Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 20: ------------ So das 20. Kapitel kam nicht ganz so schnell, wie ich gehofft hatte, aber meine Lehrer haben offensichtlich gemeinschaftlich beschlossen, uns vor Ende des Semesters noch ordentlich zu quälen. Am Donnerstag ist das allerdings erledigt und ich hoffe, dass das nächste Kapitel vielleicht schon am Wochenende on sein wird. Für die nächsten anderthalb Jahre bewältigten Sherlock Holmes und ich unsere Beziehung ohne viel Mühe. Der Grund dafür war hauptsächlich die Tatsache, dass mein Freund in jenen Jahren, ’95 und ’96, so beschäftigt mit seiner Arbeit war, dass nur sehr wenig Zeit für irgendetwas anderes blieb. Und auch wenn wir nicht oft zusammen waren, schien es mir, als schien die träge Wolke des Gesetzes ständig über uns zu hängen. [1] Vielleicht war das der Grund, weshalb wir es nicht oft riskierten, zusammen zu sein, denn als die Tage und Monate vergingen, hatte ich das Gefühl, alles wurde mehr und mehr so wie es immer gewesen war. Holmes, der große Detektiv und ich, sein bescheidener Helfer. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte ich noch nicht wirklich sagen, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis es vollkommen klar werden würde. Im Laufe der Jahre während meiner Beziehung zu Holmes überraschte es mich immer wieder, wie wenig ich über diesen Mann wusste. Selbst nachdem unsere gegenseitigen Gefühle bekannt geworden waren, konnte ich immer noch nicht ehrlich sagen, dass ich ihn kannte. Schließlich wenn ein Mann mit einem anderen über ein Dutzend Jahre zusammenlebt und davon überzeugt ist, der andere sei zu genau jenen Gefühlen nicht fähig, die später den Kern ihrer Beziehung bilden sollten, dann muss er wohl über ein erbärmliches Urteilsvermögen verfügten. Selbst wenn der Beurteilte ein Meister der Täuschung ist, so wie Sherlock Holmes es immer sein wird. Allerdings war es gar nicht so sehr meine Ignoranz angesichts seines Gefühlsleben, die mich plagte, sondern meine Unwissenheit über nahezu alles, was in seinem Leben geschehen war, bevor wir uns kennen gelernt hatten. Er sprach sehr selten von diesen Jahren und ich muss zugeben, dass ich Angst hatte ihn danach zu fragen, da er so ungern darüber zu sprechen schien. Ich wusste natürlich, dass seine Familie von Landjunkern abstammte, dass er vermutlich eher isoliert aufgewachsen war und dass sowohl er als auch sein Bruder sobald wie möglich an die Universität geflohen waren. In der Erzählung Gloria Scott habe ich natürlich auch geschrieben, dass er dort einige wenige Freunde hatte und dass es der Vater von einem dieser wenigen gewesen war, der meinen Freund zu seinem Beruf ermutigt hatte. Aber immer blieb es mir überlassen, mir über all die vielen Lücken Gedanken zu machen. Wer waren seine Eltern? Wie hatten die Jahre seiner frühen Kindheit seinen deduktiven Verstand geformt? Wie war die Beziehung zwischen den Brüdern, und wie die der Familie im Ganzen? Und mehr als alles andere: Welche Ereignisse hatten dazu beigetragen, aus ihm die einzigartige Person zu machen, die er heute war? Während ich mich nun den letzten Kapiteln meiner eigenen Existenz auf diesem Planeten annähere, erinnere ich mich an all die Gelegenheiten zurück, da jene treuen Leser mir geschrieben, mich auf der Straße angehalten haben oder einfach direkt zu mir gekommen sind, um mir Fragen über all das zu stellen, was ich in den ursprünglichen Berichten über meinen Freund ausgelassen habe. Und mehr als alles andere bezogen sich diese Fragen auf seine Vergangenheit. Nach all diesen Jahren müssen Sie doch sicherlich mehr erfahren haben, als Sie uns weismachen wollen. Sie müssen etwas über seine Vergangenheit wissen… Und dann würde ich lächeln, meinen Kopf schütteln und das Thema wechseln. Solange er lebte, würde ich niemals jenes Wissen enthüllen, von dem ich einst angenommen hatte, ich würde es schließlich mit ins Grab nehmen. Aber da es nun keinen Schaden mehr verursachen kann, diesen Schmerz von Holmes zu enthüllen, werde ich es so zartfühlend und wahrheitsgetreu tun wie nur möglich. Der Hauptgrund dafür ist, dass ich in diesen Memoiren die menschliche Seite meines Freundes offenbaren wollte. Und nichts könnte all die Gefühle, die tief in seinem Herzen verborgen lagen, besser vermitteln als seine Vergangenheit und die Ereignisse, die sich zutrugen, als mir schließlich der Zugang dazu gewährt worden war. Es war im Oktober ’96, nur ein paar Tage nach Joshs fünftem Geburtstag, als Holmes und der Junge im Wohnzimmer saßen, während das Geburtstagsgeschenk des Jungen zwischen ihnen lag – ein wundervolles Schachspiel. Auf den ersten Blick mochte man meinen, dies sein nur ein wenig Vergnügen zwischen dem Mann und dem Jungen, aber jener, der die beiden regelmäßig sah, würde sofort eines Besseren belehrt. Es war – so wie es mit allem zwischen ihnen zu sein schien – Unterricht. Meinem Freund zufolge kam Josh gut voran, aber als Lehrer des Jungen meinte er das natürlich in geistiger Hinsicht. Zusätzlich zum Trivium [2] fügte er noch theoretischen Unterricht in Chemie, Biologie, Geographie und Sprachen – bestehend aus Französisch und Latein – hinzu. Josh musste in der Tat eines der bestunterrichtetsten Kinder in ganz London sein, sah man einmal von der Unregelmäßigkeit des Unterrichts ab. Er fand statt, wann auch immer Holmes gerade die Lust verspürte, ihn zu unterrichten und das konnte irgendwann sein, irgendwo. Tage mochten in solchem Ausmaß ungenutzt vergehen, dass ich mich beinahe fragte, ob er seinen jungen Schüler ganz vergessen haben mochte und an anderen mochte er ärgerlich werden, wenn der Junge nicht auf einmal mit französischer Grammatik, pflanzlichen Alkaloiden und dem britischen Gemeinrecht zurechtkam. In meinem Herzen weiß ich, dass ich nicht hätte zulassen dürfen, dass es so weiterging, wie es nun einmal weiterging, denn ich zweifle nicht daran, dass das alles in dem Jungen einen enormen Druck erzeugt haben musste, der früher oder später explodieren würde. Was er natürlich tat. Aber ich greife vor…mein einziger Beitrag dazu war, dass ich ihn ermutigte alles und jedes zu lesen, was er nur in die Finger bekommen konnte und ich muss sagen, ich denke, dass genoss er mehr als alles andere. Während er hin und wieder über die Prozedur mit Holmes murrte, beschwerte er sich niemals über das Lesen oder Schreiben. Es schien mir dann, dass er sich damit schon beschäftigt hatte, seit eben jenem Tag, als er auf unserem Planeten angekommen war. Die beiden großartigen Köpfe saßen direkt vor dem Kamin; die Flamen flackerten auf ihren tief konzentrierten Gesichtern. Josh im Besonderen saß mit weit aufgerissenen Augen und einem finsteren Blick da, sein Kopf ruhte auf den Armen, die beiden vollkommen ruhig. Er bot einen vertrauten Anblick völliger Achtsamkeit. Sobald ihm die Züge, die ihm zum Sieg führen würden, klar wurden, würden die kurzen Beinchen zu schaukeln beginnen. Wahrscheinlich würde er nie ein guter Kartenspieler werden. Sein ganzer Körper verriet ihn. Keiner der Spieler spielte auf Geschwindigkeit. Oder auch nur zum Vergnügen. Das war Unterricht. Der Junge beobachte das Brett und Holmes beobachtete den Jungen. Für mich war es ein wunderschöner Anblick – die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, saßen zusammen vor mir. Aber das war ein Gedanke, den ich für mich behielt. „Königin nach b4“, sagte Holmes, nachdem seine Adleraugen das Brett für etwa eine halbe Sekunde gestreift hatten. „Und das war’s für deinen Turm, mein lieber John Sherlock. Und außerdem Schach.“ Josh runzelte die Stirn und trat mit einem kleinen Fuß, der fast einen ganzen Fuß über dem Boden baumelte, gegen den Tisch. „Sag mir, was der nächste Zug ist. Du müsstest sehen können, dass mein Sieg unvermeidlich ist. Tss! Ohne die Figuren zu bewegen. Benutze deinen Verstand. Betrachte es logisch.“ „Es ist schwer, ohne die Figuren zu bewegen, Onkel.“ „Du musst sie mit deinem Verstand bewegen.“ Ich beobachtete sie über den Rand meiner Zeitung, während ich versuchte, den Eindruck zu erwecken, als sei ich völlig in die Fußballergebnisse vertieft. Ich betrachtete den Jungen voller Stolz und die beiden voller amüsiertem Staunen. Die völlige Konzentration, die Anspannung…nun, man könnte meinen, dass Schicksal unseres ganzen Landes ruhe auf diesen vier Schultern und hing von der Frage ab, ob das Kind vorhersehen konnte, in welche Falle Holmes ihn geführt haben mochte. Josh setzte sich plötzlich auf und strahlte seinen Patenonkel an. „Ich hab’s!“ „Bist du dir sicher?“ „Natürlich. Zuerst werde ich meinen König bewegen“, erklärte der Junge, während er die Figur mit überraschender Grazie für solche kurzen kleinen Finger verstellte. „Nach e3; du wirst ihn mit deinem Läufer schlagen und mich Schach setzten; ich kontere mit einem Schach hier, mit meiner Königin auf c4, König nach d2, Schach, Königin nach a2, König nach b1, und das ist alles. Dann bin ich mattgesetzt.“ Holmes zögerte einen Moment (oder vielleicht eine Sekunde), aber dann ließ er einen seiner seltenen Freudenschreien verlauten. „Das war gut gespielt, Junge! Wirklich gut gespielt!“ Holmes hob ihn von seinem Stuhl, um ich zurück auf seine Füße zu setzen. Josh strahlte über sein ganzes Gesicht und war sicherlich weit aufgeregter über seine Niederlage, als jedes andere Kind es gewesen wäre. Seine klaren Augen leuchteten eindeutig im Licht des Feuers und ich muss zugeben, ein wenig Eifersucht in meinem Herzen gefühlt zu haben. Es ist ein so hirnloses Gefühl für einen erwachsenen Mann, besonders seinem eigenen Sohn gegenüber und noch mehr, wenn es der eigene liebste Freund ist, von dem der Junge das Lob erhält. Aber Holmes hatte mich schon so oft wegen meiner Mitarbeit auf seinen Fällen angeschnauzt, dass ich das Gefühl, ich verdiente mehr Lob, als ich jemals bekommen hatte, nicht unterdrücken konnte. „Ich nehme das als Zeichen, dass er richtig lag?“, fragte ich, während ich leicht den Kopf schüttelte. „In jeder Hinsicht, Watson. Weißt du, das hier trägt den Namen ‘Abgelehntes Königsgambit’.” Seine Stimme verlor die ermutigende Schärfe, die sie für den Jungen angenommen hatte (oder eher für ihn selbst, wenn er den Jungen unterrichtete) und verwandelte sich wieder in jene des Meisters, der sich an seine Schüler richtet. „Diese Technik wurde ’58 von einem der Großmeister dieses Spiels, Henry Bird, in unserer eigenen schönen Stadt angewandt. Bird gegen Morphy. Und du, John Sherlock, hast sie wiedererkannt und erklärt, warum ich dich damit mattsetzen würde.“ „Danke, Onkel“, sagte mein Sohn. „Aber ich wünschte, du würdest einmal mit mir spielen, ohne mich dabei in Logik zu unterrichten. Ich will sehen, ob ich dich schlagen kann, ohne dass du mich lässt.“ „Dich lassen? Ich habe nichts dergleichen getan! Es war Unterricht im logischen Denken, ja, aber du hast den Schachzug erkannt, ohne dass ich dich ‚gewinnen ließ’.“ „Aber können wir nicht einfach mal…nur so zum Spaß spielen?“ Holmes’ Blick wirke für ein paar Sekunden höhnisch, so als ob ihn diese besondere Form des Schachspiels noch nie zuvor in den Sinn gekommen war. Es war eindeutig unglaublich komisch. „Ja, nun, wir werden sehen. Vielleicht wenn du etwas weiter bist. Ich habe das Gefühl, es könnte für deinen jungen Geist schädlich sein, zum Spaß gegen mich zu spielen. Niederlagen schaden dem Selbstvertrauen.“ Josh wirkte völlig niedergeschlagen und ich selbst war entsetzt. „Holmes!“, tadelte ich ihn. „Das war ziemlich grausam von dir. Woher willst du wissen, ob der Junge verlieren wird? Du sagst doch selbst immer, wie weit er den anderen Kindern voraus ist.“ „Bin ich das?“ Der Junge sah etwas beschwichtigt aus. „Und ob du das bist.“, versicherte ich ihm, bevor Holmes noch etwas sagen konnte, dass ‚dem jungen Geist des Kindes schädlich sein könnte’. „Nun, natürlich bist du das, John Sherlock! Ich würde das nicht sagen, wenn es nicht so wäre! Aber ich kann nicht sagen, dass du schon weit genug fortgeschritten bist, um mit meinem eigenen Verstand zu konkurrieren. Dafür erfordert es viele Jahre der Übung und Gelehrsamkeit.“ Ich war gerade dabei, seine Arroganz abzuschütteln (auch wenn ich mich mittlerweile wohl daran gewöhnt haben sollte), als sich die Tür des Wohnzimmers öffnete und unsere Wirtin eintrat. In der einen Hand trug sie ihr Tablett, mit dem sie die kalten Überreste des Abendessens abräumen wollte, und in der anderen einen gelben Umschlag, den ich als Telegramm erkannte. Holmes erspähte es einen Augenblick vor mir. „Ein verspätetes Telegramm, wie ich sehe, Mrs. Hudson. Für wen?“ „Nun, für Sie natürlich, Mr. Holmes. Ist noch keine zwei Minuten her, dass es vorbeigebracht worden ist.“ Mein Freund griff dankend danach, aber dann erstarrte er, als er es ansah. Er drehte es in seinen Händen hin und her. „Warten Sie, Mrs. Hudson! Wer hat es abgegeben?“ Sie stapelte sorgsam unser Teeservice oben auf die großen Teller. „Irgendein junger Mann, Sir. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Aber er war immerhin sauber. Wirkte anständig. Nicht wie viele von diesen unflätigen Dingern, die auch noch freien Zugang ins Haus erwarten“— „Vielen Dank, Mrs. Hudson.“, antwortete er, während er sie aus dem Zimmer winkte. Er riss den Umschlag auf und zog das Formular heraus. Ich beobachtete sein Gesicht mit einigem Interesse, aber aus unbekannten Gründen, hielt ich es für besser, keine Fragen zu stellen. Sein Ausdruck verwandelte sich von Interesse und Überraschung zu Entsetzte, zu Befremdung und zuletzt fast so etwas wie Wut. Er ballte unbewusst die Fäuste und ich erkannte schließlich die Schwere der Situation. „Holmes, was zum Teufel ist los?“ Instinktiv stand ich auf, um zu ihm zu gehen. Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Während er sich räusperte, knüllte er das Telegramm mit einer Hand zu einer Kugel zusammen und warf es den Kamin. Das Papier fing sofort Feuer und schrumpelte zu einem kleinen, glühend roten Ball zusammen. „Nur eine Nachricht von Bruder Mycroft.“ „Mycroft?“ „In der Tat.“ „Aber was sagt er, Onkel?“ Holmes hatte sein Gesicht von uns abgewandt, seine Augen aufs Feuer gerichtet. „Nichts von irgendwelcher Bedeutung.“ „Ist es ein Fall?“ Der bloße Gedanke ließ Josh beinah schon frohlocken. Strahlend packte er den Arm meines Freundes. „Onkel! Darf ich dir helfen? Bitte? Ich weiß, dass ich schon bereit bin!“ Holmes riss sich los. „Es ist ganz sicher kein Fall! Nun, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das Thema gern als abgeschlossen betrachten!“ Aber der Junge war viel zu aufgeregt, um zu erkennen, dass der Mann nicht in der Stimmung war, seine kindliche Ausgelassenheit zu dulden. „Aber ich bin bereit…“ „Du bist ganz sicher nicht zu irgendetwas Derartigem bereit“, schimpfte Holmes und starrte den Jungen mit finsterem Gesicht an. „Du hast gerade erst begonnen, deinen Verstand für deduktive Schlussfolgerungen vorzubereiten. Und es ist offensichtlich, dass du eine der wichtigsten Grundlagen der Logik vergessen hast – und zwar Gefühlen mit völliger Zurückhaltung und Vernunft zu begegnen. Und jetzt glaube ich, wäre es besser, wenn du mir sofort aus den Augen gehst, bevor ich wütend auf dich werde!“ Die Reaktion des Jungen war – verglichen mit meiner eigenen – beinahe verzögert, denn ich glaube, Holmes’ Worte hatten ihm fast schon einen Schock versetzt. Und mir genauso. Ich sprang mit offenem Mund auf die Füße, aber bevor ich mich noch entscheiden konnte, ob ich nun Josh oder Holmes trösten sollte, war mein Sohn vor unterdrückten Tränen völlig rot angelaufen und er jagte, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten, in sein Zimmer unterm Dach. Die aufgestoßene Tür schwang heftig hin und her. Holmes dagegen konnte nichts tun, außer mit verschränkten Armen vor dem Kamin zu stehen und über das nachzudenken, was auch immer ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Ich konnte mir nichts vorstellen, was in jenem Telegramm gestanden haben mochte, dass eine derartig grausame Reaktion wie diese verursachen könnte. „Was ist los, Holmes?“, fragte ich voller Sorge, denn ich hatte nie zuvor erlebt, wie irgendetwas ihn dazu gebracht hatte, dem Jungen gegenüber so aggressiv zu sein. Ich stellte mich neben ihn und berührte seinen Arm, aber er bewegte sich leicht, um mich zurückzuweisen. „Es ist nichts, so wie ich gesagt habe.“ „Ist deinem Bruder irgendetwas geschehen?“ „Nein, nein…nichts.“ „Verdammt noch mal, Mann, hör auf mich wie einen Vollidioten zu behandeln! Ich mag ja kein solches Genie sein, wie du und Josh es sicherlich seit, aber ich kann doch sehen, wenn du mich vorsätzlich täuscht.“ Ich starrte durch die offene Tür, die immer noch leicht schwankte. „Du hast ihm eine Standpauke gehalten, die er sicher nicht so bald vergessen wird.“ „Er war unverschämt! Er muss lernen, sich zu zügeln!“ „Holmes! Was zum Henker ist los mit dir? Er ist fünf Jahre alt! Du erwartest viel zu viel von ihm!“ „Das Alter ist nur eine Zahl, Watson. Eine Person sollte ihrem geistigen Alter entsprechend behandelt werden; nicht ihrem körperlichen.“ Er griff schnell nach dem Schürhacken und hieb auf die verkohlten Überreste jenes Telegramms ein, dass eine solche Wirkung auf ihn gehabt hatte. Ob er wirklich daran glaubte oder nicht, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich bezweifelte es. Ich gebe zu, dass ich beizeiten das Gefühl hatte, er verlangte in akademischer Hinsicht zu viel von dem Jungen, aber im Verhalten war er immer väterlich, sogar liebevoll. Auch wenn das, was er von dem Jungen erwartete, ebenso unrealistisch war, wie das, was er auch von beinahe jedem anderen erwartete, war er bis zu jenem Tag niemals in verbaler Form beleidigend geworden, wenn der Junge diesen Erwartungen nicht entsprechen konnte. „Holmes, warum erzählst du mir nicht einfach, was dich so aus der Fassung gebracht hat?“ Mein Freund seufzte tief und er ließ seinen Kopf nach vorne sinken. Im Licht des Feuers konnte ich sehen, wie seine Augen den wütenden Glanz verloren, der darin erschienen war, als das Telegramm gekommen war. Stattdessen war sein Blick nun einsam, sogar ängstlich, so als ob eine plötzliche Erkenntnis über ihn gekommen war. Langsam faltete er seine Hände vor der Brust und sagte: „Watson, willst du mir einen Gefallen tun? Zwei Gefallen, um genau zu sein?“ „Du musst es nur aussprechen.“ Er lächelte. „Guter alter Watson. Als erstes sollst du mich morgen mit dem ersten Zug aus Victoria nach Cornwall begleiten…“ „Cornwall? Warum Cornwall?“ „Und zweitens sollst du heute Nacht bei mir bleiben.“ Meine Augenbrauen zogen sich nach oben. Er hatte mich noch nie zuvor dazu aufgefordert. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, war immer ich es, der zu ihm kam. Ich denke, selbst nach über einem Jahr hatte er immer noch Angst, ich könnte ihn abweisen. Und auch wenn diese Angst unbegründet war, so war es doch etwas, was sein Selbstwertgefühl nicht würde verkraften können. Es musst wirklich etwas Ernstes sein, wenn es ihn dazu brachte, seine selbst aufgezwungenen Schranken zu durchbrechen. „Natürlich werde ich das“, sagte ich. „Ich meine“, erwiderte er und schüttelte den Kopf. „Du sollst die ganze Nacht bei mir bleiben. Einfach nur bei mir bleiben.“ Ich glaube nicht, dass ich mir viel Mühe gab, meine Enttäuschung zu verbergen. Oder meine Überraschung. „Du weißt, dass das unmöglich ist“, sagte ich ihm mit niedergeschlagener Stimme. „Warum erzählst du mir nicht einfach, was um Himmelswillen passiert ist?“ Er antwortete nicht, sondern senkte seinen Kopf sogar noch tiefer. Ich fühlte nun den Stich von Enttäuschung und Ärger und stopfte meine Hände in meine Taschen. „Nun, wenn du mir also nicht vertrauen kannst, dann gehe ich jetzt ins Bett…“ Ich drehte mich auf dem Absatz um und stampfte Richtung Tür. „Watson, geh nicht…“ „Ich fürcht, das muss ich. Du forderst das Unmöglich und weigerst dich, mir auch nur den kleinsten Hinweis…“ „Es ist mir egal, wenn du es für unmöglich hältst! Ich bin diese ständige Diskretion leid, die wir immer zeigen müssen! Dieses eine Mal…“ Er hielt inne und wir sahen einander an. „Dieses eine Mal muss ich gestehen…“ „J-ja?“ Er räusperte sich, während er nervös in seinen Taschen nach seinem Zigarettenetui suchte. Als er es gefunden hatte, zündete er sich eine an und versuchte die Verzerrung in seinem Gesicht zu unterdrücken. „Dieses eine Mal muss ich gestehen, dass ich dich brauche.“ Er hielt kurz inne und lächelte kurz. „Und nicht um mir zu assistieren, ich kann nicht...ich kann heute Nacht nicht allein sein, verstehst du.“ Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte. Ich war sosehr von Neugier erfüllt, dass ich in meiner Selbstsucht beinahe daran gedacht hätte, mich zu weigern, bis er schließlich zustimmen würde, mir zu erzählen, was passiert war. Aber sobald die Wut verflogen war, wusste ich genau, dass ich ihn nicht so verletzten durfte. Er litt – an irgendetwas zumindest, vermutlich noch mehr, als ich es sehen konnte. Und es war meine Pflicht, ihm zur Seite zu stehen. Trotz des Risikos. „Wenn du mich brauchst, dann bin ich hier“, sagte ich ihm. Ich wollte noch mehr sagen, aber überlegte es mir in letzter Sekunde anders. Es war überflüssig, meine Hartnäckigkeit zu zeigen. Holmes paffte heftig auf seiner Zigarette. „Und wenn nicht aus irgendeinem anderen Grund, dann um mir deine Treue zu versichern, wo ich dir keine gezeigt habe?“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob das eine Frage oder eine Feststellung war und so sagte ich nichts. Die Gesichtszüge meines Freundes wurden weicher, als er meine Gefühle erkannte. „Ich werde es dir erzählen, Watson, wenn die Zeit reif dafür ist. Und auf mein Wort, du weißt, dass ich dir völlig vertraue.“ „Das will ich hoffen.“ „Du brauchst nicht zu hoffen. Es ist so. Es ist nur eine verwickelte und mühsame Angelegenheit, es zu realisieren und ich habe den Punkt noch erreicht, an dem ich es einem anderen erklären kann. Selbst dir noch nicht, meinem liebsten Doktor. Du musst dich nur etwas in Geduld üben.“ Ich nickte. „Mein Ohr gehört dir, Holmes, wann auch immer du es brauchst.“ Er lächelte. „Vielen Dank, Watson.“ Sowohl Josh als auch unsere Wirtin waren um zehn Uhr bereits zu Bett gegangen und ich wusste, dass ich in dieser Nacht nicht viel Schlaf finden würde. Deshalb machte ich mir nicht viele Sorgen, als ich zu Holmes’ Zimmer kam. Es war sehr unwahrscheinlich, dass wir ertappt werden würden. Allerdings hatte ich mich gefragt, wie genau wir Holmes’ Meinung nach beide in sein Bett passen sollten, aber ich sah gleich, dass er das Problem gelöst hatte. Holmes hatte mit verschiedenen Teilen von Bettzeug und einigen Polstern am Boden ein provisorisches Nachtlager eingerichtet, auf dem wir uns ausstrecken konnten. Es sah nicht besonders bequem aus (für mich zumindest, denn er konnte überall schlafen) und ich wusste, dass mir meine Großzügigkeit morgenfrüh mit steifen und schmerzenden Gliedmaßen vergolten werden würde. „Ich danke dir noch einmal, mein lieber Freund“, sagte Holmes, während ich mich unbeholfen zum Schlafen niederließ. Er drehte das Gas hinunter, bis von ihm schließlich nur noch ein dunkler Schatten übrig blieb, der sich neben mir auf den Boden senkte. „Du willst mir nicht doch noch etwas erzählen?“, versuchte ich es noch einmal vergeblich. „Wir werden morgen früh aufstehen, Watson“, murmelte er, als ob er schläfrig wäre. „Ich denke, wir sollten uns die Erklärungen besser bis dahin aufsparen.“ „Wirst du mir nicht wenigstens erzählen, warum ich hier bin? Ich habe dich noch nie so erschüttert gesehen, wie in dem Moment, als du jenes Telegramm gelesen hast.“ Er schnaubte verärgert und vergrub seinen Kopf tiefer in sein Kissen. „Ich habe dich heute Nacht einfach…gebraucht.“ Er hielt inne, sein rasches Gehirn feuerte eine Lüge nach der anderen ab. „Nach jenen Nächten, in denen du mir nahe bist, fühle ich mich immer viel ausgeruhter.“ Ich konnte die gnadenlose Hand der Frustration fühlen, die sich um meine Kehle schloss und um zu verhindern in einer Rage aus panischen Gefühlen zu explodieren, entschied ich, dass das es das Einzigvernünftige wäre, Schlaf vorzutäuschen. Ich würde eher Satan davon überzeugen, auf diese Erde zu kommen, als Sherlock Holmes, seine dickköpfige Meinung zu ändern. Für mehrere lange Stunden betrachtete ich die ätherische Gestalt meines Partners, während er von mir abgewandt auf der Seite lag; seine Brust hob und senkte sich, das Geräusch seines Atems drang als tiefes Stöhnen aus seiner Kehle. Offensichtlich steigerte sich meine Aufmerksamkeit im Dunkel, wenn es weniger gibt, was Aufmerksamkeit erfordert. Ich bemerkte das blasse, flackernde Licht, das die scharfen Linien seiner Gestalt milderte; die sanfte Weichheit seines Haars; die glühende Rauheit seines Gesichts; das unmerkliche Zucken, das mir zeigte, dass sein Verstand selbst im Schlaf nicht ruhte. Es war alles sehr einschläfernd. Und zwar einschläfernd genug, sodass ich schließlich aus Langeweile und Erschöpfung in einen traumlosen Halbschlaf fiel. Der letzte Gedanke, an den ich mich erinnern konnte, war, wie jung und unberührt mein lieber Holmes in den Fängen des Schlafes doch wirkte. Ich erkannte, dass ich ihm niemals böse sein konnte, nach dem ich ihn so gesehen hatte. Der große Detektiv ebenso menschlich wie ich selbst, zumindest in der Dunkelheit der Nacht. Irgendwann, ungefähr um eins, denke ich, wurde ich von den seltsamsten Geräuschen geweckt. Vor langer Zeit (wie es zweifellos die meisten Soldaten berichten können) hatte ich mir selbst beigebracht, wenn nötig selbst aus dem tiefsten Schlaf sofort zu erwachen und bereit zu sein. Im Krieg ist es eine Frage von Leben und Tod. Aber das Praktische (oder Unpraktische, je nach Standpunkt) daran ist, dass wenn man sich Eigenart erst einmal angewöhnt hat, man sie nicht mehr vergessen kann. Ich sah sofort, dass die Geräusche von Holmes kamen. Er sprach oder besser gesagt, er murmelte im Schlaf. Zu erst hielt ich es für völlig unverständlich, aber bald wurde es lauter und klang gezwungener. „Nein…nein…Philly, nein…nein, Philly, nein, du darfst nich…NEIN!“ „Holmes!“, schrie ich, mittlerweile hellwach. „Wach auf, um Himmelswillen!“ Ich schüttelte ihn heftig an den Schultern, aber es nützte nichts. „Holmes, bitte, du musst aufwachen!“ Und das tat er schließlich auch, während er scharf nach Luft schnappte, doch es schien mehr wie ein Schrei als ein Atemzug. Er schlug die Augen auf und drehte sich sofort zu mir um – überrascht. Es dauerte zumindest drei ganze Sekunden bevor ihn die Erkenntnis traf und die Wut und das Entsetzten wie weggewischt schienen. Mit einem langen Atemzug hob er seine Hand mit einem Stöhnen an sein Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. „Ich muss mich entschuldigen, Watson“, sagte er mit einer kehligen Stimme, die immer noch belegt vom Schlaf schien. „Ich wollte dich nicht wecken.“ „Mein Gott, Holmes! Du musst einen grässlichen Alptraum gehabt haben!“ Ich griff besorgt nach seinen Schultern, aber er schien sich unter meiner Berührung zu versteifen und so ließ ich ihn los. „Hat es etwas mit jenem Telegramm zu tun? Dein Alptraum?“ „Nein, das denke ich nicht.“ Er täuschte ein kleines Lächeln in meine Richtung vor und tätschelte beruhigend mein Knie. „Es war nur ein Traum, das kannst du dir sicher sein. Und ich denke, es wäre das Beste, einfach unseren Schlaf fortzusetzen. Wollen wir dann also?“ „Aber – Holmes, bitte. Wer ist Philly? Du schienst…nun ja, sehr besorgt um sie…oder ist es ein er? Wer zum Teufel hat dich so aus der Fassung gebracht?“ „Ich will nicht darüber reden!“, schrie er und dann erlangte er seine Beherrschung mit einem langen und zittrigen Atemzug wieder einigermaßen zurück. „Bitte, Watson…ich bitte dich…du musst es gut sein lassen, bis ich bereit bin. Ich brauche Zeit.“ „Zeit!“ Ich war wütend und nicht zum ersten Mal. Ich hatte noch nie einen Menschen getroffen, der in der Lage war, so intensive Gefühle in mir zu erwecken wie dieser Mann. Normalerweise würde ich mich selbst als einen ruhigen und gefassten Zeitgenossen ansehen. Ich mochte ein Mann sein, welcher der Unvernunft hin und wieder gestattet seinen Verstand zu trüben, aber ich war niemals übertrieben gefühlvoll. Bis mein Leben dauerhaft mit Sherlock Holmes verwickelt wurde. Und nun war da nichts mehr als Gefühl. Sowohl übertrieben wie bedeutungslos; wohltuend und wirkungslos. Aber auch wenn ich wütend war, durfte ich meine Sorge um ihn nicht mein besseres Wissen überstimmen lassen. Er würde es mir erzählen, wenn er dazu bereit war. Ich sollte ihn zu nichts zwingen. „In Ordnung…in Ordnung, ich entschuldige mich. Ich werde warten, bis du bereit bist. Du weißt, dass ich nur deshalb frage, weil“— „Ja, ich weiß“, unterbrach er mich. Ich war mir sicher, in seinem Blick einen Hauch von Dankbarkeit zu erkennen, versteckt in jenem seltsamen und arroganten Grinsen. „Geh schlafen, mein lieber Doktor.“ Aber ich konnte nicht. Holmes schlief ein weiteres Mal ein, dieses Mal für die ganze Nacht, aber ich war gezwungen, nur dazuliegen und ihn in dem sicheren Gefühl zu betrachten, dass er wieder aufwachen würde, schwitzen und nach dieser…oder diesem Philly rufen – wer auch immer das sein mochte. Und so lag ich nur da, auf einen Arm gestützt, bis ich in meiner ganzen rechten Seite kein Gefühl mehr hatte. Lauschte dem rasselnden Klang seines Atems, wünschte mir sosehr, die Hand auszustrecken und ihn zu packen, ihn zuerst solange zu schütteln, bis er mir erzählen musste, was er auf dem Herzen hatte; um ihn dann mit meinem Körper abzulenken, ihn an den Rand des Wahnsinns zu treiben, und dann schließlich, wenn wir beide frei von jedem Verlangen sein würden, ihn einfach festzuhalten, von den Dämonen zu schützen, die ihn plagten. Aber stattdessen lag ich einfach nur da und lauschte, bis meine Erschöpfung mich schließlich überwältigte. ____________________________________________________ [1] Unwahrscheinlich das Watson nur paranoid war. Nach dem Wilde-Prozess begannen die Leute überall nach ‚unzüchtigem Verhalten’ zu suchen. Ähnlich wie mit McCarthy in den 50ern. [2] Rhetorik, Grammatik und Logik. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)