss und Männer selbst in den Krieg ziehen ließ. [3] Doch konnten sie erklären, was sie in ihrem Herzen wussten, aber nicht in ihrem Kopf? Ich denke nicht.“
 

„Aber…Holmes, diese Lieben waren natürlich. Das ist…“
 

„Unnatürlich?“
 

„Wenn du nach dem Gesetz gehst – sei es nun das von England oder ein höheres – dann ja.“
 

„Und wie empfindest du das?“
 

Ich wusste nicht, was ich empfand. Physisch empfand ich einzig und allein den Schmerz, der mich peinigte. Aber selbst davon abgesehen fragte er nach Dingen, über die ich niemals zuvor nachgedacht hatte. Über die ich niemals hatte nachdenken müssen. Von vielen Spezialisten meines Faches wurde das, was er sein mochte, als psychische Abnormalität angesehen. Ich wusste, dass es zu Gefängnis, Zwangsarbeit oder sogar dem Tod führen konnte, bei dem ertappt zu werden, was sie homosexuelle Handlungen nannten. Ich war immer der Meinung gewesen, dass es mich sicherlich nichts anginge, was andere Leute hinter geschlossenen Türen taten. Allerdings kann ich nicht sagen, dass ich es wirklich richtig fand, das Gesetz derart zu missachten – ob es nun gerechtfertigt war oder nicht. Daher betrachtete ich nun, anstatt zu antworten, meine Schmutz verkrusteten Stiefel und Hosenbeine, die tropfendnass an meinen Waden klebten.
 

Holmes nickte einsichtig. „Ich verstehe.“
 

„Es ist nicht so, dass ich wütend wäre oder angewidert, es ist nur…“
 

Aber er unterbrach mich mit einer abwinkenden Handbewegung. „Ich werde dir etwas erzählen, Watson. Etwas, das ich vielleicht nicht vor dir hätte verheimlichen sollen, aber ich hoffe du verstehst, wieso ich es getan habe. Du solltest dich besser setzten…du siehst nicht allzu gut aus.“
 

„Es geht mir gut, danke“ Mein Stimme klang hoch und gepresst. So gar nicht nach meiner eigenen.
 

Er sah mich an. Seine Augen waren geweitet. Ich fragte mich, was hinter ihnen lag. Sorge? Mitleid? Liebe…er sah nicht aus wie ein verliebter Mann. Er sah aus, als wäre er besessen. Vielleicht war er es. Vielleicht gab es für einen Mann wie Sherlock Holmes kaum einen Unterschied zwischen Liebe und Besessenheit. Er hatte gesagt, er leide an einer Krankheit. Ich kenne keinen anderen, der Liebe mit Krankheit verwechseln würde. Zumindest nicht so, wie er es gemeint hatte. Er wollte eine Heilung. Aber eine solche Heilung gab es nicht. Außer natürlich man nannte den Tod eine Heilung.
 

„Was ich dir erzählen will“, begann er. „Ist, dass der Grund, warum ich London vor drei Jahren verließ, nicht nur Moriatys Bande war.“
 

„Und ich vermute, du willst mir erzählen, dass ich der wahre Grund dafür war.“ Es war nur ein Witz gewesen, denn ich konnte mir nicht im Geringsten vorstellen, wie ich diese Entscheidung beeinflusst haben könnte. Doch sein Blick jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. „Du meinst das ernst…du meinst das wirklich ernst, nicht wahr?“
 

Er nickte und klopfte auf der Suche nach Zigaretten nervös auf seine Manteltasche. Er wirkte so gehetzt wie eine Straßenkatze. „Ja. Das tue ich. Oder eigentlich warst es nicht wirklich du. Es war deine Frau.“
 

„Meine…was?“ Ich richtete mich kerzengerade auf, bereit ihre Ehre um jeden Preis zu verteidigen. Nicht einmal ihm würde ich auch nur die geringste Verleumdung meiner geliebten Mary gestatten. Eher würde ich ihn von dieser Klippe stoßen.
 

„Überanstreng dich nicht, mein Freund…es ist nicht das, was du denkst. Nicht im Geringsten.“ Er streckte die Hand nach meiner Schulter aus, aber ich wich zurück.
 

„Ich glaube, ich werde mich nun doch setzen“ Und das tat ich auch. Ich sank in den durchweichten Schlamm und lehnte mich an jenen Felsbrocken, auf dem mir Holmes vor drei Jahren seinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Er war kalt. Alles war so kalt.
 

„Also“, sagte ich. „Bist du gegangen, weil ich heiratete. Das hattest du doch damit gemeint, nicht wahr? Man muss kein…nun ja, Sherlock Holmes sein, um das zu deduzieren.“
 

Sein Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. Mit einer Hand stütze er sich an dem Felsen ab, an dem ich lehnte und fiel neben mir in den Dreck auf die Knie. Beschmutzte sich freiwillig selbst. „Du wirst dir in deinen Werken wirklich nicht gerecht, Watson.“
 

Ich war mir nicht ganz sicher – und ich fragte auch nicht – was er damit genau meinte.
 

„Ich dachte, ich könnte dich zu ihr gehen lassen“, fuhr er fort. „Oder um es präziser auszudrücken, ich dachte der beste Weg, um die ganze Sache zu regeln, wäre ganz zu verschwinden. Ich wusste, dass es nur zwei mögliche Ausgänge für mein Duell mit Moriaty geben konnte – er würde sterben und ich gehen und so tun, als wäre auch ich gestorben. Oder er würde gewinnen und ich ohnehin untergehen. Das Problem wäre in jedem Falle gelöst.
 

„Aber ich kehrte nicht nur wegen dem Tod deiner Frau nach London zurück, mein Freund. Bei meiner Ehre, der Adairmord und Colonel Moran spielten dabei wirklich eine Rolle.“
 

Er schien wie immer meine Gedanken gelesen zu haben. Ich wünschte mir, er würde damit aufhören, aber brachte es nicht über mich, es ihm zu sagen. „Ich…weiß…wirklich nicht, was ich sagen soll, Holmes. Zu allem. Wie genau soll es jetzt weiter gehen?“
 

„Nun, ich würde vorschlagen, für den Anfang gehen wir irgendwohin, wo es warm und trocken ist.“
 

„Du weißt, was ich mein. Bleib ernst.“
 

Er sah mich an und ich fragte mich, ob es sein Ernst gewesen war. „Dann würde ich sagen, es hängt alles von dir ab, mein lieber Watson. Ich habe dir deine Fragen zwar nicht zu deiner Befriedigung beantwortet, aber das kommt nur daher, dass ich die Antworten selbst nicht kenne. Doch du hast mir sogar noch weniger gegeben. Was denkst du?“
 

Denken? Denken? Was ich dachte? Dachte ich überhaupt? Das musste ich wohl, aber kein einziger Gedanke schien mir klar oder greifbar. Von meiner Taille abwärts konnte ich nichts mehr fühlen oder vielleicht war sogar mein ganzer Körper taub. Mein Kopf brannte und ich wusste, dass ich Fieber hatte und unbedingt aus diesem Regen musste. Aber etwas hielt mich hier. Jemand hatte gewollt, dass ich hierher kam, jemand weit mächtiger als Sherlock Holmes. Ich wusste, was er wollte. Er wollte, dass ich antwortete, ich würde seine Gefühle in jeder Hinsicht teilen. Das auch ich all die Jahre meine wahren Gefühle versteckt hatte. Und das wir hier, wie wir hier in diesem eiskalten Regen saßen, zusammengekauert im Schlamm und begleitetet vom Rauschen der Fälle, endliche ohne Angst vor den Folgen zusammen sein konnten.
 

Er wirkte hoffnungsvoll, wie er dort schwer atmend vor mir saß und sich den Regen aus den Augen wischte.
 

Seine blasse Hand ruhte auf seinem Knie. Sie zitterte leicht. Ich stellte mir vor, wie schrecklich kalt sie sein musste. Ich hätte sie in meine nehmen können. Und ich glaube, ein Teil von mir wollte es auch.
 

Aber ich konnte nur daran denken, was passieren würde. Mein Name ruiniert, meine Karriere beendet…das Geflüster…die Spekulationen…die Polizei, die kommen würde, um uns beide wegzusperren…und dann, wenn ich schließlich nach mehreren Jahren Zwangsarbeit und einem Leben voller Schande sterben würde, allein in meinem Bett sterben würde und erkennen musste…
 

Dass ich nun niemals mehr Mary erreichen konnte, und all die anderen, die ich liebte.
 

Und genauso wie ich wusste, dass ich alles für diesen Mann tun würde, wusste ich auch, dass er zuviel verlangte. Und so wand ich mich mit schwerem Herzen ab und sagte:
 

„Ich denke…ich denke, dass ich besser eine neue Unterkunft für Josh und mich suchen sollte.“
 

Ich hatte es gesagt. Es war endgültig. Und niemals, so lang ich lebe, werde ich den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen können, als ich es tat.
 

Er war, als wenn ein Teil von ihm gestorben wäre. Ich sah wie sich seine Augen gräulich färbten und sein Kinn hervorstach. Seine Brust sank ein und er schien ein ganzes Zoll an Körpergröße zu verlieren. Es war eine der wahrhaft seltenen Gelegenheiten, da Sherlock Holmes besiegt wurde. Es war das einzige Mal, dass ich ihn besiegt hatte.
 

Er stand langsam auf. „Wenn du es so willst.“
 

Ich hatte ihn regungslos beobachtet. Würde er mich wirklich einfach so hier stehen lassen? Ich hatte doch nicht gemeint…nun, ich wusste nicht, was ich nicht gemeint hatte. „Holmes, warte!“, rief ich und sprang auf.
 

Sprang offensichtlich zu schnell auf. Mein armer Körper, der in letzter Zeit schon so viel Misshandlung über sich hatte ergehen lassen müssen, begehrte ein letztes Mal auf und ich fühlte mich plötzlich, als ob mein Kopf von meinem Körper getrennt worden wäre. Eine Flüssigkeit erfüllte meinen Mund und ihm nächsten Augenblick war ich von meinem eigenen Erbrochenen bedeckt. Meine Beine konnten mich keine einzige Sekunde mehr tragen.
 

Ich sah, wie die Felsen von unten auf mich zusprangen.
 

„Pass doch auf, Mann!“, rief eine Stimme und Holmes’ lange Arme fingen mich auf. „Du wärst fast gefallen, du Narr!“
 

„Wirklich?“ Ich fühlte mich eher, als würde ich schweben.
 

Seine eiskalte Hand lag plötzlich auf meiner Stirn. „Großer Gott, Watson…du glühst ja! Ich dachte, du wärst nur ein bisschen blass, aber du bist schwer krank.”
 

„Ach…sei doch nicht albern…ich werde nie krank.“
 

„Ha! Es gibt für alles ein erstes Mal! Du hast deinen Anteil von der reizenden Grippewelle abbekommen, die gerade unsere schöne Stadt heimsucht. Deine Verletzung hat ganz zweifellos dein Immunsystem geschwächt. Komm mit.“
 

Obwohl ich über und über mit meinem Erbrochenen bedeckt war, hatte er einen Arm um mich gelegt und erlaubte mir, mein ganzes Gewicht auf ihn zu stützen, während er mich den Pfad hinunter in Richtung Herberge führte.
 

„Du brauchst mindestens eine Woche Ruhe. Und jemanden, der auf dich aufpasst“, sagte er.
 

„Ich brauch’ ’nen guten Doktor, hm?“
 

„Ich fürchte, du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen.“ Er hielt inne und verlagerte seinen Griff ein wenig. „Außer du willst, dass ich nach jemand anderem schicke.“
 

Ich lehnte mich noch schwerer auf ihn. Ich konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Hörte der Regen endlich auf? Ich war mir nicht sicher. Die Berge rochen wundervoll. Wie der allererste Schnee des Winters. Und aus irgendeinem Grund – ich kann nicht beschwören, dass es nicht der Fieberwahn war – lachte ich. „Es gibt keinen, der mir lieber wäre, du Narr.“
 


 

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[1] Das tut er in „Skandal in Böhmen“
 

[2] Lord Alfred Tennyson, In Memoriam A. H. H.
 

[3] Zum Beispiel in den Trojanischen Krieg

So, diesmal spanne ich euch nicht so lange auf die Folter wie beim letzten Kapitel.

Was wird Watson tun?
 

Eine Grippe (an der ich davor nicht ein einziges Mal gelitten hatte) fühlte sich völlig anders an, als im Koma zu liegen. Auch wenn ich hauptsächlich schlief, erinnerte ich mich an das, was in den nächsten paar Tagen geschehen war, oder zumindest kam es mir so vor. In jenem Dezember hatte ich wohl genug Schlaf bekommen, dass man meinen könnte, es würde für den Rest meiner Tage reichen. Ich vermute, Holmes hielt sein Wort und verbrachte die Tage tatsächlich größtenteils an meinem Krankenbett.
 

Doch anscheinend war ich doch nicht so sehr bei Bewusstsein gewesen, wie ich angenommen hatte, denn ich war mehr als nur ein wenig überrascht, als ich eines Nachmittags kühl und unwohl erwachte. Mein Fieber war gefallen. Und mein Sohn saß an meinem Bett und starrte mich an.
 

Nun ist man es nicht unbedingt gewohnt, beim Aufwachen in zwei große blaue Augen zu blicken. Ich setzte mich so heftig auf, dass ich mit dem Kopf gegen das Kopfteil des Bettes knallte.
 

„Was zum Teufel? …Oh, du bist’s…Josh, du bringst mich wirklich noch ins Grab!“
 

„Nein, Sir, tu ich nicht! Ich kann dich nirgendwo hinbringen! Du bist sehr schwer und ich bin sehr leicht!“
 

„Das ist eine Redensart, Junge“, sagte ich, nicht besonders glücklich über seine Worte, so unschuldig sie auch sein mochten. „Was um Himmelswillen tust du hier?”
 

„Onkel hat mich mit dem Zug gebracht“, sagte er und ließ sich schwer neben mich aufs Bett fallen. „Es hat ganz lange gedauert. Aber es war toll, weil ich noch nie in einem Zug gewesen bin. Wir waren so schnell, dass ich dachte, wir würden fliegen.“
 

Eigentlich stimmte das nicht ganz. Josh war schon einmal in einem Zug gewesen. Vor eineinhalb Jahren hatten er, seine Mutter und ich Urlaub in Cornwall gemacht, direkt am Strand. Er hatte es nur vergessen. Ich könnte es niemals.
 

„Du hast ganz lange geschlafen, Papa. Bist du jetzt fertig mit Müdesein?“ Ich musste ihn ziemlich verwirrt angesehen haben, denn er fügte hinzu: „Onkel sagte du wärst ganz schrecklich müde und müsstest ein paar Tage schlafen.“
 

Ich lächelte. Für Holmes war es eine sehr einfache Beobachtung, aber ich genoss es nichtsdestoweniger. „Ja, ich fühle mich tatsächlich besser”, sagte ich und streichelte seinen sanften, kleinen Kopf. „Und ich bin wirklich froh, dass Holmes dich hierher gebracht hat. Ich komme mir ganz abscheulich vor, dass ich dich in letzter Zeit so viel allein gelassen habe.“ Und das tat ich wirklich. Ich wollte ihn sicher nicht in dem Gefühl aufwachsen lassen, dass sein Vater ihn überhaupt nicht beachtete, so wie meiner es getan hatte. Nur um ihn dann jung sterben zu sehen, ohne jemals zu erfahren, was für ein Mann er gewesen war.
 

„Das stimmt“, sagte der Junge. „Denn heute ist Weihnachten. Der Weihnachtsmann kommt heute Nacht! Du bist genau rechtzeitig wieder unmüde geworden, Papa.“ Er hielt inne und wirkte für einen Augenblick schrecklich nachdenklich. „Er wird uns hier doch finden, oder, Papa? Letztes Jahr waren wir doch in dem Haus, das wir mit Mama hatten. Wird er wissen, dass er meine Geschenke hier in die Schweiz bringen muss?“
 

Normalerweise bin ich immer etwas erleichtert und amüsiert, wenn Josh mir Fragen stellt, die nicht mit dem Sinn des Lebens oder irgendetwas anderem zusammen hängen, das ich nicht erklären kann. Aber diese Frage erfüllte mich mit tiefer Reue. Reue als ich erkannte, dass ich wegen allem, was geschehen war, keine Zeit gehabt hatte, ihm Geschenke zu kaufen. Wie um Himmelswillen konnte ich ihm erklären, dass er diese Weihnachten leer ausgehen würde? Vielleicht könnte ich behaupten, dass uns der Weihnachtsmann hier tatsächlich nicht finden konnte und er warten müsste, bis wir zurück nach London kämen. Oder vielleicht gab er hier in der Nähe irgendwelche Geschäfte und ich könnte Holmes überreden, hinzugehen und ein paar Sachen zu besorgen.
 

„Ich…ähm, Josh…“ Ich versuchte Zeit zu gewinnen.
 

„Aber natürlich kann er dich hier finden! Von all den weisen Männern dieser Erde ist der Weihnachtsmann wahrhaftig einer der raffiniertesten. Wenn er jedes andere Kind auf diesem Planeten finden kann, dann denke ich nicht, dass er eines übersehen sollte, das nur auf Urlaub gefahren ist. Ich würde mir darüber keine Sorgen machen, John Sherlock. Ich bin mir sicher, dass es für uns alle ein wahrhaftig glückliches Weihnachten werden wird“, sagte Holmes, der auf einmal mit einem recht wahnsinnigem Grinsen auf dem Gesicht in der Tür stand.
 

„Bist du dir sicher, Onkel?“
 

„Habe ich dich jemals angelogen, mein Junge?“
 

Josh schüttelte den Kopf und strahlte über sein ganzes Gesicht. Er freute sich zweifellos auf all die Geschenke, die er bekommen würde. Und mit dem Kopf voller bunter Christbaumkugeln, goldenem Flitterkram und süßen Pflaumen hüpfte er aus meinem Zimmer, während er erklärte, dass er ihm einen Brief schreiben und diesen ins Feuer werfen würde. [1]
 

Holmes lächelte und tätschelte seinen Kopf, bevor er aus dem Zimmer sprang und mich mit einem tiefen Schuldgefühl zurückließ. „War das wirklich notwendig?“, fragte ich. „Ihm falsche Versprechungen zu machen? Du weißt, dass ich keine Gelegenheit hatte, ihm irgendwelche Geschenke zu kaufen. Ich wollte das Ganze gerade verschieben, bis wir wieder zuhause sind…“
 

„Weihnachten verschieben? Nun, das scheint mir nicht unbedingt dem Feiertagsgeist zu entsprechen, Watson.”
 

„Aber…”
 

Er hob einen Finger und legte ihn an die Lippen. Lautlos wie eine Katze schlich er quer durchs Zimmer zu einem ziemlich hässlichen Eichenschrank schräg gegenüber meinem Bett. Als er die eine Kastentür öffnete, sah ich einen Berg von Päckchen und Paketen, eingewickelt in Gold- und Silberpapier und verschnürt mit Lametta. Ein paar davon, wie Wallnüsse, Orangen, Lebkuchen und Pfefferminzstangen waren in durchsichtigen Säcken und mit blauen Schleifen verschnürt. Ich sah ein wunderschönes Schaukelpferd mit richtigem Zaumzeug, das von Federn und Drähten bewegt wurde, anstatt nur vor und zurück zu schaukeln. In einem der Päckchen musste eine Trommel sein – es war rund. Und es gab Bücher, Leckerein und Pakete in jeder Form und Größe…Ich schluckte schwer. Ich hätte niemals gedacht…
 

„Woher—Ich meine, wie hast du das alles bloß geschafft? Wirklich, Holmes, ich bin völlig sprachlos.“
 

Sein Gesicht verlor augenblicklich seinen vergnügten Ausdruck, um mich ihm nächsten Moment so würdevoll und arrogant anzublicken, wie ich es von ihm gewohnt war. „Also wirklich, Watson, hältst du mich für so unerfahren und herzlos, dass mir nicht klar wäre, was ein Kind – und sei es auch ein so begabtes wie John Sherlock – an diesem ganz besonderen Tag erwartet? Ich würde wohl kaum meine Pflichten als Pate erfüllen, wenn ich ihn den ganzen Weg hierher führe, nur damit er zu Weihnachten leer ausgeht, nicht wahr?“
 

„Das ist unglaublich…ich weiß wirklich nicht, wie ich…ich meine, ich kann dir natürlich das Geld zurückerzahlen, aber ich kann dich dafür nicht…nun…“
 

Für einen Augenblick verengten sich seine Augen zu zwei streitsüchtigen Schlitzen und die vertraute Hitze in meinem Gesicht sagte mir, dass ich rot angelaufen war. Mir hätte klar sein müssen, wie meine Worte klangen, auch wenn ich sie ganz und gar nicht so gemeint hatte. Ich hatte damit nur sagen wollen, dass ich ihm nicht zurückzahlen konnte, was er auf Gefühlsebene für mich getan hatte. Er hatte mir nicht nur meinen Sohn gebracht, sondern auch noch sichergestellt, dass dieser ein schönes Weihnachtsfest erleben würde. Ich hatte damit nicht gemeint, dass ich auch nur im Traum daran dachte, ihm in irgendeiner…physischen…Art und Weise zu…Gott, der bloße Gedanke daran ließ mich nervös und unbehaglich werden.
 

„Ich weiß, was du gemeint hast“, sagte Holmes schließlich und sein Gesichtsausdruck glättete sich Gott sei Dank. „Ich denke wir können diese Geschenke selbst eine Wiedergutmachung nennen. Eine Wiedergutmachung für all die Dinge, die ich über die Jahre zu dir gesagt, all die Dinge, dich ich dir über die Jahre angetan habe und die ich nun bereue. Und natürlich dafür, dass du mich nicht von dieser Klippe hinunter gestoßen hast, als du sowohl Gelegenheit als auch nachvollziehbaren Grund dazu hattest.“
 

Oh, wie sehr wünschte ich mir, mich einfach wieder zurück in die weichen Kissen sinken zu lassen, nur noch zu schlafen und niemals dieses unangenehme Gespräch mit ihm führen zu müssen. Aber mir war klar, dass das Ende unseres letzten Gespräches kein Ende, sondern vielmehr ein Anfang gewesen war. Und das machte mir Angst.
 

„Ähm...wegen dem, was passiert ist, Holmes. Denkst du nicht—“
 

„Nein, das tue ich nicht“, fiel er mir unerbittlich ins Wort. „Zumindest nicht jetzt. Jetzt sollten wir beide – und sei es auch nur Josh zuliebe – ein behagliches Weihnachtsfest genießen, und zwar so als hätte sich nichts zwischen uns geändert. Das heißt, falls du glaubst, dass sich etwas geändert hat. Solltest du dich in dieser Hinsicht weigern, werde ich darauf bestehen müssen. Es wäre sozusagen dein Weihnachtsgeschenk an mich.“
 

„Ich bin mehr als einverstanden. Du musst dir keine Gedanken darüber machen.“
 

„Großartig.“ Er lächelte noch einmal jenes kurze unangenehme Lächeln, das ich früher bei ihm nur während besonders schweren Fällen gesehen hatte. Fällen, in denen er um seinen Sieg fürchten musste. Man könnte diese ganze Situation einen solchen Fall nennen. „Wie fühlst du dich?“, fragte er nach einer plötzlichen Eingebung.
 

„Körperlich mehr wie ich selbst als jemals in den letzten Monaten.“
 

Er nickte. „Dann dürfte es dich interessieren, dass ich dir Kleider und dein Reisenecessaire mitgebracht habe. Heute ist nun mal tatsächlich Heiligabend, Watson. Und ich habe veranlasst, dass uns bald eine Gans und Pudding hinauf gebracht werden. Ich denke, sogar ich werde mir heute Abend ein gutes Essen gönnen.”
 

Das Essen war wirklich köstlich. Es gab nicht nur Gans und Plumppudding sondern auch Bries, Reiskroketten, Erbsen, Pariser Salat, Kartoffeln a la Maître und sogar Schildkrötensuppe. Als Nachspeise gab es neben dem wunderbar raffinierten Pudding außerdem gefüllte Pasteten und Makronen. Holmes und ich tranken zum Festmahl den örtlichen Rotwein einer exzellenten Weinlese und zum Dessert den reichhaltigen café noire. Es war ein Mahl eines Königs würdig, aber Holmes hatte darauf bestanden, das der Hof (den wir waren nun wieder im „Englischen Hof“ unseres letzten Abenteuers) für die Feiertage unbewohnt war und die Angestellten bedienten uns eifrig mit allem, was ihre einzigen Gäste wünschen mochten. Ich aß mehr als nur meinen gerechten Anteil; einerseits um die langen Tage meiner Krankheit auszugleichen und andererseits um mich von unangenehmen und unwürdigen Gedanken abzuhalten.
 

Nach dem Abendessen entfachte Holmes ein Feuer im Kamin und wir saßen auf Polstern auf dem Boden, um die strahlenden Kerzen des Weihnachtsbaums zu betrachten. Denn es gab natürlich einen Baum. Holmes hatte an alles gedacht. Ich hätte ihm das alles niemals zugetraut. Oder eigentlich waren es weniger Fähigkeiten als Bereitwilligkeit, an der ich gezweifelt hatte. Es war…unglaublich.
 

Josh bestand darauf, Weihnachtslieder zu singen, obwohl er nur von sehr wenigen den Text kannte. Ich hatte zuerst protestiert, da ich nun wirklich über keine Singstimme verfügte, aber nachdem mich schließlich auch Holmes dazu gedrängt hatte, schaffte ich es irgendwie durch ‚Stille Nacht’, ‚The First Nowell’[2] und ‚Good King Wenceslas’. Obwohl ich ihn schon hin und wieder hatte singen hören, war mir bisher nie aufgefallen, dass Holmes – im Gegensatz zu mir – eine überaus annehmbare Stimme hatte.
 

„Wo hast du nur so singen gelernt?“, fragte ich.
 

„Wie kommst du auf die Idee, dass ich es überhaupt irgendwo gelernt habe?“ Er schien über meine Frage fast schon verärgert.
 

„Es ist nur“—
 

„In der Schule war ich im Chor“, unterbrach er mich. „Und bevor mich in der Pubertät das unerträgliche Schicksal eines jeden jungen Altisten ereilte, hatte ich in der Tat die Stimme eines Engels. Ich hatte das Glück, mir über die Jahre einen Teil meiner Fähigkeiten bewahrt zu haben.“
 

„Du hast wahrhaftig eine wundervolle Stimme“, sagte ich ohne nachzudenken.
 

Er blickte mich verwundert an. „Vielen Dank, Watson.“
 

Und dann merkte ich, dass ich ihn anstarrte. Er lag ausgestreckt auf dem Boden. Er trug weder Stiefel noch Jackett und hatte den Kragen seines Hemdes geöffnet. Um ihn herum wirbelte der Rauch seiner frisch angezündeten Pfeife…die Konturen seines Körpers wirkten wie von den knisternden Flammen verschlungen. Er sah jünger aus als er tatsächlich war, jünger als wir beide waren. [3] Ich bemerkte, wie das Licht die Blässe seiner Haut milderte und die Schwärze seines Haars betonte. Schatten schienen um seine Augen zu tanzen und er strömte einen leichten Geruch nach Wein aus. Er wirkte sehr verwundbar. Sehr un-holmesisch. Sehr menschlich.
 

Er wusste, dass ich ihn anstarrte. Wusste es, noch bevor es mir selbst bewusst wurde. Er hätte fragen können, warum ich ihn so ansah. Aber er tat es nicht. Tatsächlich sagte er überhaupt nichts. Wir saßen einige Minuten in diese sehr…vielsagenden Art und Weise, bis Josh schließlich auf meinen Schoß kletterte und mich aus meiner selbst verursachten Trance weckte. Ich sprang auf die Füße und hob ihn eilig in meine Arme.
 

„Komm mit“, sagte ich zu ihm. „Ich werde dir die Weihnachtsgeschichte von dem Jesuskind erzählen, bevor du einschläfst. Und dann…“
 

„Kommt der Weihnachtsmann! Geschenke!“
 

„Ganz genau.“
 

„Gute Nacht, John“, sagte Holmes, ohne sich vom Boden zu erheben.
 

„Gute Nacht, Onkel!“
 

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch kein Wort kam heraus. Er hatte mich erst ein einziges Mal bei meinem Vornamen genannt und damals hatte er unter extremem seelischen Druck gestanden. Allerdings rief er meinen Sohn immer entweder John Sherlock oder hin und wieder auch Josh. Ich wollte in jenem Moment wirklich etwas sagen. Nein, ich wollte nicht nur etwas sagen. Ich glaube…ich glaube, dass ich zu ihm gehen wollte. Um mit ihm bei dem ach so angenehmen Feuer zu bleiben, einfach für immer mit ihm dort zu sitzen und die Verwundbarkeit in mir aufzunehmen, die er mir zu zeigen schien. Nicht aus Eisen und Stahl… aus Fleisch und Blut schien er mir in jener Nacht.
 

Etwas schoss mir durch den Kopf. Mir fiel der genaue Wortlaut nicht ein, aber es war in etwa ‚Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied’[4]. Und ich wusste, dass ich seine eine Schwäche gefunden hatte. Es war eine Schwäche, die ich niemals vermutete hätte und es war eine, die sein Verderben hätte sein können. Ich allein wusste es. Ich konnte nicht aufhören daran zu denken. Die Geschenke…seine Sorge um mich, obwohl ich ihn abgewiesen hatte…seine Stimme beim Singen der Weihnachtslieder…es waren all diese Kleinigkeiten.
 

War ich dabei, den Verstand zu verlieren? Oder erhielt ich ihn langsam zurück?
 

Es würde noch mehrere Monate dauern, bevor ich eine Antwort darauf finden sollte. Aber die Art, wie ich zu dieser Antwort kommen sollte, schmerzt mich noch heute in meiner Erinnerung. Doch ich würde schlussendlich erkennen, wie viel Sherlock Holmes für mich zu riskieren bereit war.
 

Und ich für ihn.
 


 

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[1] Es war damals eine britische Tradition, Briefe an den Weihnachtsmann ins Feuer zu werfen, weil dieser selbstverständlich Rauch lesen kann!
 

[2] Nowell ist die ursprüngliche, altenglische Schreibweise von Noël. (Und ich habe deshalb nur „Stille Nacht“ übersetzt, weil die beiden anderen keine deutschen Entsprechungen zu haben schienen. Nur falls sich jemand gewundert haben sollte)
 

[3] Es weiß natürlich keiner genau, wie alt Holmes und Watson tatsächlich waren, da sie nie ihre Geburtsdaten angeben haben. (Außer in ‚Seine Abschiedsvorstellung’ aber diese Zahlen sind irreführend, wenn man nachrechnet.) Allerdings müssten beiden in den Fünfzigern geboren sein und weil Josh noch so klein ist und ich sie noch ziemlich lange lebendig haben will, mache ich die beiden ein klein wenig jünger als sie wahrscheinlich sein würden. Watson ist ein bisschen älter, deshalb wäre er in diesem Jahr – 1894 – 38 Jahre alt und Holmes etwa 36 oder 37. Zur damaligen Zeit wurde das allerdings schon als mittleres Alter angesehen.
 

[4] George Herbert, in seinem Buch Outlandish Proverbs (1640) (Original: ‘The thread breaks where it is weakest’)

Es hat leider wieder etwas länger gedauert, als ich beabsichtigt hatte, aber was soll man machen.

In diesem Kapitel nimmt die Gesichte eine erneute unerwartete Wendung und ohne irgendetwas zu verraten, wünsche ich euch viel Spaß dabei!
 

Weihnachten ist für mich – wie für die meisten Menschen – eine Zeit, an der die Familie zusammenkommt und man über das nachdenkt, was man hat. Selbst aus meiner stürmischen Kindheit hatte ich trotz meinem verschlossenen Vater, meinem verbitterten Bruder und meiner übereifrigen Mutter nur glückliche Weihnachtserinnerungen. Weihnachten war die Zeit, in der man sich seinen Mitmenschen am nächsten fühlte, in der man der Geburt unseres Heilands gedachte und was sie für unser Leben bedeutete.
 

Der Weihnachtsabend 1894 war allerdings nicht wirklich eine Nacht, in der ich über Religion, Familienzusammengehörigkeit oder glückliche Erinnerungen nachdachte. Es war eine lange, schlaflose Nacht. Ich lag in einem kalten Bett und starrte in die Dunkelheit eines fremden Zimmer. Ich dachte an den Begriff der romantischen Liebe und den der brüderlichen Liebe und daran, wie sich diese beiden in unserer Gesellschaft niemals treffen durften. In meinem Geist war das niemals zuvor geschehen. Doch auch wenn ich mich selbst überzeugt hatte, dass es nur die Belastung der letzten Monate war, änderten diese Gedanken nun das innerste Herzstück meines Glaubens. In jener Nacht kamen mir Gedanken, die ich selbst jetzt, in meinen Sterbejahren, in einem Schreiben, das vermutlich niemals gelesen werden wird, kaum zuzugeben wage. Doch ich habe mir selbst geschworen, nichts in diesen Memoiren zu beschönigen und deshalb werde ich alles niederschreiben, trotz meiner entsetzlichen Schuld solch unheiligen Dinge in jener heiligsten aller Nächte gedacht zu haben:
 

Ich fragte mich, ob Holmes tatsächlich ein Homosexueller war – Galt sein Interesse tatsächlich Männern oder war ich eine Ausnahme?
 

Hatte er jemals geschlechtlichen Verkehr mit einem anderen Mann gehabt? Der Gedanke erschien mir völlig grotesk und lächerlich.
 

Und…nun ja…schändete er sich selbst in seiner Liebe zu mir?
 

Nun, jene Nacht war das erste Mal, dass ich über all diese Dinge nachdachte, allerdings war ich noch kaum im Begriff wirkliche Antworten darauf zu wollen. Nein, es war vielmehr bloße Neugier. Vielleicht rein morbide und hormonelle Neugier. Aber meine Gedanken kreisten in jener Nacht vor allem um eine Frage – warum ich? Was an mir zog ihn an? Er hatte gesagt, er könne es nicht erklären. Aber es musste doch sicherlich einen Grund dafür geben. Liebe mag schnell aufflammen und ebenso schnell wieder erkalten, aber es steckt immer ein Grund hinter diesem heiligsten aller Gefühle. Was war seiner?
 

Auf alle diese Fragen sollte ich schließlich Antworten erhalten, auch wenn es bei manchen Jahre dauern würde.
 

Und so erwachte ich am Weihnachtsmorgen ziemlich unausgeschlafen aber mit einem Entschluss. Dem Entschluss, nicht mehr über dieses Thema nachzudenken. Dafür würde später sicher noch mehr als genug Zeit sein. Aber im Moment wollte ich einfach nur diese Ferien genießen. Ich wollte meinen Geist nicht mit rhetorischen Fragen verpesten und in der Furcht leben, etwas zu werden, das ich bei anderen Männern nicht verstand und schon gar nicht bei mir selbst.
 

Ich fühlte mich träge und machte mir nicht die Mühe, mich anzuziehen, sondern zog lediglich einen Morgenrock über mein Nachthemd, ehe ich in den Nebenraum ging. Durch das schneeverwehte Fenster sah ich das orange Morgenlicht mit wachsender Geschwindigkeit über die Alpen kriechen. Es war kalt, so kalt wie es auf sechstausend Fuß fast zu jeder Jahreszeit war, aber ich hatte gehört, das in diesem ungewöhnlich milden Winter nur wenig Schnee gefallen war. Wir würden in den Ort gehen können und ich freute mich darüber, dass ich Josh Teile dieses ruhigen Schweizerbergdorfes würde zeigen können. Denn ich wollte, dass er andere Länder und Kulturen kennen lernte und nicht in dem Glauben aufwuchs, Bond Street [1] repräsentiere die gesamte europäische Kultur.
 

Irgendwann während der Nacht war ein Weihnachtsmann namens Holmes gekommen und hatte meinem Sohn einen wahrhaften Berg an Schätzen dagelassen. Doch es war seltsam, dass ich nicht gehört hatte, wie er in mein Zimmer gekommen war. Dieser Gedanke erschreckte mich ein wenig, obwohl ich nicht genau sagen konnte warum. Allerdings war ich sehr froh, ihn auf der richtigen Seite des Gesetzes zu wissen. Er hätte ein exzellenter Einbrecher werden können. Doch eines der Geschenke erkannte ich sofort und konnte nicht anders, als erstaunt den Kopf zu schütteln. Es war mein Geschenk an Holmes, das ich während der ersten Tage meiner langen Genesung in der Baker Street aus einem Katalog bestellt hatte. Tatsächlich war es das einzige Geschenk, das ich hatte bestellen können, ehe sich die Ereignisse überschlugen. Mrs. Hudson hatte mich benachrichtigt, als es angekommen war, aber ich hatte sie gebeten, es bis zum Weihnachtsabend für mich zu verwahren. Ich fürchtete Joshs Neugier hätte es in meinem eigenen Zimmer recht bald zu Tage gefördert. Aber wie hatte Holmes…gut, ich vermute Mrs. Hudson hatte es ihm für unser Weihnachtsfest mitgegeben. Ich war froh darüber. Froh, das ich etwas für ihn hatte. Und ich freute mich darauf, sein Gesicht zu sehen, wenn er es öffnen würde.
 

„Er war da! Er war da!“
 

Ich war regungslos im goldenen Morgenlicht gesessen und hatte den stillen Schein des Baumes betrachtet, als von einer Sekunde auf die nächste plötzlich Josh hereingeplatzte. Er war ganz aus dem Häuschen angesichts all der Geschenke, die vor ihm ausgebreitet waren. „Papa! Der Weihnachtsmann war da! Genau wie Onkel gesagt! Er weiß wirklich alles!“
 

Ich wand mich um und sah Holmes direkt neben mir. Er betrachtete sein Werk mit einem ziemlich gerührten Grinsen und ich fühlte mich augenblicklich in Weihnachtsstimmung versetzt. Normalerweise verabscheute dieser Mann die Feiertage. Warum, das hatte er niemals wirklich gesagt, aber ich hatte angenommen, es läge an seinem Desinteresse an Religion und seiner Abneigung für die Einigkeit, die Weihnachten unweigerlich mit sich brachte und die so gar nicht zu seinem bohèmischen Lebensstil passte. Und doch stand er nun vor mir, fröhlich lachend wie ein Kind und ich war glücklich, ohne zu wissen warum.
 

„Sag nicht solche Dinge zu ihm, Josh“, meinte ich. „Er ist auch so schon arrogant genug.“
 

Außer dem Schaukelpferd, der Trommel und genug Süßigkeiten, um massive Bauchschmerzen zu verursachen, bekam Josh zahlreiche Bücher und seine eigene Lupe. Ich glaube, sie liebte er mehr als alles andere. Aber schließlich waren alle seine Geschenke aufgebraucht und Holmes sagte zu mir: „Und jetzt habe ich ein Geschenk für dich, Watson.“
 

Er reichte mir ein kleines, flaches Päckchen mit einer roten Schleife. An ihm haftete ein erfrischender Geruch und sofort als ich das Papier entfernte, sah ich, dass es ein Buch war. Aber nicht irgendein Buch; es war leer, so wie die, die ich benutzte, um während Holmes’ Fällen meine Notizen zu machen. Doch mir war sofort klar, dass dieses Exemplar wesentlich kostbarer war als jedes, das ich normalerweise verwenden würde.
 

„Das ist türkisches Leder“, sagte Holmes. „Gebunden in Konstantinopel [2] und dein Monogramm wurde in meiner Gegenwart von einer Familie eingeprägt, die sich seit Generationen aufs Buchbinden und Gerben versteht.“
 

Nun bemerkte ich das ‚JHW’ auf der Vorderseite. Das Leder war eindeutig exquisit, denn es fühlte sich unter meinen Händen weich und voll an. „Es…ist wunderbar, Holmes“, sagte ich, während ich die Buchstaben mit einem Finger nachzog. „Vielen Dank.“ Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, ihm zu erklären, wie viel es mir bedeutete, dass er mein Schreiben auf diese Weise würdigte. „Auch wenn ich keine Ahnung habe, wozu ich es benutzen soll. Es erscheint mir viel zu außergewöhnlich, um darin einfach irgendetwas aufzuzeichnen.“
 

„Dir wird schon etwas einfallen“, sagte er mit einem kurzen Lächeln, das mir deutlich seine Zufriedenheit über meine freudige Reaktion zeigte.
 

„Nun, es erstaunt mich, dass Mrs. Hudson das hier sowohl eingepackt als auch dir mitgegeben hat und auch wenn ich weiß, dass du wahrscheinlich leicht erraten könntest was es ist, will ich trotzdem, dass du es aufmachst.“ Ich hob das kleine Päckchen auf und reichte es ihm.
 

„Es ist nicht so, dass ich es nicht hätte erraten können“, erklärte er. „Aber das hätte die Überraschung verdorben. Und Überraschungen sind die Würze des Lebens.“
 

„Ich dachte, das wäre die Abwechslung.“
 

„Vielleicht beides.“ Er entfernte vorsichtig das Goldpapier und die Schleife, die Mrs. Hudson verwendet hatte und zog ein Kästchen aus Kirsch- und Eichenholz hervor. Die silberne Uhr glänzte in der Sonne, als er sie vorsichtig hochhob und von seiner rechten Hand baumeln ließ. Das ‚SH’, das ich hatte eingravieren lassen, drehte sich rund und rund gegen den Uhrzeigersinn. Die Uhr schwang leicht hin und her, als versuche er, uns damit zu hypnotisieren.
 

„Oooh“, sagte Josh. „Was für eine hübsche Uhr.“ Er streckte sofort die Hand danach aus.
 

„‚Hübsch’ ist wohl kaum ein angemessenes Wort“, verwies ihn Holmes arrogant, während er sie aus seiner Reichweite hielt. „Sie ist überragend. Und wesentlich mehr, als ich verdiene.“ Er musterte mich mit zu Schlitzen verengten Augen und ich war wie vom Donner gerührt. War er nicht zufrieden? Ich hatte ihm über die Jahre wesentlich weniger beeindruckende, wesentlich weniger teuere Geschenke gemacht und er hatte sich immer gefreut und sie zu schätzen gewusst. Auf seine eigene sachliche Art natürlich. Aber nun schien er…nun, wütend ist ein zu starkes Wort, vielleicht eher…traurig? Ich war mir nicht sicher.
 

„Nun?“, fühlte ich mich schließlich gezwungen zu fragen. „Gefällt sie dir jetzt oder nicht? Deinem Gesichtsausdruck nach könnte es genauso gut eine tote Ratte sein.“
 

Seine Augen zuckten zu mir und sein Gesichtausdruck wurde sofort weicher. Seine Faust schloss sich um das Geschenk und er legte es sanft zurück in die Holzschatulle. Er behandelte die Uhr mit einer Vorsicht, die man oft bei Menschen beobachten kann, die zum ersten Mal ein Neugeborenes im Arm halten. „Natürlich gefällt sie mir. Nur ein Narr könnte etwas anderes behaupten. Es ist nur…“
 

„Es ist nur was?“
 

Er warf mir einen schnellen Blick zu und ich wusste, dass er in Sekundenschnelle abwog, ob er es mir erzählen sollte oder nicht. Doch ich hatte offensichtlich verloren. „Schon gut. Es ist eine großartige Uhr und ich werde sie immer in Ehren halten, mein lieber Watson. Vielen Dank. Und nun“, fügte er hinzu und wechselte das Thema, wie es ihm passte. „Gibt es noch eine Angelegenheit, auf die du deine Aufmerksamkeit richten solltest. Es ist in der Baker Street angekommen, am selben Morgen als ich dort ankam, um John Sherlock wiederzubekommen und ich habe es für dich aufbewahrt, bis du wieder gesund genug warst, um es zu lesen.“
 

Er reichte mir ein kleines Packchen. Es war in Backpapier eingeschlagen, mit einer einfachen Schnur verknotet und mit dünner brauner Tinte an mich adressiert. „Wer zum Teufel…“ Aber dann fiel mein Blick auf den Absender. „Es ist von meiner Schwester.“
 

„Ja. Das habe ich erkannt.“
 

„Warum sollte sie mir ein Päckchen schicken“, überlegte ich laut.
 

„Vielleicht wirst du es erfahren, wenn du es aufmachst.“
 

Darin war ein kleines Geschenk, ebenfalls in braunes Backpapier eingewickelt und an ‚Master Watson’ adressiert. Ich runzelte die Stirn, aber bevor ich etwas sagen konnte, hatte Josh es schon erspäht und es mir aus den Händen gerissen.
 

„Es ist für mich!“, rief er. „Aber von wem ist es?“
 

„Von deiner Tante“, antwortete ich und zog einen sorgfältig gefalteten Brief hervor. Sie schrieb:
 

Lieber Bruder-
 

Ich entbiete dir meine Glückwünsche zum Fest und wünsche dir, dass der Herr über dein Leben wacht. Ich erhielt deine beiden Briefe anlässlich der Geburt deines Sohnes und dem Tod deiner Frau. In Anbetracht des letzteren möchte ich dir hiermit mein Mitgefühl bekunden. Ich bitte dich meine späte Antwort zu entschuldigen, aber der Anstand gebot mir, einen angemessenen Zeitpunkt abzuwarten, um euch beide zu besuchen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nun endlich an der Zeit ist, allen Hass zwischen uns, den Letzten unserer Familie, zu begraben.

Ich werde am Morgen des 15. Januars mit dem 10-Uhr-30-Zug in Victoria Station ankommen und hoffe, von dir dort empfangen zu werden. Anbei findest du ein Geschenk für das Kind, denn er ist es, den ich besuchen will.
 

Ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches, neues Jahr,
 

Deine Schwester,
 

Abigail
 

Ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass ich es mehrmals lesen musste, ehe ich wirklich begriff. Warum schrieb sie mir? Obwohl sie nur zwei Stunden von London in dem Haus meiner Kindheit in Kent lebte, waren zwei, drei Briefe seit einem Jahrzehnt der einzige Kontakt zwischen uns – und jeder davon war anlässlich von wichtigen Ereignissen gewesen, durch die wir keine andere Wahl hatten, als uns miteinander in Verbindung zu setzten.
 

„Es war augenscheinlich nicht von unmittelbarer Wichtigkeit“, sagte Holmes, während er sich eine Pfeife anzündete. „Ansonsten wäre ich gezwungen gewesen, es zu öffnen. Da das nicht der Fall war, habe ich es bis zu diesem Morgen aufbewahrt.“
 

„Woher wusstest du, dass es nicht von unmittelbarer Wichtigkeit war?“
 

„Weil dir deine Schwester ansonsten mit Sicherheit ein Telegramm geschickt hätte.“
 

Meine Weihnachtsstimmung war im Begriff dahinzuschwinden. „Ganz offensichtlich kennst du meine Schwester nicht.“
 

Das war eindeutig die falsche Antwort für Sherlock Holmes. Er starrte mich mit geweiteten Augen an, als hätte ich ihn beleidigt. „Und ich hatte angenommen, Watson, du würdest mich besser kennen.“
 

„Ich kann eine Edduktion machen“, sagte Josh zu seinem Onkel.
 

Holmes lächelte voller Zufriedenheit. „Und die wäre, John Sherlock?“
 

„Meine Tante kennt mich überhaupt nicht.“ Er hielt seine Geschenk hoch. Es war ein Bilderbuch mit wenig oder überhaupt keinem Text. „Das Buch ist für Babys.“ Er überlegte kurz. „Wenn ich eine Tante habe, warum hab ich sie dann noch nie getroffen, Papa?“
 

Weil sie niemals darum gebeten hatte, dich zu treffen. Weil ich ihre selbstsüchtige Art verachte. Weil sie nicht über das kleinste bisschen Einfühlungsvermögen verfügt. Das waren die wahren Gründe. Aber natürlich würde ich so etwas nicht zu meinem Sohn sagen. „Nun, diesem Brief zufolge, wirst du sie bald treffen.“
 

„Du wirkst, als wärst du darüber nicht sehr erfreut, Watson“
 

Ich reichte ihm den Brief. Ich wusste wie sehr sich sein allmächtiger Verstand danach sehnte, ihn zu analysieren. „Wenn du Abigail kennen würdest, wüsstest du warum.“
 

Mehrere Minuten lang las er den Brief und betrachtete ihn in jedem möglichen Licht, bevor er ihn schließlich fallen ließ. Danach hob er die Überreste des Pakets auf, um jedes Zoll und sogar die Schnur, die es zusammengehalten hatte, genau zu untersuchen. „Ganz im Gegenteil, Doktor, ich habe das Gefühl recht gut über deine Schwester Bescheid zu wissen.” Er hielt inne und der wissenschaftliche Glanz schien ein wenig aus seinen Augen zu weichen. „Aber vielleicht wäre es dir lieber, wenn ich mir nicht die Freiheit nehmen würde. Wenn man bedenkt, was beim letzten Mal bei deinem Bruder…“
 

„Nein, nein“, erwiderte ich. „Fahre nur fort. Ich habe sie seit dem Tod meines Bruders ’82 nicht mehr gesehen und keinen Brief mehr von ihr bekommen, seit sie sich geweigert hatte, zu meiner Hochzeit zu kommen. Auch wenn ich eine ungefähre Vorstellung von ihrem heutigen Charakter habe, kann es gut sein, dass du mehr weißt als ich.“
 

Er nickte und hielt den Brief hoch. „Zunächst einmal ist schon dieses Papier bemerkenswert genug. Kein Briefkopf. Dieses Schreibpapier ist schlicht aber dick und von guter Qualität. Das lässt mich auf zwei Dinge schließen: Erstens ist deine Schwester unverheiratet und zweitens handelt es sich hierbei nicht um ihr eigenes Briefpapier.“
 

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich etwas verwirrt.
 

„Der überwiegende Großteil der Männer – besonders in der Mittel- und Oberschicht – besitzen ihr persönliches Briefpapier. Unter Frauen ist das weniger verbreitet. Aber ist dir aufgefallen, dass das Papier ziemlich teuer, die Tinte allerdings spottbillig ist? Und nicht nur billig sondern auch alt, was darauf hindeutet, dass der Schreiber kaum Verwendung dafür hat. Die Feder ist auch nicht besonders gut. Siehst du, dass die Buchstaben ein wenig geschmiert wirken? Ich denke, der Kopf ist gebrochen. Nun würden nur die wenigsten Männer den Gebrauch von billiger Tinte und zerbrochenen Federn erlauben und daher ist deine Schwester unverheiratet, lebt allein und hat dieses Papier irgendwo ausgeborgt.“
 

„Das…das kann ich nicht sagen“, gestand ich. „Aber…ja, ich bin sicher, dass sie unverheiratet ist. Andernfalls hätte sie mir sicher geschrieben. Aber wegen dem Papier…“
 

„Niemand der so schlechte Schreibutensilien verwendet, würde sich die Mühe machen, vernünftiges Schreibpapier zu kaufen. Ich vermute…hmm, ich entbiete dir meine Glückwünsche zum Fest und wünsche dir, dass der Herr über dein Leben wacht.” Er runzelte die Stirn. „Sie bekam das Papier von irgendeiner ehrenamtlichen Vereinigung. Einer religiösen Vereinigung, würde ich sagen, den es gibt draußen auf dem Land wenig andere Möglichkeiten für eine Frau.“
 

Ich hatte das Gefühl, als sinke mir mein Magen bis in die Kniekehlen. „Ja, das würde ihr ähnlich sehen.“
 

„Und diese Schnur. Hast du gesehen, wie abgenutzt und brüchig sie ist? Sie ist ganz offensichtlich nicht sehr neu. Genau wie das Papier. Nun lässt mich eine Frau, die altes Backpapier und alte Schnur verwendet, darauf schließen, dass sie nicht viel ausgeht. Wahrscheinlich nur in die Kirche und zu ihrer bis dato unbekannten Vereinigung. Wenn man das alles zusammen nimmt, lässt sich sagen, dass deine Schwester vermutlich eine alte Jungfer im mittleren Alter ist, vermutlich überreligiös, ein wenig…sagen wir mal sparsam und sich von der Gesellschaft eher zurückzieht. Na wie klingt das, alter Junge?“
 

„Unglaublich zutreffend“, sagte ich ein wenig erschrocken. Es ist etwas, woran ich mich bei ihm auch nach all der Zeit nicht völlig gewöhnen kann. „Aber auch du kannst unmöglich eine Erklärung finden, weshalb sie mich nach all der Zeit plötzlich sehen will. Ich habe sie zum letzten Mal beim Begräbnis meines Bruders gesehen und sie sagte…nun ja, Dinge, die besser nicht wiederholt werden sollten. Aber es war sonnenklar, dass sie nicht besonders daran interessiert war, unsere Beziehung weiterzuführen.“
 

„Und woran lag das?“ Er wirkte ehrlich interessiert, wie er mit dieser ernsthaften Miene vor mir saß und an seiner Pfeife kaute. Aber es war genau jener Blick, den er jedem seiner Klienten schenkte, ein Blick voller intellektueller Neugier doch ohne wirkliche Betroffenheit. Daher fühlte ich mich gezwungen zu erwidern:
 

„Ich will nicht darüber sprechen, danke sehr.“
 

„Aber du machst dir Sorgen darüber“, sagte er. Nein, er sagte es nicht, er stellte es fest.
 

„Warum, Papa? Ist meine Tante ein schlechter Mensch?“
 

Ich blickte zwischen ihnen hin und her. Ich fühlte mich wie in einem Verhör. Und das gefiel mir überhaupt nicht. „Hört schon auf, ihr beiden. Nach all diesen Fröhlichkeiten hätte ich jetzt gerne ein Frühstück.“
 

Holmes neigte leicht den Kopf, eher er sich erhob und die Tabakreste in seiner Pfeife in eine leere Brandykaraffe kippte. „Dann werde ich danach klingeln.“ Er machte keine weiteren Bemerkungen.
 


 


 

Holmes, Josh und ich blieben bis eine Woche nach Neujahr in Meiringen. Ich hatte mich inzwischen vollständig erholt. Mein Körper hatte hartnäckig gegen die Grippe angekämpft und sich aller ihrer Spuren entledigt. Von meiner Schusswunde war mittlerweile nur noch eine bläuliche, runde Narbe übrig – mit einem Durchmesser von wenigen Zoll.
 

Der Rest unserer Ferien verging ziemlich angenehm. Wir führten Josh zu der alten Kirche in der Kirchgasse, einem berühmten römischen Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert, dass jährlich zahlreiche Reisende aus unserem eigenen Land anzog. [3] Holmes steckte ein kleines Stück der kunstvollen hölzernen Giebel ein, um es zuhause in seine Sammlung zu geben, die man schon als halbes Museum bezeichnen konnte. Wir erfuhren, dass das Britische Museum daheim in London ebenfalls Artefakte aus dieser Kirche ausstellte. Außerdem besuchten wir eines der unzähligen Schweizerschokoladengeschäfte; es war die beste Schokolade, die ich jemals gekostet habe. Die Einheimischen waren überaus freundlich und zuvorkommen und zum ersten Mal seit Monaten genoss ich die Gegenwart anderer Leute ohne Gefühle wie Schuld, Angst oder Ausgeschlossenheit.
 

Aber der schönste Teil jener unerwarteten Ferien waren die Spaziergänge, die wir stets in den frühen Abendstunden unternahmen. Holmes war in jenen Tagen nach Weihnachten ziemlich still geworden, was aber kaum ungewöhnlich für ihn war. Zuhause in der Baker Street schwieg er zuweilen tagelang ohne Unterbrechen, doch wenn ich darüber nachdachte, erkannte ich, dass er mich im Laufe der Jahre immer seltener auf diese Weise ignoriert hatte. Während jener Spaziergänge sprach er größtenteils mit Josh und größtenteils klärte er ihn dabei über die chemische Zusammensetzung bestimmter Steine oder dem Verhalten der Alpentiere auf. Josh fand all diese Fakten weit interessanter als ich, tatsächlich weit interessanter als ein Dreijähriger sie finden sollte. Ich hätte mich wohl an ihren Gesprächen beteiligen oder zumindest das Thema wechseln können, aber stattdessen hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Ein Teil von mir wünschte sich, nie wieder nach London zurückzukehren. Ich hätte den trüben Nebel der Stadt für immer gegen die süße Bergluft eingetauscht.
 

Am Tag vor unserer Abreise sprach Holmes mich schließlich auf das an, womit sich sein Verstand zweifellos ebenso beschäftigte wie der meine. Die Sonne hatte gerade erst begonnen hinter den zerklüfteten weißen Berggipfeln zu versinken und der Himmel war in Farben getaucht, von denen ich niemals geglaubt hätte, die Natur könne sie hervorbringen. Es war natürlich kalt, aber wir waren schnell genug und nahe genug beieinander gegangen, um uns warm zu halten. Holmes hatte Josh voraus geschickt und der Junge war auf der Suche nach glühenden, vulkanischen Steinen oder etwas Derartigem fröhlich voraus gehüpft und wir schienen allein in der zunehmenden Dunkelheit.
 

„Was wirst du tun, Watson?“, fragte er plötzlich. „Wenn wir zurück in London sind?“
 

Ich wusste natürlich, was er meinte, aber gab mich ahnungslos. „Was meinst du, Holmes?“
 

Er betrachtete mich aus den Augenwinkeln und ich musste ein Lächeln unterdrücken. „Als wir uns das letzte Mal unterhielten, sagtest du, du würdest gehen. Aus der 221B, meine ich. Ich vermute, du wirst dich nach neuen Unterkünften umsehen?“
 

Ich beobachtete den warmen Atem, der ihm aus Mund und Nase strömte. So viel hoffnungsvoller Dampf. Sofort fühlte ich in mir das unmissverständliche Wüten einer Schlacht zwischen Herz und Verstand. Ich wollte nicht gehen, das wusste ich nur zu gut. Aber hier ging es nicht um Wünsche sondern um Notwendigkeit. Was wenn…Gott wie sehr war ich diese beiden Worte Leid. Nein, keine ‚was wenn’s mehr. Ich würde diesem Pfad den Rücken kehren. Es hatte keinen Zweck. Also antwortete ich ihm: „Ich werde keine Entscheidungen treffen, bis meine Schwester uns wieder verlässt. Ich kann im Moment nicht über beides nachdenken.“
 

„Ich hoffe, du weißt, Watson“, sagte er, während wir durch den knirschenden Schnee den Pfad in Richtung des Englischen Hofes einschlugen. „Dass du mir vertrauen kannst.“
 

Er war mir so nah, dass ich fühlen konnte, wie der Stoff seines Mantels den meinen streifte. Ich schluckte schwer. „Wie meinst du das?“, fragte ich ruhig.
 

Er schien überrascht. „Falls du meine Hilfe brauchst. Mit deiner Schwester. Du kannst mir alles anvertrauen, was dich bedrückt.“
 

So heftige Erleichterung durchflutete mich, dass ich beinahe seine Hand ergriffen hätte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Abigail ist fünf Jahre jünger als ich. Unsere Beziehung lässt sich am besten dadurch erklären, dass sie unserem Vater sehr nahe stand und Henry und ich unserer Mutter. Sie war erst neun als er starb und das vernichtete sie. Bald danach erkrankte unsere Mutter. Tuberkulose. Henry hatte uns bereits verlassen, um sich seinen Platz in der Welt zu suchen und ich war im Begriff, zuhause auszuziehen, um zur Schule zu gehen. Ich glaube, Abby hat es mir sehr übel genommen, dass ich sie allein zurückgelassen habe, aber was sollte ich tun? Ich war doch auch erst fünfzehn.“
 

„Du musst mich nicht überzeugen“, sagte Holmes beinahe schon sanft. „Weshalb überdauerte diese Fehde bis zum heutigen Tag?“
 

„Als unsere Mutter starb, war ich in meinem zweiten Jahr an der Universität. Ich hoffe, du kannst verstehen, wie schwer es mich traf. Es war ziemlich offensichtlich, dass ich – auch wenn es niemand von uns je ausgesprochen hatte – Mutters Liebling gewesen war.“
 

„Das kann ich mir vorstellen“, Holmes lächelte grimmig. “Und so kam es – wenn du mir eine Mutmaßung gestattest – dass du nicht auf die Beerdigung deiner Mutter gingst und dass deine Schwester“—
 

„Ich konnte es nicht! Um Gotteswillen ich konnte meine eigene Mutter nicht so sehen! Wenn du mich jetzt für einen Feigling hältst“—
 

„Das tue ich nicht.“ Er ergriff meinen Arm. „Beruhige dich, Watson. Du vergisst dich.“
 

Ich zog meinen Arm weg – vielleicht ein wenig zu heftig, aber er hatte mich überrascht. „Es…es tut mir Leid“, sagte ich sofort. „Ich habe es nicht so gemeint.“
 

„Ich weiß.“ Er steckte nervös die Hände in die Taschen seines Mantels. Er wirkte sehr wie ein Junge, der von seinem Schulmeister gescholten worden war. „Was geschah danach? War es dein Bruder?“
 

„Wie immer erahnst du es, noch bevor ich es ausspreche. Abigail war rasend, dass ich das Begräbnis unserer Mutter nicht besucht hatte. Als dann Jahre später Henry starb, schickte sie mir zwar Vaters Uhr, aber erzählte mir – als Rache, wie ich vermute – erst von dem Begräbnis, als es schon vorüber war. Ich gebe zu, dass die Beziehung zu meinem Bruder in seinen letzten Jahren eher angespannt war. Seine Trunksucht geriet außer Kontrolle und…nun, in unserer Jugend standen wir uns sehr nah. Trotz der acht Jahre Altersunterschied. Ich hatte dabei sein wollen. Es war reine Bosheit von ihr. Also ging ich nach Kent…und wir, wir stritten uns. Sie sagte…es ist nicht so wichtig, was genau sie sagte. Wir beide kamen überein, dass es besser wäre, wenn wir uns nicht mehr wieder sähen. Und das haben wir auch nicht; ein paar Briefe sind unsere einzige Verbindung. Ich dachte, keiner von uns würde jemals in der Lage sein, dem anderen zu vergeben. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie auf einmal…“
 

„Ich fürchte…“, begann er, aber brach plötzlich ab.
 

„Was?“
 

„Nichts. Du hast schon genug um die Ohren.“ Er drehte sich um, um mir ins Gesicht zu sehen. „Ich hätte es dir niemals erzählen dürfen, Watson, um dich hierher zu locken. Es war ein schrecklicher Fehler, dir all das aufzubürden. Es war entsetzlich selbstsüchtig von mir.“
 

Holmes gestand sich seine Selbstsucht ein? Sein Stolz ließ so etwas tatsächlich zu? Und noch dazu mir zuliebe? „Holmes“, sagte ich und wand ihm mein Gesicht zu. „Ich…“
 

„Ja?“
 

„Ich…“
 

„Nun?“
 

Nein.
 

Ich konnte es nicht.
 

„Es war kein Fehler, es mir zu gestehen“, sagte ich. Aber mehr konnte ich noch sagen. Zumindest jetzt.
 

Die Reise zurück nach England dauerte nicht annähernd so lang wie die letzte. Tatsächlich verging sie nun, wo mir nichts an der Rückkehr lag, viel zu schnell. Es war spät in der Nacht, als wir zurück im Vaterland ankamen und Josh und Holmes waren beide eingeschlafen. Josh hatte sich auf meinem Schoß eingrollt und hielt seine Lupe fest umklammert in seiner kleinen rosigen Faust. Nachdem er stundenlang die anderen Passagiere auf Zügen und Booten beobachtet hatte, war er nun völlig ausgelaugt. Es war mir unheimlich, wie genau und akkurat er dabei gewesen war.
 

Seine kleine Brust hob und senkte sich und er macht leise schmatzende Geräusche. Ich legte ihm eine Hand auf den Kopf. Es fühlte sich so wunderbar weich an.
 

Ich blickte auf und sah, dass Holmes aufgewacht war. Er schenkte mir ein offenes Lächeln, nicht jenes stahlharte, pfeilschnelle Grinsen, das so typisch für ihn war. Er streckte die Hand aus, um Joshs Wange zu streicheln. Unsere Hände lagen praktisch unmittelbar nebeneinander. Und dann, in einem plötzlichen Augenblick der Unvernunft, ergriff ich seine Hand und hielt sie fest. Zur Hölle damit…
 

Er nicht besonders überrascht und bewegte sich auch nicht. Nein, wir saßen nur da, für mehrere Sekunden, wir drei. Wie eine Familie. Es fühlte sich sehr wie eine Familie an.
 

„Ich fürchte“—begann ich.
 

„Nein“, sagte Holmes. „Bitte. Sprich jetzt nicht. Noch nicht.“
 

Und ich gehorchte. Um uns war nichts als die Dunkelheit des Zuges und die Geräusche, wenn er an den Stationen hielt.
 


 

Ich erwachte früh am fünfzehnten Januar und auch wenn Abigails Zug nicht vor halb elf einlaufen würde, stand ich sofort auf, als ich erwacht. Ich ertrug es nicht, in jenem Haus ganz alleine meinen Gedanken ausgesetzt zu sein. Ich sehnte mich nach anderen Menschen.
 

Als ich eine halbe Stunde zu früh an der Victoria Station ankam, war ich wesentlich nervöser, als ich es sein sollte. Nun hinterher in dem Wissen, was geschehen würde, frage ich mich, ob es nicht eine böse Vorahnung gewesen war. Allerdings glaube ich, dass es mehr daran lag, dass ich meine Schwester kannte. Und dass ich wusste, wie wenig ich ihren Absichten trauen konnte.
 

Das Wetter war außergewöhnlich warm für Januar und es war ein ungewöhnlich heller Wintertag. Jedermann schien in fröhlicher Stimmung, schien immer noch vom Festtagsgeist erfüllt und obwohl ich selbst nicht wirklich dasselbe fühlte, grüßte ich jeden, an dem ich vorbei kam und blieb sogar kurz stehen, um mit einem Kerl zu plaudern, der früherer mein Patient gewesen war. Aber alldieweil konnte ich meine eigene Anspannung spüren. Ein Teil davon rührte von dem her, was gerade erst mit Holmes passiert war. Doch ein anderer Teil von mir wusste, dass was auch immer Abigail hier wollte, ganz gewiss nichts Gutes sein würde.
 

Als ich an der Anzeigetafel anhielt, erfuhr ich, dass der Zug meiner Schwester genau pünktlich sein und auf Plattform 10 einlaufen würde. Der Bahnhof war von Urlaubern überfüllt. Der Großteil war auf der Heimreise und ich versuchte unauffällig zu wirken, während ich mich auf meinen Stock lehnte und die vielen tränenreichen und herzzerreißenden Abschiede von Familien und Liebenden beobachtete. Josh wäre von den vielen glänzenden Lokomotiven begeistert gewesen, die Rauch und Dampf ausstoßend in den Bahnhof einliefen. Auch auf mich übten sie immer noch eine gewisse Faszination aus, selbst wenn ich schon auf unzähligen Zügen gewesen war. Aber es hatte einen Grund, dass ich ihn zuhause gelassen hatte. Welcher das war, wusste ich noch nicht, aber ich vertraute dem unguten Gefühl in meinem Bauch.
 

Als der Zug einrollte, schoss mir nur eine Frage durch den Kopf: Würde ich sie überhaupt noch erkennen? Und sie mich? Wir hatten einander seit beinahe zwölf Jahren nicht mehr gesehen. Sie war noch nicht einmal dreiundzwanzig gewesen, früh gereift durch die Sorge um unsere kranke Mutter. Und ich vermute, dass auch ich – nicht älter als achtundzwanzig - damals wesentlich dreister und unreifer gehandelt hatte, als es angemessen gewesen war. Aber keiner von uns hätte erwartet, dass der Verlust unserer Mutter mit fünfzehn beziehungsweise zwanzig Jahren eine achtzehn Jahre dauernde Familienfehde verursachen würde.
 

Der Zug war überfüllt. Es war seltsam, wir lebten nur wenige Stunden von einander entfernt und doch hätten es genauso gut Jahre sein können. Ich stand etwas abseits und beobachtete, wie eine junge Frau mit ihrer Tochter ausstieg, gefolgt von einem Vikar, einer Gruppe jugendlicher Schüler, einer alten Dame, die ihren Regenschirm umklammert hielt, einem Schuhputzer und schließlich…
 

Ich wusste, dass sie es war. Es gab keine Zweifel mehr, ob ich sie würde wieder erkennen können. Sie ging immer noch in derselben stocksteifen Haltung, die unsere Mutter ihr immer eingebläut hatte. Und auf einmal fühlte sich meine Kehle staubtrocken an. Sie sah mich fast im selben Moment, in dem ich sie erblickte.
 

„John!“, rief sie und winkte mir von den Stufen zu. „Hier bin ich!“
 

Ich erwiderte ihre Geste mit einem gezwungenen Lächeln – wesentlich begeisterter als ich mich fühlte. Das alles verlief nicht allzu gut und ich wusste es.
 

Abigail näherte sich mir so selbstsicher wie immer. Sie trug eine Tasche und ihren Reisekoffer. Ich nahm mir mehrere Sekunden, um sie ausgiebig zu studieren; zu versuchen Holmes’ Methoden auf sie anzuwenden, doch auch wenn ich damit in der Vergangenheit gewisse Erfolge gehabt hatte, war ich, was meine Schwester anging, völlig verloren. Ich sah in ihr nur den Ursprung eines beinah zwei Jahrzehnte langen Streits, der mir keinerlei nützliche Daten, sondern nur verletzte Gefühle bot.
 

Sie hatte eine große Ähnlichkeit mit unserem verstorbenen Vater. Es war nahe liegend, bedenkt man, wie nah sie sich standen. Es gibt natürlich auch einige Züge, die sich beinahe alle Watsons in meiner näheren Verwandtschaft teilen – darunter waren durchschnittliche Größe, eine kräftige Statur und gewöhnliche brauen Augen. Tatsächlich war Josh in drei Generationen der erste Watson mit blauen Augen. Abigail vereinte in sich alle diese Familienmerkmale, aber hatte wie unser Vater auch noch eine lange Nase, dünne Lippen und überproportional große Hände und Füße. Über diese unansehnlichen Merkmale lässt sich bei einem Mann noch leichter hinweg sehen, aber an einer Frau war es keine besonders angenehme Kombination. In ihrer Jugend war ihr ein gewisses Maß von Schönheit und Anmut zueigen gewesen, aber die Jahre ihres strengen Lebens und die Hingabe zu ihren „religiösen Pflichten“ hatten ihr Gesicht vorzeitig altern lassen und tiefe Linien zogen sich über die gebräunte Haut. Ich war mir sicher, dass sie es war. Ihr Haar war natürlich hochgesteckt und größtenteils hinter einem großen ländlichen Bonnet verborgen, das neben den mit Blumen und Federn verzierten Hüten, die die Frauen in der Stadt trugen, reichlich fehl am Platz wirkte. Auch ihr Kleid war veraltert genug, dass sogar ich es erkennen konnte und ich bin wahrlich ein Fachmann für die Mode der Frauen.
 

Kein Ehering. Keine Modebewusstsein und auch kein Interesse daran. Und ein Kreuz. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es schon einmal gesehen zu haben, aber es war ein schlichtes Goldkreuz, das bis hinunter an ihren Busen hing. Es war der einzige Schmuck, den sie trug und für einen Moment fragte ich mich, woher sie es hatte. Aber eines war klar. Es schien, dass alle Schlussfolgerungen, die Holmes anhand des Briefes angestellt hatte, zutreffen würden. Aber natürlich hatte ich auch nicht daran gezweifelt.
 

„Gut“, begrüßte sie mich, als ich sie kurz auf die Wange küsste. „Wo ist er?“
 

„Wer?“
 

„Der Junge natürlich! Wo ist der kleine…wie war noch sein Spitzname?“
 

„Josh“, meinte ich, mehr als nur ein wenig fassungslos. Das war wohl kaum die Begrüßung, mit der ich gerechnet hatte. „Und er ist zuhause. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn wir reden würden, bevor du ihn triffst.“
 

„Pah! Wie völlig lächerlich! Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt nach London gekommen bin, ist meinen einzigen Neffen kennen zu lernen!“ Sie hob ihren Koffer mit Leichtigkeit und stieß ihn mir in die Seite, sodass ich gezwungen war, ihn zu nehmen.
 

„Abigail, du und ich haben seit zwölf Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Einmal abgesehen von ein paar übertrieben förmlichen Briefen. Und beim letzen Mal, als wir es taten, haben wir unsere Verbindung völlig aufgelöst. Wenn ich mich recht erinnere, sagtest du nach Mutters Tod, ich sei ein aufgeblasener Feigling und dass du hoffst, die Afghanen würden mir eine Kugel durchs Herz jagen.“ Ich rieb mir die Schulter, in der ich einen solidarischen Stich verspürte. „Es war zwar etwas weiter nördlich, aber du wurdest nicht völlig enttäuscht.“ Bis heute erinnere ich mich genau daran, wie wütend meine Worte sie machten. Doch meine Schwester war keine Frau, die sich von ihren Gefühlen den Geist verklären ließ. Als sie mir das an den Kopf geworfen hatte, war sie völlig gefasst gewesen, ihre Augen kalt wie Eis. Keine Tränen von Abigail Watson. Eher hätte sie mir ins Gesicht gespuckt.
 

„Du hast dir einen Schnurrbart wachsen lassen“, sagte sie und beäugte mich kritisch, als wäre das die angemessene Antwort. „Ich denke, du warst recht geeignet für das eheliche Leben. Wann willst du nach einer neuen Frau suchen?“
 

Ich hätte beinahe den Koffer fallen lassen und stieß mir einem grimmig aussehenden Kerl zusammen, der gerade eilig in Richtung seines abfahrenden Zuges hastete und von dem ich mit einer recht schmutzigen Geste belohnt wurde. „Was in Gottes Namen ist das für eine Frage? Das letzte, an das ich momentan denke, ist eine zweite Ehe. Ich habe Mary erst vor vier Monaten verloren! Großer Gott, Abigail, das war sogar für dich ausgesprochen boshaft.“
 

„Unsinn. Es ist eine wichtige Frage, wenn es um das Wohl eines Kindes geht. Du musst dich beizeiten wieder verheiraten. Das Kind braucht eine Mutter!“
 

„Das Kind hat eine Mutter. Sie ist nur tot. Ich kann das nicht ändern, Abigail, egal wie sehr ich es mir wünsche. Kutscher!“ Wir hatten den Bahnhof gerade erst verlassen und ich war bereits wütend. Ich hatte gewusst, dass es so sein würde. Wir waren erst fünf Minuten zusammen und schon stritten wir uns.
 

Meine Schwester stieg ein und gab als Ziel das Albert Hotel an, in dem sie wohnen würde. „Es ist natürliche eine notwendige Ausgabe“, sagte sie. „Denn ich will dich nicht einengen.“
 

„Ja, ich fürchte, es würde wahrlich eng werden. Denn in der Wohnung gibt es keine Gästezimmer. Ich habe das eine Schlafzimmer, Holmes das andere und wir waren gezwungen den Dachboden in ein Zimmer für Josh umzubauen.“
 

Sobald ich es ausgesprochen war, erkannte ich meinen Fehler. Natürlich hätte ich kaum lange vor ihr verbergen können, dass ich mit Holmes zusammenlebte, aber mit einem Mal herrschte Schweigen. Grässliches Schweigen bis mir meine Schwester einen erstaunten Blick zuwarf. „Was soll das, John? Du…du, Josh und…ein anderer Mann?“
 

„Sherlock Holmes. Willst du wirklich behaupten, du hättest keinen meiner Berichte über seine Fälle gelesen? Wenn du das hättest, wäre dir sicherlich klar gewesen, dass er und ich zusammen arbeiten. Warum sollten wir uns nicht aus Gründen der Einfachheit ein Haus teilen?“
 

„Nun, aber du beschäftigst doch wenigstens ein Kindermädchen, nicht wahr?“ Ihr Gesicht war in unverhohlenem Ekel verzogen.
 

„Das tat ich“, sagte ich nun ebenso boshaft. „Aber Holmes und ich kümmern uns selbst um ihn. Unsere Wirtin hilft ebenfalls.“
 

Sie ließ sich nicht anmerken, ob diese Tatsache sie weiter schockierte. Stattdessen saß sie den Rest der Fahrt stocksteif da. Ich half ihr beim Aussteigen und packte die Koffer, während ich dem Kutscher gleichzeitig sein Geld zuwarf.
 

„Ich werde dich hinauf in dein Zimmer begeleiten“, erklärte ich ihr. Aber stattdessen griff sie selbst grimmig nach Koffer und Tasche.
 

„Nein, das werde ich auch alleine schaffen. Ich glaube, ich brauche nach dieser Reise ein wenig Ruhe. Ich werde dich morgenfrüh zum Tee besuchen. Ich erwarte, dass das Kind da ist, John. Und du und ich haben ganz offensichtlich viel über sein Wohlergehen zu besprechen.“
 

„In der Tat? Und was würde das sein?“
 

„Das würde sein“, sagte sie mit den lodernden Augen meines Vaters. „Dass wenn du dich nicht angemessen um ihn kümmerst, ich mich dazu gezwungen sehen, ihn dir wegzunehmen.“
 


 

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[1] Bond Street ist das Londoner Gegenstück zur Wall Street.
 

[2] Heutiges Istanbul.
 

[3] Tatsächlich zählte dazu auch Sir Arthur Conan Doyle, der viel Male dort war. Heute gibt es in Meiringen ein Sherlock Holmes Museum ähnlich dem in London.

So, hier kommt der nächste Teil. Was wird Abigail tun?

Und vor allem: Wird es ihr gelingen?
 

„Das kann sie doch nicht machen, oder? Ich meine, das Gesetz steht auf meiner Seite. Holmes, sag mir, dass keine Rechtssprechung ihr jemals die Vormundschaft für Josh zusprechen würde.“ Diese Worte sprach ich am nächsten Morgen kurz nach dem Frühstück, nachdem ich eine schlaflose Nacht und einen langen Morgen damit verbracht hatte, mir zuerst Sorgen zu machen, dann logisch nachzudenken und schließlich Holmes zu erzählen, was am vorigen Tag zwischen meiner Schwester und mir vorgefallen war.
 

Mein Freund saß am Kartentisch, rauchte und machte sich pedantisch Notizen über die Unterschiede der Muster von Fingerabdrücken. Er suchte nach einer wirkungsvolleren Art der Klassifizierung und er hatte, seit wir aus Meiringen zurückgekehrt waren, mit Josh zusammen daran gearbeitet. Ich war mir nicht sicher, ob er sich damit von mir ablenken wollte oder ob alles nun wieder seinen gewohnten Gang gehen sollte. Doch für mich war nichts wie vorher und ich konnte nicht verstehen wie er sich so zwanglos benehmen konnte.
 

„Oberflächlich betrachtet steht das Gesetz natürlich auf deiner Seite“, erwiderte er, während er sich seine fünfte Zigarette recht nah an einem Gefäß mit einer rötlichen Flüssigkeit anzündete. „Unsere englischen Gesetze basieren, wie du weißt, auf der römischen Rechtsprechung und in jener patriarchalischen Gesellschaft ist alles, sogar Kinder, erklärtes Eigentum des Ehemannes. Oder, wie in deinem Fall, des Vaters.“
 

„Gut…dann, was kann sie dann schon…warte, was meinst du mit ‚oberflächlich betrachtet’?“ Als er nicht antwortete, änderte ich meine Position und warf mich neben ihm in einen Sessel anstatt den Teppich vor dem Kamin mit meinem Hin und Her gehen noch mehr durchzutreten. „Hör damit auf, Holmes”, sagte ich und packte in am Arm. „Wenn du etwas weißt…“
 

Er streifte meine Hand langsam und fast widerwillig von seinem Arm. „Ich fürchte, mein lieber Watson, dass das Gesetz wenig damit zu tun haben würde, sollte es tatsächlich zu einem Gerichtsverfahren über die Vormundschaft kommen.“
 

„Wie in Gottes Namen kannst du so etwas sagen?“
 

Er warf seine Feder mit einem tiefen Seufzen auf den Tisch und starrte mich mit steinernem Gesicht an. „Denk darüber nach. Falls deine Schwester tatsächlich aus unbekannten Gründen Joshs Vormund werden will, dann muss sie sich darüber im Klaren sein, dass das Gesetz auf deiner Seite steht. Außer sie kann mildernde Umstände nachweisen. Mit anderen Worten muss sie dem Gericht beweisen, dass du als Vater nicht geeignet bist.“
 

„Aber ich bin nicht ungeeignet!“, rief ich.
 

„Du weißt das. Ich weiß das. Und du kannst mit Sicherheit dutzende Zeugen aufrufen, die dasselbe aussagen würde. Allerdings…“
 

„Was?! Was?!“
 

„Oh, denk doch nach, Mann! Du warst es doch, der mir erst vor drei Monaten gesagt hat, ich müsse auf meinen Ruf achten! Meinst du nicht auch, dass unsere Beziehung in ein gewisses Licht gesetzt werden könnte, das dich in den Augen eines Richters als Vater ungeeignet erscheinen lassen würde? Hast du nicht gerade selbst gesagt, sie hätte diese ganze Drohung erst ausgesprochen, nachdem du erwähnt hattest, dass du mit mir zusammenlebst?“
 

Alle Energie und Lebenskraft schien mit einem Mal aus meinem Körper gesogen zu werden. „Aber…aber…wie will sie das beweisen? Es ist nicht einmal wahr. Wie will sie etwas beweisen, dass nicht wahr ist?!“
 

„Es ist beinahe unmöglich, die Motive einer Frau zu durchschauen, Watson. Was ich dir zweifellos schon bei verschiedenen anderen Gelegenheiten versichert habe. Doch wir können trotzdem darüber spekulieren, was sie tun wird. Es ist ihr zweifellos klar, dass wenn sie dich verklagen will, alle Nachweise einer solchen Verbindung – wenn sie sich überhaupt welche beschaffen kann – nicht ausreichen werden, um deine Rechte als Vater tatsächlich auszulöschen. Allerdings könnten sie richtig eingesetzt auf eine andere Art ebenso zerstörerisch sein.“
 

„Und die wäre?“ Ich fürchtete mich vor seiner Antwort.
 

„Sowohl deinen als auch meinen Namen zu ruinieren.“ Er hielt inne und blickte mich an. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien auf seinem Gesicht ein fast schon nervöses Lächeln. „Und das wird sie dir sagen. Du sollst wissen, dass sie die Macht dazu hat. Und dann wird sie dich auffordern, freiwillig auf die Vormundschaft zu verzichten.“
 

„Aber sie hat keine Beweise! Sie hat mich gestern nur etwa eine Viertelstunde lang gesehen. Woher willst du wissen, ob sie irgendeinen Verdacht hat? Wie könnte sie? Sie hat keinen Grund mich zu verdächtigen und…und dich kennt sie nicht einmal!“
 

„Oh, ich glaube sie kennt mich wahrscheinlich besser, als du denkst. Schließlich hat sie alle deine Erzählungen über meine Fälle gelesen.“
 

„Hat sie das? Woher weißt du das?“
 

„Es ist offensichtlich“, sagte er, während er zu seinen Notizen zurückkehrte. „Wie sonst könnte sie erraten haben, dass du wieder hier, in der Baker Street, lebst und nicht in Kensington, von wo aus du ihr das letzte Mal geschrieben hast.“
 

„Was…“, begann ich, aber er winkte mich zu sich an das Beistelltischchen, wo wir für gewöhnlich Briefe aufbewahrten, neben der unerledigten Korrespondenz, die er mit einem Klappmesser am Kaminsims aufgespießt hatte. Verdeckt von zahlreichen an Holmes adressierten Briefen – zweifellos Fälle, die ihn nicht interessierten – erkannte ich die neueste Ausgabe des Strand-Magazins. Sherlock Holmes’ Rückkehr verkündete es in großen Lettern. Lesen Sie Dr. Watsons spannenden Bericht ‚Das Leere Haus’!
 

„Eigentlich wurde es erst vor etwa einer Woche veröffentlicht. Aber Abonnenten wurde die neueste Ausgabe schon im letzten Monat zugeschickt. Als ich aus Neugier die Redaktion von The Strand besuchte, bat ich um eine Liste der Abonnenten außerhalb von London. Es waren nicht viele außerhalb der Stadt und nur drei in Kent. Eine davon war Abigail Watson.“
 

Ich konnte ihm kaum folgen, so schnell sprach er und ich hatte fast das Gefühl, als fürchte er meine Reaktion. Was sollte das... „Ich…ich fürchte ich verstehen nicht, Holmes. Ich habe ‚Das Leere Haus’ doch noch überhaupt nicht geschrieben. Wie kann ich hier eine Ausgabe des fertigen Berichts in Händen halten, wenn das ganze im Moment nur in meinem Kopf existiert – wenn überhaupt.“
 

„Nun, ich würde meinen, die Antwort ist offensichtlich“, antwortete mein Freund, während er kaum von seinen Aufzeichnungen aufblickte. „Ich habe es für dich geschrieben.“
 

„Du hast…? Ich meine, du…Warum um Himmelswillen solltest du das tun?“
 

„Es vertrieb meine Langeweile.“ Nachdem er den letzten Satz mit einer schwungvollen Bewegung beendet hatte, warf er die Füllfeder beiseite und lehnte sich träge gegen die Sessellehne. „Ich brauchte dazu nur einen Tag und da ich nichts anderes zu tun hatte, während du im Fieberwahn lagst, kam ich zu der Erkenntnis, dass ich ohnehin eher in der Lage wäre, diesen besonderen Fall niederzuschreiben. In Anbetracht deiner begrenzten Mitarbeit. Der Bericht entspricht natürlich nicht ganz den Tatsachen, aber er ist genau das, was deine Leser wollen. Sie wollen uns beide Seite an Seite – so wie früher. Ja, Watson, es ist ein hübsches kleines Werk und größtenteils Fiktion. Aber ich bilde mir ein, deinen Stil recht gut getroffen zu haben.“
 

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Außer: „Woher wusstest du, dass ich es ‚Das Leere Haus’ nennen wollte?“
 

„Du hast es mir erzählt. Du hast mir ziemlich viele Dinge erzählt, während du krank warst. Kannst du dich nicht mehr erinnern? Nun, es ist verständlich. Das Meiste machte kaum oder überhaupt keinen Sinn. Manches allerdings…“
 

„Manches tat was?“, fragte ich eher unwillentlich.
 

Aber er zuckte nur die Achseln. „Es ist unwichtig. Ich schrieb den Fall, nahm in mit zurück nach London und brachte ihn zur Redaktion des Strand-Magazins. Sie waren übrigens begeistert darüber, dass du deine Berichte wieder aufgenommen hast…es hat sie tatsächlich wesentlich mehr interessiert, als die Tatsache, dass ich noch am Leben war…aber ich schweife ab. Sie konnten es gar nicht schnell genug veröffentlichen, druckten sofort mehrere hundert Stück der Januar-Ausgabe für Abonnenten. Deine Schwester las es, schloss daraus, dass du wieder hier bei mir wohnen würdest und schickte dir daher ihren Weihnachtsbrief an diese Adresse.“
 

Er schwieg mehrere Sekunden, um mir die nötige Zeit zum Begreifen zu geben. Dann fuhr er fort: „Daher, Watson, kennt deine Schwester auch meine Meinung über Frauen. Sie weiß, dass du dein Kindermädchen gefeuert hast, dass du zu mir zurückgekommen bist. Die Punkte sind leicht zu verbinden, aber ich zweifle nicht, dass man dabei durchaus mehrere verschiedene Bilder bekommen könnte.“
 

„Aber…“
 

„Lass mich ausreden, Watson. Du musst dich auf das Schlimmste gefasst machen. Und das ist das Schlimmste: Wenn das hier vor Gericht kommt und deine Schwester die Frau ist, für die ich sie halte, dann wird sie mit der Drohung, uns zu entblößen, die Tatsache überwiegen, dass sie vor den Augen des Gesetzes nicht bestehen kann. Und das ist der Grund, warum ich sagte, es wäre ebenso zerstörerisch. Entblößung für dich. Und für mich.“
 

Mit dieser Erkenntnis sprang ich auf die Füße. Das alles passierte nicht wirklich. Das konnte einfach nicht wirklich passieren. „Also willst du damit sagen, Holmes, dass wenn ich vor Gericht gehe, dann wird meine Schwester meinen Namen ruinieren…unsere Namen und unseren Ruf. Und der einzige Weg, sie davon abzuhalten, ist, ihr meinen Sohn zu überlassen.“
 

„Das hat sich noch nicht erwiesen, aber ich fürchte es.“
 

Und ich konnte es mir vorstellen. Die Blicke, das Geflüster, das nervöse Lachen. Die angewiderten, höhnischen Bemerkungen der Männer, das grausame Abwenden der Frauen. Ich könnte meinen Sohn behalten, aber was für ein Leben wäre das? Und Holmes. Ich fürchtete, wenn er seinen Klienten verlöre, seine Deduktionen, dann würde er auch jeglichen Lebenswillen verlieren. Ich durfte das nicht zulassen.
 

„Ich könnte falsch liegen, mein Freund“, hörte ich seine Stimme hinter mir. Sie klang sehr weit entfernt. Und schuldbewusst.
 

„Es tut mir Leid, Watson. Ich hätte nichts sagen sollen. Ich brach meine eigene Regel über das Theoretisieren ohne Daten. Ich wollte einfach nicht, dass sie dich überrascht. Es ist nicht gerecht.“
 

Er war nun direkt hinter mir.
 

„Watson?“
 

Ich antwortete nicht.
 

„Setz dich hin.“
 

Ich antwortete nicht.
 

„Ich will mich nicht wiederholen müssen.“
 

Diesmal drehte ich mich zu ihm um. Er wirkte sehr väterlich und besorgt. Zumindest ein wenig. Also setzte ich mich wieder neben ihn.
 

„Das kann einfach nicht wahr sein…“, sagte ich und ballte meine Hand zur Faust.
 

Aber dann ergriff Holmes energisch meine Hand und als ich hinunter sah, erkannte ich, dass unserer beider Hände zitterten. Ich wollte mich losreißen, aber sein Griff war außergewöhnlich kräftig. Als sich unsere Blicke trafen, hatte ich das Gefühl, als wollte ich etwas sagen, aber ich wusste nicht was. Schließlich öffnete er mit seiner freien Hand sein silbernes Zigarettenetui und zog eine davon heraus. Er ließ mich los, zündete die Zigarette an und reichte sie mir.
 

Ich wich seinem Blick aus. Es schmerzte, ihn so zu sehen. Ich murmelte „Danke.“ oder irgendeine vergleichbare Nettigkeit und nahm einen tiefen Zug. Aber anstelle mich zu beruhigen, brachte sie mich zum Husten. Sie schmeckte seltsam. Zu stark. Nichts war mehr so wie früher.
 

Und er blickte mich immer noch an.
 

„Hör auf“, hauchte ich. Aber er tat es nicht.
 

„Watson“, sagte er schließlich. „Wenn du dir auch nur über irgendetwas sicher bist, dann soll es das hier sein: Ich werde es nicht zulassen.“
 

Ich sah wieder zu ihm auf und versank in seinen ernsten grauen Augen.
 

„Du wirst Josh nicht verlieren. Oder irgendetwas sonst.“
 

Die Sonne war zu hell für einen Londoner Winter. Ich dachte, dass er die Vorhänge geschlossen hatte. Aber ich konnte sie trotzdem sehen, widergespiegelt in den Linien seines Gesichts und der Struktur seines Haars.
 

Und da wusste ich, dass ich ihm glaubte.
 


 

Abigail erschien etwa eine Stunde später. Holmes hatte sein Fingerabdruckprojekt weggeräumt, aber saß immer noch mit der Feder in der Hand über irgendwelchen Notizen. Ich bekam den Eindruck, dass ich nicht merken sollte, dass er ihre Ankunft angespannt erwartete. Aber ich wusste es trotzdem. Ich wusste es von der Art, wie er in nur fünfzehn Minuten drei mal auf die Uhr sah, die ich ihm geschenkt hatte, von der Art, wie er den Türbogen studierte, der Art, dass er seinen besten Anzug angezogen hatte, um einen guten Eindruck zu machen. Und ich konnte mich nur angsterfüllt fragen, was für eine Art von Begegnung dies werden sollte. Meine Schwester war gekommen, um meinem Sohn zu begegnen, aber es war ihre Begegnung mit Holmes, die mit Sicherheit wesentlich interessanter werden würde.
 

Als es schließlich läutete und Mrs. Hudson nach mir rief, war ich nicht nervös. Dieses Gefühl war gestern gewesen. Heute war in mir nur noch Wut. Wut und vielleicht ein wenig Angst. Aber vor allem Wut.
 

„Vielen Dank, Mrs. Hudson“, sagte ich mit einem knappen Lächeln. „Würden Sie bitte so freundlich sein und uns etwas Tee hinaufbringen?“
 

„Aber natürlich, Doktor.“ Sie blickte von meiner Schwester zu mir und wieder zurück. Nach fünfzehn Jahren unter einem Dach mit Holmes vermute ich, dass auch sie eine gewisse Beobachtungsgabe entwickelt hatte. Und die Spannung zwischen uns war greifbar.
 

„Möchtest du nicht hinauf ins Wohnzimmer kommen, Abigail, und eine Tasse Tee trinken? Ich werde Josh holen und du und Holmes könnt euch bekannt machen.“
 

„Ich vermute, du hättest ihn nicht loswerden können?“, fragte sie, während wir die Treppe hinaufstiegen.
 

„Er wohnt hier, Abigail…warum sollte ich ihn ‚loswerden’ wollen?“
 

„Ich bin gekommen, um meinen Neffen zu besuchen…und dich“, fügte sie als nachträglichen Einfall hinzu. „Ich hege kein Verlangen danach, von irgendeinem Wichtigtuer von beratendem Detektiv ausspioniert zu werden.“
 

„Jetzt hör mal gut zu“, sagte ich und packte sie am Arm, als wir vor der Tür ankamen. „Sherlock Holmes und ich sind Freunde, Partner…und ich schulde ihm viel. Er hat mich niemals ausgeschlossen und ich habe keinen Grund ihn auszuschließen. Ich weiß ja nicht genau, was du über uns denkst, oder wie du interpretiert hast, was ich gestern gesagt habe, aber wenn du dieses Haus betreten möchtest, dann behandelst du ihn mit Respekt.“
 

„Mein Gott, John…du verteidigst ihn recht heftig, meinst du nicht?“ Ihr Tonfall verleitet mich beinahe zu etwas, das ich noch niemals zu vor getan hatte: Eine Frau zu schlagen. Aber ich tat es nicht. Und ich denke, sie erriet meinen Gedanken. Und lächelte.
 

„Die Schrift lehrt uns, ‚nicht nach dem äußeren Eindruck zu urteilen, sondern wie es wirklich dem Gesetz entspricht’[1] Und das ist, was ich auch tun werde.“
 

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also nickte ich nur und öffnete ihr die Tür. Holms erwartete uns; er stand neben dem Kanapee – stütze sich mit einer Hand darauf ab. Die andere hatte er in die Hüfte gestemmt. Seine Lippen waren zu einem seltsamen Grinsen verzogen. Wie die eines Kindes in einem Süßwarengeschäft. Er wirkte aufgeregt über die Ankunft meiner Schwester. Für einen Moment war ich sprachlos, aber dann schüttelte ich den Kopf. „Äh…Abigail, das ist…“
 

Aber sie unterbrach mich. „Mr. Holmes…nicht wahr?“
 

„Selbstverständlich, Miss Watson“, sagte Holmes immer noch lächelnd. „Aber Sie wissen es doch schon längst.“
 

„Ja…Sie sind wirklich überheblich, wissen Sie das?“
 

„Es ist ein großer Fehler, die Wahrheit mit Überheblichkeit zu verwechseln, Miss Watson. Ich weiß nicht nur deshalb, dass Sie jeden Fall gelesen haben, den Ihr Bruder niedergeschrieben hat, weil Sie auf der Liste der Abonnenten stehen, sondern auch weil sie mich einen beratenden Detektiv genannt haben.“
 

„Habe ich das?“, fragte sie unschuldig.
 

„Ja. Und niemand, der nicht mit Watsons Berichten vertraut ist, würde mich so bezeichnen.“
 

„Ah…John, willst du hier einfach nur da stehen oder holst du mir vielleicht einen Stuhl? Ja, danke dir“, sagte sie, als ich ihr einen Stuhl hinschob. „Gut, ich gebe zu, dass in den Werken meines Bruders ein gewisser Reiz liegt, Mr. Holmes. Auch wenn ich ebenfalls zugeben muss, dass ich mich über den Einfluss sorge, denn Sie auf ihn haben…und natürlich auch auf meinen Neffen.“
 

„Abigail…“, begann ich.
 

„Ich meine, ich habe ernste Dinge gelesen…Frauenfeindlichkeit, zum Beispiel.“
 

„Abigail.“
 

„Kriminelle Aktivitäten.“
 

„Abigail, bitte…“
 

„Aber ich schätze, dass ist nun mal der Effekt, den Drogen auf jemanden“—
 

„Abigail!“, rief ich und schlug meine Faust auf den Tisch. „Das reicht!“
 

„Nein, Watson“, sagte mein Freund, der nicht im Geringsten über Abigails Schikanen beunruhigt wirkte. „Es ist schon gut.“ Und dann wand er sich unglaublich langsam meiner Schwester zu. „Ich behaupte nicht, frei von jeder Sünde zu sein. Und ich bin überzeugt, auch sie nicht.“
 

„Natürlich nicht“, unterbrach sie ihn. „Dieses Vorrecht gehört nur unserem Herren Jesus Christus. Allerdings“—
 

Allerdings steht nun kaum zur Debatte, Miss Watson. Ich gestehe, dass es gewisse Ärgernisse mit sich bringt, wenn die Öffentlichkeit so gut über das eigene Privatleben bescheid weiß. Es ist nicht einfach unter einer Lupe zu leben, während das Publikum jede meiner Gewohnheiten und Handlungen verurteilen kann. Aber sollte ich strenger gerichtet werden, nur weil meine Schuld für alle sichtbar ist, während sich die Ihre im Schatten verbirgt?“
 

„Sie versuchen mir also einzureden, wenn ich über Sie richten wollte, würde auch über mich gerichtet werden?“
 

„Es scheint mir ein berechtigtes Argument.“
 

„Dann hoffe ich nur, Mr. Holmes“, sagte meine Schwester mit weit aufgerissenen Augen. „Dass Sie für den Tag des Gerichts ebenso vorbereitet sind wie ich. Denn durch das Gräuel ‚möge ihr Blut über sie kommen.’“
 

Holmes’ Reaktion überraschte mich. Anstatt jene seltsame und erwartete Auseinandersetzung – oder eher diese Diskussion, denn wie eine solche schien es mir – fortzusetzen, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und presste merklich die Kiefer zusammen. Irgendetwas in den Worten meiner Schwester musste für ihn eine tiefer Bedeutung haben – und ganz gewiss keine gute. Aber ich wusste nicht, was es war.
 

„Sie betreten einen gefährlichen Pfad“, sagte er leise. „Ich warne Sie, denn er wird Sie zu Gefahren führen, denen Sie wahrscheinlich nicht gewachsen sein werden.“
 

Sie lächelte kurz. „Ich könnte Ihnen dasselbe sagen, Sir.“
 

„Ihr beide ermüdet mich“, sagte ich. „Allerdings ich muss zugeben, dass ich genau das erwartet habe. Aber ich würde es sehr begrüßen, wenn ihr einen zeitweiligen Waffenstillstand schließen könntet, während ich Josh holen gehe.“
 

„Das ist ganz unnötig, mein lieber Watson“, sagte Holmes scheinbar wieder gefasst. „Es war bloß die Einleitung. Nun da deine Schwester und ich wissen, wo der jeweils andere steht, bin ich davon überzeugt, dass wir gesittet miteinander umgehen können. Habe ich nicht Recht, Madam?“
 

Meine Schwester hob den Kopf und schenkte ihm die leichteste Andeutung eines Nickens. Ich war nicht wirklich überzeugt.
 

Die Muskeln in meinem Hals fühlten sich steif und verspannt an, aber ich verließ den Raum. Es würde noch Tage dauern, ehe ich in die kurze, aber essentielle Unterhaltung eingeweiht wurde, die sich daraufhin während meiner Abwesenheit zutrug. Mit dem was bereits gesehen war und dem was nun geschehen sollte, hätte ich eigentlich in der Lage sein müssen, zu erraten, was schon bald darauf geschehen würde.
 

„Ich sollte Sie warnen, Miss Watson, Sie werden damit nicht durchkommen”, sagte Holmes im selben Moment, als ich das Zimmer verließ.
 

„Und was wäre das, Mr. Holmes?“
 

Er schnaubte. „Ich habe nicht vor, ihre offensichtliche Intelligenz mit einer Diskussion über Semantik zu beleidigen.“
 

„Dann halten Sie mich also für intelligent? Mich, eine Frau? Ich fühle mich außerordentlich geehrt.“
 

„Nun, auch wenn Ihr Bruder mich in seinen Werken so beschrieben hat, wäre es ein tragischer Fehler, mich als Frauenfeind zu bezeichnen. Das bin ich nicht. Ich hasse die Frauen nicht. Ich halte sie nur für selbstsüchtig und nicht vertrauenswürdig“, er hielt inne und betrachtete ihr Gesicht. Er war dankbar, dass sie mir nicht ähnelte. „Ich glaube, dass das auf Sie ganz und gar zutrifft.“
 

Das Gesicht meiner Schwester verwandelte sich in Stein. „Nun ist es an mir, Sie zu warnen, Mr. Holmes. Ich kenne die Treue meines Bruders zu Ihnen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gelungen ist, ihn zu verderben, aber auch ich wünsche nicht über Semantik zu diskutieren. Ich bevorzuge unveränderte, konkrete Tatsachen. Und dies sind sie: Sie sind lange genug ein dunkler Punkt im Leben meines Bruders gewesen. Unglücklicherweise ist er ein Erwachsener und ich kann ihn Ihnen nicht entreißen. Mit dem Jungen jedoch ist das anders.“
 

„Denken Sie wirklich, Miss Watson, dass ich hier mit Ihnen zusammen auf den Tee warten würde, wenn ich es ernsthaft für möglich hielt, dass so etwas tatsächlich geschehen könnte?“
 

Meine Schwester war sprachlos. „Ihre Arroganz ist beispiellos.“
 

„Ebenso wie ihre Herzlosigkeit.“
 

„Sie verwechseln Herzlosigkeit mit Sorge. Und ich sorge mich um meine Familie, Mr. Holmes. John junior ist der Letzte aus meiner Familie, der mir noch geblieben ist. Der einzige Erbe meines Vaters. Er muss das Beste von allem bekommen…Bildung, Ehe, Ruf. Was glauben Sie, was Sie ihm geben können? Widerliche Angewohnheiten und einen sporadischen Lebensstil.“
 

„Es ist erstaunlich“, murmelte Holmes. „Dass Sie den Jungen als Ihre einzige Familie ansehen, wo doch Ihr Bruder in eben diesem Moment Ihren Wünschen nachkommt. Gegen seine eigenen Interessen.“
 

„Ich liebe meinen Bruder und wünsche mir für ihn das Beste“, sagte Abigail. „Aber ich kann nichts für ihn tun. Er hat seinen Pfad gewählt.“
 

„Sie wissen nichts von Liebe“, sagte Holmes voller Abscheu. „Und wenn mein Blut, wie Sie sagten, über mich kommen sollte, dann soll es eben so sein.“
 

Abigail war mehrere Sekunden sprachlos, aber dann erkannte sie, was er wahrhaftig gerade gesagt hatte. Oder zumindest, was sie darin gehört hatte. „Sie offenbaren mehr, als Sie beabsichtigen.“
 

Der Zorn war vom Gesicht meines Freundes verschwunden. Sie wusste weniger, als sie glaubte. Und es war keine Arroganz, die ihn zu diesem Schluss kommen ließ. Es war die Wahrheit. „Miss Watson, ich offenbare niemals mehr als ich beabsichtige.“ Er grinste auf eben jene Art, die ich in meinen Schriften so oft zu beschreiben versuchte. Es war das erste Mal, dass sie es mit eigenen Augen sah.
 

Ich hatte erwartet, Josh direkt hinter der Wohnzimmertür zu finden, das Ohr fest dagegen gedrückt. Detektivspielen – wenn ‚spielen’ das richtige Wort dafür ist – war das einzige Spiel, für das sich der Junge in letzter Zeit interessierte. Doch an jenem Tag, hatte er nichts dergleichen getan. Stattdessen fand ich ihn in seinem Zimmer; er saß halbeingeschlafen auf dem Schaukelpferd, das er zu Weihnachten bekommen hatte.
 

„Josh“, sagte ich, während ich mich näherte. „Wach auf, Sohn.“
 

Er öffnete die Augen. „Oh, hallo, Papa.“
 

„Geht es dir gut? Bist du krank?“
 

„Nein, ich meine, ja und auch nein. Ich war nur schläfrig.“
 

Ich lächelte. „Gut, ich brauche dich…“
 

„Sie ist hier, nicht wahr?“
 

„Oh…ja. Das ist sie. Aber woher wusstest du das? Ich hatte dir nicht gesagt, dass sie heute kommen würde. Warte, hat Holmes dir etwa…“
 

Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich hab mich an den Brief erinnert. 15. Januar. Das ist heute.“ Er deute auf den Kalender, der ziemlich schief an seiner Wand hing. Vierzehn krakelige Kreuze füllten die ersten vierzehn Kästchen. Ich drehte mich wieder zu ihm um. „Muss ich sie treffen?“, fragte er.
 

Er konnte in mir lesen, wie in einem Buch. „Ich fürchte.“ Ich nahm seine Hand.
 


 

„Nun, hier ist er, Abigail. John Sherlock, das ist deine Tante Abigail. Abigail, mein Sohn, Josh.“
 

Diese Reaktion, diese Reaktion meines Sohnes und meiner Schwester war etwas, dass ich mir nun schon seit Stunden vorgestellt hatte. Und ich hatte angenommen, ich hatte es perfektioniert. Auch wenn Josh im Allgemeinen immer noch ein introvertiertes Kind war, war er seit Marys Tod und unserem Umzug in die Baker Street wesentlich offener geworden. Ich vermute, der Grund dafür waren seine langen Ausflüge mit Holmes, während denen er mehr Leuten vorgestellt wurde, als er auch nur im Gedächtnis behalten konnte. Ich stellte mir vor, er würde seine Tante mit jener Dreistigkeit und jenem bestimmten Ausdruck in den blauen Augen studieren, die er in letzter Zeit übernommen hatte. Sie würde zwar zuerst kalt sein, aber sogar Abigail würde schließlich seinem Charme erliegen und innerhalb von Minuten würde sie ihn vor dem Kamin auf ihren Knien reiten lassen. Aber vielleicht sprach aus mir auch nur der Wunsch nach Frieden und Normalität. Denn in Wahrheit geschah alles ganz anders.
 

Die beiden betrachteten sich kurz und es herrschte tiefes Schweigen. Und dann war es Abigail, die den ersten Schritt machte. „Hallo, kleiner John“, sagte sie mit sanfter Stimme und einem freundlichen Lächeln. Sie wirkte fast traurig, als sie ihn ansah und streckte ihre Hand nach seinem Kopf aus.
 

Aber von den beiden war Josh der Kalte. Und tatsächlich wimmerte er und klammerte sich an meine Knie, wie um sich hinter mir zu verstecken. Ich war entsetzt. So hatte ich ihn noch nie erlebt. „Josh, deine Tante spricht mir dir“, versuchte ich, ihm einen Stoß zu geben.
 

„Hallo“, sagte er schließlich, aber es war kaum mehr als ein Flüstern. Und als sie die Hand nach ihm ausstreckte, wich er ihr aus und rannte zu Holmes. Mein Freund erlaubte dem Jungen, auf seinen Schoß zu klettern, wo er sich wie ein verwundetes Tier zusammenrollte. Den Blick, den Holmes meiner Schwester zuwarf, hielt ich zuerst für Triumph, Triumph angesichts seiner Herrschaft über den Jungen. Aber dann erkannte ich etwas anderes in den harten Linien seines Gesichts und seinen achtsam verengten Augen. Es war etwas, was ich auch in meinem Gesicht hätte sehen können, hätte ich in einen Spiegel geblickt. Es war der leidenschaftliche Wunsch eines Vaters, sein Kind zu beschützen.
 

„Du brauchst keine Angst zu haben, mein Junge“, sagte Holmes. Aber das war alles, was er sagte. Nichts, um das Kind zu ermutigen, seine Tante zu umarmen.
 

„Ich will dir nichts Böses, John junior“, sagte meine Schwester. „Ich bin deine einzige Tante. Und ich würde meinen einzigen kleinen Neffen gerne sehen.“
 

Josh starrte sie finster an und vergrub seine Faust noch fester in Holmes’ Jackett. „Mein Name ist Josh und nicht John junior. Und ich bin drei Jahre und drei Monate alt. Nur Babys sind klein.“
 

„Nun“, sagte Abigail. „Deine Manieren bedürfen dringend einer Verbesserung. Erstens einmal ist dein Taufname John, nach deinem Vater. Direkt aus der Bibel. Allerdings werde ich dich Josh nennen, wenn dir das lieber ist. Und mit drei ist man immer noch jung, Kind, ob du nun willst oder nicht.“
 

„Aber Onkel hat gesagt, dass das Alter nur eine Zahl ist. Und in meinem Geist bin ich viel älter als drei. Das muss stimmen, weil Onkel es gesagt hat. Er weiß alles, was es zu wissen gibt.“
 

Ich verzog das Gesicht, als der Junge das Wort ‚Onkel’ verwendete, aber meine Schwester ging glücklicherweise nicht darauf ein.
 

„Ich frage mich, Josh, ob du jemals das Sprichwort ‚Taten sagen mehr als Worte.’ gehört hast?“ Er nickte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob es tatsächlich stimmte. „Gut, dann kannst du es vielleicht in den nächsten Tagen beweisen. Es wäre eine perfekte Gelegenheit für uns beide, uns näher kennen zu lernen. Was sagst du dazu, John?“
 

Ich brauchte einen Moment, bis ich überhaupt erkannte, dass sie mich meinte. Mein Blick traf Holmes’. Ich wollte ihm am liebsten den Jungen abnehmen und ihr direkt ins Gesicht sagen, dass sie ihn niemals in die Finger kriegen würde. Sie konnte ihr Schlechtestes versuchen, aber zur Hölle mit ihr, wenn sie seinen wertvollen Geist vergiften würde. Aber bevor ich antworten konnte, schwang die Wohnzimmertür auf und Mrs. Hudson erschien mit einem großen Teeservice. Ich lächelte, als mir der Duft des immer noch warmen Zitronenkuchens in die Nase stieg. Es war Joshs Lieblingskuchen.
 

„Nun, John?“
 

„Ähm…ich weiß nicht, Abigail. Wohin willst du mit ihm gehen?“
 

„Heute ist Samstag. Und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, wäre demnach morgen Sonntag. Also…“
 

„Wollen Sie mit ihm in die Kirche gehen“, sagte Holmes.
 

„Kirche?“, piepste Josh und griff nach seinem Kuchen. „Mach das Spaß?“
 

„Kaum“, sagte Holmes höhnisch.
 

Abigail erstarrte mit der Teetasse an ihren Lippen. „Willst du mir etwa sagen, dass der Junge noch nie in der Kirche gewesen ist?“
 

„Natürlich war er das. Er kann sich nur nicht erinnern.“ Ich starrte Josh an in der Hoffnung, ihn mental irgendwie zum Schweigen bringen zu können. Dankenswerterweise war er zu sehr mit Tee und Kuchen beschäftigt, um mir zu widersprechen. Außerdem, war es die Wahrheit. Er war schon in der Kirche gewesen. Einmal und zwar zu seiner Taufe. Ich war mir nicht sicher, weshalb er seitdem nie mehr dort gewesen war. Das letzte Mal, an dem ich die Kirche besucht hatte, war zum Begräbnis meiner Frau gewesen. Ich denke, danach hatte ich meinen Glauben verloren. Aber dann erinnerte ich mich. Was gerade passierte. Ich konnte nichts tun, als ihr zuzustimmen. Nachgiebig zu sein. Abigail hatte alle Trümpfe in der Hand.
 

„Wenn du es wünscht“, sagte ich. „Auch wenn mir scheint, die Kirche ist nicht der recht Platz, um sich besser kennen zu lernen.“ Als ob sie das beabsichtigte.
 

„Danach könnten wir einen Spaziergang im Park machen.“
 

„Das würde mir gefallen“, sagte Josh, den Mund voller Kuchen.
 

„Schluck runter, bevor du sprichst“, tadelte ich ihn.
 

„Zu unserer Zeit sollten Kinder weder gesehen noch gehört werden.“ Sie nahm einen Schluck ihres Tees. „Ich vermute, du versuchst dich an einer neuen Erziehungsmethode?“
 

„Das ist wirklich nicht deine Angelegenheit.“ Ich knallte meine Tasse auf die Untertasse. Beinahe eine Spur zu heftig.
 

„Natürlich. Ich entschuldige mich.“ In eben jenem Moment schlug es zwei Uhr und meine Schwester stellte ihre Tasse hin. „Ich hab nicht auf die Zeit geachtet. Vielen Dank, Bruder, für diesen angenehmen Besuch, aber ich fürchte, ich muss nun zurück in mein Hotel. Ich denke, es wird mir helfen meine Gedanken zu ordnen, wenn ich einige Stunden in der Bibel lese.“
 

Ich stolperte auf die Füße und räusperte mich. „Kann ich…äh, wäre es dir Recht, wenn ich dir eine Kutsche rufe?“
 

„Papa”, sagte Josh und zerrte an meinem Ärmel. „Ich…ich muss mal.“
 

Ich seufze. Auch wenn er den Windeln nun schon seit etwa einem Jahr entwachsen war, brachte er dabei immer noch meine Hilfe. Ich wünschte mir nur, dass er bald wachsen würde. „In Ordnung, komm mit.“
 

„Ich werde Ihnen eine Kutsche rufen, Miss Watson”, meldete sich Holmes. Er sehnte sich vermutlich nach frischer Luft. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
 

„Ich werde den Jungen morgen so gegen neun Uhr abholen“, sagte sie. „Sei so freundlich und sorge dafür, dass er fertig ist.“
 


 

Ich ließ Josh am nächsten Morgen nur ungern mit meiner Schwester ziehen. Aber welche Wahl hatte ich schon? Sie hatte gestern zwar nichts über die Vormundschaft gesagt, aber außer der kurzen Unterhaltung im Flur hatte ich auch nicht allein mit ihr gesprochen. Und alles, was ich mit Holmes besprochen hatte, war mir noch sehr gut in Erinnerung geblieben. Ich vertraute ihr nicht. Ich war mir nicht sicher, ob ich es jemals wieder können würde. Aber ich musste den Frieden wahren. Vielleicht war das die einzig mögliche Lösung.
 

„Dir ist doch klar, Watson“, sagte Holmes, als wir spät am nächsten Morgen rauchend über unseren Zeitungen saßen. „Dass du nun schon seit fünfundzwanzig Minuten denselben Artikel liest.“
 

„Tatsächlich?“
 

Er sah mir über die Schulter und blies mir etwas Rauch ins Gesicht. „Und eine Parlamentsversammlung zur Budgetgenehmigung für einen indischen Kanal scheint mir kaum etwas, das so viel Grübelei erfordert.”
 

Seufzend warf ich die Zeitung beiseite. „Weißt du, eine Sache verstehe ich nicht.“
 

„Tatsächlich? Nur eine?“
 

Ich lächelte. „Meine Schwester ist ganz und gar nicht der mütterliche Typ. Wahrscheinlich weil sie die Jüngste war und Mutter niemals helfen musste. Aber selbst als wir noch Kinder waren, war sie eher eine Einzelgängerin. Außer meinem Vater öffnete sie sich niemandem. Ich verstehe einfach nicht, wieso sie sich auf einmal ein Kind wünscht.“
 

„Dieser Punkt erfordert zweifellos, überdacht zu werden.“
 

„Und was denkst du darüber?“
 

„Ich denke, dass du die falschen Fragen stellst. Warum sie den Jungen haben will, ist nicht so wichtig wie, wann sie ihn von dir verlangen wird.“
 

Ich erstarrte. „Aber ich dachte, es wären nur Mutmaßungen.“
 

„Die Mutmaßungen haben sich bewahrheitet.“
 

„Wann?“
 

„Gestern.“
 

„Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.“ Ich hasste es, wenn er sich so benahm. Wie er so ruhig sein konnte, war mir ein Rätsel. Auch wenn mir klar wurde, dass ich mich das in den letzten vierundzwanzig Stunden schon einmal gefragt hatte.
 

„Die Bibel“, sagte Holmes. „Dort auf dem Regal. Meiner Vorahnung folgend habe ich gestern darin nachgeschlagen. Das Buch Levitikus dürfte dich interessieren.“
 

Ich schnappte mir das ledergebundene Buch vom Sims und schlug das Alte Testament auf. Levitikus. Es war gekennzeichnet. Mit einem Eselsohr. Kapitel 20. Meine Augen überflogen den Text bis Vers 13. Er war mit roter Tinte eingekreist. Und dann blieb mir fast das Herz stehen.
 

Wenn ein Mann bei einem anderen Mann liegt, wie bei einer Frau, so haben sich beide auf gräuliche Weise vergangen; sie müssen gesteinigt werden, und ihr Blut möge über sie kommen.[2]
 

Ihr Blut möge über sie kommen.
 

„Hast du diese Stelle markiert, Holmes?“, fragte ich. Meine Stimme zitterte.
 

Er stand unmittelbar neben mir. Ich hatte ihn nicht einmal kommen gehört. „Das habe ich nicht“, sagte er. „Aber ich fürchte, wir beide wissen, wer es getan hat.“
 


 

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[1] Johannes 7:24
 

[2] Mit „Möge ihr Blut über sie kommen.“ ist übrigens gemeint, dass das vergossene Blut in diesem Fall nicht (wie z.B. bei einem Mord) nach dem Bluträcher ruft; das heißt es kommt nicht als rächende Macht über den Mörder, sondern bleibt sozusagen an dem Getöteten haften und weist ihn als schuldig aus. (= kleine Recherche des Übersetzers)

Hier kommt Kapitel 16 und der Konflikt mit Abigail geht langsam seinem Höhepunkt entgegen.

Im Übrigen bin ich sehr zuversichtlich, dass nächste Kapitel (eines meiner Lieblingskapitel, wohlgemerkt) noch vor Weihnachten fertig zu kriegen.
 

Josh kehrt kurz nach Mittag zurück, rannte durch die Wohnzimmertür und wirkte vollkommen gesund und zufrieden. Warum ich etwas anderes erwartet hatte, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich war zumindest ein wenig erleichtert. Nach dem, was sie mit der Bibel getan hatte, hatte ich befürchten, sie könnte sich einfach Josh schnappen und wäre auf und davon. In den letzten Stunden hatte ich einsam aus dem Fenster hinaus auf die Baker Street, hinaus auf die Zivilisation gestarrt. Aber auch wenn ich hinaus blickte, so sah ich doch in Wirklichkeit nichts davon. Meine einzigen Gefährten waren ein halbes Dutzend starker Zigarren. Normalerweise war ich kein Mann, der es genoss die Atmosphäre eines Zimmers mit mehr Toxin als Sauerstoff zu füllen, (das überließ ich Holmes), aber an jenem Tag tat ich es dennoch. Nichts als der schwere graue Dunst, der durch die Fenster strömte und die grässlichen Gedanken, die meinen Geist plagte, konnten mich erreichen. Das heißt, bis sich die Tür öffnete und Josh hereinstürzte.
 

„Ich bin zuhause, Papa“, verkündete er höchst überflüssig. „Und Onkel hatte Recht. Die Kirche war sehr langweilig.“
 

Das Geräusch seiner trampelnden Füße holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ihn wieder hier vor mir zu sehen, besänftigte meine düsteren Gedanken ein wenig. „Oh, Josh…Gott sei dank. Aber wo ist deine Tante? Ist sie nicht mit dir mitgekommen?“
 

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sagte, ich soll dir ausrichten, dass sie zurück nach Hause gefahren ist.“
 

Holmes hatte, bald nachdem er mir Abigails Werk an der Bibel gezeigt hatte, irgendetwas darüber gemurmelt, dass er etwas überprüfen müsse und war ohne Hut und Mantel nach draußen in die nächste Kutsche gerauscht. Nun stürzte er zurück in den Raum, die Augen weit aufgerissen wie die eines Wahnsinnigen. Aber ich machte mir keine Sorgen. Es war ein gewohnter Anblick. Er erschien immer dann auf seinem Gesicht, wenn er fühlte, dass das Ende eines Falles unmittelbar bevorstand. Aber im selben Moment als seine Augen auf Josh fielen, schien er seine vollkommene Beherrschung wiederzuerlangen. Mit einem tiefen Seufzen, das er vergeblich zu verbergen suchte, schloss er die Tür und schenkte dem Jungen ein Lächeln. „Ich bin überzeugt, du hast getan, worum ich dich gebeten habe. Nicht wahr, Junge?“
 

„Ja, Onkel. Aber sie hat mir nichts erzählt. Nur einmal hat sie richtig traurig ausgesehen. Und zwar als wir die Vögel im Regent’s Park beobachteten. Sie sagte, dass ich Glück habe. Und als ich zu ihr aufsah, schien sie ganz traurig. Aber sonst hat sie nichts gesagt.“
 

Mein Blick wanderte von dem Jungen zu Holmes. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich.
 

„Nur ein kleines Experiment, Watson“, sagte mein Freund. „Hat sie dir sonst noch irgendetwas erzählt, John Sherlock?“
 

„Sie hat erzählt, wo sie lebt. Und von Gott. Und dem Himmel. Ich hab ihr erzählt, dass meine Mutter und meine Schwester dort sind…“
 

„Irgendetwas anderes? Irgendetwas anderes, das dir seltsam vorkam?“
 

Josh kniff die Augen zusammen und überlegte so fest wie er konnte. „Nein, Sir…oh, warte. Einmal hat sie mich Harry genannt. Als wir bei der Brücke waren. Sie sage: ‚Wir sollten uns beeilen, Harry.’ Ich sah sie an und sie schüttelte den Kopf und sagte: ‚Gehen wir, Josh.’ Sie wirkte, als wäre nichts passiert und als hätte sie mich nie Harry genannt. Aber ich weiß, dass sie es getan hat!“
 

Holmes vertiefte sich in die Informationen und der vertraute Ausdruck erschien wieder auf seinem Gesicht. „Und du bist dir sicher, dass es der Name Harry war?“
 

Josh nickte, aber ich war völlig verwirrt. „Warte, Holmes…Was hat das zu bedeuten? Was heckst du mit meinem Sohn zusammen aus? Was auch immer es ist, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich einweihen würdest.“
 

„Du könntest es eine Vorsichtsmaßnahme nennen“, erklärte er mit der Andeutung eines Lächelns. „Und ich verspreche, dich einzuweihen, sobald es notwendig ist.“
 

„Aber wieso sollte Abigail Josh beim Namen meines Bruders rufen? Was soll das bedeuten?“
 

„Ich hatte gehofft, du würdest es wissen. Der Name deines Bruders war Harry?“
 

„Ja. Nun, eigentlich Henry“, antwortete ich. „Wir riefen ihn manchmal Harry. Aber es ist seltsam, dass sie ihn so nennen sollte. Ich meine, zuallererst einmal sieht Josh Henry überhaupt nicht ähnlich. Und er war bereits zehn Jahre alt, als Abigail geboren wurde. Sie standen sich nicht im Geringsten nah. Was für eine seltsame Aussage!“
 

„Ein Versprecher“, murmelte Holmes. „Es könnte alles aber auch nichts bedeuten. Die Zeit wird uns vielleicht die Wahrheit zeigen. Aber im Moment…“ Er hob den Jungen in seine langen Arme. „Haben John Sherlock und ich einige chemische Gleichungen zu lösen.“
 

„Aber Holmes!“, rief ich. „Was ist mit…nun, mit dem, was du mir gestern erzählt hast. Über…den Grund für Abigails Hiersein?“
 

Er drehte sich um, auf seine Gesicht ein Ausdruck tiefster Konzentration. „Wenn ich du wäre, Watson, mein Freund, würde ich es nicht für einen Augenblick vergessen.”
 


 

Holmes’ Pessimismus machte mich rund um die Uhr angespannt und ich erwartete ständig ein Telegramm von meiner Schwester oder – noch schlimmer – einen weiteren Besuch. Ein Teil von mir sehnte sich schon beinahe danach und sei es nur, um die unerträgliche Ungewissheit zu beenden. Aber ein anderer Teil von mir, der Teil, der Holmes’ Intuition voll und ganz vertraute, hoffte, dass alles vorüber war, bevor es noch richtig begonnen hatte.
 

Ich hätte es besser wissen sollen.
 

Zwei Monate später, nach einem Brief und zwei Telegrammen, die alle nicht beantwortet worden waren, versuchte ich alles, was geschehen war, aus meinen Gedanken zu vertreiben und wieder positiv zu denken. Ich assistierte Holmes sogar in dem Mord an Jonas Oldeacre (der schließlich doch keiner war). Später veröffentlichte ich diesen Fall unter dem Titel ‚Der Baumeister aus Norwood’.
 

Aber mir ging es wie einem Kind, dass glaubt, wenn es nur die Augen offen hält, könne es den Schlaf fernhalten: Das Unvermeidliche sollte sich schon bald ereignen. Zwei Monate waren vergangen und die bitteren Klauen des Winters wichen langsam der süßen Wiedergeburt des Frühlings. Der Frühling in London ist für mich normalerweise die schönste Jahreszeit. Die Epidemien des Winters neigen sich dem Ende zu und die Einwohner der Stadt scheinen aus ihrem Winterschlaf zu erwachen. Lachende Kinder laufen vorüber, Frauen mit Kinderwägen zeigen sich wieder auf den Straßen, die Männer gehen wieder aufrecht und plaudern auf der Straße, anstatt nur tief in ihren Schals verborgen aneinander vorbeizueilen. Und vielleicht erklärt meine Liebe zu alldem die Ironie, dass ich am ersten Morgen dieser neuen Jahreszeit zu einem der schlimmsten Tage meines Lebens erwachte.
 

Holmes war in seltsamer Stimmung. Sein Erfolg im Norwoodfall war noch frisch und er schien mir auch recht ausgelassen, allerdings hatte ich trotzdem den Verdacht, dass er sich im Hinterkopf immer noch große Sorgen wegen meiner Schwester machte. Und es war nicht nur um Joshs und meinetwillen. Auch für ihn stand viel auf dem Spiel. Und vielleicht erklärte das die Kirschholzpfeife, die von seinem Mundwinkel hing. Er bevorzugte sie, wenn er in streitsüchtiger Stimmung war.
 

Er blickte zu mir auf, als ich das Wohnzimmer betrat, hielt sich allerdings nicht mit etwas wie einem ‚Guten Morgen’ auf. Auch ohne die Pfeife wäre es offensichtlich gewesen, dass ihn etwas bekümmerte. In seiner Hand hielt er die Morgenausgabe der Times und starrt zornig auf irgendetwas darin. Seine Gesichtsfarbe war noch bleicher als sonst.
 

„Was ist es?“, fragte ich, während ich mir einen starken Kaffee einschenkte.
 

Er antwortete nicht, also schenkte ich auch ihm eine Tasse ein und ging zu ihm hinüber. „Holmes? Stimmt etwas nicht?“
 

Er zuckte leicht zusammen, so als überraschte es ihn, mich direkt neben seinem Sessel zu sehen. Während er die Zeitung in einer Hand zerknüllte, nahm er mir den Kaffee ab und hastete eilig zum Tisch. „Nein, es ist nichts.“
 

Ich konnte mich des Gefühls nicht erwähren, dass er etwas absichtlich vor mir verbarg. „Also Holmes…“, begann ich.
 

Aber ich bekam niemals die Gelegenheit, meinen Satz zu beenden. „Der Brief traf nur Minuten vor dir hier ein, Watson, falls es dich interessiert.“ Er deutete auf den Haufen unter den zerstreuten Überresten der Zeitung.
 

Ich gab ihm mit einem langen Blick zu verstehen, was ich von seinem Verhalten hielt, aber er tat so, als bemerke er ihn nicht. Also schüttelte ich bloß den Kopf und begann in den Briefen zu wühlen, die allesamt an Holmes adressiert waren. Das heißt, alle außer dem letzten Brief, der meinen Namen trug.
 

Er war aus Kent und in der ersten Sekunde war ich sicher, nun endlich einen Brief meiner Schwester in Händen zu halten. Das heißt, bis ich genauer hinsah und mir fast das Herz aussetzte.
 

„Großer Gott…nein.“
 

„Was ist es?“, fragte Holmes.
 

„Es ist eine Vorladung. Eine Vorladung des Gerichts in Kent.“ Ich riss den Brief auf und überflog ihn. Ich war zu erschüttert, um ihn genau lesen zu können. Als meine Hand schließlich so heftig zu zittern begann, dass ich kein einziges Wort mehr ausmachen konnte, riss Holmes ihn mir aus den Händen und las ihn selbst. Er stützte sich auf einen Stuhl und rauchte immer noch jene verdammte Pfeife.
 

„Also was schließt du daraus?“, fragte ich nach mehreren Sekunden des Schweigens.
 

„Es scheint“, sagte Holmes. „Dass du durch diesen Brief gezwungen werden sollst, am Dreißigsten dieses Monats einem Prozess beizuwohnen. Eine gewisse Abigail A. Watson hat die Absicht, dein Recht auf die Vormundschaft für den Minderjährigen, John Sherlock Watson, anzufechten. Weiterhin heißt es, du hättest das Recht auf einen Anwalt und solltest du dich weigern zu erscheinen…etcetera, etcetera. Hmm…das ist interessant, Doktor. Deine Schwester hat es vorgezogen ihre Klage bei dem Gericht von Kent einzureichen, anstatt es hier in London zu tun.”
 

„Was…warum ist das interessant?“
 

„Nun, trotz der Maxime ist Justitia kaum einmal blind. Und die Geschichte des Rechts zeigt uns, dass kleinere Gerichte anscheinend dazu neigen, konservativer zu sein, was uns in diesem Fall nicht unbedingt zugute kommen würde. Außerdem bist du in London bekannt und bei einer Verhandlung hier könntest du durch deine Berühmtheit einen Vorteil gewinnen. Im Übrigen“—
 

„Es ist mir egal!“, schrie ich. „Es ist mir egal, ob sie mich in Kent, London oder Timbuktu verklagt! Verdammt noch mal, Holmes, wie kannst du so ruhig sein und die wahnsinnigen Taten meiner Schwester analysieren? Sie versucht mir mein Kind wegzunehmen! Sie wird entweder Josh nehmen oder unsere Namen ruinieren!“
 

„Beruhige dich, Watson. Es ist noch viel zu früh am Morgen für so hohen Blutdruck.“
 

Aber ich war fast schon in Panik. Wie hatte das passieren können? Wie hatte ich zulassen können, dass das passiert war? „Ich muss fort“, begann ich. „Ich könnte mit Josh das Land verlassen. Vielleicht wenn ich nach Schottland gehe…oder sogar zurück nach Indien…“
 

„Sei kein Narr“, rief Holmes. „Erkennst du nicht, wie schuldig du wirkten würdest, wenn du fliehst?“
 

„Was für eine Wahl habe ich denn schon?!“ Ich fühlte einen dumpfen Schmerz in meiner linken Handfläche und sah, dass ich mit meiner rechten Faust heftig dagegen geschlagen hatte.
 

„Eine weit vernünftigere als zu fliehen. Nun, Doktor, vertraust du mir?“
 

„Natürlich.“ Ich zögerte keine Sekunde.
 

„Dann musst du genau tun, was ich dir sage. Und wenn du das tust, dann verspreche ich dir, dass alles ein gutes Ende nehmen wird.“
 

Ich holte tief Luft. „In Ordnung, mein Freund. Sag mir, was ich tun soll.“
 

Er klopfte mir auf die Schulter. „Sehr gut. Nun, zuerst einmal geh zum Schreibtisch und nimm ein Telegrammformular.“
 

„Ein Telegrammformular?“ Das war der letzte Befehl, den ich von ihm erwartete hätte.
 

„Ja. Adressiere es an deine Schwester in Kent. Und dann schreib das: ‚Schreiben über Vormundschaftsklage erhalten – stopp – müssen uns treffen – stopp – komm heute nach London – stopp – nimm den 1:45 Zug und komm in die Vorhalle des Albert Hotel – stopp – werde dich dort empfangen – stopp.’“
 

Ich schrieb genau, was er mir diktierte. Meine Feder zitterte. „Woher willst du wissen, dass sie kommen wird?“
 

„Füge das als Postscript hinzu: ‚Abigail – stopp – wenn du nicht einwilligst – stopp – werden Holmes und ich mit Josh fliehen und du wirst uns niemals wieder sehen – stopp.’“
 

„Werden wir das wirklich?“
 

Er zögerte einen Augenblick. „Natürlich nicht. Aber das kann sie nicht wissen.“
 

Ich bekam das Gefühl, als wäre mit mir und Josh zu fliehen, ganz genau, was er sich innerlich wünschte, aber ich sagte nichts. „Aber was soll ich ihr erzählen, wenn wir uns im Albert treffen?“
 

„Watson, Watson…wir werden überhaupt nicht im Albert sein.“
 

„Werden wir nicht?“
 

„Natürlich nicht! Es ist nur eine Finte, Doktor, um sie aus Kent wegzulocken. Um uns Zeit zu geben.“
 

„Zeit wofür?“
 

Er starrte mich an, als wäre es vollkommen offensichtlich. „Zeit um sie aufzuhalten natürlich.“
 

„Aber wie?“
 

„Nein, das wirst du noch früh genug erfahren. Jetzt schickt das Telegramm sofort ab.“
 


 

Die nächsten paar Stunden vergingen so schnell, dass mir hinterher alles wie ein einziger verschwommener Fleck vorkam. Ich erinnere mich nur noch deutlich daran, dass Holmes und ich uns schließlich in einem größtenteils leeren Zwei-Uhr-Zug nach Kent befand, Gott allein wusste, was uns bevorstehen sollte.
 

„In Ordnung, Holmes“, sagte ich, als ich die Ungewissheit schließlich nicht länger ertrug. „Vielleicht wäre jetzt endlich ein angemessener Zeitpunkt, mir zu erklären, was ich hier überhaupt tue. Warum gehe ich zurück nach Kent, zu der Heimat meiner Kindheit, einem Platz, an den ich mir schwor niemals mehr zurückzukehren?“
 

„Es ist für dich ein Ort voller unangenehmer Erinnerungen?“, fragte Holmes.
 

„Nun…ich vermute, die Heimat jeder Kindheit verbirgt zumindest ein paar unangenehme Erinnerungen“—
 

„Ein paar mehr als es gerecht wäre.“
 

Ich blinzelte mehrmals und versuchte diese rätselhafte Bemerkung zu begreifen. „Ja…ich vermute.“
 

Holmes räusperte sich und lehnte sich näher zu mir, anscheinend begierig das Thema zu wechseln. „Der einzige Weg, wie wir deine Schwester zur Aufgabe zwingen können, ist Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Das Problem dabei ist nur, dass sie die einzige Fackel hält. Daher müssen wir unsere eigene Flamme finden. Und hoffen, dass sie heller und großer ist als die ihre. Und ich habe den Verdacht, dass wir durchaus eine finden könnten.“
 

Ich sollte vielleicht anmerken, dass ich es zeitweise verdammt noch mal hasste, wenn er sich wie die Sphinx ausdrückte. Immer in Rätseln. Aber ich denke, dass ich seinen Worten dennoch etwas Sinn abgewinnen konnte. „Du meinst – zumindest denke ich, dass du das tust – dass wir etwas über meine Schwester herausfinden müssen, das wir gegen sie benutzen können?“
 

„Exakt.“
 

„Oh, aber Holmes! Sei doch vernünftig! Was könnte es in Abigails Leben schon geben, mit dem wir sie erpressen könnten? Meine Schwester hat niemals irgendetwas getan. Überhaupt nichts. Was hoffst du zu finden?“
 

„Watson, ich dachte, du hättest gesagt, dass du mir vertrauen würdest.“
 

„Das tue ich, aber“—
 

„Dann tu es auch, mein lieber Doktor. Du musst daran glauben, dass ich dich da rausholen werde.“
 

Unsere Blicke trafen sich einen endlosen Moment lang. „Wirst du das?“, fragte ich.
 

Er nickte. „Natürlich. Auf mein Wort. Solange du mir vertraust und deinen Glauben nicht verlierst.“
 

Glaube. Meinen Glauben hatte ich schon verloren. Aber nicht den Glauben an diesen Mann. „‚Ich bin bei dir, wie ich es immer gewesen bin’[1]“, sagte ich zu ihm.
 

Er lächelte mich an. „Du bist würdig, Bertuccio.“
 

Und dann wandten wir uns der vorbeiziehenden Landschaft zu; wir verfielen in Schweigen, so als ahnten wir, was uns an jenem Tag noch bevor stehen würde.
 


 

Seit dem Tod meines Bruders vor beinahe dreizehn Jahren war ich nicht mehr zuhause gewesen und doch wirkte alles so wie früher. Der Bahnhof von Canterbury war nur einen kurzen Fußmarsch vom Haus entfernt und weil das Wetter für März ungewöhnlich warm war, nahmen wir unsere Beine in die Hand und machten uns auf den Weg heimwärts…zum Haus. Ich deutete auf die Papiermühle, wo sowohl mein Onkel als auch mein Vater beinahe jeden Tag gearbeitet hatten, und auch auf das alte Schulhaus und auf die Häuser von alten Freunden.
 

Es war wie eine Reise zurück in meine Kindheit. Ich führte Holmes auf einen Pfad durch die Wälder, die unser Anwesen umgaben. Ich erzählte meinem Freund von dem Wetter. „Wir haben das zweifelhafte Vergnügen, im Sommer der heißeste und im Winter der kälteste Flecken in ganz England zu sein. Außerdem werden wir gewöhnlich auch als der windigste angesehen und Überflutungen sind im Herbst nichts Ungewöhnliches…“ Ich verlor mich in leerem Geschwätz und wusste es auch, aber die Bäume riefen mich. Erzählten die Geschichten meiner Vergangenheit.
 

„Du bist, Johnny!“
 

„Bin ich nicht!“
 

„Ich kann schneller laufen als du, Georgie!“
 

„Harry, gibst du uns das Signal?“
 

„Auf die Plätze…fertig…los!“
 

Aus den kühlen Schatten am Westrand des Grundstücks traten wir nun hinaus ins helle Sonnenlicht. Da stand es, so wie es immer gewesen war. Das Haus meines Vaters war sehr typisch für Kent, es war ein Fachwerkbau mit ausladenden Dachkanten und dem steilen Dach mit den roten Ziegeln. Es stand am Fuß eines Hügels, nur Schritte von dem See entfernt, dessen Ufer praktisch direkt vor der Hintertür begann. Amelia Lake, wie wir ihn nach der Mutter meines Vaters getauft hatten. Sein Bruder und seine Schwägerin sowie meine Cousins hatten gleich auf der anderen Seite des Hügels gewohnt, nur eine Viertelmeile entfernt. Das Wasser schimmerte in der Kälte des Winters silberblau, doch es war nicht die kühle Luft die mich frösteln ließ. Ich fürchtete diesen See immer noch.
 

„Erzähl mir davon“, sagte Holmes.
 

Ich drehte mich hastig um. „Was?“
 

„Von eurer Kindheit. Deiner und der deiner Schwester.“ Er tippte sich an die Stirn. „Ich muss euch beide als Kinder sehen können; die Ereignisse verstehen, die euch zu den Menschen gemacht haben, die ihr heute seid.“
 

Ich wand mich wieder dem See zu. Und war wieder dreizehn. Hörte die Schreie.
 

„Johnny! Johnny, hilf mir!“
 

„Abby!“
 

Ich rannte auf sie zu und riss den Kopf zu meinem Cousin George herum. „Hol deinen Pa, Georgie!“ Er verschwand. Der schnellste Läufer in der Familie, auch wenn er im Kopf etwas langsam war.
 

Harry war weg. Papa war krank. Ich war der Mann der Familie. „Ich komme, Abby!“
 

Das Wasser war kalt. Es war so kalt. Was tat sie nur in diesem kalten Wasser? Meine Füße wurden schwer. Ich hätte meine Stiefel ausziehen sollen. Das Wasser erreichte meine Knie, meine Taille, meine Brust. Ich konnte nicht atmen. Aber ich musste. „Ich…ich komme, Abby…“
 

Meine Arme waren schwer. Konnte sie kaum bewegen. Ich war der beste Schwimmer in der Familie. Harry konnte nicht einmal auf dem Wasser treiben und Abby…
 

„Ich komme…“
 

„Johnny…ich…beeil dich…“
 

Das Wasser tropfte mir von meinen Haaren in die Augen. Es brannte. Aber sie war direkt vor mir. Sie war ein furchtbarer Schwimmer. Und hörte nie zu. Ich versuchte ihren Arm zu packen, aber griff ins Leere. Ich ging unter. Es war dunkel. Meine Lungen verwandelten sich zu Eis. Keuchend streckte ich die Hände aus. Ihr Arm schlug nach mir, während sie verzweifelt strampelte. Wieder ging ich unter. Vor meinen Augen wurde es rot und grau und schwarz…
 

Abby…
 

Mein Arm schoss hervor. Er stieß auf etwas Hartes. Meine Hand packte zu. Sie war es. Es war ihr Handgelenk. Ich hatte sie.
 

Schwimmen…
 

Schwimmen…
 

Meine Stiefel stießen auf Grund.
 

Und dann hatte mich jemand.
 

„Oh, Johnny…mein Liebling, bist du in Ordnung? George…ist er in Ordnung?“
 

„Es wir ihm gut gehen, Anne“, sagte mein Onkel. „Es wird ihnen beiden gut gehen.“
 

Ich war in eine Decke gewickelt und das Wasser tropfte von meinen Haaren. Ma hielt mich im Arm und küsste mich. „Johnny, du bist ein Held, ein echter Held.“
 

Sie wand sich an Abby. Auch sie war eingehüllt und lag frierend auf dem Bett. „Wie konntest du nur so etwas Närrisches tun, Mädchen? Wie konntest du? Wenn dein Bruder nicht gewesen wäre, würdest du tot sein!“
 

„‚Wenn dein Bruder nicht gewesen wäre’“, wiederholte Holmes. „Du hast dein eigenes Leben riskiert, um das deiner Schwester zu retten.“
 

„Mutter war mit meiner Schwester immer am strengsten. Und Abigail war wütend auf sie. Sie würde es nicht zugeben, aber ich weiß, dass es so war. Ich war ein Held in Ma’s…in den Augen meiner Mutter. Und Abby konnte sie wieder einmal nicht zufrieden stellen. Ich fürchte, dass konnte sie nie.“
 

Holmes nickte langsam und für einen Moment betrachteten wir beide die zerklüfteten Wellentäler, die der Wind in die Wasseroberfläche grub. Der Tag hatte gerade erst begonnen. Ich spürte die Hand meines Freundes auf meiner Schulter. „Komm“, sagte er.
 

„Wohin? Ins Haus?“
 

„Noch nicht. Auf die andere Seite des Grundstücks.“ Er hob seinen Stock vom Boden und eilte mit raschen Schritten davon.
 

Ich wollte nicht dorthin. Ich wusste, was sich dort befand. Aber Holmes war schon mit großer Geschwindigkeit hinter der rechten Seite des Hauses verschwunden. Ich stopfte meine Hände in die Manteltaschen und kämpfte gegen den Wind an, um ihm zu folgen. Die Luft roch nach Gras und Kiefernnadeln. Veränderte sich denn gar nichts?
 

Auf der rechten Seite hinter dem Haus lag der Familienfriedhof. Im Gegensatz zu dem vieler anderer Familien reichte der unsere nur zwei Generationen in die Vergangenheit zurück, denn mein Großvater war nach England gekommen, als mein Vater noch in den Windeln lag. Er und mein Onkel George hatten sich benachbartes Land in Kent erworben, schottische Schwestern geheiratet, eine Familie gegründet und sich dann in ihr frühes Grab getrunken. Mein Bruder Henry hatte nicht das Glück gehabt, ihrem Vermächtnis zu entkommen. Doch ich war verschont geblieben.
 

„Und das sind alles Familiengräber, Watson?“, fragte Holmes, als ich ihn schließlich eingeholt hatte. Er schritt langsam von einem Grabstein zum anderen.
 

„Ja. Hier liegen mein Vater und meine Mutter“, sagte ich und deutete auf zwei Grabsteine. Sie waren beide ein wenig mit Moos überzogen, was mich erstaunte, denn normalerweise war Abigail fast schon fanatisch reinlich. „Neben meinem Vater liegen mein Onkel George, er starb nur zwei Jahre nach seinem älteren Bruder, und seine Frau Jane, die Schwester meiner Mutter. Neben Jane liegt mein Cousin Bennie.“—Ich hielt inne, um den ältesten Grabstein zu betrachten. Bennie war im Alter von acht Jahren an den Röteln gestorben. Er und ich waren ständig zusammen gewesen und er ist auch der Cousin, den ich schon früher im Hinblick auf meine Arbeit als Mediziner erwähnte. Benjamin George Watson – unser kleiner Engel…
 

„Und…hier, hier liegt Harry…mein Bruder, Henry.“ Ich wand mich ab. Sein Grab schmerzte fast mehr als alle anderen. Er war für mich mehr ein Vater gewesen als der, der mich gezeugt hatte. Aber er war tot. Sie alle waren tot. Sogar Mary, auf dem kalten Friedhof der St. Paul’s Cathedrale in London. Und Josh könnte der Nächste sein. Dann wäre ich wahrhaftig allein…
 

„Es tut mir Leid, Watson.“
 

„Was tut dir Leid, Holmes?“
 

Er berührte kurz meinen Arm. „Das kann nicht leicht für dich sein.“ Und dann, bevor ich antworten konnte, war er auch schon wieder fort, schlenderte zum Rand des Anwesens. Während er in Gedanken zweifellos alle Einzelheiten über diese heilige Erde durchging, blieb er plötzlich stehen und winkte mich mit einer Hand zu sich.
 

„Und wessen Grab ist das?“, fragte er und deutete mit der Hand auf den Boden.
 

Ich blickte zu Boden. Zuerst hatte ich nicht die geringste Ahnung, wovon er überhaupt sprach. Da war kein Grabstein und folglich auch kein Grab. Aber als ich genauer hinsah, wozu mich Holmes ständig aufforderte, bemerkte ich eine kleine Erhebung. Und nicht nur das. Der Boden war kahl und von brauner, trockener Erde bedeckt. Kein Gras, keine Wurzeln, ja überhaupt keine Pflanzen wuchsen hier. „Ich habe diese Stelle noch nie zuvor gesehen“, erklärte ich meinem Freund. „Aber es muss sicherlich sehr alt sein. Und es kann nicht das Grab eines Menschen sein. Es gibt keinen Grabstein. Vielleicht ein Tier?“
 

„Das denke ich nicht, Doktor“, sagte Holmes, während in die Hocke ging und mit seiner behandschuhten Hand über den Erdhügel strich. „Wenn hier ein Tier begraben läge, würde diese Stelle wohl kaum so sorgfältig freigehalten.“ Er hielt inne und betrachtete die übrigen Gräber der Familie mit ausgestrecktem Arm. „Hmm…“, überlegte er. „Es liegen mindestens sechs Klafter zwischen den Gräbern deiner Familie und diesem hier. Es scheint fast so, als wollte jemand dieses Grab absichtlich nicht bei den anderen haben.“
 

„Aber warum um Himmelswillen…“
 

„Es ist erstaunlich.“ Er sprang auf die Füße und klopfte sich auf seine typische, eitle Art den Schmutz von der Kleidung.
 

„Was soll das heißen? Und was glaubst du, hier herauszufinden? Sollten wir nicht ins Haus gehen?“ Es war kälter geworden, denn der Abend war näher gerückt und ich konnte eine beißende Kälte durch den Stoff meines Mantels fühlen.
 

„Du hast vollkommen Recht“, sagte Holmes. „Lass uns unsere Suche drinnen fortsetzten.“
 

„Fortsetzen?“ Mir war nicht klar gewesen, dass sie überhaupt begonnen hatte. Aber wieder einmal war Holmes vorausgeeilt. „Was soll die Hast?“, fragte ich, als ich ihn eingeholt hatte. „So wie du herum hetzt, hat man ja das Gefühl, wir wären auf einer Besichtigungstour.”
 

„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Watson.“
 

Wir gingen durch die Eingangshalle in die spärlich erleuchtete Küche. Abby hatte sich noch immer kein Gas legen lassen, obwohl ich es ihr schon vor Jahren angeboten hatte. Die Vorhänge sperrten die Sonne aus und ich bemerkte sofort die langen, dunklen Schatten, die Holmes und ich auf den Holzboden warfen.
 

Alles im Haus wirkte blitzblank. Und wegen Abigails unglaublicher Sparsamkeit war der Großteil des Hauses noch genau, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ma’s altes Spinnrad stand immer noch in der Ecke. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, wie viel es benutzt worden war; in das Schwungrad hatten sich Fingerabdrücke eingegraben. Auf dem Wasserhahn konnte man immer noch dieselben alten Rostflecke erkennen und der hellgelbe und rote, gewebte Teppich, der den Boden der Vorhalle bedeckte, schien für immer durch die Fußspuren meiner ganzen Familie abgewetzt. Ich konnte hören, wie das Haus aus der Stille zu mir sprach. Und das tat es wirklich:
 

Wir kamen aus der Stadt herein gerannt. Es war nur eine Meile bis zur Schule und wir rannten immer: meine Cousins George, Basil und ich.
 

Ma hatte an jenem Tag gerade frisches Brot gebacken. Es gibt keinen Duft, der so göttlich ist wie der von frischem Brot. Das Aroma erfüllte meine Nase mit Hitze, Süße und frisch aufgegangenem Sauerteig. Das Wasser lief mir im Munde zusammen.
 

„Zieht die dreckigen Schuhe aus, ihr Lümmel!“, befahl Ma.
 

Aber sie lächelte mich an, wie es Mütter ständig tun. Sie war mit dem Schlagen von Butter beschäftigt. Ihre Haut selbst hatte die sanfte Farbe von Butter, bevor die Karotten hineingemischt wurden, um sie gelb zu färben. Alabasterweiß. Auch Stunden in der Sonne ließen sie nicht dunkler werden.
 

„Hungrig, Jungs?“
 

„Ja, Ma’am“, riefen wir.
 

Wir nahmen uns dicke Scheiben des immer noch warmen Brotes, über und über beladen mit der frischesten Butter. Es fühlte sich auf der Zunge wie Samt an.
 

„Ma, dürfen wir vor dem Abendessen fischen gehen?“, fragte ich.
 

Sie lächelte wieder. „Natürlich.“
 

Abigail kam hereingestürmt. Ich war etwas besorgt, dass sie keine Cousinen in ihrem Alter hatte, mit denen sie Freundschaft schließen konnte, aber ich war ein Junge – gerade erst zwölf oder dreizehn Jahre alt. Und kein Junge in diesem Alter will etwas mit seiner Schwester zu tun haben. „Du kannst nicht mitkommen, Abby“, hatte ich schon gerufen, bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte.
 

„Mutter! Warum darf ich nicht?“
 

„Lass die Jungs in Ruhe, Kind. Du machst dich doch nur schmutzig. Und außerdem bist du noch nicht mit deiner Flickarbeit fertig.“
 

Georgie und ich gingen nach draußen, aber Basil blieb im Haus. Er war der Älteste von uns allen – fast schon sechzehn und hatte die Schule in Canterbury beinahe schon abgeschlossen. „Geh nicht, Basil“, sagte Abby. Er würde bald auf die höhere Schule in Edinburgh gehen. Abigail hatte die ganze Nacht geweint.
 

„Keine Angst, Mädchen“, sagte mein Cousin. „Ich werde hier bleiben und dir Gesellschaft leisten.“
 

Und so holten Georgie und ich unsere Angelruten ohne ihn.
 

Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich mich an diesen Abschnitt meines Lebens nicht nur erinnerte. Ich sprach es laut.
 

„Verzeihung, Holmes“, sagte ich, als ich bemerkte, wie intensiv er mich betrachtete. „Aber dieser Ort beschwört einfach Erinnerungen herauf, die ich schon lange vergessen glaubte.“
 

„Nein, nein“, antwortete er. „Sprich nur weiter. Das menschliche Gehirn, Watson, ist wie das vollkommenste Archiv für Informationen. Du legst die Daten darin ab, ohne zu wissen warum und sie treten wieder hervor an Zeitpunkten, die wir zunächst nicht verstehen, aber ich versichere dir, es gibt einen Grund. Es gibt immer einen Grund. Und deshalb bitte ich dich inständig, weiter zu sprechen. Sprich alles aus, was dir dieses Haus wieder in Erinnerung ruft.“
 

Ich nickte, aber war mir nicht im Geringsten sicher, wie begierig ich darauf war, einfach so über meine Vergangenheit zu schwatzen. Es war nicht so, dass ich wirklich viel zu beklagen hatte und tatsächlich hatte ich im Vergleich zu vielen anderen eine durchaus glückliche Kindheit gehabt. Aber trotzdem wäre es eine furchtbare Unwahrheit gewesen, Holmes nun in Seelenruhe mit Dutzenden Anekdoten aus meiner Kindheit zu unterhalten und ich würde nicht so tun, als sei alles in bester Ordnung. Das hier war kein fröhlicher kleiner Ausflug. Und ich konnte ihn auch nicht so behandeln.
 

Ich konnte aus dem Wohnzimmer die Kaminuhr hören, die die Stunde schlug. Ich hatte die Uhr vergessen. Mein Vater hatte sie meiner Mutter an ihrem ersten Hochzeitstag gekauft. Es war ihr vermutlich das liebste Stück im ganzen Haus gewesen. Jeden Abend hatte sie sie aufgezogen und jeden Sonntag so lange poliert, bis ich in dem streifenlosen Glas mein eigenes Spiegelbild betrachten konnte.
 

Neben der Uhr hingen mehrere Familienportraits. Abigail hatte eines, das auch ich selbst besaß, das einzige Bild der gesamten Familie, aufgenommen, als ich etwa zehn Jahre alt war. Daneben hing eines von meiner Mutter und meinem Vater: das einzige, auf dem sie beide zusammen zu sehen waren, aufgenommen kurz nach ihrer Hochzeit. Auf der anderen Seite hingen meine Tante und mein Onkel Watson und die zwei überlebenden ihrer drei Kinder. George, der an irgendeiner unbekannten Geisteskrankheit litt, zeigte ein breites, seltsam schiefes Lächeln. Basil war etwa sechzehn. Er trug seine Schuluniform und starrte mit harten, dunklen Augen in die Kamera.
 

„Deine Cousins?“, fragte Holmes.
 

Ich nickte. „Allerdings war der Altersunterschied zwischen uns viel geringer als der zwischen mir und Henry, sodass wir mehr wie Brüder waren.“
 

„Was ist aus ihnen geworden?“
 

„Bevor wir den Kontakt abbrachen, schrieb mir meine Schwester, dass George nur ein paar Jahre, nach dem dieses Photo gemacht worden war, in eine Anstalt eingewiesen wurde. Meine Tante verstarb kurz danach. Ich glaube er ist immer noch dort. Es ist irgendwo in der Nähe von Edinburgh. Basil dagegen schloss die Universität ab, aber ich habe niemals wirklich erfahren, was danach aus ihm wurde. Wir verloren den Kontakt, aber ich glaube, dass Abigail es wahrscheinlich weiß. Sie war immer diejenige, die den Kontakt aufrechterhielt.“ Ich sah mein Spiegelbild im Glas des Bilderrahmens und war beinahe erstaunt, dass mich ein Mann in seinen späten Dreißigern anstelle eines vierzehnjährigen Jungen anstarrte. „Bei ihrem eigenen Bruder war sie weniger eifrig.“
 

Holmes bestand darauf, dass wir das obere Stockwerk untersuchten. Als ich meine Hand auf das Geländer legte, konnte ich fühlen, dass das Eichenholz mit den Jahren weich wie Samt geworden war. 17 Stufen, das hatte ich einst von meinem Freund erfahren, führten von der Vorhalle in das Wohnzimmer der Baker Street. Ich hatte meine ganze Kindheit damit verbracht, diese Treppe hinauf und hinunter zu steigen, aber dennoch hatte ich nie darauf geachtet, aus wie vielen Stufen sie bestand.
 

In meiner Erinnerung war dieses Treppenhaus viel weiter und größer gewesen. Ich hatte es als Junge gesehen, nicht als Mann. Es waren 14 Stufen und die sechste knarrte immer noch deutlich unter meinem Gewicht.
 

Es gab vier Schlafzimmer. Das meiner Eltern war direkt rechts neben der Treppe. Daneben war ein Gästezimmer, das hunderte Male von meinen Cousins benützt worden war oder später hin und wieder von meinem Onkel George, nachdem meine Tante ihn regelmäßig wegen seiner Liebe zum Scotch-Whiskey aus dem Haus geworfen hatte. Schräg gegenüber war Abigails Zimmer; das Zimmer, in dem sie bis heute schlief. Gegenüber lag mein altes Zimmer, meines und Harrys, bis er es verlassen hatte, um alle Pubs und Tavernen zu erforschen, die unser schönes Land zu bieten hatte. Es war diese Zimmer, das mich sofort anzog.
 

Als ich die Tür öffnete, wurde ich mit abgestandener Luft überflutet, wie man es von einem Raum erwarten konnte, der für so lange Zeit verlassen war. Sonnelicht fiel durch das Fenster, durch das man die weiten Felder hinter dem Anwesen überblicken konnte. Ich trat ein.
 

Ich hatte meinen Kopf in Ma’s Schürze vergraben und roch den Duft von Zimt, Mehl und Rosenwasser. Mein Gesicht war tränenüberströmt, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, geweint zu haben.
 

„Hör jetzt auf, John“, sagte Pa. Er stand hochaufgerichtet wie eine Statue draußen im Schatten des Flurs. „Du hast genug geweint.“
 

„Du kannst ihm das nicht vorschreiben, Henry Watson. Lass ihm seine Tränen.“
 

Ich blickte auf und nach draußen. Obwohl sie eine halbe Meile von uns entfernt lebten, konnte ich meine Tante Jane beinahe über dem toten Körper ihres jüngsten Sohnes weinen hören. Mein lieber Bennie war tot.
 

„Ihr standet euch nah?“
 

Holmes plötzliches Erscheinen hinter mir ließ mich beinahe aus der Haut fahren. Gott, ich wusste nicht, wie viel ich in diesem Haus noch ertragen konnte. Es gab einfach zu viel, an das ich mich nicht erinnern wollte. „Das waren wir“, sagte ich. „Wir wurden nur Wochen auseinander geboren. Unsere Mütter nannten uns ‚die Zwillinge’. Wir waren sieben Jahre lang praktisch unzertrennlich. Und dann bekam er die Röteln. In jenem Jahr gab es eine Epidemie in Canterbury. Acht Menschen starben, fünf davon waren Schulkinder.“
 

„Es muss sehr hart für dich gewesen sein.“
 

„So hart, wie ein Tod für einen Siebenjährigen sein kann, vermute ich. Aber es war Bennies Tod, der mich zur Medizin trieb. Und ich bin niemals von diesem Pfad abgewichen.“
 

„Der Verlust von Geschwistern…“ begann er, doch dann hielt er inne, drehte sich am Absatz um und verließ das Zimmer.
 

Meine Neugier war sofort geweckt. Sein einziger Bruder war immer noch am Leben und bei bester Gesundheit, also was konnte er über den Verlust von Geschwistern wissen? Aber der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte mir deutlich, dass ich nicht fragen konnte. Also sagte ich nichts.
 

„Das hier ist das Zimmer deiner Schwester, nicht wahr?“, fragte er und ging hinein.
 

„Äh…ja.“ Ich wusste natürlich, dass wir in einer ehrbaren Mission unterwegs waren und das das Durchsuchen ihres Zimmers zwangsläufig ein Teil davon sein musste, aber um die Wahrheit zu sagen, war mir trotzdem nicht ganz wohl dabei. Auch wenn Holmes es beinahe zu genießen schien, in ihre Privatsphäre einzudringen. Seine Wut über das, was sie vorhatte, überwog vielleicht sogar meinen eigene, sodass ihm nichts mehr heilig war, wenn es um diese Frau ging. Ich erkannte das. Und wären seine Scharfsinnigkeit und Ausdauer nicht gewesen, dann wäre mit Sicherheit alles ganz anders gekommen.
 

Anders als mein eigenes Zimmer hatte sich Abigails seit unserer Kindheit ein wenig verändert. Ihr Bettgestell war immer noch aus dem Holz jener Kiefern gefertigt, die einst diese Gegend überzogen hatten, auch wenn sie sich als kleines Mädchen stets ein ‚hübsches’ Messinggestell gewünscht hatte. Darüber erstreckte sich immer noch die rosa und weiße Steppdecke, die Mutter und Tante gefertigt hatten, sobald die Schwangerschaft bekannt geworden war. Nachdem die beiden Schwestern fünf Jungen hintereinander bekommen hatten, waren sie sich beide sicher, dass dieses Kind endlich eine Tochter sein würde.
 

Die Spitzenvorhänge vor dem Lake Amelia überblickenden Fenster hingen seit dem Tag ihrer Geburt an ihrem Platz. Blumen – wildwachsende Gänseblümchen und Veilchen, die sorgsam in einer Porzellanvase arrangiert worden waren – bildeten den einzigen Schmuck des Raumes. Abgesehen von dem Kruzifix, das über dem Bett hing und dem Bildnis der Jungfrau Maria und dem Jesuskind in ihren Armen. Ihre Bibel und eine Öllampe lagen auf einem kleinen Nachtkästchen. An der gegenüberliegenden Wand standen ein Kleiderschrank und eine Kommode, beide ohne jegliche Verzierungen. Der Fußboden war kahl, ebenso wie die Wände, sah man von ihren religiösen Artefakten ab.
 

„Du lieber Himmel, was für eine frommes Gruft!“, bemerkte Holmes und sprach damit genau meine eigenen Gedanken aus. „Es entbehrt beinahe jeglicher Persönlichkeit.“
 

Aber war es immer so leer gewesen? Nein, nicht bevor das Leben meine einzige Schwester in eine verbitterte alte Jungfer verwandelt hatte, die ihren einzigen Trost im Glauben fand. Ich konnte sie immer noch vor mir sehen: Ein süßes kleines Ding eingehüllt in Schleifen und Taft, ihr braunes Haar war in Löckchen gedreht und ihr Mund zu einem breiten Lächeln geöffnet. Ausgestreckt auf dem Fußboden ihres Kinderzimmers, musste ich für Ma hin und wieder auf sie aufpassen. Und ich war gezwungen mit ihrem Spielzeug zu spielen: eine Arche Noah, handgemacht von meinem Vater für sein Lieblingskind. Sie besaß außerdem noch eine Wachspuppe und ein Teeservice aus Porzellan, beides aus Londoner Geschäften bestellt. Im Vergleich zu vielen anderen in jener Zeit ging es uns recht gut und für Henry Watsons kleinen Engel wurden keine Kosten gescheut. Aber sie war ein so liebes Kind, dass ich damals sehr wohl verstehen konnte warum.
 

‚Johnny, Johnny, komm her und setz dich. Willst du einen Tee? Trink ihn hier, mit Dolly und mir.’ Und dann würde sie über ihren kleinen Reim kichern und nach einem kurzen, vergeblichen Protest würde ich von der pummeligen Hand einer Dreijährigen in ihr Zimmer gezerrt, wo ich mich hinsetzen musste und so tun, als würde ich Tee trinken, anstatt mit meinen Cousins durch die Wälder zu trampeln, zu jagen und zu fischen.
 

‚Ist der Tee nicht herrlich?’
 

‚Natürlich, Abby.’
 

‚Vielen Dank für deinen Besuch und dass du Tee mit uns getrunken hast, Johnny.’ Und dann würde sie mich anlächeln – mich ihren geliebten Bruder.
 

Was war nur aus uns geworden?
 

„Was beschäftig dich, Watson? Ich habe dich noch nie so abwesend gesehen“, sagte Holmes. Er untersuchte das Zimmer, als würde es rätselhafte Geheimnisse beheimaten.
 

„Ja, ich…nein, es ist nichts. Nur…nun gut, ich frage mich, wie es zu alldem gekommen ist. Abby…wir standen uns einmal nahe. Nicht außergewöhnlich nah, aber bis zu Vaters Tod schien sie wie ein normales, glückliches Kind. Und dann…ich weiß nicht, mein Freund. Ich hätte mir niemals vorstellen könne, dass es so weit mit uns kommen würde.“
 

„Der Verlust eines Elternteils kann eine solche Wirkung auf ein Kind haben“, antwortete er, während er die Schublade ihres Nachtkästchens herauszog. Es enthielt nichts außer drei Taschentüchern, ein paar Kerzen, Streichhölzern und ihren Rosenkränzen.
 

Dieser Satz erinnerte mich heftig an das, was er nur einen Augenblick zuvor über den Verlust von Geschwistern gesagt hatte. Dahinter verbarg sich offensichtlich eine Geschichte. „Das klingt, als sprichst du aus persönlicher Erfahrung, Holmes.“ Ich konnte nicht anders, als es auszusprechen.
 

„Meine Erkenntnisse basieren auf Beobachtungen, das ist alles“, sagte er ruhig und ging nicht weiter auf das Thema ein.
 

Er hatte sich von ihrem Nachtkästchen zu der Kommode bewegt. Die meisten Schubladen enthielten Kleidung, aber in der letzten schien mehr zu sein. Einige wenige Schmuckstücke, die er genau untersuchte, mir aber völlig unbedeutend erschienen. Er stöberte weiter in der Schublade, bis er etwas herauszog, das ich zuerst für ein bloßes Stück Papier hielt. Aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine Photographie handelte.
 

„Wer ist es?“, fragte ich Holmes.
 

Aber im selben Moment, als er es hervorgezogen hatte, stopfte er es sofort in seine Manteltasche, sodass ich keinen näheren Blick darauf werfen konnte. „Holmes…“, begann ich, aber ich erkannte sofort, dass sich seine ganze Persönlichkeit gewandelt hatte. Er war nicht länger Holmes, der besorgte Freund, der meiner Familie einfach diese Hölle ersparen wollte; er war Holmes, die Maschine und er fühlte, dass du Lösung ganz nah war. Ich glaube nicht, dass er mich auch nur gehört hatte.
 

Er stürzte aus dem Zimmer und rannte zum Schlafzimmer meine Eltern, dessen Tür er öffnete, aber fast im selben Moment wieder zuknallte. Er tat dasselbe beim Gästezimmer, knallte die Tür ebenso nach ein oder zwei Sekunden wieder zu. „Dieses Haus hat keinen Dachboden“, überlegte er anscheinend an niemanden gerichtet außer sich selbst. „Dann vielleicht einen Keller?“
 

„Wir haben einen alten Obstkeller“, erklärte ich ihm. „Er wird vor allem zur Lagerung genützt, aber“—
 

„Komm mit!“, rief er, während er die Treppe hinunterstürzte
 

Mit einem tiefen Seufzer eilte ich ihm hinterher. Selbst nach beinahe anderthalb Jahrzehnten konnte ich mich einfach nicht daran gewöhnen, seinem unglaublichen Verstand Meilen hinterher zu hinken.
 

Der alte Obstkeller war dunkel und feucht; ihm war ein ziemlich unvergesslicher Geruch nach Erde und Schimmel zueigen. In unseren Jugendtagen liebten wir es, uns hier unten zu verstecken und uns gegenseitig zu erschrecken. Oft waren wir hier unten zusammen gesessen, um uns Geistergeschichten zu erzählen, die wir von unseren Vätern gelernt hatten. Ich denke, dass dieser Ort durch die Erinnerung an all die schlaflosen Nächte, die mir mein Cousin Basil mit seinen schaurigen Erzählungen von Hexen und Sumpfunholden beschert hatte, immer noch ein gewisses Grauen bereithielt. Schaudernd fragte ich Holmes, was genau wir hier unten eigentlich taten.
 

„Wir sind auf der Suche nach den letzen Puzzleteilen, um dieses verzwickte Rätsel zu lösen“, sagte er und stöberte hastig in den Schachteln, Kanistern und Koffer, die hier aufbewahrt wurden.
 

„Den letzten? Was zum Teufel waren die ersten?“
 

„Hmm…“, war seine einzige Antwort. „Weißt du, Watson, ich denke, dass ich ziemlich dankbar sein sollte, dass dein Schwester als Frau geboren wurde. Mit ihrer Mentalität und Hartnäckigkeit hätte aus ihr gut und gern ein zweiter Professor Moriarty werden können.“
 

„Holmes!“
 

Er starrte mich an. „Oh, ich meine das auf die bestmögliche Art, mein lieber Watson. Denn auch wenn sein Verstand sich dem Bösen zuwandte, so war es trotzdem ein unglaublicher Verstand, egal wie man es betrachtet. Auch deine Schwester verfügt über einen solchen beneidenswerten Verstand. Aber trotz ihres frommen Äußeren ist sie innerlich ebenso unrein wie der Rest von uns allen.“
 

„Was weißt du?“
 

„Ich weiß, dass…“, begann er und erstarrte. „Sie ist zurückgekehrt. Schnell, Watson, komm mit!“
 

Wir stürzten aus dem Keller zurück ins Wohnzimmer, wo mein Freund irgendwie das Anhalten der Kutsche mit meiner Schwester am Beifahrersitz gehört hatte. „Wir haben keine Zeit“, sagte Holmes. „Wenn sich für dich alles zum Guten wenden soll, dann musst du ganz genau tun, was ich sage, mein Freund.“
 

„Was soll ich tun?“
 

„Du musst hier hinter dieser Wand bleiben und sie darf nichts von deiner Anwesenheit bemerken. Es ist essentiell, dass ich sie allein damit konfrontiere.“
 

„Womit genau willst du sie überhaupt konfrontieren?“
 

Er blickte fast schon nervös Richtung Fenster. „Wir haben keine Zeit zum Diskutieren, Watson! Du musst mir dein Wort geben!“
 

„In Ordnung, in Ordnung, du hast es.“
 

„Ganz egal, was sie oder ich sagen könnten?“
 

Ich konnte mir kaum vorstellen, was sie sagen könnte. Ich schlucke schwer, als ich mich an die Bibel zuhause erinnerte, aber ich nickte. „Mein lieber Holmes, als ich sagte, dass ich dir bedingungslos vertraue, war das mein voller Ernst. Auf mein Wort, ich werde verborgen bleiben, bis du mir ein Zeichen gibst.“
 

Er legte mir kurz die Hand auf den Arm. „Dann werden du und dein Sohn in Sicherheit sein.“
 

Während ich hinter die Kaminecke hastete – ich wusste, dass ich dort nicht gesehen werden konnte – wunderte ich mich über die Worte, die er gewählt hatte. Warum würden nur Josh und ich in Sicherheit sein? Was war mit ihm?
 


 

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[1] Marino Faliero an Bertuccio in ‚The Doge of Venice’ – Lord Byron

So, frohe Weihnachten allerseits!

Ich habe es noch rechtzeitig fertig bekommen (und keine Angst, ich habe mich nicht unter Druck gesetzt), auch wenn ich fürchte, dass Animexx es wohl frühestens am 25. hochladen wird.
 

Nun nach dem Lesen dieses Kapitels wird wohl so einiges klarer sein und ich wünsche euch viel Vergnügen dabei.
 

Nach langen Sekunden quälender Stille öffnete sich langsam die Tür. Sie fühlte sofort, dass etwas nicht stimmte, vielleicht noch bevor sie den großen Detektiv an ihrem Küchentisch sitzen sah. Sie waren Aug in Aug.
 

„Was tun Sie hier?“, sagte meine Schwester, als sie in die Küche trat. „Sie sind in mein Haus eingedrungen. In Privatbesitz. Bei Ihrem ungeheuerlichen Fachwissen über das englische Recht muss Ihnen klar sein, dass das illegal ist.“
 

„Tatsächlich, Miss Watson, sind dieses Haus und der dazugehörende Besitz auf Sie beide, Sie und Ihren Bruder eingetragen. Und ich bin mit seiner Erlaubnis hier. Wenn Sie allerdings trotzdem darauf bestehen wollen, die Polizei von Kent zu rufen“—
 

„Was wollen Sie, Mr. Holmes?“, unterbrach ihn Abigail, während sie die Tür recht fest schloss. In meinem Versteck, konnte fühlen, dass ich die Wand leicht zitterte.
 

„Mit Ihnen sprechen.“
 

„Worüber?“
 

Ich konnte das hämische Grinsen beinahe sehen. „Sie hegen eine ausgeprägte Leidenschaft für Semantik, Madam. Aber wenn Sie diese Spielchen bevorzugen, werde ich mitspielen. Nennen Sie es Höflichkeit. Wir bekamen – heute Morgen, um genau zu sein – einen Brief von dem Gericht in Kent, in dem Ihr Bruder aufgefordert wurde, nächste Woche zu einem Prozess anlässlich ihrer Anfechtung seiner Vormundschaft für seinen Sohn zu erscheinen. Es scheint mir nicht besonders weit hergeholt, dass es sich dabei um Ihr Werk handelt.“
 

„Und wenn es so war? Was wollen Sie dagegen tun?“ Es gab eine lange Pause und ich hielt den Atem an, während ich dem Klappern ihrer Schuhe auf dem Holzboden lauschte. „Ich vermute, Sie haben die Pistole meines Bruders dabei? Ich vermute, dass hier wird nun wie einer seiner übermäßig dramatischen Fälle enden…Ich werde unter wahnsinnigem Gelächter irgendein abstoßendes Verbrechen gestehen, während der verschmähte Liebhaber hereinstürzt und schreit ‚Widerlicher Bastard!’, und mich erschießt? Natürlich handelt es sich bei dem verschmähten Liebhaber dieses Mal um Sie selbst…“
 

Mein Griff um die Wandkante verfestigte sich und ich biss die Zähne heftig zusammen. Aber ich hielt mein Versprechen und zeigte mich nicht.
 

„Sie haben wirklich eine sehr ausgeprägte Vorstellungskraft, Miss Watson. Mir wird langsam klar, dass es in Ihrer Familie liegen muss. Aber ich muss Sie daran erinnern, dass Ihnen alle Ihre Theorien und Vermutungen im richtigen Leben nicht weiterhelfen werden. Sie können über meine Beziehung zu Ihrem Bruder so viele Vermutungen anstellen, wie Sie wollen. Ich muss Sie allerdings daran erinnern, dass Sie keinerlei Beweise haben.“
 

„Ich finde es höchst bemerkenswert, dass Sie nicht einmal versuchen, es zu leugnen. Sie machen mich nur darauf aufmerksam, dass ich keine Beweise habe.“
 

„Ich werde Ihnen nicht die Befriedigung gönnen, irgendetwas zuzugeben oder zu leugnen.“
 

Um Gotteswillen, Holmes! Leugne! Leugne!
 

Abigail starrte ihn an. Darin war ich mir sicher. „Ihr Schweigen sagt mehr als genug. Es ist wirklich abstoßend. Und nicht nur die Tat selbst. Wie Sie Ihren Vorteil aus meinem Bruder ziehen. Sie müssen ihn verführt haben. Ist es das, was Sie getan haben? Und nun sind Sie bereit, seinen Namen und den seiner Familie zu riskieren…Sie würden John sogar ins Gefängnis gehen lassen…und das nur um Ihre eigenen kranken Bedürfnisse zu befriedigen…“
 

„Das reicht!“ Der Zorn in seiner Stimm war so offensichtlich, dass er die Sterne hätte erschüttern können. „Meine Liebe zu John mag in den Augen des Gesetzes ein Verbrechen sein und auch in den Ihren! Aber ich würde Sie eher zur Hölle fahren lassen, als Ihnen zu erlauben sowohl sein als auch Joshs Leben zu zerstören! Selbst wenn ich dazu mein eigenes opfern muss!“
 

Abigail lachte. „Nun, welche Ironie, Mr. Holmes! Denn dazu könnte es sehr gut kommen. Wenn die Londoner Behörden es jemals herausfinden sollten, denke ich nicht, dass selbst einer Berühmtheit wie Ihnen das Gefängnis erspart bleiben würde. Und danach wäre Ihr Leben zerstört. Schließlich will niemand Arschficker als beratenden Detektiv.“
 

Meine Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen angesichts dieses Wortes. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Nein. Nein.
 

Holmes räusperte sich. „Für eine Frau verfügen Sie über einen recht widerwärtigen Wortschatz.“
 

„Ich sage nur die Wahrheit.“
 

„Sie verurteilen mich angesichts dessen, was Sie für die Wahrheit halten. Denn wenn es tatsächlich so ist, dann ‚warum erzeugt die Wahrheit Hass’[1]?“
 

„Vielleicht weil die Wahrheit nicht immer einfach ist. Genauso wenig wie Gottes Gesetze. Wenn sie es wären, dann gäbe es keinen Grund für das Opfer, das der Herr gebracht hat. Doch weil der Mensch leicht vom rechten Pfad abweicht, muss es Weisungen, Opfer und Reue geben.“
 

„Reue? Soll ich für etwas Reue zeigen, über dass ich keine Kontrolle habe? Ich habe nicht darum gebeten und denken Sie wirklich, ich würde hier alles riskieren, was mir in diesem Leben etwas bedeutet, wenn ich es so einfach auslöschen könnte wie eine Kerze? Sie würden einem Sterbenden nicht die Schuld für die Krankheit geben, die ihn tötet, also warum sollten Sie einem Leidenden die Schuld für das geben, was er nicht kontrollieren kann?“
 

„‚Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt’[2]. Nur die Besessenen haben keine Kontrolle, Mr. Holmes. Sie verwenden das nur als Entschuldigung. Sie entscheiden selbst über Ihre Taten, wie es alle tun, die mit der Schrift protzen. Und wie die Städte der Sünde sollen auch Sie zerstört werden, wie es mit Ihren Verwandten geschah. Mit Feuer und Schwefel.“
 

„Wäre der Grund dafür die fehlende Gastfreundschaft, die ich Gottes Boten erwiesen habe?“[3] Er wurde wütend; ich konnte es deutlich an seiner immer tieferen Stimme hören. Und um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, was sein letzter Satz bedeuten sollte.
 

„Sie reden Unsinn…“
 

„‚Denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott.’ Erster Brief des Apostel Johannes, Kapitel 4, Vers 8!“
 

„Das gilt nicht für unnatürliche Liebe…“
 

„‚Liebe dein Feinde, segne die, die dich verfluchen, tu Gutes denen, die dich hassen!“ Mattheus Evangelium, Kapitel 5, Vers 44!“
 

Abigail hielt inne. „Sie sind wesentlich bibelfester als ich erwartet hätte. Man sollte meinen, Sie müssten erkennen, dass das, was Sie und mein Bruder tun, sie direkt in die“—
 

„Dieses Leben, das ich täglich mit ansehe ist die Hölle, Miss Watson! Der Tod und die Krankheit! Die Verfolgung und die Verurteilungen! Mord, Vergewaltigung, Raub…wie könnte die Hölle schlimmer sein als das East End von London an einem harten Tag? Ich habe Dinge gesehen, die Sie, die Sie sich nur mit den Ereignissen aus Jahrtausende alten Büchern zu beschäftigen scheinen, sich nicht im Entferntesten vorstellen können! Aber eines werde ich Ihnen sagen. Wenn ich nach meinem Tod an einen Ort gehen muss, der der modernen Welt sehr ähnlich ist, dann deshalb weil ich sie bereits überlebt habe. Aber Ihr Bruder hat keine Sünde begangen. Sie sollten das wissen. Er ist der beste der Menschen. Besser als Sie es jemals sein könnten und sicherlich besser als ich, dessen Geist von seinen eigenen Gedanken geschändet wird!“
 

„Ich bin mir sicher, schänden ist das richtige Wort für Sie im Zusammenhang mit meinem Bruder!“
 

Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie Holmes sich ihr zuwandte und sein Gesicht ein so tiefes Rot annahm, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er war kein Mann, der sich von Gefühlen leiten ließ. Aber ich denke, nach dem, was Sie ihm soeben unterstellt hatte, hätte er ihr Genick nur zu gerne in seinen Händen gewusst. Es dauerte einen endlosen Augenblick, ehe die kühle Logik wieder Überhand gewann.
 

Oh, Gott weiß, wie ich jede einzelne Faser in meine Körper zwingen musste, mich nicht zu zeigen. Aber aus welchen Gründen auch immer – unbewusster Kraft, vielleicht unerschütterlicher Treue, die meinen Ärger überwogen – gelang es mir, nicht aus meinem Versteck hervor zu stürzen. Stattdessen umklammerte ich meine Brust und sank langsam auf den Boden. Nun war alles aus. Sie wusste alles. Seine Liebe, seine Sünde…
 

Ich war der Beste der Menschen?
 

Er würde sie eher zur Hölle fahren lassen, als ihr zu erlauben, mein Leben zu zerstören?
 

Sogar wenn er sein eigenes dafür opfern musste?
 

Wie konnte sie nur diese Worte benutzen? Meine eigene Schwester?
 

Arschficker? Schänden? Sodomie?
 

Bis heute bereue ich den einzigen Gedanken, der in meinem Kopf war, während ich den stummen Schrei der Verzweiflung in meiner Kehle fühlte. Meine Pistole. Aber wen konnte ich damit erschießen? Holmes? Abigail? Mich selbst?
 

Es war ein leerer Gedanken, einer, den ich niemals ausführen würde. Doch die bloße Vorstellung, dass ich es auch nur für einen Sekundenbruchteil in Erwägung gezogen hatte, erfüllte mich mit entsetzlicher Angst.
 

Die Küche war von Schweigen erfüllt. Von einem langen, grässlichen Schweigen, dass meine Eingeweide erfrieren ließ und das ich kaum noch ertragen konnte. Aber war es, weil sie es wusste?
 

Oder war es wegen dem, was gesagt worden war?
 

„Ich weiß nun alles, Mr. Holmes“, sagte meine Schwester mit leiser Stimme. „Sie haben alles zugegeben. Sie können es nicht leugnen.“
 

„Ich leugne nichts.“
 

„Dürfte ich Ihnen dann vorschlagen, meinen Bruder davon zu überzeugen, auf die Vormundschaft für den Jungen zu verzichten, wenn Sie sich Ihr letztes bisschen Ansehen bewahren wollen?“
 

„Denn andernfalls werden Sie die klatschbegierigen Ohren jedes Gentlemans und jeder Lady in ganz England mit dem unbegründeten Gerücht füllen, dass Ihr Bruder und ich ein Bett teilen?“
 

Warum musste er es so formulieren?
 

„Sie lassen mir keine andere Wahl.“
 

„In der Tat.“
 

Und dann schien es, als hätte es ihnen beiden die Sprache verschlagen. Für die längste Zeit sprach keiner von ihnen ein Wort. Bis schließlich, als ich schon fürchtete, mein Atmen sei laut genug, um mich zu verraten, Holmes wieder zu sprechen begann:
 

„Ich fürchte, Miss Watson, dass es niemals dazu kommen wird“, sagte er. Seine Stimme klang nun wieder annähernd normal und ich konnte hören, wie er sich rasch zum Tisch bewegte, um sich zu setzten. „Es wird niemals dazu kommen, weil Sie der Sache nicht weiter nachgehen werden. Tatsächlich werden Sie die ganze Angelegenheit fallen lassen, sich hier in Ihr Haus zurückziehen und sich nie wieder in das Leben Ihres Bruders oder Ihres Neffen einmischen.“
 

Ich denke Holmes Worte mussten sogar Abigail schockiert haben, denn sie brauchte mehrere Sekunden, bis sie ihre Sprache weit genug wieder fand, um auf diese außergewöhnliche Bemerkung zu antworten. Aber als sie es schließlich tat, lachte sie. Lachte über seine Zuversicht. „Wirklich, Mr. Holmes. Ich bin beinahe überrascht, aber nachdem ich fünfzehn Jahre lang von Ihnen gelesen habe, bezweifle ich sehr stark, dass irgendetwas, das Sie sagen oder tun könnten, mich noch schockieren könnte. Aber ich finde das hier so außergewöhnlich interessant, dass ich nachsichtig mit Ihnen sein werde, anstatt bei den Behörden eine Klage einzureichen. Ich bitte Sie, erklären Sie mir, warum genau ich meine Anklage gegen John fallen lassen werde?“
 

Es gab eine kleine Pause, während der Holmes in seine Manteltasche griff und die Fotographie hervorzog. Ich konnte nicht länger widerstehen und schob langsam und vorsichtig meinen Kopf um die Ecke, bis ich die beiden sehen konnte. Ich sah, wie meine Schwester näher kam und die Hand nach dem Bild ausstreckte. Und dann tat sie etwas, mit dem wohl weder Holmes noch ich gerechnet hatten. Sie wurde kalkweiß.
 

Und stürzte sich auf ihn.
 

„Wie können Sie es wagen! Wie können Sie es wagen!“, schrie sie. Und wieder wäre ich fast aus meinem Versteck hervorgetreten. Sie war rasend. Zorniger als ich sie jemals zuvor gesehen hatte. Und Holmes, der in der Vergangenheit kaum einmal Schwierigkeiten gehabt hatte, Angriffe abzuwehren (schließlich war er ein Meister im Ringkampf), trug ein oder zwei Kratzer im Gesicht davon, eher er die Handgelenke meiner Schwester zu fassen bekam.
 

„Halt!“, schrie er. „Halten Sie sich gefälligst zurück!“ Und mit diesen Worten, stieß er sie zurück auf ihren Stuhl.
 

„Zurückhalten?! Sie widerwärtiger, abstoßender“—
 

„Sie können mich so viel beleidigen, wie Sie wollen, Miss Watson. Aber das ändert nichts. Es ändert nichts daran, dass ich über Ihren Sohn bescheidweiß.“ Er berührte die blutenden Kratzer in seinem Gesicht und schnalzte mit der Zunge. Holmes griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Falsche und sein Taschentuch hervor.
 

Sohn?!
 

Aber hatte ich richtig gehört? Nein, das war nicht möglich. Ich musste mich verhört haben.

Holmes schüttete ein wenig des Flascheninhalts auf das Taschentuch und presste es auf seine Wangen, während er scharf Luft einsog. Er lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und betrachtete Abigail mit kalten, ruhigen Augen. „Nun, wenn Sie in der Lage sind, Ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, können wir vielleicht wie vernünftige Menschen darüber reden. Wenn nicht, dann werde ich sie nun verlassen und diese Fotografie und das Wissen, das sie repräsentiert, mit mir nehmen…“
 

„Nein! Bitte, ich flehe Sie an!“ Abigail packte seinen Mantel und hielt ihn mit überraschender Kraft zurück.
 

„Sie sollten auch flehen, nach dem, was Sie uns antun wollten!“ Aber dann holte er tief Luft und sein ganzes Wesen entspannte sich, als er seinen Mantel aus ihrem Griff befreite. „Aber ich werde es nicht so weit kommen lassen. Ich stehe über diesen Dingen, auch wenn Sie es nicht tun. Nun, nehmen Sie bitte wieder Platz.“
 

Sie gehorchte. Das Feuer war merklich verblasst.
 

„Woher wussten Sie es?“, fragte sie, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Wie haben Sie es herausgefunden? Wie haben Sie von Harry erfahren?“
 

Harry? Aber der einzige Harry, den ich kannte war mein Bruder. Aber dann erinnerte ich mich an die Worte meines Sohnes. Sie hatte ihn Harry genannt…
 

„Mein Verdacht begann schon, als wir uns in der Baker Street zum ersten Mal begegnet waren.“ Er hielt inne und räusperte sich. „Wie Sie sicher wissen, ist es meine Gewohnheit, jeden, der die 221B betritt, genau zu mustern. Sie waren keine Ausnahme. Und was mir von allem am verdächtigsten erschien, war Ihr Kleid.“ Seine Augen ruhten auf ihr, betrachten ihr Kleid. „Es war geändert worden. Und während es für eine Frau, vor allem für eine…sparsame Frau nicht ungewöhnlich ist, sich ihre Kleider ändern zu lassen, ist es ungewöhnlich für eine unverheiratete Frau, ein so gründlich geändertes Kleid zu tragen. Das ließ mich entweder auf extremen Gewichtsverlust oder auf Schwangerschaft schließen. Und ich neigte eher zum letzterem.“
 

Meine Schwester antwortete nicht, saß nur da und streichelte das Bild mit einem Finger. Also fuhr mein Freund fort:
 

„Dazu kam noch Ihr Versprecher. Sie nannten John Sherlock ‚Harry’. Ich wusste, dass Sie damit nicht Ihren Bruder Harry gemeint haben konnten. Also warum sollten Sie so etwas Seltsames sagen? Die Hypothese, die in meinem Geist heranwuchs, schien wahrscheinlich. Aber es waren bloße Vermutungen. Ich wusste, dass ich hierher kommen musste, um sie zu beweisen. Das erste, das mir ins Auge stach, war Ihr Familienfriedhof. Ihr Bruder konnte mir bei jedem Grab erklären, wer darin lag. Außer bei einem. Es war ein sehr seltsames Grab, denn es hatte keinen Grabstein. Und die einzige Erklärung, die ich mir für eine so unheilige Tat vorstellen konnte, war die Angst vor Entdeckung.
 

„Diese Fotografie bewies mir die Richtigkeit meiner These. Sie haben gut daran getan, alle anderen Objekte, die Sie möglicherweise mit diesem Kind in Verbindung bringen könnten, in staubigen Schachteln im Keller zu verstecken. Aber dieses eine Bild…“ Er drehte es sanft, ohne es ihr aus der Hand zu nehmen und las vor: „Henry James Watson, 1894, drei Jahre.“ Der Blick, den er ihr zuwarf, war so sanft, wie ich es niemals von ihm erwartet hätte – vor allem nicht bei dieser Frau. Er sagte: „Der Rest wird viel klarer. Ihr Kind litt an Amentia[4]. Der Arzt hat Ihnen zweifellos gleich nach der Geburt mitgeteilt, dass er nicht lange leben würde. Aber wie jede Mutter begannen Sie Ihren Sprössling zu lieben. Sie versuchten über seine Unvollkommenheit hinwegzusehen und behandelten ihn als den einzigen Erben Ihrer Familie. Aber dann bekamen Sie einen Brief. Von Ihrem Bruder. Er hatte geheiratet und auch er hatte einen Sohn bekommen. Einen vollkommenen Sohn. Geistig und körperlich vollkommen. Und Sie wussten, dass Josh der wahre Erbe war und nicht Ihr Kind.“
 

„Ich habe ihn geliebt! Gott ist mein Zeuge, ich liebte dieses Kind!“, schrie Abigail. „Und er hat doch so schrecklich gelitten!“
 

Holmes erstarrte und sogar von den Schatten aus, in denen ich mich verbarg, konnte sehen, wie sich seine Augen weiteten. Er schien von einer plötzlichen Erkenntnis getroffen. Ich denke nicht, dass sie den letzen Satz tatsächlich hatte sagen wollen, aber vielleicht war das Gefühl, ständig von einer höheren Macht beobachtet zu werden, schlussendlich zu viel geworden und das Geständnis war ihr unwillentlich entkommen. Holmes wand sich in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich. Ich konnte nicht mehr bleiben, wo ich war. Der Verlust eines Neffen, den ich niemals gekannt hatte, der Schmerz auf dem Gesicht meiner Schwester, die entsetzliche Erkenntnis, was sie getan hatte. Ich trat hervor, langsam, und ich fühlte mich so wie damals in Afghanistan, als die beiden Kugeln mir fast mein Leben genommen hätten. Es war als hätte sich die Zeit wie unter Wasser verlangsamt. Der Widerhall meiner Schritte schien laut und überzogen. Ich näherte mich meinem Ziel. Sie sah nicht zu mir auf, bevor ich sie packte.
 

„Wie konntest du nur?“, fragte ich sie und packte ihren Arm. „Oh, Abby, wie konntest du? Dein eigenes Kind?“
 

Sie sah zu mir auf, doch keine Überraschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Ihre Augen waren trübe; sie schien einem Zusammenbruch so nah, wie sie es gerade noch ertragen konnte. „Du verstehst das nicht, John“, sagte sie schließlich. „Wie könntest du? Dein Kind war nicht…nicht wie Harry. Er ist wunderschön anzusehen. Er war nicht krank. Krank in Geist und Körper. Du musstest nicht hilflos mitansehen, wie es ihm von Tag zu Tag schlechter ging!“
 

„Aber warum hast du es mir nicht erzählt? Ich bin nicht nur dein Bruder, sondern auch noch Arzt“—
 

„Du hättest nichts für ihn tun können“, unterbrach sie mich plötzlich.
 

„Aber“—
 

„Es gibt noch einen anderen Grund, Watson, weshalb sie dir nichts erzählt hat.“
 

Ich drehte mich zu ihm um. „Was sollte das sein?“
 

„Der Vater des Kindes.“
 

Abigail schoss aus ihrem Stuhl hoch, ein Ausdruck der Besessenheit auf ihrem Gesicht. Ich war mir sicher, dass sie ihre Vorstellung wiederholen und sich erneut auf Holmes stürzen würde, aber sie tat es nicht. Und nicht etwa, weil ich sie daran hinderte. Die beiden – Abigail und Holmes – starrten sich mit einer solchen Grausamkeit an, dass ich sie nicht beschreiben kann. Ich schien vollkommen ausgeschlossen. Nicht einmal die Redensart ‚Wenn Blicke töten könnten’ lässt ihnen auch nur annähernd Gerechtigkeit widerfahren. Ich konnte das Gift zwischen dem herzlosen Dunkelbraun und dem furchtlosen Stahlgrau beinahe riechen.
 

„Das ist nicht wahr“, sagte meine Schwester. „Es ist unmöglich, dass Sie wissen“—
 

„Aber ich weiß. Ich weiß, dass Ihr Cousin“—
 

„NEIN!“
 

Aber er tat es. „Ihr Cousin Basil Watson ist der Vater des Kindes.“
 

Und Abigail brach schließlich zusammen.
 

Ich konnte fühlen, wie meine Knie unter mir nachgaben. Schnell versuchte ich die Tischkante zu fassen und schaffte es in einen Stuhl, bevor ich auf den Boden zusammensacken konnte. Basil? Meine Schwester hatte ein Kind von unserem Cousin? „Basil? Abby…“
 

Aber sie zitterte. Sie hatte ihren Kopf in den Händen vergraben und ihr ganzer Körper bebte. Sie gab keinen Laut von sich, aber ich bemerkte, dass sich jedes sichtbare Körperteil rot gefärbt hatte.
 

Ich wand mich in vollkommener Fassungslosigkeit an Holmes. So vieles war noch unklar geblieben. Ich starrte ihn hilflos an. Und die starke Verbindung, die ich immer zwischen uns vermutet hatte, wurde offensichtlich. Denn er wusste ganz genau, welche Frage ich nicht stellen konnte.
 

„Die erste Spur fand ich heute Morgen, Watson, als ich zum Meldeamt ging, um den Wohnort von irgendwelchen deiner Verwandten herauszufinden, die vielleicht in der Gegend wohnen könnten. Meine ursprüngliche Absicht lag darin, dass ich hoffte auf diesem Weg irgendwelche brauchbaren Informationen zu erhalten. Der einzige Eintrag war ein gewisser Basil Watson samt Familie, ansässig in Canterbury. Ich fand es ungewöhnlich, da deine Schwester dir geschrieben hatte, als dein Cousin George in eine Anstalt eingewiesen worden war. Sie hatte dich auch darüber in Kenntnis gesetzt, als deine Tante starb. Aber du sagtest, dass sie dir niemals etwas über Basil schrieb. Das erschien mir sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, dass du sagtest, sie und Basil hätten sich am nächsten gestanden.“
 

„Bin ich nicht schon genug gestraft worden!“, schrie meine Schwester. „Dass Sie das alles nicht auch noch der einzigen Familie enthüllen müssen, die mir noch geblieben ist.“
 

„Sie haben sich selbst in diese Lage gebracht, Miss Watson“, sagte mein Freund. „Ihnen hätte klar sein müssen, dass ich alles auf mich nehmen würde, um Watson und seinen Sohn zu schützen.“ Und mit diesen Worten zog er einen Ring aus seiner Manteltasche. Es war ein goldenes Band und ich erkannte ihn sofort. Darin war der Kopf eines Ritters eingraviert und auf dem Schild waren drei Halbmonde und drei Schwalben. Das Familienwappen der Watsons. Als ältester Sohn hatte mein Onkel George den Ring von seinem Vater erhalten. Und er hatte ihn natürlich an seinen ältesten Sohn weitergegeben. Basil. Mein Cousin hatte den Ring an seinem 16. Geburtstag erhalten, am Tag bevor er nach Edinburgh ging. Und auch wenn ich schon davor keine Zweifel an Holmes Beschuldigungen hegte, war ich nun vollkommen davon überzeugt, dass es ihm gelungen war, diese dunkle Geschichte aufzudecken, die meine Schwester mir seit Jahren verheimlicht hatte.
 

„Ich halte es für unnötig, das Portrait zu holen, das über Ihrem eigenen Kamin hängt, um zu beweisen, dass es sich hierbei um Basils Ring handelt. Er trägt ihn darauf.“
 

Abigail sah auf, ihre Augen und ihr Gesicht waren gerötet. Sie zitterte immer noch.
 

Und zum ersten Mal, seit ich sie vor zwei Monaten wiedergesehen hatte, erwachten in mir andere Gefühle für sie als Zorn, Nervosität und Verachtung. Ich hatte Mitleid mit meiner einzigen Schwester. „Abby“, sagte ich und nahm ihre Hand. In diesem Moment waren all die zornigen, abstoßenden und unwahren Worte vergessen, die sie Holmes ins Gesicht geschleudert hatte und ich sah in ihr nur noch meine kleine Schwester. „Was ist geschehen? Du kannst es mir erzählen. Ich bin noch immer dein Bruder. Ich schwöre dir, dass du mir vertrauen kannst.“
 

Sie sah weinend auf. Ich hatte sie erst ein einziges Mal weinen gesehen, damals als Basil angekündigt hatte, er würde fort gehen. Sie hatte nicht einmal geweint, als Vater starb. Nur endlose Stunden an seinem Grab gestanden und auf den Grabstein gestarrt. Aber nun weinte sie. „Johnny…“, flüsterte sie. „Sei nicht böse auf mich. Ich wollte es nicht. Versprich mir, dass du Papa nichts erzählen wirst. Du musst es versprechen. Und Ma auch nicht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie wieder böse auf mich ist. Bitte sag ihnen nichts, Johnny!“
 

Ich sog scharf Luft ein und blickte zu Holmes. Aber er nickte und sein Blick wurde weicher. „Ich…ich werde ihnen nichts sagen, Abby. Erzähl mir einfach, was passiert ist.“
 

Und sie tat es, doch ihre Worte waren an das Bild gerichtet:
 

„Ich musste es tun, Harry. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dich leiden zu sehen. Ich nahm dich weiter mit nach London, zu jedem Arzt den ich finden konnte. Außer Johnny natürlich. Und jeder erzählte mir das gleiche. Du würdest sterben. Es gab keine Hoffnung. Ich betete, ich betete jede Nacht, aber dir ging es niemals besser. Du wuchst nicht. Du warst drei Jahre alt und konntest nicht einmal aufrecht sitzen. Und ich hörte zu, wie du um deinen Atem rangst und fragte den Herrn, warum er ein so kleines, unschuldiges Kind leiden ließ, aber er antwortete nicht. Ich bat ihn, dich zu sich zu holen, aber auch das tat er nicht. Er ließ dich nur schwächer werden und noch mehr leiden. Es war meine Schuld! Es war meine Strafe!“
 

„Nein, Abby, das kann nicht“—
 

Aber Holmes’ Hände schlossen sich um meine Schultern, um mich aufzuhalten. „Nein, Watson. Ihr Geist hat sich von der Gegenwart gelöst; sie erkennt wahrscheinlich nicht einmal, dass wir hier sind. Das geschieht, wenn etwas so schmerzhaftes so lange unterdrückt wird. Lass sie ausreden.”
 

„Erinnerst du dich daran, Harry, wie wir nach Kensington gingen? Wir gingen am Haus deines Onkels vorbei. Wir sahen, wie seine Frau und sein Kind bei der Haustür herauskamen. Sie waren beide so vollkommen. Seine Frau war so schön und freundlich und ich konnte sehen, wie sehr sie meinen Neffen liebte. Und der Junge. Er war so…entzückend. Er war ein so vollkommener kleiner Watson. Und da wusste ich…
 

„In jener Nacht, Harry, als ich wieder bei deinem Bettchen wachte, als du wieder stöhntest und der Speichel dir aus dem Mund rann, da wusste ich, dass Gott mir nicht zuhörte. Er war zornig über das, was Basil und ich getan hatten. Über unsere große Sünde. Und wie Salomon wurde mein Kind für meine Sünden bestraft. Das konnte ich nicht erlauben. Also nahm ich das Kissen“—
 

„Ich kann das nicht mit anhören, Holmes. Das ist zu viel!“
 

Aber meine Schwester sprach weiter, während sie das Bildnis des winzigen Kindes streichelte. Mein einziger Neffe. Der niemals die Gelegenheit haben würde seinen Onkel oder seinen Cousin kennen zu lernen. „Es war so schnell vorbei. Und endlich war er still. Und friedlich. Er fühlte keinen Schmerz mehr. Ich hatte das Richtige getan. Es muss das Richtige gewesen sein…“ Sie sah zu mir auf. „Nicht wahr, Bruder? Es war doch das Richtige?“
 

Aber ich konnte auf eine solche Frage nicht antworten. Wer konnte das schon? Sie hatte das Leben eines Unschuldigen ausgelöscht. Ganz egal welche Schmerzen er gehabt hatte, alles woran ich denken konnte, waren meine beiden eigenen kleinen Kinder. Wäre ich in der Lage, dasselbe zutun, wenn Josh unheilbar krank werden würde; wenn er leiden würde? Und meine kleinen Vera, der es nicht erlaubt gewesen war, in dieser Welt auch nur einen Atemzug zu tun; was hätte ich nicht darum gegeben, dass sie diese drei Jahre gehabt hätte, die Abigails Sohn hatte. Ich konnte solche Fragen nicht beantworten. Solche Fragen waren für Dichter und Heilige.
 

Aber Holmes konnte es. Sogar an diesem Tag, nach allem, was gesagt worden war, war er immer noch derselbe. Ein Gentleman. Und solange ich lebe, werde ich niemals vergessen, was er zu ihr sagte:
 

„Kein Gott würde jemals jene, die wahrhaft bereuen, abweisen oder ihnen nicht vergeben, Miss Watson. Denken Sie daran, dass Ihr Kind Sie beobachtet. Würde er wirklich wollen, dass Sie immer noch unter dem Geschenk der Freiheit leiden, das Sie ihm gaben? Ich denke nicht. Aber wie können Sie auf Vergebung hoffen, bevor Sie sich von der Schuld in Ihrem eigenen Herzen befreien?“
 

Er sprach so sanft, so…gar nicht wie er selbst. Es war nicht so, als könne er nicht offen oder mitfühlend sein, sondern so wie er es mir erklärt hatte, nachdem ich ihm vorgeworfen hatte, einem Klienten, der es besonders nötig hatte, kein Mitleid gezeigt hatte: ‚Es ist nicht Mitleid, das er bei mir sucht…’[5]
 

Aber nun…nun war ich es, der sich kalt und distanziert zeigte. Und er sagte, was ich nicht konnte.
 

„Sie denken nicht, dass Gott mich für das bestrafen wird, was ich getan habe?“, fragte meine Schwester flüsternd.
 

„Die einzige Strafe“, sagte Holmes. „Ist die, die Sie sich selbst auferlegen. Ich behaupte nicht, an all diese christlichen Sprüche zu glauben. Es ist nicht logisch und Agnostizismus scheint mir die einzige Möglichkeit für einen Mann der Wissenschaft. Doch Glaube bietet den Menschen etwas, das die Wissenschaft ihnen nicht bieten kann. Und das ist Liebe. Ich kann nicht behaupten, dass ich selbst das immer erkannt hätte. Doch nur etwas so Mächtiges wie dieses Gefühl, könnte Sie, Miss Watson, dazu gebracht haben, Ihr Leben und Ihre Seele zu riskieren, um Ihr Kind zu retten. Für dich gilt dasselbe, Watson.“
 

Abigail sah ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Als sähe sie ihn zum ersten Mal als menschliches Wesen. „Ich glaube, dass Sie vielleicht verstehen, Mr. Holmes.“
 

„Nichts zerstört einen Menschen so sehr wie Schuld. Es verwandelt das Leben zur Hölle.“
 

„Ja“, hauchte meine Schwester. „Die Hölle. Es gab kein Feuer und keinen Schwefel, aber trotzdem war es die Hölle.“
 

„Aber Abby“, sagte ich. „Das muss es nicht sein. Du hast dein Kind verloren. Glaube mir, wenn ich sage, dass auch ich den Schmerz fühle. Aber wie wird es deine Qualen auch nur im Geringsten lindern, wenn du das Leben deines einzigen Bruders zerstörst?“
 

„Wiedergutmachung ist der Weg zurück nach Hause. Und in John Sherlock sahen Sie zweifellos eine Gelegenheit, um es wieder gutzumachen.“
 

„Er ist sehr wichtig“, sagte Abigail.
 

„Ja“, stimmte Holmes zu. „Das ist er. Und deshalb werden Sie auch das Richtige tun. Und das bedeutet natürlich, dass Sie die Klage gegen Ihren Bruder fallen und den Jungen in Ruhe lassen werden. Es könnte die einzige Gelegenheit sein, die Sie noch haben.“
 

Meine Schwester stand auf, während sie immer noch das Bild des Kindes umklammert hielt, das ich immer noch nicht gesehen hatte. Sie antwortet nicht.
 

„Abigail?“, fragte ich.
 

Keine Antwort.
 

„Abigail, bitte, ich flehe dich an!“ Ich sprang auf die Füße und packte sie am Arm. „Es tut mir Leid, was du erlitten hast, das tut es wirklich, aber du bist nicht die einzige, die gelitten hat! Du musst verstehen…“ Ich holte tief Luft. „Dass ich nicht noch mehr ertragen kann.“
 

„Geh.“
 

„Wie…wie bitte?“
 

„Lass mich in Frieden. Komm in einem oder zwei Tagen zurück. Aber jetzt muss ich allein sein.“
 

„Und was ist mit dem Jungen?“, fragte Holmes.
 

Sie drehte sich zu ihm um und die beiden standen sich einmal mehr Aug in Aug gegenüber. „Mr. Holmes, ich habe Sie ziemlich unterschätzt. Ich dachte, nachdem ich alle Ihre veröffentlichten Fälle gelesen hatte, wäre ich in der Lage, mit Ihnen fertig zu werden. Sie sind weit intelligenter, unverwüstlicher und hinterlistiger als ich jemals erwartet hatte. Und auch wenn mir immer noch davor graut, dass mein einziger Neffe von Ihnen aufgezogen wird, so werde ich zufrieden sein, solange ich Sie in meinem ganzen restlichen Leben nicht mehr wieder sehen musst. Und ich schwöre auf die Heilige Schrift, dass Ihr Geheimnis – um Johns und seinetwillen – sicher ist.“
 

Ihre Unverschämtheit verschlug mir die Sprache und ich denke, dass Holmes nicht mehr so erstaunt über die Taten einer Frau gewesen war, seit der Frau. Irene Adler. Und was diese Frau getan hatte, war nichts im Vergleich zu meiner eigenen Schwester. Aber was konnte er tun? Er hatte gewonnen – aber zum Preis jeglichen Respekts und aller Würde. Und so beugte Holmes für den Bruchteil einer Sekunde den Kopf und machte ein, zwei Schritte zurück. „Dann wird das genug sein“, sagte er.
 

Ich hätte etwas sagen können. Ich weiß nun, wie sehr ich es Sherlock Holmes schuldig gewesen war, in jenem Moment etwas zu sagen. Etwas um seine Taten zu verteidigen, seine Ehre wiederherzustellen, seinen Stolz zu retten, den er um meinetwillen in den Wind geschlagen hatte. Aber ich tat es nicht. Stattdessen fühlte ich nur meine eigene Erleichterung. Dass Josh sicher zuhause in seinem Bett lag und ich mir keine Sorgen mehr machen musste, dass sich das ändern könnte.
 

Außerdem gab es noch genug andere Dinge, über die ich mir Sorgen machen konnte.
 


 

Wir erreichten London um etwa zehn Uhr und während ich normalerweise ein Mann bin, der gerne früh ins Bett geht, war ich in jener Nacht hellwach. Zu viele Gedanken rasten durch meinen Kopf. Und keiner dieser Gedanken betraf meine Schwester. Diese Wunden waren zu neu, zu frisch. Später würde noch genug Zeit sein, um zu trauern. Im Moment gab es nur eine Sache, mit der mich mein besessener Geist peinigte. Immer und immer wieder.
 

‚Aber ich würde Sie eher zur Hölle fahren lassen, als Ihnen zu erlauben sowohl sein als auch Joshs Leben zu zerstören! Selbst wenn ich dazu mein eigenes opfern muss!’
 

Hätte er das wirklich getan?
 

Meine Liebe zu John…
 

Liebe.
 

Holmes hatte viel riskiert, so viel mehr, als ich erklären oder auch nur ermessen kann. Ich wusste, dass er ein Mann der Ehre, der Ritterlichkeit war, aber trotzdem…wegen seiner Liebe zu mir seinen Namen, seinen Ruf, vielleicht sogar sein Leben zu riskieren…
 

Wie konnte er das tun?
 

Wie konnte ich es zulassen?
 

Wie konnte ich diesen Wahnsinn mit ansehen?
 

Aber ich glaube, dass ich eventuell – wie Holmes mir so oft vorwarf – das große Ganze außer Acht ließ. Und ich fürchte, die Frage lautete eigentlich:
 

Wie konnte ich hier neben ihm stehen, in dem Wissen, was Abigail mit diesen Informationen tun konnte? Ich hätte England mit Josh verlassen, irgendwo neu anfangen können. Schließlich, was zwang mich schon zu bleiben? Meine Praxis, mein Zuhause, mein Schreiben? All das verblasste im Vergleich zu meinem Namen, meiner Ehre und meiner Freiheit. Nichts hielt mich hier.
 

Außer Sherlock Holmes.
 

Auch ich war bereit, alles für ihn zu riskieren.
 

Dieser Gedanke erschreckte mich. Mehr als in den Krieg zu ziehen, mehr als meinen Sohn zu verlieren, mehr sogar als der Tod selbst. Dieses Wissen machte mich beinahe krank. Und doch wusste ich nicht genau, was es war.
 

Zurück in der Baker Street warf sich Holmes in seinen Lehnstuhl, nachdem er uns beiden jeweils ein Glas Sherry eingeschenkt hatte. Trotz dieses schwarzen Tages schien er in guter Stimmung. [Although I am sure that his success in restoring my son to me and solving this mystery (if you care to call it that; it hardly seemed so to me) had a positive effect on the man, no one could endure the lashing he did without feeling some sting Yet as soon as the fire was crackling and he was comfortable with his overcoat removed, he looked at me with a pensive expression.]
 

„Komm und setz dich, mein Freund“, sagte er. „Und dann reden wir über das, was du auf dem Herzen hast.“
 

Werden wir das? „Es gibt nichts, worüber ich reden will.“
 

Er warf mir seinen ernsthaftesten Blick zu und doch wirkte er beinahe amüsiert. „Ich würde Ihnen vorschlagen, mein lieber Sir, niemals in die Politik zu gehen. Sie sind ein erbärmlicher Lügner.“ Er deutete mit seinem Glas auf meinen eigenen Sessel, direkt vor dem seinen.
 

Aber ich war immer noch viel zu aufgebracht, als dass ich hätte sitzen können. Wenn ich zurück bei Blackheath[6] gewesen wäre, hätte ich allein mit der Energie, die ich in jenem Moment fühlte, hunderte Versuche erzielen können [7]. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb und der Sherry setze meinen Magen in Flammen.
 

Er wollte wissen, was ich auf dem Herzen hatte. Er erwartete von mir, darüber zu sprechen, so als könne man den Schrecken, dem ich gegenüber stand, in Worte fassen.
 

Alles was in den letzten fünfeinhalb Monaten geschehen war, zog plötzlich noch einmal an mir vorüber; eine chemische Reaktion, die nur auf einen Katalysator gewartet hatte. Und der heutige Tag war der Katalysator gewesen. Ich akzeptierte es endlich. Aber ich konnte es immer noch nicht verstehen.
 

„Warum, Holmes?“
 

Ich versuchte, diesen Worten all jenes Gewicht und jene Schwere zu verleihen, die sie verdienten. Aber ich fürchte, ich versagte. Sie klangen nur wie flache Worte und nicht wie die Apokalypse, die sie in Wahrheit bedeuteten. „Warum…“, versuchte ich es noch einmal.
 

„Warum was, Doktor?“
 

Warum hast du meiner Schwester deine Gefühle offenbart?
 

Warum hast du gesagt, du würdest deinen eigenen Untergang um meinetwillen in Kauf nehmen?
 

Warum erscheinst du mir nachts in Furcht erregenden Träumen?
 

Warum habe ich Angst vor dem, was ich in Meiringen im Delirium gesagt haben könnte?
 

Warum fühle ich mich in deiner Gegenwart, so wie ich mich noch nie zuvor gefühlt habe?
 

Warum liebst du mich?
 

„Warum habe ich meine Frau getötet?“, platzte es aus mir heraus.
 

Mir war nicht einmal klar, was ich sagte, bevor mich die Wucht meiner eigenen Worte traf. Und als das geschah, konnte ich fühlen, wie sich meine Augen weiteten; eisige Kälte durchdrang meinen ganzen Körper. Was hatte ich gesagt? Großer Gott, was hatte ich gerade gesagt?
 

Ich drehte mich rechtzeitig um, um zu sehen, wie Holmes beinahe seinen Sherry fallen ließ. Es war offensichtlich, dass er ebenso fassungslos war wie ich, denn er sprang auf die Füße. „Was hast du gesagt?“, flüsterte er. „Bei allem, was gut ist auf dieser Welt, was hast du gerade gesagt?“
 

„Ich habe sie umgebracht. Es ist meine Schuld, dass sie tot ist.“
 

Es war das erste Mal, dass ich laut aussprach, was mich seit dem 15. September quälte. Auf eine perverse Art fühlte ich mich erleichtert, es ausgesprochen zu haben; es einem anderen gebeichtet zu haben, wenn man so will. Aber gleichzeitig fühlte es sich entsetzlich an. Ich hatte gerade einen Mord gestanden, oder zumindest etwas, das einem Mord gleichkam. Ich war nicht besser als meine Schwester.
 

„Ich sollte dir für deine Grausamkeit eine wohlverdiente Ohrfeige verpassen, Watson“, sagte Holmes und riss mich hart an der Schulter herum. „Das heißt, wenn du ein anderer Mann wärst und wenn ich mir nicht solche Sorgen um dich machen würde. Wie kannst du nur so etwas sagen? Es ist unwahr und deiner nicht würdig! Du bist ebenso wenig für den Tod deiner Frau verantwortlich, wie das Kind in ihrem Bauch.“
 

„Aber ich habe das Kind dorthinein gesetzt! Wenn ich es nicht gezeugt hätte, wäre Mary heute noch am Leben. Und Josh hätte immer noch seine Mutter und ich…“, ich brach ab, nicht in der Lage weiter zu sprechen.
 

„Und du hättest niemals von meinen Gefühlen für dich erfahren. Darauf läuft es doch hinaus nicht wahr?“
 

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Vielleicht war es das und es war mir bis zu diesem Moment nur nicht klar gewesen. Glaubte ich in meinem Herzen wirklich, dass ich schuld an Marys Tod war? Ich hatte nichts getan, was nicht jeder andere Mann auch getan hätte – versucht eine Familie zu schaffen. War es wirklich, dass Holmes nach Marys Tod mit seinem Liebesgeständnis zurückgekehrt war? Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte er es vielleicht nie getan. Ich konnte es nicht sagen. Ich fühlte die unglaubliche Schuld in mir, aber ich konnte die Quelle nicht benennen.
 

Mit einem tiefen Seufzen schüttete ich mir die letzten Schlucke meines Sherrys in die Kehle und musste würgen. Alkohol auf leerem Magen blockierte nur meine Kehle und meinen ohnehin schon verwirrten Geist. „Holmes, warum…warum liebst du mich?“
 

Da. Ich hatte es ausgesprochen.
 

„Darauf läuft es also hinaus?“
 

„Nein“, sagte ich, während ich die Hand nach der Karaffe ausstreckte. „Nach dem heutigen Tag, nach all diesen Monaten kann ich ganz ehrlich nicht sagen, ob es tatsächlich das ist, worauf es hinausläuft. Aber ich muss es trotzdem wissen. Warum, Holmes? Warum ich? Wenn du bist, was du bist, dann kann ich dich nicht dafür verurteilen, aber warum ich? Ich muss es wissen.“
 

„Du musst es wissen?“
 

„Ja! Sag es mir!“ Warum war das so schwierig. „Ist es, wie du es meiner Schwester heute erklärt hast? Ist es ein Band, das stärker ist als alle Wissenschaft? Ist es, weil du nicht mehr so jung bist, wie du einmal warst und du erkennen musstest, dass Deduktionen nicht die Zeit überdauern können, aber Liebe schon? Hast du auf einmal einen Sinn für Shakespeare entwickelt? Oder ist es etwa eine Art von, ähm…körperlicher Anziehung? Was ist es, Mann!“
 

Holmes starrte mich an, während ich diese impulsive und leidenschaftliche Rede vortrug. Starrte auf diese völlig unmenschliche Art, zu der außer ihm kein anderer in der Lage ist. Und dann – zu meinem unbeschreiblichen Entsetzen – verzog sich sein Mund zu einem Lächeln und er brach in schallendes Gelächter aus. „Oh, Watson! Mein teuerster Watson! Das ist wahre Leidenschaft, nicht wahr? Mir war niemals klar, wie viel das Theater verloren hat, als du dich für die medizinische Laufbahn entschiedst. Großartig!“
 

„Wie kannst du es wagen, dich über mich lustig zu machen!“, zischte ich. „Ich versuche, ernst zu sein!“
 

„Das bin ich auch. Ich versichere es dir. Aber diesmal bist zur Abwechslung einmal du übertrieben dramatisch. Nun, sei nicht zornig auf mich. Ich konnte mich wirklich nicht zurückhalten. Es war nicht herablassend gemeint, auf mein Wort, das war es nicht.“
 

„Also was ist jetzt?“, fragte ich immer noch etwas wütend.
 

„Das lässt sich nicht so einfach erklären, Watson. Du verlangst von mir, zu dieser Tafel zu gehen und das Ganze als einfache mathematische Gleichung aufzuschreiben. Lange genug glaubte ich – auch wenn du mich jetzt vielleicht für arrogant halten wirst – dass es nichts gibt, was ich nicht mit Hilfe von Wissenschaft und Logik hätte lösen können. Aber dann fühlte ich dieses leere Verlangen in den Tiefen meines Körpers, das ich nie zuvor gefühlt hatte. Diese Gefühle waren weder logisch noch vernünftig. Ich konnte sie nicht erklären. Für die längste Zeit konnte ich sie noch nicht einmal verstehen.“
 

„Ver…Verlangen?“
 

Er starrte mich wütend an. „Ich bin keine Maschine, Watson! Dass ist eine Unterstellung, die ich dir zu verdanken habe! Dass ich ein kaltes und berechnendes Ding bin, das zu solchen Dingen nicht fähig ist! Ich bin ebenso aus Fleisch und Blut wie du, also wie kannst du es wagen, anzunehmen, du seiest der einzige von uns beiden, der ein Mann ist!“
 

Bitter Schuld durchbohrte mich wie tausend Nadelstiche. Er hatte Recht. Wie konnte ich solche Dinge gesagt haben? Aber der Grund war gewesen, dass ich selbst daran geglaubt hatte. „Holmes!“, sagte ich und rückte näher zu ihm. „Mein lieber Holmes, ich meinte doch nicht…was ich damit meinte, war, dass ich wirklich dachte, in deinem Geist gäbe es keinen Platz für Gefühle wie Liebe. Du wirst wohl kaum bestreiten, dass du dir viel Mühe gegeben hast, mich davon zu überzeugen. Aber es war niemals meine Absicht, zu behaupten, du verspürtest nicht dieselben Bedürfnisse wie jeder Mann. Wenn du dich erinnerst, war ich es sogar, der stets versucht, dich zu ermutigen etwas Liebe in deinem Leben zu finden. Ich hätte…ich hätte nur niemals gedacht…“ Nun, er wusste genau, was ich niemals gedacht hatte. Dass die Liebe, nach der er sich in seinem Leben sehnte, nicht irgendein hübsches, junges Ding war, sondern ich selbst.
 

Er hatte sich von meiner Verlegenheit zu einem Lächeln verleiten lassen. „Es war auch meine Absicht, dass du es nicht wusstest. Und was deine Beobachtungen bezüglich meines emotionalen Status betreffen, Gott weiß, mein Freund, dass ich versucht habe dieser Mann zu sein. In diesem Moment gibt es nichts, dass ich nicht geben würde, um nicht so zu fühlen. Es ist uns beiden gegenüber ungerecht und besonders dir gegenüber.“
 

„Aber“—
 

„Lass es mich so erklären. Erinnerst du dich an den Fall der Baskervilles?“
 

„Natürlich. Wie könnte ich es vergessen?“
 

„Und an den Fall mit dem gefleckten Band?“
 

„Das war eine hässliche Angelegenheit.“
 

„Und natürlich den berüchtigten Zwischenfall bei Reichenbach…“
 

„Holmes, wo um Himmels Willen soll das hinführen?“
 

„Alles“, erklärte er fest. „In jedem dieser Fälle empfand ich eine Angst, die ich seit…nun, seit sehr langer Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Als wir uns trafen, hielt ich dich zuerst für einen unbedeutenden Mann. Wann genau sich meine Meinung änderte, kann ich dir nicht sagen, aber jedes Mal, wenn ich dir erlaubte mich auf einem Fall zu begeleiten, dachte ich daran, wie sehr du mir vertrauen musstest. Ich dachte daran, wie viel du von meinem Schutz halten musstest. Wie sehr du an das Gute glaubtest. Ich dachte daran, wie du über mich schriebst…mich in einen vollkommenen Abgott der Wissenschaft und Deduktion verwandeltest. Ich dachte daran, wie glücklich du mit Miss Morstan warst und dass du mir trotzdem noch assistiertest.“ Seine langen Finger griffen nach der Sherryflasche und er schenkte sich nach. „Und dann kam ich zu einer Erkenntnis. Der vollkommensten und schrecklichsten Erkenntnis meines gesamten Lebens.“
 

Mein Mund wurde trocken. „Was…“, frage ich.
 

„Du bist vertrauensvoll, ich bin misstrauisch. Du bist gläubig, ich bin skeptisch. Du bist treu, ich bin unzuverlässig. Du vertraust deinem Instinkt, ich der Wissenschaft. Du bist gesellig, ich bin introvertiert. Du bist bescheiden, ich bin stolz. Du bist optimistisch, ich bin pessimistisch. Du bist geduldig, ich bin ungeduldig. Du lebst öffentlich, ich lebe zurückgezogen. Du bist Herz, ich bin Verstand. Nun, ich könnte beliebig so weiter machen, nicht wahr?“
 

„Aber…aber sagst du nicht gerade, dass wir grundverschieden sind?“
 

„Nein, Watson, du begreifst das Wesentliche überhaupt nicht! Wir sind nicht grundverschieden, wir sind was die alten Chinesen ‚Yin und Yang’ nannten. Zwei Teile eines Ganzen. Ohne das eine, würde das andere aufhören zu existieren.“
 

Ich betrachtete es logisch. Oder zumindest versuchte ich es. „Du willst damit also sagen – so weit ich es verstanden habe – dass wir sind, was die romantischen Dichter ‚Seelenverwandte’ nennen? Vom Schicksal für einander bestimmt? Oder etwas in diese Richtung?“
 

„Die meisten emotionalen Reaktionen können auf einfache biochemische Prozesse zurückgeführt werden. Ärger, Freude, Trauer… ‚Liebe’, wie es von vielen genannt wird, ist eigentlich nur eine physische Reaktion, um das Fortbestehen der Art zu garantieren. Um offen zu sein, ist es nicht mehr als eine sexuelle Reaktion.“
 

Ich räusperte mich. „Ja, also…“
 

„Allerdings ist Liebe in Wahrheit viel mehr. Es übersteigt das Körperliche bei weitem. Es ist eine Erkenntnis. Eine Selbstverwirklichung. Dass du selbst ohne den anderen kein ganzer Mensch mehr wärst.“ Er hielt inne für einen langen, dramatischen Schluck Sherry. „Und das ist die Antwort, mein lieber Dr. Watson. Die Antwort, auf die ich nach Monaten, vielleicht sogar Jahren der Forschung stieß. Ohne dich bin ich unvollständig. Ein halber Mann. Das ist der Grund, weshalb ich nach Reichenbach trotz all meiner Bemühungen zurückgekehrt bin. Das ist der Grund, warum ein Teil von mir die Wunde in deiner Brust fühlen kann, ich dir unwillentlich zugefügt habe. Das ist der Grund, weshalb ich Leib und Leben für dein und John Sherlocks Wohl riskiert habe. Und das ist der Grund, weshalb ich weiß, dass sowohl deine Schwester als auch deine Frau dir dein schuldiges Herz vergeben werden. Und schließlich ist es auch der Grund, warum ich weiß, dass du sie nicht getötet hast.“
 

„Ge-getötet?“
 

„Du hast deine Frau nicht getötet“, sagte er mit sanfter Stimme. „Es ist genau, wie ich deiner Schwester gesagt habe. Du bist der Beste der Menschen. Meine bessere Hälfte. Der einzige, den ich jemals…“ Aber dann versagte sein Verstand – bei dieser großen Aufgabe so verloren – schließlich doch und er fand kein englisches Wort mehr, um sich auszudrücken. „Nun. Wenn ich irgendeinen Grund hätte, dich irgendeines Verbrechens zu verdächtigen, dann säße ich jetzt sicher nicht hier und würde dir meine geheimsten Deduktionen enthüllen. Die, die dich betreffen. Und mich selbst.“
 

Ich fühlte, wie sich mein Mund schloss. Es geschah plötzlich und ich kann nicht ehrlich sagen, dass ich mich jemals derartig gefühlt habe. Dieses zermalmende Gewicht, das sich selbst wie ein überwucherter Tumor manifestiert hatte, schien in meiner Brust zu implodieren. Es war nun schon seit sechs langen Monaten dort, zermalmte mich, ließ unwürdige Gedanken durch meinen Verstand rasen. Es war genau wie Holmes es zu meiner Schwester gesagt hatte. Ein schuldiges Gewissen ist sowie ein Leben in der Hölle.
 

Aber es war vorbei. Der großartigste Verstand auf diesem ganzen Planeten hatte mir die Absolution erteilt. Ich hatte stets ihn als den Besten der Menschen angesehen. Und der beste Mensch würde nicht solche Gefühle für mich hegen, wenn er glaubte, es gäbe irgendeine Sünde in meinem Herzen.
 

Meine Erleichterung war so groß, dass ich hätte weinen können.
 

Aber stattdessen tat ich etwas völlig anders. Und noch viel Erschreckenderes. Ich packte Holmes am Arm, und zog ihn gewaltsam zu mir. Bevor ich noch wusste, was überhaupt geschah, verbanden sich unsere Münder auf eine höchst vertrauliche Weise. Ich atmete in ihn und er in mich. Ich schmeckte Sherry, vermischt mit seinem starken Tabak und eine Andeutung von etwas, das wohl sein Mundwasser war.
 

Es dauerte nur wenige Sekunden – höchstens drei. Aber das war lang genug, um in mir heftige Gefühle aufzuwirbeln. Zumindest zwei Gefühle waren erkennbar genug. Das erste war ein heißer Schmerz in meinen Lenden, die plötzlich zum Leben erwachten. Nach einer sieben Monate langen Abstinenz schrie meine Männlichkeit schließlich nach Fleisch. Und mein Körper antwortete.
 

Ich war durch den Kuss eines Mannes erregt worden.
 

Dieser Gedanke verursachte das zweite Gefühl. Entsetzen. Ich riss mich augenblicklich los, riss mich so plötzlich los, wie ich ihn zu mir gezogen hatte. Während ich einen gewaltigen Atemzug des reinigenden Rauchs einsog, fühlte ich, wie mein ganzer Körper brannte. Meine jüngste Wunde begann zu pochen, wo die Kugel aus meinem Rücken entfernt worden war. Mit verzerrtem Gesicht umklammerte ich meine Brust.
 

Was hatte ich getan?
 

Mein Blick fiel auf Holmes. Ich besitze nicht die dichterische Gabe von Shakespeare, Dickens oder Jonson und so war es mir weder möglich, die Stille zu beschreiben, die den Raum erfüllte, noch den Schmerz, der durch meinen Körper raste und ganz besonders…
 

Ganz besonders nicht den Gesichtsausdruck von Sherlock Holmes.
 

War es Erschütterung? Ja. Freude? Zweifellos. Angst? In der Tat. Und Erstaunen? Das will ich wohl meinen. Und möglicherweise noch Tausende andere Gefühle, die sich in jeder Linie seiner Stirn, jedem Schatten seiner Augen, jedem schwachen Zittern seines Kiefers abzeichnete. Er starrte mich an mit dem Blick eines Mannes, dessen Seele soeben aus seinem Körper gesprungen war, nur um es sich in der Manteltasche eines anderen bequem zu machen.
 

Damit war es offiziell. Ein Kuss, der wahrscheinlich heiligste Akt der Liebe, war das Versprechen, dass ich niemals wieder rein sein würde. Die Unzucht, wie es das Gesetz bezeichnete, hatte begonnen. Ich brach willentlich sowohl die Gesetze meines Landes als auch meines Gottes.
 

Etwas im Feuer krachte laut, unterbrach das Schweigen. Meine Augen fielen auf die orange-roten Flammen und ich konnte das Ende sehen. Wohin das Ende führen würde.
 

Ich sprang auf die Füße und der sengende Schmerz, der immer noch durch meinen Körper raste, ließ mir den Schweiß von der Stirn rinnen.
 

Holmes spürte, was ich vorhatte und erhob sich ebenfalls. Er kam auf mich zu und hatte einen Arm nach mir ausgestreckt. Eine Hand zitterte leicht. Ich konnte es nicht ertragen.
 

„Watson, warte! Um Gotteswillen…“
 

Gott? Was hatte Gott damit zu tun?
 

Ich konnte nicht mehr antworten, denn ich war bereist die Treppe hinunter gestürmt und hinaus aus der 221B.
 

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[1] Bekenntnisse des heiligen Augustinus 10:23
 

[2] Römerbrief 7:20
 

[3] Holmes würde wohl recht viel Zeit mit Bibelstudien verbracht haben müssen, um zu diesem Argument zu kommen. Dass die Sünde von Sodom ganz und gar nicht Homosexualität sondern eigentlich fehlende Gastfreundschaft war, ist heutzutage ein sehr bekanntes Argument, aber das war es damals wohl kaum. Rechnen wir das seinem Genie zu.
 

[4] Im Englischen eigentlich „martlett“ (und nicht Schwalbe, „swallow“), aber dabei handelt es sich um einen mythischen, in der Heraldik gern verwendeten Vogel, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt und der einer Schwalbe ähnelt.
 

[5] Hilton Cubit, in ‚Die Tanzenden Männchen’
 

[6] Watson spielte Rugby für Blackheath
 

[7] Ein Versuch (engl.: try) ist ein Tor. (5 Punkte wert)

Das letzte Kapitel in diesem Jahr!

Ich hoffe ihr habt alle einen guten Rutsch (bzw. hattet für alle, die das erst nächstes Jahr lesen) und genießt das neue Kapitel.
 

Ein kalter Luftstoß traf mich, als ich hinaus auf die Baker Street stürzte. Ich hatte weder an Hut noch an Mantel gedacht, doch es gab kaum etwas, was mir in jenem Moment unwichtiger erschien als die Kälte, die durch meine Kleider drang. Ich wusste nur noch, dass ich weg musste. Was gerade passiert war, konnte einfach nicht…nun ja, passiert sein. Aber das war es.
 

Es ging bereits auf Mitternacht zu und mit einem erneuten Einbruch des Winters hatte die Unvorhersehbarkeit des März ihren unrühmlichen Höhepunkt erreicht. Die viel versprechenden ersten Zeichen des nahenden Frühlings waren vergangen. Und der Wind heulte und zischte in meinen Ohren. Sogar Mutter Natur wusste es.
 

Weil ich fürchtete, Holmes könnte mir nachkommen, hielt ich sofort nach einer Kutsche Ausschau und entdeckte auch bald eine, die scheinbar untätige in der Nähe von Regents Park wartete. Der Fahrer schien zu schlafen; er war auf dem Fahrersitz mit verschränkten Armen eingenickt. Das Pferd stampfte mit dampfenden Nüstern ungeduldig auf das Pflaster. Mit einem schnellen Blick über die Schulter hämmerte ich laut genug gegen die Tür, um den Kerl aus dem Schlaf zu reisen. Ich kannte ihn Gott sei Dank nicht.
 

Er zuckte heftig zusammen und starrte mich verärgert an. Allerdings griff er unverzüglich nach den Zügeln. „Wohin, Kollege?“
 

„Einfach irgendwo anders hin“, sagte ich, während ich einstieg. „Und sparen Sie nicht mit der Peitsche, wenn es Recht ist.“
 

„Äh – Sie wiss’n nich, wo Sie hinwoll’n, aber Sie woll’n schnell da hin?“
 

„Ganz genau. Also fahren Sie jetzt bitte los, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Ich klang gelassen. Vollkommen normal.
 

Ich lehnte mich zurück gegen die kalte Sitzbank, sodass ich nach vorn gerissen wurde, als der Kutscher die Peitsche knallen ließ und der Klepper lostrottete – nach Westen, Richtung Marylebone Road.
 

Ich konnte Holmes neben mir spüren, obwohl er meines Wissens immer noch verblüfft auf dem Sofa im Wohnzimmer der 221B saß. Oder vielleicht hatte er den ersten Schrecken überwunden und analysierte gerade die Situation. Vielleicht rannte er mir auch in genau diesem Moment hinterher. Doch wo auch immer er war, ich konnte den Nachhall seiner Gegenwart spüren. An mir, um genau zu sein. Warm. Kräftig. Unerfahren und doch selbstsicher.
 

Der Alkohol. Der Tabak und die Minze. Was sein war, war mein. Für einen Augenblick waren wir eins gewesen. Und ich war auch noch derjenige, der es verschuldet hatte. Warum hatte ich das getan?
 

Und ganz offensichtlich hatte es mich nicht angewidert. Wenn überhaupt dann hatte sich mein Körper nach jenen physischen Empfindungen gesehnt, die er in mir ausgelöst hatte. Immer noch verspürte ich jenes verlangende Pulsieren, das nicht hätte da sein dürfen. Das niemals zuvor von einem Mann erweckt worden war. Nicht einmal in jenen Zeiten, da keinerlei Frauen verfügbar gewesen waren. So wie in diesen langen, kalten Nächten in Afghanistan, als wir zu Dutzenden in enge Zelte gezwängt worden waren und ich stets den üblen Geruch meiner Kameraden in der Nase hatte. Es sind diese Zeiten an der Kippe zwischen Leben und Tod, die einen Mann zeitweise dazu bringen, sich selbst zu vergessen.
 

Als ich mich an all das Geschwätz und an all die Prahlereien erinnerte, die mit dem Dienst in Kriegssituationen Hand in Hand gehen, konnte ich nicht anders, als mir vorzustellen, was all meine alten Kumpanen dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass John H. Watson soeben einen Mann geküsst hatte und davon erregt worden war.
 

Oh Gott. Großer Gott.
 

„Kutscher!“, rief ich, während ich meinen Kopf aus dem Fenster lehnte. „Ich muss sofort zur Ave Maria[1]…ähm…lassen Sie mich einfach bei Saint Paul’s raus.“
 

Mein Freund der Kutscher wand sich um, um mir über die Schulter einen Blick zuzuwerfen. Er wusste, was ich dort wollte, aber es war mir egal. „Sind nur mit dem Besten zufrieden, hä, Kollege?“
 

Meine Augen verengten sich angesichts seines Spottes und ich kämpfte mit dem Verlangen, ihm einen Kinnhacken zu verpassen. Aber im Grunde hatte er Recht. Ich war bei Gott nicht wohlhabend, aber ich würde mich nicht mit irgendeiner Hinterhof-Hure aus dem West End begnügen, die zulässt, dass du sie gegen die erstbeste Wand drückst und darauf hofft, dass du zu betrunken bist, um zu merken, dass sie dich nicht weiter als zwischen ihre Schenkel lässt. Das allerletzte was ich nach alldem noch brauchen konnte, war mir nun auch noch irgendeine garstige Geschlechtskrankheit einzufangen.
 

Die Kirchturmuhr von Saint Paul schlug Mitternacht, als meine Kutsche in die Ave Maria einbog. Der Kutscher empfing sein Fahrgeld ohne höhnisches Grinsen und machte sich aus dem Staub. Kurz blieb ich stehen und fragte mich, wie viele Geheimnisse diese vergessenen Kreaturen wohl mit sich herumtragen mussten. Die Affären eines jeden Mannes, sei er nun arm oder reich. Und nun auch meine eigenen.
 

Es war einer meiner Zeitgenossen aus dem Saint Bart’s Hospital gewesen (welches zufälligerweise genau auf dem Weg gelegen hatte), durch den ich von diesem Freudenhaus erfahren hatte. Es war teuer, war mir gesagt worden, aber die Mädchen waren erstklassig; weder krank noch unansehnlich. Jeder, der einen gewissen Rang innehatte, hatte diesen Ort bereits aufgesucht und es war gut möglich, dass das sogar einige hochrangige Regierungsmitglieder einschloss. Auch wenn ich einen Eid geschworen habe in diesen Memoiren weder zu lügen, noch irgendwelche Aspekte meinen Lebens zu verfälschen oder auszulassen, wozu ich in meinen veröffentlichten Werken gezwungen war, kann ich nicht in gutem Gewissen die Namen derjenigen enthüllen, die mir nichts Böses getan haben. Und deshalb werde ich weder die genaue Lage dieses Ortes, noch die Namen derjenigen preisgeben, die dieses Haus führen.
 

Auch ist es nur vernünftig, hier nicht vornehm zu tun. Sie mögen gelesen haben, dass meine Kenntnis von Frauen recht umfassend ist und sich über drei Kontinente erstreckt. Ich will Sie auch nicht in dem Glauben lassen, ich hätte noch niemals einen Fuß in ein solches Haus gesetzt, aber ich bestehe darauf, dass, egal welche Schwäche ich in der Vergangenheit auch für die Fleischeslust gehabt haben mochte, all dies ein Ende fand, als ich der Ehemann meiner Frau wurde. Es mag für einen Mann nicht ungewöhnlich sein, innerhalb oder außerhalb des eigenen Haushalts Geliebte zu suchen, aber ich liebte sie von ganzem Herzen und hätte niemals etwas getan, was sie traurig machen würde.
 

Und weil ich seit Mary keine Frau mehr gehabt hatte, fühlte ich mich nun teilweise schuldig und beschämt. Aber es war im Grunde nicht die Fleischeslust, die mich hierher trieb. Es ging um mein eigenes Wohl. Ich musste etwas beweisen.
 

Die Tür wurde von einer Frau im mittleren Alter mit stahlgrauem Haar und ebensolchen Augen geöffnet. Früher musste sie wohl sehr attraktiv gewesen sein, aber die Mühen des Lebens hatten sie vorzeitig altern lassen. „Ja?“, fragte sie auf mein Läuten. „Wer hat Sie geschickt?“
 

„Niemand. Dieses Haus ist mir empfohlen worden.“
 

Das schien ihr zu reichen. Die Tür öffnete sich ganz und mir wurde Einlass gewährt. Das Innere wirkte wie ein normales Heim mit all dem dazugehörigen Schmuck, den man erwarten würde. Aber dafür gab es einen guten Grund und der sollte eigentlich offensichtlich sein.
 

„Wissen Sie wie spät es ist?“, sagte Madam, während sie mich durch das Haus auf einen Vorhang zuführte.
 

„Ich bitte um Verzeihung.“ Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
 

„Meine Mädchen sind daran gewöhnt. Sie werden sie sich an alles gewöhnen, was Sie verlangen, solange Sie gut zahlen.“
 

„Das kann ich Ihnen versichern.“
 

Sie lächelte. „Dann gehört Ihnen die Welt, Sir. Ich vermute Sie suchen nach einem unberührten Mädchen?“
 

„Nun…“ Ich räusperte mich und fühlte mich mit einem Mal sehr unwohl. Was tat ich hier eigentlich? Was würde es an der Lage ändern, wenn ich hier nur mit meinen Lenden anstelle meines Kopfes dachte?
 

„Vielleicht suchen Sie auch etwas ein wenig…Unorthodoxeres? Ich habe Mädchen, deren Spezialität“—
 

„Nein! Überhaupt nicht!“ Das letzte, was ich wollte, war etwas Unorthodoxes. Ich wollte es einfach, gewöhnlich, normal…so wie es sein sollte.
 

Die Dame sah mich an und ich drehte mich hastig weg. „Sie brauchen Sich keine Sorgen über Ihre Anonymität zu machen, Sir. Ich versichere Ihnen, dass wir hier bereits die Geheimnisse von Männern in den mächtigsten Positionen bewahrt haben“—
 

Geheimnisse bewahrt?
 

Es war genau wie bei Holmes. Die Sorgen wie vieler Klienten hatte er schon besänftigt, indem er ihnen versicherte, dass sowohl er als auch ich vollkommen vertrauenswürdig waren? Ich wusste es nicht, aber ich hatte in jenem Moment das sichere Gefühl, als verletze ich irgendeine Art des Vertrauens. Was würde Holmes sagen…
 

„Stimmt etwas nicht?“
 

Ich fuhr aus meinen Gedanken hoch, um der Eigentümerin ins Gesicht zu blicken. „Ich bitte um Vergebung“, sagte ich. „Aber ich…ich muss gehen. Ich fürchte, ich bin aus ganz falschen Gründen hierher gekommen.“
 

„Aus falschen Gründen?“ Sie lachte. „Sir, es gibt nur einen einzigen Grund, weshalb ein Gentleman hierher kommt.“
 

„Ja…“ Normalerweise würde ich ihr zustimmen. Aber damals konnte ich es nicht. Ich war mir nicht mehr sicher, warum ich überhaupt dort war. „Aber ich muss wirklich gehen. Es tut mir Leid, Sie gestört zu haben.“ Und bevor sie antworten konnte, war ich auch schon mit hochrotem Kopf aus der Tür gestürmt. Mein neues Ziel lag nur eine Straße entfernt. Zum Teil war ich erleichtert, dass ich nichts Unüberlegtes oder Unvernünftiges getan hatte. Aber ein anderer Teil von mir war vollkommen entsetzt, dass ich gerade wirklich wie ein vollkommener Narr aus diesem Haus gerannt war.
 

Als ich schließlich den Saint Paul’s Friedhof erreichte, war ich völlig außer Atem und meine Lungen brannten. Schweiß tropfte mir in die Augen und die wachsende Kälte der Nacht ließ meinen verschwitzen Körper zu Eis erstarren. Aber selbst in der pechschwarzen Dunkelheit wusste ich instinktiv wohin ich gehen musste.
 

Mary Morstan Watson
 

Geliebte Ehefrau und Mutter
 

Ich fiel vor dem Grab auf die Knie, was einen stechenden Schmerz durch meine alte Wunde jagte. Mit einer Hand umklammerte ich sie, während ich auf die eingravierten Worte starrte, als hoffte ich, darin die Lösung für all meine Probleme zu finden. „Oh, Mary…“, flüsterte ich. „Was soll ich nur tun?“
 

Aber die Dunkelheit antwortete nicht. Da war nur der Wind, der mir eiskalte Schauer über jeden Zoll meines Körpers jagte.
 

„Ich kann einfach nicht daran denken“, erklärte ich dem Grab. „Ich kann nicht daran denken…was passieren könnte. Was er über uns beide gesagt hat…“
 

„Nein, Watson, du missverstehst das Wesentliche! Wir sind nicht grundverschieden , wir sind was die alten Chinesen ‚Yin und Yang’ nannten. Zwei Teile eines Ganzen. Ohne das eine, würde das andere aufhören zu existieren.“
 

„Ich habe ihn noch nie so gesehen, Mary. Er war…verletzlich. Er versuchte tatsächlich, etwas so Emotionales wie Liebe logisch zu erklären. Aber ich muss zugeben…dass ich ihm folgen kann. Es ist natürlich nur seine Ansicht und doch…ich habe immer über die Theorie des Schicksals nachgedacht. Ich könnte mir vorstellen, dass es das war, was uns zusammenführte, als Holmes und ich uns vor 14 Jahren an jenem eisigen Februarnachmittag begegneten. War es Schicksal, dass ich dem jungen Stamford damals im Criterion über den Weg lief und das sowohl Holmes als auch ich nach einer Unterkunft suchte? Es war außergewöhnliches Glück, dass ich meine Verletzungen lang genug überlebte, um es überhaupt nach London zu schaffen…und dann Moriaty…wie viele Male hatten wir beide dem Tod selbst ins Gesicht geblickt und hatten überlebt? Und wieso hatten wir überlebt?“
 

„Du willst damit also sagen – so weit ich es verstanden habe – dass wir sind, was die romantischen Dichter ‚Seelenverwandte’ nennen?“
 

„Ist es das, was wir sind, Mary, Seelenverwandte? Erklärt das die unheimliche Faszination, die dieser Mann schon immer auf mich ausgeübt hat? Erklärt das, warum ich immer diese Verbindung zwischen uns gefühlt habe? Oder sind die Gründe dafür viel einfachere?“
 

Die Erinnerung an jenen Kuss durchströmte mich ein weiteres Mal und wieder fühlte ich Schmerz in jeder meiner drei Wunden.
 

Ich streckte die Hände aus und packte den Grabstein meiner Frau. Oder war es Schmerz?
 

Machte ich alles viel komplizierter als es war?
 

Gab es einen menschlicheren Grund, warum ich Holmes umarmt und es genossen hatte?
 

Nein. Nein, das konnte nicht sein! Oder doch?
 

Und dann erinnerte ich mich an den Traum. Mary, so schön wie das reine Morgenlicht, verblasste vor mir, während mein Körper gegen meinen Willen sein Bewusstsein wiedererlangte. Ich erinnerte mich daran, was sie gesagt hatte: „Du musst dir selbst vergeben. Für das, was geschehen ist und für das, was noch geschehen wird. In meinen Augen bist du frei von jeder Sünde.“
 

Für das, was noch geschehen wird? Aber wie konnte ich…war es überhaupt ein Traum gewesen? Oder etwas anderes…eine Vision.
 

Du musst dir vergeben, für das, was noch geschehen wird.
 

Oh, Gott.
 

Es stimmte.
 

Ich kann ehrlich sagen, dass ich in jenem Moment, als ich dort allein in der tiefsten Dunkelheit kniete, größere Angst vor mir selbst empfand als jemals zuvor. Und auf einmal hatte ich keinerlei Möglichkeiten. Es gab nichts, was ich tun konnte.
 

Außer jeden Gedanken auszulöschen. Meinem Erbe nachzugeben. Und so stolperte ich auf Füßen, die meinen Körper kaum noch aufrecht halten konnte, in Richtung der weniger eleganten Teile von London, die ich normalerweise mied. Ich hatte nur noch einen Gedanken. Zu trinken, bis die Erkenntnis nicht mehr da war. Ganz egal wie lange es dauern würde.
 

Das Cock and Bull direkt neben der Newgate Street war die erste Kneipe die meinen Weg kreuzte und so weit ich weiß, hatte ich noch nie auch nur einen Fuß hinein gesetzt. Sie war gefüllt mit Fischhändlern, Obstlieferanten und sogar noch niedereren Lebensformen. Zuerst dachte ich an Bier oder Portwein, die größten Wagnisse, die ich gewöhnlich bei Alkohol einging, aber dann entschied ich mich für die Milch meines Vaters: Scotch-Whiskey. Pur. Der Wirt reichte mir das Glas ohne zu zögern.
 

Die Qualität war wohl kaum erstklassig. Aber nachdem ich den grotesken fruchtigen Weißwein aus Afghanistan gekostet hatte, den die meisten Männer meiner Kompanie tranken, wenn sie nichts Zivilisierteres in die Finger bekamen, konnte ich mich mit allem anfreunden. Es war stark, brannte und schmeckte verdorben. Aber ich trank es trotzdem. Und dann noch einen. Und noch einen…
 

War ich genauso wie Holmes? Hatte ich es all die Jahre verleugnet, auch mir selbst gegenüber? Schließlich konnte ich nicht leugnen, was ich nach nur ein paar Sekunden mit ihm gefühlt hatte. Und wäre ich früher vor den erwartungsvollen Armen einer Frau geflohen, auch wenn sie nur meine Lenden und nicht mein Herz befriedigen würde?
 

Mit ziemlicher Sicherheit nicht.
 

Mit nervösen Blicken versuchte ich die anderen Männer in der Kneipe zu mustern, ohne dass es jemand bemerkte. Hatte irgendein anderer Kerl – und sei es auch in dem einsamsten Augenblick des Krieges weit weg von Zuhause – jemals auch nur die geringste Anziehung auf mich ausgeübt?
 

Auch wenn der Whiskey meinen Geist immer mehr umnebelte, versuchte ich darauf eine ehrliche Antwort zu finden. Aber ich konnte diese Frage zu meiner größten Erleichterung ehrlich verneinen. Niemals. Ich hatte niemals Gefallen an Männern gefunden. Ich bevorzugte mit Sicherheit das schöne Geschlecht, wie es nur natürlich ist.
 

Aber was zum Teufel war dann jetzt mit mir los?
 

Die einzige Lösung, die sich anbot, war die, die mir Holmes gegeben hatte. Schicksal. Yin und Yang. Vorsehung. Seelenverwandte.
 

Ich kann nicht sagen, dass ich jemals viel über solche Dinge nachgedacht hatte. Das Schicksal schien mir ein interessantes Konzept, aber es ließ sich nicht beweisen. Und ein Seelenverwandter war jemand, den Shakespeare für seine von den Sternen verfluchten Liebenden erfunden hatte und nicht für einen exzentrischen Detektiv und seinen Biographen.
 

„Und außerdem“, sagte ich laut, ohne es wirklich zu merken. „Sollte mein Seelendverwandter nicht eine gottverdammte Frau sein?“
 

„Was ist los, mein Freund?“, fragte der Wirt.
 

„Nichts…Gott vergebe mir, aber ich muss meine Probleme nicht in Worte fassen.“
 

„Schwachsinn. Hier redet jeder über seine Probleme.“
 

„Ja, gut, aber ich habe mehr als meinen gerechten Anteil abgekriegt. Gib mir noch einen.“
 

Irgendwann zwischen meinem achten und neunten Scotch setzte sich ein alter Landstreicher zu mir an die Bar. Zuerst verschwendete ich keinen Gedanken an ihn; ich bemerkte nur seine schäbig Kleidung und die wilden, grauen Haare. Aber nach mehreren Minuten des Schweigens, drehte er sich zu mir. „Probleme, Junge?“ Seine Stimme war tief und ernsthaft.
 

Als er sich umwandte, sah ich, dass sein Gesicht mehr schwarz als weiß war. „Nichts Besonders“, antwortete ich, während ich mit dem Glas gegen die Theke schlug, um die Aufmerksamkeit des Wirtes auf mich zu richten.
 

„Einen Penny für deine Gedanken?“
 

„Ich denke nicht, dass du auch nur einen einzigen entbehren kannst, mein Freund. Aber komm schon, trink einen mit mir.“ Ich wühlte in meinen Taschen und warf ihm einen Shilling zu.
 

„Danke, Junge, sehr gern, aber ich bin aus einem ungewöhnlichen Grund hier.“
 

„Einem ungewöhnlichen Grund?“, lachte ich. „Mein Freund, wer kommt in ein solches Loch schon aus einem anderen Grund als sich zu…nun, sich abzufüllen?“
 

„Ich bin hier, um einen lieben Freund davon zu überzeugen, dass er einen schweren Fehler macht.“
 

Er klang ganz sicher nicht wie ein Landstreicher. „Nun, dann wünsch ich dir Glück, alter Junge. Möge der ‚schwere Fehler’ ein leichterer sein als der meine.“
 

„Dann gibst du zu, dass du einen machst, Junge, indem du dem einsamen Trinken in die Falle tappst?“
 

„Es scheint die einzige Lösung.“
 

„Die einzige Lösung, hm? Es gibt nur eine einzige Bedrängnis, die einen Mann zu einem solchen Ende treiben kann. Liebe.“
 

Ich starrte ihn kurz mit trüben Augen an. „Sie sind sehr scharfsinnig, Sir“
 

„Unsinn. Es steht dir in jeder verwirrten Linie deiner Stirn und in jedem Zittern deiner Hand geschrieben, wenn du sie hebest, um deinen Verstand noch weiter zu vergiften.“
 

„Nun ja“, sagte ich, während ich kurz mein Spiegelbild in dem Glas betrachtete. „Meine Liebe ist nicht wie die der meisten anderen Männer.“
 

Er lachte. Es war ein trockener und abgehackter Laut, der sich als Husten fortsetzte. Die Verstopfung klang sehr nach Schwindsucht. „Ich bin der Meinung, mein lieber Junge, dass jeder Mann denkt, seine Liebe ist anders als die aller anderen.“
 

„Ich weiß, dass meine es ist.“
 

Er schnalzte mit der Zunge. „Armer Brutus…“
 

Ich begann zu husten. „Was?“
 

Er lachte leise und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Lächeln. „Shakespeare, Junge. ‚Der arme Brutus, mit sich selbst im Krieg, vergisst den andren Männern Liebe kund zu tun.’[2]“
 

Ich drehte mich um und starrte ihn fassungslos an. Seine Worte entsetzten mich. „Wer zur gottverdammten Hölle sind Sie?“, fragte ich den Landstreicher, aber im selben Moment, durchschaute ich Perücke und Verkleidung. Zwei graue Augen, die mir nur zu vertraut waren, durchbohrten mich. Ich packte seinen Arm.
 

„Holmes!“, schrie ich wütend. „Was zum Teufel machst du hier?“
 

„Ich könnte dich dasselbe fragen, Doktor. Aber die Antwort ist offensichtlich. Und ich muss sagen, dass das ziemlich dumm von dir ist. Unglaublich unreif und selbstsüchtig.“
 

Ich versuchte aufzustehen, denn ich war rasend, dass er meinen Zustand so ausnutzen würde. Ich schaffte es beinahe nicht. Im selben Moment, als meine Füße den ihn berührten, wendete sich der Boden in die Vertikale. Ich versuchte nach der Theke zu greifen, aber ich verpasste sie um ganze Fuß. Glücklicherweise packte die Hand von Holmes, dem Landstreicher, in letzter Sekunde meinen Ellebogen und ich war gerettet. Trotzdem hätte ich ihn am liebsten so gründlich verprügelt, wie es mein Zustand zuließ. „Du…du…“ Aber mir fiel keine Beschimpfung ein, die übel genug gewesen wäre. „Du gemeiner Schuft! Du hast das mit Absicht getan! Du wolltest, dass ich…dass ich es gestehe! Du hast mich dazu gebracht, zuzugeben, dass ich wirklich etwas gefühlt“—
 

„Um Himmelswillen, Mann, sprich leise!“, zischte Holmes. „Willst du wirklich, dass dieses ganze verfaulte Loch der Niedertracht mithört?“
 

Und wir bekamen misstrauische Blicke. Aber ich war bei Weitem nicht ich selbst und es könnte mich nicht weniger gekümmert haben. „Das werde ich dir niemals verzeihen.“
 

Es schmerzt selbst jetzt noch, daran zu denken, dass ich tatsächliche etwas so Hartes zu ihm gesagt hatte.
 

Aber er erkannte, dass der Alkohol aus mir sprach. „Meine Absicht war, dich zu finden und nach Hause zu bringen, Doktor. Es ging mir nicht um meine eigene Belustigung oder meinen eigenen Nutzen. So unüberlegt zu handeln, wie du es tatest, ist der sicherste Weg, sich eine ganze Menge Schwierigkeiten einzuhandeln.“
 

„Ich habe schon eine Menge Schwierigkeiten! Es ist Schande, Entehrung und gegen das Gesetz…“
 

Der Wirt beäugte uns mittlerweile ziemlich aufmerksam.
 

Holmes zog mich am Arm näher zu sich, bis sein Mund direkt neben meinem Ohr war. „Begehe keine noch größere Dummheit, als du ohnehin schon hast. Du wirst jetzt augenblicklich mit mir nach Hause kommen. Du bist so am Ende, dass du nicht einmal mehr weißt, was du tust.“
 

Der Wirt verengte seine Augen. Ich konnte sein Misstrauen beinahe riechen. „Vielleicht hast du Recht“, sagte ich zu meinem Freund. „Ich glaube…ich glaube, ich sollte besser nach Hause gehen.“ Ich wollte auf die Tür zu gehen, aber wurde sofort zurückgerissen.
 

„Nein, Watson“, sagte Holmes. „Wir sollten besser nach Hause gehen. Komm mit.“
 

Irgendwie schaffte ich (oder eher, schafften wir) es zurück in die Baker Street. Alles vor meinen Augen war verschwommen, ich konnte kaum noch gehen und mir war schrecklich übel. Ich schaffte es noch ins Wohnzimmer, wo ich sofort auf dem Sofa zusammenbrach. Zumindest drehte sich nicht mehr alles.
 

„Hier“, sagte Holmes und drückte mir ein Glas in die Hand.
 

Ich nahm einen Schluck und spuckte es sofort wieder aus. Es war das Übelste, was ich jemals gekostet hatte. „Was ist das denn? Versuchst du mich zu vergiften?“
 

„Es soll die Nachwirkungen von exzessivem Trinken kurieren“, sagte Holmes. „Es ist ein Heilmittel, das ich irgendwo aufgeschnappt habe.“
 

„Es ist widerwärtig!“
 

„Es ist warme Milch und Ruß.“
 

„Was?!“
 

Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Die Milch soll den Körper dehydrieren und den Magen besänftigen, während der Ruß für die Entgiftung zuständig ist…“
 

„Das ist Wahnsinn! Völlige Quacksalberei! Holmes, wie kannst du nur auf so was hereinfallen?“
 

„Sag niemals, etwas sei Wahnsinn, nur weil es neu und seltsam klingt“, erwiderte er und schwenkte einen Finger in meine Richtung. „Denk an all jene, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe. Jeder andere Vorschlag war Wahnsinn.“
 

„Nun gut…“ Ich stellte das Glas auf den Boden und versuchte meinen Körper zu entspannen. In Wahrheit wollte ich einfach einen ganzen Monat lang schlafen und diesen grässlichen Tag nur noch vergessen. Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir diese Möglichkeit nicht offen stand. „Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht noch mehr Stufen ertragen kann“, murmelte ich Augenblicke später. Ich wäre nicht einmal dann auf die Füße gekommen, wenn die 221B in Flammen gestanden hätte.
 

„Wenn du es versuchen würdest, würdest du stürzen und dir den Hals brechen. Wie viele Whiskeys hattest du – ähm…mindestens neun, schätze ich.“
 

„Ich kann mich nicht erinnern. Sie verschwimmen alle.“
 

Er schnaubte und ich konnte deutlich seinen unterdrückten Zorn spüren. Früher war er nur dann zornig auf mich gewesen, wenn ich mir irgendwelche groben Schnitzer erlaubte, während ich ihm bei einem Fall assistierte. Aber in jener Nacht erinnere ich mich an mehr als bloßen Zorn. Da war Sorge. Und Erleichterung.
 

„Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich. „Es muss tausende Kneipen in London geben. Woher wusstest du, dass ich in genau dieser sein würde?“
 

„Wenn man es genau nimmt und sowohl die Wirtshäuser als auch die gewöhnlichen Biergeschäfte zusammenzählt, sind es in der ganzen Metropole über 20.000.“
 

„Wirklich?“
 

„Absolut. Und ich wusste nicht, dass du im – wie hieß es noch mal? Ach ja, im Cock and Bull sein würdest.“
 

„Aber“—
 

„Ich hatte mir gedacht, dass du beim Friedhof von Saint Paul’s sein würdest.“
 

Ich schloss kurz die Augen. „Das war ich.“
 

„Ja – ich weiß. Selbst im Dunklen war es offensichtlich, dass jemand das Grab erst vor kurzem verlassen hatte. Das Cock and Bull war die nächste Kneipe.“
 

„Und die Verkleidung? Um mir eine Falle zu stellen?”
 

„Ganz sicher nicht! Um dich zu schützen. Und mich selbst.”
 

„Woher wusstest du, dass ich meine Zuflucht im Alkohol suchen würde?“
 

Er starrte mich an, als wollte er andeuten, dass ihm jeder Schritt, den ich machen mochte, bekannt sei und wir beide ignorierten die Frage. Er wollte nicht darauf antworten und ich wollte seine Antwort ganz sicher nicht hören.
 

„Holmes?“, fragte ich nach einem kurzen Schweigen. „Es gibt etwas, das ich wissen muss.“ Er war im Begriff sich die Pfeife zu stopfen. Die Calabash. „Was habe ich in Meiringen gesagt?“
 

Seine Augen leuchteten auf, als er das Zündholz auslöschte. „Kannst du es dir nicht denken?“
 

„Oh doch, das kann ich. Ich vermute, ich habe dir gesagte, ich würde dich lieben, wollen, brauchen…all solche Dinge, die ich bei klarem Verstand wohl niemals sagen würde.“
 

„Tatsächlich hast du nichts Derartiges gesagt.“
 

„Ha…habe ich nicht? Das ist sel…Ich meine, was habe ich dann gesagt?“
 

„Es war größtenteils Kauderwelsch. Aber von Zeit zu Zeit hast du nach verschiedenen Personen gerufen…deiner Frau, deinem Sohn. Sogar nach deinem Bruder und deiner Mutter.“
 

„N-nicht nach dir?“
 

„Zu mir hast du nur eines gesagt.“
 

„Und was war das?“
 

Er lehne sich in seinem Sessel zurück, wand sich ans Fenster, das mit einer viel zu späten Schicht aus Raureif überzogen war. Als er wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme ganz anders. „Du sagtest…du sagtest nur, dass es dir Leid tue.“
 

„Leid tue?“
 

„Du sagtest…du sagtest, es tue dir Leid, dass du nach allem, was ich für dich getan hätte, diese eine Sache nicht für mich tun könntest.“
 

Meine Augen weiteten sich augenblicklich angesichts dieser Erkenntnis, doch dann schloss ich sie. Mein Kopf drehte sich. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. Aber ich glaubte ihm. Er würde nicht lügen. Er würde mich nicht anlügen. Nicht mich, nicht in dieser Sache. Genau als ich etwas – irgendetwas – sagen wollte, spürte ich, wie eine Decke über mich gebreitet wurde und ich sah Holmes über mir stehen. „Es ist sehr spät“, sagte er. „Und du wirst mit Sicherheit einen höllischen Morgen haben. Ich schlage vor, du solltest versuchen zu schlafen.“
 

Ich nickte und er wand sich ab und ging auf sein Zimmer zu. Aber ich hörte seine Stiefel auf halbem Wege innehalten. „Watson, wärst du überrascht gewesen, wenn ich dir erzählt hätte, dass du, als du im Fieber lagst, tatsächlich gesagt hättest, du würdest mich lieben und brauchen?“
 

Ich wälzte mich auf die andere Seite, um die Überreste des Feuers zu betrachten. Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie er dort stand. Die Flammen fühlten sich trotz meiner geröteten Haut wunderbar warm an. Meine Augen brannten bereits und ich konnte fühlen, wie mein Kopf zu schmerzen begann, doch ich konnte zumindest klar denken. Und genau wie er mich nicht belogen hatte, so würde ich auch ihn nicht belügen. „Nein, Holmes“, sagte ich ihm. „Ich wäre nicht überrascht gewesen.“
 

Ich konnte nicht sehen, ob er lächelte oder nickte oder irgendetwas dergleichen, aber er sagte nichts. Ich konnte nicht sagen, ob ihn dieses Eingeständnis wütend oder überglücklich machte. Er ging in sein Zimmer und schloss die Türe leise hinter sich.
 

Während der Alkohol begann mir Geist und Sinne zu verwüsten, fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Traumähnliche Bilder begannen an meinem Verstand zu nagen und ich durchlebte jene Erinnerungen, die ich vergessen wünschte. Aber nicht die Erinnerungen an den Krieg, an meine Familie oder dergleichen. Einfach der schrecklichste Augenblick meines Lebens.
 

Er war tot.
 

Sein Kampf mit Moriaty war vorbei.
 

Aber anders als bei Gott und Luzifer hatte dieser Kampf keinen Sieger.
 

Seine Nachricht, sein Brief lag in meiner Hand. Der brausende Sturzbach ergoss sich auf den Körper meines Freundes. Ich sollte jemanden holen. Die Behörden…irgendjemanden. Jemand sollte hier sein und wissen, was geschehen war.
 

Aber ich konnte nicht.
 

Ich konnte nur dort auf jenem Felsen stehen und hinab starren. Tränen rannen über mein Gesicht, aber ich konnte nicht schluchzen. Es schmerzte zu sehr.
 

Seit meiner Kindheit kann ich mich nur an zwei Gelegenheiten erinnern, an denen ich geweint hatte.
 

Und beide Male war es vor ihm gewesen.
 

Der großartigste Mann…nein, der großartigste Mensch, den ich jemals gekannt hatte, war tot.
 

Und ich konnte nur daran denken, dass mich ihm anschließen wollte.
 

Der Verlust war so viel größer, als ich es mir vorstellen konnte. So als ob…
 

…ich halbiert worden wäre.
 

Mit blankem Entsetzen öffnete ich meine Augen. Nein, ich war nicht in Reichenbach. Ich war zuhause, zurück in der Baker Street, wo ich sein sollte. Und ich hatte erkannt, dass ich es schon damals vor beinahe vier Jahren gewusst hatte. Dies war nicht die Nacht der Erkenntnis. Das war damals gewesen. Seit dreieinhalb Jahren hatte ich ein Doppelleben geführt. Ich hatte meine Frau und mein Kind, aber das erklärte so vieles. Warum ich ihn nicht vergessen konnte. Warum ich alle meine Notizen über ihn und seine Fälle behalten hatte. Warum ich in Ohnmacht gefallen war, als er zurückgekehrt war. Und warum ich so wütend war, weil er mir nicht vertraut hatte.
 

Es war als ob der Regen nicht darauf vertraute, dass die Sonne wieder scheinen würde.
 

Er hatte mich gebraucht, aber ich hatte ihn noch viel mehr gebraucht.
 

Ich griff nach meiner Uhr, immer noch in den Kleidern, die ich nicht ausgezogen hatte und sah, dass es beinahe fünf Uhr Morgens war. Die Sonne würde bald schon aufgehen und ich fühlte mich, als ob ich gerade in jene Wasserfälle in meinen Tod gestürzt wäre. Mein Kopf schmerzte, meine Augen standen in Flammen und mein Magen schlingerte. Ich wusste, wie ich diesen Tag verbringen würde. Verborgen vor all den neugierigen Augen. Unbehaglich machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer, entledigte mich von Mantel und Stiefeln und vergrub meinen Kopf meinem Kissen. Es war ein Versuch, meinen Kopf sowohl vom Pochen als auch vom Denken abzuhalten.
 

Als ich wieder erwachte, hatte sich das tränende Brennen meiner Augen und das trockene Pocken meiner Schläfen gelegt und ich konnte an der Länger der Schatten, die die glimmende Lampe warf, erkennen, dass jene Nacht vergangen und von einer neuen ersetzt worden war.
 

Meine Kehle hatte die Konsistenz von Teer angenommen und schmeckte auch so. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal – wenn überhaupt – jemals so berauscht gewesen war. Die verwischten bernsteinfarbenen Erinnerungen an jene Septembernacht schienen darin ihren Nachhall zu finden, aber das war mehr eine erschöpfende Müdigkeit gewesen. Überhaut nicht wie das hier. Verträglichkeit gegen Whiskey lag mir im Blut und Betrunkenheit stellte sich normalerweise nur langsam ein.
 

Auf jeden Fall langsamer, als in der letzten Nacht.
 

Ich griff unaufmerksam nach den Krug auf meinem Nachttisch und leckte das lauwarme Wasser von meiner Hand. Der Geschmack milderte sich ein wenig und auch der widerliche Schleim, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, aber genug blieb erhalten, dass ich nicht hoffen konnte, alles sei nur ein sehr lebendiger Traum gewesen. Alles – angefangen von Abigail bis zu meiner kurzen Intimität mit Holmes; von meinen dummen und von Hormonen gesteuerten Handlungen im Bordell bis zu jener schrecklichen Erkenntnis…und dann erst recht die Tatsache, dass ich Holmes erzählt hatte, ich würde etwas für ihn empfinden…
 

Meine Liebe ist nicht wie die der meisten anderen Männer…
 

Genau in jenem Moment sah ich wie sich die Tür langsam mit einem leichten Ächzen öffnete. Für einen Augenblick fühlte ich Panik – ziemlich unsinnige, wenn man es recht bedenkt – aber bald sah ich, dass es sich nicht um meine wahr gewordenen Alpträume handelte, sondern in der Tat nur etwa drei Fuß groß war. Ich zog meine Hand vom Nachttisch weg, wo ich meine Waffe aufbewahrte. Der Schatten trat in das wenige Licht, das mein Zimmer erfüllte und Josh spazierte mit einem zerstreuten und besessenen Gesichtsausdruck herein.
 

Ich hatte ihn noch nie zuvor so gesehen. Ich dachte zuerst, dass er wohl schlafwandeln musste. Er wirkte mit Sicherheit…nun, ehrlich gesagt, nicht normal. „Josh?“, fragte ich. „Was… Stimmt irgendetwas nicht, mein Sohn?“
 

Er machte keinerlei Anstalten mir zu antworten, sondern stand nur da, hielt seinen Stoffhund umklammert und starrte mich aus großen blauen Augen an.
 

„Josh?“
 

Nichts.
 

„Was ist denn los, Liebling?“, ich packte seinen Arm und er reagierte augenblicklich. Indem er beinahe aus der Haut fuhr. Er reagierte, als ob meine Berührung ihn verbrannt hätte, rannte rückwärts gegen die Tür und schlug sie zu. Aber dann schien er seinen Kopf leicht zu schütteln und sich zu erholen. Er sah mich an und starrte nicht mehr leer und wahnsinnig. Wenn überhaupt dann wirkte er verwirrt. „Papa?“, fragte er. „Was tust du hier?“
 

„Ich? Du bist in meinem Zimmer, Sohn. Bist du in Ordnung?”
 

Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaub schon. Aber das letzte, woran ich mich erinnere, ist dass ich mit einem großen Hund gespielt habe…es war eine schwarze Bulldogge und hatte Zähne. Große Zähne, mehr wie ein Monster als wie eine Bulldogge. Er wollte mich beißen, aber ich hatte keine Angst, weil Mama da war. Sie hat ihn weggejagt.“
 

„Du hast deine Mutter gesehen?“, unterbrach ich ihn. Er war nicht der Einzige.
 

„Ja.“
 

„Was hat sie zu dir gesagt?“, fragte ich, obwohl ich seine Antwort fürchtete.
 

„Sie hat gesagt…sie hat gesagt…oh, ich weiß nicht mehr!“ Er begann zu weinen und ich hob ihn auf dem Bett in meinen Schoß.
 

„Aber, aber, Liebling. Deshalb musst du doch nicht weinen.“
 

„Aber es war wichtig! Was Mama gesagt hat, war wichtig!“
 

„Natürlich war es das, aber du musst dich deshalb nicht so aufregen. Es war nur ein Traum.“
 

„Aber das war es nicht!“
 

Ich starrte ihn an. „Was meinst du damit?“
 

„Ich habe sie gesehen, Papa. Sie war da. In meinem Zimmer.“
 

„Oh, Josh…mein lieber Junge, ich bin mir sicher, dass du dir das gewünscht hast, aber es war nur ein Traum.“
 

„Das war es nicht!“
 

„Widersprich mir nicht. Du bist erschöpft. Leg dich hier hin und versuch wieder einzuschlafen.”
 

„Erzählst du mir eine Geschichte?“
 

„Oh, Sohn, ich glaube nicht, dass ich mir jetzt irgendwelche Geschichten ausdenken kann…“
 

„Bitte! Erzähl mir die über dich und Onkel und den Monsterhund.“
 

„Ich denke, dass du für eine Nacht genug von ‚Monsterhunden’ hast.“
 

„Dann…erzähl mir von der Zeit, als ich geboren wurde.“
 

„Als du geboren wurdest? Warum willst du davon hören?“
 

„Weil ich gerne Geschichten über mich höre.“
 

Ich lachte. „Na gut. Unter die Decke und Augen zu. Lass mich mal sehen. Der Tag, als du geboren wurdest. Ich glaube das war im Oktober…vor ein paar Jahren, hmm…”
 

„Papa! Du weißt, welcher Tag es war!“
 

„Ah, du hast Recht, ich weiß es! Damals war ich ausgegangen, um mir ein Fußballspiel anzusehen und Kensington triumphierte am Ende…“
 

„Papa!“
 

Ich lächelte. „Ich zieh dich doch nur auf. Natürlich erinnere ich mich an jenen Tag. Ich werde ihn niemals vergessen. Aber wie auch immer…es war ein kühler Tag, wenn ich mich Recht erinnere. Ich konnte deine Mutter natürlich nicht sehen und…“
 

„Warum nicht?“
 

„Nun…darüber reden wir ein anderes Mal. Wenn du ein bisschen älter bist. Aber du kamst auf jeden Fall gegen Abend an, rechtzeitig zum Essen. Darin liegt eine gewisse Ironie, denn seit jenem Moment hast du ununterbrochen gegessen. Deine Mutter pflegte zu sagen, dass wir uns darin am meisten ähnelten.“ Josh kicherte und ich sprach weiter. „Du warst klein und rosa und hattest keine Haare…“
 

„Dann sah ich in etwa wie ein Nacktmull aus?“
 

„Wann hast du jemals einen Nacktmull gesehen?“
 

„Im Zoo mit Onkel. Das sind afrikanische Nagetiere, die Wurzeln essen und in Rudeln leben mit einer Königin, die sie beherrscht. Und sie sind klein und rosa und haben keine Haare.“
 

„Ah, ich verstehe. Nun, am Anfang sahst du so aus. Aber du wurdest schnell größer und dir begannen fast sofort Haare zu wachsen. Du sahst deiner Mutter sehr ähnlich. Am Anfang hast du nur geweint…und gegessen. Jedes Mal als ich ins Kinderzimmer kam, um dich zu sehen, hast du gerade geweint. Aber deine Mutter – und auch das Kindermädchen – hatten beide die Geduld von Heiligen und du bist dem schon bald entwachsen.“
 

„Geh zurück zu dem Tag meiner Geburt.“
 

„Ja, ja, der Tag deiner Geburt. Nun, sobald ich konnte, bin ich gekommen, um dich und deine Mutter zu sehen. Du warst ganz eingewickelt, aber ich erinnere mich, dass ich in meinem ganzen Leben noch nicht so stolz gewesen war. Ich hatte mir so sehr einen Sohn gewünscht. Und nun hatte ich einen. Deine Mutter, Gott habe sie selig, sagte, sie glaube nicht, dass ich jemals wieder so glücklich sein könne.“
 

„Das ist es!“
 

„Was?“
 

Er strahlte über sein ganzes Gesicht. „Ich erinnere mich wieder! Als ich Mama heute Nacht gesehen habe, sagte sie, dass sie so stolz auf mich sei. Und sie sagte, dass sie sich wünscht, dass du wieder glücklich bist. Und aufhörst…“
 

„Womit…aufhöre?“, fragte ich flüsternd.
 

„Ich glaube…es war…“
 

„Josh, hör auf damit! Deine Mutter ist tot! Wir beide vermissen sie, aber…“
 

„Es tut mir Leid, Papa, aber ich hab sie heute Nacht gesehen.“ Er gähnte laut und steckte sich mehrere Finger in den Mund, während er seinen Kopf auf dem Kissen zurecht rückte. „Es war irgendetwas über ein Verleu…“
 

„Ein Verleu? Verleu…Verleugnung?
 

„Ja, das war es…“
 

Ich sprang aus dem Bett. „Aber wie…wie konntest du so etwas wissen? Wie konntest du dir so etwas auch nur ausdenken?“ Aber dann erinnerte ich mich an meine Vision im Krankenhaus, genau dieselbe Vision, an die ich mich gestern Nacht an ihrem Grab erinnert hatte. Es war…unmöglich. Und doch konnte ich es nicht verleugnen. Offensichtlich konnte ich überhaupt nichts mehr verleugnen. Hab Vertrauen, wie Mary mir zu sagen pflegte. Ihr Glauben war schon immer so viel zuversichtlicher gewesen als mein eigener.
 

„Stimmt was nicht, Papa? Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte Josh, obwohl er schon beinahe eingeschlafen war.
 

„Nein…nein, Liebling. Es hat nichts mit dir zu tun. Schließ deine Augen und schlaf ein.“
 

Er tat es, ohne viel zu protestieren. Ich selbst dagegen brach in einen Stuhl zusammen und beobachtete atemlos seinen Schlaf. Die Uhr draußen am Gang schlug die Stunde – elf – dann die halbe Stunde und schließlich Mitternacht.
 

Irgendwann kurz nachdem mit jener Stunde der neuen Tag begonnen hatte, erhob ich mich schließlich auf die Füße. So leise, wie ich zur Tür ging, schloss ich Josh in mein Zimmer ein und machte mich auf den Weg die Treppe hinab. Holmes Zimmertür war wie gewöhnlich geschlossen, aber ich wusste, dass er sie nie absperrte. Ohne auch nur anzuklopfen, öffnete ich sie und trat ein.
 

Ich verriegelte sie von innen.
 


 

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[1] Ave Maria Alley – einer von Londons zahlreichen Plätzen der Prostitution.
 

[2] Julius Caesar 1:2:46 ( Original: ‘Poor Brutus, with himself at war, forgets the shows of love to other men’)

Nun sind wir also schon beim 19. Kapitel…

Meiner Meinung nach ist es wie das 17. eines der besten.
 

@Jeanny: Dir wird dieses Kapitel schon allein deshalb gefallen, weil Josh einen einfach herrlichen Auftritt hat…ich denke, es ist sogar meine Lieblingsstelle mit ihm.
 


 

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Ich verriegelte die Tür von innen.
 

Ich legte den Schlüssel auf sein Schreibpult und sah mich um. Es war düster aber nicht stockdunkel; Holmes hatte die Lampe heruntergedreht. Ihr Licht reflektierte sich auf den Bildern einiger der berühmtesten oder eher berüchtigtsten Verbrechern. Ich erkannte Jack Sheppard, den großartigen, berühmten Dieb. Thomas Wise war einer der Mörder. Und natürlich war da auch ein gewisser Mathematikprofessor. Ich hatte keine Ahnung, wie er in einem solchen Zimmer schlafen konnte, aber er umgab sich mit diesen abscheulichen Kreaturen, als ob sie seine Familie wären.
 

Er lag ausgestreckt auf seinem Bett und hatte nur seine Stiefel und das Jackett abgelegt. Eine Zigarette glimmte zwischen seinen Lippen. Er war wie eine Katze. In der Lage seinem Körper erholsamen Schlaf zuzuführen, während er seinem Verstand nicht erlaubte auch nur im Geringsten zu ruhen.
 

Mit beinahe schon animalischen Reflexen sprangen seine Augen auf. Er schien gleichzeitig überrascht zu sein und mich doch erwartet zu haben. Während er sich aufsetzte, nahm er einen letzen Zug aus seiner Zigarette, bevor er sie in ein halbvolles Wasserglas fallen ließ. Ich war dankbar, dass er kein Entsetzen heuchelte. Stattdessen kam er sofort zum Punkt.
 

„Du befindest dich auf einem gefahrvollen Pfad, mein lieber Doktor.“ Seine Augen blitzten zur verriegelten Tür. „Und ich bin mir nicht sicher, ob es noch einen Rückweg gibt, wenn du ihn erst einmal betreten hast.“
 

Meine Augenbrauen hoben sich. „Du überrascht mich, Holmes. Sollte ich es nicht sein, der so etwas sagt?“
 

„Watson“, sagte er mit ernster Stimme. „Du hast mein ganzes Herz und ich denke, dass weißt du auch. Aber was mein Körper bereit ist zu riskieren und was mein Verstand mir sagt, dass ich riskieren werde, das sind zwei sehr verschiedene Dinge.“
 

Ich war vollkommen fassungslos. Ich machte sogar ein paar Schritte rückwärts, bis ich die Tür in meinem Rücken spürte. „Was soll das heißen? Du willst nicht mit mir zusammen sein?“
 

Zum ersten Mal sprach ich es ohne Scham oder Entsetzen aus.
 

Er seufzte tief. „Komm und setzt dich.“ Als ich neben ihm auf dem Bett war, sagte er: „Ich will nichts mehr als das. Aber was ein Mann in der Vorstellung begehrt, macht wenig aus, nicht wahr? Es bleibt die Tatsache, dass wir beide wissen, was wir mit unseren Taten riskieren. Ich sage nicht, dass ich nicht bereit wäre, die Gefahr auf mich zu nehmen. Aber wenn ich es tue, dann muss ich mir sicher sein können, dass du hier mit klarem Verstand und reinem Herzen zu mir gekommen bist. Alles andere genügt nicht.“
 

„Du stellst meine Absichten in Frage?“ Es schien irgendwie gleichzeitig erstaunlich als auch belustigend. Ich fühlte mich, als stellte ich irgendeinem armen, unschuldigen jungen Ding nach, das verzweifelt versuchte einem übereifrigen Freier zu entfliehen.
 

„Verzeih mir, aber ja.“
 

„Aber“—
 

„Komm schon, mein lieber Freund. Erst vor 24 Stunden ertränktest du dich selbst in einer dunstigen Wolke von Scotch-Whiskey. Nur ein paar Stunden davor flohst du vor mir nach einer belanglosen, kleinen Intimität. Kannst du ehrlich sagen, dass du zu mehr bereit bist?“
 

„Natürlich kann ich das nicht! Wer könnte jemals so unverschämt sein, zu behaupten, er sei bereit seinen Kopf derartig zu riskieren? Höchstens ein Narr.“
 

Er konnte nicht anders, als mir sein berüchtigtes Grinsen zu zeigen, bevor er augenblicklich wieder ernst wurde. „Und bist du ein Narr?“, fragte er, während er seine Hand auf meine drückte.
 

„Oh, ja.“ Ich nickte. „Mit ziemlicher Sicherheit bin ich das. Ein Narr, der jede Vernunft und Einsicht verloren hat. Ich wusste es. Oh, Holmes, ich wusste es schon lange. Seit Jahren schon. Bei Reichenbach zum ersten Mal. Damals erkannte ich meine Liebe zu dir. Bevor du zurückgekehrt bist, bevor du es mir gestanden hast. Ich wusste es in jenem Moment, als ich dort auf jenem Felsen stand und beobachtete, wie das Wasser in die Tiefe stürzte. Ich wusste es, weil ich fühlte…“
 

„Ja?“, flüsterte er.
 

„Ich fühlte, dass ich dort mit dir gestorben war.“
 

Er hatte mir ins Gesicht geblickt, aber nun stand er auf und wand sich ab. Ein seltsames Geräusch – ähnlich einem Wimmern – entkam seiner Kehle, ehe er sich räuspern und wieder fassen konnte. Er hatte die Arme verschränkt, den Blick an die Wand gerichtet und war offensichtlich nicht in der Lage, mich in jenem Moment anzusehen. „Du bringst mich in eine schreckliche Lage, mein lieber Watson. Du musst verstehen, so gern ich dir glauben möchte, ist es meine Überzeugung, dass du hier bist, weil du dich dazu verpflichtet fühlst.“
 

„Was?!“
 

„Gott, Watson, ich will das nicht glauben!“ Er wirbelte herum und versuchte meinen Arm zu packen. Doch ich zog ihn weg. Ich sah, wie er tief Luft holte, während er die Hände zu Fäusten ballte. Es war nicht das erst Mal – und auch sicher nicht das letzte – da ich Zeuge jenes ewigen Kampfes zwischen seinem Herz und seinem Verstand wurde. „Aber du musst den Tatsachen ins Auge sehen! Du bist dankbar, weil ich dich gerettet habe – uns…und auch Josh – vor den Schrecken, die deine Schwester für uns bereithielt. Ich weiß, dass du es bist. Du bist dankbar, dass ich dich über deinen Mangel an…Verwicklung in den Tod deiner Frau überzeugt habe. Das ist der Grund, warum du mich…geküsst hast. Eins führt zum anderen, Doktor! Ich habe dich in diesen letzen beiden Tagen beschützt und nun willst du mir dafür danken!“
 

Ich konnte ihn nur voller Unglauben anstarren. Nun, es ist eine Tatsache, dass ich über die Jahre bei diesem Mann einige Vorführungen von beispiellosem Egoismus gesehen habe. Ich habe es ihm niemals vorgeworfen und wenn doch, dann war es nicht mehr als sanfter Tadel, aber in jenem Augenblick war ich vollkommen fassungslos. Wie konnte irgendjemand solche Nerven haben? „Großer Gott, Holmes“, sagte ich, als ich schließlich meine Stimme wieder gefunden hatte. „Ich will zugeben, ich wusste, dass du arrogant bist, aber das ist wirklich zu viel. Ich würde rufen ‚Wie kannst du es wagen’, aber das würde nicht einmal ansatzweise meine Gefühle darüber ausdrücken. Der Gedanke…der Gedanke, dass du die… Unverfrorenheit besitzen könntest, zu behaupten, dass ich mich dir in irgendeine Geste der Belohnung…anbieten könnte…nun… es ekelt mich beinahe schon an, dass du es auch nur vermuten könntest!
 

Meine Hände waren nun an der Tür, tasteten daran herum. Ich musste hier raus. Ihn auch nur anzusehen, hätte mich dazu gebracht, Dinge zu tun, von denen ich wusste, dass ich sie später bereuen würde. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Vielleicht war in meinem Herzen doch keine Liebe für ihn. Schließlich…wer könnte einen solchen Mann schon lieben?
 

Meine Hände zitterten so heftig, dass ich kaum den Schlüssel ins Schloss brachte. Ich hatte gerade die Klinke hinuntergedrückt, als ich seine Hand spürte. „Holmes“, sagte ich in meiner ruhigsten Stimme. „Wärst du wohl so freundlich, deine Hand von meiner Schulter zu entfernen, sonst werde ich mich gezwungen fühlen, sie für dich zu entfernen!“
 

„Nein, das kann ich nicht.“
 

„Holmes. Ich werde es nicht noch einmal sagen…“
 

„Watson, bitte…“
 

Ich öffnete die Tür. „Bitte was?!“
 

Bitte verlass mich nicht!
 

Ich erstarrte augenblicklich. „Was?“, hauchte ich und wand mich langsam um. „Was hast du gerade gesagt?“
 

Aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war ebenso entsetzt wie der auf meinem. Ich glaube ehrlich, dass er nicht hatte sagen wollen, was er gerade gesagt hatte. Seine Kinnlade war gefallen. Er war gefallen. In jenem Moment war er genauso wenig Sherlock Holmes, wie ich es war. Tatsächlich wirkte er auf mich mehr wie Josh – ein kleines Kind, das Trost brauchte. In einem Augenblick hatte ich jeden Grund verloren, auf ihn wütend zu sein; hatte alle Emotionen verloren, außer meine Liebe zu ihm. „Holmes…ich“, sagte ich und streckte die Arme nach ihm aus. „Ich bin hier…“
 

Aber die plötzliche Erkenntnis hatte ihn getroffen. Die Erkenntnis der Schwäche, die er gerade gezeigt hatte. Menschlicher, als ich ihn jemals zuvor gesehen hatte, zweifellos menschlicher, als er sich jemals irgendjemandem hatte zeigen wollen. Sogar mir. „Geh“, sagte er mit einem Flüstern.
 

„Mein lieber Holmes…“
 

„Nein! Geh einfach.“ Er bewegte sich langsam rückwärts, ergriff den Pfosten des Bettes mit einer Hand, bevor er sich darauf niederließ. Mit der anderen umklammerte er seine Seite. Er wirkte, als wäre ihm übel. Ich wünschte mir in jenem Moment nichts mehr, als zu ihm zu gehen. Stattdessen stand ich einfach nur da, an der Tür, beobachtete ihn. Es dauerte Minuten, die Entfernung zwischen uns waren bloße Fuß und schienen doch wie Meilen. Schließlich blickte mein Freund auf, sein Blick war schwer und müde. „Ich flehe dich an, lass mich allein.“ Seine Stimme klang hohl und leer.
 

Ich begann wieder zu protestieren, aber mir blieben die Worte im Halse stecken. Und so nickte ich ihm wider besseren Wissens zu und ging hinaus. Die Tür schloss sich hinter mir. Als ich zu meinem eigenen Zimmer hinaufstieg, schien mich die ganze Trostlosigkeit jener Nacht zu erfüllen. Ich hatte das Gefühl, als wäre meine Beziehung zu jenem Mann schon wieder vorüber, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
 

Ich fand kaum Schlaf in jener Nacht und verbrachte die meiste Zeit damit, auf meinen Laken zu liegen und an die Decke zu starren.
 

Bitte verlass mich nicht!
 

Kurz nachdem es fünf geschlagen hatte, gab ich den Kampf verloren und stand auf, um ein Bad zu nehmen. Ich hoffte, dass ich so alle Spuren jener schändlichen Nacht vertreiben könnte, in der ich meinen Körper in Alkohol ertränkt hatte. Ich schrubbte solange, bis meine Haut rot war, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich fühlte mich immer noch beschmutzt. Auch wenn es keine Entschuldigung für Holmes’ grässliches Verhalten gab, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass auch ich ihn misshandelt hatte. Ich hätte darauf bestehen sollen, zu bleiben. Er hatte genauso wenig gewollt, dass ich ging, wie ich ihn hatte verlassen wollen. Und doch wusste ich, warum ich es getan hatte. Die einzige Mauer, die noch zwischen uns war, bestand aus unangebrachter Angst. Gefühle, unsere Freundschaft, unsere Partnerschaft, Anstand, selbst das Gesetz…jene Hindernisse würden nicht länger ausreichen, um uns aufzuhalten. Nur noch die Angst, einander unsere ganzen Seelen zu offenbaren.
 

Und ich hatte keine Ahnung, wie man diesem Umstand Abhilfe schaffen konnte. Es würde einen beiderseitigen, plötzlichen Gefühlsausbruch brauchen, um die letzte Mauer niederzureißen. Einen endgültiger Gefühlsausbruch, durch den wir uns nicht länger selbst verleugnen konnten.
 

Mit einem tiefen Seufzen kleidete ich mich im frühen Licht jenes Aprilmorgens an. Der Himmel war rot und durch mein Fenster konnte ich den dünnen Schleier des Morgennebels über der Thames sehen. Die Markthändler würden schon unterwegs sein und ich beobachtete die Straßenreinigung an unserer Wohnung vorüberziehen, gefolgt von ein paar Straßenkindern mit langstieligen Besen.
 

Ich fühlte mich wie ein Verdammter. Von Gott oder einem ähnlichen Wesen dazu verdammt, einen anderen zu lieben, den ich nicht lieben durfte. Es war eine schreckliche Laune der Natur einen Mann mit einem anderen zusammenzuführen, in ihm Fürsorge und Liebe von beinahe schon rasender Intensität zu erwecken, nur um von der Wirklichkeit mit dem grausamen Scherz verspottet zu werden, dass diese Liebe unnatürlich, ja sogar verboten war.
 

Nun, ich kann sagen, dass ich in jenem Moment eine Tapferkeit und eine Verachtung für mein eigenes Land fühlte, die ich seit damals nie wieder gekannt oder gefühlt habe. Zur Hölle damit! Zur Hölle mit dem Gesetz und zur Hölle mit dem Verbrechen, das wir ihm zufolge begingen. Ich war erwachsen und er war erwachsen und wir schadeten niemandem. Er brauchte mich und ich ihn. Und ich hatte beschlossen, dafür zu sorgen, dass jene Bedürfnisse erfüllt würden. Und ich wusste, was der erste Schritt dazu war.
 

Ich stieg die Treppe hinab und fühlte zum ersten Mal die Leere in diesem Haus. Nicht einmal Mrs. Hudson stand mehr so früh auf. Aber ich kannte jemanden, der bereits wach sein würde.
 

Die Fahrt nach Kensington verlief ohne Zwischenfälle. Tatsächlich genoss ich sogar den Anblick jener Gegend, die ich erst vor kurzem noch ‚Zuhause’ genannt hatte. Aber ich muss gestehen, dass ich auch Furcht verspürte. Mir selbst erschienen meine Schlüsse vollkommen klar und logisch, aber ich fürchtete, James Parks würde das anders sehen.
 

Er hatte die Praxis gerade erst geöffnet und es waren noch keine Patienten da. Als er mich erblickte, ließ er einen erstaunten Ausruf verlauten und schüttelte mir begeistert die Hand, was ich von ganzem Herzen erwiderte. Wir hatten seit Anfang des Winters nur wenig Kontakt gehabt und ich weiß, er war überrascht mich zu sehen.
 

„Wie geht es dir, mein Freund? Ich hatte schon fast alle Hoffnung auf deine Rückkehr aufgegeben. Du weißt, die Patienten wollten wissen, was aus dir geworden ist.“
 

„Vergib mir, Parks. Ich war ganz scheußlich zu dir. Ich hätte wirklich mehr von mir hören lassen sollen. Es ist auf jeden Fall viel passiert.“
 

Also begann ich, ihn über die jüngsten Ereignisse meines Lebens auf den neusten Stand zu bringen, wobei ich mich größtenteils auf meine Wunde konzentrierte und meine lange Abwesenheit mit ‚einem kleinen rechtlichen Problem’ erklärte. Und ganz gewiss erwähnte ich nicht meine Schwester.
 

Parks zündete zwei seiner besten Zigarren an und während er mir eine reichte, beobachtete er mich mit nachdenklichem Blick. Er schien ernsthaft besorgt und erschüttert, als ich zu meiner Wunde kam und zuckte überrascht zusammen. „Großer Gott!“
 

„Oh, es war nicht so schlimm. Nachdem ein Mann schon zwei solcher Wunden erlitten hatte, ist die dritte kaum noch erwähnenswert.“
 

Parks lachte. „Wenn ich davon gewusst hätte, dann hätte ich hier für einen Tag dicht gemacht, um dich zu besuchen. Aber wie es aussieht, waren wir beide sehr beschäftigt.“
 

„Es tut mir Leid, Parks“, sagte ich. „Wirklich.“
 

„Ach Unsinn…aber es gibt da so einen Kerl, der hier vorbeischaute und über den ich gern mit dir reden würde.“
 

„Welche Symptome?“
 

„Nein, nein…kein Patient, alter Freund. Dieser Kerl, ein Franzose, wenn ich mich nicht irre, wollte die Ordination hier kaufen.“ Parks ließ den Blick schweifen und vermied mir in die Augen zu sehen. Das Angebot musste wirklich lukrativ gewesen sein.
 

„Was genau hat er gesagt?“
 

„Nun, ich habe ihm natürlich erklärt, dass ich nur dein Assistent bin und keine Entscheidungen treffen kann. Aber er hat seine Karte hier gelassen.“ Er streckte die Hand aus, um aus der Dunkelheit einer Schublade eine Visitenkarte hervor zu ziehen und reichte sie mir. „Er schien ziemlich eifrig, aber auch sehr großzügig, wie du sehen kannst. Und er stimmte zu, dass ich als Assistent mit einem Viertel des Profits hier bleiben könnte. Ich sagte ihm, dass du wohl kaum zustimmen würdest. Das hier wäre schließlich dein Lebensunterhalt, aber…“
 

Ich hätte in Ohnmacht fallen können, als ich den Betrag sah, der auf der Rückseite stand. Es war doppelt so viel, wie ich auch nur zu hoffen gewagt hätte. „Mein Gott, James“, murmelte ich. „Bist du dir sicher, dass das stimmt? Bist du dir sicher, dass er sich nicht verschrieben hat?“
 

„Ha, ha! Genau meine Reaktion, mein Bester. Trotzdem stimmt es, auf mein Wort.“
 

Der Name auf der Karte war Jean-Francois Vernet, MD. Da war keine Adresse, was mir recht bemerkenswert vorkam. Aber das war nicht das Einzige, das bemerkenswert war. Vernet.
 

„Meine einzigartige Gabe der Deduktion könnte von meiner Großmutter stammen, die eine Schwester des französischen Künstlers Vernet war…“
 

Ich wusste nicht ob ich lächeln oder die Stirn runzeln, lachen oder schreien sollte. Es musste eine Verbindung bestehen. Ich war dem Begriff des Zufalls nicht so sehr abgeneigt wie mein teuerer Freund, aber das war selbst mir eindeutig zu viel. Auch wenn wir seit dem Fall von Black Bishop nicht mehr über die Idee, meine Praxis zu verkaufen, gesprochen hatten, war ich sicher, dass er sie nicht aufgegeben hatte. Holmes ließ in solchen Dingen nicht leicht locker. Ich konnte nicht anders, als mich darüber zu ärgern, dass er wieder einmal hinter meinem Rücken handelte. Aber gleichzeitig: Wie konnte ich wirklich wütend sein? Es war seine eigene seltsame Art mir zu zeigen, wie sehr er meine Mitarbeit schätzte. Und wie sehr er mich in Wahrheit brauchte – etwas, von dem ich sicher war, dass er es mir niemals direkt würde sagen können. „Ich denke, James“, sagte ich schließlich zu meinem alten Assistenten. „Dass dieses Angebot zu gut ist, um es auszuschlagen. Du stimmst mir doch sicherlich zu?“
 

„Nun…“, er zögerte und stand auf. Er war offensichtlich meiner Meinung, aber wollte nicht voreilig oder beleidigend wirken, indem er mir zustimmte. Parks war in jeder Hinsicht ein Gentleman.
 

„Du brauchst nicht zu fürchten, mich damit zu beleidigen. Ich will deine ehrliche Meinung hören.“
 

„Ich gebe zu, dass es buchstäblich wie ein wahr gewordener Traum ist. Dieser Kerl arbeitet schon seit Jahren als Arzt und er sagte, wenn er mit meiner Arbeit zufrieden wäre, würde er nicht zögern, mir die Praxis in ein paar Jahren zu überlassen, wenn er bereit ist, sich zur Ruhe zu setzen. Und der Gewinn den wir – besonders du mit dem Verkauf – machen würden, ist enorm. Mehr als genug, dass du in eine andere Ordination investieren könntest. Nun, du könntest dir damit eine Praxis in der Harley Street leisten, wenn du geschickt vorgehst!“
 

Ich lachte leise. „Ja, da magst du Recht haben. Aber um die Wahrheit zu sagen, James, hege ich keinerlei Verlangen danach. Tatsächlich denke ich, dass ich mich von meiner Arbeit zurückziehen und meine Zeit meinem Schreiben und Sherlock Holmes’ Fällen widmen werde. Ich werde mich der Polizei als beratender Facharzt anbieten, da ich über einige Erfahrung als Polizeichirurg verfüge, aber mehr nicht.“
 

Parks starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, so als hätte ich mich plötzlich in ein Insekt verwandelt. Er begann leicht seinen Kopf zu schütteln und seine Hände verschränkten sich heftig hinter seinem Rücken. „Das kannst du nicht ernst meinen“, murmelte er.
 

„Es ist mein voller Ernst.“
 

„Aber…aber, Großer Gott, John! Bist du nicht mehr ganz bei Trost? Ist dir dein Ruf denn völlig egal? Ist dir nicht klar, was die Leute über einen solchen mehrdeutigen Schritt sagen oder denken werden?“
 

Vor ein paar Monaten hätte mich diese Unterhaltung wütend gemacht. Tatsächlich schien mir, dass wir vor ein paar Monaten genau diese Unterhaltung geführt hatten – oder zumindest eine sehr ähnliche. Parks hatte es damals für eine gute Idee gehalten, mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich zum Inhalt einer Gerüchte geworden war, weil ich ein zweites Mal zugestimmt hatte, mir mit Sherlock Holmes eine Wohnung zu teilen. Es war bereits spekuliert worden – wenn auch sicherlich nur in vorsichtigem Flüsterton – dass ein Mann, der kein Verlangen nach Frauen verspürte, mit Sicherheit einer jener Unglückseligen sein musste, die Männern zugeneigt waren. Ich vermute, dass uns nur meine Ehe und Holmes’ ungewöhnliches Wesen gerettet hatten. Ich dankte Gott dafür, dass ich ihn in meinen Schriften immer als emotionslose Maschine beschrieben hatte. Holmes wurde von den Meisten als einer jener seltenen Menschen angesehen, die so sehr in ihrem Beruf aufgingen, dass sie keine Zeit für Liebe oder Familie hatten. Oh, wenn sie nur wüssten…
 

„Das ist mein Leben, James“, sagte ich bestimmt. „Mein Leben, mit dem ich tun kann, was immer ich für richtig halte.“
 

„Aber John! Was für ein Leben willst du denn ohne Ruf und Ehre schon führen? Nun, hör mir zu als einem Freund, deinem Freund, denn das ist, was ich bin. Es ist schon schlimm genug, dass du nach dem Tod deiner Frau wieder zu diesem komischen alten Kauz zurückgekehrt bist, aber deine Karriere abzubrechen, um mehr Zeit mit ihm zu verbringen…nun ich muss die Schlüsse wohl kaum für dich ziehen!“
 

„Du wirst die Schlüsse doch sowieso ziehen, ob ich es dir nun erlaube oder nicht!“, brüllte ich und schlug mein Faust auf das nächste Objekt, wobei es sich um die Armlehne des Stuhles handelte, von dem ich gerade aufgesprungen war.
 

„Verdammt noch mal, John!“, rief er, bevor er sich eilig umblickte, als ob wir beobachtet würden und die Stimme senkte. Er packte meinen Arm und drückte ihn, um seinen Standpunkt zu unterstreichen. In einem gepressten Flüstern sagte er: „Ich will das nicht tun. Du warst immer nur gut zu mir und ich schulde dir vieles. Darum versuche ich dir auch zu helfen…“
 

Ich riss mich los. „Parks, wenn du mir wirklich helfen willst, wie du sagst, dann wirst du mich hierbei unterstützen. Ich werde mich nun mit diesem Vernet in Verbindung setzten und den Handel abschließen und er wird sich für uns alle auszahlen. Als Gegenleistung dafür und für alles andere, was ich jemals für dich getan habe, wirst du nichts zu diesen unbegründeten Gerüchten und Verleumdungen beitragen. Ist das eine gerechte Abmachung, James?“
 

„Du weißt, dass ich niemals etwas gegen dich sagen würde!“
 

„Und gegen Sherlock Holmes?“
 

Seine Reaktion war Antwort genug. Er räusperte sich, wich meinem Blick aus und entwickelte plötzlich ein heftiges Interesse für das Bildnis unserer Königin an der entgegengesetzten Wand.
 

„Ich verstehe.“
 

„Watson“—
 

„Du weißt, James, dass ich dich für einen ausgezeichneten Arzt halte“, sagte ich nach einem Augenblick. „Und es gibt bestimmte Eigenschaften, über die ein ausgezeichneter Arzt verfügen muss. Intelligenz, Geduld, den Willen und den Drang, seinen Mitmenschen zu helfen. Und Weitblick. Die Welt sehen zu können, wie sie wirklich ist. Ich gebe zu, dass auch ich die Welt teilweise nur in Graustufen sehe. Es ist nicht einfach – das ist es ganz gewiss nicht – sich zu ändern oder auch nur seine Ansichten…“
 

„Was willst du damit sagen?“, fragte Parks mit einem Blick, als hätte ich den Verstand verloren.
 

„Ich will damit sagen, dass du deinen Weitblick verloren hast. Du und all die anderen, die über diesen Mann spotten und tuscheln, sind einfach blind. Ihr seht, was ihr sehen wollt und verschließt eure Augen vor allem anderen.“
 

„Um Himmelswillen, Mann, ich glaube eher, dass du die Augen öffnen solltest, was diesen…Mann angeht.“
 

Ich starrte ihn an und griff nach meinem Hut. „Das habe ich bereits. Und ich sehe seine Fehler. Sie werden nur bei weitem von seiner Größe überdeckt.“
 

„Aber er treibt dich dazu, wie ein Irrsinniger zu handeln – du kannst nicht mehr klar denken!“
 

„Nein, James“, sagte ich und drehte mich zu ihm um. „Wegen Sherlock Holmes kann ich klar denken.“
 

Und ich erkannte in jenem Moment, wie viel ich ihm gerade offenbart hatte. Parks hatte gesagt, dass er niemals irgendwelche Gerüchte über mich verbreiten würde und ich glaubte ihm. Aber ich konnte nun in Farbe sehen, die ganze Welt sehen, die mich umgab. Und zum ersten Mal seit sieben Monaten fühlte ich mich nicht länger wie Atlas. Das Gewicht der Welt drohte mich nicht mehr zu zermalmen.
 

Ich war frei.
 


 

Ich fand meinen Sohn in der Küche, wo er Mrs. Hudson dabei ‚half’ Brotteig zu kneten - soweit ein Dreieinhalbjähriger dazu in der Lage ist, will ich vermuten. Er mochte den Geist von Kant oder Aristoteles besitzen, aber er war in jeder anderen Hinsicht immer noch ein Kind. Die pummeligen kleinen Finger schlugen auf den Teig ein, aber ihm fehlten sowohl Stärke als auch Übung, um wirklich eine Hilfe zu sein. Im Gegensatz zu unserer lieben Wirtin, deren fliegende Finger ein Kinderspiel daraus machten. Ich konnte bereits die ersten Brotlaibe im Ofen riechen, ein herrlicher Duft, der jeden einzelnen der vier Millionen Einwohner bei der Tür herein gezogen haben könnte.
 

„Holla!“, begrüßte ich die zwei und küsste sie beide auf die Wangen. „Guten Morgen! Ihr beiden musst wirklich mit der Sonne aufgestanden sein!“
 

„Nun, da sind wir offensichtlich nicht die Einzigen, Doktor“, antwortete meine Wirtin. „Wo doch sowohl Sie als auch Mr. Holmes schon auf und aus dem Haus waren, bevor ich auch nur das Feuer anzünden konnte.“
 

„Mr. Holmes? Soll das heißen, er ist nicht da?“
 

„Wir wollten eigentlich mit einem Al-keud spielen, aber als ich in Onkels Zimmer kam, war er schon weg“, sagte Josh.
 

„Womit wolltet ihr spielen?“
 

„Einem Al-keud. Wir wollten versuchen, ob wir es positiv machen können. Eine positive Reaktion“, erwiderte er mit einem strahlenden Grinsen, das deutlich zeigte, wie stolz er war, dass er es aussprechen konnte.
 

„Ich glaube…ich glaube, du meinst ‚Alkaloid’, Liebling“, sagte ich lachend. „Aber das ist schon in Ordnung. Du und ich werden den Tag zusammen verbringen.“
 

„Wirklich?“ Seine Augen begannen zu leuchten.
 

„In der Tat. Also lauf und zieh dich an!“
 


 

Ich verbrachte jenen Tag mit meinem Sohn, um wenigstens einen Teil meiner Schuld wieder gutzumachen, weil ich in letzter Zeit so lange weg gewesen war. Im Gegensatz zu den vorherigen war es ein ziemlich warmer Tag. Ich ging mit Josh durch die Stadt – zuerst ins Britische Museum und dann in den Hyde Park, wo wir Äpfel von einem Händler aßen. Da waren natürlich noch andere Kinder im Park. Sie rannten herum und kreischten, wie Kinder es nun mal tun, während sie von wütenden Müttern und Kindermädchen angeschrieen wurden, doch trotz allem zeigte Josh keinerlei Interesse an ihnen. Er hielt meine Hand und schwieg entweder, während er jeden Zweig und jedes Blatt, an dem wir vorüber kamen, genau zu beobachten schien, oder er stellte mir ein Sperrfeuer von seltsamen Fragen, die zu beantworten mir nicht gerade leicht fiel. Fragen, die von der Art bestimmter Exponate bis zur genauen Ausdehnung des Parks reichten. Er verbrachte zu viel Zeit mit Holmes. Dieser Gedanke ließ mich gleichzeitig lächeln als auch zusammenzucken.
 

Er war so begierig und bereitwillig, so brillant und naiv zur selben Zeit. Aber als er neben mir her sprang und meine Hand umklammert hielt, wie konnte ich ihn als irgendetwas anderes als vollkommen ansehen?
 

Doch so sehr ich es auch versuchte, es war mir kaum möglich, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Meine Gedanken schweiften zu den Begegnungen – zuerst mit Holmes und dann mit Parks. Holmes bezweifelte, dass ich mit klarem Verstand handelte. Parks tat es auch, wenn auch in anderer Hinsicht. Tat ich das? Handelte ich unvernünftig? Ich glaubte es nicht, allerdings ist es einem kaum möglich, objektiv über die eigenen Taten zu urteilen. Und unglücklicherweise war es eine jener Situationen, in denen ich mich an niemanden wenden konnte. Es gab keinen Unbeteiligten, von dem ich eine dritte Meinung einholen konnte. Außer…
 

„Josh“, sagte ich, um ihn zu der Parkbank zu rufen, auf der ich niedergesunken war. „Komm mal kurz hier her.“
 

Er ließ den Stock fallen, den er wie ein Schwert durch die Luft geschwungen hatte und rannte zu mir. „Ja?“
 

„Ich möchte…ich möchte dir…äh…eine Geschichte erzählen.“
 

Seine Augen leuchteten. „Ich liebe Geschichten!“
 

„Ja, ich weiß…“
 

„Komme ich in der Geschichte vor?“
 

„Nein, sie ist reine Fiktion…“
 

„Du meinst, sie ist ausgedacht?“
 

„Ja, nun hör zu, weil ich gerne deine Meinung hören möchte.“
 

„Über was, Papa?“
 

„Hör…hör einfach zu, Junge. Es waren einmal ein Mann und…und eine Frau.“
 

„Aber ‚Es war einmal’-Geschichten handeln nie von Männern und Frauen! Die sind immer über Könige und Königinnen und Prinzen und Prinzessinnen!“
 

„Na gut, na gut…es waren ein König und eine Königin. Und der König war ein großartiger Mann, er hatte nur ein Problem. Er hatte sich verliebt in…in eine Königin.“
 

„Warum ist das ein Problem?“, fragte Josh, während er mit den Füßen gegen den Boden trat.
 

„Es war ein Problem, weil der König nicht in diese bestimmte Königin verliebt sein durfte. E…sie war bereits verheiratet.“
 

„Warum liebte sie der König dann?“
 

„Ach…mein lieber Josh, du kannst nicht kontrollieren, in wen du dich verliebst. Es ist etwas, das einfach passiert…nun, ich vermute, das wirst du noch herausfinden, wenn du erst ein wenig älter bist. Aber auf jeden Fall war der König in diese Königin verliebt, obwohl das Gesetz sagte, dass er es nicht durfte.“
 

„Aber Papa! Er war der König! Warum hat er das Gesetz nicht einfach geändert?“
 

Ich war sprachlos. Das hatte ich mir verdient, indem ich versucht hatte meinem kleinen Weltwunder Sand in die Augen zu streuen. „Nun, ich vermute, er hätte das Gesetz ändern können. Aber das hätte ihn in den Augen seiner Untertanen herabgesetzt. Und diesem König war wichtig, was seine Untertanen von ihm dachten. Aber eines Tages kam die Königin zu ihm. Sie gestand ihm, dass auch sie den König liebte, obwohl er…sie immer noch verheiratet war. Aber wenn sie ihre Liebe vollziehen würden…äh…das heißt, wenn sie beschließen würden, zusammen zu leben, dann hätten sie in große Schwierigkeiten kommen können. Denn sogar Könige und Königinnen können von ihrem Thron gestoßen werden. Sie wollten nicht in Schwierigkeiten geraten, aber sie liebten einander so sehr.“
 

„Und was haben sie gemacht?“
 

„Nun…sie brannten zusammen durch. Irgendwohin, wo sie sich nicht darüber sorgen mussten, dass ihre Liebe illegal war.“
 

„Du meinst der König hat ab-ab-ge…abge-dankt?“
 

„Woher kennst du ein Wort wie ‚abgedankt’? Ach, ist schon gut…ja, der König hat abgedankt. Er musste sehr viel aufgeben für den Ma…die Königin, die er liebte. Genau wie sie. Aber manchmal sind wir gezwungen, Opfer zu bringen. Wenn du jemanden so sehr liebst, meine ich.“
 

Josh ließ sich das Ganze durch den Kopf gehen. „Aber was ist mit dem anderen König?“
 

„Welchen anderen König?“
 

„Dem Ehemann der Königin. Du hast gesagt, sie war verheiratet. Wenn sie verheiratet war, dann heißt das, dass da noch ein anderer König gewesen sein muss. Hat sie ihn ganz allein gelassen, weil sie mit dem anderen König zusammenleben wollte?“
 

„Ja, ja, ich schätze, das hat sie.“
 

Er schüttelte den Kopf. „Aber das ist nicht nett. Er war wahrscheinlich traurig, dass die Königin ihn verlassen hat und nicht mehr zurückkommen würde. Man sollte Menschen, die einen lieben nicht verletzen dürfen, auch wenn man jemand andern liebt. Denkst du nicht auch, Papa?“
 

Ich schluckte übel schmeckende Luft. Es war ein Fehler gewesen. Der Junge war viel zu scharfsinnig, auch wenn ich mir sicher war, dass er keine wirkliche Verbindung zu mir herstellen konnte. Trotzdem war es mir ganz und gar nicht recht wie viel ihm an der ganzen Sache auffiel. Ich seufzte und tätschelte seinen Kopf. „Ich glaube, Josh, du bist mir weit voraus.“
 

Er grinste und sprang auf die Füße. „Das war eine ziemlich langweilige Geschichte, Papa. Ich denke, das könntest du besser.“ Er nahm meine Hand und führte mich zurück Richtung Baker Street.
 


 

In jener Nacht steckte ich meinen Sohn etwas früher als sonst ins Bett. Wir waren beide erschöpft, vor allem ich. Ich hatte in der letzten Nacht nur wenig Schlaf bekommen und sehnte mich danach. Holmes war immer noch nicht aufgetaucht. Ich fing an mir Sorgen zu machen, auch wenn ich wusste, dass er in der Vergangenheit nur zu oft spurlos verschwunden war. Aber an jenem Tag…nun, ich glaubte kaum, dass er einem Fall nachging und deshalb kein einziges Wort mit mir wechselte. Aber was war es dann?
 

Ich hatte keine Lust, mir die Möglichkeiten auszumalen.
 

„Papa?“, sagte Josh, als ich das Gas herunterdrehte.
 

„Ja?“
 

„Weißt du noch letzte Nacht, als wir über Mama geredet haben?“
 

„Ja…“
 

„Was bedeutet Ver…Verleugnung?“
 

„Verleugnung? Nun…nun, Verleugnung“, sagte ich. „Verleugnung ist das, worin ich gelebt habe und womit ich auch fortfahren werde, fürchte ich.“
 

„Huh?“
 

Ich lächelte. „Zerbrich dir nicht den Kopf. Geh schlafen. Und sag zuerst deine Gebete auf.“
 

„Papa?“
 

„Was ist?“
 

„Kann jeder Tag wie heute sein?“
 

Meine Worte waren voller Hohn, als ich mich erinnerte, wie dieser Tag begonnen hatte. Gleich nach Mitternacht. „Nein, Sohn. Ich hoffe, dass nicht jeder Tag so wie heute ist.“
 

„Warum?“
 

„Geh…geh einfach schlafen.“ Ich schloss seine Zimmertür, als mir ein Gedanke kam. „Josh…nun, ähm…du weißt doch, dass ich dich liebe, nicht wahr?“
 

„Natürlich…das musst du. Du bist mein Papa.“
 

„In Ordnung. Nur…nur vergiss es nicht, ja?“
 

„Ist gut.“ Er lächelte mich im Dunklen an und schloss gehorsam die Augen.
 

Ich erwiderte das Lächeln und schloss die Tür. Und dann fuhr ich beinahe aus der Haut, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.
 

„Großer Gott, Holmes! Meine Nerven sind ohnehin nicht die besten! Musst du es noch schlimmer machen?“
 

Ich sah ihn an und schnappte nach Luft. Seine Kleider waren zerrissen und er wirkte, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe und seine Haut war geröteter als sonst. Er konnte kaum noch aufrecht stehen. Das einzige Mal, als ich ihn jemals in schlechterem Zustand gesehen hatte, war im Fall von Culverton Smith gewesen, als er es für das beste hielt, mir (und Smith) vorzumachen, er läge im Sterben. Damals war es Schauspielerei und Schminke gewesen. Diesmal war es echt.
 

„Was zur Hölle ist passiert? Du bist wirklich kein schöner Anblick.“
 

„Ist das so?“, fragte er unschuldig. „Nun, ich schätze, wenn man drei Nächte lang nicht schläft, sieht das Ergebnis nun mal so aus.“
 

Ich war überrascht. Ich wusste, dass seine Gewohnheiten unregelmäßig waren, aber drei Nächte lang nicht zu schlafen, war zu viel. Ich musste so mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen sein, dass ich es nicht bemerkt hatte. „Warum um Gotteswillen hast du nicht geschlafen? Du hast doch nicht irgendwelche Fälle und hieltest es nicht für nötig, mich davon in Kenntnis zu setzten, oder doch?“
 

Er lächelte tatsächlich, wenn auch nur kurz. „Doch das habe ich. Den wichtigsten in meiner gesamten Laufbahn. Doch es ist einer, von dem deine Leser wohl niemals hören werden. Es ist der Fall Sherlock Holmes gegen John Watson. Und es ist ein ganz schöner Brocken von einem Fall, Doktor.“
 

Lächelnd ergriff ich seinen Arm. „Komm, mein Freund. Komm und dann will ich liebend gerne alles darüber hören. Ich werde dir ein Bad einlassen und dann kannst du mich damit erfreuen.“
 

„Du musst das nicht tun, Watson.“
 

„Wenn es um dich geht, gibt es so einiges, was ich nicht tun müsste, Holmes. Und doch tue ich es und werde es auch weiterhin tun. Also komm schon.“ Er gestattete mir, ihn hinunter von Joshs Dachboden-Kinderzimmer in das Bad hinter seinem eigenen Zimmer zu führen.
 

Ich ließ das Wasser ein, während er sich auf den Toilettendeckel setzte und zu sprechen begann. „Drei Tage sind eigentlich nicht besonders hart für mich. Mein Rekord liegt bei sieben, auch wenn ich zugebe, dass ich damals etwas jünger gewesen bin. Diese drei hätten nichts sein müssen. Aber natürlich bevorzuge ich es, wenn ein Fall meinen Verstand beschäftigt…und nicht etwas…etwas so viel Persönlicheres.“
 

„Du wirst jetzt ein Bad nehmen und dann schlafen gehen. Und morgen wirst du drei ganze Mahlzeiten zu dir nehmen. Und eine Mahlzeit besteht nicht aus Tabak und Alkohohl, Holmes.“
 

Er schnaubte. „Also wirklich, Watson, so wie du mich manchmal behandelst, könnte man wirklich meinen, ich sei ein kleines Kind.“
 

„Dann benimm dich nicht wie eins. Ich hab schon eins und brauche sicherlich nicht zwei. Ich bestehe darauf, dass du mehr auf dich achtest.“ Ich griff nach seiner Krawatte, aber er stieß meine Hand beiseite und seine Augen blitzten kurz auf.
 

„Ich kann mich allein ausziehen, vielen Dank.“
 

Und er tat es: Krawatte, Kragen, Hemd, Stiefel, Socken, Hose und Unterwäsche. Ich hatte ihn schon mit nacktem Oberkörper gesehen, aber noch nie völlig. Als Arzt hätte ich…nichts dabei fühlen sollen, weder Scham noch etwas weit Natürlicheres und doch tat ich es, als er dort vor mir stand – so nackt wie Gott ihn geschaffen hatte. Ich halte es nicht für nötig, hier näher auf die Einzelheiten seiner Anatomie einzugehen, als zu erwähnen, dass er durchaus ein ansehnliches Exemplar der menschlichen Rasse war – geschmeidig und muskulös, ein wenig dünn, aber bei weitem nicht ausgezehrt. Wie ein gut polierter Stein, der in Jahrtausenden von Flusswasser geglättet worden war. Es war ein Körper, den ich einfach gerne betrachtet und geschätzt hätte, wie man es mit einem schönen Kunstwerk, wie mit den Skulpturen der großen Meister der Renaissance tut. Unsere Blicke trafen sich kurz und ich denke, dass vieles ohne Worte gesagt wurde. Eine Grenze war überschritten worden: schnell und ohne darauf einzugehen. Wir hatten beide den Pfad betreten, vor dem uns Holmes gewarnt hatte.
 

Mein Freund stieg ins Wasser und lehnte sich mit einem Seufzen gegen den Badewannenrand. „Ahh…herrlich, Watson. Nichts ist so entspannend wie ein heißes Bad.“
 

Ich räusperte mich. „Soll ich gehen?“
 

„Natürlich nicht. Ich muss mit dir sprechen.“
 

„Worüber?“
 

Er seufze, scheinbar enttäuscht. „Du musst doch eine Vermutung haben? Benutz den logischen Teil deines Denkens.“
 

„Mein lieber Holmes“, sagte ich, während ich mich hinter ihm auf den Boden niederließ, so nah, dass ich leicht seinen Nacken hätte streicheln können. „Nach diesen letzten Tagen ist es ein Wunder, dass ich überhaupt noch denken kann, von logisch ganz zu schweigen. Aber ich vermute, du willst über das reden, was letzte Nacht geschehen ist.“
 

„Ja…und nein. Watson, vergib mir. Es war falsch, dich so hinauszuwerfen, wie ich es tat. Und erst recht falsch anzunehmen, du wärst mit irgendwelchen Absichten zu mir gekommen, die…deiner unwürdig sind. Die ganze Sache war deiner unwürdig. Ich hätte es wissen sollen…“
 

„Aber du konntest es doch nicht wissen.“ Ich erhob mich auf meine Knie, sodass unsere Köpfe auf gleicher Höhe waren.
 

„Watson“, sagte er in einem Flüstern. „Ich…ich hasse es, das zuzugeben, aber ich bin dir heute Morgen gefolgt.“
 

„Wie bitte?!“
 

„Ja. Ich hatte gehört, dass du aufgestanden warst und fürchtete…“, er hielt inne, um sich zu räuspern. „Ich fürchtete, du könntest etwas Voreiliges tun. Also bin ich dir gefolgt.“
 

„Aber ich habe nichts gesehen!“
 

Er warf mir ein Grinsen zu und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. „Das ist es, womit man rechnen muss, wenn man von mir verfolgt wird“, sagte Holmes. Ich hörte diesen Satz nicht zum ersten Mal.
 

„Na gut, na gut, aber warum? Du hast doch sicher nicht gedacht, ich wäre so verstört wegen dem, was passiert ist?“
 

„Oh, mein lieber Freund, ich kann dir nicht sagen, warum genau ich es tat. Aber…aber ich muss zugeben, dass ich froh bin, es getan zu haben.“
 

„Und warum das?“, flüsterte ich.
 

„Ich gab vor, ein Patient zu sein und der Sekretär deines alten Assistenten erlaubte mir direkt vor dem Behandlungszimmer zu warten. Indem ich die Tür einen Spalt aufschob, war ich in der Lage, das ganze Gespräch mit anzuhören. Du…du hast mich gegen Parks verteidigt. Was du gesagt hast…es bedeutet wirklich eine ganze Menge…oh, was sage ich da? Warum, Watson? Warum hast du es getan? Ich weiß, dass es von Herzen kam, aber ist dir denn nicht klar, wie viel du mit deinen Worten riskiert hast? Du…du hättest es nicht für mich riskieren sollen. Ich bin das alles nicht wert, wirklich Watson, das bin ich nicht.“
 

„Du bist ein Narr.“
 

Wie bitte?“
 

„Um Gotteswillen, Holmes! Ich habe es nicht für dich getan!“
 

Seine Augen weiteten sich deutlich. „Für wen dann?“
 

Mit einer plötzlichen Bewegung, die sogar mich selbst überraschte, tauchte ich meine Hand bis zum Ärmel ins Wasser und zog seine heraus. Ich hielt sie, gefangen zwischen meinen eigenen und blickte fest in seine grauen Augen. „Für uns, Holmes“, sagte ich. „Ich habe es für uns getan.“
 

Er setze sich so abrupt auf, dass er beinahe wahre Kaskaden von Badewasser über den Wannenrand strömen ließ. Er schüttelte leicht den Kopf, verarbeitet alles, was das bedeutete, alles, was er gestern Nacht nicht hatte glauben können. Und dann, als er es schließlich tat, streckte er eine tropfende Hand nach mir aus. Er griff nach meinem Nacken und zog mich zu sich. Sein Körper bebte und auch ich konnte fühlen, wie mein Puls beinahe aus meinem Körper sprang. Er war nass und unsere Lippen pressten sich unbeholfen aneinander; es war kaum die Situation, die ich mir für unseren ersten…nun, eher zweiten Kuss gewünscht hätte. Es fühlte sich an wie damals, als ich noch ein Junge war und dieses sommersprossige Mädchen mich mitten auf dem Schulhof packte und hart auf die Lippen küsste. Niemals war ich so verlegen…und doch bezaubert im selben Moment gewesen. Mein erster Kuss.
 

Und in gewisser Weise war es ähnlich.
 

Ich öffnete den Mund, erlaubte meiner Zunge zwischen meinen Lippen hervorzudringen, doch es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Holmes erkannte was passierte – so unglaublich schnell passierte – und sich losriss. Er sah mich an, mit leicht geöffnetem Mund und unerfülltem Verlangen in jeder Facette seines Wesens.
 

Für eine Sekunde – genau eine Sekunde – zögerten wir beide. Aber dann zerplatzte die Sekunde und wir packten einander.
 

Die nächsten Minuten schienen mir wie eine Explosion von Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen. Die Uhr schlug die Stunde – irgendeine Stunde zumindest – und ich zerrte Holmes aus der Wanne. Er war tropfnass und wir beide wären beinahe ausgerutscht, während wir es irgendwie in sein Schlafzimmer schafften. Keiner von uns dachte, wir beide handelten einfach, ohne einen Gedanken an unsere Handlungen zu verschwenden. Holmes nagelte mich auf seinem Bett fest, aber nass wie er war, war es wie ein Stück Seife festzuhalten. Meine Kleider waren schon bald so nass wie er, aber mit ihm auf mir konnte ich sie beim besten Willen nicht ausziehen. Es war mit Sicherheit der verworrenste, unromantischste, fleischlichste und sinnlichste Liebesakt, an dem ich jemals beteiligt gewesen war.
 

Er drückte seinen Mund so hart auf meinen, dass es fast schon schmerzte, doch er ließ nicht zu, dass ich mich zurückzog. Seine Zunge schlug heftig gegen meinen Gaumen, seine Lippen waren rau, sein Gesicht unrasiert, sein Stöhnen klang tief und kehlig. Ich hätte mir nicht vormachen können, er sei eine Frau, selbst wenn ich über die ausgeprägteste Vorstellungskraft auf diesem Planeten verfügt hätte.
 

Ich war es nicht gewohnt, mit jemandem um die Dominanz kämpfen zu müssen, und ganz besonders nicht mit jemandem, dessen Stärke der meinen ebenbürtig war. Aber irgendwie schaffte ich es trotz seiner Beharrlichkeit, ihm einen Stoß gegen die Schulter zu versetzten, sodass wir mit einem Rumms in vertauschten Positionen auf der Matratze landeten. Ich war es mit Sicherheit eher gewohnt, oben zu liegen und drückte ihn mit meinem Körper auf das Bett. Er griff nach meinem Überrock und riss ihn mir beim Versuch ihn auszuziehen einfach vom Leib. Mit so viel Respekt, wie ich gerade noch für die Kleider aufbringen konnte, hielt ich ihn mit einer Hand nieder und entledigte mich mit der anderen von Hemd und Krawatte. Ich fühlte wie zwei Knöpfe dabei abrissen. Ich versuchte nicht einmal, die Hose auszuziehen. Ich zerrte den Hosenschlitz auf und das war genug.
 

Das Wasser steigerte die Temperatur zwischen unserer bloßen Haut, die mir bereits kochendheiß erschien. Er vergrub sich in mir und ich griff hinab zu seinen Lenden. Er erschauderte unter meiner Berührung und klammerte sich fester an mich.
 

Der Pfad rauschte plötzlich auf uns zu. Wir konnten ihm nicht mehr entkommen.
 

Mein Verstand setzte aus und mein Denken färbte sich rot. Es war ein Durcheinander aus Gliedmaßen und Händen und Küssen, die brannten, wie Feuer und Eis…Ich atme seinen feuchten Geruch nach Seife ein, schmeckte seinen feurigen Atem, der sich irgendwie in meinen Lenden fortsetzte. Ich war mittlerweile größtenteils nackt und wir waren beide wie Tiere in unserem Drängen. Er packte mich so heftig, dass ich beinahe aufschrie. Nur seine Hand auf meinem Mund hielt mich zurück. Ich kann nicht einmal wirklich sagen, wie es vollbracht wurde; aber wie auch immer es geschah, es geschah schnell und heftig.
 

Holmes war als erster fertig, sein Samen war auf meinem Bauch. Seine Hand schnellte in jener Sekunde nach oben zu meiner Kehle, suchte etwas, woran er sich festhalten konnte. Er vergrub seinen Kopf an meiner Schulter, brüllte wie ein Raubtier, das von seiner Beute verschlungen worden war. In verzweifeltem Verlangen griff ich in sein Haar und zerrte ihn wieder hoch, sodass er mich ansehen musste. Für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke, aber der Zeitpunkt für Worte war noch nicht gekommen. Immer noch nach Luft schnappend streckte er seine geschickten Hände nach unten aus. Ich knurrte und vergrub mich in ihm, würgte beinahe an seinem Mund, als ich wenige Sekunden später die Vernunft hinter mir ließ. Unter seiner Hand wogte ein Feuer durch meinen Körper. Meine Erlösung ließ mich heftig ausholen, ich traf das Kissen und verfehlte den Kopf meines Partners nur knapp. Aus der Tiefe meiner Seele rief ich ihm zu, aber das einzige, was ich herausbrachte, war ein hoher Schrei, der mir die Lungen zudrückte.
 

Und dann war es vorbei.
 

Als wir von einander abgelassen hatten, lagen wir beide auf dem Bett, das für zwei Männer kaum groß genug war. Wir rangen beide immer noch um Atem und für lange Zeit herrschte Schweigen. Ich kann nicht für Holmes sprechen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass wenn wir uns diese Nacht ausgemalt hatten (falls wir das getan hatten), hatten wir sie uns sicher anders vorgestellt. Ich selbst hatte mir nur einen langsamen und methodischen Liebesakt vorstellen können, so wie es mit meiner Frau gewesen war. Selbst in jenen Tagen mit anderen Frauen hatte es immer einen gewissen Grad der Schönheit an sich gehabt. Das hier war völlig anders. Es war energisch, heftig, verzweifelt und ungeplant gewesen. Es war einfach passiert. Wir hatten uns keine Zeit genommen; wir hatten uns nicht die Zeit genommen, miteinander zu flüstern, einander Vergnügen zu bereiten und herauszufinden, was dem anderen gefiel. Es war ein gnadenloser, gieriger Kampf gewesen, wir beide wahnsinnig, beunruhigt, verzweifelt in unserem Verlangen. Nach all diesen Monaten, all diesen Jahren hatten wir uns nicht mehr beherrschen können.
 

Schließlich drehte sich Holmes zu mir um und ich sah in seinen Augen, dass ihm dasselbe durch den Kopf ging wie mir. Als er sprach, klang seine Stimme gepresst und zittrig. „Bist…bist du wütend auf mich?“
 

„Aber weshalb denn?“ Er schenkte mir nur einen tadelnden Blick. „Na gut, ich gebe zu, Holmes, dass es nicht ganz so war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es ist…einfach passiert.“
 

Er erhob sich, war immer noch vollkommen nackt, während das Licht, das durch die Spalten herein drang, ihn überzog und er zitterte, was trotz der Dunkelheit unverkennbar war. „Mein lieber Watson“, sagte er. „Es gibt etwas, dass ich dir hätte erzählen sollen, bevor das hier begonnen hatte.“
 

„Und das wäre?“
 

„Ich hatte…das noch nie zuvor getan.“
 

Ich lachte. „Komm schon, Holmes. War es nicht offensichtlich, dass für mich dasselbe gilt?“
 

„Nein, nein. Du missverstehst mich. Ich war niemals mit jemandem zusammen. Weder Mann noch Frau.“
 

Ich hätte nicht überrascht sein dürfen. Wenn man in Ruhe darüber nachdachte, schien es sogar ein logischer Schluss. Schließlich, wenn jemand nichts an Frauen findet und bis zu diesem Moment nicht den Skandal riskieren wollte, einem Mann so nah zu kommen, was bleibt ihm dann? Und trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, so lange zu leben, wie er es getan hatte, ohne jemals zumindest zu versuchen, was einem möglich war. Ich hoffe, dass klingt nicht erbärmlich, aber schließlich sind wir auch nur Menschen. Aber ich sah nicht, was dieser Blitz aus heiterem Himmel ändern sollte. Also zuckte ich nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Du bist, was du bist“, sagte ich. „Hast du etwa gedacht, das würde irgendetwas an meinen Gefühlen für dich ändern?“
 

„Nein, aber…“
 

„Komm her, mein lieber Freund“, ich winkte ihn zu mir und nahm seine Hand in meine eigene. „Es ist passiert und wir können nicht ändern, dass es passiert ist. Was wir allerdings ändern können, ist, wie wir in Zukunft damit umgehen werden. Wir waren beide ängstlich, denke ich, oder nervös, unruhig und besorgt über das, was passieren würde. Wenn wir uns nun auch noch beide unbehaglich über das fühlen, was schon geschehen ist, dann ist alles vergeblich gewesen.“
 

„Ja“, sagte er. „Ja, du hast natürlich Recht. Ich frage mich nur…“
 

„Was?“
 

„Hat es dir gefallen?“
 

Meine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Sehr.“
 

„Und du empfandest keinen Ekel?“
 

„Natürlich nicht!“
 

Er schenkte mir sein pfeilschnelles Grinsen und nickte kurz, so als hätten sich soeben ein paar wissenschaftliche Daten bestätigt. „Dann war es gut, Watson. Mehr als ich jemals zu hoffen oder träumen gewagt hätte.“
 

Ich nickte, aber wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Als er das Zögern auf meinem Gesicht sah, fügte er hinzu. „Aber es stimmt trotzdem etwas nicht, habe ich Recht?“
 

„Nein…nun, es ist nur…“
 

„Bitte, du musst es mir sagen.“
 

„Ich werde es versuchen…wenn ich es überhaupt in Worte fassen kann. Erinnerst du dich daran, dass du mir gesagt hast, Emotionen würden deinen Verstand trüben? Dass das der Grund sei, warum du dich nie mit jemandem eingelassen hast. Aus Angst, es könnte dein Urteilsvermögen trüben; deine Fähigkeit zur Schlussfolgerung blockieren?“
 

„Ja…“
 

„Und seit dem Tag, als ich dein Buch fand und las, was du in Latein darin geschrieben hattest, ließ ich zu, dass meine Gefühle für dich von der Angst, ertappt zu werden, überdeckt wurden. Und ich fürchte es nicht einmal so sehr meinetwegen. Ich würde das Risiko eingehen, aber ich muss an Josh denken. Was mit ihm passieren würde…Oh, Holmes, du verstehst doch, was ich damit sagen will, nicht wahr?“
 

Er seufzte und lehnte sich näher zu mir, so als suchte er meinen Schutz. Er hatte den Arm um meine Schulter gelegt und seine Lippen waren nur wenige Zoll von meinem Ohr entfernt. „Ich verstehe. Ist die Belohnung das Risiko wert? Ich denke…ich denke, dass diese Frage nicht sofort beantwortet werden kann. Sie erfordert viel Überlegung…und Zeit…natürlich Zeit. Was denkst du darüber?“
 

„Ich denke, es ist ungerecht, dass wir uns diese Frage überhaupt stellen müssen.“
 

„Das Leben ist kaum einmal gerecht, mein teurer Freund. Kaum jemals gerecht. Ich riskiere meine Laufbahn, alles was ich brauche, um in dieser wahnsinnigen Welt bei klarem Verstand zu bleiben, das einzige, was ich – außer dir – jemals wirklich gebraucht habe.“ Er lächelte. „Und du riskierst die grausame Öffentlichkeit, die du in deinem Leben brauchst. Ganz zu schweigen von dem Jungen, deinem Erben, der uns beiden sehr wichtig ist…nun?“
 

„Ich denke“, sagte ich. „Dass ich es riskieren werde. Aber ich kann dir nichts versprechen.“
 

„Das kann ich auch nicht. Es wäre vollkommen unvernünftig, das zu tun. Aber Watson, eines musst du mir versprechen.“
 

„Natürlich.“
 

Er nahm meinen Kopf in seine Hände, zwang mich ihn anzusehen. So lang ich lebe, werde ich seinen Blick nicht vergessen können. Er war vollkommen ernst und gleichzeitig furchtsam. Noch nie hatte ich einen solchen Blick gesehen. Er holte tief Luft, versuchte zu entscheiden, wie er es mir sagen würde. „Wenn jemals eine Zeit kommt“, flüsterte er. „Da du zu dem Schluss kommst, dass die Belohnung das Risiko nicht länger wert ist, dann musst du zu mir kommen und es mir sagen. Ich werde nicht für Betrug oder halbherzige Versöhnungsversuche einstehen. Wenn jemals eine Zeit kommt, da ich nicht mehr dein ganzes Herz besitze – oder zumindest dein ganzes williges Herz – dann musst du es mir sagen.“
 

Ich schluckte schwer und legte meine Hand auf seine bloße, immer noch von Schweiß bedeckte Brust. „Ich hoffe, dass diese Zeit niemals kommen wird.“
 

„Das tue ich auch. Aber wir sind bloß Sterbliche und können nicht von der Zukunft sprechen. Und das hier ist nicht leicht…es könnte…“ Seine Worte verloren sich und ich war sehr froh, den Rest seines Gedankens nicht hören zu müssen.
 

„Ich verspreche es“, sagte ich.
 

Er nickte und drückte meine Hand. „Dann tue ich dasselbe.“
 


 

Eine Stunde später stand ich auf, um zu gehen. Wir hätten uns beide nur zu gerne in einem weiteren, etwas liebevolleren Akt vereint, aber es war entschieden, dass wir uns das für ein anderes Mal aufsparen mussten, wenn wir es einrichten konnten. Auch wenn ich denke, dass Holmes vermutlich in einer höchsten Anstrengung von Geist gegen Materie noch ein zweites Mal bereit gewesen wäre, war ich keine zwanzig oder auch nur dreißig mehr. Und für die heutige Nacht war ich verbraucht.[1] Außerdem konnten wir es nicht riskieren, am Morgen entdeckt zu werden, sollten wir verschlafen. Wir hatten alles miteinander geteilt, was zwei Menschen miteinander teilen konnten, aber wir waren nicht in der Lage, uns ein Bett zu teilen.
 

Ich sammelte meine Kleider auf und platzierte sie mehr oder weniger an meinem Körper, ohne mich groß um die verschiedenen Knöpfe zu kümmern. Holmes konnte sich angesichts meines Hemdes, dem nun zwei Knöpfe fehlten, das Lachen nicht verbeißen und mir graute vor der Lüge, die ich Mrs. Hudson würde auftischen müssen, um das zu erklären.
 

Ich zögerte an der Tür und wand mich um. Er hatte sich achtlos einen Morgenrock übergeworfen und lag ausgestreckt auf seinem Bett, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt. „Gute Nacht, Holmes“, sagte ich. Vor allem deshalb, weil ich nicht sagen konnte, was ich wirklich sagen wollte. Was ich in meinem Herzen fühlte.
 

„Schlaf gut, alter Freund.“
 

Meine Hand kehrte auf den Türgriff zurück. „Holmes…“
 

„Was ist, Watson?“
 

„Ich, äh…gar nichts. Gute Nacht.“
 

„Watson.“
 

Ich drehte mich um. „Ja?“
 

Er lächelte und schüttelte den Kopf. Es war ein wunderschöner Anblick, jenes Lächeln. Es sagte alles, was ich nicht sagen konnte. Während ich es erwiderte, errötete ich leicht und stöhnte innerlich auf, weil er schon wieder gewusst hatte, was in mir vorging, ohne dass ich es hatte aussprechen müssen. Worte waren überflüssig. Ich schloss leise die Tür. Jede Reue, die noch geblieben war, wurde von jenem Blick voll tiefstem Glück fortgewaschen.
 

Ich hatte erwartet, dass ich in jener Nacht süß und selig schlafen würde. Ich war mit Sicherheit verausgabt genug. Mein Geist war erschöpft von allem, was geschehen war und mein Körper hatte genug Gründe, es ebenfalls zu sein. Stattdessen konnte ich nichts tun, als reglos in der kalten, leeren Dunkelheit meines Zimmers zu liegen. Ich fühlte mich so einsam. Mindestens zweimal hätte ich beinahe alles zur Hölle gewünscht und wäre zu jenem Platz zurückgekehrt, wo ich mit Sicherheit Erholung und Schlaf gefunden hätte, doch ich tat es nicht. Zuviel war in dieser einen Nacht schon geschehen. Es war nicht der Zeitpunkt, um noch mehr zu riskieren.
 

Mein Verstand durchwanderte jede Facette jener unglaublichen und erschreckenden Nacht und ich erkannte, dass ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, was genau der sprichwörtliche letzte Tropfen gewesen war. Nach all der Frustration, dem Schmerz, der Angst konnte ich nichts benenne, was schließlich die letzte Mauer niedergerissen hatte. Unkontrollierbares Verlangen? Vielleicht. Die Angst, dass wenn es nicht jetzt war, dass es dann niemals sein würde? Ebenso gut möglich.
 

Vielleicht hatten wir schließlich einen Punkt des vollkommenen Verstehens erreicht, an dem er für kurze Zeit alles über mich gewusst hatte, und ich über ihn.
 

Aber was würde aus alldem im vernunftbestimmten Morgenlicht werden?
 

Ich hatte Angst davor, wie wir am nächsten Morgen reagieren mochten. Es war eine Sache, Dinge in der Dunkelheit zu verstehen und einander zu versprechen, beieinander zu liegen und das leere Verlangen schlussendlich erfüllt zu sehen, aber wie würde es sein, wenn wir zusammen mit unseren Pfeifen im Wohnzimmer saßen? Mit einem Klienten. Oder mit Josh. Würden wir klar denken können? Würde alles unangenehm sein?
 

Hatte ich die großartigste Freundschaft weggeworfen, die ich jemals gekannt hatte, für eine Liebe, die ich gerade erst zu verstehen begann?
 

Gott, ich hoffte nicht…
 

Einmal mehr war ich gezwungen jede Hoffnung auf friedlichen Schlaf viel früher aufzugeben, als ich gewünscht hätte. Josh hatte anscheinend meine eigene Vorliebe für langes Schlafen entwickelt und ich war sicher, dass ich für ein oder zwei Stunden meine Ruhe haben würde, bevor ich ihm gegenüber treten musste. Ich schien albern, dass ein Mann sich vor seinem dreijährigen Sohn fürchten sollte, aber bei seiner unheimlichen Auffassungsgabe konnte ich nicht anders, als zu fürchten, er könnte mein Geheimnis entdecken.
 

Allerdings sollte mir kein gemächliches Zeitunglesen und Rauchen am frühen Morgen vergönnt sein. Zu meiner großen Überraschung erblickte ich Holmes, als ich die Wohnzimmertür öffnete. Er hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt und zahllose Teile der Times lagen um ihn verstreut. Er hielt die Titelseite in einer Hand, eine Zigarette in der anderen. Das Feuer war noch nicht entfacht, also wusste ich, dass Mrs. Hudson noch nicht aufgestanden war.
 

Sofort wurde ich von der heftigen Angst überflutet, dass wir nicht miteinander würden reden können, oder schlimmer noch, dass er es bereuen könnte. Ich hätte es einfach nicht ertragen, wenn er es bereut hätte.
 

„Du bist ungewöhnlich früh wach“, bemerkte ich, da mir nichts Tiefsinnigeres einfallen wollte.
 

Er sah auf, als hätte er mich nicht hereinkommen gehört. Und zu meiner Erleichterung schien er über meine Aufdringlichkeit weder beschämt, noch verärgert oder mürrisch. Stattdessen schenkte er mir ein kurzes Lächeln. „Tatsächlich habe ich wunderbar geschlafen, für fast schon fünf Stunden. Ich fühle mich vollkommen erholt. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile, das kann ich dir versichern.“
 

„Nun, das freut mich zu hören.“
 

„Das sollte es auch, denn es ist ganz und gar dein Verdienst.“
 

„Wie das?“, fragte ich, ohne nachzudenken. Mit der verspäten Erkenntnis entwickelte ich schnell ein großes Interesse an der Obstschüssel.
 

Holmes lachte leise. „Aber, aber, mein lieber Watson, du wirst ja rot wie ein Schulmädchen. Sollte ich es nicht sein, der sich unwohl fühlt? Schließlich hast du mir letzte Nacht meine Ehre gestohlen.“
 

„‚Gestohlen’ also?“, antwortete ich spöttisch, während ich den Sportteil unter einem Glas mit Pfeifenputzern hervorzog.
 

„Wie würdest du es denn nennen?“
 

Ich hätte niemals erwartet, dass ein Mann in Holmes Alter noch ohne jegliche Erfahrung sein könnte. Allerdings war er nicht wie die meisten Männer und früher hatte ich angenommen, er sei einfach nur sehr vorsichtig und wollte mich nichts von seinen außertourlichen Aktivitäten wissen lassen oder hätte einfach nicht die Bedürfnisse eines gewöhnlichen Mannes. Aber das war gewesen, bevor ich von seinen Neigungen erfahren hatte. „Wenn du es denn Diebstahl nennen willst“, flüsterte ich ihm zu. „Dann würde ich sagen, dass wir uns beide gestern Nacht recht strafbar verhalten haben.“
 

Holmes nickte. „Ja. Und zwar in mehr als einer Hinsicht.“
 

„Was willst du damit sagen?“ Er schien sich früher nie besonders viel aus Gesetzen gemacht zu haben.
 

Sein ganzes Verhalten änderte sich direkt vor meinen Augen. Mit einem düsteren Gesichtsausdruck warf er mir die Titelseite der Times zu. „Es ist strafbar, Watson! Absolut strafbar!“ Er sprang auf die Füße und ging langsam ans Fenster, während er sich den Morgenrock enger um seinen dünnen Körper schnürte.
 

Ich las laut: „‚Beginn des Wilde-Prozesses in Old Bailey. Angeklagter mit 25 Fällen schwerer Unzucht und Anstiftung zur schweren Unzucht belastet… Wilde? Ist das dieser Schriftsteller, wie war noch sein Name – Oscar Wilde?“
 

„Genau der. Dieser Mann ist ein literarisches Genie. Sein neustes Stück[2] wird seit Februar im St. James aufgeführt. Vor einem vollen Haus, wie es heißt.“
 

„Ja und er hatte erst vor ein paar Jahren einen Roman, wenn ich mich recht erinnere. Er war etwas langatmig für meinen Geschmack, aber alles in allem…wie zum Teufel war noch mal der Name? – Das, äh…Das Bild…nein, Das Portrait…“
 

Das Bildnis des Dorian Grey.“
 

„Ja, das war es…aber warum um Himmelswillen lässt du dich von diesem Kerl so aus der Ruhe bringen?“
 

„Nun, zunächst einmal, was zum Teufel denkst du, worum es sich bei den Fällen von ‚schwerer Unzucht’ handelt?“
 

„Es ist ziemlich vage…es könnte alles sein. Nun, ich denke…oh, Gott…meinst du etwa…“
 

Holmes antwortete nicht. Stattdessen griff er nach oben, zog die Vorhänge auf und verschränkte seine Hände vor der Brust. Ich fühlte denselben kalten Schauer, der zweifellos auch seinen Körper durchlaufen hatte.
 

„Es ist eine Verletzung von Paragraph 11 der Strafgesetznovelle von ’85. Ein Gesetz so vage formuliert, dass diese…Mistkerle alles, was für ihr Empfinden unzüchtig ist, darin einschließen können. Was ganz offensichtlich auch jegliche sexuelle Handlung zwischen zwei Männern betrifft.“ Seine Stimme klang schrecklich müde, als er sich wieder mir zuwandte. „Und das ist erst die Hälfte, Watson. Es gibt etwas, dass ich dir schon lange erzählen will, aber ich hatte das Gefühl, nun…ich wusste nicht, wie du darauf reagieren würdest, verstehst du.“
 

„Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst, Holmes.“ Zumindest hoffte ich, dass es so war.
 

„Es hat keine wirklichen Konsequenzen“, begann er und ließ in mir sofort den Gedanken keimen, dass das genaue Gegenteil der Fall war. „Dieser Wilde-Skandal hat mich wieder daran erinnert und ich bin mir sicher, du wirst mir zustimmen, dass wir die Ironie der ganzen Situation nicht ignorieren können.“
 

„Etwas ist geschehen?“, vermutete ich.
 

Er schüttelte den Kopf. „Wenn du wirklich sehr vage sein willst, dann ja. Aber um genauer zu sein, hat mich dieses Etwas daran erinnert, was aus meinem Leben hätte werden können und welche Folgen das alles hier für dich haben könnte. Es ist etwas, das bei der Gerichtsverhandlung von Richard Bishop ans Licht kam.“
 

„Richard Bishop?“ Ich war maßlos überrascht. Wegen meinem eigenen Dilemma mit meiner Schwester hatte ich dem Prozess, den der seltsamste Fall, in den Holmes und ich jemals verwickelt gewesen waren, nach sich gezogen hatte, größtenteils ignoriert und mein Freund hatte wenig davon gesagt, außer dass er stattgefunden hatte und der Angeklagte verurteilt worden war. Aber ich war völlig ahnungslos, was die Details anging und es war mir auch nie in den Sinn gekommen, irgendwelche Fragen zu stellen. In Anbetracht dessen, was an seinem Ende geschehen war, bezweifelte ich sehr stark, dass ich diesen Fall jemals veröffentlichen würde. Ich hatte vor langer Zeit beschlossen, dass es das beste war, nur jene Fälle zu veröffentlichen, die die geistigen Fähigkeiten meines Freundes besonders gut wiedergaben und jene eher prekären Falle lieber in meinem alten Depeschenbehälter zu lassen. Und auch wenn an dem Fall per se nichts Heikles war, so war er doch das erste Glied in einer Kette von Ereignissen, die schlussendlich zum heutigen Tag geführt hatten, und ich war der Meinung, dass es wohl recht viel Zeit erfordern würde, ihn wie jeden anderen Fall erscheinen zu lassen. Aber ich schweife ab…
 

„Der Fall schien zuerst wie jeder andere“, sagte mein Freund und schien eher mit dem Fensterglas als mit mir zu sprechen. „Ich habe bereits bei 58 Strafverfahren ausgesagt, wenn ich richtig gerechnet habe; teilweise war es recht trivial und unwichtig und manchmal hing der ganze Fall von meiner Aussage ab. Dieser Fall schien zu den letztgenannten zu gehören, denn schließlich war ich es natürlich, der entdeckt hatte, dass Bruce Bishop in Wirklichkeit sein eigener Schwager, Michael Hilton, war. Nun, lange Rede, kurzer Sinn, Doktor, die Verhandlung selbst war ziemlich uninteressant, besonders für jemanden, der mit der ganzen Zeremonie schon so vertraut ist wie ich. Aber während des Schlussplädoyers machte der Verteidiger – zweifellos in der Absicht Mitleid für seinen jungen Klienten zu schaffen – eine Bemerkung – wohlgemerkt nur eine Bemerkung – die in meinem Geiste auf einmal vieles verband. Erinnert du dich, als ich dir erzählte, dass Hilton von dem Earl of Cantor enterbt worden und gezwungen war, von England nach Frankreich zu fliehen?“
 

„Ja, ich erinnere mich…es hatte mit einem persönlichen Skandal zu tun. Was ist damit?“
 

Er versuchte noch nicht einmal, diskret zu sein. Er sprach offen und heftig. „Es scheint, dass dieser arme Junge, denn das war er, sowohl seine Familie als auch seinen Beruf verloren hatte, weil er verliebt war. In einen jungen Schauspieler, dessen Name unbekannt bleibt.“
 

„Gott…“, murmelte ich. „Nun, da ist es kein Wunder, dass er ein Verbrecher wurde! Einfach so…im Stich gelassen zu werden.“ Ich stand nun auf und trat selbst ans Fenster. „Holmes, ich weiß, dass du mich auf etwas Wichtiges hinweisen willst. Ich empfinde zwar für beide, Michael Hilton und den armen Mr. Wilde, Mitgefühl, aber wenn du denkst, dass sich deshalb meine Meinung über…nun, auch nur irgendetwas ändert, dann hast du einen schweren Fehler in deinen Beurteilungen über mich gemacht.“
 

Diesmal war sein Lächeln ehrlich, wenn auch von Trauer durchdrungen. „Nein, Watson…ich denke, noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen, da ich dich falsch beurteile. Nicht seit jenen Tagen, die auf unser erstes Treffen folgten, als ich deine Bedeutung für mein Leben unterschätzt habe. Der Grund, weshalb ich dir das erzählt habe…ich denke, es war mehr um meinet- als um deinetwillen. Vielleicht war es für mich eine Offenbarung, was aus meinem Leben hätte werden können, was immer noch daraus werden könnte, wenn ich mehr von meiner Seele preisgebe, als ich beabsichtige. Das Schicksal von Oscar Wilde zu teilen und mein Privatleben vor einer Gruppe von Männern ausgebreitet zu sehen, die nicht mehr Recht dazu haben, über das zu richten, was ich hinter verschlossenen Türen tue, als ich, über sie zu richten. Oder schlimmer noch, das Schicksal von Michael Hilton zu teilen, dem alles weggenommen wurde, was ihm lieb und teuer war…oh, die bloße Erwägung davon reicht aus, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben.“ Er drehte sich um und packte mich hart an den Schultern. Sein Gesicht war gerötet und voller Gefühl.
 

„Und mach dir nicht vor, es würde dir dabei besser ergehen. Deine Zelle würde neben der meinen liegen in einem so dunklen Gefängnis, dass ich die Schönheit deines Gesichts nicht würde sehen können und so kalt, dass ich mir die Wärme deiner Hand in meiner nicht würde vorstellen können. Und der kleine John Sherlock…er würde bei deiner Schwester leben müssen, wo ihm mit Sicherheit jeder Funke seines unglaublichen Potentials ausgetrieben werden würde und anstatt mich als Vorbild anzusehen, würde er voller Hass auf den Mann aufwachsen, der Schuld daran trägt, dass ihm sein Vater genommen wurde…und meine eigene Familie…Mycroft würde mir niemals verzeihen, dass ich unseren Namen in den Schmutz gezogen hätte…“
 

„Holmes!“, rief ich, während ich ihn am Arm packte und schüttelte. „Komm wieder zu dir! Du redest wie ein Wahnsinniger!“ Die Farbe kehrte langsam wieder in sein Gesicht zurück und seine Augen wurden wieder klar. „Ich weiß, dass du Angst hast“, sagte ich viel ruhiger.
 

Er riss sich los und erwiderte mit Spott. „Angst? Also wirklich, Watson.“
 

„Du brauchst dich doch deshalb nicht zu schämen! Auch…auch ich habe Angst.“
 

Er starrte mich von der Seite her an. „Es ist keine Angst, die mich hierzu treibt, Doktor. Es ist die entsetzliche Ungerechtigkeit! Kein Mann sollte das Recht haben, einen anderen für Taten zu verurteilen, die keinen anderen entwürdigen, nicht die Stadt, in der er lebt oder überhaupt irgendetwas. Ebenso wie ich jene beklage, die der Religion und der Bibel mit solchem Extremismus nachgehen, dass sie alle in ihrem Umfeld unterdrücken; aber jene, die nichts davon zur Kenntnis nehmen, was der Glaube anbietet, sind ebenso beklagenswert. Die Güte, Gleichheit und Liebe, die wir unseren Mitmenschen entgegenbringen sollten…sie verdrehen diese Dinge solange, bis das Knäuel so fest ist, dass es unmöglich ist, es zu entwirren…und tun ach so vornehm, dass wir derartigen Kreaturen geistig im Ungleichgewicht sind und genau dort wo wir hingehören.“
 

„Holmes…“
 

„Vielleicht sollten sie es einfach gut sein lassen und mich und Wilde zusammen in einen Raum stecken, wo wir einer frontalen Lobotomie unterzogen werden können!“
 

„Holmes…“
 

„Nun, Watson, du bist doch ein Doktor, vielleicht kannst du es mir ja sagen. Bin ich ein entarteter Schwachsinniger mit irgendeiner psychischen Störung?“
 

„War es das jetzt?“ Er öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann schloss er ihn wieder. „Gut. Wenn du dann also fertig bist, dich über alle Ereignisse aufzuregen, die noch nicht geschehen sind und auch niemals geschehen werden, dann wärst du vielleicht so freundlich, dieses Fenster zu öffnen und hier mit mir eine angenehme Zigarette zu rauchen? So wie jeden Morgen?“
 

Und genau das war es, was wir taten. Schweigend, denn ich glaube sowohl er als auch ich brauchten schließlich eine Pause. Wir fühlten uns vom süßen Duft des Aprils umgeben, denn es war noch früh genug, dass der beißende Rauch ihn noch nicht verpestet hatte. Die Sonne spiegelte sich in einem gräulichen Rot in dem Glas und den Hausdächern der Baker Street. Kutschen rumpelten vorüber und Menschen spazierten vorbei, Kinder winkten einander und riefen.
 

Ich beendete meine Zigarette und löschte sie. „Nun, es ist ein schöner Tag. Was hast du für Pläne?“
 

Er lächelte. „Ich werde heute meine Entdeckungen im Fall des Tabakmillionärs bei der gerichtlichen Untersuchung vorbringen.“
 

„Und danach?“
 

„Nichts von dem ich wüsste.“
 

„Ausgezeichnet. Dann werde ich versuchen, uns Karten für die Achtuhrvorstellung in St. James zu bekommen. Und ich würde sagen, wir könnten davor am Strand eine Kleinigkeit essen. Was sagst du?“
 

„Vorstellung? Aber…hast du denn vergessen, dass Mrs. Hudson heute nach Surrey fährt, um ihre Schwester zu besuchen? Wir haben keinen, der auf den Jungen aufpasst.“
 

„Oh, wir werden ihn mitnehmen. Ich denke, ein Theaterstück wird ihm gefallen. Und es würde mir gefallen, jemanden zu haben, der mir mit den Hunderten von Fragen hilft, die er ohne Zweifel haben wird. Wie klingt das?“
 

Seine Mundwinkel zuckten nach oben und er legte beide Arme um mich. „Ich danke dir, Watson“, flüsterte er.
 

„Wofür? Ich habe nichts getan.“
 

Er ließ mich augenblicklich los. „Wenn es dir so lieber ist. Es reicht, dass ich weiß, was du getan hast. E Tenebris, nunc scio quid sit Amor.[3]“
 

Ich stöhnte. „Dir ist doch klar, Holmes, dass du mich wirklich wütend machst.“
 

„Aber weshalb, mein lieber Sir?“, fragte er unschuldig.
 

„Weil du mich wünschen lässt, ich hätte im Lateinunterricht besser aufgepasst!“
 

Holmes lachte und für einen Augenblick sah ich ihn wieder in sein normales Selbst zurückverwandelt. „Komm jetzt, Watson. Wir dürfen nicht länger müßig sein. Ich muss mich für die Harding-Inquisition vorbereiten und du dich für die John-Sherlock-Inquisition. Nun, ich werde kurz nach Mittag zurück sein. Wenn du keine Karten mehr bekommst, dann schick ein Telegramm an Scotland Yard und ich könnte mir denken, dass ich es noch rechtzeitig schaffe…oh, und ich erwarte Nachrichten, die den Fall mit Miss Smith betreffen…falls irgendetwas mit der Post kommt…“
 

Seine Stimme verlor sich und ich konnte hören, wie er seine Zimmertür hinter sich schloss. Er verließ mich mit einem Lächeln auf meinem Gesicht und zwei anderen kleinen Aufgaben, die ich vollbringen musste. Erstens musste ich die Karte eines gewissen Docteur Vernet wiederfinden und zweitens musste ich ein weiteres Mal mein altes Latein-Wörterbuch zu Rate ziehen…
 


 

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[1] Ich muss hier einfach auf die vielen Slash-Fictions eingehen, die ich gelesen habe. Es scheint so, als würden viele Leute glauben, Männer seien so eine Art Superhelden mit der Manneskraft von Zuchthengsten. Kommt schon, das sind menschliche Wesen und zwei, drei oder sogar vier Mal hintereinander ist einfach unrealistisch. Okay, danke, dass das ihr euch mein Gejammere anhört.
 

[2] Ernst sein ist alles bzw. The Importance of Being Earnest
 

[3] „Aus der Dunkelheit weiß ich nun, was Liebe ist.“ Ironisch genug (oder auch nicht) ist E Tenebris auch der Titel eines Gedichts von Oscar Wilde.
 


 

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Normalerweise schreibe ich ja nur am Anfang was dazu, aber nicht dass irgendjemand auf falsche Gedanken kommt: Das hier ist sicher NICHT das letzte Kapitel.

Es geht durch aus spannend weiter. Bleiben Sie dran! *g*
 

An die Freischalter (auf Animexx):

Ich weiß, dass die Sexszene ziemlich ausführlich ist und wahrscheinlich sogar hart an der Adult-Grenze, aber auch wenn man genau weiß, was vor sich geht, wurde nichts beim Namen genannt oder wirklich explizit beschrieben.

Deshalb stehe ich hinter meiner PG-16-Einordung und hoffe, dass es freigeschalten wird.

(Eigentlich hätte ich das ja gleich an den Anfang geschrieben, aber das wäre ein viel zu großer Spoiler.)

So das 20. Kapitel kam nicht ganz so schnell, wie ich gehofft hatte, aber meine Lehrer haben offensichtlich gemeinschaftlich beschlossen, uns vor Ende des Semesters noch ordentlich zu quälen. Am Donnerstag ist das allerdings erledigt und ich hoffe, dass das nächste Kapitel vielleicht schon am Wochenende on sein wird.
 

Für die nächsten anderthalb Jahre bewältigten Sherlock Holmes und ich unsere Beziehung ohne viel Mühe. Der Grund dafür war hauptsächlich die Tatsache, dass mein Freund in jenen Jahren, ’95 und ’96, so beschäftigt mit seiner Arbeit war, dass nur sehr wenig Zeit für irgendetwas anderes blieb. Und auch wenn wir nicht oft zusammen waren, schien es mir, als schien die träge Wolke des Gesetzes ständig über uns zu hängen. [1] Vielleicht war das der Grund, weshalb wir es nicht oft riskierten, zusammen zu sein, denn als die Tage und Monate vergingen, hatte ich das Gefühl, alles wurde mehr und mehr so wie es immer gewesen war. Holmes, der große Detektiv und ich, sein bescheidener Helfer. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte ich noch nicht wirklich sagen, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis es vollkommen klar werden würde.
 

Im Laufe der Jahre während meiner Beziehung zu Holmes überraschte es mich immer wieder, wie wenig ich über diesen Mann wusste. Selbst nachdem unsere gegenseitigen Gefühle bekannt geworden waren, konnte ich immer noch nicht ehrlich sagen, dass ich ihn kannte. Schließlich wenn ein Mann mit einem anderen über ein Dutzend Jahre zusammenlebt und davon überzeugt ist, der andere sei zu genau jenen Gefühlen nicht fähig, die später den Kern ihrer Beziehung bilden sollten, dann muss er wohl über ein erbärmliches Urteilsvermögen verfügten. Selbst wenn der Beurteilte ein Meister der Täuschung ist, so wie Sherlock Holmes es immer sein wird. Allerdings war es gar nicht so sehr meine Ignoranz angesichts seines Gefühlsleben, die mich plagte, sondern meine Unwissenheit über nahezu alles, was in seinem Leben geschehen war, bevor wir uns kennen gelernt hatten. Er sprach sehr selten von diesen Jahren und ich muss zugeben, dass ich Angst hatte ihn danach zu fragen, da er so ungern darüber zu sprechen schien. Ich wusste natürlich, dass seine Familie von Landjunkern abstammte, dass er vermutlich eher isoliert aufgewachsen war und dass sowohl er als auch sein Bruder sobald wie möglich an die Universität geflohen waren. In der Erzählung Gloria Scott habe ich natürlich auch geschrieben, dass er dort einige wenige Freunde hatte und dass es der Vater von einem dieser wenigen gewesen war, der meinen Freund zu seinem Beruf ermutigt hatte.
 

Aber immer blieb es mir überlassen, mir über all die vielen Lücken Gedanken zu machen. Wer waren seine Eltern? Wie hatten die Jahre seiner frühen Kindheit seinen deduktiven Verstand geformt? Wie war die Beziehung zwischen den Brüdern, und wie die der Familie im Ganzen? Und mehr als alles andere: Welche Ereignisse hatten dazu beigetragen, aus ihm die einzigartige Person zu machen, die er heute war?
 

Während ich mich nun den letzten Kapiteln meiner eigenen Existenz auf diesem Planeten annähere, erinnere ich mich an all die Gelegenheiten zurück, da jene treuen Leser mir geschrieben, mich auf der Straße angehalten haben oder einfach direkt zu mir gekommen sind, um mir Fragen über all das zu stellen, was ich in den ursprünglichen Berichten über meinen Freund ausgelassen habe. Und mehr als alles andere bezogen sich diese Fragen auf seine Vergangenheit. Nach all diesen Jahren müssen Sie doch sicherlich mehr erfahren haben, als Sie uns weismachen wollen. Sie müssen etwas über seine Vergangenheit wissen… Und dann würde ich lächeln, meinen Kopf schütteln und das Thema wechseln. Solange er lebte, würde ich niemals jenes Wissen enthüllen, von dem ich einst angenommen hatte, ich würde es schließlich mit ins Grab nehmen. Aber da es nun keinen Schaden mehr verursachen kann, diesen Schmerz von Holmes zu enthüllen, werde ich es so zartfühlend und wahrheitsgetreu tun wie nur möglich. Der Hauptgrund dafür ist, dass ich in diesen Memoiren die menschliche Seite meines Freundes offenbaren wollte. Und nichts könnte all die Gefühle, die tief in seinem Herzen verborgen lagen, besser vermitteln als seine Vergangenheit und die Ereignisse, die sich zutrugen, als mir schließlich der Zugang dazu gewährt worden war.
 

Es war im Oktober ’96, nur ein paar Tage nach Joshs fünftem Geburtstag, als Holmes und der Junge im Wohnzimmer saßen, während das Geburtstagsgeschenk des Jungen zwischen ihnen lag – ein wundervolles Schachspiel. Auf den ersten Blick mochte man meinen, dies sein nur ein wenig Vergnügen zwischen dem Mann und dem Jungen, aber jener, der die beiden regelmäßig sah, würde sofort eines Besseren belehrt. Es war – so wie es mit allem zwischen ihnen zu sein schien – Unterricht. Meinem Freund zufolge kam Josh gut voran, aber als Lehrer des Jungen meinte er das natürlich in geistiger Hinsicht. Zusätzlich zum Trivium [2] fügte er noch theoretischen Unterricht in Chemie, Biologie, Geographie und Sprachen – bestehend aus Französisch und Latein – hinzu. Josh musste in der Tat eines der bestunterrichtetsten Kinder in ganz London sein, sah man einmal von der Unregelmäßigkeit des Unterrichts ab. Er fand statt, wann auch immer Holmes gerade die Lust verspürte, ihn zu unterrichten und das konnte irgendwann sein, irgendwo. Tage mochten in solchem Ausmaß ungenutzt vergehen, dass ich mich beinahe fragte, ob er seinen jungen Schüler ganz vergessen haben mochte und an anderen mochte er ärgerlich werden, wenn der Junge nicht auf einmal mit französischer Grammatik, pflanzlichen Alkaloiden und dem britischen Gemeinrecht zurechtkam. In meinem Herzen weiß ich, dass ich nicht hätte zulassen dürfen, dass es so weiterging, wie es nun einmal weiterging, denn ich zweifle nicht daran, dass das alles in dem Jungen einen enormen Druck erzeugt haben musste, der früher oder später explodieren würde. Was er natürlich tat. Aber ich greife vor…mein einziger Beitrag dazu war, dass ich ihn ermutigte alles und jedes zu lesen, was er nur in die Finger bekommen konnte und ich muss sagen, ich denke, dass genoss er mehr als alles andere. Während er hin und wieder über die Prozedur mit Holmes murrte, beschwerte er sich niemals über das Lesen oder Schreiben. Es schien mir dann, dass er sich damit schon beschäftigt hatte, seit eben jenem Tag, als er auf unserem Planeten angekommen war.
 

Die beiden großartigen Köpfe saßen direkt vor dem Kamin; die Flamen flackerten auf ihren tief konzentrierten Gesichtern. Josh im Besonderen saß mit weit aufgerissenen Augen und einem finsteren Blick da, sein Kopf ruhte auf den Armen, die beiden vollkommen ruhig. Er bot einen vertrauten Anblick völliger Achtsamkeit. Sobald ihm die Züge, die ihm zum Sieg führen würden, klar wurden, würden die kurzen Beinchen zu schaukeln beginnen. Wahrscheinlich würde er nie ein guter Kartenspieler werden. Sein ganzer Körper verriet ihn.
 

Keiner der Spieler spielte auf Geschwindigkeit. Oder auch nur zum Vergnügen. Das war Unterricht. Der Junge beobachte das Brett und Holmes beobachtete den Jungen. Für mich war es ein wunderschöner Anblick – die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, saßen zusammen vor mir. Aber das war ein Gedanke, den ich für mich behielt.
 

„Königin nach b4“, sagte Holmes, nachdem seine Adleraugen das Brett für etwa eine halbe Sekunde gestreift hatten. „Und das war’s für deinen Turm, mein lieber John Sherlock. Und außerdem Schach.“ Josh runzelte die Stirn und trat mit einem kleinen Fuß, der fast einen ganzen Fuß über dem Boden baumelte, gegen den Tisch. „Sag mir, was der nächste Zug ist. Du müsstest sehen können, dass mein Sieg unvermeidlich ist. Tss! Ohne die Figuren zu bewegen. Benutze deinen Verstand. Betrachte es logisch.“
 

„Es ist schwer, ohne die Figuren zu bewegen, Onkel.“
 

„Du musst sie mit deinem Verstand bewegen.“
 

Ich beobachtete sie über den Rand meiner Zeitung, während ich versuchte, den Eindruck zu erwecken, als sei ich völlig in die Fußballergebnisse vertieft. Ich betrachtete den Jungen voller Stolz und die beiden voller amüsiertem Staunen. Die völlige Konzentration, die Anspannung…nun, man könnte meinen, dass Schicksal unseres ganzen Landes ruhe auf diesen vier Schultern und hing von der Frage ab, ob das Kind vorhersehen konnte, in welche Falle Holmes ihn geführt haben mochte.
 

Josh setzte sich plötzlich auf und strahlte seinen Patenonkel an. „Ich hab’s!“
 

„Bist du dir sicher?“
 

„Natürlich. Zuerst werde ich meinen König bewegen“, erklärte der Junge, während er die Figur mit überraschender Grazie für solche kurzen kleinen Finger verstellte. „Nach e3; du wirst ihn mit deinem Läufer schlagen und mich Schach setzten; ich kontere mit einem Schach hier, mit meiner Königin auf c4, König nach d2, Schach, Königin nach a2, König nach b1, und das ist alles. Dann bin ich mattgesetzt.“
 

Holmes zögerte einen Moment (oder vielleicht eine Sekunde), aber dann ließ er einen seiner seltenen Freudenschreien verlauten. „Das war gut gespielt, Junge! Wirklich gut gespielt!“ Holmes hob ihn von seinem Stuhl, um ich zurück auf seine Füße zu setzen. Josh strahlte über sein ganzes Gesicht und war sicherlich weit aufgeregter über seine Niederlage, als jedes andere Kind es gewesen wäre. Seine klaren Augen leuchteten eindeutig im Licht des Feuers und ich muss zugeben, ein wenig Eifersucht in meinem Herzen gefühlt zu haben. Es ist ein so hirnloses Gefühl für einen erwachsenen Mann, besonders seinem eigenen Sohn gegenüber und noch mehr, wenn es der eigene liebste Freund ist, von dem der Junge das Lob erhält. Aber Holmes hatte mich schon so oft wegen meiner Mitarbeit auf seinen Fällen angeschnauzt, dass ich das Gefühl, ich verdiente mehr Lob, als ich jemals bekommen hatte, nicht unterdrücken konnte.
 

„Ich nehme das als Zeichen, dass er richtig lag?“, fragte ich, während ich leicht den Kopf schüttelte.
 

„In jeder Hinsicht, Watson. Weißt du, das hier trägt den Namen ‘Abgelehntes Königsgambit’.” Seine Stimme verlor die ermutigende Schärfe, die sie für den Jungen angenommen hatte (oder eher für ihn selbst, wenn er den Jungen unterrichtete) und verwandelte sich wieder in jene des Meisters, der sich an seine Schüler richtet. „Diese Technik wurde ’58 von einem der Großmeister dieses Spiels, Henry Bird, in unserer eigenen schönen Stadt angewandt. Bird gegen Morphy. Und du, John Sherlock, hast sie wiedererkannt und erklärt, warum ich dich damit mattsetzen würde.“
 

„Danke, Onkel“, sagte mein Sohn. „Aber ich wünschte, du würdest einmal mit mir spielen, ohne mich dabei in Logik zu unterrichten. Ich will sehen, ob ich dich schlagen kann, ohne dass du mich lässt.“
 

„Dich lassen? Ich habe nichts dergleichen getan! Es war Unterricht im logischen Denken, ja, aber du hast den Schachzug erkannt, ohne dass ich dich ‚gewinnen ließ’.“
 

„Aber können wir nicht einfach mal…nur so zum Spaß spielen?“
 

Holmes’ Blick wirke für ein paar Sekunden höhnisch, so als ob ihn diese besondere Form des Schachspiels noch nie zuvor in den Sinn gekommen war. Es war eindeutig unglaublich komisch. „Ja, nun, wir werden sehen. Vielleicht wenn du etwas weiter bist. Ich habe das Gefühl, es könnte für deinen jungen Geist schädlich sein, zum Spaß gegen mich zu spielen. Niederlagen schaden dem Selbstvertrauen.“
 

Josh wirkte völlig niedergeschlagen und ich selbst war entsetzt. „Holmes!“, tadelte ich ihn. „Das war ziemlich grausam von dir. Woher willst du wissen, ob der Junge verlieren wird? Du sagst doch selbst immer, wie weit er den anderen Kindern voraus ist.“
 

„Bin ich das?“ Der Junge sah etwas beschwichtigt aus.
 

„Und ob du das bist.“, versicherte ich ihm, bevor Holmes noch etwas sagen konnte, dass ‚dem jungen Geist des Kindes schädlich sein könnte’.
 

„Nun, natürlich bist du das, John Sherlock! Ich würde das nicht sagen, wenn es nicht so wäre! Aber ich kann nicht sagen, dass du schon weit genug fortgeschritten bist, um mit meinem eigenen Verstand zu konkurrieren. Dafür erfordert es viele Jahre der Übung und Gelehrsamkeit.“
 

Ich war gerade dabei, seine Arroganz abzuschütteln (auch wenn ich mich mittlerweile wohl daran gewöhnt haben sollte), als sich die Tür des Wohnzimmers öffnete und unsere Wirtin eintrat. In der einen Hand trug sie ihr Tablett, mit dem sie die kalten Überreste des Abendessens abräumen wollte, und in der anderen einen gelben Umschlag, den ich als Telegramm erkannte.
 

Holmes erspähte es einen Augenblick vor mir. „Ein verspätetes Telegramm, wie ich sehe, Mrs. Hudson. Für wen?“
 

„Nun, für Sie natürlich, Mr. Holmes. Ist noch keine zwei Minuten her, dass es vorbeigebracht worden ist.“
 

Mein Freund griff dankend danach, aber dann erstarrte er, als er es ansah. Er drehte es in seinen Händen hin und her. „Warten Sie, Mrs. Hudson! Wer hat es abgegeben?“
 

Sie stapelte sorgsam unser Teeservice oben auf die großen Teller. „Irgendein junger Mann, Sir. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Aber er war immerhin sauber. Wirkte anständig. Nicht wie viele von diesen unflätigen Dingern, die auch noch freien Zugang ins Haus erwarten“—
 

„Vielen Dank, Mrs. Hudson.“, antwortete er, während er sie aus dem Zimmer winkte. Er riss den Umschlag auf und zog das Formular heraus. Ich beobachtete sein Gesicht mit einigem Interesse, aber aus unbekannten Gründen, hielt ich es für besser, keine Fragen zu stellen. Sein Ausdruck verwandelte sich von Interesse und Überraschung zu Entsetzte, zu Befremdung und zuletzt fast so etwas wie Wut. Er ballte unbewusst die Fäuste und ich erkannte schließlich die Schwere der Situation. „Holmes, was zum Teufel ist los?“ Instinktiv stand ich auf, um zu ihm zu gehen.
 

Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Während er sich räusperte, knüllte er das Telegramm mit einer Hand zu einer Kugel zusammen und warf es den Kamin. Das Papier fing sofort Feuer und schrumpelte zu einem kleinen, glühend roten Ball zusammen. „Nur eine Nachricht von Bruder Mycroft.“
 

„Mycroft?“
 

„In der Tat.“
 

„Aber was sagt er, Onkel?“
 

Holmes hatte sein Gesicht von uns abgewandt, seine Augen aufs Feuer gerichtet. „Nichts von irgendwelcher Bedeutung.“
 

„Ist es ein Fall?“ Der bloße Gedanke ließ Josh beinah schon frohlocken. Strahlend packte er den Arm meines Freundes. „Onkel! Darf ich dir helfen? Bitte? Ich weiß, dass ich schon bereit bin!“
 

Holmes riss sich los. „Es ist ganz sicher kein Fall! Nun, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das Thema gern als abgeschlossen betrachten!“
 

Aber der Junge war viel zu aufgeregt, um zu erkennen, dass der Mann nicht in der Stimmung war, seine kindliche Ausgelassenheit zu dulden.
 

„Aber ich bin bereit…“
 

„Du bist ganz sicher nicht zu irgendetwas Derartigem bereit“, schimpfte Holmes und starrte den Jungen mit finsterem Gesicht an. „Du hast gerade erst begonnen, deinen Verstand für deduktive Schlussfolgerungen vorzubereiten. Und es ist offensichtlich, dass du eine der wichtigsten Grundlagen der Logik vergessen hast – und zwar Gefühlen mit völliger Zurückhaltung und Vernunft zu begegnen. Und jetzt glaube ich, wäre es besser, wenn du mir sofort aus den Augen gehst, bevor ich wütend auf dich werde!“
 

Die Reaktion des Jungen war – verglichen mit meiner eigenen – beinahe verzögert, denn ich glaube, Holmes’ Worte hatten ihm fast schon einen Schock versetzt. Und mir genauso. Ich sprang mit offenem Mund auf die Füße, aber bevor ich mich noch entscheiden konnte, ob ich nun Josh oder Holmes trösten sollte, war mein Sohn vor unterdrückten Tränen völlig rot angelaufen und er jagte, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten, in sein Zimmer unterm Dach. Die aufgestoßene Tür schwang heftig hin und her. Holmes dagegen konnte nichts tun, außer mit verschränkten Armen vor dem Kamin zu stehen und über das nachzudenken, was auch immer ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Ich konnte mir nichts vorstellen, was in jenem Telegramm gestanden haben mochte, dass eine derartig grausame Reaktion wie diese verursachen könnte.
 

„Was ist los, Holmes?“, fragte ich voller Sorge, denn ich hatte nie zuvor erlebt, wie irgendetwas ihn dazu gebracht hatte, dem Jungen gegenüber so aggressiv zu sein. Ich stellte mich neben ihn und berührte seinen Arm, aber er bewegte sich leicht, um mich zurückzuweisen.
 

„Es ist nichts, so wie ich gesagt habe.“
 

„Ist deinem Bruder irgendetwas geschehen?“
 

„Nein, nein…nichts.“
 

„Verdammt noch mal, Mann, hör auf mich wie einen Vollidioten zu behandeln! Ich mag ja kein solches Genie sein, wie du und Josh es sicherlich seit, aber ich kann doch sehen, wenn du mich vorsätzlich täuscht.“ Ich starrte durch die offene Tür, die immer noch leicht schwankte. „Du hast ihm eine Standpauke gehalten, die er sicher nicht so bald vergessen wird.“
 

„Er war unverschämt! Er muss lernen, sich zu zügeln!“
 

„Holmes! Was zum Henker ist los mit dir? Er ist fünf Jahre alt! Du erwartest viel zu viel von ihm!“
 

„Das Alter ist nur eine Zahl, Watson. Eine Person sollte ihrem geistigen Alter entsprechend behandelt werden; nicht ihrem körperlichen.“ Er griff schnell nach dem Schürhacken und hieb auf die verkohlten Überreste jenes Telegramms ein, dass eine solche Wirkung auf ihn gehabt hatte.
 

Ob er wirklich daran glaubte oder nicht, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich bezweifelte es. Ich gebe zu, dass ich beizeiten das Gefühl hatte, er verlangte in akademischer Hinsicht zu viel von dem Jungen, aber im Verhalten war er immer väterlich, sogar liebevoll. Auch wenn das, was er von dem Jungen erwartete, ebenso unrealistisch war, wie das, was er auch von beinahe jedem anderen erwartete, war er bis zu jenem Tag niemals in verbaler Form beleidigend geworden, wenn der Junge diesen Erwartungen nicht entsprechen konnte. „Holmes, warum erzählst du mir nicht einfach, was dich so aus der Fassung gebracht hat?“
 

Mein Freund seufzte tief und er ließ seinen Kopf nach vorne sinken. Im Licht des Feuers konnte ich sehen, wie seine Augen den wütenden Glanz verloren, der darin erschienen war, als das Telegramm gekommen war. Stattdessen war sein Blick nun einsam, sogar ängstlich, so als ob eine plötzliche Erkenntnis über ihn gekommen war. Langsam faltete er seine Hände vor der Brust und sagte: „Watson, willst du mir einen Gefallen tun? Zwei Gefallen, um genau zu sein?“
 

„Du musst es nur aussprechen.“
 

Er lächelte. „Guter alter Watson. Als erstes sollst du mich morgen mit dem ersten Zug aus Victoria nach Cornwall begleiten…“
 

„Cornwall? Warum Cornwall?“
 

„Und zweitens sollst du heute Nacht bei mir bleiben.“
 

Meine Augenbrauen zogen sich nach oben. Er hatte mich noch nie zuvor dazu aufgefordert. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, war immer ich es, der zu ihm kam. Ich denke, selbst nach über einem Jahr hatte er immer noch Angst, ich könnte ihn abweisen. Und auch wenn diese Angst unbegründet war, so war es doch etwas, was sein Selbstwertgefühl nicht würde verkraften können. Es musst wirklich etwas Ernstes sein, wenn es ihn dazu brachte, seine selbst aufgezwungenen Schranken zu durchbrechen. „Natürlich werde ich das“, sagte ich.
 

„Ich meine“, erwiderte er und schüttelte den Kopf. „Du sollst die ganze Nacht bei mir bleiben. Einfach nur bei mir bleiben.“
 

Ich glaube nicht, dass ich mir viel Mühe gab, meine Enttäuschung zu verbergen. Oder meine Überraschung. „Du weißt, dass das unmöglich ist“, sagte ich ihm mit niedergeschlagener Stimme. „Warum erzählst du mir nicht einfach, was um Himmelswillen passiert ist?“
 

Er antwortete nicht, sondern senkte seinen Kopf sogar noch tiefer.
 

Ich fühlte nun den Stich von Enttäuschung und Ärger und stopfte meine Hände in meine Taschen. „Nun, wenn du mir also nicht vertrauen kannst, dann gehe ich jetzt ins Bett…“ Ich drehte mich auf dem Absatz um und stampfte Richtung Tür.
 

„Watson, geh nicht…“
 

„Ich fürcht, das muss ich. Du forderst das Unmöglich und weigerst dich, mir auch nur den kleinsten Hinweis…“
 

„Es ist mir egal, wenn du es für unmöglich hältst! Ich bin diese ständige Diskretion leid, die wir immer zeigen müssen! Dieses eine Mal…“ Er hielt inne und wir sahen einander an. „Dieses eine Mal muss ich gestehen…“
 

„J-ja?“
 

Er räusperte sich, während er nervös in seinen Taschen nach seinem Zigarettenetui suchte. Als er es gefunden hatte, zündete er sich eine an und versuchte die Verzerrung in seinem Gesicht zu unterdrücken. „Dieses eine Mal muss ich gestehen, dass ich dich brauche.“ Er hielt kurz inne und lächelte kurz. „Und nicht um mir zu assistieren, ich kann nicht...ich kann heute Nacht nicht allein sein, verstehst du.“
 

Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte. Ich war sosehr von Neugier erfüllt, dass ich in meiner Selbstsucht beinahe daran gedacht hätte, mich zu weigern, bis er schließlich zustimmen würde, mir zu erzählen, was passiert war. Aber sobald die Wut verflogen war, wusste ich genau, dass ich ihn nicht so verletzten durfte. Er litt – an irgendetwas zumindest, vermutlich noch mehr, als ich es sehen konnte. Und es war meine Pflicht, ihm zur Seite zu stehen. Trotz des Risikos. „Wenn du mich brauchst, dann bin ich hier“, sagte ich ihm. Ich wollte noch mehr sagen, aber überlegte es mir in letzter Sekunde anders. Es war überflüssig, meine Hartnäckigkeit zu zeigen.
 

Holmes paffte heftig auf seiner Zigarette. „Und wenn nicht aus irgendeinem anderen Grund, dann um mir deine Treue zu versichern, wo ich dir keine gezeigt habe?“
 

Ich war mir nicht ganz sicher, ob das eine Frage oder eine Feststellung war und so sagte ich nichts.
 

Die Gesichtszüge meines Freundes wurden weicher, als er meine Gefühle erkannte. „Ich werde es dir erzählen, Watson, wenn die Zeit reif dafür ist. Und auf mein Wort, du weißt, dass ich dir völlig vertraue.“
 

„Das will ich hoffen.“
 

„Du brauchst nicht zu hoffen. Es ist so. Es ist nur eine verwickelte und mühsame Angelegenheit, es zu realisieren und ich habe den Punkt noch erreicht, an dem ich es einem anderen erklären kann. Selbst dir noch nicht, meinem liebsten Doktor. Du musst dich nur etwas in Geduld üben.“
 

Ich nickte. „Mein Ohr gehört dir, Holmes, wann auch immer du es brauchst.“
 

Er lächelte. „Vielen Dank, Watson.“
 

Sowohl Josh als auch unsere Wirtin waren um zehn Uhr bereits zu Bett gegangen und ich wusste, dass ich in dieser Nacht nicht viel Schlaf finden würde. Deshalb machte ich mir nicht viele Sorgen, als ich zu Holmes’ Zimmer kam. Es war sehr unwahrscheinlich, dass wir ertappt werden würden. Allerdings hatte ich mich gefragt, wie genau wir Holmes’ Meinung nach beide in sein Bett passen sollten, aber ich sah gleich, dass er das Problem gelöst hatte.
 

Holmes hatte mit verschiedenen Teilen von Bettzeug und einigen Polstern am Boden ein provisorisches Nachtlager eingerichtet, auf dem wir uns ausstrecken konnten. Es sah nicht besonders bequem aus (für mich zumindest, denn er konnte überall schlafen) und ich wusste, dass mir meine Großzügigkeit morgenfrüh mit steifen und schmerzenden Gliedmaßen vergolten werden würde.
 

„Ich danke dir noch einmal, mein lieber Freund“, sagte Holmes, während ich mich unbeholfen zum Schlafen niederließ. Er drehte das Gas hinunter, bis von ihm schließlich nur noch ein dunkler Schatten übrig blieb, der sich neben mir auf den Boden senkte.
 

„Du willst mir nicht doch noch etwas erzählen?“, versuchte ich es noch einmal vergeblich.
 

„Wir werden morgen früh aufstehen, Watson“, murmelte er, als ob er schläfrig wäre. „Ich denke, wir sollten uns die Erklärungen besser bis dahin aufsparen.“
 

„Wirst du mir nicht wenigstens erzählen, warum ich hier bin? Ich habe dich noch nie so erschüttert gesehen, wie in dem Moment, als du jenes Telegramm gelesen hast.“
 

Er schnaubte verärgert und vergrub seinen Kopf tiefer in sein Kissen. „Ich habe dich heute Nacht einfach…gebraucht.“ Er hielt inne, sein rasches Gehirn feuerte eine Lüge nach der anderen ab. „Nach jenen Nächten, in denen du mir nahe bist, fühle ich mich immer viel ausgeruhter.“
 

Ich konnte die gnadenlose Hand der Frustration fühlen, die sich um meine Kehle schloss und um zu verhindern in einer Rage aus panischen Gefühlen zu explodieren, entschied ich, dass das es das Einzigvernünftige wäre, Schlaf vorzutäuschen. Ich würde eher Satan davon überzeugen, auf diese Erde zu kommen, als Sherlock Holmes, seine dickköpfige Meinung zu ändern.
 

Für mehrere lange Stunden betrachtete ich die ätherische Gestalt meines Partners, während er von mir abgewandt auf der Seite lag; seine Brust hob und senkte sich, das Geräusch seines Atems drang als tiefes Stöhnen aus seiner Kehle. Offensichtlich steigerte sich meine Aufmerksamkeit im Dunkel, wenn es weniger gibt, was Aufmerksamkeit erfordert. Ich bemerkte das blasse, flackernde Licht, das die scharfen Linien seiner Gestalt milderte; die sanfte Weichheit seines Haars; die glühende Rauheit seines Gesichts; das unmerkliche Zucken, das mir zeigte, dass sein Verstand selbst im Schlaf nicht ruhte. Es war alles sehr einschläfernd. Und zwar einschläfernd genug, sodass ich schließlich aus Langeweile und Erschöpfung in einen traumlosen Halbschlaf fiel.
 

Der letzte Gedanke, an den ich mich erinnern konnte, war, wie jung und unberührt mein lieber Holmes in den Fängen des Schlafes doch wirkte. Ich erkannte, dass ich ihm niemals böse sein konnte, nach dem ich ihn so gesehen hatte. Der große Detektiv ebenso menschlich wie ich selbst, zumindest in der Dunkelheit der Nacht.
 

Irgendwann, ungefähr um eins, denke ich, wurde ich von den seltsamsten Geräuschen geweckt. Vor langer Zeit (wie es zweifellos die meisten Soldaten berichten können) hatte ich mir selbst beigebracht, wenn nötig selbst aus dem tiefsten Schlaf sofort zu erwachen und bereit zu sein. Im Krieg ist es eine Frage von Leben und Tod. Aber das Praktische (oder Unpraktische, je nach Standpunkt) daran ist, dass wenn man sich Eigenart erst einmal angewöhnt hat, man sie nicht mehr vergessen kann.
 

Ich sah sofort, dass die Geräusche von Holmes kamen. Er sprach oder besser gesagt, er murmelte im Schlaf. Zu erst hielt ich es für völlig unverständlich, aber bald wurde es lauter und klang gezwungener.
 

„Nein…nein…Philly, nein…nein, Philly, nein, du darfst nich…NEIN!“
 

„Holmes!“, schrie ich, mittlerweile hellwach. „Wach auf, um Himmelswillen!“ Ich schüttelte ihn heftig an den Schultern, aber es nützte nichts. „Holmes, bitte, du musst aufwachen!“
 

Und das tat er schließlich auch, während er scharf nach Luft schnappte, doch es schien mehr wie ein Schrei als ein Atemzug. Er schlug die Augen auf und drehte sich sofort zu mir um – überrascht. Es dauerte zumindest drei ganze Sekunden bevor ihn die Erkenntnis traf und die Wut und das Entsetzten wie weggewischt schienen. Mit einem langen Atemzug hob er seine Hand mit einem Stöhnen an sein Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. „Ich muss mich entschuldigen, Watson“, sagte er mit einer kehligen Stimme, die immer noch belegt vom Schlaf schien. „Ich wollte dich nicht wecken.“
 

„Mein Gott, Holmes! Du musst einen grässlichen Alptraum gehabt haben!“ Ich griff besorgt nach seinen Schultern, aber er schien sich unter meiner Berührung zu versteifen und so ließ ich ihn los. „Hat es etwas mit jenem Telegramm zu tun? Dein Alptraum?“
 

„Nein, das denke ich nicht.“ Er täuschte ein kleines Lächeln in meine Richtung vor und tätschelte beruhigend mein Knie. „Es war nur ein Traum, das kannst du dir sicher sein. Und ich denke, es wäre das Beste, einfach unseren Schlaf fortzusetzen. Wollen wir dann also?“
 

„Aber – Holmes, bitte. Wer ist Philly? Du schienst…nun ja, sehr besorgt um sie…oder ist es ein er? Wer zum Teufel hat dich so aus der Fassung gebracht?“
 

„Ich will nicht darüber reden!“, schrie er und dann erlangte er seine Beherrschung mit einem langen und zittrigen Atemzug wieder einigermaßen zurück. „Bitte, Watson…ich bitte dich…du musst es gut sein lassen, bis ich bereit bin. Ich brauche Zeit.“
 

„Zeit!“ Ich war wütend und nicht zum ersten Mal. Ich hatte noch nie einen Menschen getroffen, der in der Lage war, so intensive Gefühle in mir zu erwecken wie dieser Mann. Normalerweise würde ich mich selbst als einen ruhigen und gefassten Zeitgenossen ansehen. Ich mochte ein Mann sein, welcher der Unvernunft hin und wieder gestattet seinen Verstand zu trüben, aber ich war niemals übertrieben gefühlvoll. Bis mein Leben dauerhaft mit Sherlock Holmes verwickelt wurde. Und nun war da nichts mehr als Gefühl. Sowohl übertrieben wie bedeutungslos; wohltuend und wirkungslos. Aber auch wenn ich wütend war, durfte ich meine Sorge um ihn nicht mein besseres Wissen überstimmen lassen. Er würde es mir erzählen, wenn er dazu bereit war. Ich sollte ihn zu nichts zwingen. „In Ordnung…in Ordnung, ich entschuldige mich. Ich werde warten, bis du bereit bist. Du weißt, dass ich nur deshalb frage, weil“—
 

„Ja, ich weiß“, unterbrach er mich. Ich war mir sicher, in seinem Blick einen Hauch von Dankbarkeit zu erkennen, versteckt in jenem seltsamen und arroganten Grinsen. „Geh schlafen, mein lieber Doktor.“
 

Aber ich konnte nicht. Holmes schlief ein weiteres Mal ein, dieses Mal für die ganze Nacht, aber ich war gezwungen, nur dazuliegen und ihn in dem sicheren Gefühl zu betrachten, dass er wieder aufwachen würde, schwitzen und nach dieser…oder diesem Philly rufen – wer auch immer das sein mochte. Und so lag ich nur da, auf einen Arm gestützt, bis ich in meiner ganzen rechten Seite kein Gefühl mehr hatte. Lauschte dem rasselnden Klang seines Atems, wünschte mir sosehr, die Hand auszustrecken und ihn zu packen, ihn zuerst solange zu schütteln, bis er mir erzählen musste, was er auf dem Herzen hatte; um ihn dann mit meinem Körper abzulenken, ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben, und dann schließlich, wenn wir beide frei von jedem Verlangen sein würden, ihn einfach festzuhalten, von den Dämonen zu schützen, die ihn plagten. Aber stattdessen lag ich einfach nur da und lauschte, bis meine Erschöpfung mich schließlich überwältigte.
 


 

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[1] Unwahrscheinlich das Watson nur paranoid war. Nach dem Wilde-Prozess begannen die Leute überall nach ‚unzüchtigem Verhalten’ zu suchen. Ähnlich wie mit McCarthy in den 50ern.
 

[2] Rhetorik, Grammatik und Logik.

Wegen technischen Problemen mit meiner Internetverbindung konnte ich leider nicht früher uploaden, aber dafür hatte ich viel Zeit zum Übersetzen und darum kommt das nächste Kapitel schon morgen, wenn ich es noch mal durchgelesen habe.
 

Der 8:56 nach Wadebridge, Cornwall lief aus dem Bahnhof aus, drängte mich vorübergehend zurück in die Realität. Sowohl mein schlafloser Verstand als auch meine steifen Glieder schmerzten auf dem unbequemen Sitz und auch wenn es für einen Londoner Oktobertag warm und hell war, konnte ich kaum sagen, dass ich mich auf dieses Abenteuer mit meinem Freund besonders freute. Seine Taten aus der vergangenen Nacht verfolgten mich immer noch und von dem Moment an, als er mich geweckt hatte, indem er mich frühmorgens aus seinem Zimmer gestoßen hatte, bis zu genau jener Sekunde, hatte er kaum ein Wort von sich gegeben. Und nun hatte er sich, augestreckt über zwei Sitze und die Arme verschränkt und die Füße ausgestreckt, die Krempe seines Hutes über das Gesicht gezogen und schien zu dösen. Nach dem was in der letzten Nacht geschehen war, konnte er einfach so schlafen. Da war kein Schwitzen und Stöhnen, kein Rufen nach Leuten, die ich nicht kannte.
 

Ich wurde nicht gebraucht.
 

Schon wieder folgte ich ihm blind und ohne Fragen zu stellen. Ich ließ mein Leben hinter mir zurück, um ihm willentlich zu weiß der Himmel was zu folgen. Warum? Ich wusste es und wusste es gleichzeitig doch auch nicht. Es musste etwas mit dem zu tun haben, was er mir letzte Nacht gesagt hatte:
 

Dieses eine Mal, Watson, muss ich gestehen, dass ich dich brauche.
 

Und kein weiteres Wort war nötig, um zu erklären, weshalb ich hier circa fünf Stunden mit ihm in diesem Zug sitzen würde, ohne auch nur die leiseste Ahnung warum.
 

Wir waren irgendwo zwischen Victoria und Salisbury als ich das Schweigen zuletzt nicht länger ertragen konnte. Ich setzte mich neben ihn und legte meine Hand auf den Arm.
 

„Du weißt, Holmes“, sagte ich. „Dass du nicht der einzige Mann auf diesem Planeten bist, der von Alpträumen geplagt wird.“
 

„Ach wirklich?“, antwortete er ohne Interesse, während er seinen Hut nach hinten stieß und die erste von vielen Zigaretten anzündete.
 

Ich wusste, dass ich mehr als fünf Stunden Stille nicht würde ertragen können, es nicht würde ertragen können, so zu tun, als hätte ich irgendein Interesse an meiner Zeitung oder dem vorbeiziehenden Ackerland und währenddessen viel zu viel schweren Tabak einzuatmen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Und so gestand ich ihm zum ersten Mal in unserer Beziehung eines der tiefsten Geheimnisse, über die ich verfügte. „Seit dem Krieg“, begann ich, unsicher wie ich es erklären oder auch nur aussprechen sollte. „Es ist jede Nacht dasselbe. Ich stehe in einem Zelt und versuche das Bein eines jungen Gefreiten in Ordnung zu bringen. Patrick Bennett macht sich über Captain Aubrey lustig. Wir haben alle einfach ein bisschen Spaß. Bis auf einmal die Welt einfach um uns zu explodieren scheint. Es ist wirklich komisch. Es klang nicht einmal nach Mündungsfeuer. Einfach…eine Explosion, die niemals aufhörte. Sie waren alle tot…Bennett, Smythe, der Junge mit dem gebrochenen Bein…seine Innereinen hingen heraus…nun, ich erinnere mich, dass ich blutüberströmt da lag. Ein Teil davon war mein eigenes, ein anderer Teil nicht. Meine Schulter und mein Bein standen in Flammen. Ich wusste, dass ich nicht tot war, natürlich, weil der Tod unmöglich so schmerzhaft sein konnte. Der Junge, der Gefreite, er…ich kann mich noch nicht einmal an seinen Namen erinnern…er wurde in Streifen gerissen…in Fetzen…und irgendwie war er auf mich drauf gefallen…es war ein Wunder, dass Murray, mein Diener, erkannte, dass ich noch am Leben war, weißt du. Ich bin sicher, ich schien für die Welt verloren. Nun, ich…ich kann es anscheinend nicht vergessen. Ich kann anscheinend nicht aufhören, mich zu fragen, warum ich lebte und die anderen Jungs nicht. Warum blieb ich verschont? Hätte ich irgendetwas tun können, um es zu verhindern? Ich vermute das ist der Grund, warum ich es immer noch erneut durchlebe…“
 

Holmes starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und ich konnte auf den ersten Blick nicht sagen, ob sein Gesichtsausdruck nun Überraschung oder Ärger zeigte. Aber es wurde klar, als er unmittelbar nach meiner Hand griff und sie so fest drückte, dass ich zusammenzuckte. „Es tut mir Leid, John“, sagte er mit leiser Stimme. „Das kann nicht leicht für dich sein. Glaube mir, wenn ich sage, dass ich dich verstehe.“
 

„Dann erzähl es mir“, erwiderte ich rasch, als ich seine Offenheit spürte. „Bitte, mein Lieber, du musst mir erlauben, dir zu helfen.“
 

Aber so plötzlich wie sich dieser Spalt geöffnet hatte, schloss er sich auch schon wieder vor meinen Augen und so sicher wie ich neben ihm saß, zog sich der Mann wieder in sein Schneckenhaus zurück. Sein ganzes Benehmen verhärtete sich und er zog seine Hand langsam wieder zurück, mit einer Geste, die mir klar sagte, wo ich in dieser Sache immer noch stand. „Du erinnerst dich natürlich an den Fall der Baskervilles?“
 

„Natürlich.“ Seine Art, das Thema zu wechseln, war etwas, woran ich mich wohl niemals gewöhnen würde.
 

„Du erinnerst dich doch, wie du das Moor in deinen Briefen an mich beschrieben hast…an das Grauen dieses Ortes…die düstere Isoliertheit von Baskerville Hall…“
 

„Es ist kaum etwas, dass ich so schnell vergessen werde, Holmes. Aber worauf willst du hinaus?“
 

Er bewegte sich in Seinem Sitz hin und her und erwiderte: „Denn das Ziel unserer Reise ist ein weit dunklerer Ort…weit isolierter…weit grauenhafter.“ Und dann drehte er sich um und weigerte sich für den Großteil der nächsten vier Stunden zu sprechen; das einzige Geräusch war das Klicken seines Feuerzeuges.
 

In den fünf Stunden von Victoria Station nach Wadebridge versuchte ich etwas von dem verlorenen Schlaf nach zu holen. Die Fahrt war angenehm, die Sonne vor dem Fenster freundlich und warm und doch konnte ich mich während der ganzen 300 Meilen nur von einer unbequemen Position in die andere wälzen.
 

Ich hatte gehofft, wir würden am Bahnhof schließlich eine Pause einlegen und zusammen einen Happen essen, aber im selben Moment als wir das Abteil verließen und unser Gepäck sicherstellten, wurde ich praktisch von ihm in ein wartendes Dogcart gezerrt. „Bodmin Moor“, befahl Holmes. „Das Anwesen gleich nördlich von Bodmin Gaol.“
 

„Es gibt hier ein Gefängnis?“, fragte ich, während die Kutsche unsicher losfuhr.
 

„Oh, ja. Ironischerweise ist Bodmin Gaol für seine Brutalität berüchtigt. Bis vor kurzem noch war es eine Säule der Betriebsamkeit. All die Einheimischen eilten in Scharen herbei um die öffentlichen Hinrichtungen zu sehen.“
 

„Wie erbärmlich“, bemerkte ich, auch wenn ich gestehe, dass ich die Ironie in der ganzen Sache nicht sehen konnte.
 

„Wir werden außerdem sehr nahe an Dozmary Pool vorbeikommen.“
 

„Der Name ist vertraut.“
 

„Das sollte er auch“, sagte Holmes. „Es ist der legendäre See, an dem König Artus Excalibur von der Herrin des Sees überreicht bekommen haben soll. Aber das ist natürlich nur eine Sage. Die Gegend allerdings ist recht fantastisch. Dir und deinem Sohn würde es dort zweifellos gefallen.“
 

„Oh…zweifellos.“
 

„Genieße die Landschaft, mein lieber Watson“, sagte er, während er seine Aufforderung mit einem Winken der ausgestreckten Arme unterstrich. „Die Lerchen singen, der Wind pfeift durch die Heide, der Goldregenpfeifer kann zu dieser Zeit des Jahres gewöhnlich sogar so weit von der Küste gesehen werden und natürlich sind da noch die Wolken gelber Schmetterlinge. Das alles…passt so außerordentlich gut zu dir. Und wir haben noch fast zwei Stunden, wenn dieses Tier sein momentanes Tempo hält.“ Und mit einem kleinen Lächeln schloss er seine Augen und würde den Rest der Fahrt nicht mehr mit mir sprechen.
 

Schließlich, genau als ich glaubte, die Stille würde mich in den Wahnsinn treiben, kam ein Haus oder eher ein kleines Anwesen in Sicht. Gleich hinter einem kahlen Hügel sah ich zuerst die unverkennbar kornisch Ulmen, die die äußere Grenze des Anwesens kennzeichneten und dann den dunkelgrauen Granit aus dem das ganze Gebäude erbaut worden war. Das Haus war in drei symmetrischen Flügeln angelegt [2], wobei der linke und der rechte Teil von dem mittleren ausgehend nach vorne ragten. Der übermäßige Romantiker in mir (wenn ich denn einen in mir haben sollte, wie Holmes es mir immer so gerne versicherte) konnte nicht anders, als diese beiden Flügel als Arme zu sehen, die sich nach uns ausstreckten. Näher krochen Wagen und Pferd und mehr und mehr wurde meine Fantasie freigelassen. Ich sah, dass die Fenster, auch wenn sie wegen den Bäumen kaum sichtbar waren, von schweren Eisenstäben bedeckt waren. Eine dichte Schicht aus Pflanzen erstickte den Granit und dunkle Schatten zerstörten jede Hoffnung auf Fröhlichkeit. Es schien wie aus einem Alptraum. Und es schien durchaus möglich, dass es in der Tat Inhalt eines ganz bestimmten Alptraums gewesen war.
 

„Ist das etwa unser Ziel?“, fragte ich, während ich auf diesen grässlichen und fast schon Furcht einjagenden Ort starrte. Es schien so als ob sich seine Hoffnungslosigkeit meilenweit ausstreckte und ich fühlte eine seltsame Kälte in dem Mark meiner Knochen, als die Sonne von der Spitze des schwarzen Schieferdaches verschluckt wurde. Das Dogcart, mein Freund und ich waren völlig in Dunkelheit getaucht.
 

„Das ist es in der Tat.“
 

„Was für ein scheußlicher Ort! Aber was treibt uns zu einer solchen Örtlichkeit?“ Ich drehte mich zu meinem Freund um und war überrascht, wie betroffen er wirkte. Er sah unter der Krempe seines Hutes mit einem beinahe angeekelten Blick und harten Augen auf. Als er sprach, war seine Kehle voller Abscheu.
 

„Ja, ich könnte nicht mehr deiner Meinung sein.“
 

„Nun, warum um Himmelswillen sind wir dann hier?“
 

„Weil“, erwiderte er, während er boshaft mit seinem Stock auf den Boden des Wagens einhieb. „Weil das der Ort ist, an dem ich meine Kindheit verbracht habe.”
 

Ich war überrumpelt, aber gleichzeitig regte sich in mir eine Neugier, die ich nicht unterdrücken konnte. Nach all diesen Jahren sollte es mir zuletzt vergönnt sein, die Lösung auf dieses größte aller Rätsel zu erfahren? Jenes Rätsel, das die Vergangenheit von Sherlock Holmes betraf? „Soll das heißen, dass hier war die Heimat deiner Kindheit?“
 

„Um Gotteswillen, Watson!“, rief er und stampfte ein weiters Mal mit seinem Stock auf. „Ich habe nichts Dergleichen gesagt! Ich sagte, das ist der Ort, an dem ich meine Kindheit verbracht habe.“
 

„Ah, das ist also ein Unterschied?“, sagte ich mit einem Lächeln, doch der strenge Blick, mit dem er mich bedachte, ließ mich meine Worte überdenken und während ich mich räusperte, versuchte ich nicht kopfüber von meinem Sitz zu fallen, als die Kutsche den zerfurchten Weg hinunterrumpelte und der Fahrer dem Pferd ermutigend zuredete.
 

„Sicher kannst selbst du den Unterschied erkennen. Heimat bedeutet Zuflucht, Sicherheit und sogar Ruhe. Dieser Ort.“ Er machte mit seinem Stock eine wilde, grausame Geste in Richtung des Hauses. „Ist das genaue Gegenteil.“
 

Die Kutsche hielt schließlich vor einem hohen Eisentor. Es war leicht verrostet und vom Boden bis zu den rasiermesserscharfen Spitzen dicht mit einem Bewuchs aus Unkraut bedeckt. Als wir aus dem Dogcart ausstiegen, betrachtete ich es, während in mir ein Gefühl der Vorahnung immer stärker wurde. „Ich beginne zu verstehen, was du meinst, mein Freund. Deine Eltern sind wohl nicht besonders…gesellig gewesen. Und es erklärt ganz offensichtlich dein bohèmisches Wesen.“
 

Er lächelte, wenn auch nur kurz. „Aber die Farbe meines Wesens hat sich verändert, Watson. Denn eines Tages erwachte ich und der Herr sprach: ‚Es ist nicht rechtens, dass der Mann allein ist. Ich will ihm einen Helfer schaffen, der zu ihm passt.’[2] Komm jetzt, Watson, lass uns sehen, was uns erwartet.“
 

Wir gingen durch das Tor und einen dreckigen Pfad entlang, der auf beiden Seiten von jenen unverkennbar kornischen Ulmen eingesäumt war. Die langen, aufrechten Äste stießen in jede mögliche Richtung hervor; die Blätter zischten, als wir vorbeikamen. Auch wenn das Haus nur etwas hundert Fuß von uns entfernt war, ließ es die Dunkelheit wie meilenweit entfernt erscheinen. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass mein Freund seine Jugend in einer isolierten Gegend verbracht haben mochte [3], weit abseits der Zivilisation, aber ich hatte sicher niemals vermutet, dass er in einer solch verwunschenen Abgeschiedenheit aufgewachsen war, der ich im Geiste sofort Bedeutung zusprach. Während der zwei Stunden von Wadebridge waren wir an keinen anderen Häusern vorbeigekommen und ich wusste genug über Psychologie, um zu erkennen, dass sowohl er als auch Mycroft, die beide die Gesellschaft hassten und doch verzweifelt brauchten, besonders Sherlock, ihren Anfang an einem solchen Ort genommen haben mussten, wo sie ihnen verwehrt geblieben war. In Erinnerung an meine eigene Kindheit mit Geschwistern, Cousins und Freunden nicht mehr als eine halbe Meile entfernt konnte ich mir nicht vorstellen, welche entsetzliche Einsamkeit die Seele eines Jungen an einem solchen Ort plagen musste. Aber als ich den harten Ausdruck auf dem Gesicht meines Gefährten sah, wagte ich nicht, ihm irgendetwas davon zu sagen.
 

„Nun, Sir!“ Eine ziemlich dröhnende Stimme unterbrach meine Gedanken von hinten, genau als wir den zentralen Innenhof erreicht hatten, der zwischen den beiden Seitenflügeln und der Eingangstür lag. Wir drehten uns um und sahen die massive Gestalt Jupiters drohend vor uns aufragen. Eine melancholische Gestalt, mit Ausnahme des weißen Kopfes völlig in Schwarz gehüllt. „Ich hatte mich gefragt, ob du mein Telegramm erhalten hattest, denn vielleicht ist es deinen großartigen Fähigkeiten der Observation ja entgangen, dass meine Hand von keiner Antwort geziert worden ist.“ Mycroft hatte eine vollkommene Aura der Macht um sich. Von eben jener Art, die ich jedes Mal wenn ich mit jenem Mann zusammentraf, mit ihm assoziierte.
 

Während sein Bruder im Vergleich zu diesem einflussreichen Mann normalerweise liebenswürdig und lobenswert erschien, sah er den anderen Holmes nun mit einem Blick an, der schon fast an Verachtung grenzte. Eben jenes Gefühl, dass seine Stimmung schon seit jenem Moment bestimmt hatte, seit wir am Morgen die Schwelle des Zuges überschritten hatten. „Du wusstest, dass ich kommen würde, Bruder. Das steht außer Frage. Eine Antwort war wohl kaum notwendig.“
 

„In der Tat. Auch wenn ich erwartet hätte, du würdest etwas angemessener…ankommen.“
 

„Ankommen? Aber was willst du damit sagen?“
 

Hör auf deine Spielchen mit mir zu spielen, Sir!“, dröhnte der ältere Holmes. „Das ist weder die Zeit noch der Ort dafür! Und morgen bin ich, als Oberhaupt dieser Familie, dafür verantwortlich, wie unsere Familie repräsentiert wird.“ Seine Augen streiften den hellgrauen Tweedanzug seines Bruders sowie die dazupassenden Hut, Mantel und Krawatte mit einer gewissen bevorzugten Smaragdkrawattennadel. „Da das nun gesagt wurde, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du dich morgen etwas angemessener kleiden würdest.“
 

Es war diese scheinbar seltsame Bemerkung, die mich zum ersten Mal durch den Schleier erkennen ließ, was überhaupt geschah; wovon mich in Kenntnis zusetzten, Holmes wohl nicht für angemessen hielt. „Ihr werdet meine Neugier entschuldigen, Gentlemen. Aber…ist jemand gestorben?“
 

Mycrofts schwere graue Augen wuchsen zu einer gewaltigen Größe an. „Um Gotteswillen, Sherlock, du hast ihm nicht erzählt, was passiert ist!“
 

„Im Gegensatz zu dir, Bruder“, sagte mein Freund durch zusammengepresste Zähne. „Kennt Dr. Watson die Bedeutung des Wortes Treue.“
 

„Wagen Sie es nicht, Sir. Wagen Sie es nicht! Ich werde zu keinem Teil deiner albernen, boshaften Fehde verursacht durch deinen Ärger, das schwarze Schaf der Familie zu sein. Falls du annimmst, ich würde mich auf deine Seite schlagen, nun da unsere Mutter gestorben ist“—
 

„Und ich soll darüber trauern? Mutter würde es mit Sicherheit nicht! Endlich kann sie ihre unreine, weltliche Familie hinter sich lassen und sich mit ihrem einzig Geliebten im Jenseits vereinen. Das heißt – wenn sie es dorthin schafft.“
 

Mycrofts Gesicht verzerrte sich vor Wut und hob tatsächlich den Stock in seiner Hand. „Bei Gott, Sherlock, wenn ich für dich verantwortlich gewesen wäre, was genauso gut möglich gewesen wäre, wärst du nicht so unverschämt geworden! Was du gebraucht hättest, war das spitze Ende eines Stockes auf deiner nackten Haut!“
 

„Gentlemen, bitte!“ Ich ergriff den dünnen Arm meines Freundes, der sich zu meiner Überraschung tatsächlich mit zusammengebissenen Zähnen auf seinen Bruder zubewegt hatte. „Was um Himmelswillen ist über euch gekommen? Die beiden großartigsten Köpfe unsers Landes und ihr wollt eure Meinungsverschiedenheiten mit Gewalt lösen! Bitte! Das ist wohl kaum die Zeit für Zorn!“
 

Ich hörte den Wind hinter uns heulen, als ob er die Gefühle spüren könnte und entsprechend reagierte und Sherlock entspannte seinen Arm unter meinem Griff im selben Moment, in dem auch sein Bruder den Stock senkte. „Sie haben mit Sicherheit Recht, Dr. Watson“, sagte der ältere Holmes. „Dass unsere Emotionen die Schaltkreise derartig überladen haben, hat nichts erreicht als geschmacklosen Schweiß und erhöhten Blutdruck. Komm, Sherlock! Lass uns zumindest für das Begräbnis morgen eine Vortäuschung von Höflichkeit an den Tag legen. Wir dürfen unsere Familienfehde nicht öffentlich austragen, damit jedermann hinter unseren Rücken tuscheln kann.” Er bot seinem Bruder die Hand an.
 

Aber Sherlock musterte seine Hand mit einem Gesichtsausdruck, den er, wie ich mich erinnerte, normalerweise bei besonders widerwärtige Besucher der Baker Street – wie zum Beispiel Dr. Grimesby Roylott oder Charles Augustus Milverton, anwendete. „Mir war nicht klar, dass du dich jemals so sehr um Anstand gekümmert hast, Bruder. Ich muss sagen, es bekommt dir nicht besonders.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und gab mir einen Wink, ihm zu folgen.
 

„Wo zur Hölle denkst du, dass du hingehst, Sherlock?“
 

„Benutze doch deine unglaublichen Fähigkeiten, Bruder. Watson und ich gehen zurück nach London. Es hat keinen Sinn, länger hier zu bleiben, als du mich zwingst, also werden wir morgen zum Begräbnis zurückkehren und dann habe ich meine Pflicht dir, unserer Familie und diesem Ort gegenüber für alle Zeiten erfüllt.“
 

„Du kannst nicht gehen, Sherlock!“
 

„Oh, das kann ich nicht?“ Er bedachte mich mit einem ziemlichen Blick. „Watson, komm jetzt!
 

Mycroft, der immer noch die Haltung eines Soldaten beibehalten hatte, rief in höchst autoritärer Stimmte: „Sobald ihr zurück am Bahnhof von Wadebridge seid, dann werdet ihr, wie ich meine, erkennen, dass ihr den 6:07 nach London um etwa zehn, vielleicht fünfzehn Minuten verpasst habt. Und dass ist der letzte Zug, wie du dir wohl denken kannst.“
 

Mein Freund blieb so plötzlich stehen, dass ich, der ich ihm voller Verwirrung gefolgt war, fast in ihn hinein gerannt wäre. Langsam drehte er sich um, das Gesicht so hart wie Granit. „Wenn du wirklich glaubst, mein lieber Bruder, dass ich die Nach an diesem Ort verbringen werde, dann irrst du dich gewaltig.“
 

Mycroft stach mit seinem Stock heftig auf den Boden – einen Familienmerkmal. „Sie, Sir, sind so stur wie ein Esel! Ich frage mich, Dr. Watson, warum um Himmelswillen Sie sich das antun.“
 

Ich räusperte mich hastig. „Nun, ich“—
 

„Nun, sieh mal“, fuhr der Mann an seinen Bruder gerichtet vor und kümmerte sich dankenswerterweise nicht darum, meine Antwort abzuwarten. „Wenn du nicht vorhast, einen Zweistundenfußmarsch zum nächsten Hof zu unternehmen, dessen Besitzer – ich warne dich – kein besonders geselliger Mensch ist – er ist mit Sicherheit kornischer als der Boden, auf dem wir stehen [4]; dann musst du wohl das einzig Vernünftige tun und hier an dem Ort bleiben, der verdammt noch mal das einzige Zuhause ist, das du für beinahe zwölf Jahre kanntest, um deiner Mutter und deiner Familie deinen Respekt zu erweisen, Sherlock. Nun, ich habe dir all die Jahre nur sehr wenig befohlen, aber das befehle ich dir jetzt. Habe ich mich klar ausgedrückt, Sir?“
 

Zu jenem Zeitpunkt mussten wahrhaftig seltsame Mächte am Werk gewesen sein, denn ich konnte mir sicherlich nicht vorstellen, dass Sherlock Holmes sich jemandem fügen würde, nachdem er erst einmal eine Entscheidung getroffen hatte. Besonders eine so adamantenharte Entscheidung. Aber welcher Einfluss auch zwischen dem älteren und dem jüngeren Bruder am Werk sein mochte, er wirkte für diesen Moment.
 

„Als Zurückzahlung für die eine Instanz in meinem Leben, für die ich die Existenz einer Schuld zugeben würde, werde ich dir dies gewähren“, sagte Sherlock mit leiser Stimme. „Aber von nun an hast du keinerlei Befugnis mehr über mich. Habe ich mich klar ausgedrückt, Bruder?“
 

Mycroft hätte beinahe gelächelt, doch er unterdrückte es gut. „Außerordentlich.“
 

„Dann werden Watson und ich für die Nacht die beiden leeren, gegenüberliegenden Zimmer im linken Flügel nehmen. Morgen werde ich dir helfen, alle von Mutters Bekannten und fanatischen Freunden zu begrüßen, wobei ich natürlich meine beste Darstellung als trauernder Sohn zum Besten geben werde und in der Sekunde, da sie die letzte Schaufel Erde für immer von uns trennt, werde ich zu meinem Leben in London zurückkehren und niemals wieder von diesem Ort sehen, hören oder denken, bis ich selbst eines Tages kalt in meinem Grab liege. Wird dir das genügend, mein lieber Mycroft?“
 

Die Augen seines Bruders verengten sich und er stand sogar noch aufrechter da als zuvor. „Also wirklich, Sherlock. Sollte das rhetorisch sein oder willst du darauf tatsächlich eine Antwort?“
 

Die beiden betrachteten einander mehrere Sekunden lang mit heftiger Apathie, während ich daneben stand und mir wie das sprichwörtliche fünfte Rad vorkam. Schließlich nickte Sherlock kurz in meine Richtung und die Hände in die Taschen gestopft schlenderte er mit raschen Schritten und ohne ein Wort auf den dichten Hain auf der linken Seite des Anwesens zu. Er sah nicht zurück, obwohl ich ihm unsicher hinterher starrte, bis er außer Sichtweite war und überlegte, ob ich ihm nun folgen sollte oder nicht. Mycroft beantwortete diese Frage für mich, indem er die Tür hart genug aufstieß, dass sie gegen die Wand schlug und sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen um meinen Bruder, Doktor Watson. Ich habe mit seinem Widerstand gerechnet und bin zuversichtlich, dass seine Stimmung sich bald wieder bessern wird.“
 

Ich dagegen war mir, nachdem ich ihn in der letzten Nacht gesehen hatte, dabei nicht so sicher. „Ich habe noch nie erlebt, dass er so aus der Fassung geraten ist“, wand ich mich mehr unbewusst an Mycroft. „Der Tod eurer Mutter hat ihn offensichtlich schwerer getroffen, als er zugibt.“
 

„Ich bezweifle sehr stark, Doktor, dass es das Dahinscheiden unserer Mutter ist, das ihn so handeln lässt.“
 

„Was dann?“
 

Aber Mycroft schnaubte nur und winkte ab. „Pah! Ich werde seinem sich ständig ändernden Temperament sicher nicht nachgeben. Und denselben Rat würde ich auch Ihnen anbieten.“ Er drehte sich um, um das Anwesen zu betreten, aber ich hielt ihn auf.
 

„Ich will ihm nicht nachgeben, wie Sie es nennen, aber ich muss zugeben, dass ich mir Sorgen um ihn mache. Sicher verstehen Sie das auch! Er hat Alp…äh, er gestand mir in einem Moment der Schwäche, dass er unter Alpträumen leidet.“ Ich richtete mich auf und hoffte, dass er meinen Ausrutscher nicht bemerkt hatte. Ich bin mir sicher, dass es überflüssig ist, zu erwähnen, dass ich damals keine Ahnung hatte, dass er von meiner Beziehung zu seinem Bruder wusste. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich reagiert hätte, hätte ich gewusst, dass er informiert war.
 

„Alpträume, also?“, fragte Mycroft, ohne dass sich sein Verhalten auch nur im Geringsten änderte.
 

„Ja…und ich bin mir sicher, dass eure Eltern darin eine Rolle spielen müssen.“
 

„Unsere Eltern?“ Er wirkte beinahe amüsiert.
 

„Ja, wie waren ihre Vornamen?“ Der einzige Hinweise, den ich hatte, war jemandem mit dem Namen ‚Philly’. Vielleicht ein Spitzname für seine Mutter?
 

„‚O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.’[5] Ich habe Hamlet schon immer genossen, Dr. Watson. Es steht der Wahrheit des Lebens auf so köstliche Weise nah. Ist Ihnen klar, dass Shakespeare tatsächlich das Einzige ist, was uns von den niedereren Lebensformen trennt?“ Seine Augen verengten sich zu zwei grauen Schlitzen. „Was denken Sie?“
 

„Was? Bitte! Das ist eine ernste Angelegenheit, Sir. Die geistige Gesundheit Ihres Bruders ist in Gefahr! Kümmert Sie das denn kein bisschen?“
 

Aber Mycroft zeigte angesichts meines Gefühlsausbruchs nur ein schiefes Lächeln. Indem er meinen Arm ergriff, deutete er mir, das Haus zu betreten. „Kommen Sie, Doktor. Ich werde sehen, ob ich für uns nicht etwas zu trinken auftreiben könnte. Ich denke, der Grundverwalter hat an verschiedenen Plätzen einen Vorrat an frischem Whiskey versteckt.“
 

„Es tut mir Leid, aber“—begann ich.
 

Er zog heftiger an meinem Arm. „Ich bestehe darauf. Und ich werde Ihnen von Philippa erzählen.“
 

Philippa. Philly. Die Überraschung angesichts des Namens oder – um genau zu sein – der Tatsache, das Mycroft ihn ausgesprochen hatte, ließ jeden Muskel in meinem Körper erschlaffen, sodass er mich einfach durch die Vordertür führen konnte.
 

Das Innere des namenlosen Holmesanwesens war ebenso in Dunkelheit getaucht wie sein Äußeres, aber irgendwie schien die Atmosphäre hier sogar noch giftiger. Es roch stark nach Ammoniak und Asche, Kreosot aus dem Kamin, sowie verschiedenen Reinigungschemikalien. Sogar ohne irgendwelche künstlichen Lichtquellen konnte ich durch die Spalten der schweren Vorhänge erkennen, dass der Ort vollkommen untadelig war. Der Fußboden und die Türen waren alle aus solider englischer Eiche gefertigt, aber es konnte kaum eine abgewetzte Stelle gefunden werden. Staub und Schmutz schienen Worte zu sein, die in diesem Haushalt nicht existierten. Sogar die liebe Mrs. Hudson wäre erstaunt gewesen, dass ein solcher Grad an Reinheit überhaupt möglich war.
 

Schweigend folgte ich Mycroft Holmes durch Garderobe und Eingangshalle, währenddessen sich ein wachsendes Gefühl des Verhängnisses in mir zu einer Erkenntnis entwickelte. Mein Gastgeber ging mit hinter dem Rücken verschränken Händen in so völligem Desinteresse voraus, als würde er eine Führung veranstalten. Er schien sich nicht die Mühe zu machen, irgendetwas um ihn herum wahrzunehmen. Ich denke, wenn er in der Lage gewesen wäre, mit verbundenen Augen seinen Weg zu finden, dann hätte er es getan. Ich weiß, ich hätte versuchen sollen, jene Methoden anzuwenden, für die mein Freund so berühmt war. Aber ich fürchte, das, was er mir stets vorgeworfen hatte, zeigte sich in jenem Moment deutlicher als je zu vor. Ich war nicht aufmerksam. Ich sah kaum etwas in jenem Moment. Außer der Tatsache, dass die beide Brüder sich so übermäßig merkwürdig benahmen. Mir stand nicht genug von meinem Verstand zur Verfügung, als dass ich noch an irgendetwas anderes hätte denken können.
 

Schließlich wurde ich in einen Salon mit einem riesigen steinernen Kamin geführt. Mycroft schloss die Tür hinter uns, als fürchtete er, wir würden gestört werden. Er begann dann, das Gas aufzudrehen, wobei er mir einen ganz schönen Schrecken einjagte. „Guter Gott.“, rief ich, während ich mich umsah. Denn das Licht erleuchtete, was ich bald als eines der Hauptmerkmals dieses Anwesens erkennen würde, abgesehen von der Reinlichkeit. Das Zimmer war mit Kunstgegenständen gefüllt – von kleinen Statuen bist zu Wandgemälden, die ganze Mauern in Beschlag nahmen. Aber alle hatten eine sehr zentrierte Thematik – Religion. Da war eine Darstellung von Mose, der die Gebote hoch über seinen Kopf hielt. Sie war so sorgfältig gearbeitet, dass ich in der Lage war, jedes einzelne der Zehn in den Stein gemeißelt zu lesen. Eine andere kleinere Szene zeigte die Bergpredigt Jesu und auf einem weiteren beunruhigenderem Bild ertranken Millionen von Sündern für ihre Sünden, während die Arche selbstsicher vorbei trieb. Sie war ein bloßer Zusatz, denn das Bild sollte eindeutig die Macht von Gottes Zorn demonstrieren. Kruzifixe hingen an den Wänden, Figurinen des Jesuskindes in den Armen seiner Mutter, ein Wandteppich, auf dem das Letzte Abendmahl dargestellt wurde. Oh, meine eigene Schwester konnte nur davon träumen in einem solchen Ort gefangen zu sein. Es wurde augenblicklich klar, dass dies an Besessenheit grenzte, die bloßen religiösen Eifer bei weitem überstieg.
 

Unsicher, was ich dazu sagen sollte, räusperte ich mich und versuchte, gefasst zu wirken. Aber ich war mir sicher, dass jemand, der so scharfsinnig war wie Mycroft Holmes, mein Entsetzen nicht übersehen würde. Und ich hatte natürlich Recht. Mit einem schiefen Blick sagte er: „Sie erkennen nun den Ursprung des…Konfliktes zwischen Sherlock und unserer Mutter. Sie entschied sich, ihr Leben auf eine ganz bestimmte Art zu führen und ließ sich mit jedem auf Streit ein, der es ihr nicht gleich tat. Oder zumindest mit jedem, der nicht so tun konnte, als würde er mit ihr übereinstimmen. Und wie Sie vermutlich erraten können, war Sherlock nicht bereit sich irgendjemandes Willen zu unterwerfen. Sogar als Kind war er so. Anmaßend, unverschämt…nun, ich denke, Sie verstehen, worauf ich hinaus will.“
 

Aus verschiedenen Gründen rief mir das klar und deutlich einen wahrhaft unvergesslichen Fall in Erinnerung, der gerade erst zwei Jahre her war. Black Bishop. Holmes hatte Richard Bishop gegenüber Verständnis gefühlt, das ich nicht geteilt hatte. ’Es ist nicht leicht, einen Eiferer als Elternteil zu haben.’ Das hatte er über den Jungen gesagt. Damals war ich nicht auf den Gedanken gekommen, er könnte aus persönlicher Erfahrung sprechen. Dasselbe galt für meine Schwester, für die er anscheinend eine Art verständnisvolle Abscheu empfunden hatte, deren Ursprung ich nun besser verstand. Und einige der Teile passten zusammen. Aber ich sagte Mycroft nichts dazu. Es gab noch so viel zu erfahren.
 

„Ich weiß, was Sie denken, Doktor“, sagte er, während er mir den Rücken zuwand, um etwas von der Feuerstelle des massiven Kamins zu entfernen.
 

„Und das wäre?“
 

Aber was auch immer es war (und ob er nun Recht hatte oder nicht), wollte er nicht sagen. Stattdessen erkannte ich, dass er eine gerahmte Fotografie aufgehoben hatte. Der ältere Holmes betrachtete das Bild mit einem kurzen Blick voller Mitgefühl, so als ob ihm der Gegenstand Leid täte, der in diesem traurigen Haus existieren musste, ohne dass jemand es in Erinnerungen versunken liebevoll anlächeln würde. Aber jene kurzzeitige Schwäche verging in einem Blitz aus wieder zu Stahl werdendem Fleisch, zu dem nicht einmal sein Bruder in der Lage gewesen wäre.
 

„Betrachten Sie das“, sagte er, während er es mir in die Hände stieß, als würde es ihn nun anwidern. „Es enthält die Antwort auf eines der Mysterien meines Bruders, die er, wie ich fürchte, Ihnen niemals zu veröffentlichen gestatten wird.“
 

Das Portrait in dem leicht angelaufenen Messingrahmen zeigte eine Familie von fünf Personen, alle vollkommen platziert, alle vollkommen unbeirrt von jeglichen Emotionen. Der Patriarch dieses Clans war ein Mann mit breitem Brustkorb und von beträchtlicher Größe, die trotz seiner sitzenden Position offensichtlich war. Ich erkannte in ihm sofort einen Kumpanen aus dem Militär, einen der gute Dienste geleistet hatte, so viel war von seinem Rang als Colonel und den vielen Orden, die seine Brust schmückten, offensichtlich. Er trug einen Vollbart und wirkte beinahe gerader als der Stuhl, auf dem er saß.
 

Seine Ehefrau und Matriarchin erschien mir als bemerkenswerter Mensch. Ihre Kleidung war etwas einfacher als die ihrer Familie. Sie war die einzige, deren Augen einen dunkleren Farbton hatten. Ich mochte sie augenblicklich nicht. Ich kann nicht sagen warum und Holmes würde mich schelten, denn ich wusste mit Sicherheit, dass Logik oder Vernunft keine Rolle dabei spielten. Aber da war irgendetwas an ihrem Gesicht, das mich abstieß, irgendetwas, das genauso gut bloße Voreingenommenheit gewesen sein konnte, nachdem ich jenes Zimmer gesehen hatte. Die Wangen waren zu spitz, der Mund zu schmal; die Augen waren erstaunlich flach – kalt und lieblos, tierisch sogar. Ich – in meiner zugegebenermaßen voreingenommenen Wahrnehmung – sah keine Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und meinem teuren Freund.
 

Hinter dem bärtigen Kerl und seiner Frau standen ihre Kinder. Zur Linken ein Sohn, der seinem Vater in jeder Weise ähnelte – einschließlich Größe und Leibesumfang. Er war in etwa fünfzehn und stand ein wenig aufrechter, als ich es erwartete hätte – mit Augen, die sowohl Intellekt als auch Ängstlichkeit zeigten. Auch wenn er einen Schopf voller dunkler Haare hatte und sein Gesicht frei von jeglichen Zeichen des Alters war, sah er dennoch genauso aus wie der Mann vor mir. Aber mit einer Ausnahme. Der Mycroft Holmes, den ich in meinen Händen hielt, wirkte nicht so festgefahren und selbstsicher wie der, der vor mir stand. Wenn überhaupt schien er mehr wie der schüchterne, unsportliche Junge, den meine Schulkameraden und ich solange mit der Absicht ihn zu verprügeln verfolgen würden, bis er in Tränen ausbrechen würde.
 

Das Kind zur Rechten seines Vaters war vielleicht acht oder neun Jahre alt, aber er trug bereits jeden Zug, den ihm das Erwachsenenalter besiegeln würde: die Adlernase, die lange und dünne Statur sowie die rasiermesserscharfen grauen Augen. Dieses Kind starrte den Fotografen nicht mit den großen Augen der Unschuld sondern mit dem eher beunruhigenden Blick eines Menschen an, der ganz leicht jedes deiner Geheimnisse erraten könnte. Er hielt seine Hände hinter dem Rücken versteckt und ich lächelte augenblicklich angesichts des Gedankens, dass sie wahrscheinlich zu Fäusten geballt waren. Sogar als Kind, war er nicht dazu gemacht, sich zu so etwas Gefühlsseligem wie einer Fotografie Zeit zu nehmen.
 

Aber da war noch eine dritte Person.
 

Zwischen Captain und Mrs. Holmes saß eine junge Dame, ein Mädchen, gerade erst zwanzig würde ich sagen. Ich sah keinen besonderen Reiz in der spitzen Nase und dem ebensolchen Kinn, den seltsam geformten Augen und der sommersprossigen Haut, aber sie war das einzige Familienmitglied, auf dessen Gesicht so etwas wie ein Lächeln zu sehen war und sie hatte eine gewisse beruhigende und liebliche Beschaffenheit an sich. Sie hatte nichts von der Eiseskälte ihrer Mutter und trotzdem war ich mir nicht ganz sicher, ob ich den Vater in ihr sehen konnte.
 

„Das“, sagte ich zu Mycroft mit dem seltsamen Gefühl, als hätte ich gerade eine großartige Entdeckung gemacht. „Das ist Philippa?“
 

„Drehen Sie es um“, lautete die steife Antwort.
 

Und so entfernte ich es aus dem Rahmen und sah auf der Rückseite eine sorgfältige Handschrift mit indigofarbener Tinte. ‚Captain Aloysius G. Holmes’, lautete es, ‚Seine Frau Gertrude und ihre Kinder: Philippa – 18 Jahre, Mycroft – 15 Jahre, und Sherlock – 8 Jahre.’ Es war außerdem von dem Fotografen eines örtlichen kornischen Ateliers datiert und signiert.
 

Während ich tief Atem holte, sah ich zu Mycroft auf. „Warum hat Ihr Bruder seine Schwester niemals auch nur erwähnt?“
 

Mycroft schnaubte. „Müssen Sie da wirklich noch fragen? Wie viele Jahre hatten Sie beide sich schon gekannt, bevor er Ihnen von meiner Existenz erzählte?”
 

„Ja, aber…“ Ich war mir nicht sicher, wie ich ihm meinen Gedanken vorlegen konnte und gleichzeitig höflich bleiben. Schließlich durfte sein Bruder wohl nicht dieselbe Art von Bedeutung für sein Leben haben, wenn sie ihm Alpträume bescherte. Glücklicherweise erkannte der ältere Holmesbruder mit seiner gewaltigen Intelligenz meine Misere und erlöste mich davon.
 

„Sherlock und seine Schwester standen sich außergewöhnlich nah“, sagte er, während er mir das Bild aus den Händen nahm. „Zumindest so nah, wie er und unsere Mutter es nicht gewesen waren. Nach Philippas Tod verließ Sherlock diesen Ort und kehrte niemals zurück. Er weigerte sich, über sie zu sprechen oder auch nur ihren Namen zu nennen. Für ihn existierte unsere Schwester nicht länger, nicht einmal in der Erinnerung. Und so ist es all diese Jahre gewesen.“
 

„Aber warum?“, fragte ich.
 

Mycroft stellte die Fotografie zurück auf ihren angemessenen Platz auf dem Kaminsims und sprach, ohne mich anzusehen. „Ich denke, Doktor, dass ich meinem Bruder gegenüber mein Wort halten muss, ganz egal wie kindlich es mir nun erscheint. Und jenes Wort, wenn auch vor etwa dreißig Jahren gegeben, gebot mir niemals über…gewisse Umstände in unserer Familie zu sprechen. Ich denke, Sie werden Sherlock anflehen müssen, es Ihnen zu erzählen, wenn Sie die ganze Geschichte wissen wollen.”
 

Sein Widerstreben füllte mich nicht unbedingt mit Zuversicht. Wenn Mycroft sich schon weigerte, mir von diesem Leiden zu berichten, wie konnte ich dann meinen Freund dazu überreden, der doch viel direkter betroffen schien? „Ich weiß, dass Ihr Bruder keine besonders hohe Meinung von Frauen hat. Aber ich hätte mir niemals vorgestellt, dass dieses misogyne Verhalten soweit in seine Kindheit zurückreicht. Nun, eure Mutter“—
 

„Mein lieber Doktor Watson“, unterbrach mich Mycroft. „Sie übersehen das große Ganze. Unsere Mutter ist der Grund, weshalb Sherlock solcherlei Gefühle für das schöne Geschlecht hegt.“
 

Irgendetwas in meiner Kehle schien sie zu verstopfen und ich musste mir große Mühe geben, nicht zu würgen. „Sie meinen doch nicht…äh…“
 

Aber Mycroft schüttelte nur seinen gewaltigen Kopf und schnalzte mit der Zunge. „ Das ist mit Sicherheit nicht der Pfad, den Sie einschlagen wollen, Doktor. Es hat mehr damit zu tun, dass diese beiden Menschen so unglaublich verschieden waren, dass der eine den anderen nicht für das akzeptieren kann, was er oder sie ist und sich weigert, diese Differenzen beiseite zu legen. Und es hat mit einer Frau zu tun, die sowohl von meiner Mutter als auch von meinem Bruder sosehr geliebt worden war, dass ihr Tod jede Hoffnung auf Versöhnung zwischen diesen beiden vernichtete.”
 

Ich drehte mich zu dem lieblichen Bild der Schwester auf dem Portrait um und versuchte mir vorzustellen, dass dieses glückliche und jugendliche Gesicht jemandem gehörte, den mein Freund so sehr lieben konnte, mehr als mich, mehr als Josh, mehr als seine Vernunft, vielleicht sogar mehr als seine geistige Gesundheit. War es das? „Dann muss ihn der Tod eurer Schwester ziemlich zugrunde gerichtet haben.“
 

„Gelinde ausgedrückt. Es ist ein Wunder, dass er sich jemals erholt hat. Das heißt, dass sich sein Gefühlsleben erholt hat – denn bis er Sie getroffen hatte, hat er niemand anderem jemals erlaubt, den flüchtigsten Blick in sein Herz zu werfen. Selbst ich habe seit Jahren nichts als kaltes Desinteresse von meinem Bruder erlebt.“ Seine Augen verengten sich mit einem nüchternen Ausdruck.
 

„Nun, ich…äh, er ist natürlich ein guter Freund. Und ich empfinde es als Privileg, mehr sehen zu dürfen als das, was ich in meinen Berichten über ihn schreibe.“ Ich war mir sicher, dass mein Gesicht brannte, denn Mycroft war der Wahrheit für meinen Geschmack viel zu nahe gekommen. Er konnte es nicht wissen, dachte ich, denn niemand wusste von meiner wahren Beziehung zu seinem Bruder, aber angesichts all seiner Größe wusste ich, dass es nur einen einzigen Ausrutscher benötigen würde, um ihn auf die richtige Spur zu bringen. „Wie starb Philippa?“, fragte ich begierig, das Thema zu wechseln. „Kindbett?“
 

„Es war ein Unfall.“ Mycrofts Stimme war wie Eis.
 

„Welch ein Unglück.“
 

„Ja“, sagte er. „Aber das Leben steckt voller Unglückseligkeit. Alles geschieht aus gutem Grund. Selbst der Tod meiner armen Schwester. Denn wenn es nicht geschehen wäre, dann würden wir beide zweifellos nicht hier stehen und uns unterhalten. Sherlock würde mit größter Wahrscheinlichkeit nie die Karriere eingeschlagen haben, die ihn berühmt machte und Sie hätten ihn nie getroffen, um seine Chroniken zu schreiben, noch hätten Sie durch ihn Ihre Frau kennengelernt. Ich dürfte auch mich selbst heute in einer völlig anderen Lage vorfinden. Es ist erstaunlich, wenn man überlegt, wie alles in dieser Welt verbunden ist, nicht wahr? Wenn man überlegt, wie ein Ereignis die Leben von so vielen verändert.“
 

„Ja. Ja, in der Tat.“
 

Mycroft betrachtete mich für einen Moment, so als ob er noch etwas hinzufügen wollte, aber schließlich sagte er nur noch, dass er mir nun mein Zimmer zeigen sollte, sodass ich Zeit hätte mich vor dem Abendessen noch etwas zu erholen. „Gott allein weiß, wann Sherlock sich entscheiden wird, uns wieder mit seiner Anwesenheit zu beehren. Ich werde mit dem Essen nicht auf ihn warten. Wir essen um sieben, pünktlich.“
 

„Denken Sie nicht, dass wir nach ihm suchen sollten?“
 

„Er ist kein Kind, Doktor! Sie würden gut daran tun, sich meine Warnung zu Herzen zu nehmen und ihn nicht zu verhätscheln. Er ist nicht besonders angenehm, wenn er sich zu sehr auf einen anderen verlässt.“ Während er die Hände hinter dem Rücken verschränkte, deutete er mir, ihm zu folgen und wir verließen das Raucherzimmer, um uns schweigend zum linken Flügel aufzumachen.
 

Nach einem reichhaltigen Abendessen, das uns von einer mürrischen, ländlich wirkenden Bediensteten serviert wurde, die vorzustellen Mycroft nicht für nötig hielt, entschuldigte er sich für den Rest der Nacht mit der Behauptung, die jüngsten Ereignisse hätten seine übliche Menge an Schlaf empfindlich eingeschränkt und dass auch morgen ein langer Tag sein würde. Er war während des Essens eher schweigsam gewesen; hatte sich sehr auf seinen Teller konzentriert. Ich hatte nur einmal versucht, ihn zum reden zu bringen und das war nicht genau so verlaufen, wie ich es mir erhofft hatte.
 

„Haben Sie irgendeine Idee, wohin er gegangen sein könnte?“
 

Seine Antwort bestand aus einem giftigen Blick in meine Richtung und einem lauten Skrietsch seines Messers, als er in sein Fleisch schnitt. Mein Freund hatte mir oft erzählt, die Fähigkeiten seines Bruders, seien seinen eigenen weit überlegen und ich muss sagen, ich wusste nun, dass das zumindest in einer Hinsicht die Wahrheit war. Dieser Holmes war zu dem giftigsten aller Blicke fähig, der sogar den seines Bruders überragte. Und so wand ich meine Konzentration wieder meinem Essen zu und wagte es nicht, auch nur eine einzige weitere Frage zu stellen.
 

Als Mycroft nun zu Bett, Sherlock weiß der Himmel wohin und selbst die Köchen bzw. das Dienstmädchen verschwunden war, war ich nun meiner eigenen Verantwortung überlassen. Ich wusste sofort, dass ich nicht in der Lage sein würde zu schlafen, ohne zu wissen, wo mein Freund war und ich wusste auch, dass mehrere Stunden in einem Zimmer voller weiterer erschreckender Kunstgegenständen zu verbringen (einschließlich eines Gemäldes der Vernichtung von Sodom, welches, so hoffte ich, reiner Zufall war), ebenfalls außer Frage stand. Und so machte ich mich auf eine einsame Suche nach irgendwelchen Antworten, auf das Verhalten meines Freundes. Ich war mir in jenem Moment sicher, dass mir das weder von ihm noch von seinem Bruder gewährt werden würde.
 

Als ob ich von einem Geist, dem Schicksal oder irgendetwas anderem Unsichtbaren geführt werden würde, wusste ich genau, wohin ich gehen musste. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt stieg ich eine lange Wendeltreppe hinauf, direkt neben dem Esszimmer, in dem jenes unangenehme Abendessen stattgefunden hatte und dann durch ein Labyrinth voller schwarz verhängter Spiegel und einen langen, entmutigenden Gang entlang. Ich hatte nur eine Kerze um mich zu führen und auch wenn ich mich selbst nicht als einen fantasiereichen Menschen ansehe, muss ich zugeben, dass mein Herz heftig in meiner Brust pochte und dass ich einen unangemessen Teil meiner Aufmerksamkeit auf die dumpfen Geräusche meiner Schritte richtete, die durch den Gang hallten.
 

Der erste Stock unterschied sich nicht sonderlich von dem Erdgeschoß. Meine Kerze war gerade genug Licht, um zu verhindern, dass ich mich selbst zum Esel machte, indem ich über verschiedene Gegenstände stolperte, denn sogar in den Gängen waren in jeder leeren Ecke mit den unterschiedlichsten Objekten vollgestopft: Beistelltischchen, Gobelins, Statuetten und sogar eine Ritterrüstung. Das Holmesanwesen erinnerte mich sehr an ein Museum, was überhaupt nicht weit hergeholt schien.
 

Es war ganz am Ende jenes Ganges, da etwas die Aufmerksamkeit meiner flackernden Kerze auf sich lenkte. Es war in den Rahmen einer Tür eingeritzt, klein und krakelig, aber trotzdem bemerkbar: S.H. – a priori. [8]
 

Die Tür öffnete sich mit einem leisen Ächzen und ich trat in eine andere Zeit. Mit Ausnahme des Bettes war der Raum größtenteils mit weißen Laken bedeckt, aber ich wusste durch irgendeine Art von Instinkt, dass dies das Kinderzimmer von Sherlock Holmes gewesen war.
 

Es er schien mir zuerst als ironisch, dass während das Erdgeschoß ein Bild der unbefleckten Reinlichkeit bot, dieser Raum von einer dicken Staubschicht überzogen war. Verglichen mit der gewaltigen Gruft, in der ich die Nacht verbringen sollte war das Zimmer klein, aber viele der Einzelheiten des Zimmers waren entweder verhüllt oder nicht länger da. Neben dem Bett, einem Nachtkästchen und einer Kommode gab es wirklich nur noch zwei Punkte von Interesse. Der offensichtlichste war dabei ein weiteres jener grässlichen Gemälde, die jenen Ort auszeichneten. Als ich es mit meinem Licht betrachtete, erkannte ich eine weitere religiöse Szene und irgendwie war jede neue, die ich sah, beunruhigender als die letzte. Diese hier zeigte einen Chor von Engeln, jeden strahlendhell und schön – eine Szene direkt aus der Schrift. Außer natürlich, dass sie den Engel der Musik umkreisten – Luzifer. Feuer strömte aus den goldenen Wolken und das blass schimmernde Licht, das irgendwie lebendig schien, verbannte ihn hinunter in die Flammen, während der Engel sich langsam verwandelte und schrie, als das Feuer ihn erfasste. Unten direkt über der Flamme war eine Signatur, die ich nicht entziffern konnte und ein Titel – ‚Der Verrat.’ Ein Schauer jagte mir über den Rücken. In Anbetracht der unschuldigen Aquarellbildern von Tigern und Affen und den grob gezeichneten Schiffen und Zügen, die an den Wänden meines Sohnes hingen, konnte ich mir nicht vorstellen, was um Himmelswillen ein solches Gemälde in dem Zimmer eines Kindes zu suchen hatte. Es war entsetzlich. Und auch wenn ich so gut wie gar nichts von den Gründen wusste, weshalb mein Freund seine Vergangenheit so sehr ablehnte, hatte ich begonnen, die Wurzel seines Zornes zu erkennen.
 

Als ich mein Licht fort von dieser Monstrosität auf die gegenüberliegende Wand lenkte, wo einsam ein verstaubtes Bücherregal stand, sah ich, dass nur noch zwei Bücher übrig geblieben waren. Das eine war Machiavellis Der Fürst und das andere – ironisch genug – eine zerfledderte und befleckte Bibel. Als ich eine beliebige Stelle aufschlug, fiel mir sofort auf, dass sie jemand mit einer schrecklichen Handschrift vollgeschrieben hatte, auf jedes bisschen Weiß und teilweise sogar über den Text selbst. In Exodus als Mose Gottes Gebote empfangen hatte, stand als Anmerkung zum 12. Vers des 20. Kapitels: Niemand soll geehrt werden, der es nicht verdient, ob sie nun meine Mutter oder mein Vater oder gar nichts sind.
 

Und im 1. Kapitel Jesaja stand über der Erinnerung an die Vernichtung jener bestimmter Städte der Sünde – denn Gott liebte seine Kinder so sehr, dass er sie ohne zweimal nachzudenken tötete?
 

Und im 6. Kapitel Epheser, wo geschrieben stand: ‘Kinder, gehorcht euren Eltern im Herrn, denn es ist rechtens’ – Rechtens für wen, oh Allmächtiger Gott?
 

Und in Genesis, so kühn wie nur möglich gleich am Anfang, als Gott das Universum erschuf, stand geschrieben - Die Logik von all dem ist erbärmlich!
 

Vor meinem geistigen Auge konnte ich den kleinen Sherlock sehen, wie er an seinem Schreibtisch saß, eigentlich die Schrift studieren sollte, aber stattdessen keine Logik im Glauben erkennen konnte und jene Notizen machte. Aber ich konnte nicht sehen, was diesen gewaltigen Zorn zwischen ihm und seinen Eltern, vor allem seiner Mutter, verursacht hatte. Zweifellos hatte der religiöse Eifer seiner Mutter eine Rolle dabei gespielt, aber das konnte mit Sicherheit nicht alles gewesen sein. Als ich das Buch zuschlug, flatterte ein einzelnes Stück Papier zu meinen Füßen, beinahe so als ob meine eigenen Gedanken erhört und von einer göttlichen Einmischung beantwortet worden waren.
 

Das Papier war gelb und die schwarze Tinte zu hellem Violett verblasst, aber indem ich mich selbst in das flackernde Licht der Kerze vertiefte, war ich in der Lage es immer noch zu lesen:
 

‚Mein liebster Bruder’ – las ich –
 

In meinem Herzen kenne ich den Zorn, den du mir gegenüber fühlst, auch wenn du dir die größte Mühe gibst, ihn zu verbergen. Du denkst, ich bin für dich verloren, gestohlen von einem anderen, dem einzigen anderen auf dieser Welt, dem ich je meine vollständige Liebe und Zuneigung geschenkt habe. Wenn es in unserer begrenzten Sprache doch nur Worte gäbe, mit denen ich meine Liebe für dich ausdrücken könnte! Wisse, dass ich in James den einzigen Mann sehe, dem ich jemals meine Liebe als Ehefrau schenken will, aber in dir sehe ich den einzigen anderen, dem ich meine vollständige Liebe als ‚Person’ schenken will. Wisse, wenn ich dich als meinen eigenen Sohn annehmen könnte, wie du es in meinen Augen schon lange bist, dann würde ich es augenblicklich tun. Aber auch wenn uns nun ein paar hundert Meilen trennen werden, sind wir nicht für einander verloren. Trotz Mutter werde ich dich immer noch so oft sehen, wie Züge von London und zurück fahren. Wisse auch, lieber Bruder, dass, während ich hoffe, bald mit Kindern für James und mich gesegnet zu werden, kein Baby jemals existieren wird, das dich ersetzen könnte. Sherlock, ich weiß, dass du das in all deiner Brillanz verstehen und mir vergeben wirst. Wisse, dass ich immer deine dich liebende Schwester sein werde,
 

Phillipa Holmes Davies,
 

(deine liebe Philly)
 

„Nun, Watson, was deduzierst du von all dem über mich?“
 

Ich drehte mich so plötzlich um, dass ich beinahe meine Kerze fallengelassen hätte. Mit einer Hand schob ich den Brief zurück in das Buch und mit der anderen hielt ich das Licht in seine Richtung. Der Mann wurde völlig von Schatten umgeben, sodass ich von ihm nicht mehr als eine ätherische Silhouette erkennen konnte; es war kein wirklicher Trost an diesem scheinbar verfluchten Ort. „Holmes, Gott sei Dank! Ich fürchtete“—
 

„Was deduzierst du?“, beharrte er.
 

„Ich deduziere, dass davonzulaufen, so wie du es getan hast, nicht nur kindisch und dumm, sondern dass hier zu stehen, wie wir es gerade tun, kein bisschen besser ist. Ich will mit dir über“—
 

„Später“, erwiderte er. „Was hat dir mein Bruder erzählt?“
 

„Er war genauso wenig bereit, zu reden wie du“, sagte ich ein wenig anklagend. „Aber ich habe euer Familienportrait gesehen. Ich weiß, dass es zwischen deiner Mutter und dir keine Liebe gab. Und ich weiß“—
 

„Von meiner Schwester, ohne Zweifel.“
 

„Ja…“
 

Er kam auf mich zu, sodass ich ihn zum ersten Mal wirklich sehen konnte. Sein Mantel und seine Weste fehlten und seine Krawatte hing um seinen Hals wie eine lockere Schlinge. Seine Stiefel und die Stulpen seiner Hose waren dreckverkrustet und ließen vermuten, dass er seinen Abend ganz sicher nicht mit einem gewöhnlichen Spaziergang verbracht hatte. Sein Haar hing ihm in dicken Strähnen ins Gesicht, aber als er näher kam, sah ich nur die beiden stahlfarbenen Augen eingehüllt in Schwärze. Indem er nach meinem Nacken griff, näherte er sich mir so heftig, dass ich beinahe nach hinten fiel. Mit Händen kalt wie Eis hatte er mich in bloßen Sekunden von all meiner Oberbekleidung befreit und erstickte mich mit Küssen, während er mich weiter und weiter zurückstieß, bis ich schließlich inmitten einer Staubwolke auf einer Matratze landete, die größtenteils aus Metallfedern zu bestehen schien.
 

„Sorgen sind unbegründet“, sagte eine Stimme in mein Ohr. „Bruder Mycroft ist ein plethorischer Schläfer und würde – um die Wahrheit zu sagen – nicht einmal dann die Energie verschwenden, sich aus seinem Bett zu erheben, wenn er den Verdacht hätte, es stände in Flammen.“
 

„Ja, aber“—
 

„Was?“
 

„Ist das wirklich angemessen? In Anbetracht – nun, des momentanen Stands der Dinge?“
 

„Watson!“, zischte die schattenhafte Gestalt neben mir. Vermischt mit dem gewohnten Geruch nach starkem Tabak konnte ich etwas weit Giftigeres riechen. „Verschwende nicht eine Unze Mitgefühl an jene…Frau, wenn sie überhaupt eine ist. Ich habe meine Zweifel.“
 

„Holmes! Sie ist doch schließlich deine Mutter.“
 

Er packte meine Schulter und hielt mich mit einer Kraft nieder, die sogar mich überraschte. „Ich will nicht über meine Mutter Medea[7] sprechen! Ich will dich! Jetzt!“
 

Ich hatte ihn in meinem ganzen Leben noch nie so handeln sehen. Völlig emotionsbedingt (ohne Zweifel von etwas weit Unheilvollerem angetrieben) und ohne einen Funken seines großartigen Verstandes. Er wirkte auf mich besessen, vielleicht von diesem Haus und einer Vergangenheit, die er nicht davon abhalten konnte, ihn heimzusuchen. So wollte ich ihn nicht. Zerzaust, betrunken oder unter Drogen, entkörpert. Aber gleichzeitig: Wie konnte ich ihn in einem solchen Zustand verlassen?
 

Seine Hände, normalerweise begabt mit einer Sanftheit, die ihr schwieliges und beflecktes Äußeres lügen strafen, waren nun hart wie Granit. Sie streckten sich aus, um meine Hose zu öffnen. „Dreh dich um“, befahl er und als ich zögerte, tat er es selbst und senkte sein nacktes Gewicht auf mich.
 

„Holmes, du bist nicht du selbst“—
 

Er seine einzige Antwort bestand darin, zu knurren und meinen Kopf zur Seite zu stoßen. Ich habe das Gefühl, hier und jetzt sagen zu müssen, dass egal wie schlecht Sie nun auch von diesem Mann denken mögen, für das, was als nächstes geschah, ich selbst ebenso einen Teil der Schuld auf mich nehmen muss. Ich hätte es sicherlich beenden können, wenn ich es wirklich gewollt hätte. Angesichts dessen, was danach geschah, hätte ich es wohl tun sollen. Aber weh mir, ich tat es nicht.
 

Ich dachte nicht darüber nach, was passierte, obwohl ich es natürlich wusste, aber nichts hätte mich auf den Schmerz vorbereiten können, der folgte. Ich versuchte mich selbst vom Aufschreien abzuhalten, doch ich versagte kläglich. Der Druck war entsetzlich und mein trauriger Körper war unfähig vorherzusehen, wie schlimm es sein würde. Wenn das besessene Wesen meines Freundes zu irgendwelchem Mitleid oder überhaupt zu Verstehen fähig war, so merkte ich nichts davon. Ich wollte ihn zur Vernunft bringen, aber es war keine Stimme in mir und keine Vernunft in ihm.
 

Der Schmerz, der mein Rückgrat durchflutete, war gewaltig, aber wie jedem Schmerz, konnte man sich mit der Zeit daran gewöhnen und nach einem Moment war ich geistig in der Lage, meine Kiefer zu entspannen. Wenn ich dieselbe Technik auch auf den Rest meines Körpers hätte anwenden können, hätte ich das Ganze vielleicht weniger schmerzhaft, ja vielleicht sogar angenehm gefunden, aber durch die Plötzlichkeit, die Angst, die Unbesonnenheit, die Lieblosigkeit der Handlung konnte ich es nicht.
 

Nach einem Augenblick war es vorbei und ich wurde mit der süßesten Erlösung belohnt – der des Schmerzes. Ich wusste sofort, dass ich blutete – das Fleisch war schwach und unnachgiebig und ich spürte das kleine Rinnsal, das meinen Oberschenkel hinab floss. Aber an Schmerz, physischen Schmerz heißt das, war ich gewohnt und den konnte ich leicht ertragen. Es war der Schmerz in meinem Herzen, der mir weit mehr wehtat. Was war gerade geschehen? Oder besser gesagt, warum war es geschehen?
 

Ich stand langsam auf, ergriff mein Hemd, von wo auch immer es hin geworfen worden war und zog mich rasch an, so als erkannte ich zum allerersten Mal die Schande der Nacktheit. Ein deutlicher Schauer jagte mir über meinen Rücken, schloss sich fest um mich. Ich wagte nicht zu sprechen, selbst als meine Augen die von Holmes trafen. Wenn ich den ersten Schritt machen würde, dann wusste ich, hätte ich ihm mit aller Kraft, die ich besaß, ins Gesicht geschlagen. Sorge und Wut stritten in meinen bebenden Händen und zitternden Beinen um Vorherrschaft. Mit meiner Körpersprache zwang ich ihn zu sprechen, als wir uns schwer atmend gegenüber standen, uns ansahen, aber nicht wirklich erkannten. Und schließlich tat er es.
 

„Oh Gott.“ Er taumelte rückwärts von mir weg, unsicher wie ein neugeborenes Kalb, bis seine ausgestreckte Hand einen Stuhl erreichte und er auf ihm zusammenbrach. „Oh Gott…Ich bin er geworden. Gott…Gott…nach allem, was geschehen ist, bin ich er geworden.“
 

„Wer? Wer bist du geworden?“
 

Er sah zu mir auf, aber wand sich fast sofort mit leerem Blick und zitterndem Kinn ab. „Der Colonel, natürlich. Colonel Aloysius Giffard Holmes. Mein Vater.“
 

„Dein Vater…warum?“
 

Keine Antwort. Nichts.
 

„Holmes“, sagte ich schließlich mit unerträglich verständnisvoller Stimme. „Ich denke es ist völlig gerecht, wenn ich sage, dass ich mehr als geduldig mit dir gewesen bin. Ich bin dein treuer Freund gewesen, dein Assistent, sogar dein Geliebter. Ich habe dir fünfzehn Jahre meines Lebens geschenkt und niemals eine Gegenleistung verlangt. Aber ich muss dir jetzt sagen – wenn du mir nicht die ganze Geschichte hinter“—Ich hielt inne und suchte nach Worten. Nichts Passendes oder Brillantes wollte mir einfallen. „Diesem ganzen verdammten Durcheinander erzählst, dann werde ich dich verlassen. Nicht nur für kurze Zeit sonder für immer, wohlgemerkt. Ich…ich kann das wirklich nicht mehr ertragen! Und du hast kein Recht dazu, es vor mir geheim zu halten, Gottverdammt! Kein Recht! Nicht vor jemandem, der dich mehr liebt als jeden anderen. Jeden anderen. Ist dir klar, was ich dir gerade gestehe? Ich liebe dich mehr als mein Kind, meine verstorbene Frau, meine arme Mutter, die mich innig liebte. Dich, Holmes!“ Meine Lungen standen in Flammen, als ich ihm all das völlig aus dem Stehgreif und in einem Atemzug entgegengeschleudert hatte. Keuchend ließ ich mich langsam zurück auf das Bett sinken, das unter meinem Gewicht ächzte. Ich wünschte mir verzweifelt etwas zu trinken.
 

Holmes erhob sich, während er seine Hände methodisch nah vor seiner Brust rieb. „Ich weiß“, flüsterte er. „Ich weiß, du tust es, nicht wahr? Ich weiß, dass du es tust. Oh, Watson…“
 

„Bitte. Komm und setz dich zu mir.“
 

Nach einem Augenblick des Zögerns tat er es, nachdem er zuerst in seine Tasche gegriffen und mir seinen Flachmann gereicht hatte. „Ich will deine Vergebung nicht“, sagte der Mann, die Augen starr auf sein Spiegelbild auf dem Stahlbehälter gerichtet. „Zumindest, werde ich nicht darum bitten.“
 

„Und ich biete sie dir auch nicht an. Ich will eine Erklärung. Nein, offen gesagt, Holmes, ich verlange eine Erklärung.“
 

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Warum verlässt du diesen grauenvollen Ort nicht, Doktor? Das ist es, was ich tun würde, wenn ich an deiner Stelle wäre. Kehre nach London zurück, nimm den Jungen und befreie dich für immer von meiner Widerwärtigkeit und Verkommenheit. Du hast es angedroht. Warum führst du es nicht aus?“
 

„Wünscht du wirklich, dass ich das tue?“
 

„Oh, denk doch logisch! Natürlich nicht.“
 

„Dann hast du Glück, dass du nicht an meiner Stelle bist.“ Ich legte meine Hand auf den sehnigen Arm, sanft aber fest genug, um meinen Standpunkt klar zu machen. „Nun, Folgendes wird geschehen: Du wirst mit mir einen Schluck Whiskey trinken. Wir werden hier zusammensitzen – die ganze Nacht falls notwendig. Und du wirst mir von dem Dämon erzählen, von dem dein Verstand besessen ist.“
 

Es gab eine endlose Pause, einen Moment in der er mitten im Blick auf die heulende und sich wiegende Heide draußen vor dem Fenster hinter den Kaminschäften erstarrt war. „Bitte mein Lieber“, sagte ich sanft. „Wenn du mich jemals geliebt hast.“
 

„Liebe spielt dabei keine Rolle. Es ist mehr eine Angelegenheit von Liebe gegen Vertrauen. Und wenn mir eines klar geworden ist, dann dass Liebe leicht ist und Vertrauen schwer.“
 

„Zu verstehen meinst du, oder in die Praxis umzusetzen?“
 

„Beides.“
 

Ich lachte und vergaß für diesen Moment die Schwere von dem, was geschehen war und was immer noch geschah. „Es muss doch sicher umgekehrt sein, Holmes. Schließlich ist Vertrauen einfach genug zu verstehen. Aber wer kann schon wirklich den Begriff der Liebe erklären. Allgemeingültig, meine ich?“
 

Holmes holte Atem, während er den Linien seines Monogramms auf dem Flachmann mit einem leicht zitternden Finger nachfuhr. Er schien es zu studieren. Sah überall hin nur nicht zu mir, vermute ich. „Ich denke nicht, Doktor. Du verwechselst die wörtliche Definition mit der praktischen Bedeutung der beiden. Ich will die Universalität der Liebe nicht anzweifeln. Dieses Problem sei am besten irgendeinem uralten Griechen mit viel zu viel Zeit überlassen. Aber sieh es einmal so: Liebe ist nur ein Wort, erfunden, um die selbstsüchtige Handlung auszudrücken, dass wir von anderen nehmen, was wir brauchen. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder, weil sie ihnen Unsterblichkeit ermöglichen. Liebe zwischen Liebenden ist ein Versprechen zur Erfüllung von physischen Bedürfnissen. Liebe zwischen Freunden ist von intellektueller oder entspannender Natur. Deshalb muss man, um Liebe verstehen zu können, nur unsere eigene Selbstsucht verstehen. Aber Vertrauen ist ganz anders. Vertrauen erfordert Selbstlosigkeit. Es setzt voraus, dass man sein Seele bis zur völligen Nacktheit entblößt und dass man in all seiner Schande dasteht und völlig auf die Güte und das Mitgefühl eines anderen angewiesen ist. Warum tun wir das? Warum riskieren wir es? Ich kann am Morgen sagen, dass ich jemanden liebe und am Abend, dass ich es nicht mehr tue und niemand kann mir das bestätigen oder widerlegen. Aber Vertrauen ist so wirklich wie wir beide, die wir hier sitzen. Es ist unbegreiflich, Watson!“ Er hielt nach dieser leidenschaftlichen Rede inne, packte den mittlerweile größtenteils leeren Flachmann und schüttete die Überreste hinunter bevor er mit sanfterer Stimme hinzufügte: „Mir wäre dein ganzes Vertrauen und nichts von deiner Liebe lieber als deine ganze Liebe und nichts von deinem Vertrauen.“
 

Und während ich versuchte das alles zu verstehen, geschweige denn es mit meinem eigenen Verstand zu akzeptieren, versuchte ich eine Antwort darauf zu finden. Ich denke, bis zu eben jenem Tag hätte ich in meiner unglaublichen Treue für diesen Mann ohne Frage gesagt, dass er mein komplettes und vollkommenes Vertrauen hatte, ohne auch nur darüber nachzudenken. Aber nach dieser Nacht, nachdem ich diese dunkle Seite seiner Seele gesehen hatte, glaubte ich, dass ich es nicht mehr konnte. „Holmes“—begann ich.
 

Seine Augen wandten sich heftig ab, als er wie gewöhnlich wusste, was ich zu sagen versuchte, bevor ich es noch sagen konnte. „Dein Wort, dass du nichts von dem, was ich dir nun enthülle, weitergeben wirst, solange ich auf dieser Erde wandle?“, fragte er, drastisch das Thema wechselnd.
 

„Natürlich. Mein Ehrenwort als dein…“
 

„Ja?“
 

Kurz vergaß ich sowohl Ärger als auch Furcht und erlaubte mir ein Lächeln. „Dein Boswell, natürlich.“
 

Auch wenn er mein Lächeln nicht erwidern konnte, nickte er in dem schweren Schleier der Ernsthaftigkeit, der uns umgab. Und ich biss mir auf die Lippe und lehnte mich zurück, während ich meinen Verstand zur Objektivität bereit machte, denn alles was ich tun wollte, war, ihm zu vergeben, ihm zu sagen, dass ich, was auch immer in seiner Vergangenheit gesehen war, verzeihen würde und ihn dann mit in mein Bett zu nehmen, in der ersten Nacht, da wir einander im Schlaf in den Armen halten konnten ohne die Furcht, entdeckt zu werden. Stattdessen sollte ich der erste und einzige Mensch sein, dem Sherlock Holmes genug vertraute, um ihm schließlich all die fehlenden Stücke seiner erschütterten Vergangenheit zu offenbaren…
 


 

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[1] Für den Fall, dass es irgendjemanden interessiert: Ich habe das Holmeshaus einem echten Haus aus Cornwall namens Lanhydrock House nachempfunden. Es hat das Potential recht unheimlich zu sein.
 

[2] Genesis natürlich, 2:18
 

[3] Eine kleine Anmerkung noch. Ich habe Cornwall als den Ort ausgewählt, an dem Holmes aufgewachsen ist, weil Jeremy Brett es für sehr wahrscheinlich hält, größtenteils wegen der Isolation. Wenn es für ihn gut genug ist, dann ist es auch für mich gut genug.
 

[4] Es ist ironisch gemeint, denn die meisten Leute halten die Einwohner von Cornwall für außergewöhnlich (gast)freundlich.
 

[5] Hamlet 2.2
 

[6] Latein für deduktive Schlussfolgerungen
 

[7] Medea ist, wie von Euripides überliefert, eine Figur aus einer griechischen Tragödie. Um ihren betrogenen Geliebten Jason zu rächen, tötet sie mit ihm zusammen ihre eigenen zwei Kinder.

Wie versprochen kommt das 22. Kapitel nun schon etwas früher als gewöhnlich und bietet endlich den lang ersehnten Blick in Holmes’ Vergangenheit. Wie das vorherige Kapitel gehört es zu meinen Lieblingskapitel und ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
 

Es begann mit mir selbst auf dem Schreibtischsessel und Holmes auf dem Bett. Etwa sechs Fuß physischen Raums trennten uns. Dies würde sich im Laufe der Nacht ändern, aber das ist, wie es begann. Und Sherlock Holmes begann mit der Geschichte seines Lebens an einem Punkt weit vor seiner eigenen Existenz:
 

„Um irgendetwas von meinem eigenen Leben verstehen zu können, muss man zuerst die Umstände kennen, unter denen sich meine Eltern trafen und heirateten. Meine Mutter war französisch, oder zumindest ihre Vorfahren waren es. Du weißt natürlich, dass meine Großmutter eine Vernet war. Nun, sie heiratete in einen anderen Zweig der Familie ein und so waren alle Vorfahren meiner Mutter Vernets. Allerdings fürchtete mein Großvater in einem Heimatland, das gerade erst eine Revolution hinter sich und nun einen neuen Kaiser[1] hatte, um seine eigene Sicherheit und um die seiner Braut und so übersiedelte er mit seiner jungen Frau nach England und schlug sich in den unvermeidlichen Kriegen, die nun begannen, auf die Seite seines neuen Landes, wobei er seine Ansichten öffentlich bekannt machte, um nicht für untreu gehalten zu werden. Als sie nun alle Bande mit Frankreich durchtrennt hatten, begannen sich meine Großeltern sowohl eine Familie als auch Unbekanntheit aufzubauen. Sie hatten schon bald drei Töchter – ihnen allen wurden englische Namen und englische Erziehung gegeben, denn mein Großvater war der Ansicht, dass wenn seine Kinder überleben sollten, dann musste es in einer englischen Welt sein. Alle drei Töchter waren intelligent, aber die älteste und die jüngste dieser jungen Frauen, meine Tanten, waren außerdem noch gesellig und attraktiv. Mein Großvater Vernet erntete für sie viel Lob, sodass gute Ehen mit wohlhabenden Gentlemen geplant wurden.”
 

„Das lässt vermuten, dass deine Mutter die mittlere dieser Töchter gewesen ist?“, unterbrach ich ihn.
 

„Sehr gut, Watson. In der Tat. Vielleicht kannst du, als mittleres Kind, etwas Mitgefühl aufbringen für sie, die weder die Wichtigkeit der Ältesten noch den Einfluss der Jüngsten genoss.“
 

„Vielleicht…“, überlegte ich. Denn auch wenn ich der Liebling meiner Mutter gewesen war, war es mit meinem Vater ganz anders. Ich war zum ersten Mal dankbar, dass ich nur ein Kind hatte und mir das Dilemma der Bevorzugungen, die so offensichtlich den Pfad eines Kindes zum Erwachsenen formten, erspart blieb.
 

Holmes fuhr fort, seine Stimme reich und lebendig wie bei jedem meisterhaften Geschichtenerzähler, trotz der Tatsache, dass es zum ersten Mal sein eigenes Geheimnis war, das er offenbarte und nicht das eines Fremden:
 

„Meine Mutter, Gertrude, war eine einfache Frau, sowohl im Aussehen als auch im Verhalten. Ihr fehlten der Funke und der Charme, die Männer an die Seiten ihrer Schwestern zogen, aber das störte sie nicht. Als Mädchen bevorzugte sie die Einsamkeit, allein mit Büchern und Gärten, stummen Gebeten und Bibelstudien. Auch wenn ihre Eltern regelmäßig die Messe besuchten, waren sie nicht gottesfürchtiger als der durchschnittliche Londoner, Kornische oder auch Pariser. Sie beteten am Abend meistens als Familie und schliefen hin und wieder über einer besonders fesselnden Stelle der Psalme ein. Besonders mein Großvater war gegen den Entschluss seiner Tochter, in ihrer Jugend einem Konvent beizutreten. Er wollte gute Ehen für seine Kinder, wie ich schon sagte, denn er dachte wohl, dadurch würde er endgültig von jeglichen napoleonischen Banden befreit, die ihn immer noch mit seinen Verwandten in Frankreich verbinden mochten. Unglücklicherweise war die einzige Familie, die er finden konnte, eine mittelmäßige Familie aus dem Norden Cornwalls mit dem Namen Holmes.“
 

„Die Holmes’ waren Landjunker; hatten genug Geld, um akzeptiert, aber zu wenig, um bemerkt zu werden. Der Vater meines Vaters trug den Namen Sherringford Holmes und auch wenn ich ihn niemals kennen lernte, weiß ich einiges über ihn. Er war dafür bekannt, ein fleißiger, starker Soldat zu sein, aber trotz seines Dienstes für sein Land gab es viele Gerüchte, dass er Geld machte, indem er die Franzosen während der Napoleonkriege unterstütze. So wie es sein Vater während des Krieges gegen die amerikanischen Kolonien getan hatte. Es ist wirklich ironisch, wenn man darüber nachdenkt. Mein Großvater Vernet wollte nichts mit jenen zu tun haben, die England die Treue brachen und mein Vater, ein Engländer, war so verräterisch wie nur möglich. Er hatte zwei Söhne mit seiner ersten Frau, die alle drei einer Pockenepidemie zum Opfer fielen. Nur drei Monate später heiratete er meine Großmutter und hatte vier weitere Söhne, von denen mein Vater der zweite war. Um das ganze etwas abzukürzen: Ich habe keine Zweifel, dass die Erziehung meines Vaters brutal war, angesichts dessen, was ich über Sherringford Holmes gehört habe und drei der vier Söhne schlugen in den 30ern eine Militärkarriere ein. Mein Vater war einer von jenen Männern, die es in der Hoffnung taten, dass bald ein Krieg ausbrechen würde und auch wenn er ein starker Kommandant war, der rasch durch die Ränge aufstieg und sowohl in Afrika als auch in Asien in kleineren Scharmützeln diente, bekam er niemals seinen größeren Krieg. Die Gelegenheit um sein Temperament völlig zu zeigen. Er verließ sein Regiment ’48, ohne zu wissen, dass wir nur sechs Jahre später den Schrecken von Krim erfahren würden.“
 

„Tausende von Männern starben in jenem Krieg, Holmes. Und keines heldenhaften Todes in einer Schlacht – im Winter von ’54 verhungerten die Männer und erfroren in Sevastopol“—
 

„Zweifellos. Es wird dich also nicht überraschen, zu hören, dass die beiden jüngeren Brüder meines Vaters bei Balaklava – oder kurz danach – getötet wurden. Mein Vater war rasend, dass er seine Gelegenheit verpasst hatte, aber mit einer Ehefrau, zwei Kindern und einem Alter von über vierzig Jahren, wurde ihm sein altes Amt nicht zurückgegeben. Aber um wieder zurück zu der eigentlichen Geschichte zu kommen – Sherringford hatte vor dem Krimkrieg entschieden, dass es für seinen Sohn an der Zeit war, sich mit einer respektablen Ehefrau niederzulassen und der arme, nichts ahnende Großvater Vernet entschied, dass ein Ehevertrag mit A.G. Holmes für Gertrude besser wäre, als das Leben in einem Konvent. Und so“—Er schwenkte eine Hand durch die Luft. „Begann es.“
 

„Eine Ehe, die unter erzwungenen Umständen beginnt, ist nicht unbedingt vorteilhaft“, sagte ich.
 

„Du hast eine große Neigung zum Offensichtlichen, mein lieber Watson. Sherringford kaufte dem Paar eben dieses Anwesen in Cornwall und es scheint, sie wirkten zunächst wie eine normale Familie. Sie traten der Kirche in Wadebridge bei, meine Mutter unternahm die zweistündige Fahrt zweimal die Woche und wurde einer ihrer wichtigsten Patronen. Mein Vater dagegen, der am Tage des Herrn nur wenig Anteilnahme zeigte, zog es vor, zu Hause zu bleiben bei seiner Sammlung von Militärantiquitäten, die auch die 40. leichte Kavallerie seiner Tage beim Militär einschloss. Sie blieben in seinem Raucherzimmer, erinnerten sich an den Krieg, tranken große Mengen an Scotch und stolperten gelegentlich durch das Moor, um auf alles zu schießen, was sich bewegte. Ob meine Mutter das beunruhigte oder ob sie es einfach ignorierte, kann ich nicht sagen, aber irgendwie gelang es ihnen in relativ kurzer Zeit zwei Kinder zu bekommen. Meine Mutter beschäftigte eine älteres Kindermädchen, das zu schwach war, gegen das Verlangen meiner Mutter nach religiöser Vollkommenheit anzukämpfen und ich zweifle nicht, dass meine Schwester sich mehr um sie kümmerte als umgekehrt.“
 

„Und dann bekamen sie einen zweiten Sohn…“
 

Er sah mich an und während er sich räusperte, schob er sich langsam näher zu mir. „Ja…der Sohn, der nicht hätte sein sollen.“
 

„Wie, Holmes?“
 

„Mein Vater, Watson…König Claudius…sein Vergehn war arg und stank zum Himmel[2].“
 

„Welche Geschichte wollen wir heute Abend hören, Kinder?“
 

„Ich würde gerne über die Geburt des Jesuskindes hören, Mama“, sagte Philippa. „Ich mag die Stelle mit dem Engel Gabriel und den Hirten. Es ist so schön.“
 

„Ich will Daniel! In der Löwenhöhle!“
 

„Oh, nicht schon wieder, Mycroft! Das ist das Einzige, was du überhaupt hören willst.“
 

„Das ist schon in Ordnung, Tochter“, sagte Gertrude mit einem leicht nachsichtigen Blick. „Wir werden beide hören.“
 

„Darf ich lesen, Mama? Ich lese so gerne vor.“
 

„Natürlich. Schlag Seite“—
 

Philippa sprang so plötzlich auf, dass sie die Bibel fallen ließ, als die Tür gegen den Rahmen schlug und der Colonel hereintaumelte. „Was zur Hölle geht hier vor?“ Seine rotumrandeten Augen fielen auf seine Frau. In Phillys Magen revoltierte irgendetwas.
 

„Achten Sie um Himmelswillen auf das, was Sie sagen, Sir!“ Gertrude stand langsam auf, ein wenig unsicher, aber selbstbewusst genug. Als er auf seine Ehefrau zuging, konnte Philly den Alkohol riechen, der einem die Kehle zuschnürte, und ihr Magen drehte sich noch weiter um. Sie wollte etwas sagen, aber sie wusste es besser. Stattdessen saß sie vollkommen still auf ihrem Stuhl und versuchte nicht zu atmen. Wenn sie still genug dasaß, konnte sie vielleicht unsichtbar sein.
 

„Aufpassen, was ich sage, eh, Frau?“
 

„Wenn es Ihnen gefällt dieses Haus rund um jene Rüpel, die es besuchen, mit geistigem und körperlichem Schmutz zu füllen, dann ist das Ihre Sache. Aber Sie werden nicht so vor meinen Kindern sprechen!“
 

„Unverschämte Schlampe!“ Die Hand des Colonel flog durch die Luft.
 

„Papa, nein!“
 

Das Mädchen erkannte in jener Sekunde, was sie getan hatte, als ihr Vaters sich mit zusammengebissenen Zähnen zu ihr umdrehte. Sie hatte Angst – echte Angst – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr Herz begann so laut zu pochen, dass sie nicht mehr hören konnte. Ihre Knie verwandelten sich in schmelzende Butter, aber sie schaffte es nicht, sich zu setzten. „Bitte…“
 

„Raus! Verschwindet jetzt!“, knurrte er.
 

Und plötzlich konnte Philippa sich bewegen. Ohne auch nur zu merken, was sie tat, zerrte sie ihren Bruder so fest an der Hand, dass er beinahe vornüber fiel und rannte aus dem Zimmer. Während sie Mycroft hinter sich herzog, blieb sie nicht stehen, bevor sie nicht im Kinderzimmer war und die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Es dauerte mehrere lange Sekunden, ehe sie auch nur ans Sprechen denken konnte. Oder auch nur ans Atmen.
 

„Philly…“
 

„Psst!“ Sie legte einen Finger auf die Lippen ihres Bruders und presste ein Ohr gegen die Tür. ‚Was tust du, A.G.…hör auf…zimperliches Weib…du denkst, nur Gott ist gut genug für deinen Körper…du wirst dich mir nicht mehr verweigern…hör auf….du tust mir weh…’
 

Das Mädchen drehte sich schnell um und trat von der Tür zurück. Zum ersten Mal bemerkte sie das Kindermädchen, das in der Ecke auf eine Hand gestützt döste und dabei schnaubende Geräusche machte. Sie konnte nicht daran denken, was in dem anderen Zimmer passierte. Sie konnte nicht an ihren Vater denken, der den Verstand verlor, wenn er trank. Sie konnte nicht an den Ausdruck auf seinem Gesicht denken, die rote Blässe, die verkrusteten Lippen und blutunterlaufenen Augen. Sie liebte ihn. Er war ein guter Mann. Ein Held. „Streiten sie?“
 

Philippa zuckte zusammen, bevor sie erkannte, dass es nur Mycroft war. Er blickte sie voller eigener Angst an, der Angst eines Sechsjährigen, der nicht verstehen konnte, was sie – nur drei Jahre älter – verstehen musste. „Ja“, sagte sie ihm, denn sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, die sie fürchtete.
 

„Papa war betrunken.“
 

„Ja.“
 

„Warum?“
 

„Woher soll ich das wissen, Mikey? Weil Papas manchmal betrunken sind, vermute ich.“
 

„Aber warum war er so grob?“
 

Das Mädchen konnte nichts anderes tun, als ihn voller Unschuld anzusehen. Trotz seiner Intelligenz konnte sie in jenem Moment nur seine dunklen Locken, die wässrigen grauen Augen und die pummeligen Wangen sehen. Sie konnte nicht anders als zu denken, dass etwas geschehen war. Etwas, dass nie wieder zurückgegeben werden konnte. „Ich fürchte, ich weiß es nicht, Liebling.“ Und das war alles, was sie sagen würde.
 

Es war mir nicht bewusst gewesen, aber irgendwann während jener Erinnerung, hatte ich mich selbst aus dem harten Schreibtischsessel erhoben und hatte mich neben meinen Freund auf das Bett gesetzt. Meine Hand lag in seiner und wir beide schienen zu schwitzen. Meine Zunge war dick und geschwollen, auch wenn ich schwöre, dass ich etwas sagen wollte. Aber was um Himmelswillen sollte man auf so etwas sagen?
 

„Du verstehst nun. Du verstehst, was mein Vater getan hat. Und…“
 

„Du bist nicht wie er!“, platzte ich plötzlich heraus. „Überhaupt nicht!“
 

„Ich hatte nicht sein sollen, Watson!“ Er starrte mich so finster an, als ob seine Gefühle meine Schuld wären, während er auf die Füße sprang und die Hände in seine Hosentaschen stopfte. „Ich war nicht einmal ein Unfall, das Ergebnis irgendeiner promisken Hure oder eines MillonärsbastardS…wenn ich ein Unfall gewesen wäre, könnte alles erklärt werden…aber wer kann eine Vergewaltigung erklären?“
 

„Aber es ist doch nicht deine Schuld. Und du musst keine Erklärung für alles haben.“ Ich streckte ihm meine Hand entgegen und hoffte gegen besseres Wissen, dass er seinen Verstand für einen Moment beiseite lassen und sie ergreifen könnte.
 

Er sah sie zumindest an. Aber seine Hände blieben, wo sie waren. „Ich fürchte, das muss ich.“
 

Es war seit Wochen ungewöhnlich warm gewesen, aber in der Nacht, als die Wehen begannen, war das Wetter rau und kalt geworden. Der Wind heulte wie die Hunde der Hölle. Und in ihrem Zimmer heulte die Frau mit ihm.
 

„Sie dürfen noch nicht pressen“, sagte die Hebamme, während sie ihre feuchte Handfläche drückte. „Das Kind ist noch nicht bereit.“
 

Gertrude fühlte, wie der Schmerz sie durchbohrte. Er befand sich nicht einmal an einer bestimmten Stelle. Nach zwei Geburten war sie mit diesem Ritual vertraut genug. Sie dachte, sie wüsste, wo der Schmerz sein sollte; wie heftig er sein sollte und vor allem, wie lang er dauern sollte. Die Wehen hatten vor einem ganzen Tag begonnen. 24 lange Stunden. Und das Kind war noch immer nicht bereit. Ein weiterer stechender Schmerz durchstieß ihren ganzen Körper und Gertrude konnte den Schrei nicht unterdrücken. Es war eine Strafe. Es gab keine andere Erklärung dafür. Gott sah die Sünde.
 

Das junge Mädchen saß ihm Kinderzimmer und beobachtete mit ihrem Bruder den Sturm. Oder besser gesagt, sie beobachtete ihn, während der Junge in den Überresten ihres Abendessens herumstocherte und den Eindruck erwecken wollte, er täte es nicht.
 

„Ist es nicht schrecklich, Mikey?“, fragte sie ihn, als ein Blitz die Felder jenseits des Hauses in silberblaues Licht tauchte. „Ich liebe Gewitter. Sie sind so…aufregend und beinahe schon böse.“
 

Mycroft stopfte eine Kleinigkeit in seinen Mund und blickte finster drein. „Es ist doch nur Wetter. Kalt- und Warmfronten und barometrischer Druck. Ich sehe darin nichts Aufregendes. Und nenn mich nicht ‚Mikey’.“
 

„Jetzt sei doch nicht verbittert“, tadelte ihn seine Schwester. „Nur weil Mutter ein weiteres Baby bekommt.“
 

„Ich bin nicht verbittert. Es ist mir egal, wie viele Babys Mama bekommt. Das ist außerdem genau das, was Mütter tun sollten.“ Er war ein sturer Siebenjähriger und brillant, wie es beide Kinder waren. Aber er musste noch lernen, seine Gefühle besser zu verbergen und Philippa, die mehr Zeit mit ihm verbrachte als jeder andere, wusste immer, was er fühlte.
 

„Es ist nicht schlimm, eifersüchtig zu sein, Liebling.“
 

„Ich bin nicht eifersüchtig!“
 

Im Alter von zehn Jahren war Philippa bereits schrecklich erwachsen. Es wurde von ihr erwartet, aber sie wäre es ohnehin gewesen. Mycroft wurde die größte Zeit ihrer Verantwortung überlassen. Das Kindermädchen war alt, immer krank und hätte einen Jungen mit Mycrofts Alter und Listigkeit selbst am Höhepunkt ihrer Fähigkeiten nicht kontrollieren können. Aber Philippa liebte die Verantwortung. Es gab keine anderen Kinder in der Nähe und so freute sie sich auf ein weiteres Geschwisterchen, auf das sie aufpassen und mit dem sie spielen konnte. „Ich hoffe, es wird ein Mädchen“, sagte sie. „Ich hätte so gerne eine Schwester.“
 

„Es ist mir egal, was es wird.“ Mycroft schnappte sich die Überreste des Hühnchens und schaufelte sie in seinen gierigen Mund. „Außerdem helfen Wünsche überhaupt nicht. Die Wissenschaft entscheidet, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.“
 

„Ach wirklich? Würdest du mir dann bitte erklären, wie es funktioniert?“ Philippa lächelte ihn an und er errötete leicht, als er sich abwandte.
 

„Nun…ich weiß nicht genau. Aber es ist Wissenschaft, irgendwie.“
 

„Du denkst, dass alles von der Wissenschaft bestimmt wird. Und du widersprichst mir nur deshalb bei allem, weil du eifersüchtig bist, weil du bald nicht mehr der Jüngste sein wirst.“
 

„Bin ich nicht!“
 

„Ihre Wehen dauern nun schon länger als einen Tag“, flüsterte die Hebamme der Schwester zu. „Sie hält es nicht viel länger durch.“
 

„Hat jemand einen Doktor gerufen?“
 

Sie schüttelte den Kopf. „Keiner könnte durch diesen Sturm kommen. Und es wird nur noch schlimmer, fürchte ich.“
 

Die Schwester war sich nicht sicher, ob sie nun das Wetter oder die Wehen meinte.
 

Gertrude konnte sie nicht länger hören. Die Hebamme war nun schon seit Stunden bei ihr und sie erinnerte sich dunkel, dass die Schwester gekommen war, als die Komplikationen begannen. Wo war der Doktor? War da überhaupt ein Doktor? Warum war sie hier?
 

Warum unterzog sie Gott einer solchen Prüfung?
 

War es, weil sie zugestimmt hatte, zu heiraten, anstatt eine Dienerin Gottes zu werden? Sie hätte sich ihrem Vater gegenüber durchsetzen müssen. Und ihrem Ehemann gegenüber.
 

Dieser Schmerz war die Strafe.
 

Dieses Kind war die Strafe.
 

„Gertrude! Gertrude!“
 

Sie konnte nichts mehr fühlen. Der Schmerz schien zu verfliegen und sie ging mit ihm. Sie war wieder in ihrer Kindheit, der letzten Zeit, da sie wirklich glücklich gewesen war. Sie war im Garten umgeben von Blumen und Bäumen, alle in voller Blüte. Alles war einfach, warm und fröhlich. Die Welt schien ein Ort, wie von Gott geschaffen. Ein Ort, an dem seine Kinder in Frieden leben konnten.
 

Wie hatte sich all das verändert?
 

„Gertrude...versuchen Sie hier bei mir zu bleiben! Es ist fast vorbei…“
 

Holmes hielt inne und zündete zuerst mir und dann sich selbst eine Zigarette an. „Du siehst, ich war von Anfang an verdammt. Meine Mutter sah in mir eine Strafe Gottes. Die Wehen hatten sie nicht nur beinahe umgebracht, sondern ich war auch noch männlich und sie…ich vermute, ihr verzerrter Geist sah diese Dinge als Zeichen an. Tatsächlich, wenn nicht meine Schwester gewesen wäre…“
 

„Was?“, frage ich.
 

„Nun, das alte Kindermädchen starb nur Tage nach meiner Geburt. Sie war uralt und schon seit Monaten krank gewesen. Und während Vater versuchte, eine andere aufzutreiben, war ich völlig Philippas Pflege überlassen. Meine Mutter war immer noch schrecklich krank…sie wäre beinahe gestorben und war nicht in der Verfassung, sich um einen Säugling zu kümmern. Es ist unsicher, was aus mir geworden wäre, wäre sie nicht gewesen.“
 

„Nun, es wäre sicher irgendetwas arrangiert worden…du willst doch nicht andeuten…“
 

„Mein Vater“, unterbrach er mich. „Hatte bereits zwei Kinder einschließlich eines Sohnes, also war ich nicht besonders wichtig. Meine Mutter lag wochenlang auf ihrem Sterbebett. Das Kindermädchen war tot. Es war niemand da, der sich um mich gekümmert hätte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Mitten in der Nacht in die Stadt gebracht…in irgendein Waisenhaus oder zu einer kinderlosen Familie.“
 

„Oh…oh, natürlich.“ Ich sog heftig an meiner Zigarette und machte mir nicht die Mühe, ihm zu erzählen, was ich eigentlich gedacht hatte. Er hatte zwar das Wort ‚tot’ benutzt, aber ich hätte es in einem völlig anderen Kontext erwartet.
 

„Ist er nicht wunderschön, Papa? Er ist das allerschönste Baby, das ich jemals gesehen habe.“
 

„Er sieht aus wie ein Holmes.“ Mit hinter seiner gewaltigen Brust verschränkten Händen betrachtete der Colonel das Baby, das seine Tochter auf dem Arm hielt. „Das tut er ganz bestimmt. Kümmere dich einfach um ihn, Tochter, bis ich ein neues Kindermädchen gefunden habe.“
 

„Ja, Papa. Das tue ich gerne.“
 

„Du hast überhaupt nur ein anderes Baby gesehen“, sagte Mycroft und starrte mürrisch drein. „Mich.“
 

„Ja und ich kann mich noch genau erinnern, Mikey. Du warst ein sehr rotes und sehr dickes Baby. Überhaupt nicht wie er hier.“
 

Und Mycrofts Gesicht wurde wirklich rot vor Wut, aber angesichts seines Vaters hielt er es für das Beste, nichts zu sagen. Der Colonel betrachtete seinen korpulenten anderen Sohn mit dem schweren Blick eines Mannes, der einen untergebenen Offizier betrachtet. „Merk dir die Worte deiner Schwester, Mycroft.“
 

Der Junge senkte den Blick und versuchte, nicht ängstlich zu wirken. „Ja, Sir.“
 

„Papa“, rief Philippa ihm nach, als er das Kinderzimmer verließ. „Wie soll er heißen?“
 

Mycroft war nach einem Soldaten aus dem alten Regiment seines Vaters benannt worden, Leutnant Danforth Mycroft, einem guten Freund von A.G. Holmes, der in Indien an Ruhr gestorben war. Es fiel diesem Mann schwer, an irgendetwas anderes als seine Militärlaufbahn zu denken, daher überraschte es niemanden, dass sein erstgeborener Sohn den Namen eines befreundeten Offiziers trug. Und es würde auch niemanden überraschen, dass es mit diesem Jungen dasselbe sein würde. „Dieser hier“, sagte er. „Soll nach meinem ersten Offizier benannt werden – einem Mann, dem ich meine Existenz und alles verdanke, was ich jemals beim Militär gelernt habe. Sein Name war Sherlock. Colonel William Scott Sherlock. Und daher soll er Sherlock Holmes getauft werden.“
 

Philippa lächelte das Baby an. Es war erst ein paar Stunden alt und schlief wie ein Engel. Er war ein gesundes Kind trotz der Wehen, die er seiner Mutter bereitet hatte und Philippa hatte bereits in jenem Moment, da sie die feuchten Augen, die käsige Haut und die verklebten Haare gesehen hatte, entschieden, dass er ihr gehören würde. Er war ein besonderes Baby und gehörte ihr.
 

„Ich finde es ist ein blöder Name“, sagte Mycroft. „Und er stinkt.“
 

„Ach sei doch still, Mikey. Du wirst ihn aufwecken. Und sei doch bitte nicht so gehässig.“
 

Während er sich mit seiner Ausgabe von Daltons [3] ‚Neuem System der Chemischen Philosophie’ schmollend in eine Ecke verzog, wiegte Philippa den kleinen Sherlock, der zappelte und leise jammerte. „Schscht, mein Kleiner. Deine Philly ist doch da. Ich werde dich beschützen, das verspreche ich. Denn du bist mein kleiner Liebling.“
 

Das Zimmer war nun komplett mit Rauch erfüllt und ich war gezwungen, meine eigene Zigarette auszumachen, um überhaupt noch atmen zu können. Holmes machte nicht die geringsten Anstalten, aufzuhören, besonders seit der Flachmann knochentrocken war. „Meine Mutter brauchte beinahe ein ganzes Jahr, um sich von meiner Geburt zu erholen“, sagte mein Freund, während er im Zimmer auf und ab schritt und Spuren aus Rauch hinter sich herzog. „Auch wenn ich den Grund dafür niemals herausfinden konnte, habe ich den Eindruck, dass sie sich nie mehr völlig erholte. Körperlich. Und ganz sicher nicht geistig. Wenn für meine Mutter und mich noch irgendeine Hoffnung bestanden hatte, fand sie ihr Ende in 26 Stunden heftigen Wehen, gefährlichem Ausmaß von Blutverlust und einem zehn Pfund schwerem Kind, das aus einer zarten Frau herauswollte.“
 

„Es ist ein Wunder, dass ihr beide es überlebt habt. Es gibt nur wenig, was getan werden kann, wenn der Kopf des Kindes einfach zu groß für den Muttermund ist…“
 

„Ja, ich bin mir über den Ablauf im Klaren, Doktor. Und auch über die Todesrate.“
 

„Wie lang blieb deine Erziehung deiner Schwester überlassen?“
 

Das brachte ihn zum Lächeln. „Meine gesamte Kindheit lang, Watson. In den nächsten drei Jahren kamen verschiedene Kindermädchen in dieses Haus, aber meine Mutter fand leicht an jeder etwas auszusetzen und entließ sie wieder. In den ersten vier Jahren meines Lebens war es mir kaum gestattet, das Kinderzimmer zu verlassen, denn meine Schwester musste den Großteil des Tages ihrem eigenen Unterricht nachgehen und ich war noch zu jung, um daran teilzunehmen. Das war allerdings ein verborgener Segen, den wann immer meine Schwester nicht bei mir war, würde ich über diese verwirrende Welt lesen und lernen. Schnell genug lernte ich, dass es nur etwas…Beharrlichkeit erforderte, um Dinge aus erster Hand zu erfahren.“ Er hielt plötzlich inne, die Augen zuckten rasch vor und zurück. „In der Tat war es jene Verschlagenheit, durch die ein Tag seinen Anfang nahm, der schwer auf meinem Gemüt lastet.“
 

Der erst siebenjährige Junge öffnete versuchsweise die sehr schwere Eichentür. Seine Hände schwitzten, aber er wusste, dass es nicht an der sommerlichen Hitzewelle lag, die die Blumen im Garten tötete. Sein Herz pochte geräuschvoll gegen seine Rippen, als er sie hinter ihrem weißen Schreibtisch sitzen sah. Er hörte das knisternde Feuer und roch die Hitze sogar noch bevor, er den Raum betrat.
 

Er wusste, was als nächstes geschehen würde.
 

Sie fing ihn in einen harten, dunklen Blick ein. „Komm herein, Junge.“
 

Er holte einen tiefen Atemzug von erträglicher Luft und trat mit hocherhobenem Kopf ein. Sie würde ihn niemals erniedrigen. Selbst im Alter von sieben Jahren wusste er das. Er wusste, dass sie niemals seinen Willen brechen würde.
 

„Du hast es schon wieder getan, nicht wahr?“, sagte seine Mutter. „Gegen meinen ausdrücklichen Wunsch. Du tust es immer noch.“
 

Er wusste natürlich genau, was sie meinte. Während er sich ein wenig aufrechter hinstellte, starrte er auf das sich bewegende Pendel der Standuhr hinter ihr. Es hörte niemals auf, sich zu bewegen. Er schätzte seine Verlässlichkeit und Beständigkeit.
 

„Nun, was sagst du?“
 

Er sagte nichts.
 

„Antworte mir, unverschämter Welpe!“
 

„Ja, Mutter.“ Er sah sie immer noch nicht an.
 

„‚Ja, Mutter, was?’ Was soll ‚ja’ meinen?“
 

„Das heißt, dass ich es immer noch tue, Ma’m.“
 

Sie streckte die Hand aus, um ihn hart auf die Wange zu schlagen. Es stach für eine Sekunde, aber dann verging es. Sherlock behielt seine Haltung und wieder verharrten seine Augen auf der Uhr. „Hüte deine Zunge oder ich werde sie entfernen müssen. Habe ich mich klar ausgedrückt, Junge?”
 

Und das würde sie auch. Die Heilige Schrift sagte, dass wenn die Rute gespart wurde, das Kind verderben würde. Aber sie sagte nicht, was zu tun war, wenn das Kind bereits verdorben war. Wenn er von dem Tag an, da er auf diesem Planeten ankam, so verdorben war wie ein Brocken verschimmelten Brotes oder ein Becher voll saurer Milch. Und dieser letzte Eintrag im immer wachsenden Strafregister von Gertrude Holmes’ ungewolltem zweiten Sohn war ein kein Neues. Den Verstand zu benutzen, den ihr eigener Gott ihm gegeben hatte. Zu beobachten. Zu deduzieren. Alles zu erkennen, was in diesem Haus geschah. Aber seiner Mutter zufolge war das gleichbedeutend mit Spionieren. Er war eine Petze. Ein Schnüffler.
 

Und viele der Dinge, die dort geschahen, erforderten keine großartigen Deduktionen. Sein Vater, der Colonel (bekannt ausschließlich als ‚der Colonel’) hatte oft Männer im Haus, die unter ihm gedient hatten. Sherlock wusste, dass er seinen schmalen Körper in den Kasten im Raucherzimmer des Colonels zwängen konnte und wenn er ruhig war, würde er nicht gehört werden. Dieser Ort hatte etwas Beruhigendes und Natürliches an sich – die Dunkelheit, das kontrollierte Atmen, die Anspannung, jedes Wort zu verstehen. Sherlock konnte seinen Kopf gegen das kühle Holz lehnen und hören, wie die Männer über all das reden, von dem er wusste, dass ein Junge seines Alters es nicht hören sollte – aber natürlich machte es das nur noch aufregender. Die Schlachten, die Seuchen, die Wunden, die Angst und das Töten…in Wahrheit war es gar nicht, was sie sagen würden, sondern vielmehr, dass er hören konnte, wie sie es sagten. Er hatte die Kontrolle.
 

Aber eines Tages war er zu der Erkenntnis gekommen, dass er in jenem Kasten noch andere Dinge zu riechen gab, als schweren Tabak. Andere Dinge zu sehen, als eine dünne Linie von Licht, die bärtige Männer im mittleren Alter erleuchtete. Andere Dinge zu hören als die ermüdenden Geschichten von Schlachten und lang verlorenen Kameraden. Dieses Mal gehörte die einzige Stimme, die er erkannte, dem Colonel, seinem Vater. Aber da war noch eine andere Stimme. Eine sanfte Stimme, eine Stimme, die über die Vokale glitt, wie Wasser über den Sand und die über eine gewisse Aura der Kultiviertheit verfügte. Aber was sie sagte, was er hörte, tat es ganz und gar nicht.
 

Der kleine Sherlock wusste, was geschah oder zumindest war seine Vorstellung davon genau genug, dass ihm mit einem Mal sehr heiß wurde. Er wusste, dass es schlecht war. Dieses Wissen war genug. Zunächst lehnte er seinen Kopf zurück gegen die Seitenwand seines Versteckes, zu ängstlich, um hinzusehen. Seine Kehle war trocken und zum ersten Mal fühlte er sich in jenem Ort der Macht einfach nur wie in einer Falle. Er wollte ausbrechen, aus jenem Zimmer fliehen, aus jenem Haus, von dem ganzen Anwesen. Er dachte, wenn er nicht mehr aufhörte zu laufen, dass dann vielleicht alles wieder in Ordnung sein würde. Aber das war völlig unlogisch. Er wusste es bereits und es war unmöglich, etwas so Bedeutendes einfach zu vergessen, sobald man es einmal gesehen hatte.
 

Nach 30 Sekunden änderten seine Neugier und die Dunkelheit seine Meinung und er musste durch den Spalt sehen. Der Colonel und eine Frau, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, hatten sich über den Schreibtisch seines Vaters gebeugt. Sherlock mochte seinen Schreibtisch. Er war aus schwerem Mahagoni mit Messingeinlegarbeit gefertigt. Die Randleiste war so gestaltet, dass sie wie ein Seil aussah und die Schnitzerei wand sich auf beiden Seiten hinunter, sodass sie einen perfekten Kreis bildete. Im Zentrum des Kreises war derselbe englische Löwe, der auch den Ring des Colonels zierte – außerdem das Familienwappen. Sherlock mochte die Vollkommenheit des Gegenstandes. Die Art wie die Sonne im Messing reflektiert wurde, die Art wie man mit einem Finger jede Welle der Randleiste verfolgen konnte. Der Art, dass selbst die Zähne des Löwen spitz waren.
 

Das Bein des Colonels bedeckte in jenem Moment den Großteil des Löwen und das Kleid der Frau hing darüber, bedeckte die Zähne der Kreatur. Der Colonel und seine gewaltige Gestalt lagen auf der Frau. Er knurrte und stieß gegen sie. Sherlock schluckte schwer, in der Überzeugung, dass er sie tötete. Es sah sicherlich so aus, als würde er es tun. Aber da war etwas in ihren Schreien, etwas in der Art, wie sie mit ihren Händen durch sein ergrautes Haar fuhr, das in ihm den Eindruck erweckte, als würde sie es genießen. Der Junge beobachtete wie sein Vater einen schrecklichen Laut tief aus seiner Kehle ausstieß und so heftig gegen die Frau stieß, dass sich der Schreibtisch bewegte und dann innehielt, während er heftig genug atmete, um einen Herzanfall nahezulegen.
 

„Oh, A.G.“, sagte die Frau nach mehreren Sekunden. „Ich hasse, dass es so ist.“
 

„Raus. Benutz den Dienstboteneingang.“ Der Colonel richtete seine Hose und die Krawatte und deutete auf den Gang.
 

Falls die Frau gekränkt war, so zeigte sie es nicht. Sie ordnete ihr Kleid und glättet ihr Haar, bevor sie wortlos aus dem Zimmer schlüpfte. Auch der Colonel sagte nichts, aber in jenem Moment, als sei den Raum verließ, rief er ihr nach. Mit schwerem und getrübtem Blick sagte er: „Nächsten Freitag, meine Liebe?“
 

Die Frau lächelte, als ob gerade etwas Unglaubliches geschehen wäre. „Natürlich, A.G.“
 

Der Junge hatte niemals gehört, dass jemand seinen Vater beim Vornamen oder zumindest bei den Initialen gerufen hätte. Jeden, den er beobachtet hatte, nannte ihn entweder ‚Sir’ oder ‚Colonel’. Sogar seine Mutter hatte ihn – die beiden Male, die er gehört hatte, wie sie zu ihm sprach – ‚Ehemann’ genannt. Niemand nannte ihn A.G.
 

Da der Colonel die nächste Stunde und fünfzehn Minuten damit verbrachte, zuerst alle Spuren seines Verbrechens zu beseitigen und danach schreibend an seinem Arbeitstisch zu sitzen, glaubte der Junge in der dunklen Hitze ersticken zu müssen, während er verzweifelt versuchte nicht laut zu atmen, während er mit ganzer Kraft versuchte Quadratwurzeln zu rezitieren, um sich zu beruhigen.
 

Die Mutter wusste es natürlich. Und was wesentlich wichtiger war, sie wusste, dass der Junge es wusste. Sie konnte ihren Ehemann nicht aufhalten. Es gab nichts, was sie gegen ihn tun konnte. Ihn zu konfrontieren, hätte nichts geändert. Sie wusste auch, dass sie von Freunden, Verwandte oder der Kirche nur wenig Mitgefühl erhalten würde. Sie würde nichts verleugnen. Sie würde nicht leugnen, dass sie ihre Pflichten als Ehefrau verweigert hatte. Es war eine Sünde, das wusste sie. Aber was er getan hatte, war sicherlich die größere Sünde.
 

Und nun stand der Sohn des Colonel vor ihr, ähnelte A.G. Holmes so sehr und sie hatte von dem Augenblick der Geburt an begriffen, dass er eine Strafe Gottes war. Er war eine Prüfung ihres wahren Glaubens.
 

Der Junge mochte vermutet haben, dass es diese Mal anders sein würde. Er verfügte selbst in jenem zarten Alter bereits über ein ausgezeichnetes Urteilsvermögen. Die Mutter sah ihn mit einem seltsamen Blick an – nicht mit der gewöhnlichen überlegenen Verachtung, sondern diesmal mit etwas anderem. Der junge Sherlock versuchte es zu benennen, aber es schien keinen Namen dafür zu geben. Es schien mit Neugier verwandt, was überraschend und erschreckend gewesen wäre. Es schien, als würde sie entscheiden, wo sein Grenzen liegen mochten; welche neuen Arten der Qual sie anwenden könnte. Welche neue Befriedigung würde es ihr verschaffen, den Sohn für die Sünden seines Vaters leiden zu lassen.
 

„Heb die Bibel auf“, befahl sie dem Jungen und er gehorchte widerstrebend. Er hatte zu große Angst, als dass er es nicht getan hätte.
 

Er begann bei Kohelet aus keinem anderen Grund, weil es nahe der Mitte war und es auf diese Art leichter war, das Buch zu balancieren. Er war direkt vor dem weißen Schreibtisch, an dem seine Mutter stand und ihn mit kalten Augen anstarrte. Es war genau jener Ort, an dem er vor sieben Jahren und neun Monaten gezeugt worden war, auch wenn er es nicht wusste. Es würde noch Jahre dauern, bis er die grässlichen Umstände seiner Zeugung deduzieren würde. Alles was er in jenem Moment wusste, war dass seine Lungen brannten und dass sein Nacken bereits mit Schweiß überzogen war.
 

„Denn großes Wissen erzeugt großen Kummer und er, der das Wissen vergrößert, vergrößert auch das Leid. Und ich sprach in meinem Herzen: Wohlan, es will…“
 

Er sah nervös auf. Es würde nichts nützen, wenn er so täte, als wäre der Fehler nicht geschehen. Die Mutter überhörte nichts. Er schluckte schwer und vermied sie anzusehen. Er ging einen Schritt näher ans Feuer. Näher zur Hölle hieß das.
 

Die Stunden vergingen und der Junge nutze jede Gelegenheit, die sich ihm bot, um auf die treue alte Uhr zu sehen. Sein Mund war schon bald völlig trocken und den Schatten im Zimmer nach zu schließen, hatte er sowohl Tee als auch das Mittagessen verpasst. Auch das Abendessen würde bald vorüber sein. Es war ungewöhnlich, dass sie ihn so lange festhielt. Normalerweise reichten ein paar Stunden Strafe und er würde rechtzeitig zum Abendessen entlassen. Etwas lief schrecklich falsch.
 

Philippa war seine einzige Hoffnung. Die Mutter mochte ihn die ganze Nacht hier behalten. Oder vielleicht für den Rest seines Lebens.
 

„Höre, oh Himmel, und Erde, leihe mir deine Ohren, denn der HERR spricht zu euch! Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie wandten sich ab von dir…von mir.“ [4]
 

Schweiß rann von seiner Stirn. Er stand nun direkt vor dem Feuer. Er konnte fühlen, dass der Rauch seine Haut reizte und in seinen Lungen brannte. Ein Funke sprang und biss ihn. Und immer noch zwang sie ihn zu lesen. Seine Knie zitterten und der Grund dafür war nicht die Angst.
 

Auf einmal begann sich die Uhr zu drehen und der Raum nahm einen rötlichen Farbton an. Das nächste, an das sich der Junge erinnern konnte, war, dass er schrie und entsetzlich Schmerzen hatte. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein Messer genommen und versucht, seinen Arm abzuschneiden. Als er hinsah, erkannte er, dass sein Ärmel schwarz war und die Haut über dem Ellebogen hellrot und sich darauf bereits Blasen bildeten.
 

„Du Narr!“, sagte die Mutter, während sie die Bibel, deren Umschlag nun angesengt war, vorsichtig auf den weißen Schreibtisch legte. „Kümmerst du dich denn gar nicht um Heiligkeit?“
 

„Sherlock!“ Der Junge sah mit vom Schmerz getrübtem Blick, wie seine Schwester hereinstürzte und neben ihm auf den Boden sank. „Ich hörte Schreie. Was um Himmelswillen…“ Ihr Blick viel auf die Verletzung ihres Bruders und den finsteren Blick ihrer Mutter. „Guter Gott, Mama, was hast du mit ihm gemacht?“
 

„Du solltest aufpassen, wie du mit mir sprichst, Tochter!“
 

„Mama!“, rief Philippa. „Bitte! Er ist nur ein Kind! Er ist dein Kind!“ Sherlock, der immer noch vor Schmerzen stöhnte, sah zu seiner Mutter auf, um zu sehen, ob er irgendeine Anteilnahme erkennen konnte. Irgendein Gefühl. Irgendetwas. Wenn es einen Menschen gab, der sie zur Vernunft bringen konnte, dann war es Philippa. Aber trotz seines zarten Alters wusste der Junge, dass es vergeblich war. Es gab keinerlei Lieb zwischen ihnen und das würde sich auch niemals ändern. Und welche Hoffnung, der Junge auch gehabt haben mochte, dass seine Mutter eines Tages ihren Zorn überwinden, ja ihn vielleicht sogar lieben würde, die war mit ihren nächsten Worten für immer verloren. Höhnisch scheuchte die Frau sie hinaus. „Dies ist das Werk des Herrn, meine Tochter. Ich handle nur als Gefäß für Ihn. Und Er kennt die Wahrheit.“
 

Sie sah Sherlock direkt an, als sie es sagte. Und der glühende Schmerz in seinem Arm wurde stärker.
 

Philippa wusste nicht, was sie sagen sollte. Was für Worte konnten schon existieren, die sie darauf hätte sagen können? „Komm mit, Liebling“, flüsterte sie ihrem Bruder zu. „Ich werde mich um dich kümmern.“
 

Sherlock biss die Zähne zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, während seine Schwester die Verbrennungen auf seinem Oberarm verband. Er wusste, dass der Schmerz abnahm, wenn man in der Lage war, seinen Verstand auf etwas anderes zu konzentrieren. Allerdings war er in jenem Moment nur in der Lage sich auf zwei Dinge zu konzentrieren – seine Mutter und seinen Arm. Er war sich nicht sicher, was mehr schmerzte.
 

„Philly?“, fragte er.
 

„Ja, Liebling?“
 

„Warum hasst mich Mutter?“ Nein, vielleicht war das nicht die richtige Frage. ‚Hass’ war ein zu heuchlerisches Wort. Es implizierte zu viel Gefühl. Aber ihm fiel kein besseres Wort ein.
 

„Sie hasst dich nicht, Liebling…“
 

„Natürlich tut sie das!“
 

„Sherlock, halt deine Arm ruhig!“ Sie seufzte, als sie trotz seiner apathischen Erscheinung den verletzten Blick in den Augen ihres Bruders sah. „Mein Lieber, aber Mama hasst dich doch nicht…“ Sie wusste natürlich, dass sie es sehr wohl tat. Sie war schließlich zehn Jahre alt gewesen und viel zu aufmerksam, als dass sie nicht bemerkt hätte, was zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater geschehen war. Und dem armen Sherlock, dem Ergebnis, wurde alle Schuld zugeschoben. Es war natürlich ungerecht, aber Philippa konnte auch die andere Seite sehen. Ihrer Mutter konnte nur die Sünde des Geschlechts sehen und sah dieses männliche Kind, das seinem Vater so ähnlich sah, natürlich als Strafe an, während ihr Vater natürlich nicht von seiner eigenen Frau zurückgewiesen werden wollte.
 

„Es ist vollkommen offensichtlich, dass sie mich hasst“, sagte Sherlock kalt. „Sie behandelt weder Mycroft noch dich auf dieselbe Art als mich“—
 

„Wie mich.“
 

„Dann eben wie mich…daher ist es logisch, anzunehmen, dass sie einen Grund hat, nur mich zu hassen, aber…verdammt, Philly, warum? Ich kann mir nicht vorstellen warum! Es muss doch sicher einen Grund geben! Alles muss einen Grund haben!“
 

„Beruhige dich, Liebling“, sagte seine Schwester und legte ihre Hand auf seine mittlerweile nasse Wange. „Ich werde es dir erzählen…“
 

„Du weißt es!“
 

„…wenn du älter bist. Nicht jetzt. Also bitte bestehe nicht darauf“—Sie legte ihren Finger auf seine Lippen, in jenem Moment, als er den Mund aufmachte, um zu protestieren. „Denn ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich weiß, wie intelligent du bist und ich bin sehr stolz auf dich, aber es gibt immer noch Dinge, die zu hören, du noch nicht bereit bist. Und das gehört dazu.“
 

Der Junge runzelte die Stirn, hasste sowohl ihre ausweichende Art als auch die Tatsache, dass sie ihm offensichtlich nicht vertraute. Aber er wusste, dass sie auf der ganzen Welt, der einzige Mensch war, der ihn liebte. Und sie war mit Sicherheit der einzige Mensch, den er liebte. Sie war die einzige, der er diese Vergehen verzeihen würde. „Spielst du mir auf deiner Violine vor?“
 

Lächelnd ergriff sie seine Hand. „Es ist mir ein Vergnügen.“
 

„Guter Gott…“, überlegte ich in jener Sekunde, als er abbrach. Die ganze Zeit, während er gesprochen hatte, hatte ich mein Kinn gerieben und es nicht einmal bemerkt, so gefesselt war ich gewesen. Ich hatte versucht, die Handlungen, die Holmes beschrieb, mit dem Bild zu vergleichen, das ich mir basierend auf der Fotografie von jener Frau gemacht hatte und auch wenn es zusammenpasste, war ich trotzdem entsetzt. Meine eigene Mutter war die Verkörperung der liebenden Mutter gewesen, besonders mir gegenüber. „Wie könnte irgendjemand seinem eigenen Kind so etwas antun?“
 

Holmes starrte mich von der Seite an, den Mund leicht geöffnet, so als verstehe er meine Frage nicht. „Ich vermute…sie sah mich nicht als ihr Kind. Ich war das Ergebnis von allem, was in ihrem Leben falsch gelaufen war. Eine erzwungene Ehe, ein verständnisloser Ehemann, ein ungläubiger Thomas…“ Er lächelte, aber ich wusste, es war nur Verdrängung. [5] Selbst für einen Mann, der seit dreißig Jahren lernte seine Gefühle und Emotionen zu unterdrücken, konnte es trotzdem nicht ohne jeden Schmerz geschehen. „Nun, Watson…du kennst nun die Beziehung zwischen Gertrude Holmes und ihrem jüngeren Sohn. Siehst du die Dinge nun klarer?“
 

„Und wie…aber was ist mit deiner Schwester? Was ist mit ihr geschehen?“
 

Er setzte sich langsam wieder neben mich auf das Bett. „Ich bin nicht sicher…vergibt mir, Watson…aber ich bin nicht sicher, ob ich es…noch einmal durchleben will. Mich daran zu erinnern, ist schon schmerzhaft genug, aber es erzählen zu müssen…“
 

„Mach dir keine Sorgen“, sagte ich und legte meine Hand auf seine Wange. „Für eine Nacht hast du mir genug Vertrauen entgegen gebracht.“ Seine Worte hatten meine Aufmerksamkeit völlig gefesselt und in mit der plötzlichen Erkenntnis, dass dies vorerst das Ende war, fühlte ich ebenso plötzlich eine augenblickliche Erschöpfung. Nun da es in nur wenigen Stunden die Ereignisse erfahren hatten, die in vielen Jahren ein Leben oder vielmehr eine ganze Familie geformt hatten, weigerte sich mein Gehirn, noch mehr aufzunehmen. Und wenn schon mein eigener Verstand nichts mehr als Müdigkeit fühlen konnte, wie musste sich dann der Erzähler von all dem fühlen.
 

„Wie spät ist es?“, frage er sanft.
 

„Beinahe vier.“
 

„Dann haben wir immer noch Zeit für ein paar Stunden Rast, denke ich. Wir müssen nicht vor halb acht aufstehen und wenn du es mir nicht übel nimmst, ich bin erschöpft. Wirst hier bei mir bleiben?“
 

Dieses Bett war sogar noch härter als das, auf dem ich die vorherige Nacht verbracht hatte, aber dieses Mal war ich zu müde, um auch nur an Beschwerden oder Protest zu denken. Mit einen Nicken legte ich mein geschundenes Selbst auf die dünne Matratze nieder und nahm das einzige Kissen für mich.
 

Holmes gähnte laut und legte seinen Kopf auf meine Brust, wie es ein kleines Kind bei seiner Mutter tun würde. Dieser Anblick ließ irgendetwas Warmes und Tröstendes in mir aufsteigen. Der zufriedene Ausdruck auf seinem Gesicht wirkt fast schon kindlich. Ich war gezwungen, meinen Arm um ihn zu legen. Meine frühere Wut war nicht vergessen, aber zumindest aufgeschoben. Es könnte die Erschöpfung gewesen sein, oder die Wärme seines Körpers an meinem, oder die Sicherheit, die ich jetzt in meiner eigenen Kindheit erkannte, aber ich war weder geistig noch körperlich in der Lage, darüber wütend zu sein, was geschehen war.
 

Er hatte sein Hemd nicht wieder zugeknöpft und für einen Augenblick beobachtete ich seine bloße Brust, die sich auf und ab bewegte. Mit einer plötzlichen Bewegung entblößte ich seinen Arm und selbst in der beinah völligen Dunkelheit sah ich zum ersten Mal eine zusammengezogene Narbe von beträchtlicher Länge auf seinem Oberarm, die mir nie zuvor aufgefallen war. Die Verbrennung musste wahrhaftig ernst gewesen sein und Holmes hatte großes Glück gehabt, nicht noch schwerer verletzt worden zu sein.
 

„Was denkst du, Watson?“
 

Ich wusste sofort, was er meinte. „Ich denke, dass ich dich bemitleiden würde, wenn ich nicht wüsste, dass du es überstehen würdest.“
 

„Ah! Dann bin ich froh. Es ist nicht dein Mitleid, das ich begehre.“
 

Es war natürlich meine Vergebung, die er mehr als alles andere begehrte. Mein vollkommenes Vertrauen war, was er außerdem noch brauchte. Ich war mich nicht sicher, ob ich ihm diese beiden Dinge jemals wieder völlig gewähren konnte. Die Zeit würde es zeigen, vermutete ich.
 

„Ich weiß, was du begehrst, mein Lieber. Aber…es kann noch nicht sein. Du hast meine Liebe und meine Treue. Wird das ausreichen?“
 

Gott, in jenem Moment wollte ich ihm alles geben, was er von mir wollte. Einem großartigen Mann, der schließlich Schwäche zeigt, kann man kaum widerstehen. Meine Augen hoben sich zu dem Bild das Den Verrat zeigte und in der Dunkelheit leuchteten die Umrisse des brennenden Luzifers, als wären sie lebendig und zwangen mich, wegzusehen. „Wie hast du es nur als Kind geschafft, mit diesem Ding zu leben? Es ist schon für einen Erwachsenen beunruhigend genug…“
 

„Sieh es…einfach nicht an“, sagte er, nun beinahe eingeschlafen. Wenn so etwas wie die Hölle tatsächlich existierte, oder zumindest an einem anderen Ort als der Erde existierte (Holmes bestand darauf, dass die einzige Hölle das West End von London an einem schlechten Tag war), dann konnte ich nicht beschwören, dass ich in meinem sündigen, menschlichen Zustand nicht in der ewigen Verdammnis enden wurde. Ich wusste, dass meine Liebe zu Holmes oder zumindest meine Taten ausreichen würden, um eine Seele ins Fegefeuer zu schicken, aber das schien nicht genug, um mich aufzuhalten. Sollte das Schicksal mächtiger sein als die Sünde…nun, ich setzte meine ganzen Hoffnungen auf jenen Glauben.
 

Dann küsste ich ihn, aber sanft nicht fest genug, um ihn zu wecken. Wir beide schliefen daraufhin den Schlaf von Engeln, zur Abwechslung einmal friedlich, Gott vergebe uns, für ein paar Stunden war ich in der Lage all das zu vergessen, was meine Seele betrübte und nur das Gute zu sehen.
 


 

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[1] Napoleon natürlich, der sich 1805 selbst zum Kaiser krönte.
 

[2] Eigentlich ‚Oh, mein Vergehen war arg, es stank zum Himmel.’ Schon wieder Hamlet, 3.3.36.
 

[3] John Dalton (1766-1844) ist einer der Gründer der modernen Wissenschaft und Chemie. Holmes wäre zweifellos ein großer Fan gewesen.
 

[4] Jesaja 1:2
 

[5] Der Ausdruck „Schutzmechanismus“ war noch nicht gebräuchlich (1913 oder so), aber das ist es, was ich…äh, Watson wirklich meint.

Ich erwachte am nächsten Morgen, als die Sonne noch kaum aufgegangen war. Ein rötliches Licht lag schwer auf meinen Augenlidern und ein warmes Gefühl ließ mich leicht schwitzen. Mein Arm hatte schon seit langem jegliches Gefühl verloren, ebenso wie die linke Seite meiner Brust. Ich wusste dann, wie es sich anfühlte, eine Nacht lang als Kissen gebraucht zu werden.
 

Holmes schlief immer noch und auch wenn es noch früh war und ich weit weniger Schlaf bekommen hatte, als ich gehofft hatte, wusste ich, dass es in dieser Nacht keinen mehr für mich geben würde. Der gestrige war ein Tag, der sich für immer in meine Erinnerung gebrannt haben würde. Ich hoffte, dass dieser Tag die Bürde des letzten etwas erleichtern würde.
 

Ich ließ meinen Freund dort, wo er lag und kroch in meine eigene Kammer, in der ich angeblich meine Nacht verbracht haben sollte. Ich hörte unter mir das Klappern und Plaudern von Menschen, sodass ich wusste, dass ich nicht als Erster aufgestanden war, aber aus Mycrofts Zimmer drang kein Laut, also vermutete ich, dass er nichts wusste, als das, was er glauben sollte. Das Haus selbst war kühl und friedlich, scheinbar ahnungslos, dass es heute einen Toten beherbergen sollte. Ihm fehlten die langen Schatten und die dunklen Ecken des Abends, die es so viel mehr verwunschen wirken ließen. Doch mit dem Wissen über seine Geschichte, das ich nun besaß, schien es mir seltsam, dass es nicht verwunschener wirkte als zuvor.
 

Als erstes bemerkte ich in meinem Zimmer, dass mein schwarzer Anzug aus Kammgarnstoff auf das Bett gelegt worden war. Da ich nicht einmal meine eigene Tasche gepackt hatte, (Holmes hatte das für mich übernommen), war mir auch noch nicht der Gedanke gekommen, dass ich, wenn ich es selbst getan hätte, mit meinem grauen Reiseanzug aus Tweedstoff auf einem Begräbnis recht fehl am Platz gewirkt hätte. Ich lächelte gegen meinen Willen, während ich mir ein Bad einließ. Ich war mir nicht sicher, was genau ich tun sollte. Mich selbst im siedenden Wasser zu schrubben, schien ein Anfang, aber weiter konnte ich nicht denken. Ich hatte so viel über das nachzudenken, was ich nun wusste und über die vielen Dinge, die ich immer noch nicht wusste. Der Morgen war ein Paradoxon.
 

Ich hatte vermutet, dass Haus würde in den frühen Rot- und Orangetönen des kornischen Morgens anders aussehen. Obwohl es Oktober und in London der Winter bereits hereingebrochen war, schien der Morgen hier eher wie Frühherbst. Die Luft war klar und rein, der Wind pfiff über die Heide und meine immer noch feuchte Haut. Die Moorgräser wiegten sich in der Brise und ich konnte sogar die reizbaren Rufe der Kornischen Krähe hören. Alles hätte ich leicht als neu und unbefleckt empfinden können, wenn ich es mir nur gestattet hätte.
 

Nicht ganz sicher, wohin ich gehen sollte, aber in dem Gefühl, so viel von diesem Morgen einsaugen zu wollen, wie nur möglich, begann ich den von Ulmen gesäumten Pfad genau rechtzeitig hinunter zu gehen, um eine Stimme hinter mir zu hören.
 

„Hallo, Dr. Watson!“
 

Zu meiner Überraschung war es Mycroft Holmes. Seine massige Gestalt schloss für einen so großen Mann recht schnell zu mir auf und ich versuchte mich von meiner Überraschung zu erholen, ihn aus dem Bett und dem Haus und bei so etwas Ähnlichem wie körperlicher Ertüchtigung zu sehen. Seinem Bruder zufolge waren ihm solche Prinzipien aufs Höchste zuwider. Aber ohne irgendwelche Fragen wünschte ich ihm einen guten Morgen und hielt an, um auf ihn zu warten.
 

„Sie sind zeitiger auf, als ich es erwartete hätte“, sagte der Mann, als er mich erreicht hatte. „Ich schließe also, dass Sie meinem Rat gefolgt sind und meinen Bruder überzeugt haben, Ihnen von ihm und unserer Mutter zu erzählen.“
 

„Oh…ja…ziemlich. Woher wussten Sie das?“
 

Mycroft lächelte. Es war ein sehr vertrauter Gesichtsausdruck. „Kommen Sie, gehen Sie ein Stückchen mit mir, Doktor.“ Er deutete den Weg hinunter und klopfte mir heftig auf den Rücken. „Er muss offensichtlich zurückgekommen sein, wie ich es Ihnen versichert hatten, denn ansonsten hätten Sie mich augenblicklich gebeten, Ihnen bei der Suche nach ihm zu helfen. Was hat Sherlock Ihnen erzählt?“
 

„Die Wahrheit“, sagte ich, ohne wirklich darüber nachzudenken, was das bedeutete. War es die Wahrheit? Wenn Mycroft es mir erzählt hätte, hätte es dann denselben Effekt gehabt? Oder war es ersonnen, um mein Mitgefühl zu erschleichen…besonders angesichts der Tatsache, dass er mein Mitgefühl zu jener Zeit sicherlich gebraucht hatte? Aber auch wenn ich fürchtete, dass ich immer noch dabei war, herauszufinden, wozu er fähig war – sowohl im Guten wie im Schlechten – musste ich mir eingestehen, dass sicherlich keine solche Kindheit erdichten würde. „Ich kann nun verstehen, warum ihm der Tod euerer Mutter keinen Schmerz bereitete. Warum niemand einschritt, um sie aufzuhalten, kann ich allerdings nicht verstehen.“
 

Mycroft schnaubte. „Ich sehe nun, dass genau das eingetreten ist, was ich vorhergesehen habe. Manipulation war schon immer die größte Stärke meines Bruders.“
 

Ich blieb augenblicklich stehen. „Wie bitte?“, sagte ich zu ihm. „Wollen Sie damit andeuten, dass er mich manipuliert? Ich sage Ihnen, dass das wirklich ungerecht von Ihnen ist!“
 

„Oh, kommen Sie, Dr. Watson! Sie mögen denken, dass Sie das Monopol auf meinen Bruder besitzen, aber Sie dürfen niemals vergessen, dass ich ihn schon weit länger kenne! Ich weiß, dass seine Lebensart – in allen Bereichen seines Lebens – sehr narzisstisch ist. Er vergisst, dass es noch andere gibt, die Bedürfnisse haben, andere die dieser Welt dienen, sogar andere, die leiden!“
 

„Ich würde sagen, Sir, dass egal welchen Schmerz Sie über den Tod eurer Mutter empfinden, dieser nicht einmal annähernde an den Schmerz heranreicht, den er momentan empfindet und seit dem Tag empfunden hat, als er geboren wurde!“
 

Sein Gesicht begann jene Farbe anzunehmen, an der ich mich noch vor wenigen Momenten erfreut hatte. „Und ich will, dass Sie wissen, Sir, dass es, auch wenn ich das Verhalten meiner Mutter meinem Bruder gegenüber nicht billige oder ich den gewaltigen Schmerz unterschlagen will, den Philippas Tod erzeugte, völlig ungerecht ist, dass Sie auch nur andeuten, er wäre der Einzige, der darunter leidet!“
 

„Wovon in Gottes Namen sprechen Sie überhaupt?“
 

Er hielt inne und sah mir mich mit einem Blick an, der auf misstönende Art unerträglich war. „Es war nicht meine Absicht, dies zu meiner Geschichte zu machen“, sagte er in einer langsamen Art der Rede, die sehr un-holmesisch war. „Denn egal welches Vertrauen mein Bruder entwickelt haben mag…nun, das soll keine Beleidigung sein, ich kenne Sie als einen Gentleman, dem man Vertrauen gegenüber bringen kann, aber das ist nicht meine Art. Seit so langer Zeit hängen mein Leben und meine Karriere von Diskretion ab. Aber Jane…liebe, süße Jane…niemand konnte es wissen…“
 

Die herrliche Rose stand rein und vollkommen vor ihm. Mycroft wusste, dass es angesichts seiner selbst mit siebzehn und ihr mit sechzehn noch mehrere Jahre bis zur Hochzeit dauern würde. Er würde zuerst auf die Universität gehen, die Welt durch die Straßen von London kennen lernen und dann würde er entweder nach Cornwall zurückkehren und Grundbesitzer werden oder ein anderes ruhiges Leben aufnehmen. Er und Jane würden mehrere Kinder großziehen und er würde ein Leben ohne Unterbrechungen führen können. Er hatte immer schon angenommen, dass seine Berufung in der Regierung lag – ein niederer Posten zuerst, aber später das Parlament. Sein Verstand war dafür geschaffen.
 

Aber nun nicht mehr. Ihre sanfte Stimme und lilienweiße Haut…er sah sein Leben vor sich ausgebreitet. Es war herrlich.
 

Ein heftiger Stoß in seine Rippen ließ Mycroft zusammenzucken und er drehte sich langsam zurück zum Vikar, wobei er der die raubvogelartige Allwissenheit seiner Mutter zu meiden suchte. In der Kirchenbank der Davies lenkte eine ähnliche Geste die Aufmerksamkeit von Jane Davies ebenfalls zurück auf die Predigt. Mycroft schluckte schwer, aber es war ihm sowohl körperlich als auch geistig unmöglich sich auf das weitschweifige Gerede über Römer, das, so schien es, kein Ende nehmen wollte. Die wunderschöne Gestalt der Einzigen, die er jemals lieben würde, hörte nicht auf, vor seinem geistigen Augen zu erscheinen.
 

Es war unvorstellbar. Mycroft Holmes verliebt? Ich konnte ihn mir nicht einmal als jungen Mann vorstellen und schon gar nicht als einen von der gewöhnlichen lüsternen Sorte. „Ich muss zugeben, dass ich die Verbindung nicht sehen kann“, sagte ich zu ihm. „Was hatte der Tod eurer Schwester…“
 

„Jane war die Schwester von James Davies“, unterbrach er mich. „Dem Ehemann meiner Schwester. Als Philippa starb, beschuldigte meine Mutter…nun, sowohl sie als auch mein Vater gaben Davies die Schuld an ihrem Tod, auch wenn die Unvernunft daran natürlich offensichtlich ist. Es wurde mir verboten, Jane jemals wieder zu sehen oder ich würde alle Familienbande verlieren…das ist etwas, was man mit siebzehn kaum erwägen kann. Wäre ich heute der derselbe…“, er hielt inne und wir setzten unseren Spaziergang fort, dieses Mal in Schweigen, zurück zum Anwesen. Ich hatte das Gefühl, als sollte ich ihm mein Beileid aussprechen, aber ich wusste, dass es, wenn ich es täte, abgedroschen und herablassend klingen würde und so sagte ich nichts. Ebenso wenig wie Mycroft, der mittlerweile ein oder zwei Schritte zurückgefallen schien, zumindest bis wir den Innenhof zwischen den beiden Flügeln erreichten. Plötzlich packte er mich am Arm und streckt die Hand aus.
 

„Sehen sie nach Norden, Doktor. Sehen Sie diesen Erdhügel in der Ferne? Sie können ihn wirklich kaum übersehen, gleich hinter der Heide?“
 

„Ja“—
 

„Er wird Brown Willy genannt. Er ist 1377 Fuß hoch, der höchste Punkt in ganz Cornwall. Als wir noch Kinder waren, erzählte er mir einmal, dass er hinaufsteigen und dort leben wollte, wenn er erwachsen wäre. Er sage immer, dass er zu hohen Orten wollte…wahrscheinlich, um die Welt von oben zu betrachten. Die Ironie dabei ist, dass er es ist, der alle anderen auf Podeste stellt. Alle einschließlich sich selbst. Ich sorge mich bis zum heutigen Tag, wie seine Beurteilung wohl ausfallen wird.“ Er blickte mich ernst an und einen Moment lang fühlte ich mich zurück in der Schule mit einem strengen Meister. „Vergessen Sie das nicht, Sir.“
 

„Sorgen Sie sich über seine Beurteilung über sich selbst oder über Sie?“
 

Mycroft lachte leise, obwohl ich darin nichts Amüsantes erkennen konnte. „Ich sehe die Welt auf eine gänzlich andere Art, als mein Bruder. Die Menschen sind schwarz und weiß, bestehen aus Statistiken und Daten. Sie existieren nur in der Ferne. So überlebe ich. Aber Sherlock ist anders und ist es auch schon immer gewesen. Unglücklicherweise für meinen Bruder sieht er die Menschheit nicht in Grautönen sondern im ganzen Spektrum. Ich schätze, es kann nicht leicht sein, die Welt auf diese Art zu sehen, von Dämonen umgeben – sowohl äußeren als auch inneren. Deshalb ist es wichtig, dass er Sie hat…einen Gefährten, der diese Bürde mit ihm teilt.“
 

„Ja…ich weiß.“
 

„Sie werden darauf Acht geben, dass Sherlock heute Morgen erscheint? Ich zähle auf Sie, Doktor.“
 

„Natürlich.“
 

„Dann muss ich noch Vorbereitungen treffen…danke, dass sie mir zugehört haben, Dr. Watson. Ich will, dass Sie wissen…“, er hielt mit gerunzelter Stirn inne, solche Erklärungen waren diesem Mann ganz offensichtlich nicht sehr vertraut. „Dass ich von Ihnen als einem großartigem Mann denke. Und außerdem, sollten Sie jemals das Bedürfnis haben, das zu erfahren, von dem ich fürchte, dass Sherlock es Ihnen niemals erzählen wird, dann würde ich Ihnen vorschlagen, dass Sie einen gewissen George Lestrade von Scotland Yard aufzusuchen.“
 

„Was…Lestrade! Was meinen Sie damit?“
 

„Nur dass es einen Fall gibt, denn meine Bruder niemals aufnehmen wird…und deshalb denke ich, dass wenn sie mit diesem Lestrade sprechen würden, er Ihnen von gewissem Nutzen sein könnte.“ Er beuge leicht den Kopf und machte sich zum linken Flügel des Anwesens auf. Er schien der Meinung, er hätte etwas aufgeklärt, anstatt alles noch verwirrender zu machen.
 

Der Hochzeitstag war etwas, von dem selbst der zehnjährige Sherlock nicht erwartete hätte, es mit anzusehen. Es geschah im Heim der Braut, wofür er dankbar war. Er glaubte nicht, dass es ihm in einem fremden Haus gelungen wäre, verschiedenen Verwandten auszuweichen.
 

Er würde sich in seinem Zimmer eingeschlossen haben oder noch besser in der Heide mit seinen eigenen Gedanken verschwunden sein, wäre es ihm gestattet worden, aber Gertrude hätte so etwas niemals akzeptiert. Philly hatte sich gewünscht, dass er an der Zeremonie selbst teilnehmen würde, dass er mit ihr als ihr Page den Mittelgang entlanggehen und ihre Schleppe halten würde, aber er hatte sich geweigert. Ihren Verlust von einem harten Holzstuhl aus zu erleiden, war eine Sache, aber selbst and der Gräueltat mitzuwirken, eine ganz andere. Jane Davies stand neben ihr und Mycroft war trotz seiner siebzehn Jahre bereits Trauzeuge.
 

Sie war so wunderschön. An jenem Tag so wunderschön. In einem Kleid aus weißem Organdy und mehreren Yard weißer Spitze; ihre Schleppe zog sich Meilen und Meilen hin und ein dünner Schleier bedeckte ihr Gesicht. In ihren Händen hielt sie ein Bouquet aus orangen Blüten, der einzige Farbklecks auf einer ansonsten schneeweißen, jungfräulichen Göttin. Aber wenn sie eine Göttin war, dann war es keine wunderschöne weiße, die Sherlock sah. Sie war wie Artemis. Die Schutzherrin der Wälder und der Kinder, eine Jägerin mit silbernen Pfeilen. Das war seine Schwester.
 

Sie wiederholten die Schwüre, die sie verbinden würden, solange sie beide lebten und Sherlock wurde mit einem Male übel. Aber er wusste es besser, als mitten in der Zeremonie hinauszustürzen. Der Zorn seiner Mutter würde angesichts einer solchen Beleidigung gewaltig sein, also saß er völlig ruhig auf seinem Stuhl, erstickte äußerlich in seinem Samtanzug und innerlich ebenso. Genauso wie wenn er im Raucherzimmer seines Vaters war. Wenn er sich nur genauso verstecken konnte.
 

Philippa und James waren nun damit fertig, einander ihre Leben zu verschwören und ihr Schleier wurde gelüftet. Der Vikar rief das Paar aus und James lehnte sich mit einem leichten Lächeln zu ihrem Mund.
 

Er konnte es sich nicht vorstellen. Alle Gäste hatten sich erhoben, um Reis auf das neue Paar zu werfen, als sie die Kapelle verließen. Philippa war nicht ganz so glücklich, wie sie aussah. Ihre Handschuhe waren verdreht und ihr Lächeln war nicht aufrichtig. Auch wenn sie eigentlich nicht zu ihrer Familie sehen durfte, während sie und ihr Ehemann das Gebäude verließen, warf sie einen verstohlenen Blick in seine Richtung. [1] Er wusste, dass sie an diesem Morgen abgelenkt gewesen war. Er redete sich selbst ein, dass er nicht wusste, was sie abgelenkt hatte, aber es war eine Lüge. Er wusste, dass sie sich über ihn ärgerte.
 

Es war spät an jenem Nachmittag nach der Zeremonie[2], nach dem Tanzen und dem Essen, als Philippa hinauf ins Zimmer ihres Bruders kam. Mr. und Mrs. James Davies würden sich bald zu ihrem neuen Heim im Osten von London aufmachen, nachdem sie zwei Wochen im Süden von Frankreich verbracht haben würden. Wie die Holmes’ waren die Davies’ nicht vermögend, hatten aber genügend Geld, um gut zu leben. Und es schien, dass ihr einziger Sohn und die einzige Tochter der Holmes’ ein wundervolles Paar sein würden. Nicht einmal Gertrude konnte an jenem Tag Widerspruch einlegen. Keiner würde es wagen, die Zukunft des glücklichen Paares anzufechten. Keiner außer Sherlock.
 

Sie trug immer noch das Kleid. Aber der Junge hatte seinen grässlichen Samtanzug bei der ersten passenden Gelegenheit ausgezogen. Er wollte sie nicht sehen. Das war, was er sich selbst einredete. Aber er wusste, dass sie kommen würde. Es war die offensichtlichste Sache auf der ganzen Welt.
 

„Du hast mich gemieden“, sagte sie, nachdem sie sich wortlos neben ihm auf das Bett gesetzt hatte. „Wir haben seit Tagen nicht mehr gesprochen…oder ist es schon länger? Seit die Verlobung bekannt gegeben wurde? Ich kann mich kaum noch erinnern.“
 

„Du übertreibst. Wir haben miteinander gesprochen.“
 

„Nicht so wie früher…bitte, Sherlock.“
 

„Nein!“ Er sprang auf die Füße und floh ans Fenster. Sie würde seinen Ärger dazu bringen, zu verfliegen. Und er wollte nicht, dass sein Ärger verflog. Er hielt ihn am Laufen. Er würde ihn während dieser Katastrophe aufrecht halten.
 

„Liebling…“
 

„Nein! Ich verstehe schon.“ Das tat er natürlich nicht, aber es war eine einfache Lüge. „Es ist das, was von dir erwartet wird, nicht wahr? Zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ich weiß, dass das die Aufgabe einer Frau ist. Und…du bist nun eine Frau…also wird von dir erwartet, dass du heiratest. Es ist absolut logisch.“
 

Ihre Hand war nun auf seiner Schulter. Sie bewegte sich lautlos, so wie er. Er hatte sie bis zu dieser Sekunde wirklich nicht bemerkt. Es war das erste Mal, dass der Junge darüber nachdachte, wie ähnlich sich die beiden waren. Im Stillen verglich er oft sich selbst mit Mycroft. Das machte irgendwie mehr Sinn. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass seine Schwester – ein Mädchen – irgendetwas mit ihm gemeinsam haben würde. „Nur weil etwas logisch ist, musst du es nicht tun, Liebling. Es ist in Ordnung, wenn du traurig bist.“
 

„Blödsinn!“
 

„Sherlock!“
 

Er konnte sich nicht umdrehen, denn er hatte Angst, dass er, wenn sie weinen sollte, alle vorgegebene Logik direkt aus dem Fenster werfen würde. Die eigenen Gefühle zu beherrschen, war lebenswichtig, um erfolgreich zu sein. John Locke hatte gesagt, dass die Vernunft bei allem der Führer sein musste. Gefühle führten zu Verrat und Verrat führte zu dem, war er in eben jenem Moment fühlte.
 

„Lass mich einfach in Ruhe, Philly“, sagte Sherlock schließlich. „Verschwinde mit Davies, und schöne Erlösung.“
 

„Du meinst das nicht so. Ich weiß, dass du das nicht so meinst.“
 

„Das tue ich sehr wohl!“ Er starrte sie finster an, aber konnte das Blei fühlen, das in seinen Magen kroch. „Ich bin kein kleines Kind mehr! Ich brauche dich nicht! Du kannst verschwinden und deinen eigenen Kinder haben!“
 

„Mein kleiner Liebling…“ Sie versuchte ihn zu umarmen, aber es war vorbei. Das würde es nicht mehr geben. Nie wieder. Vielleicht würde er sich entschuldigen oder vielleicht würde sie es tun, dafür, dass sie ihn verlassen hatte. Aber Sherlock wusste, dass sie niemals mehr die Gleichen sein würden. Sowohl Bruder als auch Schwester wussten es.
 

„Ich hoffe, du wirst nach London kommen und mich besuchen, Sherlock“, sagte Philippa mit einer Stimme, die nicht ihre eigene war. „Wir werden schon in zwei Wochen zurück sein, aber ich werde begierig sein, dich zu sehen.“
 

„Vielleicht.“
 

Sie ging leise zur Tür. „Auf Wiedersehen, Liebling.“ Sie schloss sich hinter ihr.
 

Und zum ersten der zwei Male in seinem Leben brach Sherlock völlig zusammen.
 


 

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[1] Eine Tradition bezüglich Pech aus dem viktorianischen England.
 

[2] Vom Gesetz her musste bis 1880 Hochzeiten in England vor zwölf Uhr Mittag geschlossen werden. Ein Beispiel davon finden wir in Ein Skandal in Böhmen mit Irene Adler und Godfrey Norton.

Als ich in mein Zimmer im Holmesanwesen zurückkehrte, war ich völlig verwirrt. Meine Unterhaltung mit Mycroft war schon verblüffend genug gewesen, aber nun, da dem Ganzen auch noch Lestrade hinzugefügt worden war, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich denken sollte. Lestrade wusste etwas, etwas über Sherlock, etwas, das seinem Bruder zufolge irgendetwas mit einem Fall zu tun hatte, den er niemals aufnehmen würde. Auch wenn es stimmte, dass Lestrade Holmes tatsächlich schon länger kannte als ich selbst, konnte ich mir nicht vorstellen, was das sein sollte.
 

Ich war mittlerweile an dem Punkt, Holmes mit meiner Verwirrung zu konfrontieren, als ich erkannte, dass ich keine Ahnung hatte, wo er war. Er war nicht in meinem Zimmer und auch nicht mehr in dem Zimmer, in dem wir die Nacht verbracht hatten. Ich verbrachte eine ausnehmend ungemütliche Stunde damit, das ausgedehnte Haus zu durchsuchen, aber es nütze nichts. Schließlich befragte ich die Diener – dieselbe mürrisch dreinblickende Köchin vom letzten Abend und einen unbeständig wirkenden Angestellten, ob sie ihn gesehen hatten. Sie hatten.
 

„Er sagte nur, dass er das Pferd ausleihen wollte, Sir“, sagte der Kerl. „Is’ kein wirklich gutes Tier, aber ich hab’ ihm gesagt, dass es ihn nach Wadebridge und zurück bringen würde.“
 

„Er wollte nach Wadebridge?“
 

„Ich nehme es an, Sir.“
 

Ich konnte mir nicht vorstellen, was um Himmelswillen er dort wollte, besonders an einem Tag wie diesem. Wenn ich überhaupt etwas sicher wusste, dann dass er sich danach sehnte, dass all das endlich vorüber sein würde. Als er als Kind gegangen war, hatte er nicht die Absicht gehabt, jemals zurückzukommen. So viel war völlig klar gewesen. Es war das Einzige, was klar gewesen war.
 

Er war immer noch nicht zurückgekehrt, als der Leichenwagen schließlich am Haus ankam. Ich sah nicht zu, wie der Sarg in dem Glashaus platziert wurde, aber es war klar, dass Mycroft nur bescheidene Ausgaben aufgewandt hatte (zweifellos auf den Wunsch der Verstorbenen). Nur ein Pferd mit den traditionellen schwarzen Straußenfedern zog den Wagen und es gab nur zwei weitere für die Trauergäste. Mir wurde ein schwarzes Band für meinen Zylinder gegeben und ich versuchte, nicht fehl am Platz zu wirken, als wir still zur nächsten Kapelle fuhren. Einmal sah Mycroft mich an, als wollte er etwas sagen, aber er tat es nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er erkannt hatte, dass ich nicht wusste, wo sein Bruder war.
 

Der Gottesdienst war kurz und es sprach niemand außer jenem einen verhutzelten alten Vikar, den man kaum verstehen konnte. Die Kapelle war tödlich kalt und ich wünschte mir nur, dass es endlich vorbei sein würde, damit ich diesen gottverdammten Ort verlassen konnte.
 

Das Begräbnis war für hinter der Kapelle vorgesehen. Das überraschte mich nicht. Mycroft als der Hauptleidtragenden folgte dem Sarg feierlich mit gefalteten Händen, aber zeigte kaum Emotionen. Es waren nicht viele andere da und niemand, denn ich mit Sicherheit einordnen konnte. Ein paar ältere Damen, die irgendwelche Verwandten zu sein schienen, ein paar neugierige Einheimische vielleicht, der uralte Vikar und ein paar andere Gemeindemitglieder – vielleicht. Sie alle waren von fortgeschrittenem Alter, was mir seltsam vorkam, auch wenn ich nicht genau sagen kann warum. Vielleicht war es, weil ich mir selbst ohne Holmes so fehl am Platz vorkam. Ich hatte die Verstorbene noch nicht einmal gekannt, sah man von Holmes’ Geschichte ab und von dem, was ich darin gehört hatte, würde es von mir keine Trauer geben. Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich über ihren Tod nicht betrübt war. Ich denke, es ist gerecht, zu sagen, dass sie für das abscheuliche Verhalten ihrem Sohn gegenüber ihr Leben schon lange genug genossen hatte.
 

Der Vikar führte uns zu einem Friedhof hinter der Kapelle, einem alten Friedhof mit Gräbern so antik, dass die Grabsteine oft unlesbar und schief waren, bedeckt mit den braunen und grünen Unkraut vieler Jahre. Die letzten Gebete begannen, während ich mit gesenktem Kopf neben Mycroft stand und versuchte, ebenso sachlich wie er auszusehen, aber mein Verstand konnte nicht aufhören, zu überlegen, wo sein Bruder war. Ich konnte nicht anders, als mich aus den Augenwinkeln umzublicken, in dem Gedanken, dass er jeden Moment auftauchen könnte. Er tat es nicht. Die Gebete endeten und sobald die Damen gegangen waren, nahmen zwei kräftige Kerle ihre Spaten auf, um den Eichensarg mit Erde zu bedecken.[1] Mycroft seufzte tief, aber ich konnte nicht sagen, war es nun Trauer oder Erleichterung darüber, dass es nun vorbei war. Ich hätte ihm beinahe meine Hand auf die Schulter gelegt, aber besann mich letzten Endes doch anders. Er war nicht sein Bruder. Ich hatte bereits alle Schwächen gesehen, die ich an diesem Holmes sehen würde.
 

Das Begräbnis war somit beendet und die Freund und Verwandten zerstreuten sich langsam. Ein paar sprachen mit leiser Stimme zu Mycroft, aber er tat wenig mehr, als zu nicken und sich mit grimmigem Gesicht umzusehen. Ich wage zu sagen, dass ich wusste, woran er dachte. Er würde ziemlich wütend auf seinen Bruder sein, sollte dieser jemals die Absicht haben, zu erscheinen.
 

Unsicher, was von mir erwartet wurde, wanderte ich auf dem Friedhof umher, dessen Namen und Daten mich irgendwie faszinierten. 200 Jahre Geschichte oder mehr lagen hier, vergessen, zu Trümmern herabgesetzt. Es war schwer, sich vorzustellen, dass sie alle vor langer Zeit menschliche Wesen mit Familien, Leben, Hoffnungen und Träumen gewesen waren. Da war die Lammstatue eines kleinen Mädchens – nur vier Jahre alt, ein Opfer von Typhus oder Cholera, würde ich sagen, denn beide gingen in dieser Gegend um. Neben ihr lag eine ganze Familie – Vater, Mutter und drei Kinder, keines von ihnen älter als zehn – alle in den 20ern verstorben und unter demselben Grabstein beigesetzt. Dies betrübte mich umso mehr, da mir der Gedanken an meine eigene Familie, die zwischen Kent und London verstreut lag, sofort in den Sinn kam. Holmes war alles, was ich noch hatte. Holmes und Josh. Vielleicht war das der Grund, warum ich so wütend auf ihn war und ihm gleichzeitig doch nicht wütend sein konnte.
 

Schließlich sah ich ihn, von allen Orten ausgerechnet am Grab seiner Mutter. Zuerst war ich nichts als wütend, weil ich Mycroft versprochen hatte, seinen Bruder herzubringen und er einfach spurlos verschwunden war. Aber bevor ich mit rotem Kopf und beißender Zunge hinübertrotten konnte, sah ich den älteren Holmes neben ihn schlenderte. Ich hielt es nun unhöflich, sie zu unterbrechen und blieb deshalb wo ich war – größtenteils hinter einer großen Engelsstatue verborgen, die reich an Details aus weißem Marmor gemeißelt worden war.
 

„Nun, Bruder“, sagte Mycroft ruhiger, als ich es erwartete hätte. „Du bist also doch noch aufgetaucht. Zu spät, um den Eindruck von Respekt und Höflichkeit zu erwecken, aber nicht zu spät für deine eigenen Absichten.“
 

„Du sprichst, als ob diese weibischen Großtanten, senilen alten Kumpanen und ignoranten kornischen Bauern irgendeinen Einfluss auf deine Karriere hätten. Ich würde meinen, dass jeder Mann im Parlament, ebenso wie jede Frau in Windsor Castle, sich an Mycroft Holmes als den größten Verstand des späten 19. Jahrhunderts erinnern wird.“
 

Der ältere Holmes ließ ein lautes Schnauben verlauten, auch wenn es schwierig zu sagen war, ob es Eitelkeit angesichts dieser übertriebenen Aussage oder einfach nur Ärger war. Beides war gleichermaßen wahrscheinlich.
 

„Du scheinst zu denken, dass meine Befürchtungen unangebracht und übertrieben sind, Sherlock, und nur daher rühren, weil ich mich um meinen eigenen Ruf sorge“—
 

„Ganz im Gegenteil, Bruderherz, ich denke, du sorgst dich außerdem um deine Stelle, deinen Klub und deine Verbindungen zu den erlesensten Londoner Restaurants.“ Er lachte leise und kümmerte sich nicht darum, dass sein Bruder ganz offensichtlich nicht zum Scherzen aufgelegt war.
 

„Behandle mich nicht so herablassend! Ich muss dich wohl daran erinnern, dass ich es gewesen bin, der es akzeptiert, ja sogar ermutigt hat, dass“—
 

Sherlock machte auf einmal eine ruckartige Bewegung nach vorne, wobei seine Hand seinen Bruder an der Schulter packte. Da er mir den Rücken zuwandte, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber sie begannen, sich in leisem Flüstern zu unterhalten. Was auch immer Mycroft hatte sagen wollen, blieb unausgesprochen. Gleichgültig über meine Scham lehnte ich mich weiter nach vorn und versuchte etwas zu verstehen, konnte aber nur ihr mehrmaliges Kopfschütteln ausmachen.
 

„Du bist dir klar, dass du mit Schwertern jonglierst?“, fragte Mycroft schließlich wieder in normaler Lautstärke. „Und das Newtons Theorie unweigerlich ins Spiel kommen muss? Ich meine damit natürlich, dass diese Schwerter sich schließlich der Gravitation unterwerfen müssen, auf die selbst du keinen Einfluss hast.“
 

„Dein Verstand sieh nicht alles, Bruder.“ Sherlock Tonfall war absolut endgültig. Eine Schlange hätte diese Worte ausgesprochen haben können.
 

Vielleicht war es die Schuld, die ich über das empfand, was ich tat – lauschen – die mich davon abhielt, zu versuchen, die Bruchstücke ihrer kryptischen Unterhaltung zu ordnen.
 

Obwohl er den Eindruck von Anstand und Normalität vermittelte, vergab Mycroft, so schien es, seinem jüngeren Bruder stets dessen Diskretion. Ich fand es höchst ironisch, dass die Öffentlichkeit dem älteren Holmes offensichtlich den größten Respekt entgegenbrachte, denn ich wusste, dass er – beizeiten – die britische Regierung war. Und doch war er weit vom Durchschnitt entfernt. Er war das Gründungsmitglied eines Klubs, der seinen Mitgliedern verbot, miteinander zu sprechen; er war völlig un-sozial, un-sportlich und sogar un-konventionell. Wurde immer noch vom Geist der einzigen Frau heimgesucht, die er sich jemals zu lieben erlaubt hatte. Er würde niemals heiraten, niemals eine Familie gründen, sich niemals auch nur wirkliche Freunde erlauben…
 

Ich hielt inne, entsetzt über meine eigene Analyse. Vielleicht ähnelten sich die beiden Männer mehr, als ich erkannt hatte. Tatsächlich war der einzige wirklich Unterschied, den ich benennen konnte, die Tatsache, dass Sherlock alles riskiert hatte, indem er gestanden und mir vertraut hatte; Mycroft würde dieses Risiko nicht eingehen, nun da Jane verloren war.
 

In jenem Moment taten sie mir Leid. Einen so starken Verstand – und auch Körper – zu besitzen, aber ein so zerbrechliches Herz, dass dessen eisiger Stoff jeder Zeit in eine Million Stücke zerbrechen konnte.
 

Irgendwann während meiner Überlegungen war Mycroft verschwunden. Ich hatte plötzlich Angst, entdeckt zu werden, deshalb versuchte ich ihn bei den kleinen schwarzen Gruppen rund um die Kapelle auszumachen, aber das Familienmerkmal der Heimlichkeit schien ins Spiel gekommen, denn er war wie vom Erdboden verschluckt.
 

Sherlock starrte wütend auf das jüngste Grab in Bodmin Moor. Oder vielleicht ist ‚wütend’ nicht das richtige Wort. Es wäre möglich, dass ich meinen eigenen Willen auf ihn projizierte, dass ich wollte, dass er wütend war. In Wahrheit war sein Gesicht vermutlich wie aus Stein, gefühllos, völlig gefasst. Seine Worte, als sie ausgesprochen wurden, schienen in Wut gesprochen. So kam es mir vor. Aber glauben Sie mir, dass ich wusste, sie wurden in völliger Gleichgültigkeit ausgesprochen.
 

„Nun, Mutter, schließlich sind Sie fort. Es gab eine Zeit, da ich wider besseren Wissens glaubte, Sie seien eine Kreatur jenseits von Leben und Tod. Ein Wesen, das schon immer existiert hatte und es auch für immer tun würde. Ihrem Gott ist es gelungen, Sie eine ganze Zeit lang am Leben zu lassen, nicht wahr? Aber am Ende haben Sie Ihren eigenen Willen bekommen. Genau wie im Leben. Ich will, dass Sie zwei wichtige Dinge wissen, meine liebe Mutter. Erstens bin ich heute nicht um Ihretwillen sondern wegen Ihres anderen Sohn gekommen. Er hat sein Bestes getan, um mich zu beschützen und ich schulde ihm dafür eine gewisse Loyalität, auch wenn ich mir nicht die Mühe mache, das zuzugeben. Zweitens will ich, dass Sie wissen, dass ich Erfolg habe. Sicher nicht wegen Ihnen, aber auch nicht Ihnen zum Trotz. Ich habe Erfolg, weil ich es so entschieden habe. Jahrelang hatte ich gedacht, Sie hätten gesiegt. Tatsächlich hätte ich Ihnen den Sieg beinahe überlassen. Aber zum ersten Mal seit Philippas Tod habe ich etwas, das mich glücklich macht. Nicht nur etwas, um mich abzulenken, bis mein Leben vorüber ist, so wie bei Mycroft, sondern etwas, das mein Leben lebenswert macht. Sie würden sagen, ich sei auf dem Weg zu Satan. Sie würden das ohnehin behaupten, aber wenn Sie von meinem momentanen Leben wüssten, würden Sie sicherlich denken, auf mich warte ein Jenseits voller Feuer und Schwefel. Es liegt mir nicht, über so etwas nachzudenken. Theologie hat mich noch nie interessiert. Vielleicht weil sie mir als Kind mit Gewalt in den Rachen geschoben wurde oder vielleicht weil sie unsicher, sinnlos und unwissenschaftlich ist und für mich keinerlei Nutzen hat. Aber das hat nur wenige Auswirkungen. Ich werde das Risiko eingehen. Und wenn Sie es an einen Ort geschafft haben sollten, von dem aus Sie mich jetzt hören können, dann will ich, dass Sie das wissen. Sie haben niemals irgendetwas über mich gewusst, also sollen Sie zumindest das wissen.“
 

Er hielt inne und senkte leicht den Kopf. Für eine Minute schien seine Hand bereit, sich nach dem Grabstein auszustrecken und ihn zu berühren, aber schließlich tat er es doch nicht. Holmes bekreuzigte sich rasch und wand sich dann ab, schien fast zu rennen. Das war das Äußerste, was er jemals mit seiner Mutter an Frieden schließen würde. Meines Wissens würde er niemals wieder von ihr sprechen.
 

Bevor ich auch nur die Zeit hatte, mich umzudrehen, um zu sehen, wo er war, erschien er mit einem breiten Grinsen direkt vor mir. „Hallo, Doktor. Suchst du etwa nach mir?“
 

Ich war so überrascht, dass es, als mein Herz endlich seinen normalen Rhythmus wieder gefunden hatte, für eine scharfe Erwiderung schon zu spät war – sei sie nun intelligent oder auch nicht. „Wo zum Teufel bist du gewesen?“
 

„Oh, komm schon, Watson. Ich bin von meinem Bruder schon genug ausgeschimpft worden, ich brauche dasselbe jetzt wirklich nicht auch noch von dir zu hören.“ Er legte seinen Arm um meinen und führte mich mit einem enthusiastischen Ruck in Richtung der Kapelle.
 

„Wie war der Gottesdienst?“
 

„Du wüsstest es vielleicht, wenn du dir die Mühe gemacht hättest, dran teilzunehmen.“
 

Schon wieder dieses Lächeln. Aber er weigerte sich, beleidigt zu sein, selbst an jenen seltenen Gelegenheiten, wenn ich es darauf anlegte. „Ich bin überzeugt, dass mein Bruder eine einmalige Darbietung des trauernden Sohnes zum Besten gab. Ich kam seinetwillen nach Hause, aber ich habe nie versprochen, mich selbst solchen Qualen wie der eigentlichen Zeremonie auszusetzen. Ich werde kurz die Hand jedes meiner uralten Verwandten schütteln, der es schafft, bis zu unserer Abreise am Leben zu bleiben und ihnen für ihr unangebrachtes Mitgefühl danken, aber das ist alles. Es gibt für mich keinen Grund, jemals wieder an diesen Ort zu denken.“
 

Bevor wir den schaurigen Grund des Friedhofs verließen, hielt er einen Moment inne, um auf etwas in der Ferne zu starren, in der Nähe des Grabes seiner Mutter. „Wo siehst du hin?“, fragte ich ihn, während ich es zu erkennen versuchte.
 

„Nirgendwo.“ Er drehte sich schnell weg, um meinen Arm wieder aufzunehmen und sagte für mehrere Augenblicke gar nichts. Erst später würde ich erkennen, dass es genau das Grab mit dem weißen Marmorengel gewesen war, hinter dem ich mich versteckt hatte, um die beiden Brüder zu belauschen, unter dem Philippa Davies Holmes zur letzen Ruhe gebettet lag. Ich würde es erst viele Jahre später wiedersehen, aber danach würde ich es sehr oft besuchen und Blumen dorthin und auf das Grab daneben bringen. Ich wusste sogar damals, dass dies der Ort war, an dem er die Ewigkeit verbringen wollte.
 

Mycroft schien den Rest der Zeit, die wir in Cornwall verbrachten, was nur noch ein paar Stunden waren, aufrichtig zu trauern. Wohin auch immer Holmes in jenen fehlenden Stunden gegangen war, ob er wirklich in Wadebridge oder an einem anderen Ort gewesen war, er hatte zumindest Rückfahrkarten besorgt und wir würden mit dem 1:14-Zug nach Victoria aufbrechen und rechtzeitig für ein spätes Abendessen zuhause eintreffen. Tatsächlich hatte er drei Karten besorgt und Sherlock versuchte (wenn er auch nicht mit besonders viel Herz bei der Sache war) seinen Bruder davon zu überzeugen, mit uns nach London zurückzukehren. Er weigerte sich mit einem Schütteln seines gewaltigen Kopfes. „Es gibt hier noch zu viel zu tun“, sagte er mit dünner Stimme. „Das Anwesen muss noch katalogisiert, die Diener entlassen, das Testament verlesen und die Schulden getilgt werden. Das alles bleibt selbstverständlich mir überlassen.“
 

Ich denke, dass Sherlock für eine Sekunde beinahe bereit war, noch ein oder zwei Tage hier zu bleiben, nur seinem Bruder zuliebe. Für eine Sekunde wurden seine Gesichtszüge weicher, aber dann denke ich, dass die Geister des Hauses wieder nach ihm riefen und er erschauderte leicht. „Ich habe keinerlei Zweifel, dass du dazu in der Lage bist, Bruder. Schreib mir, falls es etwas gibt, das ich tun könnte…oh, und wegen dem Testament…“
 

„Hast du tatsächlich die Unverfrorenheit“—
 

Sherlock hob die Hand. „Ich habe tatsächlich die Unverfrorenheit, dir zu sagen, dass – auch wenn ich stark bezweifle, dass Mutter tatsächlich so nachlässig wäre, mich in dem Testament zu bedenken – falls es geschieht, dass das Anwesen gesetzlich zwischen beiden Brüdern aufgeteilt wird, du gerne jedes einzelne Pfund davon für Portwein und Curryhühnchen ausgeben darfst. Ich will nichts.“
 

Mycrofts Lippen kräuselten sich und es schien offensichtlich, dass wie an so vielen Tagen ein weiterer Krieg zwischen den beiden Brüdern stattfinden sollte. Aber stattdessen geschah nichts. Der ältere Bruder nickte nur, winkte uns zu gehen und sagte nichts mehr. Ich erinnerte mich daran, wie er an eben jenem Morgen geredet hatte. Ich fragte mich, ob es Sherlock jemals bewusst war, dass es eine Seite an seinem Bruder gab, die nicht aus Stein war.
 

Während der ganzen Kutschenfahrt von Bodmin Moor nach Wadebridge, schien mein Freund tief in Gedanken versunken. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, beobachtete ich ihn, tief in seine Gedanken versunken. Sein Gesichtsausdruck war klar, aber sein Blick schien losgelöst, bewegte sich schneller vor und zurück, als sich die Räder unseres Wagens drehen konnten. Ich konnte beinahe in seine Gedanken blicken. Er dachte darüber nach, was in den letzten beiden Tagen geschehen war, besonders in der letzten Nacht. Vielleicht erinnerte er sich auch an all jene Dinge aus seiner Kindheit, die er mir nicht erzählt hatte, all jene Dinge, die zu schmerzhaft waren, als dass er darüber sprechen könnte. So wie Philippas eigentlichen Tod und was auch immer ihm seine Mutter außerdem noch angetan haben mochte. Dann war da die Schule; ich wusste nichts über die Zeit zwischen circa seinem zehnten Lebensjahr und dem Zeitpunkt, da wir uns begegnet waren. Es gab so viel mehr zu wissen. Es war mein eigenes privates Rätsel. Mein eigenes Rätsel, das ich versuchen musste, zu lösen. Angefangen mit Lestrade. Ich entschied mich, dass ich augenblicklich, sobald wir zurückgekehrt sein würden, Scotland Yard einen Besuch abstatten würde. Ich war wirklich kein Mensch, der alles wissen musste. Aber es gab ein paar Puzzleteile, die einfach an ihren rechtmäßigen Platz mussten, bevor ich es in meinem Geist als abgeschlossen betrachten konnte. Er hatte mich auf diesen Pfad geführt und wie bei unserer Beziehung konnte ich nun nicht mehr zurück. Es war zu spät.
 

Ich begann meine Untersuchung im Zug, in einem weiteren Privatabteil, wie Holmes’ sie so gut wie immer mietete. Er war kein besonders kooperativer Klient. Er schien seine stille Meditation fortsetzen zu wollen, die ihn die ganzen zwei Stunden der Kutschenfahrt in Anspruch genommen hatte. Ich glaubte nicht, dass ich das würde ertragen können.
 

„Ich bin mir nicht sicher, ob dein Bruder dir jemals dein heutiges Verhalten vergeben wird. Er wünschte sich deine Anwesenheit besonders während des Begräbnisses.“ Was ich ihm nicht erzählte, war, woher ich das wusste.
 

„Ich nehme keine Befehle von Mycroft entgegen“, sagte Holmes mit bitterer Stimme. „Und auch von dir nicht, könnte ich hinzufügen.“
 

„Ich erwarte nicht, dass du Befehle entgegennimmst. Nur das du hin und wieder das Richtige tust“—
 

„Das Richtige hatte mit dem heutigen Morgen überhaupt nichts zu schaffen! Mycroft macht sich nur Sorgen, welchen Eindruck andere Leute von seinem übergeschnappten Bruder haben! Er ist natürlich genauso seltsam wie ich, wenn nicht noch mehr, aber zu seinem Unglück erfordert seine Position, dass er einen Eindruck von Normalität und Langeweile aufrechterhält. Die Leichen in seinem eigenen Keller erlauben das nur schwerlich. Und dann noch einen Bruder wie mich…nun, du verstehst, worauf ich hinaus will, nicht wahr?“
 

„Du irrst dich!“, sagte ich, während ich mich nach vorn beugte. „Dein Bruder sorgt sich nicht nur um seinen eigenen Ruf. Ich versichere dir, dass er sich auch um dich Sorgen macht!“
 

„Ha! Woher willst du das wissen? Was hast du heute Morgen mit ihm gemacht?“
 

Ich zögerte nicht einmal. Es war ein solcher Impuls, dass ich später wusste, dass ich mich nicht einmal dann hätte zurückhalten können, wenn ich es gewollt hätte. Aber das wollte ich auch nicht. Ich sprang auf die Füße und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, weit ungestümer, als er es gewohnt war – da bin ich sicher. Es war keine gerade Linke – nicht im Geringsten. Es war ein wütender Schwung, der ihn hart auf die Wange traf. Er taumelte mit einem Grunzen in seinen Sitz zurück, aber er schrie nicht und schlug auch nicht zurück.
 

Ich selbst setzte mich langsam auf meinen Sitz und fühlte das Pochen in meiner Hand. Der erste Gedanke, der mir kam, war, dass ich seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr in einen Faustkampf verwickelt gewesen war und nun trotzdem darauf zurückgegriffen hatte. Der zweite war, das ich mich ziemlich ruhig fühlte. Es war, als ob alle Wut, alle Frustration, die ich über sein Verhalten entwickelt hatte, meinen Körper durch meine Faust verlassen hatten, als ich ihn schlug.
 

Ich war erstaunt, unfähig zu glauben, was ich gerade getan hatte. Aber ich war ebenso unfähig, mich zu entschuldigen. Ich wusste, dass ich es so gemeint hatte und dass er es verdient hatte. Also lehnte ich mich in meinen Sitz zurück, mit so viel Würde, wie ich nach meiner kindischen Tat aufbringen konnte und wartete auf seine Reaktion.
 

Er lachte. Er sah mir direkt in die Augen und begann tatsächlich überaus herzhaft zu lachen. Er zuckte zwar zusammen, als er bemerkte, dass seine frisch gequetschte Wange das nicht zulassen würde, aber ich war mir sicher, dass er wohl den Verstand verloren haben musste. Es war eine weit verbreitete Ansicht, dass Genies dazu neigten, Probleme mit ihrer geistigen Gesundheit zu haben. Und ich dachte in jenem Moment, dass Sherlock Holmes schließlich diese Grenze überschritten haben musste.
 

„Mein Gott, du bist verrückt…“
 

Sein Gelächter wurde zu einem leisen Glucksen. „Das denkst du ganz gewiss nicht.“
 

„Das tue ich sehr wohl! Und würdest du bitte aufhören, zu lachen? Wer außer einem Verrückten würde nach einem Schlag ins Gesicht anfangen zu lachen, anstatt zurückzuschlagen?“
 

„Aber, aber“, sagte er und hob verteidigend die Hände. „Lass keinen solchen Unsinn in deine Gedanken. Es gab einen absolut logischen Grund für meine Handlungen. Ich versichere dir, Watson, ich bin ebenso wenig verrück wie du.“
 

Das war nicht unbedingt beruhigend, denn ich hatte schon lange vermutet, dass auch meine eigenen Handlungen nicht bei völliger Klarheit ausgeführt werden mochten. „Dann kläre mich doch bitte auf. Warum solltest du, ein Meister im Ring, der mich leicht besiegen könnte, wenn es zu einem Kampf kommen sollte, nicht zurückschlagen?“
 

„Tss. Wirklich, Watson. Denkst du wirklich, ich würde meinen liebsten Freund so behandeln? Nun, vielleicht denkst du das. Ich könnte es dir nicht verübeln. Schließlich kam der erste Schlag von mir…“ Er räusperte sich und wand den Blick ab. Seine Taten aus der vergangenen Nacht waren in seiner Erinnerung ebenso frisch wie in meiner eigenen. Vielleicht sogar frischer. „Ich wollte, dass du mich schlägst. Manchmal ist es die einzige Antwort, das zu schlagen, was unserem Herzen Leid zufügt. Aber ich wusste, dass du als Gentleman niemals so etwas tun würdest, wenn ich dich nicht zuerst provozierte.“ Er lächelte. „Es hat doch funktioniert, nicht wahr?“
 

„Holmes, sind wir wirklich solche Barbaren, dass wir auf Schläge zurückgreifen müssen, um unsere Probleme zu lösen?“ Das zumindest war es, was ich sagte, auch wenn ich nicht bestreiten konnte, wie gut sich dieser Schlag angefühlt hatte. Und wie sehr er ihn wahrhaftig verdient hatte.
 

„Es ist nichts Barbarisches an Instinkten, Doktor. Tatsächlich sind sie tief innerhalb des Gehirns verankert und sind in manchen Fällen auf frühere Entwicklungsstufen des Menschen zurückzuführen. Ebenso wie die Tiere wären wir ohne unsere Instinkte nicht in der Lage zu überleben, da wir nur zu leicht von Gefühl wie Angst überwältigt werden würden[2]”—
 

„Könntest du dir dieses Gespräch vielleicht für ein anderes Mal aufsparen? Auch wenn es zweifellos faszinierend ist…“
 

„Watson“, unterbrach er mich und packte meine Hand plötzlich fest in seiner. „Ich will mich aufrichtig für mein Handeln in der letzten Nacht entschuldigen. Du musst verstehen…ich war nicht ich selbst. Es war jenes Haus…wieder dort zu sein…die Erinnerungen…“ Er schauderte und instinktiv drückte ich seine Hand fester. „All der Tod und Mord und die Zerstörung der Gesellschaft, die wir zusammen erlebt haben, konnte mich nicht auf meine Rückkehr hierher vorbereiten. Ich habe drei Viertel meines Lebens damit verbracht, das zu vergessen was in den ersten zwölf Jahren geschehen war. Wie Dantes Reisender konnte ich dem Fegefeuer nicht entrinnen und war mir sicher, dass ich nach Cocytus[3] zurückkehren würde. In der letzten Nacht war ich vollkommen gefroren und ich verdiene zu den drei Verrätern gezählt zu werden. Aber Gott, falls es tatsächlich ein solches Wesen gibt, ist mein Zeuge, dass ich dich niemals verletzten wollte. Was ich getan habe…ich werde dich nie wieder derartig…missbrauchen. Ich schwöre es.“
 

In seiner Stimme lag mehr Ernst, als er mir jemals zuvor entgegengebracht hatte. Einerseits war ich gerührt. Gerührt, dass er sowohl den Nerv als auch das Gefühl für diese Rede aufgebracht hatte. Aber andererseits wusste ich, dass selbst wenn ich ihm vergeben würde und ich wusste in meinem Herzen, ich würde es, würde nichts, das er jemals sagen konnte, mich vergessen lassen, was er getan hatte. Und das sagte ich ihm auch.
 

„Ich weiß“, antworte er mit einem Flüstern. Mehr würde er nicht sagen.
 

Er hätte protestieren können. Ich hatte tatsächlich erwartete, dass er es tun würde. Seine Meinung zu vertreten, war eindeutig eine seiner Stärken und es war nur sehr selten, dass er derartig vor mir auf die Knie fallen würde. Aber es würde keinen Streit darüber geben. Seine Strafe würde das Wissen sein, dass er es nicht würde ungeschehen machen können, ganz egal, was er sagte oder tat. Und wie wir alle wissen, ist Schuld die schlimmste Strafe von allen.
 

„Ich habe etwas für dich“, sagte Holmes nach einem langen und wissenden Schweigen. „Ich habe es heute Morgen gefunden. Ich muss dir gleich sagen, dass ich über nichts reden will, was darin geschrieben steht. Und ganz egal was du sagst, ich werde meine Meinung darüber nicht ändern. Aber es steht dir frei, zu tun, was immer du willst.“
 

Was er mir reichte, war ein dickes, brauenes Korrespondenzbuch. Es war alt und an ihm haftete ein modriger Geruch; die Seiten fühlten sich in meinen Händen fest und zerknittert an, als ob es oft gelesen worden wäre. Es war mit Tinte gefüllt, die einst schwarz gewesen sein mochte, aber seitdem zu violett verblasst war. Ich hatte nur Gelegenheit einen Blick auf die erste Seite zu werfen, bevor ich erkannte, dass ich etwas zu ihm sagen musste, denn die erste Seite sagte alles.
 

‚Das Geheime Tagebuch der Beobachtungen von Sherlock Holmes, Alter 8 Jahre.’
 

„Ich war acht, als ich begann, mein Leben aufzuzeichnen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich es tat, auch wenn es eine gute Übung für mein späteres Leben war, als ich gezwungen war, meine Fälle zu dokumentieren. Ich zeichnete von acht bis elfeinhalb beinahe jeden Tag in meinem Leben auf und dann zumindest ein- oder zweimal pro Woche, bis ich zwanzig wurde.“
 

„Warum hast du aufgehört?“, fragte ich, denn ich selbst hatte ein Tagebuch oder zumindest einige Aufzeichnungen über mein Leben geführt, solange ich mich erinnern kann.
 

Er zuckte kurz mit den Achseln. „Das Leben wurde banal. Ich verlor das Interesse. Ich war zu sehr damit beschäftigt meinem erwählten Beruf nachzugehen. Such dir eine Entschuldigung aus, die dir gefällt.“
 

„Aber warum gibst du es mir?“
 

„Nun, du beschwerst dich oft, dass es Dinge gibt, die du nicht über mich weißt…so wie du über mich schreibst, bin ich nicht wirklich“—
 

„Ich würde allerdings vermuten, dass du es nicht vorziehen würdest, wenn die Öffentlichkeit dich anders kennen würde.“
 

„Wahr genug. Aber das heißt nicht, dass ich mich dir verleugnen würde. Wenn der Tod meiner Mutter auch nur irgendetwas Gutes in mir geweckt hat, so will ich, dass es sich dabei um Verstehen zwischen dir und mir handelt. Ich will dir mein vollkommenes Vertrauen schenken, denn ich weiß, dass ich es bis jetzt nicht getan habe”, er deutete auf das Buch. „Ich habe darin Dinge geschrieben, auf die ich nicht stolz bin. Dinge, die von der Öffentlichkeit sogar als Skandale angesehen werden könnten, sollte sie davon erfahren. Bis zum heutigen Tag habe ich dafür gesorgt, dass für nichts, was ich getan habe und das zu Erpressung, Gefängnis, Entehrung et cetera führen könnte, irgendwelche Beweise existieren. Im Gegensatz zu Wilde, dessen Seele in Reading Gaol verwest, weiß ich, dass Diskretion der einzige Schutz für mein Leben mit dir ist. Aber selbst ein Scotland Yarder könnte die Punkte dessen verbinden, was ich in diesem Buch gestehe.“ Dann blickte er mich an, mit einem Blick der fest, aber gleichzeitig auch furchtsam war. Ich konnte nicht sagen, ob ich mir das nur einbildete oder nicht. „Zum ersten Mal in meinem Leben, lege ich mein Leben in die Hände eines anderen.“
 

Während ich dort mit ihm zusammen saß, seine Hand in meiner, erinnerte ich mich an eine Begebenheit, die nur zwei Jahre zurücklag. Kurz nach einem Weihnachten in der Schweiz auf einer sehr langen Zugfahrt von Dover und dann nach Hause nach London. Josh, in meinen Armen eingeschlafen und Holmes und ich, friedlich und gereift. Es gab keine Sorge über die Gegenwart, keine Angst vor der Zukunft, zumindest für wenige Augenblicke. Es gab nur noch uns drei, einen prachtvollen Sonnenuntergang und niemand musste sprechen. Ich hatte es damals nicht erkannt, aber es war der vollkommenste Augenblick meines Lebens. Ich bezweifelte stark, dass es jemals wieder so wie damals sein konnte. Nichts hatte sich wirklich verändert. Es gab immer noch ihn, mich und den Jungen. Und doch war etwas anders. Ich erinnerte mich nur zu gut an das Versprechen, das wir einander in jener Nacht gegeben hatten – nur Monate darauf. Wenn jemals eine Zeit kommen sollte, da wir nicht weitermachen konnten; da wir einander nicht mehr von ganzem Herzen liebten, dann sollten wir damit aufhören. Das Risiko war viel zu groß, als dass wir weitermachen sollten, wenn wir uns nicht mehr voll und ganz ergeben waren.
 

Ich war mir nicht sicher, ob eine solche Zeit gekommen war. Aber zumindest für den Moment würde ich sagen, dass das nicht der Fall war.
 

Der Junge, Sherlock, elf Jahre alt, saß mit seiner Schwester und seinem Schwager in einem Zweiter-Klasse-Abteil. Der Zug an jenem kühlen Morgen im Dezember fuhr von Wadebridge nach Victoria Station. Die Weihnachtsfeiertage waren nur noch etwa zehn Tage entfernt, die ersten für das frisch verheiratete Paar Mr. und Mrs. James Davies.
 

Es war absolut offensichtlich, dachte Sherlock, dass sie frisch verheiratet waren. Sie hielten einander an den Händen, grinsten sich von Zeit zu Zeit auf höchst alberne Art und Weise an, zusätzlich zu zahllosen anderen Feinheiten, die es offensichtlich machten. Eine davon war der Bauch seiner Schwester, nach sechs Monaten stand er bereits rund und fest unter ihrem Kleid hervor. Sherlock konnte nicht anders, als zornig dorthin zu starren. Das Leben darin bedeutete das Ende seines eigenen. Ein einziger Blick auf das Kind und er würde überflüssig sein. Er würde von einem stinkenden, sabbernden Bündel Dreck verdrängt werden, von dem alle ganz hingerissen sein würden. Philippa hatte zahllose Male versucht ihn davon zu überzeugen, dass das nicht geschehen würde. Sherlock glaubte ihr nicht.
 

Zum ersten Mal in Sherlocks Erinnerung war jeder mit seinem Leben zufrieden. Jeder außer ihm.
 

„Ich denke, dass Honora ein wundervoller Name ist“, sagte Philippa gerade. „Oder vielleicht Maeve?“
 

„Du musst verrückt sein, wenn du denkst, dass ich eines meiner Kinder Maeve nennen würde!“, sagte James lachend. „Außerdem wird es ein Junge, der selbstverständlich James junior heißen wird.“
 

„‚Ich bin verrückt!’ Ich will dich daran erinnern, James Davies, dass dieses Kind in meinem Bauch heranwächst. Ich denke, dass ich eher beurteilen kann, was es wird.“ Die beiden setzten diesen albernen Streit noch mehrere Minuten fort, während Sherlock versuchte sie mit dem verächtlichsten Blick, den er nur aufbringen konnte, zum Schweigen zu bringen. Schließlich seufzte Philippa und lächelte ihren Bruder an, so als könnte sie seinen Zorn nicht sehen. „Ich erinnere mich noch daran, als du geboren wurdest, Liebling. Ich hatte so sehr auf eine Schwester gehofft.“
 

Sherlocks Augen weiteten sich erheblich.
 

„Aber ich war mehr als erfreut einen zweiten Bruder zu bekommen.“
 

Davies lachte auf jene typische, alles in allem zu heitere und laute Art, die klang, als würde jemand ein Maultier in den Hintern pieksen. „Ich denke nicht, dass er besonders gerne hört, dass du dir gewünscht hast, er wäre ein Mädchen, Phil.” Er schlug seinem Schwager gutgelaunt auf den Arm.
 

In Wahrheit konnte sich der Junge nichts Schlimmeres vorstellen, als weiblich geboren worden zu sein. Aber das würde er seiner Schwester nicht erzählen. „Ich würde sagen, Davies, dass du tatsächlich eine große Neigung zum Offensichtlichen hast.“
 

James’ Mund schloss sich. Er sprach Sherlock nicht mehr direkt an, bis der Zug den Bahnhof in London erreicht hatte.
 

„Also wirklich, Sherlock“, sagte Philippa. Aber schlimmer würde sie ihn nicht rügen.
 

London war mit weihnachtlichem Jubel durchtränkt. Es gab etwa 3 Millionen Menschen in den äußeren Bezirken der Stadt und es schien Sherlock, als wäre jeder einzelne von ihnen an jenem Tag unterwegs und rauschte an jedem nur möglichen Körperteil über und über mit Päckchen und Paketen bedeckt vorbei. Er liebte die Stadt. Er hatte immer gewusst, dass er eines Tages hier enden würde, in der Menschenmenge und dem Ruß und der Luft, die zu atmen hin und wieder schmerzte. Aber es war was los. Wirklich was los. Sein Verstand würde an einem solchen Ort niemals aufhören, zu pulsieren.
 

„Sollen wir losgehen und dir ein Geschenk aussuchen?“, fragte Philippa, als Davies in einem Bekleidungsgeschäft verschwand und die Geschwister allein loszogen.
 

„Ja…wie wäre es mit einer Scheidung für dich und James?“
 

Ihr Lächeln erstarb, sodass der Junge wegsehen musste. „Das schmerzt mich, mein Lieber. Du weißt das, nicht wahr? Warum kannst du nicht…” Sie seufzte, während sie vor ihn trat. „Ich liebe euch beide. Aber du erwartest von mir, dass ich mich zwischen euch entscheide. Das kann ich nicht! Du bist mein Bruder, in meinem Herzen mein eigenes Kind, aber James ist mein Ehemann. Es ist vollkommen ungerecht von dir, von mir zu verlangen, mich zwischen euch zu entscheiden.“
 

Er wusste, dass sie Recht hatte. Er verlangte von ihr, sich zu entscheiden. Aber sie war fort, fort von ihm, fort in jenem Moment, als der goldene Ring auf ihren Finger gesteckt worden war. Er hatte niemanden mehr. Niemanden, der ihm seinen Verstand bewahrte, niemanden, der ihn hielt, niemanden, der seiner Brillanz zuhörte…niemanden, den er lieben konnte. Zum ersten Mal fühlte er sich völlig allein.
 

„Sherlock! Sherlock, komm zurück!“
 

Er kannte sich in London noch nicht aus. Aber nun war die perfekte Gelegenheit, das zu ändern. Er schlug die Richtung nach Whitechapel ein, der unreinen Gegend der Stadt. Es schien der perfekte Ausgangspunkt. Er passierte Restaurants, Tabakverkäufer, Hotels, Geschäfte, Kneipen, eine Kirche und eine Bank, ohne stehen zu bleiben. Er dachte, dass er sie immer noch hinter sich hören konnte, aber die Straßen wurden immer überfüllter und es war schwer zu hören. Er wurde kurz langsamer, aber dann hörte er wieder seinen Namen. Er stand zwischen einer Kneipe und einem Buchladen, eine Kutsche zur Linken und eine schreiende Menschenmenge direkt hinter ihm, als es geschah.
 

Er dachte, dass er irgendjemanden ‚Stopp!’ hatte schreien hören, aber bei all den Menschen war es schwer zu sagen. Er hörte den Schuss, aber er wusste nicht, was es war, das er hörte. Es hörte sich nur wie ein Knall an, eine Tür, die zugeschlagen worden war, ein Blitz, der ein wenig zu nah herangekommen war. Aber sein Instinkt ließ ihn in der Sekunde anhalten, als es geschah. Sein ganzer Körper erstarrte völlig. Schießpulver. Nichts roch so und es war nah genug, um es in der Luft wahrzunehmen. Da waren Schreie und Panik, Männer schrieen und zumindest ein kleines Kind weinte. Ein Hund begann zu bellen und er hörte schwere Schritte. „Wo war es?“, rief die Stimme eines Mannes. „Dort drüben!“ Das war ein anderer Mann. „Verschwindet! Geht zur Seite! Geht jetzt zur Seite!“
 

Und all das geschah, bevor er auch nur den Mut aufbringen konnte, sich umzudrehen. Als er es schließlich tat, sah er nichts als die bunten Schemen der Menschen. Sie rempelten und fingen an herumzurennen und Sherlock wusste, dass es schlimm war. Und auch er begann, zu rempeln und zu rennen. „Aus dem Weg!“, schrie er. Er wusste es. Er wusste es einfach. „Geht aus dem Weg!“ Er stieß so fest er konnte mit einem dicken Mann vor ihm zusammen. „Das ist meine Schwester!“ Sein Herz klopfte so heftig, dass es schmerzte. Aber er konnte nicht anhalten, um seine Brust zu umklammern oder sich hinzuknien, wie er es sich wünschte. Er war zu sehr mit dem Drängeln beschäftigt. Irgendein großer Kerl stieß ihn zurück. Er hielt nicht einmal an, um zu sehen, ob es Absicht gewesen war. Indem er zwischen seinen Beinen durch rutschte, hatte er das Epizentrum des Tumultes erreicht.
 

„Gott…oh, Gott…“
 

Sie lag auf dem Zement, auf dem sich um ihren Körper eine rote Lache gebildet hatte. Die Leute wichen zurück, versuchten nicht hineinzutreten, aber die Meisten blieben nahe genug, um alles beobachten zu können. Sherlock sank auf die Knie und spürte, wie kalt es bereits war. Er versuchte ihre Hand zu ergreifen, aber sie bewegte sich nicht. „Philly…“, sagte seine Stimme. „Philly…“
 

Ein Auge öffnete sich leicht, weit genug, dass man die tiefgraue Farbe sehen konnte. Ihr Mund zuckte leicht, so als versuchte sie zu lächeln. Was nun folgte, könnte eine schreckliche Szene der letzten Liebesbeteuerung gewesen sein, die Hände fest umklammert und schwere Tränen von Trauer und Entsetzen. Aber die Wirklichkeit war völlig anders. Sherlock konnte keinen Teil von sich bewegen, außer seinen Augen. Er kniete in einer gewaltigen Blutlache und er konnte an nichts anderes denken, als daran, wie ekelhaft es sich anfühlte. Mehrere Male in jenen letzten Sekunden versuchte er, die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, sie zu heilen, aber er konnte sich einfach nicht bewegen.
 

Sie starb mit einem kurzen kleinen Keuchen, ihr Mund blieb geöffnet und von ihren Augen war nur noch das Weiße zu sehen. Keiner sagte irgendwelche letzten Worte. Keiner konnte wirklich glauben, dass der andere da war. Es bedeutete wirklich sehr wenig.
 

Irgendwann in seinem Entsetzen erkannte der Junge, dass Davies aufgetaucht war. Er sah ihn an, fühle sich neugierig. Er schien verzweifelt. Einige Männer standen neben ihm und einer hielt ihn fest am Arm. Er sprach zu ihm, aber Sherlock konnte nicht mehr hören. Die Welt hatte sich verändert; war merkwürdig langsam geworden. Sicher war er hier, um seiner Schwester zu helfen. Das musste der Grund sein, weshalb er hier war. Warum wollten sie ihn nicht zu ihr lassen?
 

Jemand packte seinen Arm. „Komm da weg, Junge“, sagte er.
 

Es kam Sherlock nicht einmal in den Sinn, sich zu bewegen. Der Mann, der eine Polizeiuniform und einen buschigen walrossähnlichen Schnauzbart trug, zerrt heftiger. „Ich sagte jetzt, Junge“, sagte er.
 

Als er sich immer noch nicht rührte, hob ihn der Polizist tatsächlich hoch und schleifte ihn auf den Gehweg. Sie hoben Philippa auf eine lange Trage. Sie war mit einem Stück weißem Kolophonium bedeckt, das sich bereits rot färbte.
 

Schließlich fand er seine Stimme wieder. „Wo bringen sie sie hin?“, fragte er jeden, der die Antwort kennen mochte. „Wo bringen sie Philly hin?“
 

Er drehte sich zu Davies um, aber er war irgendwie verschwunden. Ein Detektiv von durchschnittlicher Größe, dunklem Haar und Knopfaugen erschien an seiner Stelle. Er trug einen schlichten dunklen Anzug, aber Sherlock wusste, dass es ein Inspektor sein musste. Sie stachen so deutlich hervor wie entzündete Daumen.
 

Der Beamte, der den Jungen angesprochen hatte, drängelte sich zu ihm durch. Sherlock hätte sich wehren können. Er hätte laufen können, vermutlich hinter seiner Schwester her, aber er gestattete, dass er geführt wurde. „Inspektor Lestrade[4], Sir“, sagte der massige Mann, während er seinen Hut berührte. „Dieser Junge hier ist der Bruder der jungen Dame. Ihr Ehemann hat das ausgesagt, Sir. Er sagte, dass er vielleicht gesehen haben könnte, was geschehen ist. Sie waren anscheinend zusammen, Sir.“
 

Der Inspektor nickte und wand seine rattenähnlichen Augen auf den Jungen. „Wie heißt du, Junge?“
 

Sherlock antwortete nicht. Sein Verstand raste, versuchte es alles zusammenzusetzen. Das Schießpulver war so nah gewesen, dass er es in seinen Nasenflügeln hatte spüren können. Wer auch immer geschossen hatte, musste direkt neben ihm gewesen sein.
 

Nah genug, dass er ihn hätte berühren können. Wenn er sich nur umgedreht hätte.
 

Der Inspektor packte ihn heftig am Arm, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. „Ich weiß, dass das nicht leicht ist, Junge, aber wenn wir diesen Verrückten fangen sollen, dann muss es jetzt geschehen. Sieh mich an, Junge! Und jetzt sag mir, wie du heißt!“
 

Schließlich sagte Sherlock es ihm. Eine Kutsche mit Eisenstäben erschien und er ging mit dem Inspektor zu seinem örtlichen Revier. Auch wenn er sich normalerweise an alles, was geschah, mit fotografischem Gedächtnis erinnern konnte, konnte sich der Junge an dem Tag nicht einmal mehr die Fragen in Erinnerung rufen, die sie ihm gestellt hatten. Es war ein einziger Klecks von Verwirrung und konstanten Erläuterungen, der sie um nichts nähr zur Wahrheit zu bringen schien. Schließlich sah Sherlock von seinem ungemütlichen Holzstuhl auf und sah Davies in der Nähe stehen. Während der Inspektor hinter ihm protestierend aufschrie, rannte Sherlock zu ihm.
 

„Wo ist sie, Davies? Wo ist sie?“
 

Er hatte geweint. Sein Gesicht war immer noch gestreift und blassrot; sein Haar durcheinander und sein Taschentuch fehlte. Auf seinem Kragen war ein Schmutzstreifen und seine Krawatte war schief. Er sah den Jungen an und keuchte. „Jesus, Sherlock, Jesus Christus.“
 

Der Junge erkannte dann, als er an seinem Anzug hinabblickte, dass er über und über mit Blut bedeckt war. Er sah schnell zurück zu Davies und kämpfte gegen das Verlangen an, alle seine Kleider auszuziehen.
 

„Achte nicht darauf“, sagte er wütend. „Was ist mit Philippa?“
 

Aber James brachte nichts hervor als noch mehr ‚Jesus…Jesus Christus’.
 

„Sag mir was passiert ist, du Bastard!“
 

Davies weinte wieder. Dicke Tränen trübten seine Wangen und er versuchte nicht einmal, sie zu verstecken. Tatsächlich zog er ihn zum großen Entsetzen des Jungen in eine enge Umarmung und klagte laut genug, dass mehre Polizisten sich umdrehten, um zu sehen, was passierte. „Oh, Gott…warum? Warum ist das geschehen? Mein Liebling…sie ist tot! Sie sind beide tot!“ Davies versuchte ihn noch enger zu umklammern, aber Sherlock war bei dem Wort ‚tot’ völlig schlaff geworden. Er erinnerte sich an nichts mehr vom Rest dieses Tages oder auch nur an die beiden, die darauf folgten.
 


 

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[1] Es war Brauch, dass Damen die eigentlich Beisetzung nicht mitansahen.
 

[2] Die Psychologie von Instinkten und deren Unterdrückung war bis etwa 1920 noch nicht völlig erforscht. Holmes ist seiner Zeit wieder einmal voraus.
 

[3] Die neunte Ebene der Hölle ist Cocytus, wo Satan selbst residiert, für alle Ewigkeit mit seinen Schwingen schlägt und dicke Eisschichten erzeugt. Verräter an Gott, der Familie und dem Vaterland sollen dort landen. Die drei Verräter von denen Holmes spricht sind Cassius, Brutus und Judas.
 

[4] Ihr werdet es euch vermutlich schon gedacht haben, aber nur für den Fall, dass es jemanden verwirrt, der Inspektor sollte Lestrades Vater sein.

Hier kommt schließlich das nächste Kapitel. Es tut mir Leid das ich immer so lange brauche (-.-°) und ich bedanke mich gerade deshalb bei den Kommentatoren, die dieser Fanfiction dennoch treu geblieben sind.
 

Die Baker Street hatte noch niemals so einladend ausgesehen, dachte ich, als mein Blick schließlich darauf fiel. Mit seinen überfüllten Straßen, vertrauten Geschäften, beißenden Gerüchen und grölenden Bewohnern, wollte ich nichts lieber, als durch die wunderbare grüne Tür der 221B zu rennen. Das Leben würde wieder alltäglich werden, aus Fällen bestehen und aus dem Schreiben und der Erziehung meines Kindes. Und Holmes und ich hatten einen gewissen Punkt des Verstehens erreicht, so vermutete ich. Ein Punkt, an dem ich meinem Verstand von all seinen Sorgen ruhe gönnen konnte. Das zumindest war es, was ich dachte.
 

Unsere Wohnung erschien dunkel und leblos, wie ein ironisches Gegenstück zu der Eile und der Geschäftigkeit in den hellen Straßen unserer Stadt. Es war seltsam, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mrs. Hudson ihren niemals endenden Pflichten derartig nachgehen würde und wenn sie irgendwo anders war, wo war dann mein Sohn? Ich rief sie, während der Kutscher unser Gepäck auslud, aber ich erhielt keine Antwort.
 

„Denkst du, sie sind irgendwohin ausgegangen? Ich habe ihnen ein Telegramm geschickt, dass wir mit dem 1:14 kommen würden.“
 

„Man möchte meinen, unsere gute Haushälterin sei in der Tat verschwunden“, erwiderte Holmes, während er abwesend einige Münzen in die Hand des Mannes fallen ließ.
 

„Was? Sie würde niemals“—
 

„Natürlich nicht. Wenn du deine Aufmerksamkeit hierher lenken würdest“—seine Hand deutete rasch auf das Bonnet einer Frau, das oben auf dem Gestell für unsere Stöcke lag. „Dann wirst du, wie ich meine, bemerken, dass wir Gäste haben. Es ist eine neue Mode und prunkvoll in seiner Verzierung, allerdings alles andere als teuer…“ Er hielt inne, um zu spotten, während er den Hut betrachtete. „Das heißt, sie ist sehr jung. Jung und aus einer Arbeiterfamilie der Mittelklasse. Ein Rotschopf…nun, das passt zu den Hudsons, schätze ich. Ich bezweifle, dass unsere vorsichtige Wirtin irgendjemanden hier hereinlassen würde, um bei dem Jungen zu bleiben, wenn er nicht zur Familie gehörte. Daher“—
 

„Sehr richtig, Mr. Holmes.“
 

Wir beide drehten uns um, nur um eine wahre Göttin der Weiblichkeit die Treppe hinabsteigen zu sehen. Nun, das ist, wie ich gestehe, zumindest das, was ich erkannte. Für Holmes mochte es ein Dämon gewesen sein, eine gefährliche Kreatur mit Fangzähnen und Hörnern. Eva, die uns die verbotene Frucht entgegenstreckte. Aber was auch immer er sah, ich war hingerissen von blauen Augen und kastanienbraunem Haar. Eine schlanke Gestalt von elfenbeinfarbener Haut, das wie Porzellan mit Grübchen wirkte, als sie uns anlächelte. Ich könnte nun damit fortfahren, all die verschiedenen Aspekte ihres Körpers aufzählen, die mir ins Auge stachen und von denen einige dabei waren, die zu bemerken, mich in Verlegenheit bringen würde, aber das werde ich nicht. Um es zusammenzufassen, sie war eine wunderschöne Frau, deren Näherkommen meine Zunge augenblicklich trocken werden ließ. Es war ein herrlicher Anblick.
 

„Ich bin Julia Hudson. Ihre Wirtin ist meine Großmama, Großmama Martha.“
 

Dann wand sie sich mir zu und bot mir eine satinweiche Hand an, die ich eifrig drückte. „John Watson. Es ist mir ein Vergnügen, Miss Hudson.“
 

„Natürlich sind Sie das.“ Ich bemerkte, dass sie ein äußerst unverkennbares Grinsen hatte. Es war nicht genau das, was ein Mann als reizvoll beschreiben würde, sondern eher ein wenig schief, aber es war selbstsicher und subtil. „Sie sind also der gute Mieter, von dem, was ich höre.“
 

Ich schaffte es nur, zu lächeln wie ein völliger Narr. Ein entzückter Narr.
 

„Und das ist natürlich Ihr gefeierter Freund.“ Mit jedem bisschen Charme, das ich sofort in der jungen Lady erkannt hatte, lächelte sie und sagte zu meinem Freund: „Aufgrund von Dr. Watsons Fällen und den Erzählungen meiner Großmutter habe ich das Gefühl, als würde ich Sie bereits kennen, Mr. Holmes.“
 

Holmes starrte auf die Hand, die sie ihm anbot, so wie ein anderer Mann wohl eine angriffsbereite Schlange betrachtet hätte: mit weiten, gefährlichen Augen und einem beinahe erstarrten Gesichtsausdruck. Das überraschte mich, denn wie ich in meinen Fällen angemerkt habe, war mein Freund trotz seiner Meinung über das schöne Geschlecht stets ein ritterlicher Gegner. Aber im Moment war galant das letzte Adjektiv, mit dem ich ihn beschreiben hätte. Er sah ängstlich aus – ängstlich und giftig.
 

„Holmes…“, murmelte ich nach seinem seltsamen Schweigen und zwang ihn mit meinem Gesichtsausdruck wieder zurück in die Wirklichkeit. Aus irgendeinem Grund funktionierte es. Holmes blinzelte ein paar Mal, bevor er kurz die Hand der jungen Lady schüttelte und so leicht nickte, als ob diese Geste ihm Schmerzen bereite.
 

„Sie sind sehr abgelenkt“, sagte Miss Hudson. „Und deduzieren zweifellos mein ganzes Leben von einem Fleck auf meiner Hand oder der Farbe meiner Augen.“
 

Im ersten Moment glaubte ich beinahe, dass er genau das tun würde und dass wir ihrer ganzen Lebensgeschichte würden lauschen müssen. Stattdessen sagte er: „Ich bezweifle sehr stark, dass Sie mich tatsächlich von Watsons Berichten her kennen könnten. Eine Tatsache, die er zweifellos bestätigen wird. Wenn ihr beide mich entschuldigen würdet…“ Er hastete an uns vorbei und war schneller als eine Windböe die Treppe hinauf.
 

„Sie werden ihn entschuldigen müssen, Miss Hudson“, sagte ich, während ich versuchte, nicht erschüttert den Kopf zu schütteln, als ich ihm beim Verschwinden zusah. „Er hat ein paar anstrengende Tage hinter sich.“
 

„Ah…ein besonders schwieriger Fall?“
 

„Nein…in Wahrheit, seine Mutter…sie verschied vor Kurzem. Wir sind auf dem Begräbnis gewesen.“
 

„Oh, das tut mir Leid für ihn.“ Auch ihr Blick fiel auf das leere Stiegenhaus. „Ich weiß, wie er sich fühlen muss. Ich selbst habe meine Mutter schon im Alter von sieben Jahren verloren.“
 

In jenem Moment fühlte ich, wie sich die Verbindung zwischen uns festzementierte. Aber natürlich sagte ich nichts.
 

Wir verließen zusammen den Eingangsbereich und gingen in das Esszimmer, das Mrs. Hudson niemals benutzte und ich konnte die Gelegenheiten, da ich es betreten hatte, an der Hand abzählen. Es war natürlich alles perfekt angeordnet. Der englische Eichentisch, antike Kerzenständer aus Silber und smaragdgrüne Tapete. Sie war von winzigen rosa Rosetten bedeckt, was mir noch nie zuvor aufgefallen war. Wie außerordentlich hässlich.
 

„Sie müssen nicht hier bleiben und mir Gesellschaf leisten, Doktor“, sage Miss Hudson nach einem Moment. „Sie wollen doch bestimmt nach Ihrem Sohn sehen. Oder nach Mr. Holmes…“
 

„Nein“, sagte ich sofort. „Nein…das ist das Letzte, was Holmes will, das versichere ich Ihnen. Und Josh…ich bin mir sicher, es geht ihm gut. Holmes ist wahrscheinlich bei ihm und bereitet seine Lehrpläne vor. Ich werde bei Ihnen bleiben, bis Mrs. Hudson zurückkommt Und bitte, ich bestehe darauf, dass Sie mich John nennen, Miss Hudson.“
 

Sie lachte leicht. „Nicht wenn Sie mich weiterhin ‚Miss Hudson’ nennen.“
 

Gegenüber des Tisches hin eine Fotografie, gerahmt in leicht angelaufenem Gold. Es war mir noch nie in den Sinn gekommen, sie anzusehen.
 

„Der hier ist Vater“, sagte Julia und zeigte auf ihn.
 

Ich konnte kaum glauben, wie jung die liebe Mrs. Hudson aussah, bevor Jahre der Strapazen und harten Arbeit an ihr ihre Spuren hinterlassen hatten. Ihr voller Haarschopf musste wohl denselben wundervollen Rotton gehabt haben, wie der ihrer Enkeltochter und ihr Lächeln war fast ebenso bezaubernd. Aber die Augen waren gleich. Eine Nuance von Metall, härter als Stahl.
 

Die junge Martha war von ihrer Familie umgeben. Ein hart aussehender Kerl mit demselben finsteren und kalten Ausdruck, der von jedem wahren Schotten erwartete wurde. Wegen des dichten Walrossschnauzbartes war es unmöglich seinen Mund zu sehen, aber er hätte sicher nicht gelächelt. Von den Kindern, es waren vier – alles Söhne, war der jüngste sogar kleiner als Josh. Julia hatte von dem Ältesten als ihrem Vater gesprochen, einem straffen Jungen und dem einzige mit dem Aussehen seiner Mutter.
 

„Ein stattlicher Kerl“, sagte ich.
 

„Das ist er. Oder eher war. Mutters Tod hat ihn schwer getroffen und seit dem ist er kaum noch derselbe Mann.“ Sie hielt inne, aber erlangte augenblicklich wieder ihre Fassung zurück. „Er arbeitet zu hart, das ist alles. Bevor Mutter starb, war er ein ausgezeichneter Offizier in der Armee Ihrer Majestät und diente in der Nähe von Madras[1] mit den 21st Royal Scot Fusiliers.“
 

„Wirklich? Nun, ich selbst war bei den 5th Northumberland Fusiliers, stationiert in Bombay. Natürlich habe ich die meiste Zeit in Candahar verbracht, als die Schlacht von Maiwand ausbrach.“
 

„Natürlich“, sagte Miss Hudson. „Ich habe das in Ihrem ersten Fall gelesen. Sie wurden verwundet. Wenn das nicht geschehen wäre, hätten Sie Mr. Holmes wohl niemals getroffen.“
 

„Das ist wahr genug.“
 

„Ich war noch ein Kind, als ich in Indien gewesen bin. Kaum älter als sieben, als Papa mich zurück nach Schottland brachte, nachdem er…nachdem sein Dienst beendet war.“
 

„Sie haben auch in Schottland gelebt?“
 

„Größtenteils in der Gegend von Aviemore. Aber Papa ließ sich nie wirklich nieder. Wir zogen oft um.“
 

Ich lachte angesichts dieses unglaublichen Zufalls. „Nun, mein eigener Vater stammt aus Inverness!“
 

„Dann sind wir ja praktisch verwandt, Doktor.“
 

In der Mitte dieses Gesprächs öffnete sich die Tür und Mrs. Hudson trat ein, immer noch in Überwurf und Bonnet, in der einen Hand ein großes und köstlich aussehendes Huhn und ihren Marktkorb in der anderen. „Du liebe Güte! Sind Sie etwa schon zurück, Doktor? Ich hatte vollkommen die Zeit vergessen. Ich hatte gehofft diesen Vogel bereits gewürzt und im Topf zu haben, bevor Sie und Mr. Holmes ankommen würden.“
 

„Aber das macht doch nichts, meine Liebe“, versicherte ich ihr. „Ich hatte eine vollkommen angenehme Unterhaltung mit Ihrer reizenden Enkeltochter.“
 

„Sie schmeicheln mir, Doktor.“ Miss Hudson lächelte, aber es war nicht im Geringsten schüchtern.
 

„Ja, das tun Sie, Dr. Watson. Und das ist das Letzte, was Sie bei einem Kind wie Julia tun sollten.“
 

„Großmama!“
 

„Oh, ich empfinde die Wahrheit nicht im Geringsten als Schmeichelei, Mrs. Hudson. Und Miss…ich meine Julia, Sie werden doch Holmes, Josh und mir beim Abendessen Gesellschaft leisten, nicht wahr? Ich würde sehr gerne mehr über Schottland und Indien hören. Und natürlich über alles andere, was wir noch gemeinsam haben mögen.“
 

„Nun, sehen Sie, tatsächlich fahre ich morgen nach Edinburgh. Ein alter Freund von Papa hat eine kleine Schauspieltruppe und mir wurde angeboten, mich ihnen für ein paar Produktionen anzuschließen. Ich habe schon immer von der Bühne geträumt – es ist natürlich nicht viel, aber ich habe die Hoffnung, dass es mich eines Tages irgendwo anders hinführt…nach London zum Beispiel.“
 

„Ich kann Sie schon praktisch dort sehen. Im Haymarket oder im Globe…die Menge würde vor Begeisterung über Sie auf die Füße springen.“
 

Nun würden die meisten jungen Mädchen bei einer solchen Bemerkung erröten und schüchtern sein (denn ich gestehe, dass ich selbst überrascht war, es tatsächlich gesagt zu haben), aber nicht Miss Hudson. Sie lachte herzhaft, völlig furchtlos, ihren Geist zu zeigen. „Sie wissen wirklich, wie man ein Mädchen bezaubert, Doktor. Aber Sie sollten meine Erwartungen nicht zu sehr in die Höhe treiben.“
 

„Oh, ich sehe es nicht als bezaubern. Es ist nur die Wahrheit. Aber um mich für meine Unverfrorenheit zu entschuldigen, bestehe ich darauf, dass Sie mit uns zu Abend essen.“ Ich konnte nicht anders, als eine plötzliche Trauer zu fühlen, dass dieses erstaunliche Wesen, das ich gerade erst getroffen hatte, schon in einem Tag aus meinem Leben verschwinden würde, vielleicht für immer. Aber wenn es denn so sein musste, dann konnte ich zumindest ein Abendessen haben, an das ich mich zurückerinnern konnte.
 

„Nun, Dr. Watson…“
 

„Das ist in Ordnung, Großmama“, unterbrach Julia. „Es wäre mir ein Vergnügen, John. Dann kann ich allen Leuten, die ich treffe, erzählen, dass ich das Privileg hatte, mit dem großartigen Sherlock Holmes und seinem überaus tapferen Assistenten Dr. John Watson zu Abend zu essen.“
 

Mittlerweile fühlte ich mich vollkommen warm und sicher, so als wäre etwas Großartiges geschehen, obwohl ich noch nicht einmal annähernd dazu in der Lage war, zu benennen, was es war. Ich ließ die beiden Hudsons in der Küche und wagte mich in die oberen Stockwerke, um meinen Sohn zu suchen.
 

Als ich allerdings den Dachboden erreicht hatte, hatte sich das warme Gefühl, das in der Gegenwart von Miss Hudson aufgetaucht war, bereits zu etwas verwandelt, das sich mehr wie ein bleierner Magen anfühlte.
 

Josh saß an seinem Schreibtisch, strampelte mit den Beinen und schrieb irgendetwas in seinem großen und beinahe unleserlichen Gekritzel. Als ich eintrat, sah er auf und grinste breit, aber ich konnte nicht anders, als an seine früheren Begrüßungen bei meiner Rückkehr denken, die etwas …ausgelassener gewesen waren.
 

„Hallo, Papa“, sagte er. „Hast du Julia getroffen?“
 

„Äh…ja, natürlich. Aber für dich ist sie Miss Hudson.“
 

„Sie hat gesagt, ich soll sie Julia nennen. Sie ist schon hier seit dem Tag, als du und Onkel zu dem Begräbnis gefahren sind. Ich finde sie nett. Sie hat meine Geschichte gelesen und mir gesagt, sie sei reizend. Ich fand, dass das kein besonders passendes Wort dafür ist, aber das ist in Ordnung. Onkel hat gesagt, dass einem ohnehin die wenigsten Frauen die Wahrheit erzählen, weil sie so un…unlo-gisch sind.“
 

„Ja, das klingt nach etwas, das er sagen würde…woher um Himmelswillen wusstest du, dass wir auf einem Begräbnis waren?“ Ich merkte, dass ich den Jungen anstarrte, so als wäre er nicht mein Sohn.
 

Josh zuckte nur die Schultern und sah nicht einmal von seinem Papier auf. „Onkel war aufgebracht. Es ging nicht um einen Fall und mir fiel nichts anderes ein, was in seinem Telegramm gestanden haben könnte und das ihn traurig machen würde. Also habe ich geraten…ich hätte nicht raten sollen. Es beeinträchtigt die Drehigkeiten…oder so. Du wirst es ihm doch nicht erzählen, oder?“ Er wirkte tatsächlich ängstlich bei dem Gedanken, dass Holmes erfahren könnte, dass er so etwas getan hatte.
 

„Natürlich nicht.“
 

„Dann hatte ich also Recht?“
 

„Ja…ja, du hattest Recht.“ Als ob es daran irgendwelche Zweifel gäbe.
 

Er grinste, aber sein Gesichtsausdruck wurde rasch ausdruckslos, als er mein Gesicht sah. „Es tut mir Leid. Ich vermute, Onkel muss schrecklich mitgenommen sein.“
 

„Ich schätze, dass ist er wohl.“ Wenn auch nicht so wie der Junge dachte.
 

„Er ist doch nicht…nicht böse auf mich?“ Er begann schneller zu kritzeln.
 

„Warum sollte er?“
 

„Er war wütend, bevor ihr gegangen seid. Ich bin eine Plage gewesen.“
 

„Nun, red keinen Unsinn, Josh. Es war überhaupt nicht deine Schuld. Du hast nichts getan. Es war ganz und gar falsch von ihm, dich derartig anzuschreien.“
 

Er nickte, sah aber nicht sehr überzeugt aus. Für ein paar Sekunden dachte ich, ich hätte den Jungen zurück, den ich vor dem Tod meiner Frau gehabt hatte. Den Jungen, der nur fünf Jahre alt hätte sein sollen. „Papa?“, frage er, während ich darüber nachdachte.
 

„Ja, Liebling.“
 

„Warum gehst du immer…?“
 

„Warum tue ich immer was?“
 

Er sah nicht auf. „Gehst mit ihm fort? Mit Onkel?“
 

Ungewollt sog ich heftig Luft ein und würgte, als ob ich gerade etwas von dem scheußlichen Tabak eingeatmet, mit dem sich mein Freund so gerne vergiftete. In den Augen des Jungen lag Neugier und er runzelte über meine Reaktion nur die Stirn. Ich musste mich daran erinnern, dass er nur ein Kind war. Ein unschuldiges Kind, das trotz seiner Fähigkeiten immer noch nichts über die Wahrheit zwischen seinem Vater und seine ‚Onkel’ wissen konnte.
 

„Was, äh, was meinst du damit…Sohn?“
 

Er senkte den Kopf. „Du…du bist nur immer bei ihm. Das ist alles, Papa.“
 

„Und nicht hier, meinst du?“ Ich fragte mich, ob ich in seiner Gegenwart jemals wieder etwas anders als Schuld fühlen würde. Aber er zuckte nur die Schultern und bewegte sich hin und her, so als ob er nicht wirklich verstanden hätte. „Ich vermute, Josh…“, war ich gezwungen, fortzufahren. „Ich vermute, dass ich immer bei ihm bin…weil er mich braucht. Er würde so etwas natürlich niemals zugeben…aber…er braucht mich.“
 

Josh hatte lange genug mit dem Schreiben aufgehört, um dieser ungeschickten Rede zuzuhören, die sogar in meinen eigenen Ohren albern klang, obwohl ich wusste, dass ich es Ernst gemeint hatte. Ich glaube, als ich fertig war, erwartete ein Teil von mir, dass er wütend sein würde, dass ich so etwas sagte, dass er schreien würde und mich einen verdammten Bastard nennen, eine selbstsüchtige Schwuchtel.
 

Als die ich mich fühlte.
 

Aber dann sah ich das lockige Haar und die winzigen Hände, den Samtanzug und die Spitzenbluse [2], den Stoffhund auf seine Schreibtisch und ich erkannte, mit wem ich sprach. Und alles was er sagte, war „Oh.“ „Oh“, und dann fuhr er fort zu schreiben.
 

Es würde noch Jahre dauern, bevor ich erkennen würde das meine ganze falsch gelebte Beziehung zu meinem Sohn an diesem einen Wort hang. Dass ich in jenem Moment etwas hätte sagen können, dass den ganzen Kurs ändern würde, den ich mit dem Jungen eingeschlagen hatte. Aber ich tat es nicht. Stattdessen betrachtete ich ihn und sagte nichts. Überhaupt nichts.
 

„Willst du meine Geschichte lesen?“
 

„Eh?“
 

„Meine Geschichte. Ich hab sie für dich geschrieben.“ Er drückte mir ein paar Zettel in die Hand, die mit Küchengarn zusammen gebunden worden waren. Auf der Titelseite stand: ‚Der Einsame Drache von John S. Watson.’
 

„Hast du das alles gemacht?“
 

„Nun…Julia hat mir mit den schweren Wörtern geholfen. Und Mrs. Hudson hat es für mich zusammengebunden…ich wollte es dir zu Weihnachten schenken, aber…“
 

„Du bist ungeduldig.“
 

Er lächelte und ich klopfte auf mein Knie, worauf er auf meinen Schoß kletterte. Die Geschichte, illustriert mit groben Bildern, war sehr einfach gestrickt, aber überraschend detailliert, wenn man bedachte, dass ihr Autor noch immer zu jung für den Grammatikunterricht war. Sie handelte von einem großen Drachen, der in einer ‚dunklen und gruseligen Höhle weit, weit weg von London’ lebte. Die Freunde des Drachens waren alle tot, weil die Menschen natürlich Angst vor Drachen hatten. Und so flog der Drache eines Tages davon, um eine andere Drachenkolonie zu finden. Auf dieser Reise begegnete der Drache allen Arten von Gefahren, einschließlich ‚des Lands der Monsterhunde’. Die Geschichte endete natürlich gut, denn es war ein Märchen. Der Drache traf seine langverschollene Familie in einer ‚Drachenstadt’ in Indien und erkannte, dass er doch nicht ganz alleine war.
 

„Und sie lebten glücklich für ewig und immer“, erklärte Josh, als wir zur letzten Seite gekommen waren. „Ich mag es, wenn sie glücklich für ewig und immer leben.“
 

„Ja, ich…jeder mag glückliche Enden, würde ich sagen. Auch wenn das richtige Leben ein klein wenig komplizierter ist.“
 

„Ich weiß, Papa. Aber das ist eine Geschichte. Gesichten müssen nicht wie das richtige Leben sein.“ Seine Augen weiteten sich ein wenig. „Hat es dir nicht gefallen?“
 

„Aber natürlich hat es das, Liebling! Es war brillant…genau wie alles, was du tust.“ Ich bereute augenblicklich die Bitterkeit, die in jenen letzten Satz einfloss, aber Gott sei Dank erfasste Josh nur das Kompliment und nicht den beleidigten Zynismus.
 

„Josh“, sagte ich, als ich ihn vor mich auf den Boden stellte. „Es tut mir Leid, dass ich dich so oft allein lassen muss. Wenn du ein bisschen älter bist, wirst du vielleicht die Verantwortung verstehen, die ein Erwachsener trägt.“
 

„Ich weiß.“
 

„Es ist ja nicht so, dass ich nicht hier sein will. Manchmal…sind die Umstände nun mal schwierig, verstehst du.“
 

„Ich weiß.“
 

„Ich liebe dich wirklich sehr, Sohn…“
 

„Ich weiß, Papa. Aber du liebst Onkel auch. Ich bin nicht blöd. Ich verstehe das.“
 

Ich sprang auf die Füße, um meinen Standpunkt zu unterstreichen. „Du verstehst nicht alles, Junge! Ganz egal, was Holmes dir erzählt haben mag! Du bist immer noch ein Kind und ich habe auch vor, dich wie eines zu behandeln!“
 

Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile, vielleicht sogar zum ersten Mal überhaupt, sah ich, dass er mich voller Wut anstarrte. Der engelsgleiche Junge, der er immer zu sein schien, war nirgends zu entdecken. „Ich weiß mehr, als du denkst“, sagte er.
 

„Ja, daran habe ich keinerlei Zweifel…“
 

Er öffnete die Tür, ohne mich anzusehen. „Ich werde zu Mrs. Hudson gehen. Sie sagte, dass sie einen großen Kuchen backen wird, weil Julia weggeht.“
 

Die Erkenntnis dessen, was er gesagt hatte, traf mich sehr plötzlich. Aber…das konnte er damit nicht gemeint haben. „Josh, warte!“
 

Aber er hatte seine Aufmerksamkeit bereits vollkommen von mir abgewandt. Ich hätte keine Angst vor dem Jungen und seinen Worten haben dürfen. Liebe gab es schließlich in vielerlei Formen und er wusste erst wenig oder überhaupt nichts von der Art, die Holmes und ich miteinander teilten. Aber trotzdem, ihn sagen zu hören, er wisse, dass ich den Mann liebte. Ich weiß mehr, als du denkst… mehr hatte er damit wahrscheinlich nicht gemeint. Es gab keine versteckten Absichten, und doch…wenn wir noch nicht einmal ein kleines Kind hinters Licht führen konnten, wie um Himmelswillen sollten wir dann jemals den Rest der Welt täuschen?
 

Ein Teil von mir dachte daran, Josh nachzugehen, aber ich wollte keine Konfrontation jetzt, wo Miss Hudson noch im Haus war. Das Einzige, was ich nun tun konnte, war mir die Sache über Nacht durch den Kopf gehen zu lassen. Und deshalb tat ich das einzige anderweitig Vernünftige.
 

Ich fand Holmes in seinem Zimmer, wo er einen Brief zu schreiben schien. Er stieß ihn zur Seite, als ich hereinkam, aber drehte sich nicht zu mir um. „Nun, Watson, hattest du eine angenehme Unterhaltung mit der bezaubernden Miss Hudson?“
 

„Die hatte ich in der Tat“, sagte ich und ignorierte seinen Zynismus. „Wir scheinen Vieles gemeinsam zu haben.“
 

„Hm! Davon bin ich überzeugt.“
 

„Du kannst mit uns zu Abend essen, dann findest du es heraus. Julia ist einer deiner Anhänger und ich bin sicher, dass sie sehr gerne mehr über deine Fälle“—
 

„Also ist es bereits ‚Julia’? Und dabei habt ihr euch gerade erst kennen gelernt…“
 

Ich konnte mein Lächeln nicht zurückhalten. „Nun, mein lieber Holmes. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist eifersüchtig.“
 

„Oh, jetzt versuchst du mich also in das grünäugige Monster zu verwandeln, Iago?“, fragte er schnaubend. „Eifersucht ist eine Emotion, deren man sich leicht entledigen kann. Sie dient keinerlei logischem Zweck, außer den Verstand zu stören und abzulenken. Nun, die Hälfte meiner Fälle, mindestens die Hälfe, wurden unter dem Deckmantel der Eifersucht begangen. Sie tut nichts anderes, als dich den Pfad zur Hölle hinunterzuführen.“
 

Ein ganz anderes Zitat des großen Meisters kam mir in jenem Augenblick in den Sinn, ein Zitat, das sich auf jemanden bezog, der zu heftigen Widerspruch einlegte, aber ich sagte es ihm nicht. Er würde niemals zugeben, ein so menschliches Gefühl wie Eifersucht zu empfinden. Ich hatte meine Zweifel, dass er sie überhaupt an sich selbst würde erkennen können, so sehr war er es gewohnt, diese Leidenschaften zu unterdrücken. „Ich denke immer noch, dass du – und sei es auch nur aus Respekt unserer Wirtin gegenüber – versuchen solltest ein gesittetes Mahl mit Miss Hudson und mir einzunehmen. Es ist das Mindeste, was du tun kannst.“
 

„Nein, nein…du bist im Irrtum. Das Mindeste, was ich tun kann, ist meine Aufzeichnungen über die verzögerten Reaktionen einiger giftiger, pflanzlicher Alkaloide zu beenden, die ich in letzter Zeit studiert habe. Und es dir zu überlassen, Miss Hudson mit deinen…“ Er sah mich an, also ob er etwas ganz anderes sagen wollte. „Witzeleien zu bezaubern.“
 

„Holmes…du müsstest wissen, dass du nichts zu befürchten hast. Wenn du bis jetzt nicht erkennen kannst, dass ich mich dir verschrieben habe…“
 

„Ja, ja…ich weiß, dass du das hast.“ Seine Augen senkten sich in einem seltenen Moment der Scham. „Es sind wahrscheinlich nur meine eigenen Unsicherheiten. Ich habe das Gefühl…dass eine Verbindung zwischen dir und dieser jungen Lady besteht. Es ist sehr überempfindlich und unglaublich unlogisch von mir. Und doch fühle ich es nichtsdestoweniger.“
 

„Sie ist eine vollkommen bezaubernde junge Lady, aber das ist alles, Holmes! Um Gotteswillen, denkst du etwas, dass ich mich jedem hübschen jungen Wesen in die Arme schmeißen werde, das mir über den Weg läuft? Das ist doch absolut lächerlich!“
 

Er erhob sich langsam auf die Füße und warf seine Feder auf den Tisch, wodurch er ihn mit Tinte beschmierte. „Du hast natürlich Recht. Vergib mir, Watson. Es ist nur mein…Misstrauen gegen diese hübschen jungen Wesen, wie du sie nennst, das mich dazu bringt. Ich weiß, dass du mir…treu bist.“ Er schenkte mir ein kurzes Grinsen. „In jeder Hinsicht.“
 

„Dann wirst du mit uns dinieren?“
 

„Um deinetwillen werde ich es. Mit Sicherheit nicht wegen Anstand oder guten Manieren. Denen schulde ich keine Treue.“
 


 

____________________________________________________
 

[1] Madras war die erste größere Besiedelung der Briten in Indien.
 

[2] Da Josh nun fünf Jahre alt ist, bestehen gute Chancen, dass er den Kleidern nun entronnen ist und anfängt Anzüge mit kurzen Hosen zu tragen. Der am weitest verbreitetste damals war der ‚Little Lord Fauntleroy’-Anzug, der kein bisschen männlicher aussah als die Kleider.

Der Geruch nach gebratenem Hähnchen, gekochten Kartoffeln und Bratensoße, englischen Erbsen und frischem Brot mit Butter war genug, um mich für den Moment abzulenken, als ich das Wohnzimmer betrat und das Alles vor Mrs. Hudson und ihrer Enkeltochter ausgebreitet lag.
 

Da sowohl Julia als auch Josh im Zimmer waren, als ich eintrat, war der erste Gedanke, der mir kam, dass es sehr wie eine Familie wirkte. Es war das erste Mal seit beinahe drei Jahren, dass ich ein Essen sowohl mit Josh als auch mit einer reizenden und attraktiven Lady einnahm. Auch wenn ich wusste, dass es ungerecht von mir war, diese junge Frau, die ich gerade erst kennen gelernt hatte, als irgendeine Art von Ersatz für Mary anzusehen, bot sich der Gedanke für einen kurzen Moment von selbst an.
 

Und dann schlenderte Holmes herein, schnippte die Überreste seiner Zigarette ins Feuer und wand sich uns allen mit einem breiten, ein wenig schiefen Grinsen zu. Er war sofort der Mittelpunkt des gesamten Zimmers.
 

„Nun, nun, riecht das nicht köstlich? Sie haben ganz offensichtlich die kulinarischen Fähigkeiten Ihrer Großmutter geerbt.“
 

Julia lächelte. „Sie wird sich mit Sicherheit freuen, das zu hören, aber meine eigenen Fähigkeiten in der Küche sind eher begrenzt.“
 

Der Blick auf Holmes Gesicht legte nahe, dass er genau das damit hatte sagen wollen, auch wenn er es dankenswerterweise nicht aussprach.
 

Wir setzten uns alle hin und Holmes hob das Messer, um den Vogel zu zerlegen. „Sie müssen mein schlechtes Benehmen bei unserer Ankunft entschuldigen, Miss Hudson“, sagte Holmes, während er ihr wohlwollend den Teller füllte. „Jeder Gedanke an Anstandsformen verflüchtigt sich hin und wieder aus meinem Verstand, wenn er gerade…andere Daten bearbeitet.”
 

„Ich vergebe Ihnen völlig, Mr. Holmes. John hat mir den Grund für Ihr Verhalten erzählt. Es tut mir sehr Leid, dass Sie Ihre Mutter verloren haben.“
 

Holmes, der immer noch Erbsen auf den Teller häufte, erstarrte mitten in der Bewegung. „Hat er das…nun, wie überaus umsichtig von…John.“ Ein stählerner Blick stahl sich in meine eigenen Augen und ich war gezwungen, mich zu räuspern und wegzusehen.
 

„Jul…äh, Miss Hudson wird morgen nach Edinburgh aufbrechen, Holmes. Sie tritt einer Schauspieltruppe bei und hofft Schauspielerin zu werden.“
 

Holmes hob die Augenbrauen. Er schien über diese Neuigkeiten erfreut, aber ich war mir ziemlich sicher, dass nur ich das subtile Aufleuchten seiner Augen und das ach so leichte Grinsen sehen konnte, die innerhalb einer halben Sekunde aufgetaucht und wieder verschwunden waren. „Ich würde meinen, dass Sie das Zeug zu einer großartigen Bühnenkünstlerin haben. Wir haben eine zweite Ellen Terry in unserer Mitte, Watson. Auch wenn man sich dabei die Frage stellt, welche Opfer eine junge Frau dafür bringen müsste. Es wäre äußerst schwierig sowohl eine Familie als auch eine Karriere zu bewältigen…Ihr zukünftiger Ehemann zum Beispiel, was würde er dazu sagen?“
 

„Du bist ziemlich unverschämt“, sagte ich zu Holmes, während ich eine Kartoffel aufspießte.
 

„Das stimmt, Mr. Holmes“, fügte Julia hinzu, auch wenn ihr Tonfall wesentlich leichter und unauffälliger war als mein eigener. „Denn ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ich wohl niemals heiraten werde. Ich finde, die Ehe ist für junge Ladys heutzutage viel zu einengend. Warum sollten wir nicht die Möglichkeit auf ein Leben außerhalb des Hauses haben?“
 

Der Gesichtsausdruck meines Freundes war verzerrt, so als ob Miss Hudsons Worte zu bizarr für sein Verständnis wären. Aber er schien über die Absichten der jungen Lady erleichtert. Oder über den offensichtlichen Mangel derselben. Er drehte sich zu mir um und strahlte beinahe. „Ich vermute, dieser Verlust trifft unser eigenes Geschlecht, Watson. Stimmst du mir nicht zu?“
 

„Mit Sicherheit. Zumindest trifft er irgendeinen Glückspilz.“ Ich bedachte das Wort mit mehr als nur Betonung.
 

„Ich denke, du wärst eine sehr gute Mama, Julia“, piepste Josh.
 

„Vielen Dank, Josh.“
 

„Woraus schließt du das, John Sherlock?“, fragte Holmes.
 

Sowohl Julia als auch ich drehten um schnell zu ihm um. „Wie bitte, Mr. Holmes?“, sagte ich Julia im selben Moment, als ich „Holmes!“ sagte.
 

Aber er winkte uns nur ab und hielt sich zweifellos völlig gerechtfertigt. „Oh, halten Sie mich nicht für unverschämt. Sie wären zweifellos eine absolut reizende Mutter, Miss Hudson. Aber ich versuche die Rhetorik des jungen John Sherlock zu verbessern und der beste Weg dazu ist, ihn davon zu überzeugen, dass er sich logischer ausdrücken muss. Er muss in der Lage sein, seine Aussagen mit Fakten und Beobachtungen zu untermauern.“
 

Ich konnte sofort sehen, dass sie ihm zuerst nicht glaubte. Wer konnte es ihr verdenken? Nur wenige Auserwählte, wie ich selbst, die diesen Mann wirklich kannten, wussten, wie absolut energisch er in dieser Hinsicht war. Und es muss ihr zugute gehalten werden, dass Julia es ziemlich schnell erkannte.
 

„Sie meinen das wirklich ernst, nicht wahr?“
 

„Natürlich.“ Er benutzte seine Gabel als Zeigestock, um seine Worte zu unterstreichen. „Für den Jungen ist es essentiell, dass er lernt, seine Umwelt wahrzunehmen. Er verfügt über einen großen Hang zur Logik, für sich genommen ein seltener Charakterzug, und ich werde nicht mit ansehen, wie er ihn verliert.“
 

Die Ironie davon war so gewaltig, dass ich beinahe angefangen hätte zu lachen. Hier saß er, erklärte uns, dass der Junge lernen musste, aufmerksam und logisch zu sein und doch hatte ich erst vor ein paar Stunden eine Unterhaltung mit ihm gehabt, die nahe legte, dass er viel aufmerksamer wurde, als ich gehofft hatte. Eben jene Lektionen, die der Junge von Holmes lernte, konnten logischerweise dessen eigenen Untergang heraufbeschwören.
 

Ich sah Josh an, der den Mund voller Hünchen hatte, aber er grinste nur breit und genoss es, dass die Erwachsenen über ihn redeten. Holmes wusste sicher, was er tat. Er musste erkennen, dass wenn er dem Jungen beibrachte, alles um ihn zu deduzieren, er auch die wahre Natur unserer Beziehung deduzieren würde.
 

„Und was denkst du darüber, John?“
 

Ich stocherte in meinem Essen herum. Langsam verlor es für mich jeden Geschmack. Es war unmöglich für mich, meine Gedanken zu erklären. In Wahrheit wollte ich, dass Josh mit dem Wissen reifte, von dem ich wusste, das Holmes es ihm geben konnte. Ich wollte, dass er jede Möglichkeit hatte. Er sollte mit Sicherheit die besten Schulen besuchen; sollte sich für die angesehensten Karrieren vorbereiten. Allerdings würde er dabei unvermeidlich misstrauisch angesichts Holmes und mir werden. Aber da war noch mehr. Ich hatte es schon in jenem Moment gesehen, als sich die beiden vor zwei Jahren kennen gelernt hatten. Joshs Wesen konnte ihn nur zu leicht dazu zwingen, ein einsamer Bohème zu werden, der mit seinem Verstand und niemals mit seinem Herzen lebte, der von seiner Vergangenheit heimgesucht wurde. Ich wollte nicht, dass er Holmes werden würde. Dankeswerterweise unterbrach mich Josh, bevor ich irgendeine Antwort hervorbringen konnte.
 

„Aber es ist logisch, dass sie eine gute Mutter wird, Onkel. Sie ist hübsch so wie meine Mutter. Und meine Mutter war sehr gut.“
 

Holmes schnaubte angesichts seiner versuchten Logik. „Ja, aber diese beiden Dinge hängen kaum von einander ab, Junge.“
 

„Nun, ich halte es für einen reizenden Gedanken, Josh. Und ich danke dir dafür.“ Julia warf Holmes einen seltsamen, beinahe wütenden Blick zu und ich konnte es ihr nicht verübeln. Sie konnte nichts von der achtlosen Art wissen, mit der dieser Mann hin und wieder andere Menschen behandelte. „Ich hätte gerne einen Jungen, der so klug ist wie du.“
 

Holmes sagte nichts, aber er schnaubte wieder. Der Gedanke, dass so etwas nur über seine Leiche geschehen würde, schien in ihm aufzuflammen und ich fühlte es. Es war Josh, der als nächstes sprach. Er sah sie direkt an, seine Gabel mit einer kleinen Faust umklammert, während er in der ungeduldigen Art eines Fünfjährigen in die Luft trat. „Es wäre schön, dich als Mutter zu haben. Aber ich denke es ist in Ordnung, dass ich keine mehr hab. Ich hab Papa und Onkel.“
 

Holmes lachte und Josh ebenso, allerdings nur weil er es tat. Ich versuchte meine Konzentration zurück auf das Abendessen zu lenken, aber es war zu diesem Zeitpunkt vergeblich. Niemand vermutete irgendetwas, das er nicht vermuten sollte. Aber ich konnte das Gefühl der Angst trotzdem nicht unterdrücken.
 


 

In dieser Nacht, nachdem ich Josh ins Bett gesteckt und mit Holmes und Julia Kaffee getrunken hatte, ging ich eher früh schlafen. Die beiden waren ziemlich schweigsam gewesen, besonders einander gegenüber und wenn sie sprachen, dann war es meistens an mich gerichtet. Beide schienen den anderen für gefährlich zu halten, wenn auch offensichtlich aus verschiedenen Gründen. Als ich einschlief, geschah es kurz und schmerzlos, wie es nach zwei, drei mehr oder weniger schlaflosen Nächten zu erwarten ist.
 

Ich weiß, dass ich in jener Nacht geträumt hatte, aber ich konnte mich an nichts Bestimmtes erinnern. Das Ergebnis allerdings war offensichtlich genug. Ich erwachte mit einem Gefühl leichten Unbehagens und Unerfülltheit, hatte zeitweilig vergessen, dass das Bett, in dem ich lag, nur Platz für einen bot. Aber der seltsamste Teil dabei war, dass ich nicht sagen konnte, wer der Gegenstand des Traumes gewesen war.
 

Ein leicht klopfendes Geräusch an der Tür riss mich in einen wacheren Zustand. Es musste nach Mitternacht sein. Ich holte tief Luft und versuchte mich zu beruhigen. Es konnte nicht Holmes sein. Er machte sich nie die Mühe, zu klopfen.
 

Sie sah bei flackerndem Kerzenschein ebenso reizend aus wie bei Tageslicht. „Es tut mir Leid, Sie zu stören, John“, sagte Julia. „Aber ich wollte mich bei Ihnen verabschieden. Ich hätte es schon heute Abend tun sollen, aber ich dachte, ich würde Sie noch sehen, bevor ich aufbrechen würde.“
 

Ich festigte das Band um meinen Morgenrock. „Sie brechen auf? Mitten in der Nacht?“
 

„Mein Zug verlässt Victoria um vier. Ich bevorzuge es, früh zu reisen. Weniger Gedränge.“
 

„Müssen Sie wirklich schon so bald gehen?“ Ich hielt inne, als ich erkannte, was ich sagte, aber es war zu spät.
 

Sie lächelte. „Ich fürchte. Wollen Sie nicht mit mir hinunter gehen? Um mir bei meinem Gepäck zu helfen, meine ich.“
 

Natürlich wollte ich. Mit ihr allein in der Dunkelheit des Hauses und dann in der kühlen Ruhe eines immer noch schwarzen Londoner Morgens zu sein, war eine größere Einladung als es bedurfte. Sie reiste leicht, hatte alles in einer Tasche untergebracht. In ihrer Reisekleidung, die weniger prunkvoll war als das gestrige Kleid, wirkte sie älter, reifer. Aber nicht weniger begehrenswert. Und ich, der ich in Nachthemd und Morgenrock, Pantoffeln und zerzaustem Haar vor ihr stand, hätte mir sehr närrisch vorkomme müssen. Doch irgendwie tat ich es nicht, während der einzigen kurzen Sekunden, die wir hatten, bevor sie in die bereits wartende Kutsche steigen und gehen würde.
 

„Sie werden doch natürlich zurückkommen? Um Ihre Großmutter zu besuchen, meine ich?“
 

„Ich bin kein Mensch, der irgendwelche Versprechen gibt, John. Aber was auch immer passieren wird, ich war froh, Sie heute getroffen zu haben. Oder besser gesagt gestern.“
 

„Und ich habe keine Zweifel, dass Sie einmal eine gefeierte Schauspielerin werden. Aber wenn Sie jemals in Schwierigkeiten sind…“ Aber ich wusste nicht, wie ich diesen Satz angemessen beenden konnte.
 

Sie beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. „Vielen Dank.“
 

Und dann öffnete ich die Kutschentür und stellte ihr die Kleidertasche zu Füßen. Ich war mir damals ziemlich sicher, dass ich sie wohl niemals wiedersehen würde. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob das nun Glück oder Unglück war.
 

Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen und auch ohne auf die Uhr zu sehen, wusste ich, dass es nicht später als drei sein konnte. Aber ich war völlig wach. Wacher als ich es jemals in den letzten Monaten gewesen war. Ich konnte fühlen, wie das Blut in meinen Adern pulsierte. Innerhalb einer Sekunde war ich zurück ins Haus gegangen und war im ersten Stock. Alles war dunkel und ruhig. Der einzige Laut war der meiner Schritte auf den durchgetretenen Teppichen.
 

Ich öffnete die Tür zu Holmes’ Zimmer.
 

Er schlief, aber niemals so tief, dass er nicht augenblicklich erwachen konnte. Ich hatte lange seinen schlafenden Anblick genossen: die sanfte Blässe der flackernden Lichter auf seinem Gesicht, das schnelle und stoßweise Auf und Ab seiner Brust.
 

Er erwachte mit einem schnellen Ruck und setzte sich halb auf, während er sich orientierte und sich dann zu mir umdrehte. „Watson? Was tust du…“
 

Ich drückte meinen Mund so fest gegen seinen, dass ich uns beiden den Atem raubte. Zunächst wehrte er sich beinahe, zweifellos aus Überraschung, aber er gab schnell nach. Ich kann nicht sicher sagen, was damals in meinem Kopf vorging, aber ich versuchte, nicht zu denken. Nicht an das letzte Mal zu denken, als wir uns nah gewesen waren. Nicht an Rache zu denken, auch wenn es so einfach gewesen wäre. Und ich versuchte außerdem, ihn nicht als Ersatz zu sehen, für ein anderes Wesen, dessen Bild immer noch in meinem Geist brannte.
 

„Dann ist sie also fort?“, fragte er. Seine Stimme war ein keuchendes Flüstern.
 

„Sprich nicht über sie.“ Knurrte ich und er nickte, gehorchte mir mit einer Ungezwungenheit, die mir in der Vergangenheit noch nie so mühelos gewährt worden war.
 

Ich wollte ihn. Nein, in Wahrheit wollte ich sie beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Aber ich konnte Julia nicht haben. Sie war nach nur einem Tag aus meinem Leben verschwunden und mit ihr ging jede Hoffnung auf ein respektables Leben. Ein höfliches Leben, das ich nicht verstecken musste. Ein Leben, das meinem Sohn eine Mutter gegeben hätte, einen beständigeren Geliebten für mich selbst und eine Familie, die auch jenseits von geschlossenen Türen und abgedunkelten Räumen existieren konnte.
 

Aber ich konnte Holmes nicht verlassen. Denn ich wollte auch diese Familie. Das Abenteuer, die Herausforderung, das Verlangen, die Besessenheit…der andauernde Kampf zwischen uns war manchmal entmutigend, aber manchmal auch stimulierend. Er brauchte mich und ich ihn. Aber ich konnte nicht beide Leben haben.
 

Er griff mit einer heißen Hand hinauf an meine Wange, ließ sie für einen Moment dort rasten, bevor er sie in meinen Nacken fallen ließ. Unsere Blicke trafen sich. Er zog mich heftig an sich. Und ich vergaß jeden anderen außer ihm. Es war immer noch sehr früh. Es schien zu früh, um den Tag tatsächlich zu beginnen. Holmes war erschöpft in einer Masse von verdrehten Bettlaken eingeschlafen, als ich ihn verließ. Ich konnte in jenem Moment nur an ein langes, kühles Bad denken. Der Tag würde noch früh genug beginnen.
 

Gerade als ich mich darauf vorbereitete, mich lange und ununterbrochen einzuweichen, fiel mir etwas ins Auge. Es war das braune ledergebundene Buch, das Holmes mir gegeben hatte. Sein Tagebuch. Ich hatte noch nicht viel Zeit gehabt, es mir anzusehen. Ich hatte im Zug nur etwa eine Stunde im Buch herumgeblättert. Ich schlug eine beliebige Seite auf und zwang meine Augen mich an die schlampige Schrift zu gewöhnen. Es erschien mir augenblicklich, dass ich einen sehr viel versprechenden Eintrag gewählt hatte.
 

Die Worte waren natürlich in Holmes’ eigenen Worten, die Gefühle und die Taten seine eigenen. Aber wenn man es von der dritten Person aus betrachtete, war es viel leichter zu erkennen, wie bestimmte Dinge sich auf alle Betroffenen auswirkten:
 

Mycroft fand seinem Bruder an demselben Ort, an dem er nun schon einen ganzen Monat lang gewesen war – er saß auf dem Fensterbrett und starrte hinaus ins Moor. Er war blass, aber das kam davon, dass er seit Tagen so gut wie nichts gegessen hatte. Abgesehen davon wirkte er völlig normal, als ob überhaupt nichts geschehen wäre. Keine Tränen, kein Schluchzen. Er saß einfach nur da und starrte hinaus – beinahe kataleptisch.
 

Mycroft runzelte die Stirn, als er sah, dass er nicht einmal blinzelte. Und zum ersten Mal in seinen achtzehn Jahren fühlte er sowohl Ehrfurcht als auch Sorge gegen seinen Bruder. Es war als ob er seine gesamte Zukunft vor sich ausgebreitet sah und wusste, dass was auch immer seine eigene Laufbahn für ihn bereithielt, es Sherlock sein würde, der den Namen Holmes berühmt machen sollte.
 

„Bist du nicht hungrig?“, begann er, weil er das, was er eigentlich sagen wollte, nicht für angemessen hielt. Sherlock sah ihn nicht einmal an, aber Mycroft trat trotzdem ein und versuchte seine strengste Miene der Autorität aufzusetzen. „Ich nehme dann also an, dass du vorhast, den Rest deines Lebens in diesem Zimmer zu verbringen?“ Er bewegte sich, bis er unmittelbar hinter seinem Bruder stand, sodass er sehen konnte, was er so intensiv anstarrte. Aber außer den uralten Ulmen, die sich im Wind wiegten, gab es nur wenig zu sehen. „Es ist natürlich nicht mein Problem“, fuhr Mycroft vor. „Wenn du dein Leben derartig verschwenden willst…ein Einsiedler wirst, für den der Rest der Welt nicht länger existiert…ich vermute, dass ist dein gutes Recht. Aber ich bin gekommen, um dir…eine alternative Existenz anzubieten.“
 

Er hatte das Gefühl, als hätte der Junge gezuckt, aber es war so subtil, dass er sich nicht sicher sein konnte.
 

„Es bleibt die Tatsachte, dass ich deinetwegen mit Vater gesprochen habe. Sie – er und Mutter – sind ebenso verzweifelt, aber ich habe ihm gesagt, dass es wichtig ist, dich mit mir zur Schule zu schicken. In der Nähe meines Colleges in Oxford befindet sich eine ausgezeichnete Vorbereitungsschule. Es ist nah genug, dass ich ein Auge auf dich haben kann“—Mycroft war sich sicher, dass das eine Reaktion hervorrufen würde, aber es geschah nichts—
 

„Und wenn du dort deinen Abschluss gemacht hast, wirst du direkt auf die Universität gehen können und danach natürlich jede Laufbahn einschlagen, die du möchtest. Natürlich habe ich keinerlei Zweifel, dass du Erfolg haben wirst. Und das ist eine gute Möglichkeit für dich.“
 

Da. Er hatte seinem Bruder gerade eine Chance angeboten. Er hatte das alles für ihn getan. Das Temperament seines Vaters in Kauf genommen, noch mehr Verantwortung auf seine eigenen Schultern geladen und versuchte seinen Bruder davon zu überzeugen, dass er über den Tod ihrer Schwester hinwegkommen musste. Er war der ältere Bruder, der einzige, der in dieser Tragödie klar denken konnte, der Fels, auf den sich die anderen verlassen hatten. Seit einem Monat hatte er alle Verantwortung übernommen, sich um sowohl seine Mutter als auch seinen Bruder zu kümmern, die Dienstboten zu kontrollieren und sicherzugehen, dass seine Eltern die Familie nicht völlig von der Zivilisation isolierten. War es falsch von ihm, sich dafür ein klein wenig Dank zu erhoffen?
 

Anscheinend.
 

„In Ordnung! Wenn du es so willst, dann soll es so sein! Verdammt, Sherlock, ich habe meinen Teil getan!“ Nun war Mycroft wütend, nach einem ganzen Monat schließlich nicht mehr in der Lage, seinen Ärger zurückzuhalten. „Ich weiß, dass dich Philippas Tod verletzt hat. Ich weiß, wie nah ihr euch standet. Aber verdammt noch mal, du bist nicht der Einzige, dem sie wichtig war! Du bist nicht der Einzige, der einen geliebten Menschen verloren hat!“ Er schluckte schwer, als er fühlte, wie das Gewicht in seiner Brust zurückkehrte. Er konnte immer noch nicht an Jane denken. Ihm wurde übel.
 

Gerade als Mycroft sich umdrehte, um den Raum zu verlassen und seinen Bruder zu einem Leben in einem kataleptischen Schock zu verdammen, in dem er niemals die Trauer und die Emotionen herauslassen würde, hörte er schließlich die Stimme des Jungen.
 

„Es hätte dich treffen sollen.“
 

Sein Bruder drehte sich erstaunt um. „Wie?“
 

Sherlock drehte sich langsam um, seine Augen schmal und dunkel. „Es hätte nicht…sie treffen sollen. Warum konnte es nicht dich treffen? Ich brauche sie! Niemand braucht dich, Mycroft! Niemand! Aber jetzt habe ich sie verloren…und das Baby…du hättest dort sein sollen! Zur Hölle mit dir, Mycroft! Du! Du bist nutzlos! Du bist nur ein fetter, dummer, nutzloser Schnösel!“
 

Mycrofts erste Reaktion war natürlich Wut. Es war mehr ein Impuls, eher eine Intuition als etwas anderes, als er die Hand gegen seinen Bruder hob. Diese Impertinenz ließ das Blut in seinen Ohren hämmern. Und verdammt noch mal, wenn er es nicht zeigen würde.
 

Aber im letzten Moment, bloße Zoll von Sherlocks Hinterkopf entfernt, hielt er inne. Es war, als würde ihn eine Kraft packen, stärker als seine eigenen Muskeln und er konnte den Jungen nicht schlagen. Sein Zorn verwandelte sich schnell in Entsetzen, denn auf den Wangen seines Bruders waren nun Tränen; ein deutliches Zittern begann an seinen Lippen und wurde zu einem Krampf, der kein Zoll des Jungen verschonte. Ob es tatsächlich physischer Schmerz war, wusste Mycroft nicht, aber es sah mit Sicherheit so aus. Der Junge begann mit all der Qual eines Menschen zu schreien, dessen Seele aus seinem Körper gerissen wurde. Niemals hatte der ältere Holmes etwas Derartiges gesehen. Besonders nicht von Sherlock.
 

„Warum!“, schrie Sherlock, unfähig sich zu kontrollieren. „Warum…warum…warum sie!“ Mit einer plötzlichen Bewegung sprang er von dem Fenstersims auf den Boden und schlug so heftig gegen die Wand, dass Mycroft zusammenzuckte, als er hörte, wie der harte Verputz unter dem Schlag seines Bruders brach.
 

Erstaunlich genug, war es eben jenes Geräusch, das etwas in Mycroft erweckte. Das Entsetzen über die Reaktion seines Bruders floh aus seinem Körper und er packte ihn, bevor der Junge dauerhaft beide Hände schädigen konnte.
 

Selbst als sich die massiven Hände um die dünnen Arme seines Bruders schlossen, hörte er nicht auf, zu schlagen. Von allen zehn Fingerknöcheln flog Blut und Mycroft wusste, dass zumindest zwei Finger gebrochen waren. Sie nahmen bereits einen unnatürlichen purpurnen Farbton an. „Warum hast du es nicht verhindert!“
 

Sherlock schrie. „Warum…du hättest sie aufhalten sollen!
 

Warum…du hättest sie aufhalten sollen!“ Er verpasste ihm eine ziemliche Linke in den Magen, aber trotzdem ließ er nicht los.
 

„Warum!“ ‚Wumm’ Der Tritt verfehlte seinen Schritt nur knapp.
 

„Hör auf!” Mycroft schüttelte ihn heftig. Sein Kopf pendelte vor und zurück wie der einer Puppe. „Um Gotteswillen hör auf!“
 

„Oh, Gott…sie ist tot! Sie ist wirklich tot…“ Als er ins Gesicht seines Bruders blickte, waren seine Augen vor Tränen beinahe zugeschwollen. „Mycroft…“, flüsterte er. „Was soll ich tun? Bitte…du musst mir sagen, was ich tun soll!“
 

Während der ganzen achtzehn Jahre hatte Mycroft Holmes versucht, der Sohn zu werden, den sein Vater haben wollte: Stark, athletisch, unnachgiebig, völlig furchtlos und mannhaft. Bis zu diesem Moment war in seinem Herzen nichts als Eifersucht gewesen. Denn auch wenn es kein sichtbares Zeichen von A.G. Holmes gegeben hatte, erkannte Mycroft leicht, dass von den beiden Brüdern Sherlock derjenige war, der diesem Profil entsprach. Er war athletisch gebaut, unermesslich tapfer, hatte Angst vor niemandem – nicht einmal ihrer Mutter – und mit der Zeit würde er ihn selbst geistig übertreffen können. Mycroft würde die Universität abschließen, sich selbst einen sicheren Platz in der Regierung verschaffen, aber es würde Sherlock sein, an den sich jeder in einem Jahrhundert erinnern würde. Dieser Augenblick – diese Schwäche in den Augen eines Menschen, der immer noch so jung war – zerschmetterte schließlich Shakespeares grünäugige Monster im älteren Holmes und er nahm seinen Bruder in die Arme.
 

„Ich werde dir sagen, was du tun wirst“, sagte Mycroft. „Du wirst mit mir zur Schule kommen. Ich habe alles arrangiert. Du wirst brillant sein, was für dich nicht schwer ist, da bin ich mir sicher und dann wird es nach Oxford gehen und zu einer unvergesslichen Karriere. Du wirst heiraten und eine Familie haben und langsam wird der Schmerz schwinden. Es wird nicht einfach sein, natürlich, aber es kann keine Diskussion darüber geben. Du musst es tun, Sherlock.“
 

Sherlock konnte nicht einmal über den Plan für seine Zukunft nachdenken, den sein Bruder so fein säuberlich vor ihm ausgebreitet hatte. Sein Kopf pulsierte nun und er begann, den pochenden Schmerz in seiner rechten Hand zu fühlen. Seine Kehle fühlte sich vom Schreien rau an und sein Hals war geschwollen, wo Mycroft in geschüttelt hatte. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er außerdem etwas, von dem er nicht gedacht hatte, dass es ihn jemals wieder treffen würde: Erschöpfung. Sein Körper entbehrte jegliche Energie. Er ließ seinen Kopf gegen die umfangreiche Mitte seines Bruders fallen und murmelte: „Mir war nicht klar, dass ich überhaupt etwas tun muss, Bruder.“
 

Es war schwer zu glauben und mit Sicherheit schwer vorzustellen. Auch wenn er noch ein Kind gewesen war – etwas, das ich mir immer noch kaum vorstellen konnte – schien eine solche Vorführung der Gefühle von ihm unbegreiflich. Es war in jenem Moment, da ich wahrhaft erkannte, wie viel Schaden ihm Philippas Tod zugefügt hatte.
 

Ich musste beinahe lächeln, wenn auch nicht aus Belustigung, als ich Mycrofts Vorhersagen für seinen Bruder las. Es schien mir seltsam, dass beide solche brillanten Männer waren und doch so eifersüchtig aufeinander. Mycroft hatte gedacht, Sherlock würde heiraten, sich einen Platz in der Regierung sichern, sein Wissen zum Wohl des Landes einsetzen.
 

Nun, er hatte zumindest in einer Hinsicht Recht behalten.
 

Und doch konnte ich nicht anders, als mich zu fragen, was geschehen wäre, wenn Philippa nicht gestorben wäre. Es war absolut klar, dass ihr Tod ein Wendepunkt im Leben des jungen Sherlock gewesen war. Deswegen hatte er sich entschieden seine Fähigkeiten zur Deduktion einzusetzen, um andere vor demselben unwissenden Schmerz des Verlustes zu bewahren. Er konnte es leugnen, so viel er wollte. Er konnte sagen, er wäre Detektiv geworden, um der Langeweile zu entgehen, um seinen Verstand einzusetzen, damit er der schwerfälligen Existenz der Routine entrinnen konnte.
 

Aber ich wusste, dass das noch nicht alles war. Er war ein Meister der Geheimhaltung. Er hatte seine Gefühle für mich verschwiegen und er hatte den Schmerz verschwiegen, den der Tod seiner Schwester ihm zugefügt hatte, ebenso wie den wahren Grund, weshalb er Detektiv geworden war.
 

Ich schloss das Buch und erhob mich aus dem Badewasser in der Absicht, mich hinzulegen, aber in meinem Geist war ich weit von der Fähigkeit zu schlafen entfernt. Holmes hatte sich in diesen letzten Tagen verändert. Der Tod seiner Mutter und die Rückkehr nach Hause, hatten ihn dazu gebracht, allen Kummer seines Daseins noch einmal zu durchleben. Alle Gefühle, die er so gut tief in sich vergraben hatte, waren wieder an die Oberfläche gekommen, wie es in seiner Kindheit geschehen war.
 

Und Josh. Josh hatte mit Sicherheit denselben Pfad eingeschlagen. Der einzige Unterschied daran war, dass diesmal ich die Schuld trug.
 

Aber vielleicht gab es eine Lösung. Eine Lösung für beide Probleme.

In jener frühen Stunde, als ich die untätige Kutsche nach Scotland Yard befahl, wirkte die Baker Street immer noch verschlafen und träge. Als ich die vorbeiziehende Szenerie beobachtete, schien es mir, als wäre an jenem Morgen die ganze Stadt müßig, niemand hatte es eilig, den Tag zu beginnen. Ich hoffte nur, dass unsere Polizei eine andere Einstellung hatte. Oder besser gesagt, ein bestimmter Mann dort.
 

Das New Yard [1] nahe der Thames war ein einsam aussehendes Gebäude, irgendwie hinter einem hohen Eisenzaun verborgen, der für mich charakterisierte, was seine Bewohner repräsentierten. Aber ich war dort nicht unbekannt und hatte keinerlei Probleme, Zutritt zu erhalten und eine Menge junger, dreister Polizisten auf der Suche nach dem Inspektor zu passieren.
 

Er war in einem Hinterzimmer, einer gewissen Art von Büro, aber einem, dass nur aus einem Schreibtisch und einem Stuhl bestand, ergänzt vielleicht noch mit ein paar in einer Ecke verstreuten Büchern und einem Abfalleimer voller Zigarettenkippen und Papiermüll. Der Mann, der den Stuhl besetzte, hatte sich weit nach vorn gebeugt, während er sehr schnell schrieb, wodurch er seine ohnehin schon befleckten Finger mit Tinte verschmierte. Die andere Hand war fest gegen den Kopf gelehnt, so als versuche sie, ihn aufrecht zu halten. Das Gesicht war zu einem müden Stirnrunzeln verzogen.
 

Den Regulären Streitkräfte ist kaum ein Vergnügen vergönnt, sagte Holmes einmal zu mir.
 

Nun, sie können ihrer Arbeit wohl kaum so grillenhaft nachgehen wie du, hatte ich geantwortet. Denk an das wuchernde Verbrechen.
 

Er grinste breit. Ja, ja! Das wuchernde Verbrechen! Ich betrachte es prozentuell. Ein höherer Verbrechensanteil würde auch eine höhere Chance auf interessante Fälle bedeuten. Vergiss das nicht, Doktor!
 

Ich streckte die Hände nach ihm aus. Ich denke, du bist wahrhaft verdorben, mein Lieber…
 

Ich habe Lestrade einmal mit einem fahlen, rattenhaftem Gesicht mit zwielichtigen, dunklen Augen oder ähnlich beschrieben. Und seine äußere Erscheinung ließ wirklich nicht unbedingt auf Geselligkeit oder Leutseligkeit schließen. Hätte ich den Kerl auf der Straße oder in einem Klub getroffen, hätte ich ihn wohl eher gemieden. Er kam mir einst wie die Verkörperung des schlimmsten Scotland Yarders vor – übermäßig von sich überzeugt, unverfroren und achtlos. Aber über die Jahre bin ich ein wenig weiser geworden (so hoffe ich zumindest) und mittlerweile weiß ich, dass es ungerechte Verurteilungen waren. In vieler Hinsicht war er ein typischer Yarder, aber seine Eifersucht auf die Fähigkeiten meines Freundes blieb nicht ohne Nutzen. Und mehr als alles andere gründete sich jene Eifersucht auf Respekt. Ich vermute, dass auch ich ein gewisses Maß daran für diesen Mann empfunden hatte. Andernfalls wäre ich wohl nicht dort gewesen.
 

„Lestrade?“
 

Er ließ seine Feder fallen und sah auf, während er sich die rotumrandeten Augen rieb. „Was gibt es?“
 

Ich konnte das Lächeln nicht unterdrücken. „Sie sind doch nicht zu beschäftigt? Ich wollte Sie nicht stören.“
 

„Nun…Dr. Watson! Was um Himmelswillen führt Sie hierher?“ Er streckte seine Hand aus, aber ließ die anderen zeitraubenden Begrüßungsformalitäten aus, was mir nur recht war. Wenn unsere Beziehung auch nicht eng war, kannten wir einander doch lang genug, um von diesen überflüssigen Nettigkeiten entbunden zu sein.
 

„Ich brauche Ihre Hilfe, Lestrade“, sagte ich, während ich mich auf den anderen Stuhl setzte. „Im Rahmen eins Falles.“
 

Ich hatte angenommen, er würde darüber herzhaft lachen und hatte mich damit nicht geirrt. Die spitze Nase und das spitze Kinn wurden in die Luft gehoben, als ein keuchendes Gegacker aus ihm hervorbrach; seine winzigen dunklen Augen strahlten mich an. Da erkannte ich, dass ich den Mann noch nie lachen gehört hatte. Es schien unbegreiflich, dass ein Yarder eine solche Emotion zeigen würde. Sie sollten die schleppende, geistlose Armee von Nagetieren sein, als die sie Holmes in meiner Gegenwart nur zu oft bezeichnet hatte. Auch wenn ich nun besser verstand, weshalb er so von ihnen dachte. Seine eigenen Vorurteile gegen sie hatten den niemals aufgeklärten Tod seiner Schwester zum Ursprung.
 

Und dann waren da natürlich meine eigenen Vorurteile. Die auf merkwürdige Art auf Lestrade reagierten. Abgesehen von Mycroft war er der einzige Mann, der Holmes länger kannte als ich. Und das gefiel mir nicht.
 

„Verzeihen Sie mir, Doktor“, sagte Lestrade. „Wirklich, verzeihen Sie mir, aber ich fand das einfach zu herrlich. Sie sind hierher gekommen, zu mir, wegen einem Fall. Warum zum Teufel sollten Sie das tun? Hat Mr. Holmes zu guter Letzt doch noch den Verstand verloren? Ich hatte schon immer den Verdacht, dass das eines Tages geschehen würde. Unter Genies grassiert eine gewisse geistige Zerbrechlichkeit, wissen Sie…“
 

„Das hat er mit Sicherheit nicht, Lestrade. Tatsächlich ist der Grund, weshalb ich zu Ihnen anstelle von Holmes kommen muss…nun, dieser besondere Fall betrifft ihn.“
 

Sein alter Stuhl knarrte, als er sich mit leicht geöffnetem Mund nach vorn beugte. „Ist das Ihr Ernst?“
 

„In der Tat. Oder eher, unglücklicherweise.“
 

Ich setzte mich dem Mann gegenüber und verbrachte die nächste Viertelstunde damit, ihm alles zu erzählen, was ich von Philippas Tod wusste – was zugegebenermaßen nicht gerade viel war. Nur was ich in Holmes’ Tagebuch gelesen hatte. Die Details schienen allerdings weit lebendiger, als ich sie einem anderen laut wiedergab. Die Kälte des späten Dezembermorgens, die Wut meines Freundes, das dichte Gedränge von Menschen, in der Straße wie Ratten zusammengepfercht, die Kugel die Philippas Körper und Sherlocks eigenes Herz durchbohrte. Es waren natürlich keine Namen genannt worden (mit Ausnahme von Davies), sodass ich damals noch keine Ahnung hatte, dass die Lestradefamilie in diesen Fall verwickelt gewesen war. Aber als ich mich dem Ende der Geschichte näherte, änderte sich der Gesichtsausdruck des Inspektors so dramatisch, dass ich fast von selbst darauf gekommen wäre.
 

„Mein Gott“, überlegte er, während er sich langsam erhob. „Was für ein unglaublicher Zufall.“
 

„Was…was?“
 

„Mein eigener Vater“, sagte er zu mir. „Der verstorbene Superintendant George Lestrade, senior. Er dürfte damals erst Inspektor gewesen sein, aber seine Taten sind ziemlich unübertroffen. Einige der älteren Kerle hier erinnern sich tatsächlich noch an ihn. Ich selbst bin ein robuster Anfänger gewesen, als er sich zur Ruhe setzte. Allerdings war es eben der Fall, dass ich schon in sehr jungem Alter zu meinem Vater als Vorbild aufsah, besonders in Sachen Verbrechensbekämpfung. Ich wusste schon ziemlich früh, dass ich so wie er dem Yard beitreten würde…und teilweise deshalb und auch weil ich der einzige Sohn war, besprach er seine Fälle hin und wieder mit mir. Einige blieben mir besonders wegen der Brillanz im Gedächtnis, mit der er sie aufklären konnte. Allerdings kann ich mich nur an einen einzigen erinnern, der ihn immer heimgesucht hat. Der Fall, vielleicht der einzige in seiner ganzen Laufbahn, den er nicht lösen konnte…“
 

Ich hatte Lestrades Erzählung mit einiger Aufmerksamkeit zugehört, aber es war dieser letzte Satz, der mich wirklich aufhorchen ließ. „Wollen Sie damit sagen, dass es Ihr Vater war, der die Untersuchung geleitet hatte? Die Untersuchung von Philippas Tod?“ Das Tagebuch hatte nur sehr wenig vom eigentlichen Mord berichtet, da es Holmes zweifellos schwer gefallen war, darüber zu schreiben. Er schrieb viel eher von einem separatistischen[2] Blickwinkel, als ob die Gedanken einfach frei von seinem Geist in die Feder fließen würden.
 

„In der Tat. Ich kann mich deutlich erinnern. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Vater…Mein Vater war ziemlich verzweifelt. Ein junges Mädchen, frisch verheiratet, schwanger. Eine dichte Menschenmenge und anscheinend hatte niemand viel gesehen. Es war wirklich bizarr…ich erinnere mich, dass er mir sagte, wie seltsam es wäre, dass bei so vielen Menschen niemand einen Mann mit einer Pistole bemerkt hatte. Allerdings handelte es sich um den Abschaum der Gesellschaft und sie sind nicht immer begierig, den Mund aufzumachen. Aber das wissen Sie natürlich bereits, Doktor.“
 

„Ja…“
 

Seine Augen streiften die schmutzige Zimmerdecke, während er sich in Erinnerungen versunken zurücklehnte. „Ich kann mich sonst nicht mehr an Vieles erinnern, fürchte ich. Es ist schon sehr lange her…außer an zwei Brocken von Information. Dort war eine Kneipe, sagte er, nur zehn Yard entfernt von der Stelle, wo die Leiche gestürzt war. Vater hatte immer geglaubt, der Mörder müsste ein betrunkener Wahnsinniger gewesen sein, der daraus getaumelt war. Außerdem konnte der Polizeichirurg feststellen, dass sie einmal getroffen worden war, durch das Herz, aber es war eine seltsame Wunde. So als ob ein sehr großer Mann sich über die Lady gebeugt und auf sie hinunter geschossen hätte…“
 

„Sie erinnern sich an eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass es dreißig Jahre her ist.“
 

„Ja, aber es war das erste Mal, dass Vater einen Mord mit mir besprochen hatte. Bis dahin wollte meine Mutter es nicht erlauben“, erinnerte er sich mit einem leichten Grinsen. „Nach dem Abendessen saß ich immer auf meinem Schemel im Salon, während Vater die Abendausgabe der Times las. ‚George’, würde er in seiner autoritären Stimme sagen. ‚Du muss ein besserer Mann werden als diese hier.’ Damit meinte er natürlich all die Kriminellen und die Verbrechen, über die an jenem Tag berichtet worden war. ‚Du musst ein besserer Mann werden und mir helfen, unsere Stadt zu einem sichereren Ort zu machen.’“
 

„Ich, äh, ich bin mir sicher, dass er stolz auf Sie wäre, Lestrade.“
 

„Ja…für Ihren gilt zweifellos dasselbe, Dr. Watson. Der berühmte Biograph des großen Sherlock Holmes!“ Ich war mich nicht sicher, ob in seinen Worten Zynismus mitschwang, aber ich ließ ihn in dem Genuss des Zweifels kommen.
 

Wir beide saßen daraufhin in einem Moment des Schweigens, während Lestrade sein Zigarettenetui öffnete und mir eine anbot, die ich höflich ablehnte. Ich konnte nur vermuten, dass wir beide an unsere respektierten Väter dachten. Er war sich sicher, dass der seine stolz sein würde. Und weshalb solle er auch nicht? Er hatte es bereits zum Inspektor gebracht, hatte schon eine große Anzahl von Fällen gelöst (was er nicht unwesentlich meinem Freund zu verdanken hatte) und er hatte Frau und Kinder. In gewisser Weise hatte auch ich all das erreicht. Ich hatte meinem Land gedient – sowohl medizinisch als auch militärisch, ich war durch meine Aufzeichnung von Holmes’ Fallen recht bekannt und ich hatte eine Familie.
 

Es war diese Familie, von der ich fürchtete, dass sie mich die Zufriedenheit meines Vaters koste würde.
 

„Ich erinnere mich auch, dass ein Kind daran beteiligt war. Jetzt, da ich darüber nachdenke… ja, das war es! Nun, es war Mr. Holmes!“ Lestrades Ausruf schreckte mich aus meinen Gedanken auf und er schlug aus Begeisterung über sein Erinnerungsvermögen auf den Tisch. „Vater hatte gesagt, dass die junge Lady mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Bruder einkaufen war. Der Ehemann war in ein Geschäft gegangen, aber der Bruder war in der Nähe, als sie starb. Er war der Polizei gegenüber widerspenstig und ungestüm, wenn ich mich recht erinnere.“ Das brachte uns beide zum lächeln, wenn es auch ein trauriges Lächeln war. Mein armer Holmes…
 

„Ich habe keine Zweifel, dass er es war.“, sagte ich.
 

„Ich habe mich immer gewundert“, sagte Lestrade leise und wich meinem Blick aus. „Warum ein Mann, der sich so sehr für das Aufklären von Verbrechen interessiert, nicht der Polizei beitritt. Warum sollte er nicht? Es würde nur Sinn machen. Seine Methoden – gut, einige davon sind immer noch weit hergeholt. Aber wenn er nur lernen könnte korrekt zu arbeiten. Unter einem Vorgesetzten, mit einem Team…denken Sie nur, wie es unser Verständnis von Verbrechen und Verbrechern bereichern könnte! Wenn er nur…“
 

„Sie verstehen nun, warum er das nicht kann. Warum er es niemals tun wird.“
 

„Ja.“ Lestrade wirkte für einen kurzen Augenblick so verloren, als ob er gerade beinahe ein großartiges Geschenk bekommen hätte; als ob er es bereits in seiner eigenen Hand gehabt hätte, nur um zu erfahren, dass er es zurückgeben musste. „Ich kann es ihm nicht verübeln, Doktor. Wenn so etwas jemandem passieren würde, den ich liebe – meiner Frau, einem meiner Kinder…einem der Menschen, die ich am meisten liebe. Ich würde für immer dieses Misstrauen gegen die Behörden haben – gegen Scotland Yard – vielleicht bis ans Ende meiner Tage.“
 

„Vertrauen ist etwas, das leicht verloren und nur schwer aufrecht erhalten werden kann.“, erklärte ich ihm. Meine eigene Situation hatte mich das sehr deutlich erkennen lassen. „Sie dürfen das nicht persönlich nehmen.“
 

Lestrade schenkte mir dafür tatsächlich ein Lächeln und klopfte mir auf den Arm. „Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass Ihr Partner und ich jemals eine Beziehung haben werden, der der Vertrautheit, die Sie beide teilen, auch nur nahe kommt. Aber ich respektiere ihn und hoffe, dass auch er mir mittlerweile zumindest ein wenig Respekt gegenüber bringt. Ich möchte Ihnen sehr gerne bei diesem Fall helfen, Dr. Watson. Schließlich hat Mr. Holmes sehr viel für uns getan – für diesen Kerl hier im Besonderen…nun, ich würde ihm gerne etwas Genugtuung verschaffen.“
 

Ich war erfreut. Sehr erfreut. Amüsiert und nervös angesichts der Ironie in den Worten des Inspektors, aber vor allem war ich zufrieden. Es gab natürlich keine Garantien. Wir waren beide vernünftig genug um zu erkennen, dass der Tod von Philippa Holmes Davies nach drei Jahrzehnten vermutlich für immer ungelöst bleiben würde. Aber solange die Chance bestand, dass Holmes den Fall, dessen Aufklärung er am dringendsten brauchte, in seinem Geist würde abschließen könnten, würde ich es zumindest versuchen.
 

Ich verließ Lestrade mit dem Versprechen, dass er alles, was er konnte, über die alte Untersuchung herausfinden würde.
 


 


 

Der Tag war feucht geworden, wie es in jenen letzen Herbsttagen nur zu oft geschah. Der Himmel war mit dichten Strömen grauen Wassers bedeckt und ich konnte den Wind und den Nebel kaum mit Blicken durchdringen. Die Kutsche fuhr langsam, suchte sich zollweise ihren Weg in Richtung Baker Street und ich war ziemlich durchnässt, als ich schließlich über die Schwelle der 221B schlenderte.
 

Ich hatte vergessen, wie früh ich aufgebrochen war und war einen Moment lang überrascht Holmes und meinen Sohn immer noch über ein träges Frühstück faulenzen zu sehen – Porridge für den Jungen, Kaffee und Tabak für den Mann. Die Unterhaltung brach ab, als ich eintrat und vier neugierige Augen betrachteten mich. Von den beiden war es ein Blick der Zuneigung, aber nichtsdestoweniger mit dem aufdringlichen Funkeln zweier Wissenschaftler, die ein kleines Insekt sezierten.
 

„Tss…wirklich, Watson, was beabsichtigst du, indem du so früh am Tag verschwindest und dann mit durchnässten Kleidern nach Hause kommst? Wie vollkommen unverantwortlich von dir! Nun, du könntest dich erkältet haben…“
 

„Und dann müsste er zum Arzt gehen, nicht wahr, Onkel?“
 

Seine spaßige Seite war etwas, dem ich immer öfter unterworfen wurde. Von beiden.
 

Die beiden lachten und ich ignorierte die Schwachköpfe, während ich den Rest meiner nassen Kleidungsstücke auszog und mich zu dem heißen Kaffe und Frühstück niedersetzte, die Holmes mir servierte. Als ich dank Mrs. Hudsons erfreulich starker Brühe wieder ausreichend warm war, sagte ich: „Ich hatte ein paar geschäftliche Dinge zu tun, die ich früh erledigen musste.“
 

Was du nicht sagst? Wie unerfreulich, dass es dich…so früh aus dem Bett getrieben hat.“
 

Ich konnte mich nur hastig räuspern, um ihn nicht anzulächeln. Ich schielte in den Dampf meiner Kaffeetasse. Seine Diskretion war kryptisch aber schwindend.
 

„Wo warst du, Papa? Du stehst nie früh auf. Zumindest war das nicht deine Gewohnheit…“
 

„Was glaubst du, wo er war, Junge?“, frage Holmes begierig.
 

Ich seufzte wütend. „Muss das sein? Muss ich wirklich dein Unterrichtsmaterial sein, Holmes?“
 

Eine Augenbraue wölbte sich, scheinbar überrascht. „Es ist alles im Dienste der Bildung, Watson. Du willst doch sicher, dass der Junge gebildet ist?“
 

„Vielleicht muss er in diesem Alter noch nicht ganz so gebildet sein. Zu viel Wissen ist gefährlich.“
 

Wenn Holmes die Bedeutung überhaupt verstand (ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es nicht verstehen würde), dann ignorierte er sie völlig. „Pah!“, sagte er mit einem Wedeln seiner Hand. „Blödsinn!“
 

„Es ist mir sowieso egal!“, unterbrach Josh. „Es ist nicht wichtig, wo er gewesen ist. Nur dass er jetzt hier ist. Wir sind alle drei hier. Endlich.“ Er flüsterte dieses letzte Wort beinahe in die Überreste seines Frühstücks. Er schlürfte laut an seinem Tee in seinem kindlichen Versuch, uns vom Antworten abzuhalten.
 

Holmes’ Gesichtsausdruck wurde für eine Minute weicher, verwirrt, aber er erholte sich schnell. „Nun, nicht für lange, fürchte ich“, sagte Holmes. „Es scheint, als wäre ich für den heutigen Tag in die Downing Street gerufen worden…möglicherweise sogar für die ganze Woche, je nach dem, wie viele Mitglieder des Parlaments betroffen sind. Bruder Mycroft hat ärgerlicher aber vorhersehbarer Weise äußerst vage ausgedrückt.“
 

„Hast du einen neuen Fall?“, fragte ich mit einiger Aufregung.
 

„Eher weniger ein Fall, als ein wenig Beinarbeit vermischt mit gesundem Menschenverstand.“
 

„Ja, aber…soll ich dich begleiten?“
 

„Nein, nein…ich fürchte nicht. Auch wenn du von jedermann, besonders von mir selbst, als ein äußerst diskreter Gentleman angesehen wirst, ist dies eine einsame Aufgabe. Ich fürchte Mycroft würde auf diesen Punkt bestehen und es ist die unvermeidlichen Kopfschmerzen kaum wert, mit ihm darüber zu streiten. Nun, falls diese ärgerliche Angelegenheit mich länger als einen Tag in Anspruch nehmen sollte, werde ich in Pall Mall unterkommen. Für eure Sicherheit ist es besser, wenn ich es nicht riskiere, hierher beschattet zu werden.“
 

„Aber Holmes!“, rief ich. „Das klingt ausgesprochen gefährlich! Kannst du nicht…“
 

„Nein, ich fürchte, das kann ich nicht“, sagte er, während er langsam mit einem Lächeln aufstand. „Du darfst dir keine Sorgen um mich machen, Watson. Du hast hier deine eigenen kleinen Geheimnisse, die dich in Anspruch nehmen. Kümmere dich nicht auch noch um meine. Nun, wenn ihr mich entschuldigen würdet, ich habe wenig Zeit…“ Er rauschte daraufhin in sein Zimmer, nachdem er Josh kurz den Kopf getätschelt hatte und schlug die Tür hinter sich zu.
 


 

Josh stand vor dem Wohnzimmerfenster, dessen Vorhänge er beiseite gezogen hatte und starrte auf die kleiner werdende Gestalt von Holmes unten auf der Straße, einen Koffer in der Hand und den Kopf gesenkt. Ich konnte nur raten, zu welchem Abenteuer er auszog.
 

Ohne mich.
 

Mein Sohn sah eindeutig wie ein Bote der Apokalypse aus, wie er dort stand – das engelsgleiche Gesicht zu einem Stirnrunzeln verzogen, die Augen niedergeschlagen und eher grau als hellblau.
 

„Er wird zurückkommen, Sohn“, sagte ich zu ihm. „Du brauchst kein so melancholisches Gesicht zu machen.“
 

„Ja, aber…“ Seine Stimme verklang mit einem Seufzen.
 

„Aber was?“
 

Er blickte mit tief gerunzelter Stirn in meine Richtung. „Er ist gerade erst nach Hause gekommen. Und jetzt ist er schon wieder fort. Ich wollte, dass er…nun, dass ihr beide hier bei mir seid.“
 

„Das tut mir Leid, Josh“, sagte ich, nachdem ich einen Moment lang versucht hatte, ihn nicht so deprimiert zu sehen, wie er war. „Aber es ist nun mal so, dass Holmes und ich getrennte Leben führen müssen. Wir sind Mitbewohner und, und Geschäftspartner, aber das ist alles – wir haben unsere eigenen getrennten Leben zu leben.“ Ich erkannte nach einem Moment, dass ich gerade zweimal ‚getrennte Leben’ in ebenso vielen Sätzen gesagt hatte. Ich bin mir sicher, dass ich beunruhigt errötete.
 

Aber es war unnötig. Josh nickte bloß, ohne etwas dazuzusagen und fuhr mit dem Starren fort. Er hatte gesagt, dass er uns alle drei hier haben wollte. Konnte es sein, dass er das nur mir zuliebe gesagt hatte? Es schien sicherlich so, als ob Holmes der einzige Mensch war, den er hier haben wollte.
 

„Und schließlich, Sohn, hast du immer noch deinen alten Vater hier bei dir…“
 

Er sah mich gleichgültig an. „Ja. Ich weiß.“
 

„Vielleicht würdest du gerne eine neue Geschichte anfangen? Ich fand wirklich, dass deine letzte brillant war.“
 

Nun schien er immerhin aufzuhorchen. „Wirklich?“
 

„In der Tat. Du hast viel Talent. Vielleicht wirst du einmal Schriftsteller. Das ist sicherlich keine Schande.“ Ich lächelte und deutete auf unseren Stapel alter Strands auf dem Regal.
 

Aber irgendetwas in diesem Satz bekümmerte den Jungen. Einmal mehr runzelte er die Stirn und kehrte zu seiner Wache am Fenster zurück. „Nein…ich kann kein Schriftsteller sein…“
 

„Warum um Himmelswillen nicht?“
 

„Ich soll so wie Onkel werden. Ich will so sein.“
 

Ich setzte mich aufrechter hin. „Um Gotteswillen, Josh! Du sollst das werden, was du werden möchtest. Ich weiß, dass du…deinen Onkel sehr gern hast. Dass du ihn respektierst und all das. Und das ist schön. Aber er kann nicht festlegen, was du werden sollst, wenn du für etwas anderes bestimmt bist.“
 

Josh zeigte eine Art Achselzucken und drehte sein Gesicht weiter von meinem weg, sodass ich nicht länger seine Augen sehen konnte. Ich bin mir sicher, dass sie immer noch grau waren. Er schien direkt vor meinen Augen zu altern. „Ich glaube, dass kann er, Sir“, sagte er schließlich. „Und vielleicht will ich es auch zulassen.“
 

Ich erinnere mich, hastig geblinzelt zu haben. Was für eine seltsame Aussage! Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Aber es war klar, dass der Junge nicht mehr reden wollte. Unsicher, was ich sagen sollte, überließ ich ihn seiner Trauer, während ich mit einer angezündeten Pfeife ins Feuer starrte. Schließlich hatte ich keinen Grund, mich schuldig zu fühlen. Mein eigener Vater hatte an meinem Leben weit weniger teilgehabt als ich an Joshs. Und wegen seiner seltsamen Bewunderung für Holmes…nun, es gab sicher schlechtere Vorbilder, die er sich für seine Heldenverehrung aussuchen könnte. Ich kann zwar nicht sagen, dass ich wollte, dass der Junge in jeder Hinsicht wie Holmes werden würde, aber ich wollte auch nicht, dass er in mancher Hinsicht wie ich werden sollte. Ich blickte zu dem Jungen hinüber. Er hatte den Vorhang losgelassen und sich selbst mit einer alten Strand-Ausgabe auf das Sofa fallen lassen. Das ließ mich lächeln und ich versuchte, nicht an alles andere zu denken. Auch abgesehen von Josh hatte ich immer noch genug Probleme.
 


 

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[1] Das ‚New’ Scotland Yard, wie es manchmal immer noch genannt wird, zog 1890 von Whitehall 4 nahe des eigentlichen Scotland Yard in die Nähe der Thames.
 

[2] Heutzutage würde man es Bewusstseinsstrom nennen. James Joyce war der Pionier in diesem Schreibstil.

Es tut mir wirklich Leid, das das neue Kapitel so lange auf sich warten ließ, aber ich bin zur Zeit ziemlich im Stress. Umso mehr hoffe ich, dass euch Kapitel 28 gefällt.

Außerdem möchte ich die Gelegenheit nutzen, um ein klein wenig Eigenwerbung zu betreiben: Meine Geschichte "Masken" ist zwar sehr kurz, gefällt mir aber trotzdem recht gut. Über Feedback würde ich mich natürlich genauso freuen, wie zu meiner Übersetzung hier.
 

Der Morgen verging in Stille, während ich vor dem Kamin döste. Mein Sohn war ruhig und störte mich nicht. Es war beinahe schon Teezeit, als ich mit einem Zusammenzucken erwachte, weil ich sowohl die Uhr die Stunde schlagen, als auch Josh schnell wie ein Hase die Treppe zur Tür hinunterhoppeln hörte. In meinem nicht gerade wachsamen Zustand, kam ich nicht einmal auf den Gedanken, dass jemand da sein könnte, bis der Junge mit unserem Gast im Schlepptau erschien.
 

„Lestrade?“, fragte ich, immer noch schlaftrunken. „Was führt Sie so schnell hierher?“
 

Der Inspektor schien aufgeregt, ein absolut erstaunliches Gefühl für einen Yarder. Seine schwarzen Augen leuchteten in ungewohntem Glanz, als er näher kam. „Ich war so interessiert, Doktor, dass ich nicht anders konnte, als mich gleich an die Akten zu machen. Ich wusste, dass mein Vater – das heißt, Superintendent Lestrade – sorgfältige Aufzeichnungen über seine Fälle geführt hat. Als wir umgezogen sind, ist der Großteil der Akten ungeordnet im Keller gestapelt worden. Wenn die Zeit es erlaubt, sende ich gelegentlich einen Neuling hinunter, der so etwas Ähnliches wie Ordnung herstellen soll…und heute, Sir, sehen Sie nur, was gefunden wurde!“
 

Auch wenn ich es mir denken konnte, hatte er kaum Gelegenheit es mir zu zeigen, denn Josh (die Erregung leuchtete in seinen Augen, die auf die Größe von Rotkehlcheneiern angewachsen waren – ziemlich ermutigend, wenn man seinen Zustand vor erst ein paar Stunden bedachte) sprang ihm vor die Füße und rief: „Es geht um Onkels Fall, nicht wahr, Sir!“
 

„Seinen Fall, Junge?“
 

„Er ist heute Morgen aufgebrochen, um eine paar Männer vom Parla“—
 

„Wirklich, Josh, du musst darauf jetzt nicht eingehen. Lass uns hören, weshalb Mr. Lestrade gekommen ist.“ Ich packte seinen Arm und drückte ihn, um meinen Standpunkt zu unterstreichen. Ich hatte ernsthafte Zweifel, dass es Holmes gefallen würde, wenn sein momentaner Aufenthaltsort bekannt werden würde, und sei es auch nur Lestrade gegenüber.
 

Ich hatte beinahe vergessen, dass sich der Inspektor und mein Sohn bereits kannten, aber dann erinnerte ich mich an die Geschichten, die Josh mir von all seinen Besuchen bei New Scotland Yard erzählt hatte. Was auch immer der Inspektor wegen dem Fall, den ich ihm verschafft hatte, besprechen wollte, schien er sich nicht an der Mitarbeit eines Fünfjährigen zu stören. Holmes hatte ihm Joshs außergewöhnliche Natur zweifellos mehr als klar gemacht.
 

„John Sherlock Watson ist ein Name, der eines Tages allbekannt sein wird, mein lieber Doktor“, hatte mir Holmes spät in einer wundervollen Nacht gesagt. „Unser eigener glücklicher Junge…“
 

Er wirkte in der Tat, als ob er unser Sohn wäre. Er hatte die Intelligenz, Vernunft und Faszination von Holmes und doch behielt er mehr von meinem Temperament und meiner Liebe zur Sprache. Er würde nie ein gänzlicher Logiker sein. Er verfügte nicht über diese Verachtung gegen Gefühle. Nicht einmal in dem Ausmaß, das Holmes immer noch zueigen war. Ich fragte mich nur, ob sich der Mann dessen bewusst war.
 

Lestrade schob mir eine Akte in meine Hände und lächelte frohlockend. „Vater führte sorgfältige Aufzeichnungen, wie ich sagte, und es gibt beträchtliche Notizen zu jedem Fall. Über den Horseshoe Alley[1] Mord allerdings gibt es besonders ausführliche Notizen.“
 

„Mord? Wer wurde ermordet? Papa…“ Seine Stimme wurde weicher, als er wieder die Gestalt eines kleinen Jungen annahm. „Wurde jemand ermordet?“ Seine molligen Wangen zitterten in leichter Furcht.
 

Trotz meines immensen Bedauerns für Holmes und für den Tod dieses wunderschönen Wesens, wurde ich plötzlich mit Erleichterung durchflutet. Ich streichelte den Jungen beruhigend. „Ja, aber das ist schon schrecklich lange her.“
 

„Aber wer wurde ermordet?“
 

„Die Schwester deines On—äh, ich meine, Holmes’ Schwester.“
 

„Onkel hatte eine Schwester?“
 

Ich hielt nach Lestrades Reaktion auf Joshs Titel für Holmes Ausschau, aber sie blieb aus. Was für ein Narr ich doch war, ich hätte erkennen müssen, dass der Inspektor ihn schon vor langer Zeit gehört haben musste.
 

„Ja, das hatte er“—
 

„Und sie ist gestorben? So wie meine Schwester?“
 

„Nein, nicht ganz…deine Schwester war noch ein Baby und starb, weil sie zu früh geboren wurde. Philippa Holmes war älter als dein Onkel. Tatsächlich war er immer noch sehr jung und sie bereits erwachsen und verheiratet, als der Mord geschah.“
 

Er dachte einen kurzen Moment darüber nach. „Er muss sie schrecklich vermissen. Sieht er deshalb manchmal so traurig aus?“
 

„Nun…ich vermute, wir sind alle hin und wieder traurig, mein Lieber. Lestrade?“
 

„Hmm…oh, ja?“ Für meinen Geschmack war er ein wenig zu tief in Gedanken versunken gewesen.
 

„Sie hatten doch sicher noch keine Gelegenheit, sie sich richtig anzuschauen? Diese Notizen, meine ich?“
 

„Nein, nein…nicht wirklich genau. Ich dachte, Sie würden sie gerne“—
 

„Über Nacht behalten?“
 

„Ah – in der Tat. Wenn Sie es wünschen.“ Seine dunklen und hervorstehenden Augen wandten sich ab und ich wusste, dass er in seiner außerordentlichen Neugier den Fall zusammen mit mir hatte untersuchen wollen. Aber ich konnte es nicht ertragen, die persönlichen Details von Holmes Vergangenheit in der Anwesenheit eines anderen durchzugehen. Es stand meinem eigenen Herzen zu nah. Ich würde diese Nach allein mit der traurigen Geschichte brauchen, und wenn der Morgen gekommen war, konnte ich Lestrade leicht informieren. Er war weit objektiver als ich.
 

„In Ordnung, Doktor…ich schätze, dass es sein muss. Dass das das Beste wäre, meine ich.“
 

Teilweise konnte ich den Eifer des Mannes verstehen. Auch ich wollte in meiner Faszination und meinem Übereifer direkt in die Horseshoe Alley eilen und sofort Hand an den Bösewicht legen, der zweifellos immer noch dort stehen würde, nachdem er etwa drei Jahrzehnte seit der Tat gewartet hatte. Ich konnte nur daran denken, wie glücklich er sein würde, wenn ich, der bescheidene Assistent, diesen Fall für Holmes lösen könnte. Um alles wieder gutzumachen, was er für mich getan hatte, einschließlich meinen Sohn aus den Fängen meiner Schwester errettet zu haben. Ich wusste, dass ein verzweifeltes Bedürfnis danach empfand, das abschließen zu können, was ihn nun den Großteil seines Lebens heimgesucht hatte.
 

Lestrade blieb zum Tee und wir plauderten durchaus herzlich miteinander, wenn auch über andere Dinge. Wir ließen den Tod Philippas dort, wo er hingehörte – dem morgigen Tag.
 

Als er uns mit dem Versprechen verließ, nach dem nächsten Frühstück wiederzukommen, blieb er ziemlich unbehaglich in der Eingangshalle stehen, wobei er seinen Hut ziemlich steif umklammerte. Nach einem Räuspern fragte er: „Dr. Watson, ich hoffe, Sie empfinden das nicht als seltsam oder aufdringlich, aber denken Sie…ich will damit sagen…“
 

In dieser einzelnen Sekunde durchquerten eine Million Gedanken mein Herz und meinen Verstand. Ich begann zwanzig verschiedene Formen des Leugnens – in Ärger, in Entsetzten in Verwirrung. Was auch immer die überzeugendste sein würde. Ich öffnete sogar den Mund, um irgendein Gebrabbel hervorzubringen, dass ihn überzeugen würde, dass, was immer er auch sagen wollte, nicht so war. Doch alles was er sagte, war:
 

„Sie denken doch nicht, dass Mr. Holmes sich daran stören wird, oder?“
 

Ich war so erleichtert, dass die Luft, die aus meinen Lungen strömte, mit Sicherheit genug war, um dem Inspektor seinen Hut aus der Hand zu schlagen. Vor lauter Eifer, ihm zu Antworten, wäre ich beinahe über meine eigenen Worte gestolpert.
 

„Das denke ich nicht. Ich meine, er wünscht sich mit Sicherheit ein Ende für diese abscheuliche Tat. So viel hat er mir immerhin erzählt. Zufälligerweise ist mir bekannt, dass ihn der Tod dieser jungen Lady vernichtend getroffen hat.“
 

Lestrade nickte unsicher. „Das hat es sicherlich. Aber ich kenne diesen Mann jetzt schon lange genug, um sagen zu können, dass er übermäßig zurückgezogen ist. Vielleicht wird er es nicht schätzen, wenn sich ein Außenseiter in seinen familiären Kummer einmischt.“
 

„Sie sind wohl kaum ein Außenseiter, Lestrade.“
 

„In seinem öffentlichen Leben nicht. Aber bei allem andern, doch, das bin ich.“
 

Ich hatte für einen kurzen Moment vergessen, wie wenig die allgemeine Öffentlichkeit tatsächlich über diesen Mann wusste. Sogar Männer wie Lestrade, die ihn nun schon jahrelang kannten, wussten in Wahrheit so wenig. Sie konnten nur durch meine eigenen privilegierten Berichte einen flüchtigen Blick in seine Welt erhaschen.
 

Ich gab dem Mann jede Zusicherung, die ich konnte und zwang zugegebenermaßen alle Gedanken daran aus meinem Kopf. Es gab so viel zu erfahren, so viel zu tun. Ich konnte mir Holmes’ Reaktion einfach nicht anders vorstellen als so, wie ich sie plante.
 

In jener Nacht saß ich in meinem Bett, umgeben von Papieren beschrieben mit verschiedenen, verblassten Tinten, und las die Details über Autopsie, Zeugenaussagen, geografische Begebenheiten, mögliche Verdächtige und Motive. Lestrade der Ältere war eine Rarität unter den Regulären, die sogar Holmes beeindruckt hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre, ihn objektiv zu betrachten. Inspektor Lestrade übertrieb ganz offensichtlich nicht, was die Beschreibung seines Vaters anging.
 

Zuerst las ich die Details über die Autopsie. Ich hatte gänzlich erwartet, einen recht wertlose Arbeit vorzufinden, da mir selbst einige der Abkürzungen bekannt waren, die Männer bei dieser Sache nur zu oft einschlugen, aber erkannte überrascht, dass eine einigermaßen anständige Autopsie stattgefunden hatte. Die Kugel, von der nur ein Teilstück wiederhergestellt werden konnte, war aus der Lungenarterie des Opfers entfernt worden, nachdem sie den Bogen der Aorta durchstoßen hatte. Die Spur der Wunde legte einen Einschusswinkel von oben nahe, den Lestrade, wie ich mich erinnerte, erwähnt hatte, doch der Chirurg konnte sich nicht sicher sein. Sie war extrem schnell ausgeblutet, wie es bei so schweren Verletzungen der Fall war. Ich konnte die Anmerkungen über die Entfernung des Fötus und anderer Organe nicht lesen.
 

Ich sprang zu den frühesten Beobachtungen, die von Lestrade aufgezeichnet worden waren und las: Das Opfer, identifiziert als Philippa Davies, 20 Jahre, weiblich und schwanger, ging gerade die Horseshoe Alley in nördlicher Richtung entlang, begleitet wurde sie von einem Bruder, 10 Jahre alt. Ihre Ehemann, mit dem Namen James Davies, suchte gerade Waren in Wimboley’s Dry Goods Shop aus. Das Opfer war von dem Bruder in der Straße neben jenem Geschäft von etwa 10 Yard getrennt, als ein einzelner Schuss aus ähnlicher Entfernung das Opfer in die Brust traf. Sie blutete rasch aus und der Tod trat unmittelbar ein – innerhalb von 20 Sekunden nach der Verletzung. Das Opfer lag auf dem Rücken ausgestreckt, mit dem Kopf nach Westen und den Füßen nach Osten, in einer großen Blutlache. Der Bruder wurde neben dem Opfer gefunden und musste mit Gewalt von der Leiche entfernt werden. Der Ehemann erschien etwa dreißig Sekunden nach der Tat und beide wurden zur Befragung mitgenommen. Keine Waffen sichergestellt. Für den Anfang keine Verdächtigen mit Motiv. Scheinbar kein Raub.
 

Danach gab es seitenweise Zeugenaussage, aber selbst indem ich sie nur oberflächlich überflog, erkannte ich, dass sie größtenteils dasselbe aussagten – sie hätten nichts gesehen. Schreiende, rufende, stoßende, rempelnde Mensche waren so alltägliche Erscheinungen, dass niemand daran gedacht hatte, sie mit so etwas wie Mord in Verbindung zu bringen.
 

Mehrere Personen berichteten, einen Schuss gehört zu haben, aber niemand scheint den Verantwortlichen gesehen zu haben.
 

Es war seltsam, dachte ich, sehr seltsam. Ein Mann, der mitten in einer Menschenmenge eine Waffe abfeuerte, müsste gesehen worden sein. Eben jene Waffe müsste gesehen werden. Ich machte eilig weiter, versuchte etwas zu finden, das merkwürdig und einzigartig erschien. Holmes sagte oft, dass es die Kleinigkeiten eines Falles waren, die sich die wichtigsten Hinweise erwiesen. Der Hund der nicht bellte; die Petersilie, die nicht in die Butter einsank. [2] Oder die Tätowierung von Bruce Bishop. Es musste eine solche Sache in diesem Fall geben. Ich musste sie nur finden. Es gab ein Protokoll über das Verhör zwischen dem Bruder des Opfers und Inspektor Lestrade sr. Ich las es langsam und ziemlich traurig. Vielleicht hatte ich nicht genügend Objektivität, um in diesem Fall etwas zu erkennen.
 

L: Wie ist dein Name?
 

SH: Holmes. Wo ist meine Schwester?
 

L: Und dein Taufname?
 

SH: Sherlock.
 

L: Wie alt bist du?
 

SH: Ist das wichtig? Ist es relevant?
 

L: Du wirst meine Fragen bitte beantworten.
 

SH: Zehn Jahre, neun Monate und vierzehn Tage.
 

L: Genießt du es, halsstarrig zu sein?
 

SH: Ich genieße spezifische Tatsachen, Sir. Das war eine spezifische Tatsache mein Alter betreffend.
 

L: Warum warst du mit deiner Schwester und deinem Schwager in der Horseshoe Alley?
 

SH: Muss ich Ihre Fragen beantworten, während Sie meine so offenkundig ignorieren?
 

L: Das musst du. Wir brauchen Tatsachen, Master Holmes.
 

SH: Philipa, Davies und ich spazierten von Victoria Station dorthin, damit Davies ein Weihnachtsgeschenk für meine Mutter kaufen konnte. Er sagte nicht was und ich machte mir auch nicht die Mühe, danach zu fragen. Er war in Wimboley’s gegangen, als ich mich…von ihr getrennt hatte und—
 

L: Dann war er nicht bei euch, als der…Unfall geschah.
 

SH: Nein. Wo ist Philippa denn im Moment?
 

L: Wir werden später darauf—
 

SH: Ich will es jetzt wissen! Jetzt!
 

An diesem Punkt wurde Holmes beinah schon aggressiv und die Befragung wurde eingestellt. Davies und er mussten einander gesehen haben und der Ältere erklärte dem Jüngeren, dass die Einzige, die sie beide mehr als jeden anderen liebten, tot war. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das sein würde. Wie ein Ereignis von vor dreißig Jahren immer noch sein Bewusstsein bedrängte, sich immer noch auf seinen Manierismus und die täglichen Ereignisse seines Lebens auswirkte. Wenn sie nicht getötet worden wäre, ist es leicht genug zu vermuten, dass er sich niemals entschieden hätte, sein Leben den Ermittlungen zu widmen. Er könnte eine ähnliche Position wie die seines Bruders eingenommen haben, würde ein Leben leben, das für ihn gänzlich unbefriedigend war. Die Drogen, die sein Gehirn stimulierten, könnten schließlich seinen Herzschlag zum versiegen gebracht haben. Mit Sicherheit wären er und ich uns niemals begegnet. Ich wäre heute in einer völlig anderen Position. So war es, dass ich dieser jungen Lady viel verdankte. Selbst ihrem Tod. Ich schuldete ihr und ihrem Bruder eine Erklärung, weshalb sie hatte sterben müssen. Sie verdiente die Gerechtigkeit und das Leben, dass ein anderer nun dreißig Jahre lang genossen hatte.
 

Ich schob die verschiedenen Papierstücke mit einem lauten Gähnen beiseite. Ich hatte absolut nichts zu Stande gebracht. Alles was ich gelesen hatte, war offensichtlich gewesen, ohne irgendetwas, das in meinem Gehirn eine Reaktion auslöste. Ich konnte nur hoffen, dass sich morgen durch meine Beratung mit Lestrade und unseren Besuch am Tatort von selbst eine Spur anbieten würde.
 

Mein Bett fühlte sich in jener Nacht schrecklich kalt und leer an und ich driftete in jenen typisch unbehaglichen Schlaf eines Mannes, dessen Nerven ihm niemals eine ungestörte Nachtruhe erlauben konnten. Ich träumte in jener Nacht. Es ist einer jener wenigen, an die ich mich selbst bis heute noch erinnern kann. Seine Lebendigkeit ist einzigartig. Seine komplette Bedeutung würde mir erst später in meinem Leben klar werden.
 

Ich saß in einem ziemlich großen und geschmackvoll eingerichtetem Salon und entspannte mich in einem Lehnstuhl aus schönem Leder. In meinen Händen war die Abendausgabe der Times. Eine glänzende orange Flamme flackerte gegen die kleinen schwarzen Druckbuchstaben und ich konnte nichts genau lesen. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so völlig…normal gefühlt zu haben.
 

Ich blickte mit einem Lächeln über den Rand meiner Zeitung, aber auch wenn jemand in dem ähnlichen Sessel mir gegenüber saß, wusste ich nicht, wer es war.
 

Es war eine Frau.
 

Das Gesicht und der Körper hatten keine richtigen Umrisse und waren eher ätherisch und schimmernd. Ich fühlte mehr, dass sie dort war, als dass ich sie dort sah und auch wenn ich sie nicht benennen konnte, denn wer auch immer sie war, sie blieb völlig geheimnisvoll, schien ich froh zu sein, dass sie hier bei mir war. Das andere Gefühl, das ich empfand, war nicht wirklich ein Gefühl der Liebe für dieses schattenhafte Wesen sondern eher Dankbarkeit und Frieden.
 

Zu unseren Füßen und um uns herum waren mehrere Kinder, zumindest fünf und alle in verschiedenen Alterstadien, angefangen vom Kleinkind bis beinahe schon zum Jugendlichen. Ich sah zu ihnen hinunter und genau im selben Moment sahen sie zu mir auf, mit strahlenden Lächeln voller Liebe und Zuneigung. Ihre Augen glänzten blau, braun und grau. Mein Herz schwebte.
 

Das war es, was ich mir immer gewünscht hatte.
 

Bis ich an all dem vorüber blickte.
 

Ein Fenster, ein Loch, vielleicht sogar eine Tür oder ein Spiegel, ich kann es nicht sagen, erschien in der gegenüberliegenden Wand. Und da war noch jemand, der in der Dunkelheit stand, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Nur zwei graue Lichter, die Augen sein sollten, sahen mich an, bewegten sich langsam weiter und weiter von mir fort. Ich erhob mich aus meinem Stuhl, mitten im Protest der Kinder und der Ehefrau, um zu ihm zu gehen. ‚Halt’…schienen sie alle zu sagen. ‚Geh nicht’…‚Verlass uns nicht’…
 

Ich tat es.
 

Ich ging weiter zu dem anderen, dessen Augen mich hypnotisiert hatten und der mit seinem ganzen Wesen nach mir rief. Auch er bat mich, nicht zu gehen. Seine Worte schienen nicht aus seinem Mund sondern aus jenen Augen zu kommen. Jenen Augen, so traurig, so voller Bedürfnis. Und er brauchte mich mehr. Ich griff nach seiner Hand, aber es war wie ein Vakuum, dass ich weder berühren noch festhalten konnte.
 


 

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[1] Es gab tatsächlich eine Horseshoe Alley, falls sich jemand darüber Gedanken gemacht hat, aber das war in Winchester im 18. Jahrhundert. Ich brauchte einen Namen für die Straße, in der Philippa getötet wurde und ich wollte keine echte benutzen, weil ich eine bestimmte Geografie dafür brauchte, die erfunden sein musste. Ich dachte dieser Name klingt gut – und passend. Der Name Philippa heißt schließlich auch ‚Pferdeliebhaberin’.
 

[2] Der Hund, der in der Nacht nicht bellte, ist aus Silberstern. Ich habe vergessen, wo die Bemerkung mit der Petersilie ist, aber sie wird ziemlich nebenbei abgegeben. Ich bin mir sicher, dass schon einige Leute versucht haben, so eine seltsame Bemerkung in einen Fall zu verwandeln…

(Anm. d. Übersetzers: Die Bemerkung mit der Petersilie war in den ‚sechs Napoleons’. Angesichts Lestrades eher bizarr klingender Beschreibung des Falles erklärt Holmes, einmal habe ihn die Tiefe, die die Petersilie in die warme Butter gesunken war, auf ein schreckliches Geheimnis aufmerksam gemacht und deshalb dürfe er auch diese Umstände nicht auf die leicht Schulter nehmen.)

So, meine Lieben, ich bin noch rechtzeitig für einen Weihnachtsupload fertig geworden, auch wenn ich natürlich nicht versprechen kann, dass es auf Animexx am 24. freigeschaltet wird—gut möglich, dass ich nicht der Einzige bin, der seinen Lesern das Weihnachtfest versüßen will.

(Um ein klein wenig Eigenwerbung komme ich trotzdem nicht herum. Jeder, dem diese Geschichte hier gefällt, weiß, dass er zumindest in manchen Dingen denselben Geschmack hat wie ich und darum dürfte sich ein kleiner Blick auf meine Kurzgeschichte „Der Killer“ schon lohnen.)
 

Die Träume verfolgten mich dich ganze Nacht lang. Wie viele Male ich erwachte, nur um danach wieder in einen neuen Alptraum zu versinken, kann ich nicht sagen, aber ich fühlte mich nicht besonders ausgeruht, als schließlich die ersten roten Strahlen der Dämmerung durch die Vorhänge drangen. Ich erwachte schlaftrunken und mit trüben Sinnen, erinnert an jene wenigen Tage in der Vergangenheit, als ich meinen Schmerz in Scotch-Whiskey ertrank. Aber wenn auch sonst nichts, so erwachte ich zumindest mit einer neuen Entschlossenheit. Holmes’ Wohlbefinden war nicht mehr das Einzige, was das Lösen dieses Falles mit sich bringen würde. Auch einen Beweis. Der Beweis, dass es meine Bestimmung war, hier bei ihm zu sein. Vielleicht sogar ein Beweis von Gott, dass wir nicht völlig in Sünde lebten.
 

Aber wie vernachlässigt vom erholsamen Schlaf ich mich auch gefühlt haben mochte, bei meinem Sohn war das mit Sicherheit nicht der Fall. Als wir uns zusammen zum Frühstück niederließen, begann er sich sofort fröhlich über Porridge und Tee herzumachen und vergnügt mit dem Füßen zu schaukeln, die immer noch viel zu weit vom Boden entfernt hingen. Ich war viel zu abgelenkt, als dass ich auch nur an seine Tischmanieren gedacht hätte, daher machte ich mir nicht viel Mühe ihn zu korrigieren. Der Kaffee war an diesem Morgen besonders stark, so als hätte Mrs. Hudson vorausgesehen, dass ich heute eine solche Substanz brauchen würde und ich trank ihn fast in einem Zug, während ich versuchte, meinem Körper dazu zu zwingen, die letzte Nacht zu vergessen.
 

Josh griff gierig nach einem Stück geröstetem Brot und während er daran kaute, starrte er mich mit seinen blendenden blauen Augen voller kindlicher Neugier an. Er platzte beinahe, so sehr wartete er darauf, dass ich mit ihm reden würde und schließlich hielt ich es nicht länger aus.
 

„Na gut, alter Junge, warum bist du heute so aufgedreht?“
 

„Nun…wir ziehen doch heute mit Inspektor Lestrade los, um den Fall zu lösen, richtig, Papa?“
 

„Oh, tun wir das?“
 

„Ja, das tun wir. Du hast dem Inspektor gesagt“—
 

„Ich habe sicher nichts davon gesagt, dass uns ein kleines Kind hinterher spazieren wird. Immerhin, Josh, das ist ein Mordfall“—
 

„Aber ich kann helfen, Papa!“
 

„Ja, ja…wir alle wissen, was für ein brillantes Kerlchen du bist. Holmes prahlt sicherlich genug damit herum. Aber du kannst uns dabei nicht helfen. Inspektor Lestrade und ich haben so schon genug zu tun, ohne dass wir auf dich aufpassen müssen.“
 

„Aber“—
 

„Ich habe nein gesagt, Josh!“ Ich schlug mit der Hand fest genug auf den Tisch, um es wirklich fühlen zu können.
 

Ich fühlte mich grausam genug, als ich das sagte, denn mein Ton war eher schroff. Außerdem verdammte ich ihn dazu, Mrs. Hudson einen weiteren Nachmittag beim Backen zu helfen, anstelle mich auf dieser Such zu begleiten, die er so verzweifelt aufnehmen wollte. Aber wie konnte ich ihm mit gutem Gewissen erlauben mitzukommen? Ein Kind seines Alters, ganz egal wie außergewöhnlich seine Fähigkeiten auch sein mögen, hat einfach nichts dabei zu suchen, wenn zwei Männer etwas so Zwielichtiges wie einen Mord besprachen.
 

Aber ich kannte ihn nicht länger und das vergaß ich. Das kleine Wesen, das beim Verlust seiner Mutter in meine Weste geschluchzt hatte und dann in die von Holmes, als er dachte, er hätte auch mich verloren, flackerte kaum noch in ihm auf. Er war nur zwei Jahre älter geworden, aber es hätte genauso gut eine Ewigkeit sein können. Er war immer noch ein Kind geblieben, aber es war ein Kind, das die Welt eher so sah, wie es ein junger Holmes getan hätte, der eher die Dunkelheit und die Schatten sah als die Unschuld. Ich konnte Holmes nicht die Schuld dafür geben, zumindest nicht gänzlich, denn ich war so nachlässig gewesen, dass ich es nicht erkannt hatte, bis zu dem Tag, als wir aus Cornwall zurückgekommen waren und in mir ein gefährlicher Verdacht zu keimen begann. Und nun weinte er nicht. Er war zornig.
 

„Du vertraust mir nie!“, tobte er, das Gesicht in tiefstem Karmesinrot. „Ich bin kein kleines Baby! Ich kann so brillant wie Onkel sein, aber du lässt mich ja nicht!“ Er sprang vom Tisch auf und mit einer Stärke, von der ich nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, stieß er seinen Stuhl auf den Boden, was diesen laut gegen den Teppich knallen ließ. „Ich hasse dich!“ Er schrie laut genug, um selbst die Toten zu erwecken.
 

Ich war so entsetzt über seinen Wutanfall, dass ich zuerst einfach nur dasaß und ihn beobachtete. In der Vergangenheit hatte er niemals auf die Mittel zurückgegriffen, die andere kleinen Kinder benutzen, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn wir ihm überhaupt etwas beigebracht hatten, dann dass er seine Bedürfnisse in Worten ausdrücken sollte, anstatt herumzuwüten, mit Sachen um sich zu schmeißen oder sich anderweitig wie ein Rüpel zu benehmen. Er schien immer ein viel zu friedliches Wesen für solche Dinge gehabt zu haben und das ist vielleicht der Grund, warum ich so überrascht war.
 

„Was in Gottes Namen glaubst du eigentlich, was du da machst?“, frage ich, als die Überraschung verflogen war.
 

Er schien sofort zu erkennen, dass er etwas Falsches getan hatte, denn er hielt inne und wirkte so vollkommen schuldbewusst, dass ich mich beinahe ohne zu zögern ergeben hätte. Aber sicherlich konnte ich solches Verhalten nicht ungestraft davon kommen lassen. Was auch immer man mir sonst vorwerfen konnte, so wollte ich doch zumindest nicht, dass mein einziges Kind verzogen wurde. Ich packte ihn nicht allzu sanft am Arm und zog ihn zu mir. „So respektlos benimmst du dich vor deinem eigenen Vater? Bekommst einen Wutanfall und schmeißt mit den Möbeln um dich wie ein gemeiner Rüpel! Was für ein kleiner Prinz du geworden bist! Ich glaube, Holmes ist zu nachlässig mit dir umgegangen. Du bist mittlerweile ganz schön eingebildet, mein Junge!“
 

Er schien zumindest ein bisschen ängstlich, denn er versuchte von mir loszukommen. „Willst du mich schlagen?“, fragte er, aber mehr aus Ungläubigkeit denn aus Angst.
 

„Ich sollte es mit Sicherheit tun!“
 

„Warum?“
 

Ich zog fester an seinem Arm und er schrie auf. [1] „Du willst also mit diesen Frechheiten weitermachen, eh?“
 

„Ich hab doch nur nach dem Grund gefragt! Ich wollte doch nur wissen, warum du mich nie mitkommen lässt! Du und Onkel, ihr lasst mich immer zurück! Warum? Willst du nicht…“ Er hielt inne und ich konnte sehen, dass der Zorn nun verflogen war und einer wachsenden Traurigkeit Platz gemacht hatte, als seine Lippen zu zittern begannen, auch wenn er versuchte, es zu verbergen.
 

Ich ließ ihn los. „Was wolltest du sagen, Josh?“
 

Er sah weg und rieb seinen Arm. „Gar nichts.“
 

„Nein, sag es mir.“
 

Er holte zitternd Atem. „Du…du liebst mich nicht, nicht wahr? Du liebst nur Onkel. Ich habe darüber nachgedacht, mit so vielen Edduk—ich meine Deduktionen, wie ich nur konnte und es macht Sinn. Du willst, dass es nur ihr beide seid. Ohne mich.“
 

Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so fassungslos gewesen zu sein. Das gewaltige Entsetzen löschte jede Spur des Ärgers aus, den ich über sein Verhalten empfand und es tat mir Leid. So unglaublich Leid. Mir kam nicht einmal der Gedanke, dass er nur mit einem Trick versuchen könnte, die Schuld in mir zu wecken, denn niemand, nicht einmal ein Kind, könnte jemals ein solcher Schauspieler sein. Es war sein ganzer, voller Ernst.
 

„Du kannst das doch nicht wirklich denken.“
 

Er zuckte mit den Achseln. „Wieso sollte ich nicht?“
 

„Du bist mein Sohn! Mein einziges Kind! Wie könnte ich jemals…“ Ich schüttelte den Kopf, meine eigene Stimme war an jenem Zeitpunkt mehr als nur ein bisschen emotional. „Alle Väter lieben ihre Kinder. Ich habe dir mehr als einmal erzählt, wie überglücklich ich war, als ich herausfand, dass ich einen Sohn bekommen hatte, nicht wahr?“
 

„Ja, aber das war bevor…“
 

„Bevor was?“
 

„Als es nur dich und Mama und mich gab. Vor Onkel. Die Dinge stehen nun anders.“
 

Nein, das tun sie ganz sicher nicht! schrie meine Seele. Wenn es etwas gab, das ich mir mehr als alles andere wünschte, dann war es ein Gefühl von Normalität. Aber immer dieses Wort; ich fühlte es von Holmes, hatte es von Josh gehört und fürchtete es vor mir selbst. Anders. Ich war anders. Mein Leben war anders. Aber in Wahrheit war es nicht das anders das ich fürchtete, sondern das ungewöhnlich. Anders bedeutete, dass die Dinge ungewöhnlich waren, und auch nicht das, was sie sein sollten. Es gab keine Ordnung, es war nicht gesellschaftsfähig. Konnten solche Worte in dieser Situation, in der ich mich nun befand, überhaupt existieren? Ich wusste es nicht.
 

Mein Ärger hatte sich gelegt, aber ich weigerte mich immer noch, mich der Schuld zu ergeben. Ich hob den Jungen hoch und setzte ihn auf mein Knie, um ihm zu zeigen, dass alles vergeben war und sagte: „Ja, die Dinge sind anders. Nichts kann immer gleich bleiben, ganz egal wie sehr wir es uns auch wünschen mögen. Du bist anders, als du es beim Tod deiner Mutter warst, ebenso wie ich und in weiteren zwei Jahren werden wir wiederum anders sein. Aber manche Dinge werden sich niemals ändern, trotz der Umstände. Und auch wenn ich vielleicht…die kleinen Dinge nicht genügen würdige, die kleinen Veränderungen, die du durchmachst, heißt das nicht, dass ich dich nicht verstehe, oder dass ich es nicht zumindest versuchen würde. Oder besonders, dass ich dich nicht lieben würde.“
 

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er mich verstanden hatte, aber nicht weil er nicht dazu in der Lage wäre, sondern vielmehr weil er, nun da er sich eine Meinung gebildet hatte, nun da er die gesuchte deduktive Antwort gefunden hatte, sie nun nicht mehr ändern wollte.
 

„Werden sich die Dinge wieder ändern?“, fragte er nach einem Augenblick höchster Konzentration. „Bald, meine ich?“
 

„Was genau meinst du mit ‚Dinge’?“
 

„U-um-umstände.“ Er strahlte, dass er es aussprechen konnte.
 

„Das kann ich nicht sagen, Josh. Wie Holmes uns ganz ohne Zweifel erklären würde, ist für die Fähigkeiten absolut hinderlich, wenn man ohne Daten theoretisiert.“
 

„Aber ich will nicht, dass sich irgendetwas ändert!“, erklärte er daraufhin recht anmaßend. „Jetzt wo ich weiß, wie die Dinge sind, will ich, dass alles einfach so bleibt, wie es ist.“
 

„Aber die kannst die Veränderungen nicht aufhalten. Es ist unvermeidlich. Du wirst erwachsen werden, zur Schule und an die Universität gehen, heiraten und eigene Kinder bekommen. Das werden große Veränderungen sein. Dein Onkel und ich werden älter werden und wir werden sterben und eines Tages wirst du dich selbst an meiner Stelle wieder finden, mit deinem eigenen Kind.“ Ich streckte die Hand aus um seine Wange zu streicheln, was er mir gestattete.
 

Er schien mir nicht zu glauben, denn ein misstrauischer Blick überkam ihn. „Aber Onkel kann nicht sterben! Er lebt ewig!“
 

„Oh, hat er dir das etwa erzählt?“ Ich fand den Gedanken mehr als nur ein wenig amüsant.
 

Er zuckte die Achseln. „Nein, ich denk’s mir nur.“
 

„Nun, ich hasse es zwar, dir deine Illusionen zu rauben, Junge, aber Sherlock Holmes ist so sterblich wie jeder andere. Egal was du – oder er – auch glauben magst.“
 

Mittlerweile war ich sicher, dass Josh mir nicht glaubte, denn der Ausdruck auf seinem Gesicht war eine vertraute Skepsis, so als ob alles, was ich sagte, zuerst seziert werden musste, um die Wahrheit dahinter zu entdecken. Keiner von uns würde weiter auf das Thema eingehen. „Tut mir Leid, dass ich frech war“, sagte er schließlich mit der Stimme des Jungens, den ich kannte. „Ich weiß, dass du mich liebst. Du musst es.“
 

„Ich tue es, ganz egal ob ich muss oder nicht“, erklärte ich ihm, während mich die Erleichterung durchflutete. „Und was auch immer dich in letzter Zeit so aus der Fassung gebracht hat, ich hoffe, du weißt, dass egal welche Veränderungen die kommenden Jahre für uns bereithalten werden, sich meine Liebe für dich nicht ändern wird. Genauso wenig wie die deines Onkels, würde ich meinen.“
 

Er nickte, aber sah aus, als ob er noch weit mehr zu diesem Thema zu sagen hätte. „Bedrückt dich sonst noch etwas?“, fragte ich.
 

„Nein, Papa. Nichts, das heute geklärt werden müsste.“
 

Ich spürte, wie der vertraute Schmerz der Unsicherheit in meinem Blut aufwallte, aber es war bereit zu viel geschehen, um es nun zur Sprache zu bringen. Was auch immer er noch wusste, was auch immer ihn noch bedrückte, konnte warten und ich konnte noch ein paar Augenblicke länger in Verleugnung leben.
 

Etwas war mit meinem Sohn geschehen, das erkannte ich mit Sicherheit. Denn was passiert war, war weit offensichtlicher gewesen, als jeder frühere Augenblick der Klarheit, der mir vergönnt gewesen war. Was ich allerdings nicht erkannte, war die Wichtigkeit jenes Frühstücks und der Worte, die es bestimmt hatten. Es war die erste von mehreren Auseinandersetzungen, die uns bevorstanden. Wenn ich es nur gewusst hätte.
 

Am Ende gab ich nach, wie ich gewusst hatte, dass ich es tun würde. Er hatte sich entschuldigt und auch wenn ich ernste Zweifel daran hatte, dass irgendetwas zwischen uns wirklich geklärt worden war, konnte ich nicht anders, als mich schuldig genug zu fühlen, um ihn mitkommen zu lassen. Aber es gab auch noch einen weiteren Grund dafür. Es widerstrebte mir, ihn so viel allein zu lassen wie in der Vergangenheit. Ihn zu beschäftigen, besonders an den seltenen Gelegenheiten, da ich von Holmes getrennt war, bedeutete, seinen Verstand auf andere Aufgaben zu lenken, als mein Leben und das von Holmes zu deduzieren. Denn ich wusste, dass er das tat. Und ich konnte nur hoffen, dass seine Schlüsse immer noch zu sehr von seiner Unschuld getrübt wurden, als dass er die Wahrheit erkannte.
 

Der Tag entsprach für meinen Geschmack viel zu sehr meiner Stimmung. Der Platzregen und das Brausen des gestrigen Tages schien nicht gehen zu wollen und auch wenn sich die schweren grauen Wolken noch würden öffnen müssen, war es unvermeidlich, dass sie es an einem gewissen Punkt tun würden. Der Wind pfiff in unseren Ohren und der verfaulte Geruch der Thames war besonders deutlich wahrzunehmen. Es war kein Tag, den ich freiwillig draußen verbracht hätte, in einer Straße von Whitechapel herumgewandert wäre, während ich mir darüber Sorgen machte, dass ich mein Kind den Abgründen des Lebens aussetzte und dabei immer noch versuchen musste die Teile eines dreißig Jahre alten Puzzles zusammenzusetzen. Aber genau das war nun mal die Situation, in der ich mich selbst wieder fand.
 

Die Horseshoe Alley lag in Whitechapel in der Nähe der Whitechapel Alley und Buck’s Row, dankenswerterweise näher an der Alley als an den schrecklichen Elendsvierteln von Dutfield’s und ähnlichem. Auch wenn es technisch gesehen eine Gegend der Mittelklasse war, mit anständigen Geschäften und anständigen Wohnhäusern, drängte sich trotzdem die Frage in meinen Kopf, Warum um Himmelswillen sollten die Davies’ hier ihre Weihnachtseinkäufe erledigen? Sie konnten sich mit Sicherheit die besseren und sicheren Teile der Stadt leisten.
 

„Papa?“, fragte Josh, während wir rasch von der Haltestelle der Untergrundbahn Richtung Lestrade und Horseshoe Alley gingen. „Wie wurde Onkels Schwester ermordet?“
 

„Sie wurde erschossen, fürchte ich…“
 

„Mit einer Pistole?“
 

„Es gibt sonst nicht viel“, sagte ich mit einem Lächeln.
 

„Doch, gibt es. Einen Pfeil. Oder ein Gewehr. Das ist nicht dasselbe wie eine Pistole.“ Er war nun an der Reihe über seine Brillanz zu lächeln, als er überlegen zu mir aufsah.
 

„Ich bin sicher, dass du das weißt, Josh. Komm mit.“
 

Wir fanden Lestrade ohne Schwierigkeiten. Er hielt ein Stück Papier in einer Hand und sein Blick wanderte langsam von einer Seite der Straße zur anderen, wobei er hin und wieder auf das Papier blickte. Die Straßen waren beinahe verlassen, was vermutlich teilweise an der Uhrzeit lag (während der Nacht wurden solche Ort immer wesentlich lebendiger) und teilweise an dem Wetter. Ich hatte sowohl mich als auch meinen Sohn in die wärmste Kleidung eingehüllt, die ich gefunden hatte, aber viele Bewohner der Gegend waren nicht so glücklich, als dass sie die Mittel dazu aufbringen könnten. Allerdings war der Inspektor trotz des Wetters so in seine Angelegenheiten vertieft, dass wir beinahe schon vor ihm standen, bevor er uns bemerkte.
 

„Sie hatten wohl einen produktiven Morgen, Lestrade?“, rief ich ihm freundlich zu.
 

Er nickte ohne viel Enthusiasmus. „Ich fürchte, das war er nicht wirklich, Doktor. Ich habe mir die Freiheit genommen, eine Karte anzufertigen, wie die Gebäude vor dreißig Jahren ausgesehen haben. Wie Sie sehen können, gab es viele Veränderungen, besonders bei den Geschäften auf der Ostseite der Straße.“ Er blickte mit einem müden Gesichtsausdruck auf, der vermuten ließ, dass seine Nacht nicht viel wohltuender gewesen war als meine eigene. Es überraschte mich einigermaßen, denn als ich ihn wegen des Falles angesprochen hatte, hatte ich von ihm keinen solchen Grad an Einsatz erwartet. War es der Wunsch, diesen einen Nachtmahr aus den Akten seines Vaters abschließen zu können? Oder eher etwas, wie schlussendlich doch noch in der Lage zu sein, Sherlock Holmes zu besiegen? Jenen einen Fall lösen zu können, der diesen Mann immer noch so sehr verfolgte, dass Lestrade schließlich das Gefühl haben konnte, sich für die Jahre von Holmes’ Hilfe revanchieren zu können.
 

Lestrade hätte auch eine Laufbahn als Kartograph einschlage können, wie ich herausfand, als ich ihm über die Schulter blickte. Er war präzise im Detail und kein schlechter Künstler, was ich ihm auch sagte, trotz der vielen Kleckse der achtlos geführten Feder.
 

Er lächelte mit Eleganz. „Ich bezweifle, dass meine künstlerischen Fähigkeiten uns heute von Nutzen sein werden. Bis vor ein paar Momenten hätte ich niemals gedacht, wie sehr sich diese Gegend verändert haben würde. Zum Beispiel dieser Laden hier…“ Er deutete in Richtung eines Bekleidungsgeschäfts nahe der Stelle, wo das Opfer zu Boden ging. „Und das Büchergeschäft drei Türen weiter unten, ebenso wie diese Wohnungen auf dieser Seite der Straße sind die einzigen Gebäude die gleich geblieben sind. Alle anderen haben sich verändert. Viele sogar mehrmals. Die Kneipe zum Beispiel, aus der unser theoretischer Schütze gekommen sein könnte, ist seitdem ein Restaurant, eine Pferdevermietungsstelle und eine Gaststätte gewesen und ist nun wieder eine Kneipe!“
 

„Es ist entmutigend“, stimmte ich ihm zu. „Es ist gut möglich, dass wir nichts erreichen können. Aber ich werde es zumindest versuchen.“
 

„Um alles am rechten Platz zu wissen, die Leiche sank hier zu Boden“, sagte Lestrade, während er hinüber zu jenem Teil der Straße ging und sich hinkniete. „Der Schuss kam irgendwo von Norden, wahrscheinlich nicht mehr als zehn Yards entfernt, wodurch es nahe der Kneipe sein müsste, wie ich sagte. Wie Sie sehen können, beginnt die Straße dort, wo die Leiche niederfiel, merklich anzusteigen und die einzige Mutmaßung, die in den Notizen erwähnt wurde – oder zumindest an die ich mich erinnere – war das die Neigung des Hügels für den seltsamen Einschusswinkel der Kugel verantwortlich ist.“
 

Der Boden sah völlig normal aus, so wie er sein sollte, auch wenn ich nicht anders konnte, als zu erwarten, dass das Kopfsteinpflaster noch immer mit frischem Blut bedeckt, dass dieser Ort für immer mit dem Leben dieses so einflussreichen Menschen beschmutzt wäre. Ich ließ meine Hand darüber streichen, aber spürte nur die kalte, schmutzige Struktur des Steins. Die Jahre hatten jedes Zeichen des Verbrechens, das hier begangen worden war, fortgewaschen. Nichts blieb als die verstreuten Aufzeichnungen eines pflichtbewussten Detektivs und die Narben des einen, der am meisten gelitten hatte.
 

„Kann er aus einem Fenster gekommen sein?“
 

Lestrade und ich drehten uns beide zu Josh um. Wir waren beide so in die Untersuchung der Stelle vertieft gewesen, dass keiner von uns an ihn gedacht hatte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich beinahe vergessen, dass er überhaupt da war.
 

„Was, Junge?“, sagte der Inspektor verwirrt.
 

Er deutete auf das Gebäude, das das Bekleidungsgeschäft beherbergte, eines von nur zwei, das im selben Zustand geblieben war wie vor dreißig Jahren. Sowohl Lestrade als auch ich hatten dem kleinen Finger hinauf zu dem Fenster im ersten Stock gefolgt, bemerkenswerterweise leicht geöffnet und mit einem Topf sterbender Blumen verziert. Ich stellte mir eine schattenhafte Gestalt vor, mit einem Revolver niedergekauert, die auf Philippa Holmes zielte und abdrückte. Wenn sie direkt unter dem Fenster gestanden hätten, wäre ein bizarrer Einschusswinkel entstanden.
 

„Nun, es macht Sinn, Lestrade“, sagte ich ihm.
 

Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Sie ihn mitgebracht hatten.“ Er lachte und tätschelte seinen Kopf. „Gut gemacht, Master Watson! Aber ich fürchte, deine Theorie hat eine Schwachstelle. Wir haben mehrere Zeugenaussagen, denen zufolge der Schütze auf der Straße gewesen ist. Sie hörten den Schuss von der Straße.“
 

Josh zuckte angesichts dieses kleinen Details nur die Achseln. „Die Menschen lügen, Mr. Lestrade. Jeder lügt.“
 

Lestrade lachte leise. „Er ist so vollkommen zynisch, nicht wahr, Doktor?“
 

„Sie haben nicht die leiseste Vorstellung.“
 

„Ich kann mir sicherlich vorstellen, dass ein Leben mit Mr. Holmes bei jedermann so etwas auslösen kann, selbst bei einem Kind.“ Er wand sich an Josh. „Und auch wenn es sein mag, dass jeder lügt, wirst du an den Zeugenaussagen vielleicht weniger zweifeln, wenn du hörst, dass Mr. Holmes einer von denen war, die den Schützen auf der Straße gehört haben wollen. Tatsächlich glauben wir, dass er dem Mörder vielleicht am nächsten war. Er bestritt es zwar – zweifellos weil er sich schuldig fühlte – aber er war dem Schützen tatsächlich nahe genug, um Schmauchspuren auf seiner Wange davonzutragen.“
 

Ich war erstaunt. „Ich habe nichts Derartiges in den Aufzeichnungen ihres Vaters entdeckt.“
 

„Aber es muss irgendwo sein, Doktor. Ich kann mich lebhaft daran erinnern, dass mir mein Vater von diesem Jungen erzählte. Eine Zeit lang…“ Er räusperte sich und beugte sich weiter zu mir, als fürchte er, der Wind könnte mithören. „Eine Zeit lang wurde der junge Mr. Holmes verdächtigt.“
 

„Was!“
 

„Ich weiß, dass es der Logik widerspricht, wenn man es rückblickend betrachtet. Aber Sie müssen es aus dem Blickwinkel meines Vaters und Scotland Yard“—
 

„Er war ein Kind!“, rief ich ärgerlich. „Und er liebte diese junge Frau! Mehr als…mehr als jeden anderen.“
 

Lestrade stopfte seine Hände in die Taschen seines Mantels und ein wütender Ausdruck wuchs auf seinem Gesicht. „Kommen Sie, Dr. Watson, lassen Sie uns bei dieser Sache nicht so naiv sein. Ich sage ja nicht, dass ich Mr. Holmes für den Mörder halte oder auch nur dass mein Vater jemals mehr als den leisesten Verdacht hatte. Aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und können von diesem Mann nicht als Heiligem sprechen. Sie wissen ebenso gut wie ich, dass er sich jenseits des Gesetzes wähnt. Sie können nicht mit gutem Gewissen sagen, er hätte niemals das Gesetz missachtet, wenn es seinen Zwecken diente.“
 

„Aber er würde niemals“—begann ich.
 

„Er war ein aggressives Kind!“, rief Lestrade. „Aggressiv und seinen Jahren doch weit voraus. Sie wissen das! Er war dem Schützen nahe genug, dass er mit Schießpulver beschmutzt wurde. Er war der erste, der bei der Leiche ankam und er war mit ihrem Blut bedeckt. Und…und das ist das der vernichtenste Hinweis: er gab zu, dass er über die Hochzeit seiner Schwester wütend war.“
 

„Also hat er sie in seiner Wut getötet?“, schnaubte ich, während ich versuchte, meine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten, was keine leichte Aufgabe war. „Ich würde eher dazu neigen, dass Davies das Opfer gewesen wäre, wenn er tatsächlich jemanden getötet hätte und nicht Philippa.“
 

„Nicht unbedingt. Es ist meine Erfahrung, dass Menschen hin und wieder den Gegenstand ihrer Liebe töten, selbst wenn ein offensichtlicheres Ziel verfügbar ist. Es hat wohl etwas mit der Einstellung zu tun ‚wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich niemand haben.’“
 

„Das ist hier nicht der Fall gewesen, Lestrade, und Sie wissen das verdammt gut!“ Wie konnte er so etwas auch nur andeuten? Vielleicht würde er anders denken, wenn er wüsste, was ich wusste. Wenn er Mycroft Holmes’ Zeugnis über Sherlocks Zustand gehabt hätte…Und doch…plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich beinahe anekelte. Was wenn sein emotionaler Ausbruch, den er gezeigt hatte, von etwas anderem hervorgerufen worden war als Trauer? Was wenn es Schuld gewesen war? Vielleicht war das der Grund, weshalb er niemals über ihren Tod hinweggekommen war. Schließlich wusste ich nur zu gut, dass die Reaktion, die er zeigte, ihm überhaupt nicht ähnlich sah. Ich sah mit leicht geöffnetem Mund zu Lestrade auf. Die Kälte schien sich verschlimmert zu haben und durchdrang meine Kleider. Mein Kopf begann sich zu drehen. „Nein, das kann nicht die Antwort sein. Das kann einfach nicht sein…“
 

„Vielleicht nicht“, erwiderte der Inspektor mit sanfter Stimme. „Aber Sie geben zu, dass die Möglichkeit besteht? Wir müssen tun, wozu uns Mr. Holmes so oft aufgefordert hat, Doktor. Und das bedeutet, unsere Gefühle beiseite zu legen, sodass wir klar sehen können. Wir dürfen uns keine Voreingenommenheit erlauben.“
 

Ich nickte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es auch so meinte. Es war die einzige Möglichkeit, die mir nun durch den Kopf ging. Ich drehte mich um und sah wie sich alles vor mir abspielte:
 

Ein kleiner, dunkelhaariger Junge mit den dumpfen, leeren Augen jener Fotografie stand vor mir. Das einzige Gefühl, das in ihm geblieben war, war Wut. Ich sah Philippa Holmes neben ihm und sie sprachen miteinander, auch wenn ich ihre Worte nicht hören konnte. Ein junger, hellhaariger Kerl sagte etwas zu Philippa und eilte dann in Wimboley’s Dry Goods. Der Junge und seine Schwester gingen ein paar Schritte weiter, aber nun stritten sie sich. Sie versuchte, ihn zu packen, aber er stieß sie weg. Die Straßen waren nun überfüllt. Ich verlor ihn aus den Augen. Sie rief ihm nach, aber er war fort. Ich rannte ihm nach, den Hügel hinauf. Ich musste ihn aufhalten. Er durfte es nicht tun.
 

Er hielt vor der Kneipe an. Eine Gedränge von Betrunken strömte aus der Tür heraus und einmal mehr verlor ich ihn. Ich riss meinen Kopf herum, um Philippa zu sehen, aber sie stand bloß vor dem Bekleidungsgeschäft und versuchte ihn zurückzurufen. Geht ihm nach! Flehte ich die Schatten an. Haltet ihn auf! Er weiß nicht, was er tut!
 

PENG!
 

Nein!, schrie ich. Gerade war sie noch voller Grazie da gestanden, nun sah ich die Kugel ihre Brust durchstoßen und das Blut spritze wie ein Geysir, als sie in sie eindrang. Sie fiel, jeder Ausdruck verließ ihr Gesicht in weniger als einer Sekunde. Ich drehte mich zurück zum Hügel um. Die Betrunkenen waren in Panik ausgebrochen und schrieen, nachdem sie den Schuss gehört hatten. Der Tumult ließ die Menschen in Deckung rennen. Es war unmöglich irgendetwas zu erkennen, als die Feiglinge, die die junge Lady in dem See aus Blut liegen ließen, um ihre eigene Haut zu retten.
 

Und dann sah ich ihn wieder. Er lief mit voller Geschwindigkeit auf sie zu. Aber da war etwas in seiner Hand. Etwas, das er hinten in eine Kutsche fallen ließ, als er daran vorbei rannte. Das nervöse Pferd warf seinen Kopf in die Luft, während es empfindlich versuchte, die Masse von fliehenden Menschen zu meiden. Nein…das konnte nicht sein.
 

Aber ich erkannte den silbernen Blitz als eine kleine Pistole mit kurzem Lauf. Er hatte sie gerade fallen lassen. Er erreichte die Leiche. Sie öffnete kurz die Augen und erkannte ihn. Ihre Hand bewegte sich in Richtung seines Gesichtes. „Du…warst es, Sherlock…“
 

Und dann war sie tot.
 


 

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[1] Okay, ich weiß, das hier widerspricht jedermanns Ideal von Watson als friedlich, sanft und einem großartigem Vater. Also falls ihr bis jetzt noch nicht bemerkt habt, dass er kein guter Vater ist, hier hab ihr es. Und ich weiß auch, wie grausam das alles klingt, aber ihr dürft nicht vergessen, dass das eine ganz andere Zeit war, in Eltern ihre Kinder hin und wieder schlugen. Immerhin ist das hier noch weit sanfter, als es die meisten Eltern waren.

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich einfach nicht mehr, und das in mehr als nur einer Beziehung. Der Schnee der uns bisher nur gedroht hatte, erfüllte rachsüchtig besagtes Versprechen. Ein dichter weißer Sturm segelte in einem bitteren Nordwind herbei und meine Augen wurden vor Nässe geblendet. Augenblicklich gefror das Blut in meinen Venen. Als ich den Kragen meines Mantels ein wenig fester um meinen Nacken zog, wurde mein ganzes Wesen von einem heftigen Schauer überzogen.
 

„Doktor?” Eine Stimme in meiner Nähe, die ich als die des Inspektors erkannte, rief mich durch den Wind. „Ich fürchte das war’s. Vielleicht sollten wir uns lieber irgendwohin vor dem Wind in Sicherheit bringen?“
 

Ich schauderte wieder und fühlte einen seltsamen Knoten in meinem Unterleib. Meine Stiefel standen fest auf dem bereits rutschigen Boden. Eine Wärme legte sich auf meine Hand, ein kleiner blauer Fausthandschuh.
 

„Papa, bist du in Ordnung?“ Josh blickte mich stirnrunzelnd an und sowohl Neugier als auch Sorge verzerrten seine kindlichen Züge.
 

Das war ich nicht, aber ich versicherte ihm das Gegenteil mit einem knappen Nicken.
 

„Wollen wir dann, Leute?“ Lestrade deutete auf die Untergrundbahn und wir gingen langsam aus dem Wind.
 

Der Inspektor sah mich prüfend an, er war trotz seiner unbeholfenen Haltung in seinen Mantel gekauert, um gegen die Kälte anzukämpfen. „Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht, Doktor?“
 

„Es geht mir bestens“, log ich.
 

„Sie schienen etwas…in Gedanken versunken, als ich eine mögliche Theorie des Verbrechens erwähnte. Wenn Sie es auch nur im Geringsten in Erwägung ziehen…“
 

„Ich tue nichts dergleichen, Lestrade! Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass das, was sie vorschlagen, unmöglich ist! Sherlock Holmes ist zu so etwas absolut nicht fähig!“
 

Er versteifte sich etwas unter meiner Rüge. „Ja…ich vergaß, wie viel besser Sie diesen Mann kennen.“
 

„Sie wissen überhaupt nichts darüber!“
 

Ich brüllte das so laut heraus, dass trotz dem Geheul des Windes Lestrade, Josh und zwei vorübergehende Fremde in ihrem Schritt innehielten. Der Inspektor starrte mich verblüfft an, unfähig zu erfassen, was ich gerade gesagt hatte. Ich konnte es ihm kaum übel nehmen, denn in all den Jahren unserer Bekanntschaft hatte ich mich kein einziges Mal von meinem Temperament überwältigen lassen, aber nun brach es so plötzlich aus mir hervor, dass ich kaum wusste, was ich tat.
 

Oder wie es wirkte.
 

„Lestrade, ich…ich entschuldige mich.“ Selbstverständlich. Seit mittlerweile zwei Jahren hatte ich kaum etwas anderes getan, als mich zu entschuldigen. Das war die Grundlage meiner Beziehung zu Holmes. Mich bei Freunden und Familie für die Dinge entschuldigen, die ich geheim hielt und bei einander für die Dinge, die wir nicht genug geheim gehalten hatten. „Es war nicht meine Absicht zu…ähm, schreien…“
 

Er lächelte, wenn auch gezwungen. „Nichts passiert. Ich würde sagen, dass Wetter bekommt Ihren Nerven nicht unbedingt, hm?“
 

„Ja, natürlich.“ Ich erschauderte wieder. Allerdings hatte das Wetter nichts damit zu tun.
 

Die Teezeit war mittlerweile schon vorübergegangen und da unser Trio auf dem besten Weg zu einer Unterkühlung war, lud ich den Inspektor auf etwas Warmes in die Baker Street ein. Er akzeptierte mit einem Nicken, aber niemand nicht einmal Josh sprach während des Rückwegs. Wir hatten nichts erreicht oder zumindest redete ich mir das immer und immer wieder selbst ein, um nicht an meine Vision zu denken. Und doch war sie immer noch da, in meinem Unterbewusstsein. Das Kind mit dem düsteren Gesicht, den Augen aus Eis und den geballten Fäusten, das ich auf der Fotografie in jenem grässlichen Haus gesehen hatte, blieb in meinen Gedanken. Lestrade hatte gesagt, er kenne den Mann gut, aber trotzdem würde er immer der geheimnisvollste Mensch bleiben, den ich jemals kennen lernen sollte. Ich wollte mir selbst einreden, dass ich ihn gut kannte, aber es war eine Lüge. Der Mann, den ich zu kennen und zu lieben glaubte, hatte sich vor vier Tagen vollkommen verändert.
 

„Dieses Schneegestöber scheint bereits nachzulassen“, sagte Lestrade, als wir warm und trocknend vor dem krachenden Wohnzimmerfeuer saßen. „Vielleicht können wir früher weitermachen als erwartet? Vielleicht schon morgen?“
 

Mrs. Hudson erschien im selben Moment mit einem entzückenden Tablett, dessen Anblick meine durchweichten Sinne beinahe trunken machte. „Wir werden sehen, Lestrade. In der Zwischenzeit frage ich mich immer noch, ob das alles vielleicht ein Fehler war.“
 

„Das will ich wohl meinen, Doktor!“, schimpfte unsere Wirtin, während sie Kekse vor meinem Sohn abstellte. „Mitten in einen Blizzard zu rennen und dann durchnässt bis auf die Knochen zurückzukommen!“
 

Ich lachte sanft. „Das war wohl kaum ein Blizzard, Mrs. Hudson. Es hat bereits aufgehört.“
 

Aber sie wollte nichts davon hören. „Man müsste eigentlich meinen, dass zwei respektable Gentlemen wie Sie im Laufe Ihres Lebens zumindest ein bisschen Vernunft entwickelt hätten…“
 

„Man müsste es meinen, nicht wahr?“ Lestrade lächelte breit.
 

„Sie übertreiben wirklich, Mrs. Hudson. Wir haben kaum etwas vom Hauptstoß des Sturmes gespürt und ich kann Ihnen versichern, dass unsere Motive so ehrenhaft waren wie nur vorstellbar.“
 

Mrs. Hudson beäugte mich (meiner Meinung nach fast schon misstrauisch), als sie den Tee einschenkte. „Wissen Sie, Doktor, manchmal denke ich, Sie würden sich für Mr. Holmes noch einmal zu Tode arbeiten. Er verlangt zu viel von Ihnen.“
 

„Papa würde alles für Onkel tun“, bemerkte Josh, den Mund voller Krümel.
 

„Ja“, sagte Mrs. Hudson eher distanziert. „Das ist mir bewusst, Junge.“ Schnell und effizient sammelte sie die Überreste der alten Zeitungen auf, die wir für unser Feuer verwendet hatten und ging schweigend.
 

Ich fühlte wie mein Atem aus meinem Körper entwich.
 

Auch wenn Mrs. Hudson unter uns lebte, unsere Wäsche wusch und unsere Zimmer sauber hielt, hatte ich nie den Verdacht gehabt, sie könnte uns verdächtigen. Schließlich waren wir die absolute Definition von Vorsicht und Diskretion und trotz der panikartigen Angst, die Wilde unglücklicherweise in den Köpfen vieler gesät hatte, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, dass so eine nette alte Dame wie unsere Wirtin irgendwelche Zweifel an unserem Charakter haben könnte. Vielleicht trifft uns die Naivität am eigenen Herd öfter als in der Fremde.
 

Ich erhob mich mit falscher Selbstsicherheit von meinem Sitz. „Was würden sie von etwas ein wenig Wärmerem sagen, Inspektor?“
 

„Ich würde nicht nein sagen.“
 

Ich schenkte jedem von uns ein, zwei Schluck von Holmes’ Whiskey ein. Auch wenn er einen Vorrat an Spirituosen im Haus hielt, nahm er selten mehr als einen Trunk nach dem Abendessen, abgesehen von sehr seltenen Stimmungen. Sein Vorrat an Whiskey war zu meiner Bestürzung irisch und ich denke dahinter steckt seine Absicht, mich nicht mit meinem vertrauten Scotch in Versuchung zu führen. In jenem Moment allerdings hätte ich alles getrunken, das mich beruhigt hätte. Nach dem ersten Schluck erlaubte ich mir einen zweiten, was mir einen Blick des Inspektors einbrachte. Die Taubheit in meinen Zehen verging und bewegte sich langsam aufwärts in mein Gehirn. Ich stopfte den Korken unbeholfen zurück in die Flasche. Beinahe sofort sehnte ich mich nach einem weiteren Glas.
 

„Kälter als Sie dachten, Doktor?“ Lestrade schob langsam sein leeres Glas beiseite.
 

„Ja, ziemlich.“
 

Er lachte schwach. „Ich würde mir keine Sorgen machen, Dr. Watson. Schließlich war es nur ein erster Versuch. Wenn wir dieser Sache mit ganzem Verstand nachgehen, dann werden wir sicher“—
 

„Ja, sicher, Lestrade“, unterbrach ich ihn. Aber ich wusste, dass ich den Fall von Philippa Holmes niemals lösen würde. In diesem kurzen winterlichen Schneegestöber, das uns ironischerweise umgeben hatte, lag ein Zeichen. Gottes Zorn. Sein Urteil.
 

„Der Schnee hört auf“, kommentierte Josh, als er ans Fenster trat. „Vielleicht könnten wir zurückgehen?“
 

Ich war unsicher, warum sie so eifrig waren. Es schien beinahe, als ob sie mich dazu nötigen wollten. Als ob sie wussten, wie dringend ich diesen Fall für Holmes lösen musste.
 

„Wir sind jetzt warm“, sagte Lestrade. „Ich denke, der Junge hat Recht. Was sagen Sie, Doktor?“
 

Es wurde dunkel und ich sah durch das Fenster, wie sich die Sonne längsseits hinter eine schwere Barriere aus grauen Wolken schob. „Ich denke nicht.“
 

Josh sprang auf die Füße. „Aber Papa“—
 

„Nun, ich habe mich doch wohl klar ausgedrückt!“
 

Schon wieder war meine Stimme gänzlich lauter, als ich es erwartet hatte. Nun taumelte nicht nur mein Sohn vor Überraschung, sondern auch der Inspektor zuckte merklich zusammen. Ich räusperte mich verlegen. Es war klar genug, dass ich mich zum Idioten machte. Aber als ich begann wie ein ermahntes Schulkind auf den Teppich zu starren, während ich schon wieder eine Entschuldigung vorbereitete, wurde ich unerwarteter Weise unterbrochen.
 

„Tss, Watson! Wie ungewöhnlich unhöflich von dir! Und dann auch noch wenn wir Besuch haben.“ Holmes erschien auf der Türschwelle in einem durchnässten Mantel und Hut, während geschmolzener Schnee gegen die Wand tropfte und seine normalerweise blasse Gesichtsfarbe war von der Kälter leicht gerötet. Aber er lächelte uns herzlich an, als er die besagten Gegenstände entfernte und die Hände aneinander rieb. „Ich hoffe sehr, ihr Gentlemen hab nichts Lohnendes ohne mich zusammenbraut, das ich nun verpasst habe.“
 

„Wo um Himmelswillen bist du gewesen?“, fragte ich überrascht und registrierte kaum seinen Tadel.
 

„Im Brennpunkt dieser kleinen Darbietung von Mutter Naturs Macht. Wo ihr drei zweifellos ebenso gewesen seid, wenn ich mir eure trüben Augen und rosigen Nasenspitzen so ansehe. Ich kann euch versichern, dass es das Feuer und jene Flasche noch um Einiges einladender macht.“
 

Lestrade nahm den Whiskey, den ich auf dem Beistelltischen zurückgelassen hatte und schenkte Holmes einen großzügigen Schluck ein. „Sie haben einen interessanten Tag verpasst, Mr. Holmes. Wenn der plötzliche Wetterumschwung nicht gewesen wäre, hätte man ihn beinahe schon produktiv nennen können.“
 

„Tatsächlich? Ich bin zutiefst betrübt.“
 

„Oh? Weil Sie nicht dabei waren?“
 

„Nein, nein. Weil Sie es beinahe geschafft haben, ohne mich produktiv zu sein.“ Holmes lachte und Josh machte es ihm nach. Lestrade nahm die Spöttelei mit Humor. Doch das einzige, woran ich denken konnte, war die Richtung des Gesprächs; wo es unvermeidlich enden musste. Ich wünschte mir mit einem Mal, das ich diesen Pfad niemals eingeschlagen hätte. Ich fürchtete sein Ende.
 

Und sicherlich hatte ich Recht. „Jetzt wo du wieder da bist, Onkel, werden wir es sicher lösen!“ Mein Sohn teilte ihm das mit, als wären es die besten Neuigkeiten, die man sich nur vorstellen konnte.
 

„Lösen?“ Holmes runzelte die Stirn.
 

„Wirklich, Josh, du brauchst nicht“—begann ich, aber wurde sofort unterbrochen.
 

„Den Fall deiner Schwester. Wir werden ihn lösen!“ Er strahlte sein Vorbild an.
 

„Meine…Schwester…?“
 

Die Verwandlung geschah augenblicklich. Es muss beinahe schon klischeehaft klingen, wenn ich darauf bestehe, dass alle Farbe aus seinem Gesicht wich, mehr noch da sein Gesicht ohnehin schon beinahe farblos war, aber ich schwöre, dass ich für eine kurze Sekunde glaubte, er würde sogar in Ohnmacht fallen.
 

Die Art, wie er von seinem Stuhl aufsprang, erinnerte mich so sehr an Joshs Benehmen an eben jenem Morgen, dass ich sicher war, er würde einen Wutanfall bekommen. Aber in jenem Moment war es sicherlich nicht Wut auf seinem Gesicht sondern Angst. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zuerst auf den Jungen und dann auf mich selbst. Sein Adamsapfel bewegte sich stumm auf und ab. Schließlich sprach er zu mir.
 

„Was hast du getan?“
 

Lestrade, der auf die Gefühle dieses Mannes nicht so gestimmt war wie ich, lachte. „Ich muss schon sagen, Mr. Holmes, was zum Teufel ist über Sie gekommen? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen!“
 

Holmes sah ihn kaum an. Tatsächlich schien er die Bedeutung von Lestrades Worten gar nicht zu erfassen. Stattdessen räusperte er sich und sagte leise. „Gentlemen, ich bitte Sie, mich zu entschuldigen.“ Er eilte durch den Raum und schlug seine Zimmertür heftig hinter sich ins Schloss, während er uns drei voller Verwunderung rund um den Tisch zurückließ.
 

„Nun, Doktor, das war wohl kaum die Reaktion, auf die wir gehofft hatten“, sagte Lestrade, während er mich seltsam mit gerunzelten Brauen betrachtete.
 

„In der Tat.“ Ich fühlte, wie die Schwere der Situation schmerzhaft meine Brust zermalmte. Wie gewöhnlich blieb es mir überlassen, für Holmes’ Benehmen eine würdevolle Entschuldigung zu finden, die ihn vor Verlegenheit schützen würde. Aber wie konnte ich ihn Wahrheit auch nur irgendetwas erklären? Ich zuckte zusammen, als sich der Schmerz im Inneren steigerte. Es war der Schmerz entsetzlicher Erkenntnis. Ich drehte mich zu den anderen mit einem lauten Stöhnen um.
 

„Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.“
 

Ein verwirrter Ausdruck zuckte über Lestrades Gesicht und ich konnte ihm kaum vorwerfen, dass er nicht begriff. Josh allerdings wirkte sogar ängstlich. „Was für einen Fehler?“, fragte er vorsichtig.
 

Ich konnte als Antwort nur den Kopf schütteln. „Entschuldigt mich, aber ich muss das regeln.“
 

Er stand genau in der Mitte des Zimmers und seine Augen waren genau auf die Tür gerichtet, sodass sie sich, als ich eintrat, sofort mit den meinen trafen. Ich war mir nicht sicher, ob es Absicht war; dass er wusste, dass ich ihm nachgehen würde oder ob er diesen Punkt nur zufällig gewählt hatte, um sich zu fassen. Er wirkte mit Sicherheit so, als hätte er keine Ahnung, was er sagen sollte.
 

Auch ich fand mich selbst in einem ähnlichen Zustand.
 

Aus dem Bauch heraus, hätte ich ihn, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, am liebsten in die Arme genommen, hätte seine dünne Gestalt mit unsicheren Händen umarmt, bis wir uns zu einem vollkommenen Wesen zusammengedrückt hätten.
 

Aber das war keine durchführbare Lösung.
 

Sein Blick ruhte auf meinen Händen, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Mittlerweile – nach so vielen Jahren – konnte er es vielleicht. Für eine Sekunde sah ich, wie sich die langen, flinken Finger seiner rechten Hand bewegten. Ein Zucken. Ich dachte, dass er nach den meinen greifen könnte, aber er tat es nicht. Stattdessen fielen seine Augen leer und sinkend auf den grauen, durchgetretenen Teppich seines Fußbodens.
 

„Du wirst wirklich mehr üben müssen“, sagte er leise. „Wenn du mich tatsächlich irreführen willst, Doktor.“
 

„Was? Dich irreführen?“
 

„Ich wusste schon in der Sekunde, in der ich deinen Gesichtsausdruck sah, dass etwas nicht stimmte. Du wärst ein furchtbarer Schauspieler, fürchte ich [1]. Geweitete Pupillen, zerfurchte Brauen, rot im Gesicht…du hast mindestens zwei Whiskeys getrunken.“ Er sah schroff auf. „Du trinkst nur dann so viel, wenn du dir über etwas Sorgen machst. Du hast mich mit Sicherheit nicht zurückerwartet, bevor du diese Angelegenheit über die Bühne gebracht hättest“—
 

„Das ist nicht wahr! Ich wollte dir nur helfen!“
 

Er war nun weit weg, so weit weg, dass ich ihn nicht hätte berühren können, ohne mich zu bewegen. Ich konnte den gewaltigen Abstand zwischen uns tatsächlich sehen.
 

„Und warum solltest du auf die Idee kommen, dass es helfen würde, wenn du deine Klaue von einer Hand direkt in meinen Körper bohrt und mir mein schlagendes Herz herausreißt!“
 

„Aber es quält dich!“
 

„Natürlich! Aber mit Sicherheit, Doktor, kannst du nicht über den monströsen Egoismus verfügen, dich zu erdreisten, dass du auch nur annähernd die Fähigkeiten dazu besitzt, diese Sache in Ordnung zu bringen!“
 

Ich konnte die Worte kaum hören, so sehr schrie er. Josh und Lestrade konnten es mit Sicherheit ebenso gut hören. Ich hatte immer ihn als den Egoistischen von uns beiden angesehen. Hatte ich wirklich gedacht, dass ich ihn würde in Ordnung bringen können? Wenn eine solche Heilung überhaupt existierte. Ich war ein Mediziner; es war meine Beruf, zu heilen. Aber nicht so.
 

„Holmes“, sagte ich sanfter. „Ich dachte, dass die Wunde anfangen könnte zu heilen, wenn du erst eine Antwort auf den Fall deiner“—
 

„Ach, dachtest du das?“ Die Art, wie er mich nicht anblickte, macht mich nervöser, als unser erster unerwarteter Kuss vor so langer Zeit. Er würde mich nicht ansehen.
 

„Als wir in Cornwall waren“, versuchte ich zu erklären. „Erzählte mir Mycroft, dass das, was du brauchst, vielleicht eine Antwort sein könnte. Er sagte“—
 

„Mein Bruder ist ein pedantischer, selbstsüchtiger Egoist. Er weiß nichts von meinem Schmerz!“
 

Seinem Schmerz. Die beinahe schon schrille Schärfe seiner Stimme, die Grausamkeit und die Verzweiflung, die in seinen Worten lagen, machten mich so unglaublich besorgt. Ich taumelte ein oder zwei Schritte rückwärts. In weniger als einer Sekunde waren die grauen Augen auf mir, studieren mich rasch. Augenblicklich härtete sich jenes Grau zu Stein. Es war ein Blick, den ich noch nie von ihm erhalten hatte und denn ich auch niemals mehr erhalten würde. Ein Blick von…nun, Abscheu ist wirklich das einzige Wort dafür. Abscheu und Verrat.
 

„Aber das ist noch nicht alles. Nicht wahr, mein lieber Doktor? Mit Sicherheit kann ich dir deine philanthropischen Missetaten bis zu einem gewissen Punkt vergeben, aber das ist noch nicht alles. Ich kann es in deinem Schweigen lesen, in deiner überaus sorgsamen Wortwahl. Wie sorgsam du entscheidest, was genau du mit Lestrade besprochen haben musst. Es gibt einen anderen Grund für den Ausdruck auf deinem Gesicht, als ich durch die Tür hereinkam.“ Er hielt inne und einen Moment lang dachte ich, er wollte nicht weiter sprechen. Er hob seine Hand an die Lippen und berührte sie sanft. Die Finger bewegten sich langsam hinunter zu dem markanten Kinn, wo sie einen Augenblick lang verweilten, bevor sie sich schließlich zu einer Faust ballten, die er so heftig gegen die Wand schlug, dass ich vor Überraschung aufschrie.
 

„Du denkst, dass ich sie ermordet habe, nicht wahr?”
 

Er war eine entsetzliche Angst, in der er dies schrie, kaum der Zorn, den ich erwartet hätte. Aber es machte keinen Unterschied. Er hatte es gesagt. Und unsere Leben würden nun deshalb für immer verändert sein. Es war nicht unbedingt die Behauptung selbst, sonder die Tatsache, dass wir beide wussten, dass es stimmte. Er musste in der Lage gewesen sein, es in meinem Gesicht zu lesen. Er konnte immer viel mehr sehen, als ich beabsichtigte, egal wie sehr ich mich auch bemühte. Und trotz meiner Scham konnte ich nicht wegsehen.
 

Holmes nickte knapp, so als ob er entweder etwas entschied oder die Situation akzeptierte. „In Ordnung“, sagte er, als seine Stimme wieder etwas Ruhe und Autorität zurückgewonnen hatte. „Her damit. Gib mir ein…Szenario, wenn du willst.“
 

„Was?“
 

„Ein Szenario! Eine plausible Lösung! Biete mir eine Abfolge von Ereignissen an, die den bekannten Daten entsprechen. Es muss eine Abfolge von Ereignissen sein, die sich selbst so wie die Glieder einer Kette miteinander verbinden.“
 

Ich versteifte mich vor Angst. „Also wirklich, Holmes.“
 

Seine Augen loderten in meine Richtung. Das Gas flackerte. „Du wirst das tun. Für mich.“
 

„Werde ich das? Warum?“
 

„Einfach – Logik, Mann! Ich kann Logik vergeben!“ Sein Gesicht verzerrte sich in etwas, das beinahe schon Qual war. „Aber keine blinde Irrationalität! Keine…Leidenschaft! Wie kann ich das vergeben? Um Gotteswillen, John! Gib mir eine plausible Lösung!“
 

Wenn es Qual war, wusste ich, sie war echt. Es gab kaum eine Gelegenheit, da dieser Mann solche Leidenschaft zeigen würde. Tatsächlich war es die einzige Gelegenheit. Und um es zu beweisen, hatte er meinen Taufnamen benutzt. Es gab nichts, womit ich das bekämpfen konnte, außer aufzugeben.
 

Ich seufzte tief, versucht all das angespannte Grauen dieser Situation aus meinen Lungen hinaus zu zwingen. „In Ordnung“, sagte ich sanft. „Für dich also. Eine plausible Lösung.“ Ich konnte kaum denken, während ich sprach, erlaubte einfach fünfzehn Jahren der Beobachtung, Erkenntnis und Vorstellung aus mir hervorzubrechen. Es war sowohl schmerzhaft als auch befreiend, es zu tun.
 

‚Das Herz des Jungen ist nun wie Feuerstein. Er fühlt das Gewicht der Pistole in seiner Hand – ihr kalter Stahl passt zu seinen Augen. Als er sie aus dem Waffenzimmer seines Vaters stahl, war er sich nicht sicher, was er damit tun wollte. Es war nicht etwas, worüber er nachgedacht hatte. Er tat es einfach. Davies hatte die beiden verlassen und sie waren nun allein. „Sherlock, bitte!“, schrie Philippa, aber er rannte davon und verließ sie. Die Wut in ihm war wie eine Krankheit und er kannte nur einen Weg, um sie aufzuhalten.’
 

‚Er war sich nicht einmal sicher, ob er sie wirklich töten wollte. Nein, er wollte sie ganz bestimmt nicht töten. Aber die Pistole schien ihren eigenen Willen zu haben. PENG! Er beobachtet ihren Sturz. Wie ein Sack Steine fiel sie in eine Lache von Blut. Aber es war nicht seine Schuld, jemand hatte seinen Arm getroffen, sein Ziel durcheinander gebracht. Er warf die Waffe in die Menge. Wahrscheinlich würde sie jemand aufheben und mit sich nehmen. Beim Pfandleiher war sie eine Wochenration an Essen wert.’
 

‚Die Leute haben den Schuss natürlich gehört. Sie laufen Amok wie aufgescheuchtes Vieh. Zu der Zeit, als er sie erreicht, ist sie beinahe schon tot. Die Erkenntnis, was er getan hat, trifft ihn so unmittelbar, dass er auf die Knie fällt. Es ist der bedeutsamste Augenblick seines Lebens. Als er seine entsetzlichste Sünde betrachtet, erkennt er, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen wird, es wieder gut zu machen. Das Verbrechen aus seinem Gedächtnis zu löschen. Vergeblich.’
 

‚Er darf nie wieder lieben, um sicher zu sein. Nachdem sein Bruder seine geistige Gesundheit rettet und ihn zur Schule schickte, beginnt er mit seinen Versuchen, jedes Gefühl zu verlieren. Die Wissenschaft ist nun seine Welt – Chemikalien, Einzelheiten, Verbrechen. Es ist eine Welt vollkommen aus Logik, in der es keine Chance gibt, dass er jemals wieder das wird, was er einst geworden war, wenn auch nur für einen Moment, im Alter von zehn Jahren. Als er sich von seinen Gefühlen so sehr überwältigen ließ, dass er sich nun selbst davon abhält, jemals wieder zu fühlen, abgesehen von der gelegentlichen Erinnerung an seine Schwester in einem einsamen Violinenspiel. Er wird nie wieder verwundbar sein. Ich habe nie geliebt [2], sagte er einmal. Und wann immer jene euphorische Logik bedroht wird, benutzt er Rauschmittel, um den Dämon zu vertreiben. Es hält ihn bei Verstand.’
 

‚Aber dann geschieht etwas. Sein Leben aus kaltem Stahl wird von etwas Unerwartetem ersetzt. Er braucht jemandem, der mit ihm seine Unterkunft teilt. Und plötzlich mit einem Lächeln und einem Händeschütteln fühlt er, wie das Metall zu schmelzen beginnt. Er kann es nicht ändern. So sehr er auch versucht, seinen Verstand mit Fällen und Kokain zu beschäftigen, liegt darin ein Gedanke, von dem er sich nicht befreien kann. Er wächst in ihm, bis er an nichts anders mehr denken kann. Er muss gehen – hofft, dass die Entfernung genug ist, um diese Gefühle auszulöschen. Es könnte funktionieren, aber nur für eine kurze Weile. Als er Jahre später auf die tosenden Wasser der Reichenbachfälle hinabblickt, hat er es schließlich ausgesprochen. Es gab nichts, was er tun konnte. Alles war aus.’
 

„Oder besser gesagt, ich vermute jetzt ist alles aus“, sagte ich. „Es…passt alles.“ Ich hätte weiter machen können, aber als ich inne hielt, um Atem zu holen, erstarrte ich. Mein Zuhörer wirkte so vollkommen berauscht, dass es unmöglich gewesen wäre, weiter zu sprechen. „Also wie ist das?“, fragte ich den sprachlosen Detektiv. „Ist es plausibel genug, dass du mir vergeben kannst?“
 

Er war ein Meister der Täuschung. Wie viele Male hatte er selbst mich hereingelegt und wie viele zahllose andere? Und doch hatte ich anscheinend durch die Maske geblickt, die er täglich trug, die gewöhnlichste, seit so viel länger, als es mir klar gewesen war. Ihn diagnostizieren war nichts, dass ich jemals freiwillig getan hatte, aber unwillkürlich musste ich die Einzelheiten seit Jahren in meinem Kopf herumgedreht haben. Es auszusprechen, es zu ordnen, ließ jedes Stück davon so vollkommen logisch erscheinen. Er war ein einzigartiges Wesen, ein Mann so ungewöhnlich wie ich in meinem ganzen Leben keinen anderen getroffen hatte oder noch treffen sollte. Und doch existierte eine Methode in diesem Wahnsinn, in dem wir lebten. [3] Jedes Ereignis in seinem Leben und jeder Aspekt seiner ungewöhnlichen Natur gipfelten in meiner oben genannten Definition seiner selbst. Oh, wie absolut vernünftig es doch war! Wie sowohl brillant als auch verwundert fühlte ich mich an jenem bedeutsamen Moment! Aber als ich die Verwundbarkeit, die Angst und Betroffenheit in seinem Gesicht sah, wusste ich, dass trotz der Richtigkeit, der Akkuratesse von dem, was ich gesagt hatte, hatte ich einen Mann mit jener Richtigkeit zerstört. Er war mir in jenem Moment ebenbürtiger, als er es jemals gewesen war oder noch sein würde.
 

„Nun?“, wiederholte ich sanft, als er immer noch schwieg. „Sprich, Mann.“
 

Ich beobachtet, wie sich seine Augen langsam von der Stelle auf dem Boden direkt vor mir hoben, die sie studiert hatten. Für eine Sekunde, aber nur eine Sekund trafen sie die meinen mit einem Ausdruck von Verwirrung, der mich daran zweifeln ließ, ob er mich erkannte. Das dauerte nur kurz an, aber es war genug, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sein Blick fiel wieder und er klopfte nervös auf die Taschen seines Mantels. Auf der Suche nach Tabak ohne Zweifel. Allerdings musste er sein Etui verlegt haben, denn er hörte auf und holte tief Atem. Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass seine Schultern leicht sanken, als er mir den Rücken zuwandte. Normalerweise stand er aufrecht und autoritär. „Nun, Watson.“ Seine Stimme war kaum hörbar. „Du hast es sehr gut gemacht. Du solltest…du solltest deine eigenen Fähigkeiten in diesen Fiktionen, die du so gerne schreibst, nicht so herunterspielen.“
 

Ich dachte, ich wäre nicht in der Lage, zu atmen. „Dann habe ich…also Recht?“
 

„Hast du das?“
 

„Das hoffe ich sicherlich nicht!“
 

Wir betrachteten einander kühl und verzweifelt. Aber wenn ich später in meinem Leben an diesen Höhepunkt unserer Beziehung zurückdachte, war ich mir sicher, dass die Verzweiflung weit mehr von Holmes’ Seite kam. Er mit seinem überlegenen Verstand wusste, was geschehen würde, wie es enden würde.
 

Schlimm. Tragisch.
 

Aber es würden Jahre vergehen, bevor ich das erkennen sollte. Jahre bevor ich erkenne sollte, wie viel wir beide wegen ein paar wenigen entscheidenden Tagen verlieren würden. Wenn ich es nur gewusst hätte.
 


 

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[1] Das genaue Gegenteil von dem, was er Watson früher erzählt hat.
 

[2] In „Der Teufelsfuß“ erzählt er Watson: „Ich habe nie geliebt, aber wenn ich es hätte, und die Frau, die ich liebte…“ Wir wissen natürlich, dass sein Biograf ihn damit nur gedeckt hat.
 

[3] Polonius, aus Hamlet – „Ist dies schon Wahnsinn, hat es doch Methode.“ 2. Akt, 2. Szene (Original: „Though this be madness, yet there is method in’t“)

Inspektor George Lestrade war ein Gentleman, dem Sherlock Holmes und ich selbst mehr verdankten, als sich irgendjemand vorstellen konnte. Auf den ersten Blick mag dies ironisch klingen, da die meisten wissen, wie viel Holmes für Scotland Yard und Lestrade im Besonderen getan hatte. Meiner Rechnung nach wurden zumindest ein Duzend Verbrecher von meinem Freund in Lestrades Hände übergeben und das war nur während meiner Zeit und den Fällen, von denen ich weiß. Aber ich werde nun zum ersten Mal in Worte fassen, was niemand über diesen Mann weiß: Er wusste von uns. Er muss es mit Sicherheit gewusst haben.
 

Nun war dies natürlich etwas, worüber wir niemals gesprochen hatten. Sicherlich nicht mit dem Inspektor und auch nicht zwischen Holmes und mir, aber wir alle drei hatten jene gewisse Gefahr, die nicht benannt werden durfte, mit Sicherheit im Hinterkopf. Als ich Lestrade zum ersten Mal getroffen habe, hatte ich ihn für einen gewöhnlichen Regulären gehalten, der meiner Beachtung kaum wert schien. Holmes selbst schien dem zuzustimmen und auch wenn er ihn für pflichtbewusst und zäh hielt, hatte er ihn bei mehr als einer Gelegenheit als kompletten Vollidioten bezeichnet. Aber mit der Zeit schien sich seine Duldsamkeit Lestrade gegenüber zu steigern. Holmes bezeichnete ihn nicht länger als den schlimmsten der Regulären. Er mochte ihn immer noch dafür gehalten haben, aber Lestrades Ehrbarkeit schien seine Meinung geändert haben. Er wusste, wie viel er Lestrades Schweigen verdankte. Integrität
 

Während ich in Holmes Schlafzimmer stand und dabei zusah, wie meine Beziehung mit ihm vor meinen Augen zersplitterte wie Glas, war der arme Lestrade gezwungen nur ein paar Fuß entfernt in völliger Verwirrung abzuwarten, während ihm niemand außer Josh Gesellschaft leistete. Erst Jahre später würde ich meinen Sohn fragen, was Lestrade – wenn er überhaupt gesprochen hatte – damals zu ihm gesagt hatte, aber er war stur und zuckte nur mit den Achseln. „Du kannst wohl kaum erwarten, dass ich mich daran noch erinnere“, hatte er verbittert gesagt.
 

Das konnte ich sehr wohl, aber ich drängte ihn nicht. Josh war oft launisch und abwehrend, wenn er meinte, das Recht dazu zu haben. Ich fragte ihn nie wieder.
 

Holmes und ich hatten eine Sackgasse erreicht. Wir standen vor seinem Bett und starrten einander peinlich berührt an. Er konnte mich nicht hinaus befehlen, denn dadurch hätte er mich viel weiter befohlen als nur aus seinem Zimmer. Ich dagegen sah eine gereizte Verwundbarkeit in seinen grauen Augen aufflackern. Er war niemand, der einen Augenkontakt über längere Zeit aufrechterhielt, denn er ließ seine Augen gewöhnlich auf der Suche nach Daten im Raum herumflitzen. Aber für jene kurzen Momente schien er unfähig von mir wegzusehen. Er schien unter Schock. Sehr ängstlich.
 

Vielleicht wären wir stundenlang dort gestanden, wie Statuen, wenn nicht plötzlich ein sanftes Klopfen an der Tür gewesen wäre. Ich kann nicht sagen, warum Lestrade geblieben war. Manche von Ihnen mögen es für einen Gentleman nicht angemessen finden, während eines Streites, an dem er keinen Anteil hat, zu Gast zu bleiben oder Sie mögen denken (vielleicht zu Recht), dass es ebenso wenig angemessen von Holmes und mir gewesen war, uns in der Anwesenheit eines Gastes zu streiten, aber wie dem auch sei, so war es eben geschehen. Er hatte die Worte gehört, die wir geschrieen hatten. Die Leidenschaft, mit der wir sie geschrieen hatten. Ich wollte glauben, dass er unsere Gefühle vielleicht als die zweier Freunde betrachten würde, die seit langem unter den Fehlern des jeweils anderen litten, aber in mir gab es genug Logik, um zu wissen, wie unwahrscheinlich das war. Er war nicht der Vollidiot, als den ihn Holmes in früheren Jahren bezeichnet hatte. Er wusste, dass es mehr sein musste.
 

„Meine Herren“, kam die Stimme des Inspektors stark und klar durch die Tür. „Tut mir wirklich Leid, Sie zu unterbrechen. Ähm…ich hoffe, dass Sie mich nicht für unhöflich halten, aber…nun, würden Sie vielleicht einen Moment heraus kommen?“
 

Mir wurde beinahe schlecht. Während der gesamten Szene hatte ich den Gedanken im Hinterkopf, dass wir gerade Besuch hatten, aber wegen der Plötzlichkeit und Grausamkeit der ganzen Sache hatte ich mich nicht zurückhalten können. Und nun würden wir die Rechnung für unsere Indiskretion präsentiert bekommen.
 

Holmes wusste, wie all das wirken musste, dessen bin ich mir sicher, aber seiner aufrechten Gestalt und dem hocherhobenen Kopf nach zu schließen, hätte man meinen können, die Indiskretion, die er begangen hatte, wäre nur eine leichte gewesen. Er öffnete die Tür vollkommen ruhig und mit unbewegtem Gesicht. Ich beobachtete in Erstaunen, wie sich eine Augenbraue in Überlegenheit hob. Es war ein typischer Charakterzug dieses Mannes, aber ihn jetzt zu sehen, da Lestrade so klar die Überhand hatte, machte mich sprachlos.
 

„Gut und was gibt es?“, sagte Holmes, als er ein paar Schritte macht, um Lestrade Aug in Aug gegenüber zu stehen. Er umkreiste ihn wie ein Wolf, der bereit war seine Beute zu reißen. Er forderte ihn schon fast heraus, etwas zu sagen.
 

„Ich wollte nur – nun, ich denke, dass es vielleicht unhöflich von mir war, hier zu sitzen und zuzuhören, während Sie—äh, wenn Sie ganz offensichtlich allein sein wollten, aber ich konnte nicht gehen, ohne“—
 

„Ja?“ Holmes’ Augen glitzerten gefährlich, als er sie aufriss.
 

„Mich zu entschuldigen, natürlich.“
 

„Und wofür, bitteschön, entschuldigen Sie sich?“
 

„Es ist klar, dass ich Sie unwillentlich verärgert haben. Aber ich kann Ihnen versichern, Mr. Holmes, dass Dr. Watson und ich mit den besten Vorsätzen handelte. Wir – alle beide – wollten Ihnen einen Dienst erweisen. Ich kann nun sehen, dass wir einen Fehler begangen haben.“ Er drehte sich zu mir um, als würde ihn mein Schweigen überraschen. „Ist es nicht so, Doktor?“
 

„Mit absoluter Sicherheit, Lestrade“, sagte ich mit gefühlloser Stimme. Ich ließ mich selbst in einen Armstuhl vor dem Kamin sinken. Meine Schläfen begannen unkontrolliert zu pochen.
 

„Ich hegte keine Zweifel an Ihren Absichten.“ Holmes machte mit der Hand eine gleichgültige Geste in seine Richtung. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, Ihnen ist vergeben.“
 

Ich sollte hervorheben, dass er ganz klar nur zu Lestrade sprach. Ich wurde hinsichtlich der Vergebung vollkommen ignoriert.
 

Dies schien dem Yarder gut genug zu sein. Er hatte von dem Moment an, da wir aus Holmes’ Zimmer gekommen waren, mit verschränkten Armen dagestanden und merklich gezuckt, während seine Augen sich unbehaglich hin und her bewegten. Er konnte uns beiden nicht in die Augen sehen. Mit dem kürzesten Nicken zog er sich Richtung Tür zurück. „Also gut. Sie werden mir mit Sicherheit vergeben, wenn ich sage, dass ich jetzt wohl besser gehen sollte. Ich fühle mich…nun wie das sprichwörtliche fünfte Rad.“
 

Ich hatte noch nie einen Mann so völlig fahrig gesehen. Mein Schädel dröhnte beinahe unerträglich. Wäre ich in jenem Moment allein gewesen, hätte ich mit Sicherheit vor Pein geschrieen.
 

Aber Holmes schien sich weder meiner noch Lestrades Angst bewusst zu sein. Tatsächlich war er ein Bild der Gelassenheit. Mit den Händen hinter seinem Rücken gefaltet sagte er: „Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie noch nicht gehen würden, Inspektor. Tatsächlich hatte ich gehofft, ihr beide würdet mich bei einem kurzen Rendezvous begleiten.“
 

Ich sah auf. „Bist du verrückt?“
 

Er antwortete mir mit einem verächtlichen Blick und verließ wortlos das Zimmer. Lestrade beobachtete ihn und zitterte nun schon beinahe vor Nervosität. „Was…was hat er vor?“, fragte er mich.
 

„Ich habe keine Ahnung.“
 

„Nun, ich…ich sollte wirklich gehen.“ Er erhob sich auf die Füße. „Ich sollte nicht hier sein.“
 

Genauso wenig wie ich. „Lestrade“, sagte ich auf eher langsame Weise. „Bitte gehen Sie nicht…ich meine, Sie dürfen nicht zu viel nachdenken, über das, was…geschehen ist. Wir hatten niemals die Absicht…es ist nicht so, wie es wirken mag“—
 

„Wir gehen wohl doch noch nicht so bald, nicht wahr, mein lieber Inspektor?“ Holmes war zurückgekehrt, die Arme voller Hüte, Mäntel und verschiedenen anderen winterlichen Kleidungsstücken, die er verteilte. „Sie wollen doch sicher nicht gehen, bevor ich erklärt habe, was mit meiner Schwester geschehen ist?“
 

Daraufhin fiel sowohl meine als auch Lestrades Kinnlade. „Ist das wirklich dein Ernst?“, rief ich. „Du weißt, was mit ihr passiert ist?“
 

„Nun, Watson, du überrascht mich. Denkst du, der du mich so gut kennst, tatsächlich, ich würde einem solchen Fall wie diesem erlauben, so lange ungelöst zu bleiben? Kommt jetzt!“ Er winkte uns hinaus und ging die Treppe hinunter, während er seinen Mantel überwarf. Er war schon aus der Haustür hinaus, bevor wir überhaupt reagieren konnten. Auch wenn ich immer noch unter Schock stand, war ich auch mit Neugier erfüllt. Ich schüttelte den Kopf und folgte ihm.
 

Wegen der Geschwindigkeit nahmen wir eine Kutsche zur Horseshoe Alley, eine Reise die so ereignislos war, dass ich mich kaum noch erinnern kann, ob überhaupt etwas gesagt wurde. Ich bin mir sicher, wir alle wollten sprechen, besonders mit Holmes, aber er hätte uns keine Details verraten, bevor er nicht dazu bereit war und wenn wir ihn auf Knien darum angefleht hätten. Lestrade und ich waren Fremde während jener Fahrt.
 

Es herrschte immer noch eine Eiseskälte, als wir am Schauplatz des Verbrechens anlangten, aber vom Sturm war nichts mehr geblieben als ein paar wenige Wehen schwarzen Pulvers, die von einer Seite der Straße auf die andere geblasen wurden. Augenblicklich wurde ich wieder mit den Bildern von einem Jungen und einer Pistole überflutet. Zur Hölle mit Lestrade, dass er damit angefangen hatte! Und zur Hölle mit mir, dass ich es auch nur in Erwägung zog. Warum konnte ich nicht einfach darauf vertrauen, dass Holmes zu so einem entsetzlichen Verbrechen nicht in der Lage war?
 

„Es war genau hier. Sie fiel neben diesem Bekleidungsgeschäft. Nach all den Jahren ist es immer noch hier.“ Holmes ging langsam zu dem Punkt, den Lestrade und ich studiert hatten, den Punkt auf der Ostseite der Straße direkte bevor die Erhebung begann. „Wie wenig sich verändert hat…“, überlegte er, als er sich hinkniete und mit der Hand leicht über den Boden strich.
 

„Aber das ist doch kaum wahr, Mr. Holmes. Tatsächlich sind dieses Bekleidungsgeschäft und jener Buchladen das Einzige, was sich seit drei Jahrzehnten nicht verändert hat. Nun, und ein paar Wohnungen gegenüber.“ Er deutete vage auf die andere Straßenseite.
 

„Ich bin mir sicher, dass ich das erkenne, Lestrade. Ich meinte nur, dass dieser Punkt - dieser Punkt, an dem meine Schwester starb – immer noch vollkommen gleich geblieben ist. Wenn Sie und Watson das so wie ich erkannt hätten, dann würden Sie auch verstehen, dass ein Teil dieses Rätsels lächerlich einfach ist.“
 

„Kommen Sie, Mr. Holmes, Sie können nicht behaupten, irgendetwas daran sei einfach.“ Lestrade sah richtiggehend verstört aus, wahrscheinlich weil der Ruf seines verstorbenen Vaters auf dieser Angelegenheit ruhte. „Nicht einmal Sie können mich davon überzeugen, dass dies etwas anderes als grotesk und schwer zu verstehen war.“
 

„Ha! Grotesk und schwer zu verstehen also? Und wenn ich Ihnen erzählte, dass ich erst fünfzehn war, als ich es löste? Würden Sie dann immer noch so denken?“
 

„Sie waren fünfzehn!“
 

„In der Tat.“ Er hielt inne, in Erinnerungen versunken und da ich in seinem Tagebuch gelesen hatte, wie verändert er nach dem Mord gewesen war, bin ich sicher, dass es eine Erinnerung war, an die er seit langer Zeit nicht mehr gedacht hatte. „Auch wenn das einzige daran, das Sie überraschend finden sollten, die Tatsache ist, dass ich so lange damit gewartet habe – vier Jahre…ich ging damals zur Schule, war in meinem vorletzten Collegejahr [1] und nachdem ich jenen vier Jahren in melancholischer Einsamkeit gelebt hatte, wurde es schließlich zu viel. Eines Nachts verließ ich die Schule, indem ich aus meinem Fenster im dritten Stock kletterte und mich schnurstracks nach London aufmachte.
 

An meinen ersten Tag dort, allein in London, erinnere ich mich als einen Tag, der mich eine der wichtigsten Lektionen gelehrt hatte, die ich jemals als beratender Detektiv gebraucht habe – Gefühlen niemals zu erlauben, die Objektivität zu trüben. Das könnte mit Sicherheit sogar als die entscheidende Lektion betrachtet werden. Aber ich war jung und wusste es nicht besser. Zuerst war der Schmerz in meinem eigenen Herzen alles, das ich sehen konnte. Objektivität war unmöglich. Aber nachdem ich ungefähr einen Tag in erneuerter Trauer verbracht hatte, zwang ich die Vernunft in meinen Geist. Es war eine Ehe, die bis zum heutigen Tag andauert.“
 

Und so war es auch, aber nicht in dem Ausmaß, wie Lestrade dachte. Ich versuchte während dieser Worte nicht zu sehr zusammenzuzucken. Es war klarersichtlich zu Gunsten des Yarders.
 

Holmes starrte auf den Punkt, an dem er noch einen Augenblick länger kniete, bevor er auf die Füße sprang. „Es schien mir, dass es irgendetwas Offensichtliches übersehen worden sein muss. Ich hatte so viel Zeit damit verbracht, die Ereignisse in im Geiste zu wiederholen, dass ich mich sofort auf zwei Besonderheiten konzentrierte. Erstens – dass von all den Menschen, die an jenem Tag auf der Straße waren, niemand behauptete den Schützen gesehen zu haben und zweitens – der deutlich seltsame Einschusswinkel der Kugel. Es schien gut möglich, dass sich die erste von diesen Fragen von selbst beantworten könnte, sobald ich eine Antwort auf die zweite gefunden hätte, daher konzentrierte ich mich auf diese.“
 

„Zunächst wusste ich, dass der Mörder von der Straße gekommen sein musste. Die Polizei muss das mit Sicherheit auch gewusst haben“—er sah mich scharf an—„Denn es war klar, dass er mir sehr nahe gewesen sein muss, als es geschah. Ich fühlte den Pistolenschuss auf meinem Gesicht.“
 

„Dann hast du…ich meine, hast du es tatsächlich gesehen?“, fragte ich. Wie schrecklich musste es sein, zu erkennen, dass er direkt neben der Person gestanden hatte und unfähig war, ihn aufzuhalten. Ich kannte das Gefühl, gerade zu spät zu kommen, um eine Tragödie zu verhindern.
 

„Als ich später darüber nachdachte, habe ich das. Zu jener Zeit, nein. Ich hatte keine Ahnung, dass bloße Zoll von mir entfernt jener Mann stand, der meinem Lebenswillen – zumindest zeitweise – ein Ende setzen würde.“ Er räusperte sich und sprach hastig weiter. „Aber nun, da ich genau wusste, von wo die Kugel abgefeuert worden war, war es leicht genug, eine Antwort auf meine zweite Frage zu finden.“ Er machte einige heftige Gesten mit seiner Hand – zuerst flog sie hoch und dann steil nach unten. Lestrade und ich blickten einander verwirrt an. Holmes nun vollkommen in Fahrt, sein Verstand raste, während er die Einzelheiten seines Genies herunterratterte. Wie gewöhnlich konnten der Inspektor und ich kaum mit ihm Schritt halten. „Versteht ihr es jetzt?“ Holmes seufzte ungeduldig, während wir dastanden und ihn beobachteten, wie er beinahe die halbe Straße hinunter lief, den Hügel hinauf und dann anhielt. „Hier ist die Stelle, wo der Schütze stand!“, rief er, bevor er zu uns zurück rannte. „Und hier ist es, wo die Leiche fiel. Wir wissen aus der Autopsie, dass die Patrone mit einem Winkel von fast neunzig Grad in den Hals eindrang. Aber wenn der Schütze aus der Entfernung feuerte, die ich gerade gezeigt habe, wissen wir, dass einfache Geometrie ausschließt, dass die Pistole abgefeuert und Philippa direkt getroffen wurde – das heißt, außer es gibt eine Art von Behinderung.“
 

„Be-behinderung?“
 

„In der Tat, Lestrade. Ich frage mich, weshalb die Regulären es nicht gesehen haben. Oder vielleicht auch nicht“, schnaubte er und wischte den Schweiß fort, der sich auf seinem Kinn gesammelt hatte. „Es ist sicherlich nicht das erste Mal, dass Ihre Leute die offensichtlichsten Hinweise zur Erklärung von andernfalls einfachen Problemen übersehen haben.“
 

Nun muss man es Lestrade wirklich zu gute halten, dass er bis zu jenem Moment ruhig und geduldig geblieben war. Wären unsere Positionen vertauscht gewesen, weiß ich, dass ich Holmes bereits vor über einer Stunde in Handschellen zum Yard geführt hätte. Aber wir alle können nur ein bestimmtes Maß vertragen und das seine war nun voll. „Nun, machen Sie mal halblang, Sir! Das reicht! Sie mögen sich uns allen von Scotland Yard als weit überlegen ansehen, aber ich kann Ihnen versichern, dass dieser Fall meinen armen Vater bis ans Ende seiner Tage beschäftigt hat! Sie hätten etwas tun können, um es ihm zu erleichtern, wenn Sie ihm die Wahrheit gesagt hätten…aber Sie nahmen die Angelegenheit selbst in die Hand!“ Er schnaubte, während sich sein Gesicht rötete und er wand sich ab.
 

Holmes’ Augenbrauen hoben sich vor Schock, aber ich war es, bei dem er Unterstützung suchte. Es gab nur wenig, das ich ihm anbieten konnte. Um die Wahrheit zu sagen, stimmte ich Lestrade zu. Nach allem, was geschehen war, wie konnte Holmes derart damit herumprahlen und auch noch erwarten, dass wir uns an seiner Brillanz erfreuen würden? „Ich denke, du schuldest Lestrade eine Entschuldigung, Holmes“, sagte ich.
 

„Eine Entschuldigung? Pah! Ich erkenne, dass Sie wirklich keinerlei Verlangen danach haben, die Wahrheit zu erfahren. Vielleicht…vielleicht ist es ein Fehler, es Ihnen zu erzählen. Wenn einem alles vorgekaut wird, neigt der Verstand dazu schwach und armselig zu werden.“ Er starrte finster in Richtung Inspektor. „Ich haben Ihnen die ersten Glieder in die Hand gegeben. Wenn Sie Interesse daran haben, die Kette zu vervollständigen, dann tun Sie es doch bitte. Wenn nicht, das sage ich ihnen, machte es mir wenig aus. Ich trage die Wahrheit in mir.“
 

Und dann wand er sich abrupt ab und verschwand im Wind. Ich sah, wie er eine Kutsche anhielt und einstieg. Ich war nicht sicher, was ich sagen sollte, außer ihm meine Entschuldigung anzubieten. „Ich habe diese Kettenreaktion ausgelöst. Ich erkenne nun, dass ich es nicht hätte tun sollen.“
 

„Wie können Sie damit leben, Doktor? Er ist wahrhaftig…nun, ich weiß, dass ich es nicht könnte.“
 

Ich fürchtete Lestrade hatte Recht. Ich wusste es nun. Ich konnte es nicht länger. Es war ein kleines Stück kalter Logik, das mich plötzlich und schrecklich überkam. Nach dem heutigen Tag wusste ich, was die Antwort sein musste. Ich nahm die Hand des Inspektors ungefragt in meine eigene und schüttelte sie sanft. „Vielen Dank“, sagte ich ihm. „Dass Sie mir dabei geholfen haben. Ich hoffe, mich eines Tages für Ihr…gutes Urteilsvermögen revanchieren zu können.“ Ich ließ ihn dort stehen und brach in dieselbe Richtung auf wie Holmes.
 

Nachdem ich Lestrade in der Horseshoe Alley verlassen hatte, kehrte ich in die Baker Street zurück und der Abend verging rasch. Bald schon kündigte sich die neunte Stunde laut auf unserer treuen Standuhr in der Diele an und ich fand es angemessen Josh, der den ganzen Abend lang schaurig und ungewöhnlich schweigsam gewesen war, ins Bett zu stecken. Als er seine Gebete gesagt hatte (in so leiser Stimme, dass ich ihn kaum hören konnte) und er sicher in seiner kleinen Dachkammer versiegelt war, erlaubte ich mir selbst einen tiefen Atemzug. Mit aufrechter Haltung stieg ich die Treppe hinab, um zu tun, was getan werden musste.
 

Das Feuer erlosch zu ein paar wenigen rot glühenden Kohlen und einer dünnen Schicht von Rauch. Holmes saß vor diesen Überresten auf seine Ellebogen gestützt, seine Hände unter dem Kinn. Das Licht leuchtete sanft in seinem weichen Haar und unrasiertem Gesicht. Er starrte auf die nördliche Wand, jene Wand, auf der mit vielen Patronenlöchern die Buchstaben ‚V.R.’ geschrieben stand. Es war unmöglich zu sagen, ob er sie tatsächlich sah oder ob er durch sie hindurch sah.
 

Ich ging langsam, so als fürchtete ich zu fallen. Dieser einzelne Raum war der, in dem ich mehr Zeit als in jedem anderen während meines erwachsenen Lebens verbracht hatte und doch wirkte er, als ich in nun betrachtete, wie irgendein fremder Ort, an dem ich nie zuvor gewesen war. Es war sein seltsames Gefühl. Ein verstörendes Gefühl.
 

Ich war ihm gegenüber so wie immer, nahm den Schürhacken auf und stieß ihn in die übrigen Kohlen. Der Kohleeimer war beinahe leer, außer einer Zigarrenschachtel. Ich wusste natürlich, dass er dort welche aufbewahrte, aber diese waren kubanische, sehr teuer und meine Lieblingssorte. Er musste sie heute besorgt und ohne mein Wissen dorthin getan haben. Der Schürhacken rutschte mir mit einem widerlichen Knall aus den Fingern. Irgendwie verschlimmerte das Wissen über eine derartige Geste seinerseits die Schwere in meinem Bauch.
 

„Setz dich doch, Watson“, sagte Holmes, ohne die Augen von der ruinierten Wand abzuwenden. „Es ist recht unerträglich, wenn du so auf und ab gehst.“
 

Nun, ich war nicht im Geringsten herum gegangen. Doch ich gehorchte ohne Widerworte. In meinem Korbstuhl, der für mich normalerweise an jenen Gelegenheiten, da nur wir beide anwesend waren, die völlige Definition der Behaglichkeit war, fühlte ich mich in jener Nacht eingesperrt. Jeder Muskel meines Körpers war so gespannt wie eine Bogensehne.
 

„Das ist besser. Und nun sag mir, weshalb du gekommen bist, was du mir schon sagen wolltest, seit wir aus Cornwall zurückgekehrt sind, wenn nicht schon früher.“
 

„Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“
 

„Ha! Natürlich hast du das, Doktor! Spiel nicht den Narren! Ich zumindest werde dir nie wieder erlauben einer zu sein, nach dem was du heute gesagt hast.“ Er beugte sich zu mir vor, während ein Funke des überbleibenden Feuers in seinen Pupillen pulsierte. „Jetzt sag es mir.“
 

„Aber heute – ich wusste kaum, was ich sagte“—
 

„Unsinn! Nichts von dem jetzt! Sag es mir!“
 

„Dir was sagen?“
 

„Hör mit den lächerlichen Spielchen auf, Watson, und tu es endlich! Raus damit! Raus damit!“
 

„In Ordnung! Du hast sie getötet, nicht wahr!“
 

Mir war kaum bewusst gewesen, was ich sagen würde, bevor es mir in all seinem Schrecken entkam. Ein Sturm von Angst überfiel mich und ich begann augenblicklich Entschuldigungen zu brabbeln. Holmes allerdings wirkte von meiner Frage nicht im Geringsten beunruhigt, stattdessen wirkte er, als ob er eine solche Frage von mir erwartet hatte. Aber dann, als ich die Spur eines überlegenen Lächelns auf dem Gesicht des Mannes erspähte, traf mich eine plötzliche Erkenntnis. „Du—du hast mich geködert!“, schrie ich wütend. „Du wolltest, dass ich es sage!“ Ich beobachtete ärgerlich, wie er sich selbst in seinen Sessel zurücklehnte, auf dem Gesicht ein breites Grinsen, das jede verbale Antwort überflüssig machte. „Warum?“
 

„Warum, was, Doktor?“
 

„Warum solltest du so etwas tun?“
 

„Einfach weil es etwas war, das du tun musstest. Du musstest es sagen. Aber bei all deiner Treue und Kameradschaftlichkeit wusste ich, dass du es nicht tun würdest, bis ich es aus dir herauszwingen würde.“
 

„Jeder normale Mann würde das für einen schmutzigen Trick halten, Holmes.“
 

„Dann siehst du dich selbst also nicht als einen normalen Mann an?“
 

Manchmal nicht. „Ich weiß es kaum noch.“
 

Dies schien ihn zu beunruhigen und sein Gesicht verlor momentan die Maske des Gebieters und wurde das blasse, mit Linien gezeichnete Gesicht, das ich so sehr liebte. „Du solltest so etwas nicht sagen“, sagte er sanft.
 

„Sollte ich nicht? Es ist doch schließlich die Wahrheit.“
 

„Watson, bitte! Du bist so normal wie jeder andere Mann!“ Seine Hand flatterte nervös gegen sein Knie und ich glaubte, dass er versuchte, sie nach der meinen auszustrecken, aber im letzen Moment scheiterte er.
 

Ich seufzte tief, nicht fähig es als irgendetwas anderes zu sehen, als das endgültige Zeichen von dem, was ich in meinem Herzen wusste. Es war nichts Normales daran. „Mein lieber Holmes, du bist kaum ein Mann, der dazu fähig ist, so etwas zu beurteilen. In all deiner Brillanz, deiner Einzigartigkeit…deinem ungewöhnlichen Wesen, bist du der letzte Mann, der beurteilen kann, was normal ist.“
 

„Hmm…es ist ein verwahrloster Garten. [2] Du solltest wissen, dass ‚normal’ ein willkürlicher Begriff ist wie ‚schön’, ‚hässlich’, ‚böse’ und ‚gut’. Es ist ein Wort ohne Bedeutung.“
 

„Aber ich fühle seine Bedeutung hier drinnen“, sagte ich, während ich meine Brust berührte. Seine Antwort war ein düsterer Blick, der klar sagte, dass er diesen Punkt noch weiter diskutieren wollte, aber er musste erkannt haben, dass mich nicht hätte überzeugen können. Indem er in seine Manteltasche langte, zog er sein Zigarettenetui hervor und zündete zwei der schädlichen Objekte an. Während er mir ungefragt eine reichte, sagte er:
 

„Denkst du wirklich, dass ich Philippa getötet habe?“
 

Ich rauchte und es verbrannte meinen Gaumen mit einem schrecklichen Geschmack. Sein Tabak war für mich zu stark. „Muss das wirklich sein?“
 

Seine Augen flackerten. „Es ist unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“
 

Die Frustration in mir wuchs. Ich zweifelte, dass ich sie noch lange würde kontrollieren können. „Warum kannst du mir nicht einfach erzählen, was passiert ist? Du warst vorher dazu bereit. Gib mir einfach dein Wort, dass du sie nicht getötet hast und ich werde es akzeptieren.“
 

„Es akzeptieren, aber es nicht glauben. Nein, nein! Das geht nicht. Wenn ich nicht dein bedingungsloses Vertrauen haben kann“—er hielt inne, erkannte die Ironie dieser Aussage. Vor zwei Jahren, an einem regnerischen Tag in den Schweizer Alpen hatte ich jenen Pfad, der mich hierher gebracht hatte, mit ähnlichen Worten eingeschlagen: Warum kannst du mir nicht vertrauen? Du vertraust mir niemals! Ein leichtes Zittern überkam seine Lippen. „Ich sehe ein, dass ich das nicht haben kann. Und genausowenig kann ich dich ganz und gar dafür verurteilen. Aber ich erkenne, dass das nicht der einzige Stolperstein ist. Komm her! Lass es uns besprechen.”
 

Ich schüttelte den Kopf. „Aber was gibt es zu diskutieren? Du kannst den Stand der Dinge nicht ändern.“
 

„Welche Dinge? Die Gesellschaft?“
 

„Das will ich wohl meinen! Nun, nach Wilde“—
 

„Aber Wilde hat sich die Schlinge praktisch selbst um den Hals gelegt. Seine Henker hätten kaum anders handeln können, ohne die Empörung der Öffentlichkeit zu verursachen. Du erwartest doch sicherlich nicht, wie jener Ire zu enden, oder?“
 

„Die Möglichkeit ist mir sicherlich durch den Kopf gegangen. Dir etwa nicht?“
 

„Natürlich – in einem Moment völligen Wahns. Aber es ist unlogisch. Wilde ist alles, was wir beide nicht sind. Flamboyant, grell, indiskret…meiner Meinung nach entschied er, sich selbst als Märtyrer ans Kreuz nageln zu lassen. Es ist keine Entscheidung, die zu treffen ich bereit bin. Ich bin viel zu selbstsüchtig.“ Er lächelte, aber es war schwer zu sagen, ob er im Ernst sprach oder im Spaß. Auch wenn er beizeiten selbstsüchtig gewesen war, lag es nicht in Holmes’ Natur über Fehler zu diskutieren.
 

„Es mag unlogisch sein“, sagte ich. „Aber Logik spielt in solchen Angelegenheiten keine Rolle. Das ist der Grund, weshalb Emotionen das Gegenteil der Logik sind. Holmes…“
 

„Ja, ich weiß.“ Er zündete noch eine Zigarette an und hob sie nervös, um mehrere lange Züge zu nehmen. „Es ist nicht die große unbekannte Öffentlichkeit, die du fürchtest. Es sind die großen bekannten Privatpersonen. Vor allem, John Sherlock Watson.“
 

Mein Sohn war eine Plage, die mein Unterbewusstsein schon seit dem Beginn der ganzen kornischen Angelegenheit heimgesucht hatte.
 

„Du denkst also immer noch, dass Josh der Untergang von dir und mir sein wird?“
 

„Verdammte Hölle, Mann, nein! Ich denke, du und ich werden sein Untergang sein!“
 

Das war etwas, über das er nicht mit mir streiten konnte. Ich erkannte es an der Art, wie er schwer blinzelte und sich von mir abwandte.
 

„Es tut mir Leid“, flüsterte ich kaum hörbar. „Ich wünschte, ich könnte den Stand der Dinge ändern.“
 

„Aber das kannst du nicht.“ Er schien die brennende Zigarette in seiner Hand zu studieren, aber er rauchte sie nicht. Ich versuchte mit Gewalt die Schuld niederzukämpfen, die in mir wuchs.
 

„Holmes, wir haben einander einst geschworen, dass wir es dem anderen sagen würden, wenn die Belohnung das Risiko unserer Beziehung nicht mehr wert ist.“
 

„Ja, ich erinnere mich. Ich war…dabei.“ Er schenkte mir das berüchtigte blitzschnelle Grinsen, bevor er zur Orgie seines Giftes zurückkehrte. Für eine Sekunde dachte ich, er könnte vollkommen zusammenbrechen. Er drückte die Augen zu und beide Hände ballten sich zu Fäusten, die er in seinen Magen trieb. Instinktiv schoss ich vor, um sein Knie zu packen. Es erschauderte unter meiner Hand. Aber anstelle eines entsetzlichen Zusammenbruchs öffneten sich seine Augen als zwei gefasste graue Lichter und er richtete seinen Körper stocksteif auf. „Ich weiß deine Aufrichtigkeit zu schätzen, Watson. Ich bin mir sicher, das wird das Beste für dich sein. Nun kommen wir also zum Finale des Crescendos. Was wirst du tun? Wohin wirst du gehen? Ich würde meinen, dass du mit Sicherheit in London bleiben wirst. Wirst du dich wieder dem zuwenden, wofür du geboren bist, deiner Arbeit als Arzt? Ich habe gehört, dass der Markt für solche Dinge nicht mehr das ist, was er einmal war.“
 

Aber ich hatte noch nicht einmal begonnen, mir über solche Angelegenheiten Gedanken zu machen, was jenseits dieses Abends geschehen würde. Die Zukunft war jener dichte Nebel, für den unsere Stadt so berüchtigt war. Wenn ich dem Ende jener Nacht mit ruhigen Nerven entgegensehen könnte, wäre das weit mehr, als ich von mir selbst erwarten würde. „Du stellst mir Fragen, die ich nicht beantworten kann. Oder auch nur beantworten will, um die Wahrheit zu sagen. Ich werde damit fortfahren, dich bei deinen Fällen zu unterstützen, wenn du das möchtest, aber was alles andere betrifft, kann ich noch nichts sagen.“
 

„Das sind alles Angelegenheiten, die du bald entscheiden musst.“
 

„Ja, nun, bald ist nicht jetzt. In diesem Moment ist mir nur eines wichtig. Du und ich. Wenn du dir Sorgen über Josh machst, will ich dir versichern, dass du immer noch völligen Zugriff auf ihn haben wirst, bis er alt genug ist, um zur Schule zu gehen.“
 

„Ich mache mir keine Sorgen um den Jungen! Nur um…vergiss es.“
 

„Ich wollte nicht, dass es so endet, Holmes. Nicht mit Gleichgültigkeit und ohne jede Leidenschaft. Das wollte ich wirklich nicht.“
 

Er schnaubte und erhob sich aus seinem Stuhl, um ans Fenster zu gehen, das die Baker Street überblickte. Das einzige verbleibende Licht kam von einem gemächlich qualmenden Gasbrenner, aber ich bin sicher, hätte ich sein Gesicht sehen können, dann hätte es zum ersten Mal, seit wir uns kennen, gealtert gewirkt. Er ließ seine Hand auf jenem Schreibtisch aus Eichenholz ruhen, in dem so vieles lag, was seine Karriere geformt hatte – mein Armeerevolver, eine gewisse Fotografie, alte aufgespießte Korrespondenz und natürlich eine gewisse giftgefüllte Spritze. Er streichelte sanft über das Holz, so als tanze seine Hand einen einsamen Tanz mit der Maserung. Als sie schließlich auf dem Schlüsselloch rastete, wusste ich, woran er dachte.
 

„Nun, trotz dem, was du dir gewünscht haben magst, Doktor, werde ich nicht vor dir auf die Knie fallen und dich anflehen zu bleiben, um der Leidenschaft gerecht zu werden. Es ist nicht in meiner Natur, so etwas zu tun. Schließlich sind wir keine Frauen. Wir werden das hier beenden, so wie…Gentlemen es tun sollten. Mit Würde.“
 

„Holmes“—begann ich, aber ich wurde von seiner Hand zum Schweigen gebracht.
 

„Gute Nacht“, sagte er.
 

Ich seufzte tief. Was konnte ich tun? Ich konnte ihn nicht für den Rest seines Lebens unterdrücken, um ihn davon abzuhalten, ein Narr zu sein. Um ihn davon abzuhalten, Körper und Geist mit jener verfluchten Droge zu zerstören. Alles was ich tun konnte, war darauf zu vertrauen, dass er sich nicht selbst damit umbringen würde. „Wenn es das ist, was du willst.“ Ich stand auf und ging in Richtung Tür, hasste die Tatsache, dass es nach allem, was geschehen war, so enden musste. Steril. Losgelöst.
 

„Watson, warte.“
 

Ich erstarrte auf Befehl. Während ich beobachtete, wie er auf mich zukam, fühlte ich mich, als ob ich außerhalb meines Körpers wäre. Als ob ich die Szene beobachtete, aber nicht daran teilhatte. Ich beobachtete folglich, wie mich der Mann, den ich einst als Maschine beschrieben hatte, mit seinen langen Armen packte und so heftig küsste, dass es beinahe schon schmerzhaft war. Wie kann ich jenen Moment beschreiben? Wie kann ich aufzeichnen, was mir durch den Kopf ging? Ich kann sagen, dass es in Wirklichkeit nur wenige Sekunden andauerte, aber bis zum heutigen Tag wiederhole ich es in meinem Geiste. In gewisser Weise hat es niemals geendet. Es war wie jener Augenblick zwei Jahren zuvor, als er mich unerwartet in meinem Arbeitszimmer umarmt hatte. Das Entsetzen darüber, sein bizarres atypisches Verhalten. Der Unterschied war allerdings, dass ich damals gedacht hatte, es bedeute nur wenig, dieses Mal dachte ich, es bedeute alles.
 

Weit davon entfernt, mich zu wehren, packte ich ihn und erwiderte die Intimität von ganzem Herzen. Ich spürte die zarte Seide seiner Weste unnachgiebig unter meinen Finger und sein Schritt presste sich gegen mich. Ich konnte die Hitze, die wir erzeugten, beinahe riechen.
 

Aber – so plötzlich wie er es begonnen hatte – brach er ab. Riss sich von mir los und schüttelte den Kopf. Er hatte mich beinahe keuchend zurückgelassen und ich mit einem Gefühl von Härte und Schuld. „Was…warum hast du…“
 

„Geh ins Bett, Watson“, befahl er mit herrischer Stimme.
 

„Aber“—begann ich, doch er schüttelte nur wieder den Kopf, während er zu dem verschlossenen Schreibtisch zurückkehrte.
 

Etwas Endgültiges war geschehen, etwas, das er sich selbst hatte beweisen müssen. Ich fühlte zwischen uns einen Abstand, der nicht existierte. Ich schluckte vor Wut, aber wie konnte ich irgendetwas sagen, nach dem, was ich getan hatte. Es gab nichts mehr, was ich sagen oder tun konnte. Ich drehte mich um und verließ ihn, nur um zu hören:
 

„Watson?“
 

Ich blieb stehen, aber diesmal wand ich mich nicht um. „Gute Nacht, mein süßer Prinz.“
 

Ich erkannte die Anspielung natürlich augenblicklich, aber dachte mir wenig dabei, denn es lag in seiner Natur, sich die Worte anderer Männer zu borgen, wenn er es für zu gefühlvoll hielt, seine eigenen zu erschaffen. Meine Natur, mein Dilemma, selbst mein Leben war in jenem Moment ein zweischneidiges Schwert. Ich stand auf der Schwelle zwischen dem Wohnzimmer und dem Treppenhaus – zwischen zwei Plätzen, die mir Belohnung und Risiko anboten – in der Tat boten sie mir Himmel und Hölle. Wie konnte ich, einst ein Mann von konventionellen Ansichten und ungestörter Objektivität, jemals an diesen Punkt gekommen sein? War es irgendein Fehler in meiner Natur, eine Schwäche des Verstands, die so viele Jahre lang geschlummert hatte, nur um von diesem einzigartigen Mann erweckt zu werden, für dem ich die ungewöhnlichste Anhänglichkeit und Faszination empfand? Meine Position war nicht objektiv genug, um es sagen zu können. Aber wie konnte ich verleugnen, was ich so intensiv fühlte? Wie konnte ich es alles zu nichts weiter als einer bloßen Charakterschwäche herunterspielen? Es war alles so vollkommen unlogisch!
 

Holmes hatte den kleinen silbernen Schlüssel aus seiner Westentasche gezogen. Mit all der Melodramatik eines geübten Schauspielers hielt er ihn hoch vor sich, wie bei Romeo und dem Gift, bevor er ihn in das Schlüsselloch steckte. Ich bin sicher, dass sich niemand, der dies hier liest, täuschen lassen wird – er wusste nur zu gut, dass ich ihn immer noch beobachtete. Er führte mich auf jede mögliche Art in Versuchung: physisch, da ich ihn begehrte, emotional, da ich ihn liebte und medizinisch, da ich mich um ihn sorgte.
 

Meine Entscheidung war gefallen. Der Teufel in mir packte meine Seele und versuchte mich zu ihm zurückzuzerren.
 

Aber bevor ich auch nur einen einzigen Muskel rühren konnte, fühlte ich wie mir ein kalter Schauer über den Rücken jagte. Fragen Sie irgendeinen Soldaten mit einer gewissen Kriegserfahrung und er wird Ihnen erzählen, dass es eine andauernde Narbe hinterlässt. In vielen Fällen, so wie bei mir selbst, war es eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegen die Umgebung. Nicht so sehr in den Kleinigkeiten, auf die Sherlock Holms solchen Wert legte, sondern in einem Gefühl der Vorahnung, das mich überkam, wann immer ich beobachtet wurde. Und in jenem Moment wurde ich beobachtet.
 

Ich drehte mich um mit Gefühlen der kalten Angst. Denn all meine Zeit, die ich im Krieg inmitten von Tod und Furcht verbracht hatte, war nichts mehr als das, was ich nun gegen einen anderen Feind fühlte. Dieser Feind, gekleidet in Pantoffeln und ein Nachthemd, saß in der Mitte der Treppe wie ein weißes Gespenst, das mich heimsuchte. Er starrte mich direkt an mit einem Ausdruck halbschlafend, halbwach – einem ziemlich dümmlichen Gesichtsausdruck, den ich nicht von dem Jungen gewohnt war. Sein Mund war einfältig geöffnet und ich wusste, mein Sohn hatte gesehen.
 

Er hatte unsere Umarmung gesehen. Unseren Kuss…Großer Gott, was hatte ich getan?
 

Der Junge bewegte sich ganz leicht, um das Geländer zu erreichen. Er schmiegte sich dagegen, um sich selbst auf die Füße zu ziehen. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
 

Mir selbst dagegen wurde beinahe schlecht. Mein Körper betrog mich in einer Laune der Wut und ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Geh!“, schrie ich. „Um Gotteswillen, geh!“
 

Für eine einzige Sekunde erstarrte er, hielt das Geländer immer noch mit Angst in seinen Augen umklammert. „Papa…“
 

„Verschwinde, Jung! Geh mir aus den Augen! Sofort!“
 

Er kam auf die Füße und stolperte direkt vor mir die Treppe hinauf. Meine Wut und mein Kummer hatten völlig die Überhand übernommen. „Sofort! Sofort!“ Ich jagte ihn, bis er wieder am Dachboden war, wo ich die Tür hinter ihm schloss. Da stand ich, er auf der einen Seite, ich auf der anderen, lauschte wie er voller Angst schluchzte, kämpfte selbst mit den Tränen. Was hatte ich getan? Nun war alles vorbei. Ich hatte verloren. Alles verloren. Holmes und ich konnten niemals mehr dieselben sein. Und mein Sohn…wie konnte ich ihm jemals wieder in die Augen sehen?
 

Ich hatte alles verloren.
 


 

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[1] Das College, das ein Junge vor der Universität besucht, dauert normalerweise von 13-18, aber Holmes würde es natürlich schon früher abgeschlossen haben.
 

[2] Ein gepflegter Garten war ein Symbol von Normalität und Harmonie.

Die lange Pause tut mir Leid, aber ich hatte in den vergangenen paar Monaten einfach zu viel wegen meinem Schulabschluss um die Ohren. Jetzt wird es mit den nächsten Kapiteln wieder zügiger voran gehen. (Viele sind es ohnehin nicht mehr, bis wir zum vorläufig letzten bis jetzt veröffentlichten kommen.)
 

Am nächsten Morgen sprach ich weder mit Holmes noch mit meinem Sohn mehr als ein zwei kurze Worte während des Frühstücks, ich war wohl einfach nicht dazu imstande. Es schien ein ganz gewöhnlicher Morgen mit uns dreien am Frühstückstisch – John Sherlock und ich aßen das Porridge, während Holmes es mit verschränkten Armen und einem finsteren Blick anstarrte, als wäre es vergiftet. Aber natürlich war jener Morgen alles andere als normal. Den roten und müden Augen der beiden nach zu schließen, konnte ich ziemlich sicher sein, dass sie die Nacht ebenso schlaflos verbracht hatten wie ich. Es war das letzte Mahl, das wir drei für sehr lange Zeit zusammen einnehmen würden und es ging schweigend vonstatten. Jedes Mal wenn ein Glas oder ein Teller klirrte klang es entsetzlich laut.
 

Als ich schließlich irgendwann von meinem Teller aufsah, erkannte ich, dass die beiden mich anstarrten. „Dein Frühstück muss äußerst erquicklich sein, Doktor.“
 

Während ich ihn unhöflich ignorierte, langte ich nach der Kaffeekanne. Am jenem Tag würde ich mich nicht mit seinem verqueren Sinn für Humor herumschlagen.
 

„Wirst du bald gehen?“, fuhr Holmes fort.
 

„Ja. Ich habe vor, mir in meinem Klub vorerst ein Einzelzimmer zu nehmen.“ Joshs Löffel stockte mitten auf dem Weg vom Teller zu seinem Mund, aber ich fuhr fort, mehr an Holmes als an ihn gerichtet zu sprechen. „Der Junge wird hier unter Mrs. Hudsons Aufsicht bleiben. Bis ich eine passende Unterkunft gefunden habe, heißt das.“
 

„Du gehst?“, fragte Josh mit großen, ungläubigen Augen.
 

„Ja.“
 

„Aber warum?“
 

Ich warf meine Serviette auf den Tisch und murmelte eine Entschuldigung. Dieser Moment war unbegreiflich. Wie konnte ich gezwungen werden, die letzte Nacht noch einmal zu durchleben? Er wusste. Er hatte gesehen. Er war der Hauptgrund, weshalb ich ging. Als ich die Schwelle überquerte, um mich anziehen zu gehen, hörte ich Holmes zu Josh sagen:
 

„Mach dir keine Sorgen, mein lieber Junge. Es wird alles ein gutes Ende nehmen.“
 

Ich erstarrte augenblicklich, um zuzuhören. „Ich verstehe nicht, Onkel. Ich weiß, dass Papa wütend war, aber“—
 

„Ja, das war er. Und ist es immer noch. Aber das Problem ist, dass er viel von dir hält. Tatsächlich zu viel von deinen Fähigkeiten. Ich es ihm kaum übel nehmen. Vieles davon ist meine Schuld. Aber selbst wenn ich es ihm sagen würde, würde er mir nicht glauben. Er würde andere Vorwände finden. Und deshalb muss ich ihn tun lassen, was er für das Beste hält.“
 

„Hä?“
 

Ich hörte, wie er dem Jungen den Kopf tätschelte. „Du musst mir vertrauen, Junge. Ich werde nicht zulassen, dass einer von euch vom Weg abkommt.“
 

Mit zusammengebissenen Zähnen setzte ich meine Reise nach oben fort. Ich entschied mich, zu glauben, dass er das alles zu meinen Gunsten gesagt hatte. Es wäre Holmes durchaus zuzutrauen. Oh, was für Narren wir Sterblichen doch sind!
 


 

Ich ging gleich am nächsten Tag, dem letzten Tag im Oktober, der sich im Übrigen als überaus scheußlicher Tag herausstellte. Ich packte nur die unmittelbaren Notwendigkeiten ein und ging mit nichts als einer Reisetasche, einem Portmonee und meiner Arzttasche, die mich gewöhnlich begleitet. Nachdem ich mein neues Zimmer im Reform Club [1] in Pall Mall eingerichtet hatte, sah es kaum anders aus als zuvor und auch als alles an seinem Platz wirkte der Raum in der Tat wie eine fromme Gruft. Es gab nur ein kleines Bett, sehr hart noch dazu und ich wusste sofort, dass meine alten Wunden dagegen aufbegehren würden, ein Schrank für Kleider, ein Nachttisch mit einer einzigen Schublade für meine Bibel und einen Kamin. Ich vermisste augenblicklich die vertraute Behaglichkeit meines Zimmers in der Baker Street.
 

Mit einem heftigen Kopfschütteln wies ich mich selbst zurecht. Dies ist das Leben, das du gewählt hast. Ich zog den letzten Gegenstand aus der Reisetasche und starrte ihn an. Er war erst kürzlich in meinen Besitz gekommen: eine Fotografie von Sherlock und John Sherlock.
 

Es war im letzten Sommer aufgenommen worden und ein Geschenk an mich an meinem letzen Geburtstag gewesen. Es war wahrhaftig eine wundervolle Fotografie. Holmes saß seitlich auf einem gepolsterten Ottomanen, während Josh neben ihm stand, die eine kleine Hand auf die Schulter des Mannes gelegt und in der anderen den Stoffhund. Sie waren beide untadelig gekleidet, ein Matrosenanzug und dazupassende Kappe für den Jungen und ein Abendanzug und eine Krawatte aus Seide für den Mann. Seine Smaragdkrawattennadel[2], meines Wissens noch niemals getragen, glitzerte im Blitzlicht. Auf beiden Gesichtern lag ein Ausdruck der Überlegenheit. Und Schönheit. Ihre fahlen Augen schienen sich in meine Seele einzugraben. Wenn ich ein abergläubischerer Mann gewesen wäre, hätte ich geschworen, dass Holmes, mit seinen glänzenden Augen und leicht nach oben gezogenem Mund, zu mir sprach. Ich konnte nicht ertragen, was auch immer er mir zu sagen versuchte.
 

Aber was sollte ich damit tun? Sollte ich dem Bild erlauben draußen zu bleiben und damit riskieren, dass es genauer untersucht wurde? Würde es irgendjemandem seltsam erscheinen, dass ein Mann ein Bild besitzt, auf dem sein eigener Sohn so…vertraut mit einem anderen Mann war? Ich war unsicher. Niemand konnte nur anhand der Fotografie vermuten, dass die Motive dahinter nicht vollkommen unschuldig waren. Aber so viel wusste ich: Ich konnte es nicht ertragen, Holmes nicht jeden Tag sehen zu können, und sei es auch nur in einem eingefrorenen Augenblick. Ich wischte das Glas mit meinem Ärmel ab und stellte das Bild vorsichtig auf den Sims des kleinen geschwärzten Kamins. Sie starrten mich quer durch den Raum an und mein Herz verwandelte sich in Blei. Es würde mich immer daran erinnern, was ich getan – was ich aufgegeben hatte.
 


 

Rückblickend betrachtet war mein Klub ein Ort, den ich seit mittlerweile zwei Jahren fast völlig verlassen hatte, denn mein öffentliches Leben war wesentlich mehr als das von Holmes’ Gefährten und Assistenten definiert, als das eines gewöhnlichen Gentleman der Mittelklasse, der sich mit anderen seines Standes umgab. Das war etwas, mit dem ich würde leben müssen, ebenso wie mit der Veränderung.
 

Ich dachte, mein Herz würde aufhören zu schlagen, als ich die erste Person, die ich sah, als James Parks erkannte. Ich hatte ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und er wirkte, aus welchem Grund auch immer, vollkommen verändert. Älter. Weiser. Sein voller Schopf dunklen Haars hatte begonnen an den Schläfen leicht zu ergrauen, was mir seltsam erschien, denn ich hatte ihn immer als jung angesehen. Aber in Wirklichkeit war er nun auch in seinen Mittdreißigern und der Druck, unter dem ein hauptberuflicher Arzt steht, darf nicht zu leicht genommen werden.
 

Als ich in jener ersten Nacht in eines der Esszimmer des Reform Clubs ging, sah ich ihn nahe des Kamins stehen, mit einem Brandy in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand. Er sprach gerade zu Joseph Blakely – aus unglückseligen Erinnerungen – und einem anderen Kerl, der mir vage bekannt vorkam. Wir sahen einander im selben Augenblick. Zuerst schien Parks verwirrt, als ob er mich nicht erkennen würde. Er runzelte die Stirn und er setzte seine Unterhaltung mit den beiden anderen Gentlemen fort, während er mich aus dem Augenwinkel beobachtete. Ich selbst dagegen war mir nicht sicher, was ich tun sollte. Ich wollte keine Szene verursachen, falls er beschlossen hatte mich zu ignorieren und ich wollte auch nicht so wirken, als würde ich mich verzweifelt nach Gesellschaft sehnen, daher wandte ich mich ab, suchte mir einen Tisch am anderen Ende des Raumes und bestellte mir selbst ein Abendessen. Das Essen war nicht im Geringsten mit Mrs. Hudsons Kochkünsten zu vergleichen, aber ich aß es trotzdem. Ich würde damit aufhören müssen, alles mit meinem Leben in der Baker Street zu vergleichen.
 

In der Vergangenheit hatte mich Isolierung niemals gestört, zumindest nicht für kurze Zeitspannen. Aber verwechseln Sie mich nicht mit Holmes, den ich schätze Gesellschaft in der Tat, nur störte es mich auch nicht allein zu sein. Aber aus gewissen Gründen spürte ich an jenem Abend bitterste Einsamkeit. Außer Parks und Blakely kannte ich keinen einzigen im Zimmer und niemand – außer dem Kellner, der mit Essen und Trunk servierte – schenkte mir irgendwelche Beachtung. Ich sehnte mich verzweifelt nach jemandem, mit dem ich reden konnte. Aber es gab niemanden. Indem ich nach meinem Mann winkte, bestellte ich einen zweiten Scotch. Was für ein langes Leben das werden würde. Und was für einen grässlichen Anfang hatte es bis jetzt genommen. Ich konnte nicht leugnen, dass es das Richtige war, die Baker Street und Holmes zu verlassen, aber was war mit Josh? Er musste mit Sicherheit verwirrt sein und ich fand keine Worte, um ihm irgendetwas zu erklären. Vor weniger als einem Monat war ich im Wohnzimmer gesessen und hatte beobachtet, wie Holmes meinem Sohn das Schachspielen beibrachte. Zwei großartige Köpfe, von denen die Welt noch erfahren würde. Zwei großartige Herzen, von denen die Welt wohl niemals wissen würde. Sie waren sich so ähnlich, diese beiden. Ich sah Josh als den Jungen, der Holmes gewesen wäre, wenn seine Eltern ihn wie ein geliebtes Kind und nicht wie eine entsetzliche Kreatur behandelt hätten. Vielleicht war das der Grund, warum ich solche Angst vor der Liebe zwischen Holmes und mir hatte. Wenn Josh seinem Mentor so ähnlich war, bedeutete das dann auch, dass er auch zu eben jenem seltsamen Mann heranwachsen würde? So sehr ich ihn auch liebte, wollte ich nicht, dass mein Sohn ein Mann mit schwarzen Launen würde, ein Mann, der Drogen missbrauchte und der sich selbst so tief in seinem eigenen Gewissen vergrub, dass es Jahre über Jahre dauerte, bis er sich wieder daraus hervorziehen konnte.
 

Ich wollte auch nicht, dass er Männer liebte.
 

Als ich die goldene Flüssigkeit in meinem Becher studierte, sah ich eine wässrige Reflektion meiner selbst gebadet in Licht. Wie viel von dem, was wir sind, wird von der Natur, wie viel von der Erziehung bestimmt? War Joshs Zukunft bereits von seinem Genmaterial festgelegt. Wie viel von seiner Persönlichkeit und seinen intellektuellen Fähigkeiten? Und wie viel stopfte ich mit dem Leben, das ich führte, in ihn hinein? Wie konnte ich es wissen? Wie konnte ich irgendetwas mit Sicherheit wissen?
 

„Watson.“
 

Beim Klang meines Namens sprang ich beinahe auf. Ich war so sehr in meine eigenen Gedanken und meinen Alkohol vertief gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie er sich langsam seinen Weg an meinen Tisch gebahnt hatte. Ich sah zu ihm auf. Er versuchte ein leichtes Lächeln, aber versagte kläglich. Er ließ unbehaglich seine Zigarre hin und her zappelen. Für die längste Zeit schien es so zu bleiben, er stand, ich saß, beide ignorierten wir den anderen.
 

„Du kannst dich setzen“, sagte ich schließlich und trank den letzten Schluck aus meinem Glas. „Steh nicht einfach nur so da und starr mich an wie eine Missgeburt auf einem Jahrmarkt.“
 

Er tat es, wenn auch langsam und widerwillig. Seine Augen sahen überallhin, nur nicht in meine. „Ich bin…überrascht, dich hier zu sehen. Ich hatte gedacht, du habest die höfliche Gesellschaft aufgegeben.“
 

„Ich bin sicher, dass du das denken musstest.“
 

Schon wieder Schweigen. Was hatten wir einander schon wirklich zu sagen? Wir hatten mehr als genug gesagt, als wir vor zwei Jahren den Kontakt abgebrochen hatten. Parks winkte, um sich seinen Brandy nachfüllen zu lassen. Als das Bestellte ankam, trank er es in einem einzigen Zug. Es hatte einen dreisten Effekt auf seinen Gesichtsausdruck und er saß aufrechter auf seinem Stuhl. Mit verengten Augen fragte er: „Warum bist du hier?“
 

„Muss ich vor dir Rechenschaft über meine Taten ablegen, James?“
 

„Mit Sicherheit nicht. Ich war nur neugierig.“
 

„Du bist öfter neugieriger, als es gut für dich ist.“
 

Er hob die Augenbrauen. „Das wurde mir gesagt. Tatsächlich hat mich Dr. Blakely – du erinnerst dich doch sicher an Blakely – bei Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht. Blakely!“, rief er zum Doktor, der immer noch mit dem vage vertrauten Gentleman am Kamin stand. Er winkte leicht und beide kamen herüber. Ich kann nicht behaupten, dass ich überglücklich war, ihn zu sehen. Er erinnerte mich so sehr an den Tod meiner Frau. „Die Gentlemen erinnern sich doch an Dr. Watson“, sagte Parks.
 

„Natürlich“, sagte Blakely mit einem warmen Lächeln und bot mir seine Hand an. Welche Gerüchte auch gewiss umgehen mochten, Joseph schien sie zu ignorieren. Er war ein wahrer Gentleman. „Wie geht es Ihnen, alter Freund?“
 

„Gut, danke, Blakely“, log ich. „Ich fühle mich im Moment nur ein wenig überwältigt.“
 

„Nun, hat es irgendetwas mit einem besonders anstrengenden Fall von Mr. Sherlock Holmes zu tun? Ich hoffe es sicherlich! Wir könnten ein paar neue Fälle in The Strand gebrauchen.“ Der dritte Mann lächelte strahlend und plötzlich erinnerte ich mich, wer er war. Ich glaubte sein Name war Davis. Holmes’ Bewunderer. Ich hatte jene Nacht vergessen, als eben wir vier in eben diesem Klub über den Mann gesprochen hatten.
 

„Es hat nichts mit einem Fall von Mr. Holmes zu tun. Eigentlich sehe ich in letzter Zeit nicht mehr viel von ihm. Ich bemühe mich, wieder zur Medizin zurückzukehren. Ich suche außerdem nach einer Wohnung zu einem vernünftigen Preis, falls mir einer von euch Gentlemen dabei behilflich sein könnte.“ Ich sah vorsätzlich Parks bei diesen Worten an und bemerkte die misstrauische Überraschung auf seinem Gesicht. Sein Gläschen erstarrte direkt vor seinem Mund in der Luft und seinen Augen verengten sich ganz leicht.
 

„Wirklich, Watson? Du würdest den armen Mr. Holmes ganz allein lassen?“
 

Zu einer bestimmten Zeit in meinem Leben hätte ich ein extremes Verlangen verspürt, ihm direkt auf sein sarkastisches Maul zu schlagen. Aber das Alter hatte mein heißes Gemüt etwas gekühlt und ich behielt meine Würde. „Ich denke, dass er ganz gut zurechtkommen wird, James.“
 

„Selbst wenn du nicht auf ihn Acht gibst?“ Parks lächelte mich wissend an.
 

Bevor ich antworten konnte, lachte Davis und sagte: „Also wirklich, Dr. Parks, ich denke Sie unterschätzen Sherlock Holmes. Er ist kein Mann, der Anhänglichkeit oder Freundschaften entwickelt. Sie sind – wie haben Sie es formuliert, Dr. Watson? – ah, ja ‚störend für den Verstand’. Können Sie sich das vorstellen, Gentleman? Ein Mann der sich seinem Beruf sosehr widmet, dass er es nicht einmal Gefühlen erlaubt, den Fortschritt seiner Wissenschaft zu stören!“
 

„Vielleicht ist er die Zukunft“, sagte ich, vor allem an Parks gerichtet. „Die Art von Mann, der es seinen eigenen Neigungen nicht erlaubt, sein Urteilsvermögen zu trüben.“ James wandte seinen Blick ab und antwortete nicht.
 

Blakely, Davis und ich unterhielten uns einige Zeit lang herzlich, während wir uns unseren Weg durch mehrere ausgezeichnete Zigarren und ein paar weitere Gläser bahnten. Wir diskutierten Artikel über Röntgen, den Deutschen, und Pupin, den Amerikaner, und was an dieser neuen Theorie der ‚Röntgenstrahlen’ dran war, von der wir alle in medizinischen Zeitschriften gelesen hatten, während Davis fortwährend versuchte, die Unterhaltung zurück zu Holmes zu lenken. Nach einer Weile wurde es tatsächlich von entnervend zu ziemlich amüsant – der Mann musste jede Geschichte auswendig gelernt habe, die ich je veröffentlicht hatte! Wussten Sie, dass Sherlock Holmes tatsächlich nicht weiß, dass sich die Erde um die Sonne dreht? Ich brach beinahe in lautes Gelächter aus, als er das sagte. Parks und Blakely blickten einander verblüfft an. „Das kann doch mit Sicherheit nicht wahr sein?“, fragte Blakely.
 

„Eine…dichterische Freiheit, das versichere ich Ihnen“, sagte ich. „Auch wenn es eine Zeit gab, kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten, da ich tatsächlich etwas Derartiges geglaubt hatte.“ [3]
 

„Könnten wir bitte nicht über Sherlock Holmes reden?“, fragte Parks und starrte mich finster an. Wir wanden das Gespräch wieder aktuellen Themen zu, bis Blakely in etwa einer Stunde ankündigte, dass es für ihn Zeit war zu gehen.
 

„Ich fürchte, wenn ich zu spät bin, macht sich meine Margaret Sorgen.“ Er lächelte und schüttelte jedem von uns die Hand. „Vierzig Jahre und sie traut mir immer noch nicht zu, dass ich jeden Abend meinen Weg nach Hause finde.“
 

Vierzig Jahre. Für mich schien es eine unfassbare Zeitspanne. Offensichtlich war es für Davis zu viel, denn er fügte hinzu: „Ich bin erst seit fünf Jahren verheiratet. Ich hatte gehofft, meine Frau würde mit der Zeit aufhören, auf mir herumzuhacken.“
 

Blakely lachte. „Sie sind sehr jung, nicht wahr, mein lieber Sanford?“ Davis’ Gesichtsfarbe änderte sich leicht. „Aber vielleicht liegen Sie ja richtig, Watson. Das Leben eines Junggesellen ist ein glückliches. Oder zumindest wurde mir das erzählt. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich erinnern kann. Ich war erst dreiundzwanzig, als ich geheiratet habe.“
 

Was sollte ich darauf erwidern? Ich versuchte, Parks nicht anzusehen. „Das Leben eines Witwers ist auch nicht so leicht, Blackely.“ Und es ist auch nicht leicht, wenn du erkennst, dass es ein Mann ist, den du liebst.
 

Nachdem Blakely und Davis gegangen waren, war ich mit Parks allein. Und zur Hölle, wenn ich nicht das letzte Wort haben würde. „Ich weiß, dass wir das alles schon einmal durchgekaut haben, James. Du hast mit Sicherheit das Recht auf deine eigene Meinung. Über Sherlock Holmes. Und über mich selbst. Aber falls du jemals wieder sagst – nein, falls du auch nur noch einmal andeutest, dass einer von uns kein richtiger Mann wäre, dann werde ich dich wegen Rufmords verklagen!“ Nachdem ich meine Faust auf Tisch geschmettert hatte, stürmte ich hinaus, wobei ich die verschiedenen Seitenblicke der anderen Anwesenden ignorierte. Als ich es zurück in mein Zimmer geschafft hatte, war ich wütend. Ich verbrachte den Großteil der Nacht damit, in meiner Kammer auf und ab zu streifen, während ich vor mich hin murmelte. Ich wollte mehr Scotch. Ich wollte vergessen. Die Sonne war bereits aufgegangen, als ich schließlich auf mein Bett zusammenbrach. Das Leintuch fühlte sich seltsam fremd und kalt an meiner Haut an. Und leer. Ich blieb dort für den Großteil der nächsten zwei Tage.
 


 

Als ich es schließlich verließ, wurde mir an der Rezeption gesagt, dass mir eine Nachricht hinterlassen worden war. Das Papier, auf dem sie geschrieben war, stammte vom Klub. Ich erkannte die Handschrift.
 

John— (stand dort geschrieben)
 

Ich schreibe das nicht, um zu sagen, dass ich all das, was ich mit Sicherheit über dich weiß, akzeptiere oder verstehe, denn das wäre eine Lüge. Aber ich schreibe dir, um zu sagen, dass ich mich schlecht benommen habe und dass ich es bereue. Du hast die Art, wie ich dich behandelt habe, nicht verdient und daher will ich mich dafür entschuldigen. Um dir zu zeigen, dass es mir wirklich Leid tut, lege ich diesem Brief die Karte eines Mannes bei, dessen Bekanntschaft ich erst vor kurzem gemacht habe. Er ist jung und hat gerade erst eine Praxis eröffnet und braucht eine erfahrene Hand, die Klienten einbringen und sie expandieren kann. Tu mit dieser Gelegenheit, die ich dir anbiete, was du willst. Wenn du dich entscheidest, sie zu ignorieren, werde ich es verstehen. Aber ich entbiete dir
 

Meine besten Wünsche
 

James Parks
 

Ich hielt die Karte in der Hand, ohne sie anzusehen. Mein erster Impuls war, sie zu zerreißen. Ich hatte keinerlei Gefälligkeiten von jenem Mann nötig. Aber ich konnte es nicht. Ich musste alles tun, was notwenig war, um in meinem neuen Leben auf die Füße zu kommen. Meine Hand fand ihren Weg in meine Westentasche und ich ließ die Karte hineinfallen.
 


 

Ich verbrachte eine Woche damit, auf die goldenen Lettern der Karte zu starren, bevor ich mich dazu entschied, hinzugehen. Ich ging langsam in die Paddington Street. Ich mied die Baker Street völlig trotz der unmittelbaren Nähe. Es war nur etwa fünf oder sechs Blocks von meiner alten Junggesellenwohnung entfernt.
 

Sein Name war Dr. Linwood Askew und er war sehr jung, oder so schien es mir zumindest zu jener Zeit. Wahrscheinlich war er nicht jünger, als ich es gewesen war, als ich mein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Er war von kleiner Statur, mager, und wirkte nervös, mit angeschwollenen braunen Augen, die ununterbrochen im Raum umher zuckten. Er trug einen leichten Schnurrbart, ein seltsam aussehendes Stück Gesichtsbehaarung, die den Eindruck eines jungen Mannes erweckte, der älter aussehen wollte. Sein ganzes Gesicht war rosa angelaufen.
 

Er kannte mich mit Namen – Parks hatte ihn anscheinend davon in Kenntnis gesetzt, dass ich vorbei kommen könnte – und er schien voller jugendlicher Ausgelassenheit, als er mich in seinem Behandlungszimmer traf.
 

„Nun, der Dr. Watson, nicht wahr? Du liebes Bisschen…“ Er lächelte nervös, als er mir die Hand anbot.
 

„Es ist mir ein Vergnügen, Sir.“
 

„Nein, nein. Ich bestehe darauf, dass das Vergnügen ganz auf meiner Seite ist.“ Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass er eine knappe, sprunghafte Art zu lächeln hatte, die in mir sofort die Erinnerung an jemanden weckte, an den ich nicht denken wollte. „Ich habe alle Ihre Fälle im Strand gelesen. Was für ein aufregendes Leben Sie führen müssen! Mit…mit Mr. Sherlock Holmes. Er muss ein ganz schöner Kerl sein.“ Er flatterte herum wie ein Kanarienvogel im Käfig.
 

„Ja, das ist er“, fühlte ich mich gezwungen, zu antworten. „Vollkommen…einzigartig. Könnte ich Sie darum bitten, unsere Aufmerksamkeit Ihrer Praxis zuzuwenden? James Parks erzählte mir, dass Sie ernsthaft nach jemandem suchen würden, um sie zu teilen.“
 

„Oh! Oh, natürlich.“
 

Wir verbrachten den Großteil des Nachmittags damit, zu besprechen, was genau Dr. Askew von einem Partner in seiner neu gegründeten Praxis verlangte und was genau ich zu diesem Arrangement beitragen wollte. Ich bekam den deutlichen Eindruck, dass er von meinem Wissen über Holmes’ Fälle wesentlich beeindruckter war als von meinem Wissen über Medizin.
 

„Und…und Die Tanzenden Männchen…wie er diese unmögliche Verschlüsselung knackte! Nun, jeder Mann, der dazu in der Lage ist, sollte Linguistik an Oxbridge studieren! Und nicht…nicht in London herumstreifen und die verschiedenen Arten von Dreck auswendig lernen.“
 

„Ja, ich vermute, das sollte er. Aber wirklich, Sir – wenn ich hier arbeiten soll, dann muss ich darauf bestehen, dass wir nicht über Mr. Holmes sprechen. Das ist ein Teil meines Lebens, von dem ich mich gerade abwende. Es geht nicht, dass Sie mich ständig daran erinnern.“
 

Er wirkte erschrocken und sein Gesicht färbte sich von rosa zu rot. „Ich…ich bitte um Entschuldigung, Dr. Watson. Wirklich, ich habe nicht erkannt, dass sie so…unzufrieden über Mr. Holmes und seine Fälle sind. Ich verspreche, dass ich nie wieder von ihm anfangen werde.“ Er schenkte mir ein weiteres seiner eigentümlichen Grinsen, aber sein Gesicht blieb gerötet.
 

Unzufrieden. Ja, dass war ein angemessenes Wort. Mir fiel kein besseres ein, um meine Gefühle zu beschreiben.
 


 

Mehrere Wochen später fand ich eine kleine Wohnung in Wimpole Street. Mir wurde ein angemessener Preis angegeben. Der Wirt war ein Bewunderer von Mr. Holmes. Er war erfreut zu hören, dass er immer noch am Leben war. „Warum schreiben Sie nicht mehr über ihn?“, fragte er.
 

„Wann können ich und mein Sohn einziehen?“ Ich ignorierte seine Frage.
 

Er zuckte unverfänglich mit den Schultern. „Sofort, wenn Sie wollen. Aber warum sollte irgendjemand ein so aufregendes Leben mit Sherlock Holmes aufgeben? Wenn ich Sie wäre, würde ich mehr über Ihre gemeinsamen Abenteuer schreiben!“
 

Ich lächelte höflich, aber antwortete nicht. Zu jener Zeit erkannte ich es nicht und Josh sprach es niemals aus, aber Jahre später würde mir klar werden, dass diese Wohnung genauso angelegt war wie die 221B Baker Street.
 


 

Und nun zu den beiden, die ich verlassen hatte.
 

Es ist schwer, genau zu sagen, was in jenen ersten Wochen nach meinem Auszug aus der Baker Street geschehen war. Ich hatte Josh in der Obhut von Mrs. Hudson gelassen, aber das bedeutete natürlich auch, dass er ebenso in der Obhut von Sherlock Holmes war und ich habe wirklich keine Ahnung, was sie gesagt, getan oder gedacht haben mögen. Ich kann es mir vorstellen; ich kann Mutmaßungen anstellen; aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt eine Sache, die ich mit akkurater Sicherheit sagen kann: sie beide waren sehr verändert.
 

Der Druck meiner Rückkehr in die Zivilisation, ganz zu schweigen meiner Rückkehr zu einer beständigen Karriere isolierte mich weiter von meinem Kind. Ich kann zugeben, dass ich mir damals nicht viel dabei dachte, einerseits weil ich so vollkommen damit beschäftigt war, mich meinem neuen Geschäftspartner zu beweisen und teilweise weil ich immer noch keine Ahnung hatte, was ich zu Josh sagen sollte. Ich denke, dass ich mir wahrscheinlich selbst einredete, dass Holmes die Sache bereits in die Hand genommen, es seinem Grad an Verständnis entsprechend erklärt hatte und es nicht notwendig war, die ganze Sache jemals wieder zu erwähnen. Warum ich das dachte, kann ich nicht sagen. Vielleicht dachte ich, Holmes habe sich mehr verändert, als es tatsächlich der Fall war.
 

Ich dachte, es würde ihm gefallen, dass er nun sein eigenes Schlafzimmer hatte, ein ganz schönes Bisschen geräumiger als seine einengende Dachkammer und ich sogar die Hälfte meines neuen Wohnzimmers in sein privates Arbeitszimmer verwandelte, mit einem schönen neuen Schreibtisch, Büchern und einem bequemen Klubsessel. Er wirkte auf einzigartige Weise unbeeindruckt. Bis ich zu ihm sagte:
 

„Du weißt, dass du so oft zurück in die Baker Street gehen kannst, wie du willst.“
 

Er blickte mich misstrauisch an. „Jeden Tag?“
 

„Wenn du es wünscht. Holmes wird dich weiterhin unterrichten. Zumindest bis du alt genug für die Grundschule bist.“
 

Er saß auf seinem Bett in seinem neuen Zimmer, während wir sprachen. Es war ein herrliches Zimmer, wenn ich selbst das sagen darf. Alles, was ich als Junge in seinem Alter gerne gehabt hätte. Bücher in jeder Form und Größe. Ein riesiges Schaukelpferd aus Mahagoni, weit besser als das, das er mit drei besessen hatte. Ein neues Set Spielzeugsoldaten, Zinn statt Holz mit feindlichen französischen Soldaten, gegen die sie kämpfen konnten. Es gab ein fantastisches Set der Arche Noah, mehrere Stofftiere und an den Wänden in hellen Farben gehaltene Bilder von Tigern, Elefanten und Affen. Es gab eine Modelleisenbahn, ein Kreisel, eine richtige Trillerpfeife. Aber Joshs Finger glitten lautlos zu dem Schachspiel, das Holmes ihm geschenkt hatte, streichelten träge das schwarze Pferd. Er hatte alldem kaum einen einzelnen Gedanken gewidmet. „Ich schätze, dann wird das nicht so schlimm sein.“
 

„Das will ich wohl meinen! Du hast alles, was ein Kind sich nur wünschen könnte.“
 

Er nickte, ohne mich anzusehen. Ich wusste, was er fragen wollte. Was ist passiert, Papa? Warum sind wir hier? Bist du böse mit mir? Bist du böse mit Onkel? Aber er tat es nicht. Kinder, so scheint es mir, so neugierig sie auch sind, bleiben oft lieber auf eigenes Risiko still und unwissend, als die Wut oder die Trauer eines Elternteils zu riskieren. [4]
 

Viele Male während der nächsten Monate dachte ich daran, mit ihm zu sprechen. Doch ich sah ihn nur sehr unregelmäßig. Ich war fort in meiner neuen Praxis von Sonnenaufgang bis zum Abendessen, fünf- oder manchmal sechsmal pro Woche. Ich hatte eine Putzfrau und Köchin engagiert und ihr dafür, dass sie auf meinen Sohn aufpasste, vier Pfund zusätzlich zu ihren jährlichen Einkommen versprochen, was wahrlich ein guter Preis war. Für sie heißt das. Er war alt genug, um morgens alleine aufzustehen, sich zu waschen und anzuziehen. Sie brauchte ihm meistens nur sein Frühstück zu machen und ihn in die Baker Street zu bringen. Er würde den ganzen Tag dort bleiben, manchmal zum Abendessen zurückkehren und manchmal auf dem Sofa in unserem alten Wohnzimmer schlafen. Und als er schließlich sechs geworden war, bat er mich, ganz auf seine Anstandsperson zu verzichten und behauptete, er könnte die Reise über vier Blocks leicht allein machen. Ich stimmte zu, und sei es nur, um ihn lächeln zu sehen. Er tat es so selten in jenen Tagen.
 

Aber irgendwie hatte sich ein schwarzes Leichentuch des Schweigens über unsere neue Unterkunft gelegt. Ich würde ihn an jenen Abenden, da wir ein gemeinsames Abendessen zustande brachten, fragen, wie sein Unterricht voran ging, was er an jenem Tag getan hatte, was er gerade las und was er gerade schrieb. Er würde mir in kurzen Sätzen antworten und manchmal nur mit einem Wort. Eines Nachts fragte ich ihn, wie es Holmes so ging.
 

„Vielleicht würdest du es wissen, wenn wir immer noch dort leben würden.“ Er starrte mich wütend über seine Suppenschüssel an. Seine Augen waren wie blauer, gehärteter Stahl. Er war noch nicht einmal sechs Jahre alt. Ich war geschockt. Zu geschockt, um ihn härter zu bestrafen, als ohne Abendessen ins Bett zu schicken. Für eine lange Zeit erkundigte ich mich nicht mehr nach Holmes’ Wohlbefinden.
 


 

Tatsächlich war es im März ’97 – beinahe fünf Monate, nachdem ich gegangen war – da ich Holmes wiedersehen sollte. Und es geschah nur aufgrund der besorgniserregendsten Umstände.
 

März markiert den Anfang des Frühlings und für den Arzt ist es in der Tat eine willkommene Zeit. Das Ende des Winters, der Anfang der warmen Temperaturen und das Zurückgehen von Grippe, Tuberkulose, Lungenentzündung und Bronchitis. Ich hatte mit Dr. Askew nun seit vier Monaten zusammengearbeitet und war mit meiner neuen Situation sehr glücklich. Ich erkannte meinen Partner als gesellig, großzügig und begierig sowohl zu lernen als auch zu gefallen. Unsere Praxis war nicht groß und bis jetzt gab es noch wenige nennenswerte Patienten, aber wir wuchsen recht ansehnlich und Linwood (er bestand darauf, so genannt zu werden) sah unseren Profiten mit nervösem Optimismus entgegen. Mein professionelles Leben hatte sich sehr verbessert. Mein privates Leben verblieb stagnierend.
 

Eines Tages gegen Ende des Monats saß ich in meinem Behandlungszimmer und füllte einige Berichte aus. Es war dankenswerterweise eine ruhige Woche gewesen und ich genoss die allmähliche Wärme, die durch mein Fenster hereinsickerte. Ich fühlte mich glücklich. Zumindest redete ich mir wiederholt ein, dass ich es sein sollte.
 

Ich hörte Schritte schnell den Gang hinunter rennen. „Jetzt warte einen Moment!“, ertönte Askews Stimme. Meine Tür wurde weit aufgestoßen.
 

„Papa! Er ist sehr krank! Du musst kommen!“
 

Josh war in einer so vollkommenen Panik, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Gesicht war vom Laufen gerötet und mit langen schmutzigen Streifen überzogen, von den Tränen, die ihm über die Wannen tropften. Seine Knie zitterten leicht, selbst dann als mit den Füßen zappelnd auf meinem Schreibtisch hang. Ich stand auf um seine Hand zu ergreifen.
 

„Ist schon gut, beruhig dich. Was ist passiert?“
 

Josh holte zitternd Atem. Selbst unter Druck war er ein logisches Kind und war in der Lage, mir genau zu berichten, was passiert war. „Wir haben mathematische Probleme gelöst. Onkel schrieb eine Aufgabe an die Tafel und ich war am Schreibtisch und schrieb es ab. Er schwitzte und…und klang so“—er machte ein Geräusch, als würde er sich räuspern—„Aber er machte weiter und plötzlich sah ich, wie seine Augen in den Kopf zurückrollten und er fiel auf den Boden. Ich habe nachgeschaut, ob er noch atmet. Er sah mich an, aber er hat nichts gesagt. Ich bin sofort und ohne anzuhalten hierher gerannt.“
 

Ich riss den Jungen augenblicklich mit mir. Ich hatte nicht vor sechs Blocks weit zu laufen, daher rief ich die erste Kutsche, der wir über den Weg liefen und wir waren innerhalb von zehn Minuten an der Tür der 221B. Erst als wir dort ankamen erkannte ich, dass ich losgelaufen war, ohne auch nur ein einziges Wort an Dr. Askew zu richten. Ich rannte die siebzehn Stufen zum Wohnzimmer hinauf. Mein einziger Gedanke galt Holmes.
 

Mrs. Hudson war bei ihm, aber er war immer noch ohne Bewusstsein und sie hatte nicht die Kraft, ihn zu bewegen. Ein müder Ausdruck der Sorge lag auf ihrem Gesicht, das sich merklich erhellte, als sie mich sah. „Gott sei Dank, Dr. Watson“, sagte sie. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich hörte einen Rumms und dann rannte Ihr Sohn aus dem Haus, als ob der Teufel hinter ihm her wäre.“ Die beiden sahen einander und augenblicklich rannte Josh zu ihr und warf die Arme um die alte Dame. „Mein lieber Junge…“, murmelte sie, während sie seine nasse Wange streichelte.
 

Ich zog Holmes hinüber aufs Sofa und entfernte Jackett und Kragen. Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, wie leicht er sich in meinen Armen anfühlte. Er war immer dünn gewesen, aber nun war er kaum mehr als Haut und Knochen. Ohne mich gab es niemanden, der sicher ging, dass er regelmäßig aß. Ich fühlte seinen Puls: unregelmäßig. Seine Atmung: flach. Seine Pupillen: geweitet. Seine Haut: gerötet und feucht. Seine Muskulatur…ich betastete seinen linken Arm. Etwas war falsch. Sogar durch seinen Ärmel konnte ich es fühlen. Die Haut rau und uneben. Als ich den Ärmel hoch rollte, erkannte ich sofort das Problem. Er war mit Einstichstellen übersäht. Mehr als ich jemals gesehen hatte. Manche schienen auf alten zu liegen, wenn der Platz es nicht erlaubte. „Gott…“, hörte ich mich selbst murmeln. Ich wollte heulen, ehrlich gesagt. Zuerst weinen und dann diesen Narren bewusstlos prügeln.
 

Nachdem ich mich geräuspert hatte, bat ich Mrs. Hudson, mir eine kleine Menge Brandy zu bringen. Josh blieb, wo er war, beobachtet mich und schniefte leise. „Was fehlt ihm?“, fragte er.
 

Wie konnte ich es ihm sagen? „Ich…ich bin nicht sicher. Aber es ist nichts Ernstes, das ist gewiss. Vermutlich nur die einfache Folge von Überarbeitung und Unternährung. Sogar die Besten unter uns können einen Riss in ihrer eisernen Konstitution verursachen, wenn sie sich zu wenig Ruhe und Erholung erlauben. Hat er in letzter Zeit dir gegenüber irgendwelche Fälle erwähnt?“
 

Josh schüttelte langsam den Kopf. „Er spricht nicht viel über seine Fälle. Er sagte, ich sollte mich auf…andere Dinge konzentrieren.“
 

Mrs. Hudson erschien und ich zwang ein wenig von der Flüssigkeit in seine Kehle. Seine Augen – selbst in diesem Zustand stechend und gebieterisch – flatterten und rollten in seinem Kopf herum, als ich im half, sich ein wenig aufzusetzen. Er stöhnte und stieß meine Hand beiseite, als ich versuchte mehr Brandy in ihn zu zwingen. Seine Hand hielt immer noch mein Handgelenkt umklammert und unsere Augen trafen sich. „Nun“, hörte ich ihn flüstern. „Sie sagen, was für Träume in diesem Schlaf des Todes kommen mögen [5] …und wie es scheint, werden sie manchmal sogar wahr.“
 

„Was um Himmelswillen hast du dir angetan?”, fragte ich und ignorierte das Rätsel.
 

„Wir sind in dunkle Zeiten geraten, Watson.“ Er lächelte kurz.
 

„Ja, das würde ich wohl sagen. Wie konntest du dir das nur antun?“ Ich flüsterte, um Mrs. Hudson und dem Jungen die ganze Sache zu ersparen, aber ich fühlte ein mächtiges Bedürfnis zu schreien. Sein Gesicht war in meinen Händen und in meinem Bauch erwachte ein Gefühl von Übelkeit. Ein einziger Gedanke wiederholte sich in meinem Geist: Es ist allein deine Schuld…Es ist allein deine Schuld…Es ist allein deine Schuld.
 

Beinahe als ob er meine Gedanken lesen könnte (und es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn er es könnte), wurde mein Handgelenk freigegeben und er riss sich von mir los, setze sich ganz auf und knöpfte seinen Kragen zu. „Ich weiß eure entsetzten Gesichter als Zeichen euerer Sorge um meine Gesundheit zu schätzen, aber ich kann euch versichern, dass es mir gut geht. Ihr braucht nicht so erschrocken dreinzuschauen.“
 

„Einen Dreck brauchen wir nicht“, fluchte ich trotz der gemischten Gesellschaft. „Du bist krank, Holmes, und trotz der Einwände, die du ohne Zweifel erheben wirst, werde ich einen Spezialisten hinzuziehen.“
 

Sein Gesichtsausdruck wurde sofort von beinahe schon amüsiert und ruhig zu einschüchternd. „Du bist kaum in einer Position, um mir deinen Willen aufzwingen zu können, Doktor.“ Sein Körper zuckte leicht zurück, als hätte jemand eine Faust gegen ihn erhoben. „Du hast dir dieses Recht versagt.“
 

Ich merkte, wie ich mich losriss und vor ihm aufrichtete. Mit wenigen Worten und einem Wedeln mit der Hand bat ich unsere Zuseher, freundlicherweise den Raum zu verlassen. Mrs. Hudson sagte irgendetwas über Tee und Suppe und Josh protestierte, aber schließlich waren wir allein. Es lagen schwere Gefühle der Frustration in der Luft. Er beobachtete mich, während ich vor ihm auf und ab schritt. Er hasst diese Gewohnheit an mir für gewöhnlich, auch wenn er selbst hin und wieder auf den Füßen dachte. Diesmal sagte er nichts, beobachtete mich einfach nur.
 

„Ich werde Dr. Moore Agar aus der Harley Street bitten, sobald als möglich vorbeizukommen. Er ein führender Spezialist in Sachen nervliche Störungen“—
 

„Ich habe keine nervliche Störung.“
 

Aber in dieser Angelegenheit war ich erbarmungslos. Moore Agar wurde gerufen und als er am nächsten Tag erschien, warf er nur einen Blick auf meinen Freund und erzählte mir im Vertrauen, dass er Glück habe, immer noch auf Erden zu wandeln. Ich erwähnte das Kokain nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht nötig war. „Er braucht völlige Ruhe und Erholung“, sagte Agar. „Für zwei Wochen, wenn nicht länger. Nichts darf seinen Verstand belasten, falls er den Wunsch verspürt, ihn zu behalten.“
 

Holmes für seinen Teil leistete keinen so heftigen Widerstand, wie ich erwartet hätte. Es gab ein paar gemurmelte Sätze über Harley Street Spezialisten, aber er stimmte zu. Es schien – oder zumindest mir schien – dass er einfach froh über meine Anwesenheit war. Es gab ausgedehnte Blicke und er lächelte heimlich zu sich selbst. Aber es gab auch Brustschmerzen und Übelkeit. Er sagte, er würde nach Cornwall gehen, wenn ich ihn begleiten würde. Ich überlegte zuerst, Josh mitzunehmen, denn die Vorstellungen von uns beiden allein, schien mir nicht unbedingt die klügste, aber er wollte nichts davon hören. Es würden er und ich sein müssen oder er würde direkt hier in London bleiben. Krankheit oder nicht. Tod oder nicht.
 

„Warum um Himmelswillen solltest du nach Cornwall fahren wollen? Nach allem, was dort geschehen ist“—
 

„Wenn du mich schon dazu zwingst Urlaub zu machen, Doktor, dann werde ich nach Cornwall fahren oder überhaupt nirgendwo hin. Es ist diene Entscheidung.“
 

Er erzählte mir niemals, warum er so sehr auf Cornwall bestand. Ich habe meine Vermutungen. Dort gab es das Meer und die Heide, ein trostloses Gebiet voller neolithischen Grabstätten und die Wellen die an den Klippen verendeten, was an seinen wissenschaftlichen Verstand und seine Abneigung gegenüber der Menschheit appellierte. Wir würden beinahe völlig isoliert sein, nur wir beide. Und natürlich hatte Cornwall die Ehre, der letzte Ort zu sein, an dem wir zusammen und glücklich gewesen waren, egal wie kurzzeitig und merkwürdig jenes Glück gewesen war. Ich bin mir sicher, dass Sie, mein Leser, wissen, woran ich mich damit annähre, denn ich habe die Einzelheiten jenes Falles, der zunächst als „Der Schrecken von Cornwall“ und später als „Der Teufelsfuß“ bekannt war, bereits anderweitig besprochen. Ich reservierte augenblicklich ein kleines Cottage für uns beide in Poldhu Bay in der Nähe des kleinen Dorfes Tredanick Wollas.
 


 

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[1] Einer der populärsten Klubs im 19. Jahrhundert, seine Mitglieder schlossen auch Sir Arthur Conan Doyle ein. Manche spekulieren, dass Watson ein Mitglied dieses Klubs gewesen war. Andere bezweifeln es wegen seiner Nähe zum Diogenes Klub, auf die Watson (ihrer Meinung nach) sicher eingegangen wäre.
 

[2] Natürlich die eine, die ihm von Queen Victoria geschenkt wurde.
 

[3] Siehe „Studie in Scharlachrot.“ Doyle (oder Watson) muss erkannt haben, wie schwierig es sein würde, Holmes nur Dinge wissen zu lassen, die für seinen Beruf relevant wären, denn später machte er Bemerkungen über Dinge, die er laut „Studie“ nicht wissen dürfte. Und natürlich hätte keinem Mann, der so clever ist wie Holmes, die Tatsache entgehen können, dass sich die Erde um die Sonne dreht.
 

[4] Ob das noch der Fall ist, bleibt erstmal offen. : )
 

[5] Aus Hamlet Akt 3, Szene 3

Es gibt gute Neuigkeiten! Ende August hat amalcom1 auf fanfiction.net ein neues Kapitel hochgeladen. Das heißt außer diesem Kapitel hier gibt es noch zwei weitere mit deren Übersetzung ihr bald rechnen könnt.

Ihr könnt euch außerdem schon mal auf eine neue Wendung freuen. Wie es aussieht, wird es vor dem Ende noch einige Kapitel geben.

Aber jetzt erstmal viel Spaß beim Lesen dieses Kapitels!
 

Ich muss daran denken, wie ironisch es doch ist, dass ich meine Erzählung „Der Teufelsfuß“ 1910 geschrieben habe, nur vier kurze Jahre vor meiner Wiedervereinigung mit Holmes und all dem Guten, das danach geschah. Aber ich greife mir selbst vor. Ich denke, dass wenn ich die Geschichte vier Jahre später geschrieben hätte, ich mehr über de persönliche Seite unserer Ferien in Cornwall geschrieben hätte. Vielleicht nicht. Aber es gab gewiss Aspekte in jenem Fall, die aus Diskretionsgründen geändert werden mussten und die für die Öffentlichkeit bis jetzt nicht zugänglich waren. Ein paar davon betreffen den Fall selbst, was die Leser deutlich erkennen werden und andere betreffen das, was mit Holmes während unsers Aufenthalts in Cornwall geschah.
 

Die Leser meiner Geschichten werden bemerken, dass in meinen veröffentlichten Werken hin und wieder einige kleine Unstimmigkeiten auftreten. Manche davon geschahen natürlich aus Versehen, wobei die Schuld entweder meine eigene oder die meines Verlegers ist. Andere entstanden absichtlich, um bestimmte Personen vor genaueren Untersuchungen zu schützen – wichtige Klienten, deren Ruf bewahrt werden musste. Und natürlich spielte auch der Ruf von Sherlock Holmes und mir selbst eine Rolle. Und daher werde ich nun, da ich eine der düstersten Zeiten meines Lebens auf der Suche nach Licht durchquere, zum ersten Mal einen Fall von Holmes vollständig und ohne Rücksicht auf jegliche Reputation beleuchten.
 

Unser weißgetünchtes Haus auf einem der abgelegensten Landarme von Poldhu Bay war weit genug von Holmes’ Kindheitshaus in Bodmin Mor entfernt, dass ich versuchte seine Nähe zu verdrängen. Allerdings waren die Angst und die Isolation der Gebiete einander zu ähnlich, als dass ich es wirklich hätte vergessen können. Dieses Haus war wie ein weißes Leuchtsignal am höchsten Punkt eines mageren Hochlandes mit Ausblick auf das faszinierende Gebiet von Mount’s Bay, wo Kanal und Atlantik aufeinander stießen und einen ewigen Kampf ausfochten. Das Haus war wie ein weißes Leuchtfeuer auf dem höchsten Punkt einer mageren Heide und es überblickte die faszinierende Gegend von Mount’s Bay, wo Ärmelkanal und Atlantik ineinander krachten und miteinander um Vorherrschaft kämpfen. Die Schreie der Möwen und das Tosen der Wellen schienen aus der täglichen Schlacht einen nie endenden Krieg mit unzähligen Opfern zu machen. Holmes wäre zweifellos der Meinung, ich wäre übertrieben dramatisch, aber das war meine erste Reaktion. Ich konnte mir weitaus geeignetere Orte für einen Urlaub vorstellen.
 

Aber wir hatten unsere Taschen nicht schneller ausgepackt, als Holmes mich auch schon in dem ruhigen Haus alleine ließ, um die einsamen Moore und die Ruinen irgendwelcher untergegangener Völker zu erkunden. Während der Zugfahrt hatte er über nichts anderes gesprochen als darüber, sich nun für ein oder zwei Wochen der Studie der kornischen Sprache zu widmen, von der er annahm, dass sie von den phönizischen Zinnhändlern herrührte, eine Theorie, die schon seit vielen Jahren existierte und die diesen Mann seit seiner Kindheit in jener Gegend fasziniert hatte. Sobald wir in unserem kleinen Cottage angekommen waren, ließ Holmes seine Habseligkeiten auch schon im ersten der beiden Schlafzimmer fallen, ergriff ein Buch und eine Laterne und verließ mich für eine einsame Meditation auf den großen, in jener Gegend verbreiteten steinernen Menhirs [1]. Er gab keinen Anhaltspunkt, wann er zurückkommen mochte.
 

Ich hielt es für das Beste, ihn in Ruhe zu lassen, zumindest für jenen ersten Tag, aber als die Stunde immer später wurde und ich nichts anderes hören konnte als die Wellen, die draußen vor unserer Tür tosten, wurde ich besorgt. Seine Gesundheit lag mir sehr am Herzen. Und da gab es den unglückseligen Gedanken, mit dem mein Geist schon gespielt hatte, seit ich ihn vor einer Woche bewusstlos vorgefunden hatte. Versuchte er mit Absicht sich das Leben zu nehmen? War das der Grund, weshalb er an diesen trostlosen Ort kommen wollte, nahe dem Ort, wo sein Schmerz begonnen hatte? Es war ein Gedanke, den ich nicht aus meinem Kopf vertreiben konnte.
 

Nach einer einstündigen Suche fand ich ihn auf einem eben jener Findlinge, die er als sein Ziel angegeben hatte, das Buch in der Hand, die Laterne angezündet. Er wirkte vollkommen zufrieden und nichtsahnend (oder unbekümmert), was meine Besorgnis betraf. Wie gewöhnlich warf er nur einen Blick auf die gewaltige Erleichterung, die sich auf meinem Gesicht ausbreitete, und las meine Gedanken. Es war eine Fähigkeit, an die ich mich zu jenem Zeitpunkt schon gewöhnt hatte.
 

„Was ist los, Doktor?“, fragte er, als ich mich neben ihn setzte. „Hattest du Angst, du würdest meine zerschmetterte Leiche unten auf den Felsen finden?“
 

„Wieso sagst du so etwas Grässliches?“ Natürlich war das genau, was ich zu finden gefürchtet hatte.
 

„Und doch dachtest du es. Nun leugne es nicht! Ich kann deutlich die Angst in deinen Augen sehen.“
 

Ich hatte keinerlei Zweifel, dass er es konnte. Er blickte mich direkt an, so wie er es während unserer ganzen Freundschaft getan hatte. Heimlich zuerst, in der Annahme ich würde es nicht bemerken und später…nun ja, auch heimlich. Aber in einer anderen Hinsicht. „Gut, darf ich dann fragen, ob jene Furcht gerechtfertigt ist?“
 

„Nur ein Mensch, der keinerlei Kontrolle über seine Gefühle hat, würde auf eine solche Flucht wie Selbstmord zurückgreifen. Es ist keine logische Alternative zu seinen Problemen.“
 

„Natürlich ist es das nicht! Es ist dumm und feige!“
 

„Und hältst du mich für dumm und feige?“
 

„Mit Sicherheit nicht. Aber“—
 

„Und weshalb solltest du dann annehmen, dass ich derartig handeln würde?“ Er schlang seine langen Arme um seine Beine, kauerte sich zusammen und erinnerte mich sehr an den Jungen, der ihm meiner Ansicht nach so sehr ähnlich war. Seine Stimme war ungewöhnlich sanft und friedlich. „Es ist nicht das erste Mal, dass du so von mir gedacht hast.“
 

„Du wolltest, dass ich es denke, als du mir jenes Gedicht zurückgelassen hattest – und jene lateinischen Worte geschrieben hattest. Du wusstest, was ich denken würde. Und du wusstest, dass ich nach Meiringen hetzen würde, um dich zu finden. War es nicht so?“
 

Er antwortete nicht. Langsam senkte er den seinen Kopf auf die Knie und mit einem durchdringenden Blick saß er neben mir und starrte hinaus auf die See. „Wusstest du, dass ‚Poldhu’ in der kornischen Sprache ‚schwarzer Weiher’ bedeutet? Genau so habe ich Cornwall immer gesehen…schwarz. Dunkel.“
 

Es hatte zu regnen begonnen, langsam zunächst, aber dann wie aus Eimern, wie es im März oft der Fall ist und wie es ebenso oft der Fall ist, wenn Holmes und ich draußen waren und über Dinge sprachen, über die keiner von uns reden wollte. Unser Menhir war ein unzulänglicher Schutz und der Sprühregen traf uns direkt ins Gesicht. „Ich denke, wir sollten zurück zum Haus gehen“, sagte ich.
 

„Du gehst voraus. Ich werde bald nachkommen.“
 

„Du solltest besser jetzt mitkommen. Du weißt, dass deine Gesundheit anfällig ist.“
 

Er lachte herzlich und nahm meinen Arm, unsere beiden Wollmäntel waren bereits regendurchnässt. „Nun, wenn meine Gesundheit so anfällig ist, dann ist es ein Glück, dass ich einen qualifizierten Doktor kenne, der sich ganz in meiner Nähe aufhält.“
 

Am nächsten Morgen erwachte ich und fand meinen Gefährten bereits aus dem Bett und aus dem Haus. Es war Kaffee gekocht worden – er war lauwarm und unglaublich stark – und der Aschenbecher war bis zum Rand mit Zigarettenkippen und Pfeifenfiltern. Es gab keine Anzeichen, dass irgendwelche Nahrung im Haus auch nur angerührt worden war. Ich ging sofort in Holmes’ Schlafzimmer und fand es bereits völlig verwüstet vor. Kleidungstücke sowie Bücher lagen verstreut auf dem Boden. Aber ich interessierte mich nur für das marokkanische Etui, von dem ich wusste, dass es in seinem Gepäck mitgereist war. Die Spritze, das Stück Gummischnur, die Flasche. Ich durchsuchte das Bett, den Kleiderschrank, die Truhe und den Schreibtisch. Nichts. Mit einem tiefen Seufzen schloss ich die Tür.
 

Ohne mich drum zu bemühen, nach ihm zu suchen, schlenderte ich langsam über das Moor auf das Dorf zu. Ich konnte gerade die uralte, moosbewachsene Kirche ausmachen, die von den kleinen Häusern ein paar weniger hundert Gemeindemitglieder umgeben wurde.
 

Dankenswerterweise gab es ein Postamt in Tredannick Wollas und ein Telegramm wurde aufgegeben, das Mrs. Hudson unsere wohlbehaltene Ankunft versichern würde. Ich war damals nicht in der Lage abzuschätzen, wie lange wir dort bleiben würden. Wenn ich mir Holmes so ansah, konnte es in der Tat ein langer Urlaub werden.
 

Als ich bei der Kirche und dem benachbarten Pfarrhaus vorbeischlenderte und sie unaufdringlich begutachtete, rief mich plötzlich ein recht junger, glattrasierter Kerl an, dessen Anwesenheit mir beim Vorbeigehen irgendwie entgangen war.
 

„Hallo!“, rief er und winkte heftig.
 

Bevor ich den Gruß erwidern konnte, stürzte er los, um mich einzuholen. Trotz seiner offensichtlichen Jugend [2] erkannte ich sofort, dass es der Gemeindepfarrer war. Er hatte ein heiteres, einladendes Gesicht und einen beleibten kleinen Körper und ergriff augenblicklich meine Hand. „Es ist wahrlich ein Vergnügen, Sie zu sehen, Mr. Holmes. Wenn ich daran denke, dass unser bescheidenes kleines Dorf mit der Anwesenheit eines so berühmten Mannes beehrt werden sollte!“
 

Seine Worte schienen so vollkommen aufrichtig, dass ich überrascht war und ihn herzlich anlächelte, bevor ich den Fehler aufklärte. „Es tut mir sehr Leid, Sie zu enttäuschen, Vater, aber ich fürchte, ich bin Dr. John Watson. Mr. Holmes ist mein Freund und Partner.“
 

Oder eher ‚war’…
 

„Oh! Ja, natürlich sind Sie das! Ich bitte um Verzeihung.“
 

Ich war erstaunt, dass er schon so rasch von unserer Ankunft erfahren haben sollte, schließlich waren wir erst gestern angekommen, aber er lachte nur leise und erklärte mir, dass er es schon seit dem Vortag gewusst hatte. Der Grundstücksmakler, der uns das Cottage gemietet hatte, war zweifellos nicht in der Lage gewesen, dem Namen seines Mieters zu widerstehen. „Ich hoffe, dass Ihr Interesse für Mr. Holmes nicht so weit reicht, dass Sie seine Dienste in Anspruch nehmen wollen, Sir. Denn ich muss Ihnen sagen, dass er hier ist, um sich eine sehr lange und ausgiebige Ruhepause zu nehmen.“
 

„Nein, nein. Ich danke dem Herrn, dass wir größtenteils ein ruhige Gemeinde sind – friedlich und unberührt. Hier in Tredannick Wollas haben wir kaum Bedarf nach einem Detektiv.“
 

Wir unterhielten höchstens zehn Minuten auf der Straße, auch wenn Mr. Roundhay (denn das war sein Name) mich ins Pfarrhaus auf eine Tasse Tee einlud. Ich erfuhr, dass er einiges über Holmes wusste und ein Interesse für Archäologie hegte. So sorgsam wie nur möglich, mied ich alle Details meines eigenen Lebens, aber der junge Pfarrer war ohnehin weit mehr an Holmes interessiert als an mir. Er schloss die Konversation mit den Worten:
 

„Diesen Sonntag müssen Sie und Ihr Freund ins Pfarrhaus kommen und mit mir und meinem Mieter zu Abend essen. Und natürlich lade ich Sie beide auch ein, vorher mit uns den Gottesdienst zu besuchen.“
 

„Nun, ich kann natürlich nicht für Mr. Holmes sprechen, aber ich danke Ihnen für die Einladung und nehme an.“
 

Wir einigten uns auf einen Zeitpunkt und verabschiedeten uns. Ich wusste, dass Sherlock Holmes niemals mit mir in die Kirche gehen würde, aber ich war sicher, dass ein angenehmes Abendessen nicht außer Frage stehen würde. Als ich zurück zum Cottage spazierte und den warmen Tag genoss, dachte ich an Mr. Roundhay und spekulierte über die Identität seines Mieters.
 

Holmes kehrte schließlich zurück, kurz nachdem ich zu Abend gegessen hatte, etwa um acht Uhr. Er kam hereingetorkelt, eingewickelt in zwei Lagen von Mänteln, seiner abgewetzten blauen Decke, die zu Hause immer sein Bett schmückte und zwei Schals. Allerdings war es trotz des lieblichen Wetters und seiner bizarren Garderobe die Tatsache, dass er sofort an den Tisch stürzte und Brot, gebratenen Fisch und gekochte Kartoffeln in seinen Mund schaufelte, die mich am meisten verwirrte. Es schien ihn weder zu stören, dass die Reste kalt waren, noch dass er seine Finger benutzte.
 

Ich hatte ihn noch nie zuvor mit einem solchen Heißhunger essen sehen.
 

„Geht es dir auch wirklich gut, Holmes?“, fragte ich.
 

„Gibt es irgendwelchen Kaffee?“
 

Ich vermutete, dass war wohl seine Art zu Antworten. „Nein…soll ich dir welchen kochen?“
 

„Danke“, sagte er und machte sich schließlich doch die Mühe, seinen Hut und die Schals zu entfernen.
 

Ich beobachtete ihn von unserer kleinen Küche aus, während ich Wasser aufstellte. Irgendwie war er in nur einem Tag blasser geworden, nervöser und zittriger und sein Fuß klopfte gegen den Boden, während er sich aus der Obstschüssel auf der Anrichte einen Apfel nahm. Da Holmes im besten Fall ein sehr unregelmäßiger Esser war, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Das einzige Problem war, wie ich herausfinden sollte, was es war.
 

Als der Kaffee so war, wie er ihn bevorzugte – schwarz und extrem stark – brachte ich ihm eine dampfende Tasse. Er riss sie mir praktisch aus der Hand und schluckte alles in einem Zug.
 

„Holmes! Also wirklich, du wirst dich verbrennen“—
 

„Mehr“, keuchte er und stellte die Tasse ab.
 

„Mein lieber Holmes“—
 

„Mehr! Bitte, Watson.“
 

Mit einem tiefen Seufzen holte ich eine zweite und dann eine dritte Tasse. Erst dann schien er zufrieden. Er stöhnte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er augenblicklich seine Kirschholzpfeife und seinen Tabakbeutel aus seinem Mantel zog. Ich wartete aufgebrachte, bis er sie angezündet hatte und er begonnen hatte zu rauchen, bevor ich nach dem Offensichtlichen fragte.
 

„Was zum Teufel ist los mit dir?“
 

Er sah mich an, als ob meine Frage ungewöhnlich wäre. „Überhaupt nichts, mein Lieber. Warum fragst du?“
 

„Warum ich frage! Weil du niemals zuvor heimgekommen bist wie ein wildes Tier, bleich wie ein Gespenst, alles Essen in dich hineinschlingst und Kaffee trinkst, so als ob dein Leben davon abhängen würde. Was ist über dich gekommen, Mann?“
 

Er zuckte nur unverbindlich mit den Achseln. „Ich habe den ganzen Tag lang nichts gegessen. Die Atmosphäre des Moors und die Seeluft haben die Eigenart den Appetit wiederherzustellen.“
 

Ich war natürlich nicht umsonst ein Arzt und ich wusste, dass es mehr war als ein plötzlicher Heißhunger. Worüber ich nicht genug wusste, das waren die Auswirkungen seiner Droge. Wenn überhaupt dann hatte ich immer, wenn es dazu kam, dass er sich Kokain injizierte, einen gegenteiligen Effekt auf den Appetit meines Freundes beobachtet. Vielleicht war es so wie er sagte. Trotz der leisen Warnung des Mediziners in meinem Unterbewusstsein, beschloss ich ihm vorerst Glauben zu schenken. Da ich spürte, dass die ganze Situation nach einem Themawechsel rief, sagte ich: „Ich habe den Pfarrer von Tredannick Wollas getroffen. Ein wirklich liebenswürdiger Kerl. Ziemlich bewandet was deine Gesichte angeht. Er hat uns eingeladen, morgen mit ihm und seinem Mieter zu Abend zu essen.“
 

„Hussa.“
 

„Und davor den Gottesdienst in seiner Kirche zu besuchen.“
 

„Ha!“
 

„Nun, Holmes, ich weiß, dass du schon der bloßen Idee von Religion abgeneigt bist“—
 

„Watson, Watson…du enttäuscht mich.“ Er seufzte, als ob seine Bürde zu schwer wäre, um sie zu tragen. „Ich bin der Religion nicht im Geringsten abgeneigt. Tatsächlich halte ich sie für ein ebenso notwendiges Konzept wie Philosophie und Wissenschaft. Ich habe in meinen jüngeren Jahren ziemlich viel Zeit damit zugebracht, die verschiedenen Weltreligionen zu studieren. Auch wenn für mich der Buddha Sakyamuni nicht weniger faszinierend oder zutreffender ist als der Allah des Islam oder der Gott der Christenheit. Wogegen ich allerdings eine Abneigung habe, das ist die ‚Ausübung’ der Religion und die unvermeidliche eigene Überlegenheit bezüglich der moralischen Werte und der Heilvorstellung seines Glaubens, von der ein Gläubiger nur zu oft überzeugt ist. Ich kann es nicht ertragen, wenn mir die Anschauungen eines Mannes über Gott die Kehle hinunter gezwungen werden und behauptet wird, dass sie im Gegensatz zu der eines anderen Mannes die einzige Wahrheit seien. Meiner Meinung nach sollte keine Religion den anderen gegenüber auf einen Podest gestellt werden.“
 

Ich hörte aufmerksam zu und auch wenn ich es für ein absolut logisches Argument hielt, konnte ich nicht anders, als zu sagen: „Nicht jeder religiöse Mensch will dir seinen Glauben eintrichtern. Nicht jeder ist wie meine Schwester. Oder deine Mutter.“
 

Dafür erntete ich von ihm den finsteren Blick, mit dem ich gerechnet hatte. Nachdem er seine Pfeife fertig geraucht hatte und seine Blässe sich beinahe wieder in seine gewöhnliche Gesichtsfarbe zurückverwandelt hatte, stand er auf und wünscht mir eine gute Nacht.
 

„Viel Vergnügen beim Beten, mein lieber Junge.“
 

„Und was ist mit dem Abendessen?“, rief ich ihm nach.
 

„Sieben Uhr!“ Seine Tür schlug heftig genug ins Schloss, um die Wände des Hauses zu erschüttern.
 

Zum ersten Mal seit Monaten lächelte ich triumphierend. Ich schlief gut in jener Nacht.
 

Als ich aufstand, fand ich dasselbe Szenario vor wie am Vortag. Holmes spurlos verschwunden, sein Zimmer in Unordnung, keine Spur von dem marokkanischen Etui und ich fühlte mich seltsam verstört und unwohl. Der einzige Unterschied zwischen gestern und heute—das erkannte ich—war die Tatsache, dass er ganz offensichtlich gefrühstückt hatte, bevor er gegangen war. Die Überreste von mehreren Eiern, Toast und einer Speckscheibe waren auf seinem Teller sichtbar, ebenso wie Gott weiß wie viele Tassen Kaffee. Sogar als Arzt konnte ich mir nicht erklären, was mit dem Appetit meines Freundes geschehen war. Ich wusste, dass es ein paar wenige Krankheiten gab, die einen positiven Effekt auf den Appetit hatten, so wie Enzephalitis oder ein Verletzung im Bereich des Gehirns, vielleicht auch ein Parasit, aber ich war nicht der Meinung, dass das bei meinem Freund der Fall wäre. Es musste mit seinen Drogen zusammenhängen.
 

Während Holmes immer noch schwer auf meinem Gemüt lastete, unternahm ich an jenem wundervollen Spätfrühlingsmorgen einen Spaziergang nach Treddanick Wollas. An einem solchen Morgen war es schwer auf sein Leben wütend zu sein und sogar noch schwerer auf diesen Mann wütend zu sein, den ich so sehr liebte. Mit Sicherheit musste ich nur Vertrauen in ihn haben. Ich versuchte ihn für ein paar Stunden aus meinen Gedanken zu vertreiben und den Gottesdienst zu genießen, auch wenn ich wohl nicht zu erwähnen brauche, dass meine Rückkehr zur Religion nur ein anderes Problem verschlimmerte.
 

Die Kirch war – wie die meisten in Cornwall – einfach und schmucklos, erbaut aus schweren Steinen und sowohl vorn als auch hinten von verstreuten Gräbern und dem Garten umgeben, in dem der Pfarrer gearbeitet hatte. Verschiedene Ortsansässige lächelten mich an und grüßten mich und ich erwiderte die Höflichkeiten mit einer erzwungenen Miene der Zufriedenheit. Als Gast fühlte ich mich gezwungen, in den hinteren Reihen Platz zu nehmen. Es war ein geeigneter Platz, um die Leute zu beobachten, was ich so diskret tat, wie nur möglich. Es gab nur wenige Leute, die von irgendwelchem Interesse waren. Mehrere ältere Damen mit grauen Haaren und grauen Gesichtern, größtenteils in Schwarz, ein oder zwei mit einem verschlafenen Ehemann im Schlepptau. Eine junge Mutter zwängte fünf kleine Kinder in eine Kirchenbank, alle hatten augenscheinlich das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht. Sie begannen sofort herumzuzappeln, wofür sie heftige Klapse auf den Hinterkopf ernteten. Eine andere Familie, die man wohl als jung ansehen würde, trat zusammen ein. Zwei Männer und eine Dame, alle anscheinend in ihren späten Dreißigern oder frühen Vierzigern, würde ich schätzen.
 

Da beide Männer der Dame auf ihren Sitzplatz halfen und weil alle sehr ähnliche Gesichtszüge hatten, war ich sicher, dass sie Geschwister sein mussten.
 

Die drei hatten etwas Fesselndes an sich, dass ich nicht benennen konnte, daher beobachtete ich ihre Bewegungen. Sie saßen links vorne mit der Dame in der Mitte und für die Zeitdauer von mehreren Minuten taten sie nichts, als miteinander zu tuscheln und sich zu jedem umzudrehen, der eintrat.
 

Nur einer trat ein und er erschien zusammen mit dem jungen Pfarrer, Mr. Roundhay. Er hatte einen dunklen Schopf von ungebärdigen Locken, kleine, eng beieinander liegende Augen hinter Brillengläsern und einen kurzen, säuberlich gestutzten Bart. Er war von durchschnittlicher Größe, kräftig und muskulös mit sonnengebräunter, kornischer Gesichtsfarbe, doch er ging mit gekrümmtem Rücken. Er ging das Seitenschiff der Kirche hinunter, bis er das Geschwistertrio erreichte, wo er eine sichtbare Pause einlegte. Ich beobachtete es mit völliger Faszination, wie sich die vier in exakt derselben Sekunde einander zu wandten und sich aufmerksam anstarrten. Das Starren dauerte nur ein oder zwei lange Sekunden und dann riss der Mann seinen Kopf schlagartig nach vorne und ging drei Reihen nach hinten und setzte sich rechts von ihnen, vier Reihen vor mir.
 

Die Orgel begann in jenem Moment zu spielen und wir alle erhoben uns, wodurch ich vorübergehend von dem abgelenkt wurde, was ich gerade beobachtet hatte. Roundhay begann mit seiner Predigt und er war ein wirklich freundlicher Redner, nicht besonders feurig, sondern ruhig und erfahren, mit einer Stimme, die einen mitzog.
 

„Das Thema meiner heutigen Predigt ist eines, von dem ich denke, dass es im Leben von jedem von Gottes Kindern eine Rolle spielt, und doch ist es eine Sache, die über unseren täglichen Aufgaben leicht vergessen wird. Es ist das Thema der Vergebung. Ich will euch heute von der Menschlichkeit Gottes erzählen, nicht von seiner Göttlichkeit. Schlagt doch bitte den Brief an die Kolosser auf, 1:14, und lest mit mir ‚In dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Sünden…’“
 

Ich konzentrierte mich auf Roundhay, während er sprach, sanft zuerst, aber zuweilen brachen die Gefühle aus ihm heraus, wenn es geboten war, und gestikulierte mit Händen und Fingern. Er sprach, wie es jeder anständige Pfarrer tun würde, doch wirkte er einer reinen Moralpredigt auch entgegen, indem er die Vergebung des Herrn betonte: „Denn wir erfahren die Erlösung des Herrn durch seinen Sohn und wir dürfen das nicht vergessen. Unsere Sünden können uns vergeben werden, wenn wir nur bereuen, aber können wir auch von einander dieselbe Vergebung erfahren? Ist es nicht unsere Pflicht als Christen einander zu vergeben, ebenso wie uns Jesus Christus vergeben hat und wie uns auch der Herr vergeben hat?“
 

Roundhay forderte uns danach auf, in Frieden zu gehen und die Gemeinde erhob sich auf Kommando und trottete wie Vieh in Richtung der Türen. Ich verlor den dunklen Gentleman mit dem Buckel aus den Augen, aber indem ich ein älteres Paar vorbeiließ, gelangte ich direkt hinter die Geschwister, an die die versteckten Blicke des Kerls gerichtet waren.
 

„Denkt ihr unser Mortimer hat Francis heute Morgen zugehört?“, sagte die Lady gerade zu ihren Brüdern. Ich selbst, da ich so nah war, konnte nicht anders, als mithören. „Mir scheint, dass das Ganze ihm zuliebe geschehen ist.“
 

„Nun, Brenda“, erwiderte einer der Männer. „Wir sind übereingekommen, Morty zu vergeben. Es ist mit Sicherheit unchristlich so etwas zu sagen.“
 

Die Menge verlief sich und alle drei schüttelten die Hand des jungen Mr. Roundhay und hielten an, um ein, zwei Worte zu wechseln, die ich nicht mehr hören konnte, bevor sie verschwanden. Natürlich kennen all jene, die mit meinem veröffentlichten Bericht über das Grauen von Cornwall vertraut sind, das Schicksal dieser Familie. Aber man sollte sich nicht vorgreifen. Und daher entschuldige ich mich für meine kurze Abschweifung.
 

Ich war einer der Letzten, die die Kirche verließ und ich war nun an der Reihe, dem Pfarrer meine ermutigenden Worte anzubieten. Ich sagte ihm, dass ich seine Predigt sehr geschätzt hätte, was der Wahrheit sehr nahe kam, auch wenn ich wusste, dass sie sich in meinem Geiste tagelang wiederholen würde. Vergebung war auch eines der Themen, die in meinem Leben in letzter Zeit eine Rolle gespielt hatten.
 

„Vielen Dank, Dr. Watson“, sagte er mit einem angenehmen Lächeln. „Sie hatten Glück, die Kirche in dieser Woche zu besuchen. Hin und wieder versuche ich optimistisch zu predigen, hoffnungsvoll. Es ist meine Überzeugung, dass Feuer und Schwefel sich mit Liebe und Vergebung abwechseln sollten.“
 

„Eine vernünftige Überzeugung.“ Ich schüttelte ihm einmal mehr die Hand und sagte ihm, dass Holmes und ich ihn bald zum Abendessen besuchen würden. Ich erwähnte nicht, was ich eben mitgehört hatte. Ich würde Holmes nach seiner Meinung fragen müssen.
 


 

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[1] Menhir ist ein bretonisches Wort für „großer Stein“, mit dem die Steine gemeint waren die immer noch in Cornwall verstreut sind und einst für Grabstätten und religiöse Bauwerke verwendet wurden. Allein in Land’s End, wo Holmes und Watson sich befinden, gibt es über 90 Stück davon.
 

[2] In „Der Teufelsfuß“ wird Roundhay eigentlich als ‚im mittleren Alter’ beschrieben, aber ich brauchte ihn jünger, also habe ich sein Alter verändert.
 

[3] Eine junge Frau, die 1844 vermutlich von ihrem Geliebten ermordet wurde. Seit damals und besonders an ihrem Todestag wurde Charlotte in dieser Gegend umherwandern gesehen, gekleidet in eine Robe, einen roten Schal und ein Seidenbonnet. Wachposten der Old Volunteers, die in Roughtor stationiert waren, versahen ihre Pflicht dort nur ungern, so überzeugt waren sie von ihrer geisterhaften Anwesenheit. Ein Gedenkstein markiert den Ort ihres Todes und die Geschichte wurde durch „Die Ballade von Charlotte Dymond” des korinschen Dichters Charles Causley unsterblich.
 

[4] Im Canon sagt Mortimer eigentlich, dass George älter ist als er selbst, aber ich nehme mir hier eine leichte dichterische Freiheit…nun, ihr werdet sehen, dass ich mir bei diesem Fall recht viele dichterische Freiheiten genommen habe.
 

[5] So wie in „Der Detektiv auf dem Sterbebett“, wo Holmes Watsons medizinischen Qualifikationen als mittelmäßig bezeichnet. Er tut es natürlich absichtlich, um Watson von ihm fern zu halten, aber es musste natürlich trotzdem schmerzhaft sein.
 

[6] Hamlet, Akt I, Szene II

Das nächste Kapitel, und das letzte das bisher auch auf Englisch existiert, wird in jedem Fall Ende Oktober bzw. spätestens in den ersten Novembertagen online gestellt, da ich im November aus verschiedenen Gründen gar keine Zeit haben würde.
 

Holmes’ Verhalten änderte sich am nächsten Morgen nur geringfügig. Er war früh auf, hatte zum Frühstück heißhungrig geröstetes Brot, Eier und schwarzen Kaffee verschlungen und mindestens zwei Pfeifen und mehrere Zigaretten geraucht, bevor ich verschlafen das Wohnzimmer betrat. Der einzige Unterschied zwischen den vorherigen Tagen und jenem war die Tatsache, dass er immer noch im Haus war. Sein Haar war sorgfältig gekämmt und sein Gesicht war gewaschen und rasiert, aber er trug immer noch Pyjama und Morgenmantel. Seine Augen starrten leer in Richtung des Fensters, sahen es kaum. Das heftige Verlangen nach Kokain war deutlich in ihnen zu sehen.

Ich setzte mich neben ihn und er schien mich zwar zu bemerken, schenkte mir aber keine Aufmerksamkeit. Ich legte meine Hand auf seine und nahm die Zigarette, die er geistesabwesend in zwei langen Fingern hielt.

„Die Spitze wäre dir fast hinunter gefallen“, sagte ich ihm.

„Hmm?“

„Vergiss es. Wie fühlst du dich?“

„So als wäre ich die ganze Nacht mit Vergil[1] unterwegs gewesen.“ Er wandte mir sein kaltes, blutleeres Gesicht zu. „In welchem Kreis der Hölle wird ein Mann wie ich deiner Meinung nach enden? Bei den anderen Sodomiten, würde ich sagen. Ewig durch einen Regen aus Feuer wandern. Aber die Möglichkeiten sind so zahlreich. Eitelkeit, Stolz, Wollust…“ Er stieß ein leises, trockenes Lachen aus. Es ging in ein rasselndes Husten über, das so übel war, dass ich meine Hände auf seinen Rücken legte, um ihn zu stützen. Und dieses eine Mal erlaubte er die Berührung. „Wenn man alle sieben Sünden begangen hat gibt es so viele Möglichkeiten, mein lieber Watson.“

„Sag so was nicht. Du wirst nicht im Hades enden.“

„Ah! Der ewige Optimist.“ Er schloss kurz die Augen in dem Versuch, den Schmerz zu verstecken. „Aber ich glaube nicht, dass das Jenseits—wo auch immer ich enden werde—schmerzhafter sein kann als das.“

In jenem Moment, als ich ihn so sah und mich an die Schreie der letzten Nacht erinnerte, war ich beinahe versucht, seine Droge zu holen und sie ihm selbst in die Vene zu injizieren. Es war so verflucht hart, ihn so sehr leiden zu sehen! Aber ich wusste, dass ich das nicht tun konnte. „Du musst dagegen ankämpfen, Holmes. Ich weiß, dass es hart ist, aber du darfst nicht aufgeben.“

Seine sehnigen Arme schnellten plötzlich hoch und packten meine Schultern. Eine Sekunde lang war ich mir nicht sicher, ob er mich umarmen wollte oder versuchte, mich zu erwürgen. „Zur Hölle mit dir!“, schrie er. „Glaubst du, dass ich mich um meine verdammte Gesundheit schere? Ob ich nun morgen sterbe oder in fünfzig Jahren, ändert nicht das Geringste! Mein ganzes Leben lang habe ich nur Schmerz und Sehnsucht gekannt und so wird es auch sein, wenn ich sterbe! Es ist allein die…die Enttäuschung in deinen Augen, die mich dazu bringt, dieses Brennen zu ertragen. Ich ertrage es nicht, dass du…dass du mich verachtest…nicht du.“

Am Anfang hatte er mir noch gellend ins Gesicht geschrieen, sein Griff auf meinen Armen wie ein Schraubstock. Sein Gesicht brannte rot und seine Augen färbten sich langsam rötlich. Seine Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern. Es war so selten, dass er über solche Dinge mit mir sprach. Wir waren keine Dichter und die sanfteren Gefühle oder zumindest diese in Worte zu fassen, fiel uns nicht leicht. Gewiss war es der Schmerz, das Verlangen, das aus ihm sprach. Aber dieses Bekenntnis zu hören, dieses seltene Aufglimmen seines Herzens zu sehen, war nicht wirklich unwillkommen, ganz egal welchen Zweck er auch damit verfolgte. Ich legte meine Hand an seine Wange. „Du könntest mich nie enttäuschen. Wie auch? Du weißt, dass ich dich liebe“—ich hielt inne; die Worte klebten in meiner Kehle wie Leim.

Für die längste Weile starrte er mich an, zunächst mit gefurchten Brauen, so als hätten ihn meine Worte verwirrt, aber langsam legte sich das und der gewohntere Ausdruck von Überlegenheit und Widersinn kehrte zurück. Mir kam der Gedanke, wie selten er dieses Wort gehört haben mochte und gleichzeitig, dass ich darüber gestolpert war, wie ein jugendlicher Narr, der zum ersten Mal verliebt ist.

Holmes ließ mich plötzlich los und drehte den Kopf ruckartig Richtung Fenster. Seine Stimme war nun nicht mehr brüchig und sondern gewann ihren reichen Klang zurück. „Wir werden in Kürze zwei Gäste haben, Watson. Fasse dich wieder.“

Ich werde Ihnen selbstverständlich jene Details ersparen, die Ihnen bereits wohlbekannt sind, genauer gesagt die Schilderung der überstürzten Ankunft von Vikar Roundtree und seinem Mieter, Mortimer Treggenis. Holmes und ich rauchten und hörten zu, auch wenn ich gestehen muss, dass die Geschichten der beiden kornischen Gentlemen meinen Freund mehr in ihren Bann schlugen als mich. Er war anscheinend dazu in der Lage, seinen Verstand von dem zu distanzieren, was gerade geschehen war, wohingegen ich über keine solche Fähigkeit verfügte.

„Bemerkenswert—wirklich bemerkenswert. Ich werde mir diese Angelegenheit ansehen, wenn Sie bereit wären, mit mir einen Spaziergang dorthin zu unternehmen. Komm, Doktor. Ich fürchte, dass du dein Frühstück erst einmal aufschieben musst.“

Wir brachen auf in die Morgensonne. Treggenis führte uns rasch und das Salz des Meeres grub sich in unsere Nasen. Mir wird nun klar, dass ein paar Worte der Warnung und der Erklärung, wie es dazu kam, dass dieser Fall veröffentlicht wurde, gerechtfertigt sind. Am Anfang hatte ich niemals damit gerechnet. Als ich Jahre später Holmes’ Erlaubnis bekam, weitere Geschichten über seine Fälle zu veröffentlichen, war dieser Fall nie unter denen, die ich dafür angemessen befand. Der Grund dafür war teilweise der geistige Zustand meines Freundes und natürlich das, was gerade erst in unseren Leben geschehen war. Aber um all das könnte man herumarbeiten, wie alle, die die Geschichte kennen, gesehen haben. Aber da gab es noch eine andere notwendige Tatsache, die den Fall betraf, um die ich nicht herum arbeiten konnte. Daher hielt ich Holmes, als ich einen Brief vor ihn erhielt, in dem stand „Warum erzählst du ihnen nicht von dem Horror in Cornwall—der seltsamste Fall, den ich je hatte“, für wahnsinnig. Aber bevor ich noch dazu kam, ihn mit dem Telefon anzurufen und zu fragen, was um Himmelswillen er sich dabei dachte, erhielt ich selbst einen Telefonanruf. Holmes hatte, wie gewöhnlich, meine Gedanken gelesen.

„Immerhin, Watson“, hatte er gesagt. „sind seitdem beinahe dreißig Jahre vergangen. Dr. Sterndale ist inzwischen entweder an einer afrikanischen Krankheit gestorben oder hat sich selbst seit langem in jenem dunklen Kontinent begraben. Der Klan der Tregennis ist mittlerweile natürlich ausgestorben. Und Reverend Roundtree ist erst vor einem Jahr aufgrund von Krebs von uns gegangen. Ich habe den Nachruf selbst in der Royal Cornwall Gazette gelesen.“

Und so beschloss ich, teilweise weil es mich traurig stimmte, von Roundtrees Tod zu hören und mich einmal mehr an die Begebenheiten jenes Falles zu erinnern, dass aus den Fakten des Horrors in Cornwall in der Tat eine Geschichte konstruiert werden konnte, mit nur einigen wenigen Änderungen. Genauer gesagt, welches Mitglied der Tregennisfamilie eigentlich an jenem späten Märzmorgen sein Leben verlor.

Nachdem Holmes durch den großen Garten vor dem großen Cottage geschlendert war und unsere Füße nass wurden, wie es in der veröffentlichten Version dieses Falles geschlildert wird, führte man uns durch das Wohnzimmer, wo sich die Tragödie ereignet hatte, in ein dunkles Zimmer. Die Sonne wurde von schweren, schwarzen Gardinen ausgesperrt und nur ein paar Kerzen erleuchteten es. Auf dem Bett lag der Jüngste des Geschwisterquartetts—der junge Owen Tragennis. Er war ein gut aussehender Junge—auch wenn man ihn kaum so nenne konnte, stand er doch schon kurz vorm mittleren Alter, aber da war etwas jugendliches an dem kräftigen Kinn und ein voller Schopf schwarzer Locken auf seinem Kopf, der sein Alter lügen straften und ihn ausgesprochen attraktiv wirken ließ und das obwohl sein Gesicht immer noch von den Qualen seines ungewöhnlichen Todes verzerrt gewesen war.

Holmes sah ihn an, untersuchte ihn, so schien es, mit den Augen allein. Die Leiche trug immer noch seine Abendgarderobe und abgesehen von dem verzerrten Mund hätte jedermann geglaubt, er sei einfach auf dem Bett eingeschlafen. „Hmm…“, hörte ich Holmes murmeln und eine Sekunde lang streiften seine Hände die Weste des Mannes, an dem immer noch seine silberne Uhrenkette befestigt war. Die Kette war dünn und ungeschmückt abgesehen von etwas, das aussah wie ein Goldring, was ich an jenem Zeitpunkt noch nicht für bemerkenswert hielt.

„Und was ist mit Ihrem anderen Bruder, Mr. Tregennis?“, fragte Holmes den übrig gebliebenen der Geschwister, der nicht näher kommen wollte als bis zur Schwelle. „Und Ihrer Schwester?“

„Sie wurden nach Helston gebracht.“ Da war eine schaurige Kälte in der Stimme des Mieters, die nicht einmal mir verborgen blieb. Völlig ohne Gefühl.

„Ich verstehe.“ Holmes warf einen letzten Blick auf die Leiche, bevor er herumschnellte und begab sich nach unten ins Wohnzimmer.

Nach der Unterredung in jenem Zimmer, dessen Zustand ich meines Wissens recht akkurat wiedergegeben habe, schlenderten Holmes und ich langsam und schweigend zurück zu unserer Poldhucottage. Holmes hatte versprochen über die Fakten nachzudenken und ich versuchte dasselbe, aber mein Verstand war getrübt von meinen Sorgen um Holmes’ Gesundheit, meinem Kind, das einmal mehr allein in London zurückgelassen worden war, und die Ungewissheit betreffend meiner Beziehung zu jenem Mann: Ein Feuer im Kamin im Frühling, Holmes, der in der Nacht schreit, George Tregennis’ eigentümlicher Seufzer bei dem Kartenspiel, Josh, der seinen Vater ablehnte, Owen Tregennis’ Uhrenkette, Holmes, der mich immer noch liebte, so wie ich ihn…

Holmes zündete seine Pfeife an und machte es sich in seinem Sessel gemütlich, aber als ich uns eine Kanne Tee aufsetzte, wurde mir klar, dass es ihm schwer fiel, sich zu konzentrieren. Die blauen Rauchwirbel zogen ihre Spur Richtung Fenster und ich sah ihn mit leerem Blick hinaus auf Moor starren. Das Wasser hatte noch nicht zu kochen begonnen, als ich schon einen Fluch aus dem Nebenzimmer hörte und Holmes auf die Füße sprang. „So geht das nicht, Watson!“, rief er. „Ich mache einen Spaziergang. Hier drinnen gibt es zu Vieles, das mich ablenkt.“

Er musste nicht aussprechen, was genau ihn hier drinnen so sehr ablenkte, denn ich konnte mir recht sicher sein, dass die Ereignisse des Morgens etwas damit zu tun hatten.

Nichtsdestotrotz nahm ich den Topf vom Feuer und machte mich auf die Suche nach Mantel und Hut. „Ich komme mit.“ Und bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, um zu widersprechen, hielt ich ihm schon die Tür auf. „Das wird dir nichts nützen, also schlage ich vor, du gehst los.“

Mir wurde eines jener seltenen, peitschenschnellen Lächeln gewährt, als Holmes an mir vorbei stürmte.

Holmes’ Blick blieb fest auf den Boden gerichtet, während wir zusammen die Klippen entlang schlenderten, doch er sprach fortwährend von dem, was wir über den Fall wussten. Er hatte behauptet, wir würden nach Pfeilspitzen aus Feuerstein suchen, aber es schien mir so, als würde ihn in jenem Moment nichts weniger kümmern als neolithische Fundstücke. Schließlich kamen wir zu einem weichen, Gras bewachsenen Hügel, der die tosenden Wellen überblickte. Holmes ließ sich darauf nieder, sein Atem ging stoßweise und Schweiß tropfte ihm von der Stirn. „Du bist dir über unsere Problematik im Klaren, Watson?“

„Absolut.“ Ich verengte meine Augen und sah ihn streng an. „Du solltest dich zu Hause ausruhen. Ich habe Roundhay explizit darauf hingewiesen, dass du hier in Cornwall bist, um dich zu erholen und kaum sind wir angekommen, wird dir schon ein neuer Fall aufgedrängt.“

Holmes, der gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, presste plötzlich eine Hand gegen seinen Magen und war im nächsten Moment aufgesprungen und drehte sich von mir fort, um sich zu übergeben. Als er sich wieder hinsetzte, lächelte er kläglich, aber er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht für seine Schwäche entschuldigen brauchte. „Du hast natürlich recht.“

„W-wie bitte?“

„Du hast absolut Recht, Watson.“ Er wischte sich den Mund mit seinem Taschentuch ab, bevor er sich vollends rückwärts gegen den Grashügel fallen ließ und nach oben in die Sonne blinzelte. „Mein Gehirn ist wie ein Motor, der sich selbst in Stücke reißt. Dieses Rätsel ist komplex und doch hat es Aspekte, die ein Sinnbild des Offensichtlichen sind. Und doch, wenn ich alle Fakten durchgehe, kann ich an nichts anderes denken als…“ Er lehnte es ab, den Satz zu beenden.

Vorsichtig legte ich eine Hand auf seine Schulter. Er machte keine Anstalten, mich aufzuhalten. „Du weißt, Holmes“, begann ich, wobei ich versuchte so wenig doktorenhaft wie möglich zu klingen. „Es wäre keine Schande, hierbei die gewöhnliche Polizei zu Hilfe zu rufen. Zuzugeben, dass du zu krank bist“—

„Sterndale.“ Holmes entzog sich mir augenblicklich, setzte sich auf und drehte den Kopf ruckartig nach Norden. Ich drehte mich um und sah eine massive Gestalt, die auf uns herunter starrte und große Ähnlichkeit mit einem Grizzlybären hatte. Holmes musste sich nicht erklären, denn es war vollkommen offensichtlich, dass dies der legendäre Großwildjäger war, Dr. Leon Sterndale. Er erschien mir auf den ersten Blick wie ein waschechter Riese, aber das lag teilweise daran, dass er stand und wir saßen, doch selbst als wir uns erhoben, um ihn zu begrüßen, war er immer noch mehrere Zoll größer als Holmes’ sechs Fuß. Sein goldener Bart von silbernen Haaren durchzogen und sein schroffes Gesicht war von Sorge gezeichnet, aber was das Alter betraf, konnte er nicht älter als vierzig sein. In seinen dunklen Augen glitzerte immer noch die Jugend, auch der offensichtliche Ärger konnte das nicht übertünchen.

„Sie sind Sherlock Holmes“, sagte er als Begrüßung. „Und ich habe von den Ereignissen auf Treddanick Wartha heute Morgen gehört. Was haben Sie bisher in Erfahrung bringen können? Wer hat dieses entsetzliche Verbrechen begangen?“

Holmes schüttelte den Kopf. „Das kann ich wohl kaum beantworten, Dr. Sterndale.“

„Sie wissen also, wer ich bin.“

„Ja, natürlich. Aber nur von dem, was ich über sie gelesen habe. Was ich zum Beispiel nicht weiß, ist, warum diese Angelegenheit sie betreffen sollte.“

Sterndale antwortete, dass die Mitglieder der Tregnennisefamilie Cousins mütterlicherseits wären oder einen ähnlichen Unsinn, den Holmes ihm nicht glaubte, wie ich an seinem Auftreten deutlich ausmachen konnte. Nach einer ausführlichen Unterhaltung darüber, woher der Doktor in so kurzer Zeit schon von dem Mord erfahren haben konnte, und dem Verlust seines Gepäcks aufgrund seiner eiligen Rückkehr, wurde Sterndale wütend. Holmes schien ein vages Glitzern in den Augen zu haben, das mich misstrauisch machte, und ich war mir sicher, dass er etwas wusste. Aber verdächtigte er gar den berühmten Großwildjäger dieser grauenhaften Tat oder handelte es sich um etwas anderes?

Sterndales Augen verengten sich, als es offensichtlich wurde, dass mein Freund ihm nichts erzählen würde. „Dann habe ich meine Zeit verschwendet und sehe keinen Grund, meinen Besuch noch weiter in die Länge zu ziehen.“ Er drehte sich um und marschierte mit solcher Wut davon, dass ich geradezu froh darüber war, dass er ging. Holmes rieb sich langsam das Kinn, während er beobachtete wie der massive Rücken immer kleiner und kleiner wurde. „Das hatte doch was, hm, Watson?“

„Ja…sehr interessant.“ Er stellte sich in den Wild und blickte hinab auf die Wellen, bevor er mir deutete, ihm zu folgen.

Wir hatten kaum die Tür zu unserem Cottage erreicht, als Holmes sich auf das Sofa fallen ließ und innerhalb von Minuten eingeschlafen war. Er verschlief den ganzen restlichen Nachmittag und schlief immer noch, während ich ein paar uninteressante Seiten in einem Roman las, selbst darauf bedacht, meine eigene Müdigkeit abzuschütteln. Aber mein Geist war so weit fort von der rauen See und den Abenteuern der Einhorn der Meere wie es nur menschenmöglich war. Meine Augen drifteten zu der ausgestreckten Gestalt meines Freundes, der schlief, wenn auch unter gelegentlichem Murmeln und ruckartigen Bewegungen. Ich konnte mir nur vorstellen, wie schrecklich sich sein Körper ohne die Droge anfühlen musste. Und ich konnte nicht anders, als mich für ihn verantwortlich zu fühlen. Ich meine, schließlich, war er doch…beinahe glücklich gewesen, für eine kurze Zeitspanne. Ich erinnerte mich an einen Augenblick in einem Zugabteil, als ich das Gefühl hatte, wir drei wären eine Familie. Ich erinnerte mich an einen strahlenden Morgen im Mai, an dem wir uns eine Zigarette teilten und Holmes mich mit Latein ärgerte. Ich erinnerte mich an viele Nächte…Nächte, in denen ich nur staunen konnte, wie ich Sherlock Holmes jemals als eine Maschine gesehen haben konnte. Ein Hirn ohne Herz. Der Anblick seines bloßen Körpers, sein Seufzen in meinem Mund…

Ich schüttelte den Kopf um all diese Gedanken zu verscheuchen. Das war die Vergangenheit, erinnerte ich mich. Was auch immer wir für einander empfunden hatten, war vorbei, zumindest aus Notwendigkeit, wenn schon nicht aus freiem Wille. Ich hatte Verpflichtungen. Verpflichtungen, die du in eben diesem Moment vernachlässigst. Vielleicht hätte ich den Jungen mit uns bringen sollen, hätte Holmes zum Nachgeben zwingen sollen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass er seinen Meister so sah. Und ich konnte nicht zulassen, dass er uns zusammen sah, dass er auf den Gedanken kommen könnte, wir würden auch in London wieder zusammen leben. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass von den beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben, von denen einer mein Sohn, mein Fleisch und Blut war, ich mich immer für Holmes entschied. Aber als mein Kopf zurückfiel und meine Blick im Schlaf verschwamm, konnte ich nicht glauben, dass ich einen Fehler beging. Er brauchte mich. Er brauchte mich hier. Der größte Verstand unserer Generation brauchte mich.
 

Am nächsten Morgen erwachte ich so plötzlich, dass mein Verstand vom Halbschlaf noch ganz benommen war. Holmes schüttelte meinen Arm und ich hörte, wie eine Kutsche in vollem Galopp direkt vor unserem Fenster vorbeirauschte. Mein Nacken schmerzte furchtbar von einer Nacht im Lehnstuhl und ich rieb ihn geistesabwesend, während ich versuchte, ganz wach zu werden.

„Es ist Roundhay“, sagte Holmes gerade, als er seine Krawatte richtete. „Ich vermute, er hat Neuigkeiten für uns.“

„Roundhay?“ Ich versuchte mich zu erinnern, wer das war. Als das Blut schließlich begann, durch meinen Kopf zu fließen, spürte ich meine beiden Kriegsverletzungen und meine jüngste Wunde sogar noch mehr.

Bevor Holmes auch nur antworten konnte, wurde unsere Vordertür heftig aufgestoßen und ein blasser Francis Roundhay kam hereingestürmt. Er war vollkommen außer Atem und sah in seinem Schrecken sogar noch jünger aus als in den vorherigen Tagen. Seine Augen waren feucht und sein Gesicht gerötet vom vollen Galopp seines Gefährts. Während der Minuten, die er brauchte, um die Fähigkeit zu sprechen wiederzuerlangen, starrten Holmes und ich ihn nur an. „Meine arme Gemeinde“, japste er beinahe in Tränen. „Meine arme Gemeinde…sie ist vom Teufel verfolgt!“

Zu meiner Überraschung kam Holmes ihm tatsächlich entgegen, nahm seinen Arm und führte ihn zu dem Sofa, auf dem er die Nacht verbracht hatte. „Tief atmen, Vikar. Kein Grund zur Hast. Beruhigen Sie sich.“ Er tätschelte seine Hand und deutete mir, dem armen Mann etwas Wasser einzuschenken, was ich auch tat.

„Wir werden ganz sicher vom Teufel verfolgt!“, rief er, nachdem er das ganze Glas geleert hatte. „Satan selbst geht in meiner Gemeinde um! Mortimer…der arme Mortimer Tregennis starb in der vergangenen Nacht mit genau denselben Symptomen wie seine Familie.“

Ich bin mir sicher, dass mir bei dieser Neuigkeit der Mund offen stand und obwohl Holmes auf die Beine sprang, sagte mir etwas an der Art, wie er seinen Hals nach vorn streckte, dass es ihn nicht besonders überraschte. „Haben wir beide Platz in ihrer Kutsche?“ Er war bereits an der Tür, bevor der Vikar antwortete und ich glaube, er wäre zum Pfarrhaus gerannt, hätte dieser verneint. Er schien einen Teil seiner Vitalität durch diesen sechzehnstündigen Schlaf zurückgewonnen zu haben.

Ich muss Ihnen nicht berichten, was wir in den Räumlichkeiten von Mortimer Tregennis vorfanden, da es bereits gewissenhaft aufgezeichnet worden ist. Das Schicksal hatte Mortimer dazu bestimmt, seinem Bruder Owen ins Jenseits zu folgen und von vier Geschwistern, die erst vor zwei Tagen noch ausgesprochen lebendig gewesen waren, waren nun zwei tot und die anderen beiden so gut wie. Holmes schien ganz voller Energie, genau so, wie ich ihn früher gekannt hatte, und auch wenn ich froh war, dass etwas, irgendetwas, aufgetaucht war, das ihn ablenkte, fürchtete ich immer noch um seine Gesundheit. Nachdem die Polizei gerufen wurde und sie ihre Abneigung gegen eigenmächtige Ermittlungen deutlich zur Schau gestellt hatten, ließen sie uns einige Tage im Dunklen, aber das schien meinen Freund nicht zu kümmern. Er verbrachte die Zeit damit, zu rauchen, zu essen, verließ hin und wieder unser kleines Cottage, wenn die Übelkeit ihn wieder überkam und vor allem verbrachte er seine Zeit damit, mich zu ignorieren.

Aber nach zwei Tagen ohne Neuigkeiten brach Holmes früh am Morgen auf und kehrte ein paar Stunden später mit einem großen Paket zurück. Als er es auspackte, erkannte ich darin sofort eine Lampe, um genau zu sein, als ein Duplikat der Lampe, die wir in Mortimer Tregennis Schlafzimmer immer noch rauchend vorgefunden hatten. Ich erfuhr schnell, was er vorhatte.

„Es gibt keinen Grund für dich, zu bleiben, Watson“, sagte er. „Ich weiß, dass du viel zu vernünftig für derartige Tollkühnheit bist.“

Die Art wie er mich ansah, das merkwürdige Schimmern in seinen Augen, erweckten in mir den Eindruck, als wollte er mich testen. Ich holte tief Atem. „Natürlich bleibe ich.“

Ein Lächeln, wenn auch kurz, belohnte mich. „Dachte ich mir doch, dass ich meinen Watson kenne.“

Und wie er das tat. Und so platzierten wir zwei Stühle nebeneinander und saßen in völligem Schweigen, nachdem das bisschen gestohlenes Pulver auf der schmauchenden Lampe platziert worden war. Zuerst zischte es und dann kam der Rauch—eine schwere rötliche Wolke. Mein letzter rationaler Gedanke war, den Atem anzuhalten, aber ich konnte nicht. Ein schwerer, süßer Geruch begann zu zischen und sich in der Luft zu kräuseln und die Wirkung traf mich beinahe augenblicklich. Mein Geist begann zu wandern, aber nach gerade mal wenigen Sekunden, hatte ich das Gefühl, dass die Bilder in meinem Kopf Wirklichkeit waren. Was ich zuerst sah, war eine schwarze Wolke, aber bald nahm sie Form an und ich sah einen Mann in dunkler Robe, der eine Axt hielt. Blut tropfte von der Schneide. So viel Blut. Er stand direkt vor mir, genau in diesem Zimmer. Ich sah einen jungen blonden Mann in Uniform, der in einer Lacke aus seinen eigenen Körpersäften lag. Sein Unterleib war beinahe gänzlich abgetrennt. Da waren noch andre Leute, die mir vage bekannt erschienen, aber zu jenem Zeitpunkt, konnte ich sie nicht erkennen. Meine Schwester. Mein Bruder. Mein kleiner Cousin. Meine Eltern. Meine Frau. Alle trieben durch eine Wolke aus dickflüssigem rotem Blut. Meine Haare, jedes einzelne Haar auf meinem Körper, begannen sich aufzurichten. Meine Augen wurden zu groß für meinen Kopf. Gleich würden sie platzen. Sie waren alle tot. Alle tot und es war meine Schuld. Der Mann mit der Axt drehte sich zu mir um. Seine Waffe schwebte über Holmes’ Körper, dessen Gesicht erstarrt und beinahe vollkommen weiß geworden war. Es schien mir, dass ich schrie, aber vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet.

Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich Holmes packte und mit einer großen Kraftanstrengung unsere beiden Körper zur Tür und hinaus auf die Grasfläche schleppte. Dort lagen wir nebeneinander, doch ich konnte immer noch den Arm meines Partners um meine Hüfte geschlungen fühlen. Herrliches Sonnenlicht wärmte uns und ein leichter Meereswind war zu spüren. Langsam begann sich mein Verstand wieder zu normalisieren. Die grässlichen Bilder flohen und meine Haut fühlte sich nicht länger klamm an. Ich wischte mir die Zunge mit meinem Taschentuch ab. Ich hätte schwören können, dass sie sich in Leder verwandelt hatte. Es gelang mir, mich ein wenig auf die Seite zu rollen, sodass ich sehen konnte, wie es um Holmes stand.

Er hustete stark, hatte die Hände mit schmerzverzerrtem Gesicht gegen die Brust gepresst. Was auch immer es für panische Bilder des Terrors es gewesen waren, die er im Geiste gesehen hatte, sie hatten einen schwerwiegenden Effekt auf ihn. Angesichts dessen, was ich von seiner Kindheit wusste, konnte ich mir sicherlich vorstellen, was er gesehen haben musste. Ich packte seinen Arm und zog ihn zu mir. Mit einem Stöhnen, das an einen Schrei grenzte, brach er an mir zusammen. Seit Atem ging immer noch keuchend und er war mit Schweißperlen bedeckt. Als ich meine Hand an seine Wange legte, merkte ich, dass sie eisig kalt war. Ich zog ihn enger an mich.

„John!“, rief er, ohne mich wirklich zu sehen. „John…“

„Das war eine dumme und gefährliche Idee! Wir hätten sterben können!“ Aber wie ich ihn in diesem Zustand sah, immer noch nicht völlig zu sich gekommen, konnte ich nicht wütend sein. Was auch immer in seinem Verstand geschehen war, war gewiss Strafe genug.

„Bei meinem Wort, Watson!“, sagte Holmes schließlich mit schwankender Stimme. „Ich schulde dir sowohl Dank als auch eine Entschuldigung. Es war ein ungerechtfertigtes Experiment, selbst wenn es nur die eigene Person betrifft, ganz zu schweigen von einem…ganz zu schweigen von dir. Es tut mir wirklich, wirklich Leid.“

„Das will ich wohl meinen…“ Und dann war es wieder still und wir beide sprachen nicht, saßen einfach nur in der Sonne und lauschten den Wellen, die sich selbst an den Felsen unter uns zerschlugen, bis ich schließlich das Risiko wagte und mich erhob. Holmes, in seinem ohnehin schon geschwächten Zustand, versuchte es gar nicht erst und ich ging in unser Cottage und holte eine Karaffe mit Wasser und den Flachmann meines Freundes. Beides würden wir leeren.

„Nichtsdestotrotz hat es genutzt“, sagte Holmes schließlich leise.

„Was meinst du?“

„Das Experiment. Du erkennst doch sicherlich, dass sich das kleine Problem aufgeklärt hat.“

„Ich kann dir ganz gewiss sagen, Holmes, dass ich nichts Derartiges erkenne. Willst du damit sagen, dass du den Fall gelöst hast?“

„Oh, ja…“ Er schwenkte das letzte Bisschen Wasser in seinem Glas herum. „Tatsächlich erwarte ich, dass er unser bescheidenes kleines Cottage in den nächsten Stunden mit seiner Anwesenheit beehren wird. Die Sonne ist angenehm heute, Watson. Ich werde hier auf ihn warten.“

Ich hatte keinerlei Absicht in jenes Zimmer zurückzukehren, das immer noch von einer todbringenden schwarzen Wolke erfüllt war und so machte ich es mir neben meinem Freund unter einer großen Eiche gemütlich und wartete auf etwas, das Holmes mit Sicherheit bereits bekannt war, er mir aber nicht erzählen wollte. Und doch war ich so erleichtert, dass wir gerade dem Tod entronnen waren, dass ich kaum verstimmt sein konnte.

„Was hast du gesehen?“, fragte er nach einiger Zeit.

„Gesehen?“

„Da drinnen. Als das Pulver deine Sinne überwältigt hat. Was hast du gesehen?“

Ich schluckte schwer, dachte an die Möglichkeit zu lügen. Aber er, der Meister, war immer in der Lage gewesen, es mir anzusehen. „Ich sah…beinahe jeden schrecklichen Augenblick meines Lebens. Alle auf einmal.“ Ich nahm einen weiteren Schluck Wasser, tat so als würde ich mich auf mein Getränk konzentrieren. „Es fühlte sich an…was ich sah, fühlte sich so an, als würde es gerade eben vor meinen Augen geschehen. Und doch konnte ich es nicht verhindern.“

Holmes Gesicht verzog sich zu einer Art Grimasse und er nickte. „Ich habe gesehen, wie du und dein Sohn in Stücke gerissen wurdet.“

„Was?“

Holmes sah mich eine lange Sekunde an und dann griff er in seine Westentasche nach seinem Zigarettenetui. Aber anstatt eine herauszunehmen und zu rauchen, drehte er das perfekt polierte Etui nur wieder und wieder in seinen langen, weißen Fingern. „Ich war derjenige, der es tat, Watson. Ich habe euch beide getötet. Mit meinen bloßen Händen.“

Wie konnte ich darauf antworten? „Es hat nichts zu bedeuten, Holmes.“

Er brauchte beinahe eine volle Minute, um zu antworten. „Das hoffe ich auf jeden Fall“, murmelte er.
 

Meine Gedanken verloren sich immer noch an meiner Nahtoderfahrung und Holmes’ Vision und so bemerkte ich es kaum, als Sterndale verstohlen auf dem Pfad direkt vor unserem Tor erschien. Sein borstiges Gesicht sah ausgezehrt aus, so als hätte er für mehr als eine Nacht keinen Schlaf gefunden.

„Ich habe Ihr Telegramm erhalten“, sagte er, die Stimme ein schroffes Knurren. „Und ich finde es erstaunlich, dass Sie vor gerade erst zwei Tagen nicht einmal bereit schienen, mir Auskunft über die Uhrzeit zu geben und nun behaupten Sie, Sie wollten mir alles gestehen.“

„Alles gestehen…“ Holmes’ Blick schlich in meinen. „Eine interessante Wortwahl. Aber es ist wohl kaum angemessen solche Angelegenheit hier draußen zu besprechen. Bitte treten Sie doch ein. Unsere kleine Hütte ist eines Gastes wie Ihnen kaum würdig, aber Ihre Erscheinung wird das Ambiente maßgeblich verbessern.“

Die Wolke hatte sich etwas verzogen und es schien wieder möglich, zu atmen. Ich zog die Vorhänge auf die Seite. Die Sonne schien herein und gab mir das Gefühl falscher Hoffnung. Holmes führte unseren Gast zum Sofa. „Sie trinken natürlich etwas?“

Sterndale zögerte kurz, dann nickte er. „Eine göttliche Eingebung sagt mir, dass ich es brauchen werde.“

„Dann sind Sie also religiös?“ Ich gab ihm ein Glas Scotch in seine gewaltige Pranke.

„Nicht im Geringsten. Es war mir in der Jugend aufgezwungen worden, aber durch meine Erfahrungen als Erwachsener habe ich meinen Glauben völlig verloren.“

„Die unglückliche Geschichte mit der Tregennisfamilie hatte zweifellos etwas mit ihrer Wut zu tun.“

„Was meinen Sie damit, Sir?“ Sterndale sah Holmes auf eine Art an, dass ich das Verlangen spürte, mich schützend neben meinen Freund zu stellen, aber bevor ich bei ihm war, war er schon fertig, mit dem was er gemeint hatte.

„Ich meine damit, Dr. Sterndale, dass Sie Mortimer Tregennis umgebracht haben. Und der Grund dafür ist die Tatsache, dass er den Mann getötet hat, den sie geliebt haben, Owen Tregennis.“

Einen Moment lang wünschte ich, dass ich eine Waffe bei mir hätte. Sterndales grimmiges Gesicht färbte sich zu einem dunklen Rot, seine Augen glühten und die knotigen, leidenschaftlichen Venen zeichneten sich auf seiner Stirn ab, als er mit geballten Fäusten auf meinen Gefährten lossprang. Dann hielt er inne und mit einer gewaltigen Anstrengung nahm er eine kalte, starre Ruhe an, die ihn vielleicht noch gefährlicher wirken ließ als sein hitzköpfiger Ausbruch davor. [2] Das Glass und der Rest von Alkohol fielen auf den Boden und zerbarsten. Die Hand des Großwildjägers hob sich an seinen Kopf und drückte gegen seine Schläfe. Ich muss gestehen, dass ich persönlich vollkommen sprachlos war. Aber der erwartete Protestausbruch kam niemals. Er saß einfach nur da und stöhnte über eine Minute lang, währenddessen ich kaum denken konnte und Holmes einfach nur da stand und ihn ansah. Ich werde wohl nie den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen. Es war eine höchst interessant Mischung aus Antipathie und Mitgefühl.

Schließlich erhob sich Sterndale, blickte neugierig auf das Glas auf dem Boden, als wäre er überrascht, es dort zu sehen und ging—unaufgefordert—zu unserer Anrichte und schenkte sich selbst einen doppelten Whiskey ein, den er sofort hinunterstürzte. Nach einer Reihe tiefer Atemzüge, drehte er sich schließlich zu uns um. „Woher wussten Sie es?“ Seine Stimme hatte jegliche Überlegenheit verloren.

Holmes erklärte seine Misstrauen darüber, dass der Großwildjäger ihn befragt hatte, sprach über das zurückgelassene Gepäck und wie er ihm zu dem Pfarrhaus und dann zu seinem eigenen Cottage gefolgt war. Er führte aus, wie Sterndale mehrere Hände voller Kiesel gegen Mortimer Tregennis’ Fenster geworfen und mit ihm gesprochen hatte, wie ihm Einlass gewährt worden war und wie er dann den ultimativen Akt der Rache begangen hatte.

Sterndale sprang auf. „Ich glaube, Sie sind der Teufel in Person!“, rief er.

Holmes quittierte das Kompliment mit einem Lächeln. „An der Leiche von Owen Tregennis fand ich einen Goldring, der mit einem kleinen afrikanischen Tansanit verziert war und weil ich Zufälle schwerverdaulich finde, gestehe ich, dass mir ihre Rolle bei der ganzen Sache klar wurde. Es war keine einfacher Schluss, aber ein logischer Denker darf keine Möglichkeit außer Acht lassen.“

Das Gesichts unseres Besuchers war so grau wie Asche geworden, als er den Worten seines Anklägers lauschte. Nun saß er eine Zeit lang in Gedanken versunken da, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann mit einer plötzlichen impulsiven Geste, zog er eine Fotografie aus seiner Brusttasche und warf sie auf den rustikalen Tisch vor uns. Das gut aussehende dunkle Gesicht des jüngsten Tregennis starrte uns entgegen, wie von jenseits des Grabes.

„Es muss für Männer wie Sie beiden Gentlemen schwer sein, sich so etwas Widerwärtiges und Unnatürliches vorzustellen, aber hören Sie mir zu—seit Jahren schon habe ich Owen geliebt. Seit Jahren schon hat er mich geliebt. Sie müssen verstehen. Wir wuchsen zusammen auf, fühlten das Leid des jeweils anderen als jüngster Sohn und vernachlässigt von der Liebe unserer Eltern. Er und ich…wir waren uns so ähnlich. Beide praktisch veranlagt und intelligent, aber dennoch träumten wir beide davon, einmal etwas in der Welt zu bewegen. Vielleicht hatte keiner von uns es beabsichtigt, dass wir…dass wir irgendetwas anderes für einander empfinden sollten als brüderliche Zuneigung, während wir davon sprachen, dass wir die Welt sehen wollten und von der Medizin, aber…“ Ein entsetzliches Schluchzen ließ seine massive Gestalt erbeben und er griff sich unter dem von grau durchzogenen Bart an die Kehle. Dann mit einer unglaublichen Anstrengung, brachte er sich wieder unter Kontrolle und sprach weiter. „Ich hatte keine Ahnung, dass eines seiner Geschwister Bescheid wusste. Wir hatten Roundtree in unser Vertrauen gezogen und Sie mögen das ohne Zweifel für eine merkwürdige Wahl halten, bedenkt man seine Profession, aber der junge Vikar ist der Ansicht, dass man den Sünder lieben sollte, wenn auch nicht die Sünde. Das war der Grund, weshalb er mir telegrafiert hatte und ich zurückgekommen war. Was bedeutete mir schon mein Gepäck oder Afrika, wenn ich erfuhr, dass meinen Liebling ein so schreckliches Schicksal ereilt hatte? Da haben Sie die fehlenden Informationen, Mr. Holmes“

„Fahren Sie nur fort“, sagte mein Freund.

Was als nächstes geschah, ist Ihnen, lieber Leser, mit Sicherheit bewusst. Dass Sterndale das Pulver im Detail erklärte, wie er unwissentlich Mortimer Tregennis von seiner Existenz informiert hatte und wie der älteste Bruder es benutzt hatte, um an seinen Geschwistern Rache zu nehmen. Sowohl für tatsächliche Verbrechen—von denen Francis Roundhay uns schließlich in Kenntnis gesetzt hatte—und für eingebildete Verbrechen—jene seines Bruders Owen.

„Mir war niemals bewusst gewesen, dass Mortimer über Owen und mich Bescheid wusste“, wiederholte Sterndale. „Nicht Brenda oder George, es war Mortimer, den ich am meisten fürchtete. Er war von der kalten, gefühllosen, unversöhnlichen Sorte, schon als Kind. Er hätte seinem Bruder niemals so beigestanden, wenn er es gewusst hätte, wie George und Brenda es getan hätten. Aber irgendwie hatte er es herausgefunden und diese üble Absicht zweifellos schon seit Jahren geplant. Immer auf die perfekte Gelegenheit gewartet. Und ich…ich habe sie ihm unwissentlich gegeben.“ Er hielt inne, blickte sich um und ich war mir nicht sicher, ob er nach mehr Alkohol suchte oder fliehen wollte.

Holmes runzelte die Stirn, schüttelte langsam den Kopf. „Sie dürfen sich nicht die Schuld an etwas geben, was Sie nicht vorhersehen konnten. Die Schuld liegt ganz und gar bei Tregennis.“

„Das ist Owen auch kein Trost“, sagte der große Jäger leise. „Oder George und Brenda.“ Nachdem er sich laut räusperte, schien er einen Teil seiner Fassung zurückzuerlangen. „Aber ich schweife ab und um zu meiner Erklärung zurückzukommen, ich fand mich in einer unmöglichen Position. Ich konnte mich nicht an das Gesetz wenden, denn dabei hätte ich weit mehr gestanden, als meine Ehre es gestattet. Und wer würde eine so abenteuerliche Geschichte schon glauben! Meine Seele schrie nach Rache. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Mr. Holmes, dass ich einen großen Teil meines Lebens außerhalb des Gesetzes verbracht habe und dass ich selbst es am Ende war, dessen Gesetzten ich folgte. Und so ging ich zu Tregennis und ich konfrontierte ihn mit seinem Verbrechen. Ich sagte ihm, dass ich sowohl als Richter als auch als Vollstrecker zu ihm gekommen war. Der Schurke sank in einen Sessel, gelähmt beim Anblick meines Revolvers. Ich zündete die Lampe an, gab das Pulver dazu und stellte mich außen vor das Fenster, bereit meine Drohung wahr zu machen und ihn zu erschießen, falls er versuchen sollte, das Zimmer zu verlassen. Er starb innerhalb von fünf Minuten. Mein Gott! Und wie er starb! Aber mein Herz war aus Feuerstein, denn er erlitt nichts, was nicht mein unschuldiger Liebling vor ihm hatte fühlen müssen. Da haben Sie meine Geschichte, Mr. Holmes.“ Er hielt inne und starrte meinen Freund an, so als versuchte er verzweifelt ihn mit seinem Willen dazu zu bringen, zu verstehen, zu erkennen. „Vielleicht, wenn sie eine Frau lieben würden, hätten Sie so gehandelt wie ich.“

Holmes schnaubte, aber es war keine Unhöflichkeit, so glaube ich, nur Ironie. Ich sah schnell weg. „Wenn ich Sie nicht hierher bestellt hätte, wenn ich Ihre Pläne nicht deduziert hätte, was hätten Sie dann getan?“

„Ich wäre nach Afrika zurückgekehrt, wo meine Arbeit erst halb getan ist.“

Die grauen Augen meines Freundes trafen meine, wenn auch kurz, bevor sie sich wieder ihrer Musterung Sterndales zuwandten. Er erhob sich und ging zum Fenster, so als läge die Antwort in den Fensterglas, das sein Speigelbild trug. Er verschränkte die Arme vor der Brust und dann sagte er, vollkommen ruhig und ernst: „Gehen Sie und tun Sie die zweite Hälfte.“

Sterndale schoss hoch, seine wuchtige Gestalt brachte den Sessel zum Quietschen, nachdem er so eine schwere Last tragen musste. Da Holmes uns seinen Rücken zuwandte, schien er unsicher, was er tun sollte. Ich schüttelte leicht den Kopf, als er sich hilfesuchend zu mir umdrehte, und dann ging er auf die Tür zu, er stand wohl unter Schock. „Ich weiß nicht, was ich zu Ihnen sagen soll, Mr. Holmes. Und für Sie gilt dasselbe, Doktor. Ich weiß, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die Gentlemen wie Sie beide unmöglich verstehen können, meine Herren, aber Ihnen beiden gilt mein ewiger Dank, was auch immer dieser Wert sein mag.“ Er verbeugte sich ernsthaft und war so endgültig und plötzlich verschwunden, wie er gekommen war.

Holmes setzte seine einsame Wache am Fenster noch einige Minuten lang fort, nachdem der Großwildjäger schon gegangen war und ich wusste es besser, als ihn zu stören. Ich fragte mich, ob er ihm nachblickte, wie er davontrottete, Richtung Klippen, wo er innerhalb weniger Tage allein auf einem Schiff ins tiefste Afrika aufbrechen würde, trauernd, aber sicher vor dem Arm des Gesetzes. Als mein Freund schließlich sprach, tat er es mit einer bedeutungsschweren, ernsten Stimme, die ich von ihm seit längerer Zeit nicht mehr gehört hatte. „Du würdest den Mann doch nicht denunzieren?“, fragte er.

„Ganz sicher nicht. Wie könnte ich? Ich kann kaum glauben, dass er es vor uns zugegeben hat.“

„Welche Wahl hatte er denn? Er hatte erkannt, dass ich alles wusste, und es zu leugnen, hätte ihm nur die Schlinge um den Hals gelegt.“

Ich fühlte eine plötzliche Verpflichtung, dass Offensichtliche auszusprechen. „Du hast ihn gehen lassen, Holmes. Dabei haben doch sicherlich deine eigenen Gefühle eine Rolle gespielt.“

Ich hatte geglaubt, das würde ihn verärgern, aber stattdessen drehte er sich um und lächelte ernsthaft, so als bereitete ihm diese bloße Handlung Schmerzen. „Vor zehn Jahren, vielleicht sogar vor fünf, hätte ich niemals so gehandelt. Aber ich habe geliebt, Watson, und wenn die Person, die ich geliebt habe, ein solches Ende gefunden hätte, dann hätte ich möglicherweise ebenso gehandelt haben, wie es unser gesetzloser Großwildjäger getan hat.“

Seine Worte berührten mich so sehr, dass ich nicht widerstehen konnte und zuließ, dass ein ungewöhnlich starkes Glücksgefühl durch meine Venen strömte. „Oh? Und wer mag diese Person sein, auf die Sie sich da beziehen, mein werter Herr?“

Als Antwort schlug er mir hart auf die Schulter, doch das ernsthafte Lächeln blieb. „Wir hören nicht auf Befehl auf zu fühlen, Watson“, sagte er kryptisch. „Und nun fühle ich mich ziemlich geschafft. Ich werde ein schnelles Abendessen zu mir nehmen und dann begebe ich mich in Morpheus’ Reich.“
 

Und so endete der Fall des Teufelsfußes und zu guter letzt fühle ich etwas Vergleichbares wie Stolz darüber, dass er endlich gewissenhaft so aufgezeichnet worden ist, wie es sich zugetragen hat, ohne jegliche Lügen und Halbwahrheiten. In vielen meiner Fälle, wie Sie zweifellos wissen, war ich zur Diskretion gezwungen und konnte nicht anders, als die Tatsachen ein wenig zu drehen, aber es erfreut mach, dass ich mich nun nicht verstecken muss. Dieser Zwang zur Heimlichkeit kostete Sterndale und Owen Tregennis die Chance auf Glück, wie es auch in meinem eigenen Leben lange Zeit der Fall war. Aber wenn es für diese beiden unglückseligen Männer nichts anderes gab als dunkles Verhängnis, was war dann mit mir und Sherlock Holmes? Würde uns dasselbe Schicksal ereilen? Zu jener Zeit hatte es diesen Anschein gehabt, aber, wie es in meinem Leben in Verbindung mit jenem Mann immer der Fall war, eine merkwürdigen Laune des Schicksals stieß mich ein weiteres Mal auf einen Pfad, von dem ich nicht gedacht hatte, dass ich ihn je wieder betreten würde.

Es begann, als in unserem kleinen Cottage ein Telegramm anlangte. Holmes konnte sich, nun da der Fall gelöst war, endlich erholen und das tat er auch. Er schlief den Großteil der Zeit und ich versuchte so zu tun, als hörte ich nicht, wie er nachts schrie und sich herumwarf, wie er sich in seinen Abfallkübel übergab und so stark schwitzte, dass er sein gesamtes Bettzeug durchtränkte.

Er gestattete mir nur wenig für ihn zu tun, außer ihm seine Mahlzeiten zu kochen. Allmählich normalisierte sich sein Appetit wieder. Normal für Holmes zumindest. Ich bestand darauf, dass er Wasser trank und versuchte ihn, so viel wie möglich abzulenken. Er wollte nichts gegen die Schmerzen nehmen, nicht einmal ein Sechstelgran[4] Morphium. Ich konnte ihn überreden, ein wenig Whiskey vermischt mit Ingwer zu sich zu nehmen, wenn die Magenkrämpfe unerträglich wurden, aber das war alles.

„So geht das nicht“, murmelte er, als ich versuchte, ihm etwas Wirksameres zu injizieren. „Dies muss ich ertragen, Watson. Muss es nun ertragen, damit ich es nicht wieder tun muss.“ Und dann stöhnte er, umklammerte seinen Unterleib und verlor das Bewusstsein.
 

Aber ich schweife ab und nach zwei Wochen schien der Mann deutliche Fortschritte zu machen. Ich bemerkte es zum ersten Mal, als er begann in seinem Essen herumzustochern und sein Verlangen nach Tabak stark anstieg. Mehrere Tage lang arbeitete er sich durch all die Bücher in dem Cottage, verschlang in kürzester Zeit, was er auswählte, bevor er das Buch beiseite stieß und zu einem anderen überging. Dann arbeitete er sich soweit vor, dass er sich tatsächlich anzog und in die Sonne setzte, gelegentlich an seiner Violine zupfte, aber meistens starrte er einfach nur stundenlang aufs Meer hinaus. Er sprach mit ihm, wenn ich ein Gespräch begann, aber es schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er schien zu erkennen, dass je früher er seine Verfassung zurückerlangte, desto früher würden wir abreisen. Desto früher würden die Dinge wieder so sein, wie sie gewesen waren.

Und dann als, nachdem die dritte Woche vergangen war, das Telegramm von einem ortsansässigen Jungen im Dienste der Post überbracht wurde, zwangen uns die Umstände das Unvermeidliche früher auf, als wir beide damit gerechnet hatten. Es stammte, ausgerechnet, von meinem Arbeitskollegen, Linwood Askew, und darin stand:
 

Haushälterin krank Stopp

Sofort nach Hause zurückkehren Stopp

Askew
 

__________________________________________________________________________
 

[1] Der Führer in Dantes Inferno

[2] Diese und die folgenden kursiven Passagen stammen direkt aus „Der Teufelsfuß“.

[3] Anm. d. Übersetzers: veraltete Maßeinheit (engl. ‚grain’), das sich wohl ursprünglich auf das Gewicht eines Weizenkorns bezog. (Für die, die es genau wissen wollen: 1 Gran = 64,79891 Milligramm)

Noch nie, wenn wir in die Baker Street heimgekehrt waren, hatte sie einen verlassenen Eindruck gemacht. Holmes und ich hatten natürlich keine Zeit verschwendet und waren sofort zurückgekommen, aber keiner von uns konnte sich vorstellen, was geschehen war. Holmes, der in den vergangenen Tagen einen Großteil seiner früheren Stärke zurück gewonnen hatte, war einmal mehr zurück in die Verzweiflung gefallen oder so schien es mir zumindest. Während der Heimreise im Zug hatte er sehr wenig gesagt. Er saß da, eingehüllt in einen wollenen Mantel, Muff und Schal, obwohl das Wetter ziemlich warm war, und beobachtete das Vorbeiziehen der Landschaft.

„Es kann sicherlich nicht so ernst sein“, sagte ich zu ihm in Bezug auf Mrs. Hudson. „Sie hatte immer schon die Energie einer Frau mit der Hälfte ihrer Jahre. Es darf nicht so ernst sein.“

Holmes sah mich scharf an. „Versuchst du mich zu überzeugen oder dich selbst?“

Ich antwortete nicht. Ich ließ ihn in seiner elenden Stimmung und versuchte positiv zu denken.

Aber zurück zur Baker Street. Ich kann mich nicht erinnern, unsere kleine Wohnung in der Nummer 221B jemals so dunkel und verlassen gesehen zu haben. Der Abend war angebrochen, doch niemand hatte die Gaslaterne neben der Türklingel angezündet. Auf den Stufen hatte sich der Schmutz und Staub einer ganzen Woche angesammelt. Als Holmes uns mit seinem Haustorschlüssel Einlass verschaffte, fanden wir das gesamte Haus schwarz wie die Nacht. Ein plötzlicher Schwall von Kälte kroch mein Rückgrad entlang. Irgendetwas war gänzlich falsch.

„Es ist niemand hier, Holmes“, sagte ich leise.

„In der Tat. Und das schon seit mehreren Tagen, wenn nicht länger.“ Er schob die Hände in seine Hosentaschen und blickte mit einem Stirnrunzeln in die Küche, wo die Überreste eines Frühstücks und ein Spülbecken voll mit dreckigem Geschirr lagen, alles war mit einer schmierigen weißen Schicht bedeckt.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo mein Sohn war, wenn nicht in der Baker Street. Das Telegramm hatte uns nur aufgefordert sofort zurückzukommen, ohne weitere Informationen. Wenn Mrs. Hudson schwer krank und im Hospital war, wer kümmerte sich dann um ihn? War er sich selbst überlassen geblieben? Ich hatte für meine neue Wohnung weiterhin eine Haushälterin beschäftigt, aber ich hatte sie für den Monat beurlaubt, da es keinen Sinn machte, ein leeres Haus sauber zu halten. Hier war niemand, dort war niemand und wohin sonst konnte er gehen?

Holmes grinste höhnisch, bevor ich ein Wort sagen konnte und setzte sich den Hut zurück auf den Kopf. „Nun, hier werden wir nichts erfahren. Es ist Sonntag und wir können annehmen, dass dein neuer Partner wissen wird, was geschehen ist. Hast du seine Adresse?“

„Adresse? Oh, ja…natürlich. Er wohnt in New Cavendish, glaube ich.“

Aber er eilte bereits die Stufen hinunter und winkte einer Kutsche. Ich schluckte schwer.
 

Ich bin überzeugt, dass Linwood Askew überrascht war uns beide zu sehen, obwohl er es gut verbarg. Als Junggeselle öffnete er die Tür selbst. Er trug nur ein bequemes Hemd und war gerade erst dabei, sich das Jackett anzuziehen. Erst viel später hatte ich die Zeit darüber nachzudenken, warum ich mir so sicher war, dass ihn der Anblick von Holmes und mir auf seiner Türschwelle schockierte. Ich kam zu dem Schluss, er hatte gedacht, dass wir nie mehr nach London zurückkehren würden.

Er bot mir seine Hand und schüttelte sie herzlich. Holmes nickte er lediglich kurz zu. Auch wenn ich mich damals wahrhaftig wenig um Höflichkeiten gekümmert hatte.

„Es tut mir wirklich sehr leid, John“, sagte er, während er uns hereinbat. „Ich wünschte, ich hätte Sie früher kontaktieren könnten, aber es gab anscheinend einige Unklarheiten bezüglich Ihres genauen Aufenthaltsortes.“

Immer diskret—ja, so war ich. „Ja, nun, es ist so…Holmes, er war…ziemlich krank und musste genesen. Ich hatte Mrs. Hudson von unserem genauen Reiseziel informiert, aber vielleicht wäre es besser gewesen“—

„Es ist gänzlich meine Schuld, Dr. Askew“, unterbrach Holmes meine ziellosen Worte. „Ich brauchte einen kurzen Urlaub aufgrund von Überarbeitung und wollte, aus augenscheinlichen Gründen, meine kurzzeitige gesundheitliche Schwäche nicht bekannt werden lassen.“

„Natürlich.“ Askews linke Augenbraue hob sich. „Ich bin mir sicher, dass Verschwiegenheit für einen Detektiv unerlässlich ist. Es ist nur eine Schande, dass Sie nicht rechtzeitig zurückkehren konnten.“

Ich fühlte, wie mir die Luft aus den Lungen gedrückt wurde. „Rechtzeitig? Wofür?”

Er blinzelte, so als wäre es offensichtlich. Aber bevor er antworten konnte, gab Holmes sich die Ehre. „Mrs. Hudson ist gestorben.“ Seine Stimme war ungewöhnlich sanft. Er wendete den Blick ab und ging nicht weiter darauf ein, woher er das wusste.

„Gestorben?“ Askew nickte. „Aber Sie sagten, sie war krank! Nur krank! Herr im Himmel!“

Wie konnte sie tot sein? So plötzlich? Der logische Teil meines Denkens kannte dutzende Wege und war als Arzt dazu in der Lage, die Symptome objektiv zu beschreiben. Ich hatte hunderte, wenn nicht tausende von Leichen gesehen—junge und alte, manche bis zur Unkenntlichkeit entstellt und andere so schön und makellos, wie sie es im Leben gewesen waren.

Es war allerdings einige Zeit her gewesen, dass mich ein Tod so schwer getroffen hatte.

„Es scheint Apoplexie[1] gewesen zu sein. Ihr Junge kam letzten Mittwoch in die Praxis gerannt und schrie, dass seine ‚Mrs. Hudson’ krank war, dass sie starb. Ich ging mit ihm in Ihre Wohnung“—

„Meine alte Wohnung“, sagte ich unwillkürlich. Ich konnte beinahe fühlen, wie Holmes neben mir erstarrte.

„Ja“, sagte Askew. „Natürlich. Nun, ich muss leider sagen, dass sie bereits verschieden war, als ich sie fand. Es muss sich um einen massiven thrombotischen Verschluss gehandelt haben, aber glücklicherweise bin ich mir sicher, dass es schnell ging. Eine Gnade, heutzutage.“

„Wie wahr“, knurrte Holmes.

Askew räusperte sich. „Sie müssen mich wegen dem irreführenden Telegramm für einen absoluten Widerling halten. Ich dachte nur daran, Sie zurück zu bringen und hatte mir überlegt, dass es angemessener sein würde, Ihnen die Nachricht persönlich zu überbringen. Es gab keinen Grund, Sie zu erschrecken, wenn es nichts gab, dass Sie tun konnten.“

„Wie wahr“, sagte Holmes ein weiteres Mal. Ich war zu nichts weiter fähig, als stumm den Kopf zu schütteln.
 

Mein Sohn war in James Parks’ Haus untergebracht. Von allen verdammten Orten. Aber dann erinnerte ich mich, dass mir Parks in einer heiklen Situation geholfen hatte und ich in seiner Schuld stand. Er glaubt, dass du ein Sodomit bist.

Ich kletterte hinter Holmes in eine Kutsche. Die Ironie brachte mich beinahe zum Lachen. Und wie ich einer war!

„Gibt es etwas Amüsantes, Watson?“ Seine Stimme war flach.

„Nein. Nichts. Selbstverständlich nicht.“

Askew war weit selbstbewusster gewesen, als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Und ich konnte sein Verhalten Holmes gegenüber nicht fassen. Ich hatte Wochen gebraucht, bis er endlich mit den exzessiven Fragen über ihn aufhörte. Und nun hatte Askew die Gelegenheit gehabt, ihn persönlich kennen zu lernen und dann nichts. Keine Aufregung, keine Nervosität. Er hatte einen aufrichtigen Eindruck gemacht, aber…

Verdächtig. Steckte da etwa wieder James Parks dahinter?

„Josh.“

„Was ist mit ihm?“

„Er wird mich für immer hassen“, murmelte ich. „Herrgott.“

Holmes rutschte auf seinem Sitzplatz herum, schweigend, bis unmittelbar bevor wir vor einem modischen Haus in Kensington anhielten, das ich nur zu oft mit meiner verstorbenen Frau besucht hatte. Er streckt plötzlich den Arm aus, drückte meine unverletzte Schulter und sagte: „Rede keinen Unsinn.“
 

Mrs. Parks, mit der ich an einem Zeitpunkt in der Vergangenheit vertraut genug gewesen war, um sie ‚Sarah’ zu nennen, öffnete die Tür selbst. Ich hatte sie damals seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, aber als sie meine Hand schüttelte, waren da immer noch das aufrichtige Lächeln und die Herzlichkeit.

„Es tut mir sehr leid, was mit Ihrer Haushälterin zugestoßen ist, Gentlemen. Mir ist bewusst, dass sie für Sie beide eine gute Freundin gewesen ist.“

Ich dachte an all die Kränkungen, die Mrs. Hudson über die Jahre erdulden musste. In der Form von Holmes’ gehaltlosen Beschwerden darüber, dass sie im Weg war, dass er sie dafür anschrie, dass sie seine ‚organisierte’ Unordnung aufgeräumt hatte und nach heißem Wasser verlangte. Sie hatte sich immer damit abgefunden. Ihre Hände hatten gezittert, als sie mir damals erzählt hatte, dass Holmes im Sterben lag[2]. Aber es war natürlich nicht wahr gewesen und ich wusste, dass sie es ihm niemals vollkommen vergeben hatte. Und doch erlaubte sie ihm zu bleiben. Und was noch wichtiger ist, er war tatsächlich geblieben. „Ja“, sagte ich. „Sie war in der Tat…gut zu uns.“

Holmes antwortete nicht. Er trat lediglich leicht von einem Fuß auf den anderen, die Hände fest hinter dem Rücken verschränkt. Ich sah weg. „Ich kann Ihnen nicht genug danken, Sar…Mrs. Parks, dafür, dass Sie sich um Josh gekümmert haben. Und ich sollte auch James meinen Dank aussprechen. Ist er…ist er zuhause?“

„Nein, ich fürchte nicht.“

Gott sei Dank.

„Josh ist ein entzückender Junge. Still. Wohlerzogen. Jungs können solche Rabauken sein.“ Sie lächelte. Holmes schnaubte.

Dann tauchten drei kleine Köpfe auf—oder besser gesagt, zuerst nur zwei. Ein Junge und seine Schwester, Parks’ Kinder. James hatte mir bei beiden Geburten assistiert und doch konnte ich mich kaum an ihre Namen und ihr Alter erinnern.

„Jimmie. Fannie.“ Mrs. Parks ging zu ihnen und nahm sie an die Hand. „Vergesst eure Manieren nicht. Ihr müsst Dr. Watson und Mr. Holmes Hallo sagen.“

Sie murmelten beide etwas Unverständliches in Richtung des Teppichbodens und rannten dann fort, während sie miteinander flüsterten. Beide sahen ihrem Vater sehr ähnlich. Ich hatte es vergessen.

Das dritte Kind zeigte sich. Mein Kind. Er sah gebadet und wohlgenährt aus; seine Kleidung wirkte gewaschen. Er war nicht gewachsen und er war auch nicht mehr gealtert als wenige Wochen. Und doch schien etwas an ihm anders zu sein. Seine Haut war blass; das Gesicht eingefallen, völlig ausdruckslos. „Na, da bist du ja.“ Mrs. Parks strahlte. „Schau mal wer zu dir nach Hause gekommen ist.“

Josh sah sie an und dann mich. Eine kurze Sekunde lang leuchteten seine Augen, bevor sie wieder trübe wurden. Er rannte geradewegs auf Holmes zu und stieß einen Schrei aus: „Onkel!“ Und dieser hatte keine andere Wahl, als den Jungen in seine Arme zu heben, wenn er nicht niedergetrampelt werden wollte.

Ich tätschelte linkisch seinen Rücken und murmelte „aber, aber“ oder eine andere unsinnige väterliche Beschwichtigung. Dankenswerterweise blieb mir weitere Verlegenheit erspart, denn er wehrte sich nicht dagegen. Er klammerte sich allerdings so fest an Holmes’ Nacken fest, wie er es mit seinen kleinen Händen nur konnte, das Gesicht an der Schulter des Mannes vergraben. Jeder würde ihn für den Sohn von Sherlock Holmes gehalten haben. Wer zum Henker war schließlich John Watson? Was spielte er im Große und Ganzen schon für eine Rolle?
 

Ich bedankte mich noch einmal bei Mrs. Parks und bat sie, auch ihrem Ehemann meine Dankbarkeit auszusprechen, ganz egal wie dankbar ich dafür war, dass ich ihm nicht begegnen musste. Ich nahm die kleine Tasche meines Sohnes, während Holmes meinen Sohn nahm, der sich immer noch an ihn klammerte wie ein Ertrinkender an ein vorbeifahrendes Boot. Ich hielt mit meinem Stock eine Kutsche an und als das Gefährt gemächlich auf uns zu rollte, setzte ich dazu an, Baker Street als unser Ziel anzugeben. Der tatsächliche Stand der Dinge machte sich mir sehr schnell bemerkbar.

Du lebst nicht mehr in der Baker Street, du alter Esel. Ich schloss meinen Mund. Holmes und ich sahen einander an, ich selbst voller Verwirrung er mit einer seltsamen Geduld, die der Kutscher offensichtlich nicht besaß.

„Nun, wo soll’s jetzt hingehen, Gentlemen? Hab’ nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Möglicherweise“, sagte Holmes mit merkwürdig ruhiger Stimme. „Möglicherweise, Doktor, wärst du so gut und bleibst ein paar Tage bei mir in der Baker Street.“

Ich zögerte, als sich mir zwei sehr feuchte blaue Augen flehend zuwandten. „Ich denke nicht, dass das wirklich angebracht wäre. Josh und ich sollten wahrscheinlich in die Wimpole Street zurückkehren. Nach Hause, meine ich.“

Mein Sohn stieß einen Schrei aus, der das arme Pferd halb zu Tode erschreckte. „Nein! Nein! Ich geh’ nicht mit dir! Ich geh’ mit Onkel!“

Ich war so schockiert, dass ich zurück taumelte. Ich hätte es niemals gewagt, so mit meinem eigenen Vater zu sprechen. Das hätte eine höllische Tracht Prügel bedeutet. Aber bevor ich ihn zurechtweisen konnte, hatte Holmes seine ernsteste Miene aufgesetzt. „Sei still, Junge“, sagte er streng. „Es gibt keinen Grund, zu kreischen wie eine Banshee. So, jetzt bleib hier bei der Kutsche und rühr dich nicht!“

Zu meinem Erstaunen gehorchte er noch in dem Moment, da er auf die eigenen Füße gestellt wurde, stand still und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg. „Watson, auf ein Wort, wenn ich bitten darf.“ Er packte mich grob am Arm und führte mich ein paar Schritte weg, sodass er nicht mithören konnte. Trotzdem sprach er mir direkt ins Ohr mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Zischen. „Jetzt ist nicht die Zeit für irgendwelche fehlgeleiteten Wahnvorstellungen“—

„Fehlgeleitete Wahnvorstellungen!“

„Mrs. Hudson ist tot.“ Sein Griff wurde fester. „Momentan sind wir die einzigen Menschen, die etwas für sie tun können. Sie liegt immer noch in der Leichenhallen, während wir hier sprechen.“

„Das—nun—ja, das ist wohl so.“ Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht.

„Briefe und Telegramme müssen aufgegeben werden, jemand muss mit einem Bestattungsunternehmen sprechen, alles muss arrangiert werden, ganz zu schweigen davon, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, was John Sherlock ertragen musste.“

„Was?“ Ich blickte über die Schulter zu seiner kleinen Gestalt. „Wie meinst du das?“

„Um Himmels Willen! Sie ist zweifellos vor seinen Augen gestorben. Und wir waren nicht da. Er hatte niemanden.“

Ich schluckte, war nicht länger fähig, ihn anzusehen. Ich erinnerte mich. Erinnerte mich, dass Phillipa Holmes vor den Augen ihres Bruders gestorben war. Und nun war meinem Kind etwas Ähnliches geschehen. „Verdammt“, murmelte ich und rieb mir die Augen. „Ja, ja, natürlich hast du recht. Wie gewöhnlich. Wir kommen mit dir zurück in die Baker Street. Zumindest bis—bis—zum Begräbnis.“
 

In den nächsten ein, zwei Tagen gab es keine Zeit zu ruhen oder gar sich mit Sorgen oder „Wahnvorstellungen“ zu beschäftigen. Der Junge weigerte sich nach seinem Wutausbruch, zu sprechen, selbst mit Holmes. Ich wusste nicht ansatzweise, was ich tun sollte, mein Kopf drehte sich bereits von dem plötzlichen Schock.

Zu allererst einmal war ich zu der unwürdigen Erkenntnis gezwungen, wie wenig ich in Wirklichkeit über Martha Hudson wusste. Sechzehn Jahre lang hatte sie uns bekocht, für uns gewaschen, ja sich geradezu um uns gekümmert und ich musste mich erst wie verrückt durch sorgfältig aufbewahrte Papiere und Briefe wühlen, um die Namen ihrer Freunde und Verwandten zu finden. Natürlich war Holmes, der sich an jedwede Fakten erinnert, denen er jemals ausgesetzt war, eine größere Hilfe und nannte sofort den Namen Judith Turner. Sie hatte für eine kurze Zeit die Wohnung ihrer Schwester übernommen, als Mrs. Hudson gegangen war, um sich um ihren sterbenden Sohn zu kümmern. Sie lebte in Surrey und wir gaben sofort ein an sie adressiertes Telegramm auf.

„Ich hoffe sicherlich, dass sie wissen wird, wenn wir sonst noch kontaktieren sollten“, sagte ich zu Holmes spät in der nächsten Nacht, als wir im Wohnzimmer saßen, wie wir es schon tausende Male zuvor getan hatten. „Zu meiner Demütigung muss ich zugeben, dass ich nicht einmal weiß, welche ihrer Kinder noch leben.“

Er schnaubte und hielt eine abgenutzte Bibel hoch. „Du vergisst das Offensichtliche. Laut dem, was hier steht, verweilen von ihren vier Söhnen nur Andrew, benannt nach seinem Vater und der älteste Sohn, und Robert Hudson, der dritte Sohn, noch in dieser Welt. Der zweite Junge, Seamus, starb ’88—daran erinnerst du dich doch sicher? Und der jüngste Sohn hieß Ian. Sein Todesdatum ist hier angegeben als Juni ’77, als er gerade mal zwanzig Jahre alt war.“

Holmes hielt einen Moment inne und es schien, als ob er mich beobachtete, ohne mich direkt anzusehen. „Sicherlich wird dieser Andrew Hudson in der Lage sein, seine Tochter zu kontaktieren. Julia“, sagte er. „Ich fand seine Adresse bei den Papieren unserer Haushälterin.“

„Julia?“, rief ich und setzte mich etwas gerader hin.

„Ja. Ich fürchte, ich konnte keine Adresse der jungen Vagabundin finden.“ Er erhob sich langsam und schritt hinüber zum Sodaspender. „Es ist wahrscheinlich, dass sie immer noch das Königreich mit einer Schauspielertruppe bereist.“

Später erkannte ich natürlich, dass er sie nur erwähnt hatte, um meine Reaktion darauf zu prüfen und ich war sicher, dass er sich keine große Mühe gegeben hatte, sie aufzuspüren. In jenem Moment allerdings war ich vollkommen überrascht—zum Teil, weil ich die reizende Miss Hudson beinahe vergessen hatte. Und zum Teil wegen der Schuld, die natürlich zusammen mit der Erinnerung an sie zurückkam. Ich würde es nicht leugnen, zumindest nicht jetzt, dass ich mich wegen meinem Verlangen nach ihr Holmes gegenüber grässlich benommen hatte.

„Ich…ich hatte Julia ganz vergessen, Miss Hudson meine ich“, sagte ich und ließ mir von Holmes einen zweiten Whiskey reichen.

„Hast du das?“

„Nun ja, vergessen vielleicht nicht. Ich meinte bloß, dass ich nicht an sie gedacht hatte. Sie wird natürlich am Boden zerstört sein, ohne Zweifel.“

„Ohne Zweifel wird sie eine ausreichend starke Schulter vorfinden, an der sie sich ausweinen und Trost suchen kann.“ Er setzte sich schwungvoll in seinen Armsessel und verschüttete einen Teil seines Getränks, was er mit einem leisen französischen Fluch quittierte.

„Ja, das wird sie sicherlich.“ Ich ignorierte absichtlich den vorwurfsvollen Tonfall.

Danach schwiegen wir beide für mehrere Stunden. Worte schienen nicht nötig und vielleicht hatte die Ungeheuerlichkeit der letzten achtundvierzig Stunden uns schließlich niedergedrückt. Keiner von uns drei hatte mehr gegessen als etwas hartes Brot oder überreifes Obst. Auch hatte keiner von uns dreien von der Zukunft gesprochen, wie anders es sein würde, jetzt wo Mrs. Hudson fort war.

Jegliche Entscheidungen, jegliche neuen Pläne oder Veränderungen, über die ich nachgedacht haben mochte, sei es nun bewusst oder anderweitig, waren verstümmelt worden, verstreut wie Staub in einer steifen Brise. Von den vielen Gedanken, die an mir nagten, konnte ich nur einen einzigen in Worte fassen: Julia.
 

Früh am nächsten Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, kam Mrs. Judith Turner an und übernahm das Kommando. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht, dünn und ledrig, und begann zu meiner Erleichterung sofort damit, die Küche wieder in Gang zu bringen. Der köstliche Geruch von frischem Porridge, Bratkartoffeln und Schinken war genug, um mir die Dame sympathisch zu machen, denn ich war am Verhungern. Wir waren uns natürlich schon einmal begegnet, vor vielen Jahren, als sie, wie Holmes gesagt hatte, Mrs. Hudson kurzzeitig vertreten hatte, weil diese nach Hause zurück gekehrt war, um sich um einen ihrer Söhne zu kümmern, der schließlich der Schwindsucht erlag. Sie lächelte freundlich, als sie das Frühstückstablett vor mich hinstellte und ich ihr sowohl meinen Dank als auch mein Beileid aussprach.

„Martha ist heimgekehrt, heim zu ihrem Andrew und den Kleinen. Ich bin sicher, dass sie von uns keine Tränen gewollt hätte, Sir.“

Ich war mir sicher, dass sie recht hatte, auch wenn ich bemerkte, dass sie sich mit der Schürze an die Augen fuhr, als sie mich mit einem einsamen Mahl alleine ließ. Sowohl Holmes als auch Josh schliefen noch. Und das taten sie auch noch, als ich fertig war. Da ich keinen der beiden wecken wollte, zog ich mich leise an und wollte nach meiner Wohnung sehen, die nun beinahe einen Monat lang gänzlich verlassen war.

Da ich dort alles vorfand, wie es sein sollte und ich Askew meiden wollte, entschied ich mich, nicht nach meiner Praxis zu sehen. Ich war immer noch nicht bereit dazu, ihm gegenüber zu treten.

Julia.

Ihr Gesicht, das während der letzten sechs Monate seit unserem ersten und einzigen Treffen in meinem Unterbewusstsein geschlummert hatte, kehrte langsam zurück. Als ich gemächlich zurück Richtung Baker Street spazierte, erlaubte ich mir, mich zu erinnern: die schöne Haut und das rotbraune Haar. Liebliche blaue Augen. Blaue Augen hatten mich schon immer ihren Bann gezogen. Ihre ungezwungene Art und ihre reizende Anmut. Sicherlich hatte jeder sehen können, wie gut wir miteinander ausgekommen waren. Und doch…

Was zur Hölle tat ich da eigentlich? Sie war praktisch gesehen immer noch ein Kind, konnte nicht älter als einundzwanzig gewesen sein und ich war, nun…wirklich alt genug, um es sowohl besser zu wissen, als auch ihr Vater zu sein. Und außerdem, was zum Teufel brachte mich überhaupt auf den Gedanken, dass sie als Schauspielerin keinen Erfolg gehabt hatte? Sie würde sicherlich nicht lange in London bleiben und in ein paar Tagen würde sie wieder fort sein und ich würde sie wahrscheinlich nur sehr selten sehen, wenn überhaupt. Und dann natürlich war da noch Holmes…

Ganz zu schweigen von Josh, der vielleicht nie wieder mit mir sprechen würde.

Ich rief nach ihnen beiden, als ich zuhause ankam, aber ich bekam keine Antwort. Die Tür zum Wohnzimmer stand leicht offen und gerade, als ich sie ganz aufmachen wollte, hörte ich Stimmen. Ich blieb stocksteif stehen und hörte zu.

„Ich würde mir wirklich wünschen, du würdest mit mir reden“, sagte Holmes gerade. Ich schob mich ein wenig näher zur Tür, sodass ich sie sehen konnte. Josh saß in meinem Sessel, die Arme um seine angezogenen Knie geschlungen, das Kinn darauf abgestützt. Sein Gesicht war hinter einem Arm versteckt. Er murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Sie trugen beide noch ihre Pyjamas.

Holmes saß gegenüber, wie er es oft mit mir tat, in seinem eigenen abgenutzten Korbsessel. Erstaunlicherweise rauchte er nicht, ein sicheres Zeichen, dass er sich Sorgen machte. Sein Gesichtsausdruck sah eindeutig danach aus. Oder etwa nicht? Vielleicht war es bloße Neugier. Die Brauen waren zusammen gezogen, die blassen Augen ein wenig verengt, während sie den Jungen eingehend studierten. Die Lippen waren verzogen, arrogant wie immer, genau wie das verdammte sture Kinn.

Aber die Stimme. Die Stimme war ruhig. Sogar sanft.

„Josh, mein lieber Junge, zwischen uns hat es doch niemals Geheimnisse gegeben. Oder? Ich will doch nichts, als dir zu helfen.“

Meine Hand rutschte ein Stück vom Türstock ab. Vor drei Jahren hätte nicht niemals geglaubt, dass Sherlock Holmes überhaupt dazu in der Lage war, so zu sprechen, so… liebevoll.

Der Junge hob den Kopf. Seine Wangen und Augen waren gerötet und seine Nase tropfte ein wenig. „Keine Geheimnisse, Onkel.“

Holmes reichte ihm ein Taschentuch. „Dann erzähl’ es mir. Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, was Geständnisse für die Seele tun können.“

Keine Geständnisse, Holmes. Ich fühlte, wie meine Augen sich schlossen.

Josh hatte sich die Nase geputzt und seinen Kopf gegen die Stuhllehnen gelegt, die nassen Augen zur Decke gerichtet. Ich habe niemals einen solchen Blick an einem Kind gesehen.

„Wir waren in der Küche“, begann er, die Stimme immer noch heiser vom Weinen. „Sie machte gerade einen Kuchen. Einen Zitronenkuchen. Und es roch so gut. Aber Mrs. Hudson rieb sich die ganze Zeit den Kopf. Sie sagte, dass sie sich nicht gut fühlte und dass sie hofft, du und Papa kommt bald nach Hause, damit sie sich eine Woche ins Bett legen kann“—

Holmes’ Arm zuckte näher zu seiner Brust. „Sie hat damit nicht gemeint, dass du eine Last warst.“ Seine Unterbrechung war so vollkommen herrisch und plötzlich, dass ich wusste, dass er in Wahrheit das Gegenteil dachte. Schuld begann meinen Magen zu fluten.

Joshs Stimme hob sich um eine Oktave. „Sie fiel auf den Boden…und sie schrie. Sie griff sich an den Kopf und dann hat sie aufgehört zu schreiben, aber sich immer noch bewegt. Da war Blut auf ihrem Gesicht und ihrem Ohr. Blut und ich…ich hab mir die Augen zugehalten und die Ohren. Ich hab sie nicht sehen wollen. Ich hab mir gewünscht, dass sie aufhört. Dass sie wieder aufsteht und den Kuchen fertig macht.“

Fast eine Minute lang schwieg Holmes und blinzelte nur. „Was dann?“

„Nun…es wurde dunkel. Niemand ist gekommen. Mrs. Hudson ist nicht aufgestanden und ich war furchtbar hungrig. Und ich konnte meine Beine nicht bewegen. Meine Beine waren ganz steif, weil ich mich nicht bewegt hatte. Ich hab’ versucht aufzustehen, weil ich aufs Klo musste. Aber meine Beine haben zu lange gebraucht. Ich…hatte ein Missgeschick.“

Seine Ohren und Wangen brannten rot, aber er sprach weiter: „Ich hab’ mir andere Sachen angezogen und bin rausgegangen. Ich wusste, dass Papas Freund, Dr. Askew, kommen würde, wenn ich ihn finden konnte. Ich wollte, dass er Papa holt, damit der Mrs. Hudson wieder gesund machen kann.

Ich hab’ ihn gefunden, als er gerade die Praxis verriegelt hat und bat ihn, nach Mrs. Hudson zu sehen. Er meinte, ich wäre doch Watsons Sohn, oder? Ich sagte ja, das bin ich und dass Mrs. Hudson krank war. Ich sagte, dass überall Blut war und dass ich zu lange gewartet hatte…

Ich wusste, dass ich früher hätte kommen sollen, aber das hab ich ihm nicht gesagt, weil ich dachte, er würde mich vielleicht schlagen. Er fragte mich, ob Papa schon zurück war und ich sagte nein. Er kam mit und wir sind zurückgegangen…sie war immer noch da und er fragte, wie lange sie schon tot war…“

Er hielt inne um zu schlucken und seine Wörter verrannen ineinander und er wirkte sehr kindlich.

„Er war sehr böse mit mir und schrie. Er sagte, ich soll in mein Zimmer gehen und dort bleiben, bis er herausgefunden hat, was mit mir gesehen soll. Ich hab geglaubt, dass man mich einsperren würde, weil ich Mrs. Hudson umgebracht hatte“—

„Du hast sie doch nicht umgebracht! Großer Gott, auf keinen Fall!“ Holmes schüttelte den Kopf und packte den Jungen bei den Schultern. Seine Augen waren erfüllt von wildem, bebenden Gefühl. „Ein seltsamer Zug scheint das zu sein, der da vom Vater auf den Sohn übergegangen ist und der beide dazu bringt, sich für Todesfälle verantwortlich zu machen, die sie genauso wenig hätten verhindern können, wie sie die Sonne vom Scheinen abhalten könnten!“

Er seufzte tief, nahm den Jungen und setzte ihn auf seinen Schoß, den einen langen Arm beschützend um ihn geschlungen. „Und dagegen ich selbst, der ich geradezu der Katalysator eines vorzeitigen Todes war und doch habe ich Jahre damit verbracht, vom genauen Gegenteil überzeugt zu sein.“

Ich weigerte mich, diese Worte in irgendeiner Weise auf mich wirken zu lassen.

„Und wie würde James Parks in diese Angelegenheit verwickelt? Ah, du brauchst nichts zu sagen! Er war sicherlich der Polizeiarzt, der damit beauftragt wurde, die Leiche wegzubringen und nach der Todesursache zu untersuchen. Wie lang hat dieser verkommene Askew dich allein gelassen?“

Josh zuckte mit den Achseln. „Es kam mir sehr lang vor. Ich war so unglaublich hungrig, aber ich hab mich nicht getraut ihn um ein Abendessen zu bitten, damit er nicht noch wütender wird. Also bin ich schlafen gegangen. Manchmal hab ich von unten Männer schreien gehört. Auch Möbel haben sie verrückt, glaub ich. Ich hab mich gefragt, ob mich vielleicht niemals jemand holen kommen würde. Nie mehr.“

Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Tritt in den Magen verpasst.

„Als ich aufgewacht bin, war Mrs. Parks da. Ich hab mich nicht an sie erinnert, aber sie hat gesagt, wer sie ist und dann hab ich mich erinnert. Ich war bei ihr zuhause. Sie war sehr nett und hat mir Suppe und Brot und Milch gegeben. Alle haben mir viele Fragen gestellt, wo du und Papa wart, aber ich wusste es nicht. Also haben sie mich zu Fannie und Jimmie und ihrem Kindermädchen geschickt, aber die waren ganz komisch. Ich mochte sie nicht.“

„Und warum mochtest du die Parkskinder nicht?“ Holmes Frage spiegelte die meine wider.

„Sie konnten nicht lesen. Und sie haben mich gehaut. Und einander. Manchmal auch das Kindermädchen. Einmal hat Fannie ein Buch nach mir geworfen.“

Holmes hob eine Augenbraue. „Was hast du getan?“

„Ich hab gesagt, dass kein Mann sie je heiraten würde, weil sie so gemein ist.“

„Ha! Wie wahr!“

„Onkel?“

„Ja?“

„Bist du und Papa nur wegen Mrs. Hudson zurückgekommen?“

Ich glaubte, ich sah, wie Holmes’ Augen sich verengten. Vielleicht lag ich falsch. „Was willst du wirklich fragen, Junge?“

Er zögerte, seine Kehle zog sich um den letzten Schluchzer zusammen. „Nun ich hab gedacht…vielleicht würdet ihr nie mehr wieder kommen. Vielleicht würdet ihr mich für immer verlassen.“

„Eine recht extreme Reaktion.“ Holmes’ Stimme war streng, dann sanfter. „Und doch kann es dir kaum vorgeworfen werden. Aber du glaubst doch nicht wirklich, dein Vater würde dich verlassen?“

Er zuckte mit den Schultern, zuckte bloß mit den Schultern, so als wäre die Frage, ob er das Gefühl hatte verlassen worden zu sein oder nicht, nicht wichtiger als welche Eiscremesorte er haben wollte. „Ich glaub’ nicht“, sagte er schließlich.

„Das würde ich niemals. Josh.“ Ich konnte nicht länger heimlicher Zuhörer bleiben. Als ich ins Zimmer trat, wandte er mir sein nasses Gesicht zu. Sein Mund öffnete sich leicht. Ich fühlte mich, als wären meine Füße am Boden festgenagelt. Keiner von uns bewegte sich.

„Josh“—meine Stimme wurde langsam heiser—„Bitte.“

Er stand auf, machte einen Schritt auf mich zu. Aber eine Hand blieb auf Holmes’ Knie. Ich konnte es kaum ertragen, vor meinem eigenen Kind zu weinen—solche Schwäche zu zeigen, aber am Ende versagte ich und brach völlig zusammen. „Es tut mir Leid, Sohn. So unglaublich Leid.“ Plötzlich war er in meinen Armen. Ich hatte ihn nicht kommen gesehen. Er klammerte sich an meinem Hals fest, wie er es am Tag davor bei dem seines Paten getan hatte, so als wollte er mich erdrücken. Es war mir egal.
 

Als ich schließlich aufgehört hatte, wie ein Narr zu schluchzen, sah ich, dass Holmes neben seinem Sessel stand. Zum ersten Mal seit Tagen lächelt er. Vielleicht sogar zum ersten Mal seit Wochen.

Am Tag vor dem Begräbnis, brach ich von der Baker Street auf, um Julia Hudson von ihrem Zug an der Victoria Station abzuholen. Als ich ihn fragte, ob er mich begleiten wollte, starrte Holmes mich nur finster an. Josh dagegen bettelte darum, mitkommen zu dürfen und ich konnte es ihm nicht abschlagen. Es war das erste Mal seit langem, dass er meine Gesellschaft der seines Paten vorgezogen hatte.

Mittlerweile war es beinahe April und das Wetter hatte sich zum Besseren gewendet und so gingen wir zu Fuß. Der Junge trottete neben mir her, schweigend, die Hände in seine Taschen gesteckt. Er starrte ständig zum Himmel.

„Wonach suchst du? Vögel?“

Er schüttelte den Kopf. „Glaubst du, Mrs. Hudson ist im Himmel? Bei Mama und meiner kleinen Schwester?“

„Natürlich tue ich das.“

Seine Augen verengten sich und er hatte große Ähnlichkeit mit jemandem, den ich nur zu gut kannte. „Aber woher weißt du, dass es den Himmel wirklich gibt? Vielleicht ist das nur Einbildung.“

„Das glaube ich nicht.“

„Du kannst das nicht sicher wissen.“

„Nun, ich würde sagen, das ist wahr. Aber was ich sehr wohl weiß, ist dass sowohl deine Mutter als auch Martha Hudson wundervolle Frauen wahren, Damen von höchstem Kaliber und wenn es einen Himmel gibt, woran ich glaube, dann sind sie beide mit Sicherheit jetzt dort.“

Er sah nicht überzeugt aus, selbst als er nickte.

„Darf man fragen, warum du plötzlich an der Existenz des Himmels zweifelst?“ Ich runzelte die Stirn. „Hat Holmes dir das eingeredet?“

„Oh nein. Onkel hat gesagt, dass es ihn gibt.“

Ich war geschockt. „Wirklich?“

„Er hat gesagt, dass es eine sehr kleine Zahl von Leuten gibt, die zu gut für diese Welt sind, die einfach an einen anderen Ort gehören…ich glaube, er hat es Paradies genannt. Ewig währendes Paradies. Diese Welt ist zu schändlich, als dass ihre Seelen hier verweilen könnten. Also muss es so etwas wie den Himmel geben…ich weiß nicht. Er hat ganz viele Sachen gesagt.“

Verblüfft konnte ich nichts anderes tun, als zu nicken. Ich hätte niemals gedacht, dass Sherlock Holmes etwas Derartiges glauben könnte. Auf seine Art und Weise machte es natürlich Sinn. Er würde daran glauben müssen, dass seine Schwester an einem solchen Ort war. Seine Schuldgefühle bezüglich ihres Todes (von deren Unrechtmäßigkeit ich fest überzeugt war), zwangen ihn dazu, sie an einem Ort zu sehen, der besser war als das, was sie auf der Erde gehabt hatte. Es war genau so, wie es mir mit Mary ging.

Wie unheimlich ähnlich wir beide uns manchmal waren.

Josh brachte das Thema nicht noch einmal auf und wir hatten eine angenehme Unterhaltung über Themen, wie sie für Vater und Sohn angemessen waren: Ausflüge zum Angeln, Bücher (im Moment war er begeistert von den Arthussagen), Fußball (worüber er so gut wie nichts wusste) und Tiere (worüber er eine ganze Menge wusste).
 

Als wir am Bahnhof ankamen, erfüllte der Geruch von Kohle unsere Nasen und stach in unsere Augen. Ich war plötzlich voller merkwürdiger Unsicherheiten. Etwa sechs Monate waren vergangen, seit ich sie gesehen hatte und ich machte mir Sorgen darüber, was ich sagen oder tun sollte. Wir hatten einander kaum mehr als einen Tag gekannt. Ich fragte mich, warum ich so ein dummer Esel war. ‚Sie ist doch nicht einmal hier, um dich zu besuchen, du alter Narr. Sie hat ihre Großmutter verloren. Das war es, was ich mir selbst einredete, aber ich glaubte meine eigenen Worte nicht. Meine Hände waren völlig verschwitzt.

Sie war die Erste, die aus dem Zug ausstieg und erkannte mich sofort. Sie war zwar für die Trauerzeit angemessen gekleidet, aber sie hatte eine entschiedene Fröhlichkeit an sich, die ihr Gesichtsausdruck nicht verstecken konnte. Ich sah darin nichts Verwerfliches. Sie konnte nichts dafür, dass sie ein von Natur aus lebensfroher Mensch war. Ihre Wangen und Augen glänzten und sie legte ihre Hand in meine, bevor ich auch nur Gelegenheit hatte, etwas zu sagen.

„Wie freundlich von Ihnen, dass Sie mich abholen, John! Sie müssen so erschüttert sein wegen Großmama“—sie hielt inne und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Das sind wir alle, meine liebe Miss Hudson.“ Ich drückte ihre Hand und griff nach ihrem Reisekoffer. „Und ich wünschte wirklich, dass es angenehmere Umstände wären, die dafür sorgen, dass Sie die Baker Street wiederum mit ihrer Anwesenheit beehren.“

„Julia“, erinnerte sich mich. „Ah, John! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was es bedeutet, wieder unter Freunden zu sein. So viele Monate lang bin ich nur unter Fremden gewesen…aber natürlich sollte diese Geschichte lieber ein andermal erzählt werden. Kleiner Josh, mein Liebling, es ist wirklich wundervoll dich wiederzusehen. Wie geht es dir?“

Er trat von Fuß zu Fuß, vermutlich peinlich berührt weil sie ihn „kleiner Josh“ genannt hatte. In seiner männlichsten Stimme antwortete er: „Es geht mir sehr gut, Ma’am. Und Ihnen?“

Sie lachte fröhlich. „So ein vollkommener kleiner Gentleman! Wie der Vater, so der Sohn, heißt es. Aber du musst mich auch „Julia“ nennen. Ich fühle mich noch kaum alt genug für solche Förmlichkeiten wie ‚Ma’am’. Und wir sind doch Freunde, oder Josh?“

„Ich glaub’ schon.“ Er war einen neugierigen Blick auf ihren Arm, der sich bei mir eingehakt hatte, bevor er mir in die Augen sah. Augenblicklich hatte er Miss Hudson um ihren kleineren Koffer erleichtert und hoppelte vor uns her. Ich fragte mich, was dieser Blick zu bedeuten hatte.

„Du musst ihn entschuldigen“, sagte ich, als wir langsam hinaus in den Sonnenschein traten. „In letzter Zeit sticht ihn der Hafer ein wenig. Und er hatte eine harte Zeit, seit Mrs. Hudson von uns gegangen ist.“

„Jungs sind nun einmal Jungs.“

Ich bot an, uns eine Kutsche zu nehmen, aber Julia bestand darauf, dass sie sich nach der langen Zugfahrt die Beine vertreten wollte. Der Junge trottete voraus, wobei er immer wieder anhielt und wartete, bis wir ihn eingeholt hatten, nur um dann wieder vorauszueilen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass er uns auf diese kindliche Art und Weise im Auge behalten wollte. Aber ich bezweifelte, dass Miss Hudson es bemerkte, also ließ ich es ihm durchgehen.

„Es ist wirklich schön Sie zu sehen, John“, sagte sie nach einiger Zeit. „Trotz den traurigen Umständen. Es fühlt sich an als ob… ich wieder unter Freunden wäre.“

„Das sind Sie in der Tat. Und ich glaube, ihr Onkel Robert sollte noch heute Abend eintreffen. Sie freuen sich sicher schon darauf, ihn zu treffen.“

Sie lächelte. Und antwortete nicht.

„Äh…“ Ich beeilte mich, das Thema zu wechseln. „Eine Schande, dass Ihr Vater Sie nicht begleiten konnte.“

Ihr Lächeln verblasste. Der Griff um meinen Arm wurde fester. „Oh, es tut mir Leid, meine Liebe. Habe ich etwas Falsches gesagt? Geht es ihrem Vater…nicht gut?“

Sie nickte langsam. „Schon seit Jahren nicht mehr. Der Fluch, der so viele anderweitig gesunde Männer dahinrafft.“ Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Alkohol, meine ich.“

Ich nickte und dachte an meine eigene Familie. „Das tut mir Leid. Ich habe auch meine Erfahrungen mit seiner üblen Macht. Nicht ich selbst, natürlich“, fügte ich schnell hinzu. „Aber sowohl mein Vater als auch mein Bruder.“

Es schien mir, dass sie erleichtert war, dass zu hören. Wir sprachen nicht mehr, bis wir in die Baker Street einbogen. „Wir haben scheinbar wirklich sehr viel gemeinsam, John.“
 

Robert Hudson und seine Frau Anne waren ausgesprochen umgänglich—zwar ein wenig reserviert, aber gewiss höflich und liebenswürdig, bedenkt man die Umstände. Er stammte aus der Arbeiterklasse—Vorarbeiter in einem Kalksteinbruch in Surrey, wo Martha Hudson den Großteil ihres Ehelebens verbracht hatte.

Sie erklärten schon vor dem Abendessen, dass sie sich auf ihr Hotelzimmer zurückziehen wollten. Ich protestierte und schlug vor, dass sie mein Zimmer nehmen könnten, aber sie wollten nichts davon hören. Das bevorstehende Begräbnis überschattete uns alle.

„Nun, sie sind mit Sicherheit ein liebevolles Ehepaar“, sagte ich, als sich die übrig gebliebene Gesellschaft von Holmes, Julia, Josh und mir an zu einem wundervollen Beef Wellington an den Tisch setzten.

Julia stimmte mir bereitwillig zu. „Sie haben sich schon in ihrer Jugend verliebt. Tantchen war die Tochter der Campbells, gute Freunde der Familie. Sie und Robert waren unzertrennlich.” Sie leckte sich sorgsam ein wenig Soße von der Lippe.

Holmes schnaubte. „Vielleicht sind sie sich nicht so vollkommen zugetan, wie es scheint.“

„Wie, Mr. Holmes?“ Sie schien schockiert.

Josh kicherte, sah meinen Blick und schaufelte sich sofort Kartoffeln in den Mund.

„Vergeben Sie mir, Miss Hudson. Ich meinte damit nur, dass der Eindruck oft täuscht.“ Er legte seine Gabel beiseite und mir war klar, dass wir uns auf eine lange Erklärung gefasst machen konnten. „Sehen Sie, ein Logiker, der auf Details bedacht ist, achtet auf die verschiedensten Dinge—wie nahe ein Paar beieinander sitzt, ob sie einander ansehen, wenn sie miteinander sprechen, oder nicht, ob sie einander tröstend am Arm oder an der Schulter berühren oder ob sie gar Trauer vortäuschen, um von ihrem Partner Mitgefühl zu erheischen.“

„Willst du damit sagen“—

„Sei still, Watson. Außerdem, Miss Hudson, stellt sich einem die Frage, ob es eheliches Pflichtbewusstsein oder wirkliche Zuneigung ist, die einen Partner dazu bringt, dem anderen bedingungslos zu folgen, trotz der Gefahr oder der Angst vor dem Ungewissen. Wie faszinierend es doch wäre, zu sehen, wie ein Paar miteinander umgehen würde, wenn ein Schwur der Liebe, Ehre und des Gehorsams beiseite gelegt werden könnte. Das wäre eine wahrhaftig kontrollierte Umgebung, frei von externen Variablen. Wenn eine Person den eigenen Gewinn missachtet, gar öffentliche Blamage oder Verachtung riskierte, einfach weil diese Person jemanden liebt und ihm vertraut, bis zu dem Punkt, wo es gewiss ist, dass sie einander wehtun werden, dann könnten wir wahrhaftig sehen, wie sehr sich ein Paar liebt.“

Julia blinzelte mehrmals. „Sprechen Sie aus persönlicher Erfahrung, Mr. Holmes?“

„Es ist nur ein Theorem, Miss Hudson. Nur ein Theorem.“

Ich brachte nichts anderes heraus, als ein Seufzen, das zu einem Stöhnen wurde. Josh starrte mich böse an.
 

Das Begräbnis war ruhig, würdevoll. Genauso wie Mrs. Hudson es gewollt hätte. Es fand im baufälligen kleinen Gebäude der St. Stephens in Marylebone statt, wo unsere Haushälterin beizeiten den Gottesdienst besucht hatte.

„Sie war keine regelmäßige Kirchgängerin“, erzählte mir Julia gerade, als wir auf den Beginn der Messe warteten. Sie war den ganzen Tag lang nicht von meiner Seite gewichen. „Es war eher so, dass Großmama…oh, wie sagt man so etwas über eine Tote? ‚Ihren Glauben verloren’ ist wohl der höfliche Ausdruck? Das hatte sie zumindest teilweise.“

„Man kann es ihr kaum vorwerfen. Sie musste schließlich einen Ehemann und zwei Kinder zu Grabe tragen“—

„Eigentlich drei.“

„Drei?“

Sie nickte mit ihrem bebenden kleinen Kinn. „Es gab eine Tochter in der Familie. Zwischen Papa und Onkel Seamus. Lilian hieß sie. Sie starb im Alter von drei Jahren an Influenza.“

„Wie tragisch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Die arme Frau.“

„Und es ist kein Wunder, dass sie Ihren kleinen Sohn so außerordentlich gern hatte. Blond und blauäugig genau wie ihre Lilian. Die Einzige in der Familie, die keine roten Haare hatten, wie sie mir einmal erzählt hat. Josh war für sie wirklich wie ein eigener Sohn, wissen Sie.“

„Ja, ich weiß.“ Ich sah zu dem Jungen hinüber, der sich eine Reihe von uns entfernt hingesetzt hatte. Im Moment stand er stoisch neben seinem Paten, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Er versuchte verzweifelt den kalten Gesichtsausdruck des Älteren zu kopieren. Er sah älter aus als seine fünfeinhalb Jahre. Vielleicht war es der schwarze Anzug. Die Augen, dachte ich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich damit meinte. Er sah auf und sagte leise etwas zu Holmes, der kurz nickte, bevor er sich in meine ungefähre Richtung umwandte. Ich vermied Augenkontakt. Ich wusste, dass er Begräbnisse verabscheute. Kirchen verabscheute, was das anging. Und mit großer Wahrscheinlichkeit verabscheute er auch, wie viel Zeit ich mit Julia verbrachte. Dass ich ihn vernachlässigte, vermute ich.

Oder war es gar nicht so? Es sah dem Mann nicht ähnlich, nicht meine Nähe zu suchen, wenn er meine Gesellschaft wünschte, auch wenn er niemals direkt zugab, dass er mich brauchte. Seine Zurückhaltung während dieser letzten Tage mochte etwas anderes sein als Eifersucht. Trauer? Er hatte Martha Hudson wirklich gern gehabt; niemand würde das bestreiten. Vielleicht Betrübnis darüber, dass unser eigentümliches Arrangement nun, wo wir wieder in die Zivilisation zurückgekehrt waren, anhalten würde. Ich seufzte schwer. Er war ein viel zu komplexes Rätsel, als dass ich es lösen konnte.

Julia tätschelte mir liebevoll die Hand. „Ich weiß, John. Es ist so schwer zu glauben, dass sie wirklich fort ist.“

Ich nickte und schämte mich ein wenig für meine Gedanken. Heute geht es nicht um Sherlock Holmes. Ich konnte allerdings nicht anders, als ihn zu beobachten.

Der Gemeindepfarrer war gerade dabei seine Dissertation zu beenden. Es ging um die vergängliche Natur von Leben und Tod, darum, dass das die Guten belohnt und die Sünder bestraft würden… nun, jeder von uns hat derartige Predigten sicherlich schon dutzende Male gehört. Ich gestehe, dass ich ihm kaum zuhörte.

Robert Hudson, Holmes, ich selbst und drei andere Männer, die, wie ich später erfuhr, die Söhne von Judith Turner waren und darum die Neffen von Martha Hudson, wir erhoben uns, um unsere Plätze als Sargträger einzunehmen. Wir trugen unsere Haushälterin zu der Kutsche, die sie zu ihrer letzten Ruhestätte bringen würde. Holmes warf mir einen kurzen Blick zu, er sah so aus, als wollte er mir etwas sagen, aber der Anstand zwang ihn zum Schweigen. Seite an Seite marschierten wir nach draußen begleitet von den müden Akkorden einer uralten Orgel.
 

In meiner Erinnerung war die Beisetzung selbst sehr schnell vorüber. Ich hatte entsetzliche Kopfschmerzen, spürte die Belastung, der der Sarg meine diversen Wunden ausgesetzt hatte. Die arme Julia stand ganz neben sich. Sie schluchzte in ein Taschentuch, die andere Hand lag Trost suchend auf meiner, was ich ihr bereitwillig gewährte. Was sonst hätte ich tun sollen? Das arme Lämmchen war so allein auf der Welt.

Ich schaffte es, nicht zu Holmes zu sehen, indem ich Julia meine ganze Aufmerksamkeit schenkte, doch gegen Ende, als der Sarg langsam ins Grab gelassen wurde, konnte ich nicht länger widerstehen. Seine Augen waren trocken, wenn auch gesenkt und voller Emotion. Der Junge dagegen war eine andere Geschichte. Stille Ströme von Tränen ergossen sich über seine runden Wangen. Aber wie ein kleiner Soldat machte er kein Spektakel daraus. Mir kam der Gedanke, dass ich es ihm vielleicht nicht hätte erlauben sollen mitzukommen. Ich hatte vergessen, wie jung er noch war.

Vielleicht konnte das entschuldigen, erklären, warum ich ihn damals nicht getröstet habe. Vielleicht hatte ich geglaubt, dass er mich nicht wirklich brauchen würde, wo er doch schon mehrmals ohne mich zurecht gekommen war. Wie auch immer die Entschuldigung lauten mag, die ich mir selbst zugestand, einmal mehr war es Holmes, der den Tag rettete.

Er legte eine Hand auf die Schulter meines Sohnes, murmelte etwas aus dem Mundwinkel. Josh wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und stellte sich näher zu seinem Onkel. Seine Hand verblieb mehrere Minuten lang auf der Schulter meines Sohnes, bis die letzte Schaufel Erde gefallen war und sie diese Welt endgültig verlassen hatte.

Schweigend führte ich Julia weg vom Grab, genauso wie Holmes John Sherlock wegführte. Beide schluchzten sie furchtbar. Keiner von uns wagte zu sprechen.
 

Am darauf folgenden Tag unternahm ich mit Miss Hudson einen Spaziergang im Regent’s Park. Josh darum bettelte, mitkommen zu dürfen, aber ich schob ihn auf Holmes ab, der einen merkwürdigen, elenden Eindruck auf mich machte, er wirkte, so als fürchtete er, allein gelassen zu werden.

„Du könntest ihm die Zeit vertreiben, bis er einen Fall hat“, sagte ich dem Jungen.

Er sah mich misstrauisch an. „Aber er hat doch schon Fälle. Schau.“ Und tatsächlich, mehr als ein Telegramm hing vom Klappmesser durchbohrt über dem Kamin.

„Nun, ich vermute, dass ihn keiner davon interessiert. Das ist auch nicht wichtig. Es wird sicher einer kommen, dem er nicht widerstehen kann.“ Ich gab ihm einen Klaps auf den Hintern und scheuchte ihn weg, bevor er mir irgendetwas sagen konnte, was ich nicht wissen wollte.
 

Nun da sich der März seinem Ende zuneigte, war das Wetter wärmer geworden der wohlbekannten Redewendung zum Trotz. Ich war froh, dass ich meine schweren, schwarzen Anzug aus Breitgewebe gegen einen aus leichteren Material eintauschen konnte und fühlte mich sehr wohl in der Öffentlichkeit mit der wunderschönen Julia Hudson am Arm. Es war eine Freiheit, die ich mit Sherlock Holmes niemals hatten haben können.

Wir plauderten fröhlich und ungezwungen, vermieden die traurige Angelegenheit, der wir am Vortag ausgesetzt worden waren, und konzentrierten uns stattdessen auf unsere Vergangenheiten.

„Ihr Vater hat Sie in Aviemore großgezogen?“, fragte ich, als wir den Outer Circle umkreisten. „Eine wundervolle Stadt. Ich war einmal dort, in meinen Collegetagen. Ich war auf der Durchreise nach Inverness.“

„Wir sind viel umgezogen, Pa und ich. Er war ruhelos. Ein Überbleibsel aus seinen Armeetagen. Suchte immer nach einem Neuanfang, nach einer weiteren Chance. Und immer ganz egal, wie viel versprechend die Umstände auch schienen, immer war es die Flasche, die alles ruinierte.

Nach Mamas Tod war er nie wieder der Alte“, fuhr sie fort. „Und er, ein stolzer Mann des Militärs, hatte immer auf einen Sohn gehofft, den er zu einer erfolgreicheren Version von sich selbst formen konnte. Oh, ich will damit nicht sagen, dass er mich nicht liebt. Ich weiß, dass er es tut, auf seine Art. Er hat sich dafür entschieden, mich selbst aufzuziehen, anstatt mich zu Großmama oder anderen Verwandten zu schicken. Aber ich habe immer seine leichte Betrübnis darüber gespürt, dass ich kein Sohn geworden bin.“

Einen Moment lang herrschte Stille und ich fragte mich, ob sie, indem sie mir dies erzählte, mich mit ihrem Vater verglich. Mich vielleicht sogar als Vaterfigur sah. Unsinn. Das ist doch lächerlich. Musste es sein.

„Wie glücklich Sie mit ihrem Sohn sein müssen“, fuhr sie fort. „Es muss den Verlust Ihrer Frau ein wenig erträglicher gemacht haben, dass Sie wussten, dass Sie bereits jemanden haben, der Ihren Namen weiter trägt.“

Ich hatte noch nie so über Marys Tod gedacht. „Nein…nun…ich wäre auch mit einer Tochter sehr glücklich gewesen.“ Ich räusperte mich. „Es ist so, dass meine Frau gerade ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, als sie starb.“

„Ist das so?“ Sie drückte meinen Arm fester. „Oh, John! Das tut mir so Leid.“

„Mir auch. Mary hatte… Probleme, was die Mutterschaft angeht. Joshs Geburt war furchtbar für sie und Mutter und Kind hatten es kaum überlebt. Ich hatte ihr gesagt, dass wir nicht“—ich brach ab. „Aber sie hat darauf bestanden. Sie wollte weitere Kinder.“

„Wie tapfer von ihr. So viel zu riskieren. Ich bin mir sicher, dass Sie sie sehr geliebt haben.“

„In der Tat.“

Wir gingen schweigend weiter, bis wir eine Bank in der Nähe von Primrose Hill erreichten, auf der wir uns eine Minute lang ausruhen wollten. Wundervoll Büsche voller rosafarbenen Rosen wuchsen überall rund um unseren Sitzplatz und ich konnte nicht anders, als meiner Begleitung eine zu pflücken. „Für mich waren Rosen schon immer die lieblichsten Blumen“, sagte ich, als ich sie ihr reichte.

„Oh ja.“ Sie gab mir einen unschuldigen kleinen Kuss auf die Wange. „Aber Lilien bin ich auch ganz verfallen. Ganz besonders orientalische Lilien. Papa und ich haben zuhause welche angepflanzt. Und sehr erfolgreich, will ich hinzufügen.“

„Nun, das werde ich mir merken müssen.“

An jenem Tag fühlte ich mich, als wäre ich selbst nicht älter als einundzwanzig. Ich redete mir selbst ein, dass es so war.
 


 

Die folgende Szene, geschrieben von John S. (Josh) Watson, wurde dem ursprünglichen Text nachträglich hinzugefügt.
 

Mycroft Holmes saß im Fremdenzimmer umgeben von einem ausladenden Teeservice. Tatsächlich betrat er seinen Klub um jene Tageszeit nur selten ohne irgendeine Art von Stärkung. Und der Diogenes Club bot einen besonders guten Tee an. Als eines der Gründungsmitgliedern hatte er darauf bestanden.

Er wollte sich gerade ein besonders gut aussehendes Rosinentörtchen schmecken lassen, als sein Bruder das Zimmer betrat. So nonchalant eintrat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Doch Mycroft war nicht überrascht. Tatsächlich überraschte ihn nichts, was Sherlock tat. Ihn zu sehen, war etwas…irritierend war vielleicht das angemessene Wort. Was noch dadurch verstärk wurde, dass er irgendeine Art Kleinkind dabei hatte.

Mycroft Holmes hatte nur wenig Erfahrung mit Kindern. Ihm waren sie am liebsten in Schulen, in Kinderwägen, überall, wo sie ihm nicht in die Quere kamen. Sein massives Gesicht studierte das hagere seines Bruders. Er ist krank gewesen. Das verdammte Kokain, wie ich vermute. Und das Kleinkind gehört zweifellos dem guten Doktor. Wenn wahre Liebe doch nur nicht mit dem Herzen statt dem Verstand sehen würde. Das hatte er irgendwann einmal irgendwo gelesen. Vermutlich bei Shakespeare.

„Nun, Sherlock. Ich vermute, du bist also doch nicht tot. Ich hätte gedacht, dass du nur über deine Leiche nach Cornwall zurückkehren würdest. Doch hier bist du, immer noch lebendig.“

„Genau wie du, erstaunlicherweise.“

Er war offenbar nicht in Stimmung für schlechte Witze. Mycroft schnaubte. Es war nicht so, dass er seinen Bruder gerne leiden sah. Natürlich war es nicht so. Er hatte ihn schließlich zu der ganzen Sache ermutigt, obwohl er es eigentlich besser wusste und den Gesetzen des Landes, dem er so ergeben war, zum Trotz. Seinen Bruder leiden zu sehen, brachte ihm keine Freude. Aber er konnte nicht sagen, dass er es nicht erwartet hatte. Das hatte er. Und er wusste, dass auch Sherlock es vorhergesehen hatte. Das Gewicht der ganzen letzten Hoffnung[3]. „Tee?“, bot er an. „Und du solltest wirklich Platz nehmen. Was ist das?“ Er wedelte seine Hand in Richtung des Jungen.

Der Bruder schenkte etwas Tee ein, gab eine großzügige Portion Zucker hinzu und reichte dies seinem Begleiter. „Mein Gewissen. Außerdem mein Patensohn. Watson junior.“

„Hmm.“ Mycroft studierte den Jungen, leicht amüsiert darüber, dass jemand einen Holmes zum Paten ihres einzigen Kindes machen sollte. Ganz besonders in Anbetracht der Tatsache, dass er damals für tot gehalten worden war und so wohl kaum seine Patenpflicht hätte erfüllen können. Eine vielsagende Angelegenheit. Sherlock Holmes hatte mit Sicherheit erkannt wie vielsagend. Natürlich hatte er das. „Dann wirst du dich wohl einigermaßen dafür interessieren, würde ich meinen.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Törtchen zu.

„Onkel sagt, dass du sein Bruder bist und dass du sogar klüger bist als er.“

„Oh, sprechen kann es also auch? Nun, kleiner Mann, wenn es das ist, was dein… Onkel sagt, dann muss es wohl so sein.“

Sherlock schnaubte. „Du benimmst dich wirklich wie ein dummer Esel.“

„Du warst es, der in mein Refugium eingedrungen ist.“

„Und dir ist doch sicher klar warum.“

„Ist das so?“ Er schob sich den letzten Rest Naschwerk in seinen breiten, krötenähnlichen Mund.

„Natürlich.“

Weil die Liebe deines Lebens plötzlich entschieden hat, dass er der männlichen Berührung nun doch nicht den Vorzug gibt. Nur ‚die Liebe seines Lebens’—nein, das passt nicht. Nicht im Geringsten. Der einzige Mensch, dessen Anwesenheit er länger als ein paar Minuten ertragen kann? Mycroft grinste voller Zynismus. Die Wahrheit lag ohne Zweifel irgendwo dazwischen. „Nun, vielleicht sollten wir das Gewissen zu Rate ziehen. Sag mir, mein Junge, was denkst du darüber?“

Aber der Junge hatte Angst davor, seine Meinung zu sagen. Der Bruder seines Onkels war nicht freundlich, überhaupt nicht wie sein Pate. Er glaubte, er selbst könnte mit demselben Genuss verzehrt oder zerquetscht werden, mit dem jener gewaltige Mann das Törtchen zerstört hatte.

„Nur zu, Josh.“ Das Gesicht seines Onkels blieb steinern, aber der Ton seiner Stimme war ermutigend.

„Ich denke“, sagte der Junge, „dass Sie hier in der Nähe arbeiten. Näher als Ihr Zuhause. Das weiß ich, weil Sie in diesem Sessel hier schlafen. Und der Korb hat diese Abdrücke an Ihrem Hals gemacht. Wenn Sie näher bei Ihrer Arbeit wohnen würden, würden Sie dort ein Nickerchen machen. Nicht hier.“

Mycroft schnaubte. Sein Bruder grinste.

„Und Sie haben keine Frau.“

„Warum? Weil du keinen Ring siehst?“

Josh schüttelt den Kopf. „Ihr Kragen ist hinten ganz zerdrückt. Das war der von meinem Papa auch immer und meine Mama hat das gerichtet. Wenn Sie eine Frau haben würden, würde die das auch für Sie machen.“

„Nicht sehr wissenschaftlich“, knurrte Mycroft.

„Außerdem hat Ihr Vater sie lieber gemocht als Onkel.“

Die Brüder starrten ihn beide an. „Das lässt sich kaum bestreiten“, sagte Sherlock.

Aber Mycroft winkte ab. „Er hat gewiss gesehen, dass ich die Taschenuhr unseres Vaters trage. Die Tatsache, dass ich älter bin und dadurch das Recht dazu habe, hat er nicht bedacht.“

„Aber Sie haben auch seinen Ring.“ Der Junge zeigte auf den Siegelring auf dem kleinsten Finger des Mannes. „Es ist ein alter Ring und auch wenn Sie alt sind, glaube ich, dass es der von Ihrem Vater war. Und Onkel hat gar nichts von ihm“

Mittlerweile lachte Sherlock.

„Nun“, sagte Mycroft. „Dir hätte auch auffallen können, dass ich für die Regierung arbeite, übergewichtig bin und zu viel Bordeaux trinke oder diverse andere Deduktionen, die alle wesentlich nützlicher wären, als die offensichtlichen Tatsachen, dass ich faul und unverheiratet bin. Aber es ist zufrieden stellend für ein Kleinkind, würde ich sagen.“

„Ich bin fünf. Fast sechs“, sagte der Junge. „Ich bin kein Kleinkind.“

„Hier, nimm dir ein Törtchen.“ Er stieß den großen Silberteller in Richtung des Jungen. An seinen Bruder gewandt fügte er hinzu: „Du hast dir also einen kleinen Zeitvertreib gefunden. Wenn du nicht damit beschäftigt bist, zu schmachten und dich nach“—

Sherlock brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

„Soll das heißen, dass es nichts weiß?“

„Gemäß den Wünschen seines Vaters.“

Mycroft rieb sich eines seiner Kinne, während er zusah, wie sich das Kind etwas Barm Brak[4]in den Mund schaufelte. Er kaute misstrauisch, aber seine Augen waren vollkommen aufmerksam. Er konnte beinahe sehen, wie seine Ohren sich anstrengten, damit er nicht ein einziges Wort von dem verpasste, was die Erwachsenen sagten. Es war ein Anblick, den der Mann nur zu gut kannte. Er musste an seinen jüngeren Bruder denken. „Ich denke, dass er bereits bescheid weiß.“

Sein Bruder nickte. „Sehr wahrscheinlich.“

„Hm! Was würde dein galanter Doktor wohl dazu sagen?“

„Papa wird Julia Hudson heiraten.“

John Sherlock sagte es so exakt, so selbstverständlich, dass sich Mycroft Holmes beinahe an seinem Tee verschluckte. Irgendwie schockierte ihn diese Aussage. Ein dummer Fehler—warum sonst das Elend, das Kokain, die Anwesenheit des Kindes? Wenn man all das zusammennahm, ebenso wie die Tatsache, dass er hier war, dann war der Fall sicherlich hoffnungslos. Nun, es hätte offensichtlich sein müssen. Er hätte es deduzieren sollen. Er schob die Schuld auf die irritierende Anwesenheit des Kindes.

„Ist das so, Sherlock?“

Sein Bruder nickte, das Gesicht geziert von Erschöpfung. „Am ersten September in der St. Micheal’s. Ich soll der“—er lächelte schief—„Trauzeuge sein. Zum zweiten Mal soll ich neben ihm stehen und ihn dazu beglückwünschen, dass er sich den Normen der Gesellschaft beugt.“

Er war schon immer ein verflucht guter Schauspieler. „Dazu dass er dich verlässt, meinst du wohl.“

„So ist es wohl.“ Sein Gesicht verzog sich zu jenem peitschenschnellen Grinsen und er tätschelte den Kopf seines Patensohns. „Aber er wird zurückkommen. Er ist der einzige Fixpunkt in einer Zeit, die im Wandel begriffen ist. Am Ende kommt er immer zu mir zurück.“
 

_________________________

[1] Ein Schlaganfall

[2] In „Der Detektiv auf dem Sterbebett“ natürlich.

[3] „Denn Jener, den wir dorthin ausgesandt, trägt das Gewicht der ganzen letzten Hoffnung!“ John Miltons Paradise Lost

(Original „On whom we send, the weight of all and our last hope replies“.)

[4] Anm. d. Übers.: Eine irische Spezialität: Ein reichhaltiges Brot aus Mehl, kandierten Obstschalen, Rosinen, Gewürzen und Hefe. Es ist meist rund und mit Zuckerguss überzogen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (56)
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Von:  Trailerpark
2011-06-17T18:38:13+00:00 17.06.2011 20:38
Ohne Untertreibung, das ist die beste SH-Fanfiktion, die ich bisher gelesen habe. Nicht nur der Autorin, sondern auch dir gebührt großer Dank! Es war keine Seltenheit, dass ich nach 03.00Uhr noch hier auf animexx war, die spannende Geschichte verfolgt habe, mit den Charakterin mitgefiebert habe und am nächsten Morgen wie ein Zombie auf Arbeit gegangen bin xD'

Dank dir konnte ich in den Genuss dieser wunderschönen Fanfiktion kommen. Auf English hätte ich mir solch eine lange Geschichte sicherlich nie durchgelesen und hätte es dann auch bis zu meinem Lebensende sehr bereut >_< zumal diese Art von English auch nicht gerade die leichteste ist...

Die Story hätte wirklich von Sir Arthur Conan Doyle persönlich kommen können. Der Schreibstil, das Verhalten der Charaktere...alles. Einfach nur wow. Du bist ein wunderbarer Übersetzer, du hast den Geist der Geschichte kontinuierlich aufrecht erhalten! Ich will garnich wissen, wieviel Wochen und Monate du dich da reingeknient hast. Das kann keiner wieder gut machen ~.~

Nun muss ich dich nur noch mit der Frage nerven, die dir sicherlich schon sehr viele User gestellt haben XD Hast du noch Kontakt zur Autorin und hat sie vor die Story weiterzuschreiben? Seit 2008 ist ja leider nichts mehr weiter rausgekommen. Ich würde es arg schade finde, wenn diese geniale Fanfiktion so ihr Ende finden würde....
Von:  Noise
2010-08-17T21:03:22+00:00 17.08.2010 23:03
Nun... ich weiß nicht, ob du das jemals lesen wirst. Wenn ja: Wow.
Diese Geschichte hat mir dermaßen gefesselt, ich war richtig süchtig nach ihr. Du hast den Ton des Originals wirklich extrem gut getroffen. Deine Übersetzung klingt tatsächlich wie eine Übersetzung eines... Originals. Wow. Schade, dass die Geschichte an so einem dramatischen Punkt aufhört. Aber gut. Also ich kann nur sagen, dass ich wirklich verdammt beeindruckt bin.
Von:  Archimedes
2008-12-09T07:04:30+00:00 09.12.2008 08:04
Verdammt, ich wusste, ich kenne dich irgendwoher, als ich deinen Namen unter den Kommentatoren von TBWT gelesen hatte. ^^
Und tada, du bist meine Lieblingsübersetzerin auf Fanfiktion.de! Warum bin ich nicht darauf gekommen?

Egal. An der Stelle will ich dir also mal mein größtes Kompliment aussprechen, dass du die "Bekenntnisse des Meisters" so grandios übersetzt und du dir diese Mühe machst. Ich kannte das englische Original bereits und ich habe mich wie Bolle gefreut, als ich die dt. Variante gefunden hatte. Und dann auch noch eine solch gute. Selten kommen Übersetzungen sprachlich an das Original heran, aber die "Bekenntnisse des Meisters" sind eine wunderbare Ausnahme von der Regel! Und von daher finde ich es hochgradig deprimierdend, dass man Übersetzungen nicht für YUAL vorschlagen darf. *g*

Ganz herzliche Grüße,
Archimedes
Von:  Eilleen456
2008-11-01T19:55:13+00:00 01.11.2008 20:55
Juhu endlich geht es weiter. *freu*
Schreib mir bitte wenn es weiter geht, bin gespannt.
Von: abgemeldet
2008-10-16T19:34:42+00:00 16.10.2008 21:34
ich schließe mich Leyla-Lovley`s Meinung an.tolle Storie... bekomme von der auch nie genug...

Von:  Leyla-Lovely
2008-10-15T20:35:54+00:00 15.10.2008 22:35
Ich hab ja schon bei FF.de was hinterlassen. *_*

Ich kann mir einfach nicht helfen. Ich vergöttere diese Story. Sie stellt echt, alles bis her dagewesene in den Schatten! xD
Von:  S_ACD
2008-08-26T16:14:58+00:00 26.08.2008 18:14
Gut, ich denke, es wird Zeit, dass ich mich auch mal wieder melde...
Und ich höre mich jetzt auch ganz und gar nicht schuldbewusst an. *pfeif*

Tjaaa, was lässt sich sagen? Ich kann mich sowieso nur wiederholen.

Großartige Übersetzung - du triffst den Ton der englischen Fassung (die dann wiederum den Ton Romane wunderbar trifft) einfach perfekt.
Gibt nicht viel, was man dazu noch sagen könnte. =D

Ich glaube, ich habe noch nie einen OC so sehr geliebt wie Josh.
Ich VERGÖTTERE das Kind! *_*

Und Holmes und Watson wachsen einem im Verlauf der Geschichte immer mehr und mehr ans Herz... ich hab nur das ungute Gefühl, dass das ganze einfach nicht gut ausgehen KANN.
Gott, ich hoffe, dass das Blödsinn ist. Ich will ein versöhnliches Ende haben!

Auf jeden Fall zwei Daumen hoch (Du würdest mehr bekommen, wenn ich mehr zu Verfügung hätte, aber... hm. Damit kann ich leider nicht dienen.) und mach weiter so!

Wunderschönen guten Tag noch.
S_ACD
Von:  S_ACD
2008-08-26T16:10:21+00:00 26.08.2008 18:10
Gut, ich denke, es wird Zeit, dass ich mich auch mal wieder melde...
Und ich höre mich jetzt auch ganz und gar nicht schuldbewusst an. *pfeif*

Tjaaa, was lässt sich sagen? Ich kann mich sowieso nur wiederholen.

Großartige Übersetzung - du triffst den Ton der englischen Fassung (die dann wiederum den Ton Romane wunderbar trifft) einfach perfekt.
Gibt nicht viel, was man dazu noch sagen könnte. =D

Ich glaube, ich habe noch nie einen OC so sehr geliebt wie Josh.
Ich VERGÖTTERE das Kind! *_*

Und Holmes und Watson wachsen einem im Verlauf der Geschichte immer mehr und mehr ans Herz... ich hab nur das ungute Gefühl, dass das ganze einfach nicht gut ausgehen KANN.
Gott, ich hoffe, dass das Blödsinn ist. Ich will ein versöhnliches Ende haben!

Auf jeden Fall zwei Daumen hoch (Du würdest mehr bekommen, wenn ich mehr zu Verfügung hätte, aber... hm. Damit kann ich leider nicht dienen.) und mach weiter so!

Wunderschönen guten Tag noch.
S_ACD
Von:  Leyla-Lovely
2008-07-08T16:23:14+00:00 08.07.2008 18:23
Wooohaa.. =D


Es geht endlich weiter. ^^ Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr ich mich gefreut hab als ich das neue Kapi entdeckt habe. =) Ich hab 32 auf fanfiktion.de gelesen. Wie immer einfach wunderschön.

Deine Leistung is echt unglaublich. *.* Wie du diesen Text übersetzt... Ich könnte nie diese GEduld aufbringen und dann auch noch mit solch einem atemberaubenden Ergebnis! Respekt!! Ohne Witz.. Ôo

Dieses Kapitel gefällt mir sehr. Der arme Sherlock... <3 Kippt er einfach um. ^^ Igrgendwie gefällt mir der Gedanken an einen ohnmächtigen Holmes. hehe...^___^

Ich hoffe es geht bald weiter. =)

Viele liebe Grüße
Leyla
Von: abgemeldet
2008-04-08T15:02:10+00:00 08.04.2008 17:02
Ich bin gerade durch Zufall auf die Geschichte gestoßen. Toll das endlich jemand mal das Leben zwischen Holmes und Watson näher belauchtet. Ich selbst bin ein sehr großer Holmes Fan.

Dein Stil gefällt mir sehr gut, obwohl es "nur" ein Übersetzung ist (Kommt sehr an Conan Doyle heran)

Die Schlussfolgerungen waren wirklich genial!!!
Ich lese auf jedenfall weiter!!!

Bye!

PS: Deine Bilder gefallen mir auch sehr ;-)


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