Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 33: ------------ Es gibt gute Neuigkeiten! Ende August hat amalcom1 auf fanfiction.net ein neues Kapitel hochgeladen. Das heißt außer diesem Kapitel hier gibt es noch zwei weitere mit deren Übersetzung ihr bald rechnen könnt. Ihr könnt euch außerdem schon mal auf eine neue Wendung freuen. Wie es aussieht, wird es vor dem Ende noch einige Kapitel geben. Aber jetzt erstmal viel Spaß beim Lesen dieses Kapitels! Ich muss daran denken, wie ironisch es doch ist, dass ich meine Erzählung „Der Teufelsfuß“ 1910 geschrieben habe, nur vier kurze Jahre vor meiner Wiedervereinigung mit Holmes und all dem Guten, das danach geschah. Aber ich greife mir selbst vor. Ich denke, dass wenn ich die Geschichte vier Jahre später geschrieben hätte, ich mehr über de persönliche Seite unserer Ferien in Cornwall geschrieben hätte. Vielleicht nicht. Aber es gab gewiss Aspekte in jenem Fall, die aus Diskretionsgründen geändert werden mussten und die für die Öffentlichkeit bis jetzt nicht zugänglich waren. Ein paar davon betreffen den Fall selbst, was die Leser deutlich erkennen werden und andere betreffen das, was mit Holmes während unsers Aufenthalts in Cornwall geschah. Die Leser meiner Geschichten werden bemerken, dass in meinen veröffentlichten Werken hin und wieder einige kleine Unstimmigkeiten auftreten. Manche davon geschahen natürlich aus Versehen, wobei die Schuld entweder meine eigene oder die meines Verlegers ist. Andere entstanden absichtlich, um bestimmte Personen vor genaueren Untersuchungen zu schützen – wichtige Klienten, deren Ruf bewahrt werden musste. Und natürlich spielte auch der Ruf von Sherlock Holmes und mir selbst eine Rolle. Und daher werde ich nun, da ich eine der düstersten Zeiten meines Lebens auf der Suche nach Licht durchquere, zum ersten Mal einen Fall von Holmes vollständig und ohne Rücksicht auf jegliche Reputation beleuchten. Unser weißgetünchtes Haus auf einem der abgelegensten Landarme von Poldhu Bay war weit genug von Holmes’ Kindheitshaus in Bodmin Mor entfernt, dass ich versuchte seine Nähe zu verdrängen. Allerdings waren die Angst und die Isolation der Gebiete einander zu ähnlich, als dass ich es wirklich hätte vergessen können. Dieses Haus war wie ein weißes Leuchtsignal am höchsten Punkt eines mageren Hochlandes mit Ausblick auf das faszinierende Gebiet von Mount’s Bay, wo Kanal und Atlantik aufeinander stießen und einen ewigen Kampf ausfochten. Das Haus war wie ein weißes Leuchtfeuer auf dem höchsten Punkt einer mageren Heide und es überblickte die faszinierende Gegend von Mount’s Bay, wo Ärmelkanal und Atlantik ineinander krachten und miteinander um Vorherrschaft kämpfen. Die Schreie der Möwen und das Tosen der Wellen schienen aus der täglichen Schlacht einen nie endenden Krieg mit unzähligen Opfern zu machen. Holmes wäre zweifellos der Meinung, ich wäre übertrieben dramatisch, aber das war meine erste Reaktion. Ich konnte mir weitaus geeignetere Orte für einen Urlaub vorstellen. Aber wir hatten unsere Taschen nicht schneller ausgepackt, als Holmes mich auch schon in dem ruhigen Haus alleine ließ, um die einsamen Moore und die Ruinen irgendwelcher untergegangener Völker zu erkunden. Während der Zugfahrt hatte er über nichts anderes gesprochen als darüber, sich nun für ein oder zwei Wochen der Studie der kornischen Sprache zu widmen, von der er annahm, dass sie von den phönizischen Zinnhändlern herrührte, eine Theorie, die schon seit vielen Jahren existierte und die diesen Mann seit seiner Kindheit in jener Gegend fasziniert hatte. Sobald wir in unserem kleinen Cottage angekommen waren, ließ Holmes seine Habseligkeiten auch schon im ersten der beiden Schlafzimmer fallen, ergriff ein Buch und eine Laterne und verließ mich für eine einsame Meditation auf den großen, in jener Gegend verbreiteten steinernen Menhirs [1]. Er gab keinen Anhaltspunkt, wann er zurückkommen mochte. Ich hielt es für das Beste, ihn in Ruhe zu lassen, zumindest für jenen ersten Tag, aber als die Stunde immer später wurde und ich nichts anderes hören konnte als die Wellen, die draußen vor unserer Tür tosten, wurde ich besorgt. Seine Gesundheit lag mir sehr am Herzen. Und da gab es den unglückseligen Gedanken, mit dem mein Geist schon gespielt hatte, seit ich ihn vor einer Woche bewusstlos vorgefunden hatte. Versuchte er mit Absicht sich das Leben zu nehmen? War das der Grund, weshalb er an diesen trostlosen Ort kommen wollte, nahe dem Ort, wo sein Schmerz begonnen hatte? Es war ein Gedanke, den ich nicht aus meinem Kopf vertreiben konnte. Nach einer einstündigen Suche fand ich ihn auf einem eben jener Findlinge, die er als sein Ziel angegeben hatte, das Buch in der Hand, die Laterne angezündet. Er wirkte vollkommen zufrieden und nichtsahnend (oder unbekümmert), was meine Besorgnis betraf. Wie gewöhnlich warf er nur einen Blick auf die gewaltige Erleichterung, die sich auf meinem Gesicht ausbreitete, und las meine Gedanken. Es war eine Fähigkeit, an die ich mich zu jenem Zeitpunkt schon gewöhnt hatte. „Was ist los, Doktor?“, fragte er, als ich mich neben ihn setzte. „Hattest du Angst, du würdest meine zerschmetterte Leiche unten auf den Felsen finden?“ „Wieso sagst du so etwas Grässliches?“ Natürlich war das genau, was ich zu finden gefürchtet hatte. „Und doch dachtest du es. Nun leugne es nicht! Ich kann deutlich die Angst in deinen Augen sehen.“ Ich hatte keinerlei Zweifel, dass er es konnte. Er blickte mich direkt an, so wie er es während unserer ganzen Freundschaft getan hatte. Heimlich zuerst, in der Annahme ich würde es nicht bemerken und später…nun ja, auch heimlich. Aber in einer anderen Hinsicht. „Gut, darf ich dann fragen, ob jene Furcht gerechtfertigt ist?“ „Nur ein Mensch, der keinerlei Kontrolle über seine Gefühle hat, würde auf eine solche Flucht wie Selbstmord zurückgreifen. Es ist keine logische Alternative zu seinen Problemen.“ „Natürlich ist es das nicht! Es ist dumm und feige!“ „Und hältst du mich für dumm und feige?“ „Mit Sicherheit nicht. Aber“— „Und weshalb solltest du dann annehmen, dass ich derartig handeln würde?“ Er schlang seine langen Arme um seine Beine, kauerte sich zusammen und erinnerte mich sehr an den Jungen, der ihm meiner Ansicht nach so sehr ähnlich war. Seine Stimme war ungewöhnlich sanft und friedlich. „Es ist nicht das erste Mal, dass du so von mir gedacht hast.“ „Du wolltest, dass ich es denke, als du mir jenes Gedicht zurückgelassen hattest – und jene lateinischen Worte geschrieben hattest. Du wusstest, was ich denken würde. Und du wusstest, dass ich nach Meiringen hetzen würde, um dich zu finden. War es nicht so?“ Er antwortete nicht. Langsam senkte er den seinen Kopf auf die Knie und mit einem durchdringenden Blick saß er neben mir und starrte hinaus auf die See. „Wusstest du, dass ‚Poldhu’ in der kornischen Sprache ‚schwarzer Weiher’ bedeutet? Genau so habe ich Cornwall immer gesehen…schwarz. Dunkel.“ Es hatte zu regnen begonnen, langsam zunächst, aber dann wie aus Eimern, wie es im März oft der Fall ist und wie es ebenso oft der Fall ist, wenn Holmes und ich draußen waren und über Dinge sprachen, über die keiner von uns reden wollte. Unser Menhir war ein unzulänglicher Schutz und der Sprühregen traf uns direkt ins Gesicht. „Ich denke, wir sollten zurück zum Haus gehen“, sagte ich. „Du gehst voraus. Ich werde bald nachkommen.“ „Du solltest besser jetzt mitkommen. Du weißt, dass deine Gesundheit anfällig ist.“ Er lachte herzlich und nahm meinen Arm, unsere beiden Wollmäntel waren bereits regendurchnässt. „Nun, wenn meine Gesundheit so anfällig ist, dann ist es ein Glück, dass ich einen qualifizierten Doktor kenne, der sich ganz in meiner Nähe aufhält.“ Am nächsten Morgen erwachte ich und fand meinen Gefährten bereits aus dem Bett und aus dem Haus. Es war Kaffee gekocht worden – er war lauwarm und unglaublich stark – und der Aschenbecher war bis zum Rand mit Zigarettenkippen und Pfeifenfiltern. Es gab keine Anzeichen, dass irgendwelche Nahrung im Haus auch nur angerührt worden war. Ich ging sofort in Holmes’ Schlafzimmer und fand es bereits völlig verwüstet vor. Kleidungstücke sowie Bücher lagen verstreut auf dem Boden. Aber ich interessierte mich nur für das marokkanische Etui, von dem ich wusste, dass es in seinem Gepäck mitgereist war. Die Spritze, das Stück Gummischnur, die Flasche. Ich durchsuchte das Bett, den Kleiderschrank, die Truhe und den Schreibtisch. Nichts. Mit einem tiefen Seufzen schloss ich die Tür. Ohne mich drum zu bemühen, nach ihm zu suchen, schlenderte ich langsam über das Moor auf das Dorf zu. Ich konnte gerade die uralte, moosbewachsene Kirche ausmachen, die von den kleinen Häusern ein paar weniger hundert Gemeindemitglieder umgeben wurde. Dankenswerterweise gab es ein Postamt in Tredannick Wollas und ein Telegramm wurde aufgegeben, das Mrs. Hudson unsere wohlbehaltene Ankunft versichern würde. Ich war damals nicht in der Lage abzuschätzen, wie lange wir dort bleiben würden. Wenn ich mir Holmes so ansah, konnte es in der Tat ein langer Urlaub werden. Als ich bei der Kirche und dem benachbarten Pfarrhaus vorbeischlenderte und sie unaufdringlich begutachtete, rief mich plötzlich ein recht junger, glattrasierter Kerl an, dessen Anwesenheit mir beim Vorbeigehen irgendwie entgangen war. „Hallo!“, rief er und winkte heftig. Bevor ich den Gruß erwidern konnte, stürzte er los, um mich einzuholen. Trotz seiner offensichtlichen Jugend [2] erkannte ich sofort, dass es der Gemeindepfarrer war. Er hatte ein heiteres, einladendes Gesicht und einen beleibten kleinen Körper und ergriff augenblicklich meine Hand. „Es ist wahrlich ein Vergnügen, Sie zu sehen, Mr. Holmes. Wenn ich daran denke, dass unser bescheidenes kleines Dorf mit der Anwesenheit eines so berühmten Mannes beehrt werden sollte!“ Seine Worte schienen so vollkommen aufrichtig, dass ich überrascht war und ihn herzlich anlächelte, bevor ich den Fehler aufklärte. „Es tut mir sehr Leid, Sie zu enttäuschen, Vater, aber ich fürchte, ich bin Dr. John Watson. Mr. Holmes ist mein Freund und Partner.“ Oder eher ‚war’… „Oh! Ja, natürlich sind Sie das! Ich bitte um Verzeihung.“ Ich war erstaunt, dass er schon so rasch von unserer Ankunft erfahren haben sollte, schließlich waren wir erst gestern angekommen, aber er lachte nur leise und erklärte mir, dass er es schon seit dem Vortag gewusst hatte. Der Grundstücksmakler, der uns das Cottage gemietet hatte, war zweifellos nicht in der Lage gewesen, dem Namen seines Mieters zu widerstehen. „Ich hoffe, dass Ihr Interesse für Mr. Holmes nicht so weit reicht, dass Sie seine Dienste in Anspruch nehmen wollen, Sir. Denn ich muss Ihnen sagen, dass er hier ist, um sich eine sehr lange und ausgiebige Ruhepause zu nehmen.“ „Nein, nein. Ich danke dem Herrn, dass wir größtenteils ein ruhige Gemeinde sind – friedlich und unberührt. Hier in Tredannick Wollas haben wir kaum Bedarf nach einem Detektiv.“ Wir unterhielten höchstens zehn Minuten auf der Straße, auch wenn Mr. Roundhay (denn das war sein Name) mich ins Pfarrhaus auf eine Tasse Tee einlud. Ich erfuhr, dass er einiges über Holmes wusste und ein Interesse für Archäologie hegte. So sorgsam wie nur möglich, mied ich alle Details meines eigenen Lebens, aber der junge Pfarrer war ohnehin weit mehr an Holmes interessiert als an mir. Er schloss die Konversation mit den Worten: „Diesen Sonntag müssen Sie und Ihr Freund ins Pfarrhaus kommen und mit mir und meinem Mieter zu Abend essen. Und natürlich lade ich Sie beide auch ein, vorher mit uns den Gottesdienst zu besuchen.“ „Nun, ich kann natürlich nicht für Mr. Holmes sprechen, aber ich danke Ihnen für die Einladung und nehme an.“ Wir einigten uns auf einen Zeitpunkt und verabschiedeten uns. Ich wusste, dass Sherlock Holmes niemals mit mir in die Kirche gehen würde, aber ich war sicher, dass ein angenehmes Abendessen nicht außer Frage stehen würde. Als ich zurück zum Cottage spazierte und den warmen Tag genoss, dachte ich an Mr. Roundhay und spekulierte über die Identität seines Mieters. Holmes kehrte schließlich zurück, kurz nachdem ich zu Abend gegessen hatte, etwa um acht Uhr. Er kam hereingetorkelt, eingewickelt in zwei Lagen von Mänteln, seiner abgewetzten blauen Decke, die zu Hause immer sein Bett schmückte und zwei Schals. Allerdings war es trotz des lieblichen Wetters und seiner bizarren Garderobe die Tatsache, dass er sofort an den Tisch stürzte und Brot, gebratenen Fisch und gekochte Kartoffeln in seinen Mund schaufelte, die mich am meisten verwirrte. Es schien ihn weder zu stören, dass die Reste kalt waren, noch dass er seine Finger benutzte. Ich hatte ihn noch nie zuvor mit einem solchen Heißhunger essen sehen. „Geht es dir auch wirklich gut, Holmes?“, fragte ich. „Gibt es irgendwelchen Kaffee?“ Ich vermutete, dass war wohl seine Art zu Antworten. „Nein…soll ich dir welchen kochen?“ „Danke“, sagte er und machte sich schließlich doch die Mühe, seinen Hut und die Schals zu entfernen. Ich beobachtete ihn von unserer kleinen Küche aus, während ich Wasser aufstellte. Irgendwie war er in nur einem Tag blasser geworden, nervöser und zittriger und sein Fuß klopfte gegen den Boden, während er sich aus der Obstschüssel auf der Anrichte einen Apfel nahm. Da Holmes im besten Fall ein sehr unregelmäßiger Esser war, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Das einzige Problem war, wie ich herausfinden sollte, was es war. Als der Kaffee so war, wie er ihn bevorzugte – schwarz und extrem stark – brachte ich ihm eine dampfende Tasse. Er riss sie mir praktisch aus der Hand und schluckte alles in einem Zug. „Holmes! Also wirklich, du wirst dich verbrennen“— „Mehr“, keuchte er und stellte die Tasse ab. „Mein lieber Holmes“— „Mehr! Bitte, Watson.“ Mit einem tiefen Seufzen holte ich eine zweite und dann eine dritte Tasse. Erst dann schien er zufrieden. Er stöhnte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er augenblicklich seine Kirschholzpfeife und seinen Tabakbeutel aus seinem Mantel zog. Ich wartete aufgebrachte, bis er sie angezündet hatte und er begonnen hatte zu rauchen, bevor ich nach dem Offensichtlichen fragte. „Was zum Teufel ist los mit dir?“ Er sah mich an, als ob meine Frage ungewöhnlich wäre. „Überhaupt nichts, mein Lieber. Warum fragst du?“ „Warum ich frage! Weil du niemals zuvor heimgekommen bist wie ein wildes Tier, bleich wie ein Gespenst, alles Essen in dich hineinschlingst und Kaffee trinkst, so als ob dein Leben davon abhängen würde. Was ist über dich gekommen, Mann?“ Er zuckte nur unverbindlich mit den Achseln. „Ich habe den ganzen Tag lang nichts gegessen. Die Atmosphäre des Moors und die Seeluft haben die Eigenart den Appetit wiederherzustellen.“ Ich war natürlich nicht umsonst ein Arzt und ich wusste, dass es mehr war als ein plötzlicher Heißhunger. Worüber ich nicht genug wusste, das waren die Auswirkungen seiner Droge. Wenn überhaupt dann hatte ich immer, wenn es dazu kam, dass er sich Kokain injizierte, einen gegenteiligen Effekt auf den Appetit meines Freundes beobachtet. Vielleicht war es so wie er sagte. Trotz der leisen Warnung des Mediziners in meinem Unterbewusstsein, beschloss ich ihm vorerst Glauben zu schenken. Da ich spürte, dass die ganze Situation nach einem Themawechsel rief, sagte ich: „Ich habe den Pfarrer von Tredannick Wollas getroffen. Ein wirklich liebenswürdiger Kerl. Ziemlich bewandet was deine Gesichte angeht. Er hat uns eingeladen, morgen mit ihm und seinem Mieter zu Abend zu essen.“ „Hussa.“ „Und davor den Gottesdienst in seiner Kirche zu besuchen.“ „Ha!“ „Nun, Holmes, ich weiß, dass du schon der bloßen Idee von Religion abgeneigt bist“— „Watson, Watson…du enttäuscht mich.“ Er seufzte, als ob seine Bürde zu schwer wäre, um sie zu tragen. „Ich bin der Religion nicht im Geringsten abgeneigt. Tatsächlich halte ich sie für ein ebenso notwendiges Konzept wie Philosophie und Wissenschaft. Ich habe in meinen jüngeren Jahren ziemlich viel Zeit damit zugebracht, die verschiedenen Weltreligionen zu studieren. Auch wenn für mich der Buddha Sakyamuni nicht weniger faszinierend oder zutreffender ist als der Allah des Islam oder der Gott der Christenheit. Wogegen ich allerdings eine Abneigung habe, das ist die ‚Ausübung’ der Religion und die unvermeidliche eigene Überlegenheit bezüglich der moralischen Werte und der Heilvorstellung seines Glaubens, von der ein Gläubiger nur zu oft überzeugt ist. Ich kann es nicht ertragen, wenn mir die Anschauungen eines Mannes über Gott die Kehle hinunter gezwungen werden und behauptet wird, dass sie im Gegensatz zu der eines anderen Mannes die einzige Wahrheit seien. Meiner Meinung nach sollte keine Religion den anderen gegenüber auf einen Podest gestellt werden.“ Ich hörte aufmerksam zu und auch wenn ich es für ein absolut logisches Argument hielt, konnte ich nicht anders, als zu sagen: „Nicht jeder religiöse Mensch will dir seinen Glauben eintrichtern. Nicht jeder ist wie meine Schwester. Oder deine Mutter.“ Dafür erntete ich von ihm den finsteren Blick, mit dem ich gerechnet hatte. Nachdem er seine Pfeife fertig geraucht hatte und seine Blässe sich beinahe wieder in seine gewöhnliche Gesichtsfarbe zurückverwandelt hatte, stand er auf und wünscht mir eine gute Nacht. „Viel Vergnügen beim Beten, mein lieber Junge.“ „Und was ist mit dem Abendessen?“, rief ich ihm nach. „Sieben Uhr!“ Seine Tür schlug heftig genug ins Schloss, um die Wände des Hauses zu erschüttern. Zum ersten Mal seit Monaten lächelte ich triumphierend. Ich schlief gut in jener Nacht. Als ich aufstand, fand ich dasselbe Szenario vor wie am Vortag. Holmes spurlos verschwunden, sein Zimmer in Unordnung, keine Spur von dem marokkanischen Etui und ich fühlte mich seltsam verstört und unwohl. Der einzige Unterschied zwischen gestern und heute—das erkannte ich—war die Tatsache, dass er ganz offensichtlich gefrühstückt hatte, bevor er gegangen war. Die Überreste von mehreren Eiern, Toast und einer Speckscheibe waren auf seinem Teller sichtbar, ebenso wie Gott weiß wie viele Tassen Kaffee. Sogar als Arzt konnte ich mir nicht erklären, was mit dem Appetit meines Freundes geschehen war. Ich wusste, dass es ein paar wenige Krankheiten gab, die einen positiven Effekt auf den Appetit hatten, so wie Enzephalitis oder ein Verletzung im Bereich des Gehirns, vielleicht auch ein Parasit, aber ich war nicht der Meinung, dass das bei meinem Freund der Fall wäre. Es musste mit seinen Drogen zusammenhängen. Während Holmes immer noch schwer auf meinem Gemüt lastete, unternahm ich an jenem wundervollen Spätfrühlingsmorgen einen Spaziergang nach Treddanick Wollas. An einem solchen Morgen war es schwer auf sein Leben wütend zu sein und sogar noch schwerer auf diesen Mann wütend zu sein, den ich so sehr liebte. Mit Sicherheit musste ich nur Vertrauen in ihn haben. Ich versuchte ihn für ein paar Stunden aus meinen Gedanken zu vertreiben und den Gottesdienst zu genießen, auch wenn ich wohl nicht zu erwähnen brauche, dass meine Rückkehr zur Religion nur ein anderes Problem verschlimmerte. Die Kirch war – wie die meisten in Cornwall – einfach und schmucklos, erbaut aus schweren Steinen und sowohl vorn als auch hinten von verstreuten Gräbern und dem Garten umgeben, in dem der Pfarrer gearbeitet hatte. Verschiedene Ortsansässige lächelten mich an und grüßten mich und ich erwiderte die Höflichkeiten mit einer erzwungenen Miene der Zufriedenheit. Als Gast fühlte ich mich gezwungen, in den hinteren Reihen Platz zu nehmen. Es war ein geeigneter Platz, um die Leute zu beobachten, was ich so diskret tat, wie nur möglich. Es gab nur wenige Leute, die von irgendwelchem Interesse waren. Mehrere ältere Damen mit grauen Haaren und grauen Gesichtern, größtenteils in Schwarz, ein oder zwei mit einem verschlafenen Ehemann im Schlepptau. Eine junge Mutter zwängte fünf kleine Kinder in eine Kirchenbank, alle hatten augenscheinlich das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht. Sie begannen sofort herumzuzappeln, wofür sie heftige Klapse auf den Hinterkopf ernteten. Eine andere Familie, die man wohl als jung ansehen würde, trat zusammen ein. Zwei Männer und eine Dame, alle anscheinend in ihren späten Dreißigern oder frühen Vierzigern, würde ich schätzen. Da beide Männer der Dame auf ihren Sitzplatz halfen und weil alle sehr ähnliche Gesichtszüge hatten, war ich sicher, dass sie Geschwister sein mussten. Die drei hatten etwas Fesselndes an sich, dass ich nicht benennen konnte, daher beobachtete ich ihre Bewegungen. Sie saßen links vorne mit der Dame in der Mitte und für die Zeitdauer von mehreren Minuten taten sie nichts, als miteinander zu tuscheln und sich zu jedem umzudrehen, der eintrat. Nur einer trat ein und er erschien zusammen mit dem jungen Pfarrer, Mr. Roundhay. Er hatte einen dunklen Schopf von ungebärdigen Locken, kleine, eng beieinander liegende Augen hinter Brillengläsern und einen kurzen, säuberlich gestutzten Bart. Er war von durchschnittlicher Größe, kräftig und muskulös mit sonnengebräunter, kornischer Gesichtsfarbe, doch er ging mit gekrümmtem Rücken. Er ging das Seitenschiff der Kirche hinunter, bis er das Geschwistertrio erreichte, wo er eine sichtbare Pause einlegte. Ich beobachtete es mit völliger Faszination, wie sich die vier in exakt derselben Sekunde einander zu wandten und sich aufmerksam anstarrten. Das Starren dauerte nur ein oder zwei lange Sekunden und dann riss der Mann seinen Kopf schlagartig nach vorne und ging drei Reihen nach hinten und setzte sich rechts von ihnen, vier Reihen vor mir. Die Orgel begann in jenem Moment zu spielen und wir alle erhoben uns, wodurch ich vorübergehend von dem abgelenkt wurde, was ich gerade beobachtet hatte. Roundhay begann mit seiner Predigt und er war ein wirklich freundlicher Redner, nicht besonders feurig, sondern ruhig und erfahren, mit einer Stimme, die einen mitzog. „Das Thema meiner heutigen Predigt ist eines, von dem ich denke, dass es im Leben von jedem von Gottes Kindern eine Rolle spielt, und doch ist es eine Sache, die über unseren täglichen Aufgaben leicht vergessen wird. Es ist das Thema der Vergebung. Ich will euch heute von der Menschlichkeit Gottes erzählen, nicht von seiner Göttlichkeit. Schlagt doch bitte den Brief an die Kolosser auf, 1:14, und lest mit mir ‚In dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Sünden…’“ Ich konzentrierte mich auf Roundhay, während er sprach, sanft zuerst, aber zuweilen brachen die Gefühle aus ihm heraus, wenn es geboten war, und gestikulierte mit Händen und Fingern. Er sprach, wie es jeder anständige Pfarrer tun würde, doch wirkte er einer reinen Moralpredigt auch entgegen, indem er die Vergebung des Herrn betonte: „Denn wir erfahren die Erlösung des Herrn durch seinen Sohn und wir dürfen das nicht vergessen. Unsere Sünden können uns vergeben werden, wenn wir nur bereuen, aber können wir auch von einander dieselbe Vergebung erfahren? Ist es nicht unsere Pflicht als Christen einander zu vergeben, ebenso wie uns Jesus Christus vergeben hat und wie uns auch der Herr vergeben hat?“ Roundhay forderte uns danach auf, in Frieden zu gehen und die Gemeinde erhob sich auf Kommando und trottete wie Vieh in Richtung der Türen. Ich verlor den dunklen Gentleman mit dem Buckel aus den Augen, aber indem ich ein älteres Paar vorbeiließ, gelangte ich direkt hinter die Geschwister, an die die versteckten Blicke des Kerls gerichtet waren. „Denkt ihr unser Mortimer hat Francis heute Morgen zugehört?“, sagte die Lady gerade zu ihren Brüdern. Ich selbst, da ich so nah war, konnte nicht anders, als mithören. „Mir scheint, dass das Ganze ihm zuliebe geschehen ist.“ „Nun, Brenda“, erwiderte einer der Männer. „Wir sind übereingekommen, Morty zu vergeben. Es ist mit Sicherheit unchristlich so etwas zu sagen.“ Die Menge verlief sich und alle drei schüttelten die Hand des jungen Mr. Roundhay und hielten an, um ein, zwei Worte zu wechseln, die ich nicht mehr hören konnte, bevor sie verschwanden. Natürlich kennen all jene, die mit meinem veröffentlichten Bericht über das Grauen von Cornwall vertraut sind, das Schicksal dieser Familie. Aber man sollte sich nicht vorgreifen. Und daher entschuldige ich mich für meine kurze Abschweifung. Ich war einer der Letzten, die die Kirche verließ und ich war nun an der Reihe, dem Pfarrer meine ermutigenden Worte anzubieten. Ich sagte ihm, dass ich seine Predigt sehr geschätzt hätte, was der Wahrheit sehr nahe kam, auch wenn ich wusste, dass sie sich in meinem Geiste tagelang wiederholen würde. Vergebung war auch eines der Themen, die in meinem Leben in letzter Zeit eine Rolle gespielt hatten. „Vielen Dank, Dr. Watson“, sagte er mit einem angenehmen Lächeln. „Sie hatten Glück, die Kirche in dieser Woche zu besuchen. Hin und wieder versuche ich optimistisch zu predigen, hoffnungsvoll. Es ist meine Überzeugung, dass Feuer und Schwefel sich mit Liebe und Vergebung abwechseln sollten.“ „Eine vernünftige Überzeugung.“ Ich schüttelte ihm einmal mehr die Hand und sagte ihm, dass Holmes und ich ihn bald zum Abendessen besuchen würden. Ich erwähnte nicht, was ich eben mitgehört hatte. Ich würde Holmes nach seiner Meinung fragen müssen. ___________________________________________________________________________ [1] Menhir ist ein bretonisches Wort für „großer Stein“, mit dem die Steine gemeint waren die immer noch in Cornwall verstreut sind und einst für Grabstätten und religiöse Bauwerke verwendet wurden. Allein in Land’s End, wo Holmes und Watson sich befinden, gibt es über 90 Stück davon. [2] In „Der Teufelsfuß“ wird Roundhay eigentlich als ‚im mittleren Alter’ beschrieben, aber ich brauchte ihn jünger, also habe ich sein Alter verändert. [3] Eine junge Frau, die 1844 vermutlich von ihrem Geliebten ermordet wurde. Seit damals und besonders an ihrem Todestag wurde Charlotte in dieser Gegend umherwandern gesehen, gekleidet in eine Robe, einen roten Schal und ein Seidenbonnet. Wachposten der Old Volunteers, die in Roughtor stationiert waren, versahen ihre Pflicht dort nur ungern, so überzeugt waren sie von ihrer geisterhaften Anwesenheit. Ein Gedenkstein markiert den Ort ihres Todes und die Geschichte wurde durch „Die Ballade von Charlotte Dymond” des korinschen Dichters Charles Causley unsterblich. [4] Im Canon sagt Mortimer eigentlich, dass George älter ist als er selbst, aber ich nehme mir hier eine leichte dichterische Freiheit…nun, ihr werdet sehen, dass ich mir bei diesem Fall recht viele dichterische Freiheiten genommen habe. [5] So wie in „Der Detektiv auf dem Sterbebett“, wo Holmes Watsons medizinischen Qualifikationen als mittelmäßig bezeichnet. Er tut es natürlich absichtlich, um Watson von ihm fern zu halten, aber es musste natürlich trotzdem schmerzhaft sein. [6] Hamlet, Akt I, Szene II Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)