Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 34: ------------ Das nächste Kapitel, und das letzte das bisher auch auf Englisch existiert, wird in jedem Fall Ende Oktober bzw. spätestens in den ersten Novembertagen online gestellt, da ich im November aus verschiedenen Gründen gar keine Zeit haben würde. Holmes’ Verhalten änderte sich am nächsten Morgen nur geringfügig. Er war früh auf, hatte zum Frühstück heißhungrig geröstetes Brot, Eier und schwarzen Kaffee verschlungen und mindestens zwei Pfeifen und mehrere Zigaretten geraucht, bevor ich verschlafen das Wohnzimmer betrat. Der einzige Unterschied zwischen den vorherigen Tagen und jenem war die Tatsache, dass er immer noch im Haus war. Sein Haar war sorgfältig gekämmt und sein Gesicht war gewaschen und rasiert, aber er trug immer noch Pyjama und Morgenmantel. Seine Augen starrten leer in Richtung des Fensters, sahen es kaum. Das heftige Verlangen nach Kokain war deutlich in ihnen zu sehen. Ich setzte mich neben ihn und er schien mich zwar zu bemerken, schenkte mir aber keine Aufmerksamkeit. Ich legte meine Hand auf seine und nahm die Zigarette, die er geistesabwesend in zwei langen Fingern hielt. „Die Spitze wäre dir fast hinunter gefallen“, sagte ich ihm. „Hmm?“ „Vergiss es. Wie fühlst du dich?“ „So als wäre ich die ganze Nacht mit Vergil[1] unterwegs gewesen.“ Er wandte mir sein kaltes, blutleeres Gesicht zu. „In welchem Kreis der Hölle wird ein Mann wie ich deiner Meinung nach enden? Bei den anderen Sodomiten, würde ich sagen. Ewig durch einen Regen aus Feuer wandern. Aber die Möglichkeiten sind so zahlreich. Eitelkeit, Stolz, Wollust…“ Er stieß ein leises, trockenes Lachen aus. Es ging in ein rasselndes Husten über, das so übel war, dass ich meine Hände auf seinen Rücken legte, um ihn zu stützen. Und dieses eine Mal erlaubte er die Berührung. „Wenn man alle sieben Sünden begangen hat gibt es so viele Möglichkeiten, mein lieber Watson.“ „Sag so was nicht. Du wirst nicht im Hades enden.“ „Ah! Der ewige Optimist.“ Er schloss kurz die Augen in dem Versuch, den Schmerz zu verstecken. „Aber ich glaube nicht, dass das Jenseits—wo auch immer ich enden werde—schmerzhafter sein kann als das.“ In jenem Moment, als ich ihn so sah und mich an die Schreie der letzten Nacht erinnerte, war ich beinahe versucht, seine Droge zu holen und sie ihm selbst in die Vene zu injizieren. Es war so verflucht hart, ihn so sehr leiden zu sehen! Aber ich wusste, dass ich das nicht tun konnte. „Du musst dagegen ankämpfen, Holmes. Ich weiß, dass es hart ist, aber du darfst nicht aufgeben.“ Seine sehnigen Arme schnellten plötzlich hoch und packten meine Schultern. Eine Sekunde lang war ich mir nicht sicher, ob er mich umarmen wollte oder versuchte, mich zu erwürgen. „Zur Hölle mit dir!“, schrie er. „Glaubst du, dass ich mich um meine verdammte Gesundheit schere? Ob ich nun morgen sterbe oder in fünfzig Jahren, ändert nicht das Geringste! Mein ganzes Leben lang habe ich nur Schmerz und Sehnsucht gekannt und so wird es auch sein, wenn ich sterbe! Es ist allein die…die Enttäuschung in deinen Augen, die mich dazu bringt, dieses Brennen zu ertragen. Ich ertrage es nicht, dass du…dass du mich verachtest…nicht du.“ Am Anfang hatte er mir noch gellend ins Gesicht geschrieen, sein Griff auf meinen Armen wie ein Schraubstock. Sein Gesicht brannte rot und seine Augen färbten sich langsam rötlich. Seine Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern. Es war so selten, dass er über solche Dinge mit mir sprach. Wir waren keine Dichter und die sanfteren Gefühle oder zumindest diese in Worte zu fassen, fiel uns nicht leicht. Gewiss war es der Schmerz, das Verlangen, das aus ihm sprach. Aber dieses Bekenntnis zu hören, dieses seltene Aufglimmen seines Herzens zu sehen, war nicht wirklich unwillkommen, ganz egal welchen Zweck er auch damit verfolgte. Ich legte meine Hand an seine Wange. „Du könntest mich nie enttäuschen. Wie auch? Du weißt, dass ich dich liebe“—ich hielt inne; die Worte klebten in meiner Kehle wie Leim. Für die längste Weile starrte er mich an, zunächst mit gefurchten Brauen, so als hätten ihn meine Worte verwirrt, aber langsam legte sich das und der gewohntere Ausdruck von Überlegenheit und Widersinn kehrte zurück. Mir kam der Gedanke, wie selten er dieses Wort gehört haben mochte und gleichzeitig, dass ich darüber gestolpert war, wie ein jugendlicher Narr, der zum ersten Mal verliebt ist. Holmes ließ mich plötzlich los und drehte den Kopf ruckartig Richtung Fenster. Seine Stimme war nun nicht mehr brüchig und sondern gewann ihren reichen Klang zurück. „Wir werden in Kürze zwei Gäste haben, Watson. Fasse dich wieder.“ Ich werde Ihnen selbstverständlich jene Details ersparen, die Ihnen bereits wohlbekannt sind, genauer gesagt die Schilderung der überstürzten Ankunft von Vikar Roundtree und seinem Mieter, Mortimer Treggenis. Holmes und ich rauchten und hörten zu, auch wenn ich gestehen muss, dass die Geschichten der beiden kornischen Gentlemen meinen Freund mehr in ihren Bann schlugen als mich. Er war anscheinend dazu in der Lage, seinen Verstand von dem zu distanzieren, was gerade geschehen war, wohingegen ich über keine solche Fähigkeit verfügte. „Bemerkenswert—wirklich bemerkenswert. Ich werde mir diese Angelegenheit ansehen, wenn Sie bereit wären, mit mir einen Spaziergang dorthin zu unternehmen. Komm, Doktor. Ich fürchte, dass du dein Frühstück erst einmal aufschieben musst.“ Wir brachen auf in die Morgensonne. Treggenis führte uns rasch und das Salz des Meeres grub sich in unsere Nasen. Mir wird nun klar, dass ein paar Worte der Warnung und der Erklärung, wie es dazu kam, dass dieser Fall veröffentlicht wurde, gerechtfertigt sind. Am Anfang hatte ich niemals damit gerechnet. Als ich Jahre später Holmes’ Erlaubnis bekam, weitere Geschichten über seine Fälle zu veröffentlichen, war dieser Fall nie unter denen, die ich dafür angemessen befand. Der Grund dafür war teilweise der geistige Zustand meines Freundes und natürlich das, was gerade erst in unseren Leben geschehen war. Aber um all das könnte man herumarbeiten, wie alle, die die Geschichte kennen, gesehen haben. Aber da gab es noch eine andere notwendige Tatsache, die den Fall betraf, um die ich nicht herum arbeiten konnte. Daher hielt ich Holmes, als ich einen Brief vor ihn erhielt, in dem stand „Warum erzählst du ihnen nicht von dem Horror in Cornwall—der seltsamste Fall, den ich je hatte“, für wahnsinnig. Aber bevor ich noch dazu kam, ihn mit dem Telefon anzurufen und zu fragen, was um Himmelswillen er sich dabei dachte, erhielt ich selbst einen Telefonanruf. Holmes hatte, wie gewöhnlich, meine Gedanken gelesen. „Immerhin, Watson“, hatte er gesagt. „sind seitdem beinahe dreißig Jahre vergangen. Dr. Sterndale ist inzwischen entweder an einer afrikanischen Krankheit gestorben oder hat sich selbst seit langem in jenem dunklen Kontinent begraben. Der Klan der Tregennis ist mittlerweile natürlich ausgestorben. Und Reverend Roundtree ist erst vor einem Jahr aufgrund von Krebs von uns gegangen. Ich habe den Nachruf selbst in der Royal Cornwall Gazette gelesen.“ Und so beschloss ich, teilweise weil es mich traurig stimmte, von Roundtrees Tod zu hören und mich einmal mehr an die Begebenheiten jenes Falles zu erinnern, dass aus den Fakten des Horrors in Cornwall in der Tat eine Geschichte konstruiert werden konnte, mit nur einigen wenigen Änderungen. Genauer gesagt, welches Mitglied der Tregennisfamilie eigentlich an jenem späten Märzmorgen sein Leben verlor. Nachdem Holmes durch den großen Garten vor dem großen Cottage geschlendert war und unsere Füße nass wurden, wie es in der veröffentlichten Version dieses Falles geschlildert wird, führte man uns durch das Wohnzimmer, wo sich die Tragödie ereignet hatte, in ein dunkles Zimmer. Die Sonne wurde von schweren, schwarzen Gardinen ausgesperrt und nur ein paar Kerzen erleuchteten es. Auf dem Bett lag der Jüngste des Geschwisterquartetts—der junge Owen Tragennis. Er war ein gut aussehender Junge—auch wenn man ihn kaum so nenne konnte, stand er doch schon kurz vorm mittleren Alter, aber da war etwas jugendliches an dem kräftigen Kinn und ein voller Schopf schwarzer Locken auf seinem Kopf, der sein Alter lügen straften und ihn ausgesprochen attraktiv wirken ließ und das obwohl sein Gesicht immer noch von den Qualen seines ungewöhnlichen Todes verzerrt gewesen war. Holmes sah ihn an, untersuchte ihn, so schien es, mit den Augen allein. Die Leiche trug immer noch seine Abendgarderobe und abgesehen von dem verzerrten Mund hätte jedermann geglaubt, er sei einfach auf dem Bett eingeschlafen. „Hmm…“, hörte ich Holmes murmeln und eine Sekunde lang streiften seine Hände die Weste des Mannes, an dem immer noch seine silberne Uhrenkette befestigt war. Die Kette war dünn und ungeschmückt abgesehen von etwas, das aussah wie ein Goldring, was ich an jenem Zeitpunkt noch nicht für bemerkenswert hielt. „Und was ist mit Ihrem anderen Bruder, Mr. Tregennis?“, fragte Holmes den übrig gebliebenen der Geschwister, der nicht näher kommen wollte als bis zur Schwelle. „Und Ihrer Schwester?“ „Sie wurden nach Helston gebracht.“ Da war eine schaurige Kälte in der Stimme des Mieters, die nicht einmal mir verborgen blieb. Völlig ohne Gefühl. „Ich verstehe.“ Holmes warf einen letzten Blick auf die Leiche, bevor er herumschnellte und begab sich nach unten ins Wohnzimmer. Nach der Unterredung in jenem Zimmer, dessen Zustand ich meines Wissens recht akkurat wiedergegeben habe, schlenderten Holmes und ich langsam und schweigend zurück zu unserer Poldhucottage. Holmes hatte versprochen über die Fakten nachzudenken und ich versuchte dasselbe, aber mein Verstand war getrübt von meinen Sorgen um Holmes’ Gesundheit, meinem Kind, das einmal mehr allein in London zurückgelassen worden war, und die Ungewissheit betreffend meiner Beziehung zu jenem Mann: Ein Feuer im Kamin im Frühling, Holmes, der in der Nacht schreit, George Tregennis’ eigentümlicher Seufzer bei dem Kartenspiel, Josh, der seinen Vater ablehnte, Owen Tregennis’ Uhrenkette, Holmes, der mich immer noch liebte, so wie ich ihn… Holmes zündete seine Pfeife an und machte es sich in seinem Sessel gemütlich, aber als ich uns eine Kanne Tee aufsetzte, wurde mir klar, dass es ihm schwer fiel, sich zu konzentrieren. Die blauen Rauchwirbel zogen ihre Spur Richtung Fenster und ich sah ihn mit leerem Blick hinaus auf Moor starren. Das Wasser hatte noch nicht zu kochen begonnen, als ich schon einen Fluch aus dem Nebenzimmer hörte und Holmes auf die Füße sprang. „So geht das nicht, Watson!“, rief er. „Ich mache einen Spaziergang. Hier drinnen gibt es zu Vieles, das mich ablenkt.“ Er musste nicht aussprechen, was genau ihn hier drinnen so sehr ablenkte, denn ich konnte mir recht sicher sein, dass die Ereignisse des Morgens etwas damit zu tun hatten. Nichtsdestotrotz nahm ich den Topf vom Feuer und machte mich auf die Suche nach Mantel und Hut. „Ich komme mit.“ Und bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, um zu widersprechen, hielt ich ihm schon die Tür auf. „Das wird dir nichts nützen, also schlage ich vor, du gehst los.“ Mir wurde eines jener seltenen, peitschenschnellen Lächeln gewährt, als Holmes an mir vorbei stürmte. Holmes’ Blick blieb fest auf den Boden gerichtet, während wir zusammen die Klippen entlang schlenderten, doch er sprach fortwährend von dem, was wir über den Fall wussten. Er hatte behauptet, wir würden nach Pfeilspitzen aus Feuerstein suchen, aber es schien mir so, als würde ihn in jenem Moment nichts weniger kümmern als neolithische Fundstücke. Schließlich kamen wir zu einem weichen, Gras bewachsenen Hügel, der die tosenden Wellen überblickte. Holmes ließ sich darauf nieder, sein Atem ging stoßweise und Schweiß tropfte ihm von der Stirn. „Du bist dir über unsere Problematik im Klaren, Watson?“ „Absolut.“ Ich verengte meine Augen und sah ihn streng an. „Du solltest dich zu Hause ausruhen. Ich habe Roundhay explizit darauf hingewiesen, dass du hier in Cornwall bist, um dich zu erholen und kaum sind wir angekommen, wird dir schon ein neuer Fall aufgedrängt.“ Holmes, der gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, presste plötzlich eine Hand gegen seinen Magen und war im nächsten Moment aufgesprungen und drehte sich von mir fort, um sich zu übergeben. Als er sich wieder hinsetzte, lächelte er kläglich, aber er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht für seine Schwäche entschuldigen brauchte. „Du hast natürlich recht.“ „W-wie bitte?“ „Du hast absolut Recht, Watson.“ Er wischte sich den Mund mit seinem Taschentuch ab, bevor er sich vollends rückwärts gegen den Grashügel fallen ließ und nach oben in die Sonne blinzelte. „Mein Gehirn ist wie ein Motor, der sich selbst in Stücke reißt. Dieses Rätsel ist komplex und doch hat es Aspekte, die ein Sinnbild des Offensichtlichen sind. Und doch, wenn ich alle Fakten durchgehe, kann ich an nichts anderes denken als…“ Er lehnte es ab, den Satz zu beenden. Vorsichtig legte ich eine Hand auf seine Schulter. Er machte keine Anstalten, mich aufzuhalten. „Du weißt, Holmes“, begann ich, wobei ich versuchte so wenig doktorenhaft wie möglich zu klingen. „Es wäre keine Schande, hierbei die gewöhnliche Polizei zu Hilfe zu rufen. Zuzugeben, dass du zu krank bist“— „Sterndale.“ Holmes entzog sich mir augenblicklich, setzte sich auf und drehte den Kopf ruckartig nach Norden. Ich drehte mich um und sah eine massive Gestalt, die auf uns herunter starrte und große Ähnlichkeit mit einem Grizzlybären hatte. Holmes musste sich nicht erklären, denn es war vollkommen offensichtlich, dass dies der legendäre Großwildjäger war, Dr. Leon Sterndale. Er erschien mir auf den ersten Blick wie ein waschechter Riese, aber das lag teilweise daran, dass er stand und wir saßen, doch selbst als wir uns erhoben, um ihn zu begrüßen, war er immer noch mehrere Zoll größer als Holmes’ sechs Fuß. Sein goldener Bart von silbernen Haaren durchzogen und sein schroffes Gesicht war von Sorge gezeichnet, aber was das Alter betraf, konnte er nicht älter als vierzig sein. In seinen dunklen Augen glitzerte immer noch die Jugend, auch der offensichtliche Ärger konnte das nicht übertünchen. „Sie sind Sherlock Holmes“, sagte er als Begrüßung. „Und ich habe von den Ereignissen auf Treddanick Wartha heute Morgen gehört. Was haben Sie bisher in Erfahrung bringen können? Wer hat dieses entsetzliche Verbrechen begangen?“ Holmes schüttelte den Kopf. „Das kann ich wohl kaum beantworten, Dr. Sterndale.“ „Sie wissen also, wer ich bin.“ „Ja, natürlich. Aber nur von dem, was ich über sie gelesen habe. Was ich zum Beispiel nicht weiß, ist, warum diese Angelegenheit sie betreffen sollte.“ Sterndale antwortete, dass die Mitglieder der Tregnennisefamilie Cousins mütterlicherseits wären oder einen ähnlichen Unsinn, den Holmes ihm nicht glaubte, wie ich an seinem Auftreten deutlich ausmachen konnte. Nach einer ausführlichen Unterhaltung darüber, woher der Doktor in so kurzer Zeit schon von dem Mord erfahren haben konnte, und dem Verlust seines Gepäcks aufgrund seiner eiligen Rückkehr, wurde Sterndale wütend. Holmes schien ein vages Glitzern in den Augen zu haben, das mich misstrauisch machte, und ich war mir sicher, dass er etwas wusste. Aber verdächtigte er gar den berühmten Großwildjäger dieser grauenhaften Tat oder handelte es sich um etwas anderes? Sterndales Augen verengten sich, als es offensichtlich wurde, dass mein Freund ihm nichts erzählen würde. „Dann habe ich meine Zeit verschwendet und sehe keinen Grund, meinen Besuch noch weiter in die Länge zu ziehen.“ Er drehte sich um und marschierte mit solcher Wut davon, dass ich geradezu froh darüber war, dass er ging. Holmes rieb sich langsam das Kinn, während er beobachtete wie der massive Rücken immer kleiner und kleiner wurde. „Das hatte doch was, hm, Watson?“ „Ja…sehr interessant.“ Er stellte sich in den Wild und blickte hinab auf die Wellen, bevor er mir deutete, ihm zu folgen. Wir hatten kaum die Tür zu unserem Cottage erreicht, als Holmes sich auf das Sofa fallen ließ und innerhalb von Minuten eingeschlafen war. Er verschlief den ganzen restlichen Nachmittag und schlief immer noch, während ich ein paar uninteressante Seiten in einem Roman las, selbst darauf bedacht, meine eigene Müdigkeit abzuschütteln. Aber mein Geist war so weit fort von der rauen See und den Abenteuern der Einhorn der Meere wie es nur menschenmöglich war. Meine Augen drifteten zu der ausgestreckten Gestalt meines Freundes, der schlief, wenn auch unter gelegentlichem Murmeln und ruckartigen Bewegungen. Ich konnte mir nur vorstellen, wie schrecklich sich sein Körper ohne die Droge anfühlen musste. Und ich konnte nicht anders, als mich für ihn verantwortlich zu fühlen. Ich meine, schließlich, war er doch…beinahe glücklich gewesen, für eine kurze Zeitspanne. Ich erinnerte mich an einen Augenblick in einem Zugabteil, als ich das Gefühl hatte, wir drei wären eine Familie. Ich erinnerte mich an einen strahlenden Morgen im Mai, an dem wir uns eine Zigarette teilten und Holmes mich mit Latein ärgerte. Ich erinnerte mich an viele Nächte…Nächte, in denen ich nur staunen konnte, wie ich Sherlock Holmes jemals als eine Maschine gesehen haben konnte. Ein Hirn ohne Herz. Der Anblick seines bloßen Körpers, sein Seufzen in meinem Mund… Ich schüttelte den Kopf um all diese Gedanken zu verscheuchen. Das war die Vergangenheit, erinnerte ich mich. Was auch immer wir für einander empfunden hatten, war vorbei, zumindest aus Notwendigkeit, wenn schon nicht aus freiem Wille. Ich hatte Verpflichtungen. Verpflichtungen, die du in eben diesem Moment vernachlässigst. Vielleicht hätte ich den Jungen mit uns bringen sollen, hätte Holmes zum Nachgeben zwingen sollen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass er seinen Meister so sah. Und ich konnte nicht zulassen, dass er uns zusammen sah, dass er auf den Gedanken kommen könnte, wir würden auch in London wieder zusammen leben. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass von den beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben, von denen einer mein Sohn, mein Fleisch und Blut war, ich mich immer für Holmes entschied. Aber als mein Kopf zurückfiel und meine Blick im Schlaf verschwamm, konnte ich nicht glauben, dass ich einen Fehler beging. Er brauchte mich. Er brauchte mich hier. Der größte Verstand unserer Generation brauchte mich. Am nächsten Morgen erwachte ich so plötzlich, dass mein Verstand vom Halbschlaf noch ganz benommen war. Holmes schüttelte meinen Arm und ich hörte, wie eine Kutsche in vollem Galopp direkt vor unserem Fenster vorbeirauschte. Mein Nacken schmerzte furchtbar von einer Nacht im Lehnstuhl und ich rieb ihn geistesabwesend, während ich versuchte, ganz wach zu werden. „Es ist Roundhay“, sagte Holmes gerade, als er seine Krawatte richtete. „Ich vermute, er hat Neuigkeiten für uns.“ „Roundhay?“ Ich versuchte mich zu erinnern, wer das war. Als das Blut schließlich begann, durch meinen Kopf zu fließen, spürte ich meine beiden Kriegsverletzungen und meine jüngste Wunde sogar noch mehr. Bevor Holmes auch nur antworten konnte, wurde unsere Vordertür heftig aufgestoßen und ein blasser Francis Roundhay kam hereingestürmt. Er war vollkommen außer Atem und sah in seinem Schrecken sogar noch jünger aus als in den vorherigen Tagen. Seine Augen waren feucht und sein Gesicht gerötet vom vollen Galopp seines Gefährts. Während der Minuten, die er brauchte, um die Fähigkeit zu sprechen wiederzuerlangen, starrten Holmes und ich ihn nur an. „Meine arme Gemeinde“, japste er beinahe in Tränen. „Meine arme Gemeinde…sie ist vom Teufel verfolgt!“ Zu meiner Überraschung kam Holmes ihm tatsächlich entgegen, nahm seinen Arm und führte ihn zu dem Sofa, auf dem er die Nacht verbracht hatte. „Tief atmen, Vikar. Kein Grund zur Hast. Beruhigen Sie sich.“ Er tätschelte seine Hand und deutete mir, dem armen Mann etwas Wasser einzuschenken, was ich auch tat. „Wir werden ganz sicher vom Teufel verfolgt!“, rief er, nachdem er das ganze Glas geleert hatte. „Satan selbst geht in meiner Gemeinde um! Mortimer…der arme Mortimer Tregennis starb in der vergangenen Nacht mit genau denselben Symptomen wie seine Familie.“ Ich bin mir sicher, dass mir bei dieser Neuigkeit der Mund offen stand und obwohl Holmes auf die Beine sprang, sagte mir etwas an der Art, wie er seinen Hals nach vorn streckte, dass es ihn nicht besonders überraschte. „Haben wir beide Platz in ihrer Kutsche?“ Er war bereits an der Tür, bevor der Vikar antwortete und ich glaube, er wäre zum Pfarrhaus gerannt, hätte dieser verneint. Er schien einen Teil seiner Vitalität durch diesen sechzehnstündigen Schlaf zurückgewonnen zu haben. Ich muss Ihnen nicht berichten, was wir in den Räumlichkeiten von Mortimer Tregennis vorfanden, da es bereits gewissenhaft aufgezeichnet worden ist. Das Schicksal hatte Mortimer dazu bestimmt, seinem Bruder Owen ins Jenseits zu folgen und von vier Geschwistern, die erst vor zwei Tagen noch ausgesprochen lebendig gewesen waren, waren nun zwei tot und die anderen beiden so gut wie. Holmes schien ganz voller Energie, genau so, wie ich ihn früher gekannt hatte, und auch wenn ich froh war, dass etwas, irgendetwas, aufgetaucht war, das ihn ablenkte, fürchtete ich immer noch um seine Gesundheit. Nachdem die Polizei gerufen wurde und sie ihre Abneigung gegen eigenmächtige Ermittlungen deutlich zur Schau gestellt hatten, ließen sie uns einige Tage im Dunklen, aber das schien meinen Freund nicht zu kümmern. Er verbrachte die Zeit damit, zu rauchen, zu essen, verließ hin und wieder unser kleines Cottage, wenn die Übelkeit ihn wieder überkam und vor allem verbrachte er seine Zeit damit, mich zu ignorieren. Aber nach zwei Tagen ohne Neuigkeiten brach Holmes früh am Morgen auf und kehrte ein paar Stunden später mit einem großen Paket zurück. Als er es auspackte, erkannte ich darin sofort eine Lampe, um genau zu sein, als ein Duplikat der Lampe, die wir in Mortimer Tregennis Schlafzimmer immer noch rauchend vorgefunden hatten. Ich erfuhr schnell, was er vorhatte. „Es gibt keinen Grund für dich, zu bleiben, Watson“, sagte er. „Ich weiß, dass du viel zu vernünftig für derartige Tollkühnheit bist.“ Die Art wie er mich ansah, das merkwürdige Schimmern in seinen Augen, erweckten in mir den Eindruck, als wollte er mich testen. Ich holte tief Atem. „Natürlich bleibe ich.“ Ein Lächeln, wenn auch kurz, belohnte mich. „Dachte ich mir doch, dass ich meinen Watson kenne.“ Und wie er das tat. Und so platzierten wir zwei Stühle nebeneinander und saßen in völligem Schweigen, nachdem das bisschen gestohlenes Pulver auf der schmauchenden Lampe platziert worden war. Zuerst zischte es und dann kam der Rauch—eine schwere rötliche Wolke. Mein letzter rationaler Gedanke war, den Atem anzuhalten, aber ich konnte nicht. Ein schwerer, süßer Geruch begann zu zischen und sich in der Luft zu kräuseln und die Wirkung traf mich beinahe augenblicklich. Mein Geist begann zu wandern, aber nach gerade mal wenigen Sekunden, hatte ich das Gefühl, dass die Bilder in meinem Kopf Wirklichkeit waren. Was ich zuerst sah, war eine schwarze Wolke, aber bald nahm sie Form an und ich sah einen Mann in dunkler Robe, der eine Axt hielt. Blut tropfte von der Schneide. So viel Blut. Er stand direkt vor mir, genau in diesem Zimmer. Ich sah einen jungen blonden Mann in Uniform, der in einer Lacke aus seinen eigenen Körpersäften lag. Sein Unterleib war beinahe gänzlich abgetrennt. Da waren noch andre Leute, die mir vage bekannt erschienen, aber zu jenem Zeitpunkt, konnte ich sie nicht erkennen. Meine Schwester. Mein Bruder. Mein kleiner Cousin. Meine Eltern. Meine Frau. Alle trieben durch eine Wolke aus dickflüssigem rotem Blut. Meine Haare, jedes einzelne Haar auf meinem Körper, begannen sich aufzurichten. Meine Augen wurden zu groß für meinen Kopf. Gleich würden sie platzen. Sie waren alle tot. Alle tot und es war meine Schuld. Der Mann mit der Axt drehte sich zu mir um. Seine Waffe schwebte über Holmes’ Körper, dessen Gesicht erstarrt und beinahe vollkommen weiß geworden war. Es schien mir, dass ich schrie, aber vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich Holmes packte und mit einer großen Kraftanstrengung unsere beiden Körper zur Tür und hinaus auf die Grasfläche schleppte. Dort lagen wir nebeneinander, doch ich konnte immer noch den Arm meines Partners um meine Hüfte geschlungen fühlen. Herrliches Sonnenlicht wärmte uns und ein leichter Meereswind war zu spüren. Langsam begann sich mein Verstand wieder zu normalisieren. Die grässlichen Bilder flohen und meine Haut fühlte sich nicht länger klamm an. Ich wischte mir die Zunge mit meinem Taschentuch ab. Ich hätte schwören können, dass sie sich in Leder verwandelt hatte. Es gelang mir, mich ein wenig auf die Seite zu rollen, sodass ich sehen konnte, wie es um Holmes stand. Er hustete stark, hatte die Hände mit schmerzverzerrtem Gesicht gegen die Brust gepresst. Was auch immer es für panische Bilder des Terrors es gewesen waren, die er im Geiste gesehen hatte, sie hatten einen schwerwiegenden Effekt auf ihn. Angesichts dessen, was ich von seiner Kindheit wusste, konnte ich mir sicherlich vorstellen, was er gesehen haben musste. Ich packte seinen Arm und zog ihn zu mir. Mit einem Stöhnen, das an einen Schrei grenzte, brach er an mir zusammen. Seit Atem ging immer noch keuchend und er war mit Schweißperlen bedeckt. Als ich meine Hand an seine Wange legte, merkte ich, dass sie eisig kalt war. Ich zog ihn enger an mich. „John!“, rief er, ohne mich wirklich zu sehen. „John…“ „Das war eine dumme und gefährliche Idee! Wir hätten sterben können!“ Aber wie ich ihn in diesem Zustand sah, immer noch nicht völlig zu sich gekommen, konnte ich nicht wütend sein. Was auch immer in seinem Verstand geschehen war, war gewiss Strafe genug. „Bei meinem Wort, Watson!“, sagte Holmes schließlich mit schwankender Stimme. „Ich schulde dir sowohl Dank als auch eine Entschuldigung. Es war ein ungerechtfertigtes Experiment, selbst wenn es nur die eigene Person betrifft, ganz zu schweigen von einem…ganz zu schweigen von dir. Es tut mir wirklich, wirklich Leid.“ „Das will ich wohl meinen…“ Und dann war es wieder still und wir beide sprachen nicht, saßen einfach nur in der Sonne und lauschten den Wellen, die sich selbst an den Felsen unter uns zerschlugen, bis ich schließlich das Risiko wagte und mich erhob. Holmes, in seinem ohnehin schon geschwächten Zustand, versuchte es gar nicht erst und ich ging in unser Cottage und holte eine Karaffe mit Wasser und den Flachmann meines Freundes. Beides würden wir leeren. „Nichtsdestotrotz hat es genutzt“, sagte Holmes schließlich leise. „Was meinst du?“ „Das Experiment. Du erkennst doch sicherlich, dass sich das kleine Problem aufgeklärt hat.“ „Ich kann dir ganz gewiss sagen, Holmes, dass ich nichts Derartiges erkenne. Willst du damit sagen, dass du den Fall gelöst hast?“ „Oh, ja…“ Er schwenkte das letzte Bisschen Wasser in seinem Glas herum. „Tatsächlich erwarte ich, dass er unser bescheidenes kleines Cottage in den nächsten Stunden mit seiner Anwesenheit beehren wird. Die Sonne ist angenehm heute, Watson. Ich werde hier auf ihn warten.“ Ich hatte keinerlei Absicht in jenes Zimmer zurückzukehren, das immer noch von einer todbringenden schwarzen Wolke erfüllt war und so machte ich es mir neben meinem Freund unter einer großen Eiche gemütlich und wartete auf etwas, das Holmes mit Sicherheit bereits bekannt war, er mir aber nicht erzählen wollte. Und doch war ich so erleichtert, dass wir gerade dem Tod entronnen waren, dass ich kaum verstimmt sein konnte. „Was hast du gesehen?“, fragte er nach einiger Zeit. „Gesehen?“ „Da drinnen. Als das Pulver deine Sinne überwältigt hat. Was hast du gesehen?“ Ich schluckte schwer, dachte an die Möglichkeit zu lügen. Aber er, der Meister, war immer in der Lage gewesen, es mir anzusehen. „Ich sah…beinahe jeden schrecklichen Augenblick meines Lebens. Alle auf einmal.“ Ich nahm einen weiteren Schluck Wasser, tat so als würde ich mich auf mein Getränk konzentrieren. „Es fühlte sich an…was ich sah, fühlte sich so an, als würde es gerade eben vor meinen Augen geschehen. Und doch konnte ich es nicht verhindern.“ Holmes Gesicht verzog sich zu einer Art Grimasse und er nickte. „Ich habe gesehen, wie du und dein Sohn in Stücke gerissen wurdet.“ „Was?“ Holmes sah mich eine lange Sekunde an und dann griff er in seine Westentasche nach seinem Zigarettenetui. Aber anstatt eine herauszunehmen und zu rauchen, drehte er das perfekt polierte Etui nur wieder und wieder in seinen langen, weißen Fingern. „Ich war derjenige, der es tat, Watson. Ich habe euch beide getötet. Mit meinen bloßen Händen.“ Wie konnte ich darauf antworten? „Es hat nichts zu bedeuten, Holmes.“ Er brauchte beinahe eine volle Minute, um zu antworten. „Das hoffe ich auf jeden Fall“, murmelte er. Meine Gedanken verloren sich immer noch an meiner Nahtoderfahrung und Holmes’ Vision und so bemerkte ich es kaum, als Sterndale verstohlen auf dem Pfad direkt vor unserem Tor erschien. Sein borstiges Gesicht sah ausgezehrt aus, so als hätte er für mehr als eine Nacht keinen Schlaf gefunden. „Ich habe Ihr Telegramm erhalten“, sagte er, die Stimme ein schroffes Knurren. „Und ich finde es erstaunlich, dass Sie vor gerade erst zwei Tagen nicht einmal bereit schienen, mir Auskunft über die Uhrzeit zu geben und nun behaupten Sie, Sie wollten mir alles gestehen.“ „Alles gestehen…“ Holmes’ Blick schlich in meinen. „Eine interessante Wortwahl. Aber es ist wohl kaum angemessen solche Angelegenheit hier draußen zu besprechen. Bitte treten Sie doch ein. Unsere kleine Hütte ist eines Gastes wie Ihnen kaum würdig, aber Ihre Erscheinung wird das Ambiente maßgeblich verbessern.“ Die Wolke hatte sich etwas verzogen und es schien wieder möglich, zu atmen. Ich zog die Vorhänge auf die Seite. Die Sonne schien herein und gab mir das Gefühl falscher Hoffnung. Holmes führte unseren Gast zum Sofa. „Sie trinken natürlich etwas?“ Sterndale zögerte kurz, dann nickte er. „Eine göttliche Eingebung sagt mir, dass ich es brauchen werde.“ „Dann sind Sie also religiös?“ Ich gab ihm ein Glas Scotch in seine gewaltige Pranke. „Nicht im Geringsten. Es war mir in der Jugend aufgezwungen worden, aber durch meine Erfahrungen als Erwachsener habe ich meinen Glauben völlig verloren.“ „Die unglückliche Geschichte mit der Tregennisfamilie hatte zweifellos etwas mit ihrer Wut zu tun.“ „Was meinen Sie damit, Sir?“ Sterndale sah Holmes auf eine Art an, dass ich das Verlangen spürte, mich schützend neben meinen Freund zu stellen, aber bevor ich bei ihm war, war er schon fertig, mit dem was er gemeint hatte. „Ich meine damit, Dr. Sterndale, dass Sie Mortimer Tregennis umgebracht haben. Und der Grund dafür ist die Tatsache, dass er den Mann getötet hat, den sie geliebt haben, Owen Tregennis.“ Einen Moment lang wünschte ich, dass ich eine Waffe bei mir hätte. Sterndales grimmiges Gesicht färbte sich zu einem dunklen Rot, seine Augen glühten und die knotigen, leidenschaftlichen Venen zeichneten sich auf seiner Stirn ab, als er mit geballten Fäusten auf meinen Gefährten lossprang. Dann hielt er inne und mit einer gewaltigen Anstrengung nahm er eine kalte, starre Ruhe an, die ihn vielleicht noch gefährlicher wirken ließ als sein hitzköpfiger Ausbruch davor. [2] Das Glass und der Rest von Alkohol fielen auf den Boden und zerbarsten. Die Hand des Großwildjägers hob sich an seinen Kopf und drückte gegen seine Schläfe. Ich muss gestehen, dass ich persönlich vollkommen sprachlos war. Aber der erwartete Protestausbruch kam niemals. Er saß einfach nur da und stöhnte über eine Minute lang, währenddessen ich kaum denken konnte und Holmes einfach nur da stand und ihn ansah. Ich werde wohl nie den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen. Es war eine höchst interessant Mischung aus Antipathie und Mitgefühl. Schließlich erhob sich Sterndale, blickte neugierig auf das Glas auf dem Boden, als wäre er überrascht, es dort zu sehen und ging—unaufgefordert—zu unserer Anrichte und schenkte sich selbst einen doppelten Whiskey ein, den er sofort hinunterstürzte. Nach einer Reihe tiefer Atemzüge, drehte er sich schließlich zu uns um. „Woher wussten Sie es?“ Seine Stimme hatte jegliche Überlegenheit verloren. Holmes erklärte seine Misstrauen darüber, dass der Großwildjäger ihn befragt hatte, sprach über das zurückgelassene Gepäck und wie er ihm zu dem Pfarrhaus und dann zu seinem eigenen Cottage gefolgt war. Er führte aus, wie Sterndale mehrere Hände voller Kiesel gegen Mortimer Tregennis’ Fenster geworfen und mit ihm gesprochen hatte, wie ihm Einlass gewährt worden war und wie er dann den ultimativen Akt der Rache begangen hatte. Sterndale sprang auf. „Ich glaube, Sie sind der Teufel in Person!“, rief er. Holmes quittierte das Kompliment mit einem Lächeln. „An der Leiche von Owen Tregennis fand ich einen Goldring, der mit einem kleinen afrikanischen Tansanit verziert war und weil ich Zufälle schwerverdaulich finde, gestehe ich, dass mir ihre Rolle bei der ganzen Sache klar wurde. Es war keine einfacher Schluss, aber ein logischer Denker darf keine Möglichkeit außer Acht lassen.“ Das Gesichts unseres Besuchers war so grau wie Asche geworden, als er den Worten seines Anklägers lauschte. Nun saß er eine Zeit lang in Gedanken versunken da, das Gesicht in den Händen vergraben. Dann mit einer plötzlichen impulsiven Geste, zog er eine Fotografie aus seiner Brusttasche und warf sie auf den rustikalen Tisch vor uns. Das gut aussehende dunkle Gesicht des jüngsten Tregennis starrte uns entgegen, wie von jenseits des Grabes. „Es muss für Männer wie Sie beiden Gentlemen schwer sein, sich so etwas Widerwärtiges und Unnatürliches vorzustellen, aber hören Sie mir zu—seit Jahren schon habe ich Owen geliebt. Seit Jahren schon hat er mich geliebt. Sie müssen verstehen. Wir wuchsen zusammen auf, fühlten das Leid des jeweils anderen als jüngster Sohn und vernachlässigt von der Liebe unserer Eltern. Er und ich…wir waren uns so ähnlich. Beide praktisch veranlagt und intelligent, aber dennoch träumten wir beide davon, einmal etwas in der Welt zu bewegen. Vielleicht hatte keiner von uns es beabsichtigt, dass wir…dass wir irgendetwas anderes für einander empfinden sollten als brüderliche Zuneigung, während wir davon sprachen, dass wir die Welt sehen wollten und von der Medizin, aber…“ Ein entsetzliches Schluchzen ließ seine massive Gestalt erbeben und er griff sich unter dem von grau durchzogenen Bart an die Kehle. Dann mit einer unglaublichen Anstrengung, brachte er sich wieder unter Kontrolle und sprach weiter. „Ich hatte keine Ahnung, dass eines seiner Geschwister Bescheid wusste. Wir hatten Roundtree in unser Vertrauen gezogen und Sie mögen das ohne Zweifel für eine merkwürdige Wahl halten, bedenkt man seine Profession, aber der junge Vikar ist der Ansicht, dass man den Sünder lieben sollte, wenn auch nicht die Sünde. Das war der Grund, weshalb er mir telegrafiert hatte und ich zurückgekommen war. Was bedeutete mir schon mein Gepäck oder Afrika, wenn ich erfuhr, dass meinen Liebling ein so schreckliches Schicksal ereilt hatte? Da haben Sie die fehlenden Informationen, Mr. Holmes“ „Fahren Sie nur fort“, sagte mein Freund. Was als nächstes geschah, ist Ihnen, lieber Leser, mit Sicherheit bewusst. Dass Sterndale das Pulver im Detail erklärte, wie er unwissentlich Mortimer Tregennis von seiner Existenz informiert hatte und wie der älteste Bruder es benutzt hatte, um an seinen Geschwistern Rache zu nehmen. Sowohl für tatsächliche Verbrechen—von denen Francis Roundhay uns schließlich in Kenntnis gesetzt hatte—und für eingebildete Verbrechen—jene seines Bruders Owen. „Mir war niemals bewusst gewesen, dass Mortimer über Owen und mich Bescheid wusste“, wiederholte Sterndale. „Nicht Brenda oder George, es war Mortimer, den ich am meisten fürchtete. Er war von der kalten, gefühllosen, unversöhnlichen Sorte, schon als Kind. Er hätte seinem Bruder niemals so beigestanden, wenn er es gewusst hätte, wie George und Brenda es getan hätten. Aber irgendwie hatte er es herausgefunden und diese üble Absicht zweifellos schon seit Jahren geplant. Immer auf die perfekte Gelegenheit gewartet. Und ich…ich habe sie ihm unwissentlich gegeben.“ Er hielt inne, blickte sich um und ich war mir nicht sicher, ob er nach mehr Alkohol suchte oder fliehen wollte. Holmes runzelte die Stirn, schüttelte langsam den Kopf. „Sie dürfen sich nicht die Schuld an etwas geben, was Sie nicht vorhersehen konnten. Die Schuld liegt ganz und gar bei Tregennis.“ „Das ist Owen auch kein Trost“, sagte der große Jäger leise. „Oder George und Brenda.“ Nachdem er sich laut räusperte, schien er einen Teil seiner Fassung zurückzuerlangen. „Aber ich schweife ab und um zu meiner Erklärung zurückzukommen, ich fand mich in einer unmöglichen Position. Ich konnte mich nicht an das Gesetz wenden, denn dabei hätte ich weit mehr gestanden, als meine Ehre es gestattet. Und wer würde eine so abenteuerliche Geschichte schon glauben! Meine Seele schrie nach Rache. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Mr. Holmes, dass ich einen großen Teil meines Lebens außerhalb des Gesetzes verbracht habe und dass ich selbst es am Ende war, dessen Gesetzten ich folgte. Und so ging ich zu Tregennis und ich konfrontierte ihn mit seinem Verbrechen. Ich sagte ihm, dass ich sowohl als Richter als auch als Vollstrecker zu ihm gekommen war. Der Schurke sank in einen Sessel, gelähmt beim Anblick meines Revolvers. Ich zündete die Lampe an, gab das Pulver dazu und stellte mich außen vor das Fenster, bereit meine Drohung wahr zu machen und ihn zu erschießen, falls er versuchen sollte, das Zimmer zu verlassen. Er starb innerhalb von fünf Minuten. Mein Gott! Und wie er starb! Aber mein Herz war aus Feuerstein, denn er erlitt nichts, was nicht mein unschuldiger Liebling vor ihm hatte fühlen müssen. Da haben Sie meine Geschichte, Mr. Holmes.“ Er hielt inne und starrte meinen Freund an, so als versuchte er verzweifelt ihn mit seinem Willen dazu zu bringen, zu verstehen, zu erkennen. „Vielleicht, wenn sie eine Frau lieben würden, hätten Sie so gehandelt wie ich.“ Holmes schnaubte, aber es war keine Unhöflichkeit, so glaube ich, nur Ironie. Ich sah schnell weg. „Wenn ich Sie nicht hierher bestellt hätte, wenn ich Ihre Pläne nicht deduziert hätte, was hätten Sie dann getan?“ „Ich wäre nach Afrika zurückgekehrt, wo meine Arbeit erst halb getan ist.“ Die grauen Augen meines Freundes trafen meine, wenn auch kurz, bevor sie sich wieder ihrer Musterung Sterndales zuwandten. Er erhob sich und ging zum Fenster, so als läge die Antwort in den Fensterglas, das sein Speigelbild trug. Er verschränkte die Arme vor der Brust und dann sagte er, vollkommen ruhig und ernst: „Gehen Sie und tun Sie die zweite Hälfte.“ Sterndale schoss hoch, seine wuchtige Gestalt brachte den Sessel zum Quietschen, nachdem er so eine schwere Last tragen musste. Da Holmes uns seinen Rücken zuwandte, schien er unsicher, was er tun sollte. Ich schüttelte leicht den Kopf, als er sich hilfesuchend zu mir umdrehte, und dann ging er auf die Tür zu, er stand wohl unter Schock. „Ich weiß nicht, was ich zu Ihnen sagen soll, Mr. Holmes. Und für Sie gilt dasselbe, Doktor. Ich weiß, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die Gentlemen wie Sie beide unmöglich verstehen können, meine Herren, aber Ihnen beiden gilt mein ewiger Dank, was auch immer dieser Wert sein mag.“ Er verbeugte sich ernsthaft und war so endgültig und plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Holmes setzte seine einsame Wache am Fenster noch einige Minuten lang fort, nachdem der Großwildjäger schon gegangen war und ich wusste es besser, als ihn zu stören. Ich fragte mich, ob er ihm nachblickte, wie er davontrottete, Richtung Klippen, wo er innerhalb weniger Tage allein auf einem Schiff ins tiefste Afrika aufbrechen würde, trauernd, aber sicher vor dem Arm des Gesetzes. Als mein Freund schließlich sprach, tat er es mit einer bedeutungsschweren, ernsten Stimme, die ich von ihm seit längerer Zeit nicht mehr gehört hatte. „Du würdest den Mann doch nicht denunzieren?“, fragte er. „Ganz sicher nicht. Wie könnte ich? Ich kann kaum glauben, dass er es vor uns zugegeben hat.“ „Welche Wahl hatte er denn? Er hatte erkannt, dass ich alles wusste, und es zu leugnen, hätte ihm nur die Schlinge um den Hals gelegt.“ Ich fühlte eine plötzliche Verpflichtung, dass Offensichtliche auszusprechen. „Du hast ihn gehen lassen, Holmes. Dabei haben doch sicherlich deine eigenen Gefühle eine Rolle gespielt.“ Ich hatte geglaubt, das würde ihn verärgern, aber stattdessen drehte er sich um und lächelte ernsthaft, so als bereitete ihm diese bloße Handlung Schmerzen. „Vor zehn Jahren, vielleicht sogar vor fünf, hätte ich niemals so gehandelt. Aber ich habe geliebt, Watson, und wenn die Person, die ich geliebt habe, ein solches Ende gefunden hätte, dann hätte ich möglicherweise ebenso gehandelt haben, wie es unser gesetzloser Großwildjäger getan hat.“ Seine Worte berührten mich so sehr, dass ich nicht widerstehen konnte und zuließ, dass ein ungewöhnlich starkes Glücksgefühl durch meine Venen strömte. „Oh? Und wer mag diese Person sein, auf die Sie sich da beziehen, mein werter Herr?“ Als Antwort schlug er mir hart auf die Schulter, doch das ernsthafte Lächeln blieb. „Wir hören nicht auf Befehl auf zu fühlen, Watson“, sagte er kryptisch. „Und nun fühle ich mich ziemlich geschafft. Ich werde ein schnelles Abendessen zu mir nehmen und dann begebe ich mich in Morpheus’ Reich.“ Und so endete der Fall des Teufelsfußes und zu guter letzt fühle ich etwas Vergleichbares wie Stolz darüber, dass er endlich gewissenhaft so aufgezeichnet worden ist, wie es sich zugetragen hat, ohne jegliche Lügen und Halbwahrheiten. In vielen meiner Fälle, wie Sie zweifellos wissen, war ich zur Diskretion gezwungen und konnte nicht anders, als die Tatsachen ein wenig zu drehen, aber es erfreut mach, dass ich mich nun nicht verstecken muss. Dieser Zwang zur Heimlichkeit kostete Sterndale und Owen Tregennis die Chance auf Glück, wie es auch in meinem eigenen Leben lange Zeit der Fall war. Aber wenn es für diese beiden unglückseligen Männer nichts anderes gab als dunkles Verhängnis, was war dann mit mir und Sherlock Holmes? Würde uns dasselbe Schicksal ereilen? Zu jener Zeit hatte es diesen Anschein gehabt, aber, wie es in meinem Leben in Verbindung mit jenem Mann immer der Fall war, eine merkwürdigen Laune des Schicksals stieß mich ein weiteres Mal auf einen Pfad, von dem ich nicht gedacht hatte, dass ich ihn je wieder betreten würde. Es begann, als in unserem kleinen Cottage ein Telegramm anlangte. Holmes konnte sich, nun da der Fall gelöst war, endlich erholen und das tat er auch. Er schlief den Großteil der Zeit und ich versuchte so zu tun, als hörte ich nicht, wie er nachts schrie und sich herumwarf, wie er sich in seinen Abfallkübel übergab und so stark schwitzte, dass er sein gesamtes Bettzeug durchtränkte. Er gestattete mir nur wenig für ihn zu tun, außer ihm seine Mahlzeiten zu kochen. Allmählich normalisierte sich sein Appetit wieder. Normal für Holmes zumindest. Ich bestand darauf, dass er Wasser trank und versuchte ihn, so viel wie möglich abzulenken. Er wollte nichts gegen die Schmerzen nehmen, nicht einmal ein Sechstelgran[4] Morphium. Ich konnte ihn überreden, ein wenig Whiskey vermischt mit Ingwer zu sich zu nehmen, wenn die Magenkrämpfe unerträglich wurden, aber das war alles. „So geht das nicht“, murmelte er, als ich versuchte, ihm etwas Wirksameres zu injizieren. „Dies muss ich ertragen, Watson. Muss es nun ertragen, damit ich es nicht wieder tun muss.“ Und dann stöhnte er, umklammerte seinen Unterleib und verlor das Bewusstsein. Aber ich schweife ab und nach zwei Wochen schien der Mann deutliche Fortschritte zu machen. Ich bemerkte es zum ersten Mal, als er begann in seinem Essen herumzustochern und sein Verlangen nach Tabak stark anstieg. Mehrere Tage lang arbeitete er sich durch all die Bücher in dem Cottage, verschlang in kürzester Zeit, was er auswählte, bevor er das Buch beiseite stieß und zu einem anderen überging. Dann arbeitete er sich soweit vor, dass er sich tatsächlich anzog und in die Sonne setzte, gelegentlich an seiner Violine zupfte, aber meistens starrte er einfach nur stundenlang aufs Meer hinaus. Er sprach mit ihm, wenn ich ein Gespräch begann, aber es schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er schien zu erkennen, dass je früher er seine Verfassung zurückerlangte, desto früher würden wir abreisen. Desto früher würden die Dinge wieder so sein, wie sie gewesen waren. Und dann als, nachdem die dritte Woche vergangen war, das Telegramm von einem ortsansässigen Jungen im Dienste der Post überbracht wurde, zwangen uns die Umstände das Unvermeidliche früher auf, als wir beide damit gerechnet hatten. Es stammte, ausgerechnet, von meinem Arbeitskollegen, Linwood Askew, und darin stand: Haushälterin krank Stopp Sofort nach Hause zurückkehren Stopp Askew __________________________________________________________________________ [1] Der Führer in Dantes Inferno [2] Diese und die folgenden kursiven Passagen stammen direkt aus „Der Teufelsfuß“. [3] Anm. d. Übersetzers: veraltete Maßeinheit (engl. ‚grain’), das sich wohl ursprünglich auf das Gewicht eines Weizenkorns bezog. (Für die, die es genau wissen wollen: 1 Gran = 64,79891 Milligramm) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)