Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 9: ----------- So der Fall von Black Bishop treibt langsam aber sicher auf seinen Höhepunkt und ich bedanke mich noch einmal bei allen, die an meiner Übersetzung von Andrea Malcolms Geschichte gefallen finden und vor allem natürlich denen, die auch Kommentare hinterlassen. Viel Spaß beim Lesen! „Noch einen Verdächtigen? Und wer in Gottes Namen soll das sein?“ „Hast du jemals von einem Schauspieler namens Michael Clive gehört?“ Der Name kam mir dunkel bekannt vor, vielleicht wie jemand, mit dem man vor Jahren zur Schule gegangen war. Ich konnte fast ein Gesicht sehen, gebräunt und dunkelhaarig, aber es war verschwommen, so als sähe ich es unter Wasser. „Ich glaube, ich habe tatsächlich schon von ihm gehört. Aber ich kann mich nicht erinnern wann oder wo. Ich fürchte mein Geist funktioniert zu dieser gottlosen Uhrzeit noch nicht so effizient wie deiner.“ Holmes lächelte angesichts dieser Bemerkung und erwiderte: „Das ist ganz egal. Nun, ich müsste meine gesammelten Biographien zu Rate ziehen, um dir die genauen Details über ihn zu erzählen, aber einige grundlegende Fakten habe ich im Kopf. In seiner Jugend, vor ein paar Jahren, war er hier in London als Anhänger von Shakespeare recht bekannt. Besonders berühmt war er, wenn ich mich richtig erinnere, für seine Darstellung der Figuren. Ein paar Jahre später floh er von England nach Frankreich, um einen persönlichen Skandal zu vermeiden. So weit ich weiß, ist er bis heute dort geblieben.“ „Was für einen Skandal?“ „Hmm…nun, das könnte alles sein, nicht wahr? Aber der Punkt, Watson, ist, dass bevor er mit der Schauspielerei anfing, Michael Clive unter dem etwas viel versprechenderen Titel Lord Michael Clive Sheffield St. Elridge Hilton geboren wurden.“ „Hilton? Aber dann…nein, das kann nicht…Ist er etwa…?“ Holmes nickte kurz. „Oh ja. Er ist der einzige Sohn des verstorbenen Earl und der Countess of Cantor, der Bruder von Lady Catherine Hilton Bishop.“ „Mein Gott…“, rief ich aus, während neue Theorien in meinem Geist zu wachsen schienen. „Aber es erscheint logisch, dass Elizabeth Bishop wahrscheinlich nicht einmal von der Existenz ihres Onkels wusste. Ich denke nicht, dass sie irgendwelche Informationen zurückgehalten hätte, da sie ja so verzweifelt Thomas Kingstons Namen reinwaschen will. Aber wie wäre das: Wenn Richard Bishop von seinem Onkel gewusst hätte – wahrscheinlich von seiner Mutter – dann könnte er auch wissen, dass Clive seinen Schwager getötet hätte. Nun, das könnte es sein, was er verbirgt!“ „Ich muss dir noch den außergewöhnlichsten Teil der ganzen Geschichte erzählen, mein Bester. Es scheint, dass Clive-Hilton im Testament seines Vaters ausgelassen worden war. Hier, ich lese es vor, in den eigenen Worten des Earls: ‚Meinem einzigen Sohn, Lord Michael Clive Sheffield St. Elridge Hilton, auch bekannt als Michael Clive, hinterlasse ich nur die Schande und die Enttäuschung, die er seinem Vater mit seinem Ekel erregenden Lebenswandel bereitet hat. Die meisten der widerlichen Entscheidungen, die er getroffen hat, stammen von jenem Pseudonym. Ich wünsche ihm, dass der Einfallsreichtum, der seine Familie auszeichnet, ihm einen Weg zeigen wird, seine verbleibenden Jahre zu verbringen.’” „Mein Gott…das ist hart. Hast du irgendeine Vermutung, weshalb der verstorbene Earl zu seinem einzigen Sohn so herzlos sein sollte?“ Holmes rollte das Pergament zusammen und stopfte es in seine Jackentasche. „Wenn du dich dabei auf das beziehst, was der Earl als ‚Ekel erregenden Lebenswandel’ bezeichnet hat, dann kann ich dir versichern, dass ich nicht die geringste Ahnung habe. Es könnte genau so gut, einfach die Tatsache sein, dass er Schauspieler wurde. Von wirklicher Bedeutung ist hier allerdings – wie du schon sagtest – dass Clive, der sich von seiner Schwester um sein Geburtsrecht betrogen sah, Rache geübt haben könnte. Ihm war klar, dass es ihm kaum Befriedigung bescheren würde, eine Frau auf ihrem Sterbebett zu töten. Deshalb beschloss er zu töten, wen sie am meisten liebte – Bruce Bishop. Wenn das der Fall sein sollte, wäre es möglich, dass er Richard Bishop zu seinem Verbündeten gemacht hat. Master Richard – dessen Hass auf seinen Vater seine Liebe zur Heiligen Schrift und Thomas Kingston überwog – lenkte allen Verdacht von dem wahren Täter ab, indem er es Kingston anhängte.“ Ich muss zugeben, dass meine Aufregung über all das eben Gehörte inzwischen meine Müdigkeit fast völlig vertrieben hatte. Ich konnte spüren, wie mein Herz heftig gegen meine Rippen schlug. „Holmes, du hast es gelöst! Alles passt zusammen! Das muss ganz gewiss die Antwort sein.“ „Aber, aber, mein lieber Doktor…wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es gibt keine Beweise, die diese Mutmaßung stützen würden. Zumindest noch nicht“ Er stand auf und öffnete die Tür. „Ich werde dir ein Frühstück bestellen. Und starken Kaffee, will ich meinen. Und dann müssen wir los, wenn wir unsere Verabredung mit Inspektor Clayton einhalten wollen.“ „Nein, Holmes…du musst auch etwas essen. Ich bestehe darauf, dass du für dich auch etwas bestellst.“ Er starrte mich sekundenlang an, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. „Deine Sorge um mein Wohlbefinden ehrt mich. Zieh dich an!“ Er schloss die Tür und sprang die Treppe hinab. Der Morgen dämmerte kühl und hell – wesentlich kälter als der Vortag und doch war er erfüllt von einer Frische, die sowohl Blut und Sinne erweckte und die ganze Landschaft nach Blumen und Hoffung duften ließ. Seit der vergangenen Nacht schienen Jahre vergangen und als Holmes neben mir in der Kutsche saß, war alles so wie es immer gewesen war. Ich vermutete, dass ich von nun an wohl nur darauf achten musste, dass mein Freund nicht noch einmal zu viel trank. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, wie seltsam es doch war, dass ich – obwohl wir beide erwachsene Männer waren – es auf mich genommen hatte, mich sozusagen um ihn zu kümmern. Ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht. Aber so war es nun mal. Ob er sich dessen bewusst war oder nicht, er brauchte mich, um auf ihn Acht zu geben. Und aus irgendeinem Grund rückte das alles ins rechte Licht. „Ein kleiner privater Scherz, Watson?” Er blickte mich an und auf seinen Lippen lag ein leichtes Grinsen. Ich lächelte zurück. Aber ich wusste, dass ich ihm nicht sagen konnte, woran ich gedacht hatte. „Oh, nein. Es ist nur…die milde Wintersonne, der frische Morgenwind, das Wiegen des Moorgrases…dieser Tag scheint mir nur weit besser als der vorherige.“ Er zerrte an den Zügeln und die Füchse trabten schneller. „Ich kann deine Sentimentalität nicht ganz teilen.“ Das Polizeirevier war ein kleines Backsteingebäude etwas außerhalb von Darby, direkt neben Dartmoor Prison. Dies war einer der meist gefürchtetsten Plätze, außerdem recht groß für ein Gefängnis und hielt einige der gefährlichsten Strafgefangene unter Verschluss, die England zu bieten hatte. Die meisten davon erwarteten hier ihre unvermeidliche Reise zum Galgen. Es war kein Ort, den ich jemals hätte besuchen wollen und ich empfand eine Art Mitgefühl für den jungen Kingston (wenn er tatsächlich unschuldig sein sollte), an so einem verhängnisvollen Platz eingesperrt zu sein. Obwohl es noch nicht einmal sieben Uhr war, erwartete Clayton uns bereits direkt im Warteraum, wo mehrere große, stämmige Kerle uns mit eisernem Gesichtsausdruck anstarrten. „Sie sind also gekommen, Mr. Holmes?“ „Natürlich, Inspektor…Ich halte immer meine Versprechen“ Holmes lächelte höflich. „Ich kann Ihnen beiden versichern, dass der einzige Grund, warum ich das hier erlaube, eine Art geschmacklose Neugier ist. Ich weiß wirklich nicht, was sie von einer vier Tage alten Leiche erfahren wollen…geschweige denn von Kingston. Er wird uns nichts sagen, außer dass er unschuldig ist.“ „Vielleicht stellen Sie einfach nicht die richtigen Fragen.“ Claytons Augen verengten sich gefährlich. Er griff nach einer kleinen Laterne, zündete sie an und zog in ihrem Licht ein kleines Jagdmesser mit einem Etikett aus dem Schreibtisch. „Hier ist das Messer. Es ist immer noch recht scharf. Ich werde Ihnen die Leiche zeigen. Wir haben hier keine Leichenhalle, denn so gut wie alle Toten kommen aus dem Gefängnis und werden sofort in unserer Verbrennungsanlage verbrannt. Deshalb ist Bishops Leiche in einer der Einzelzellen“ Er gab uns ein Zeichen, ihm durch eine kleine Eisentür und ein feuchtes Treppenhaus hinab zu folgen. Obwohl ich Handschuhe trug, hatte ich das starke Bedürfnis, so wenig wie möglich zu berühren. Claytons Laterne bewegte sich vor uns als gelber Lichtkreis auf und nieder, aber trotzdem war es schwer irgendetwas zu erkennen. Die ganze Anlage stank nach Schweiß, Abfall und…nun ja, menschlichen Ausscheidungen. Über uns im Haupthaus, dem Herzen des Gefängnisses, konnte ich die dumpfen Echos von Gelächter und Schreien hören. Der Boden schien nur aus Schmutz zu bestehen und ich sah dunkle Schatten an uns vorbeihuschen, die mich stark an Ratten erinnerten. Ich schauderte bei der Vorstellung, wie es sein musste, hier eingesperrt zu sein – in Einzelhaft. Jeder normale Mann würde innerhalb von Tagen den Verstand verlieren. „Er ist hier drinnen“, sagte Clayton, während er eine verrostete Tür entriegelte und unter schrecklichem Quietschen aufschob. „Der örtliche Chirurg ist gerade auf Urlaub, deshalb konnten wir keine Obduktion durchführen, was aber auch gar nicht nötig war. Wir können uns auch so recht gut vorstellen, unter welchen Qualen dieser Mann gestorben sein muss. Die Familie wird die Leiche in ein paar Stunden für das Begräbnis abholen. Ich schlage vor, Sie sollten sich für Ihre kleine Untersuchung nicht zu viel Zeit nehmen. Das heißt, wenn Sie immer noch auf ein Schwätzchen mit unserem Neuzugang bestehen.“ Er grinste uns herausfordernd an und überließ uns die Laterne, ehe er sich auf den Rückweg machte. Wir konnten deutlich hören, wie sich seine Schritte immer weiter in Richtung Warteraum entfernten. „Ich finde, Holmes“, sagte ich und drehte das Licht so weit auf wie möglich. „Er ist wirklich ein ganz einzigartig unangenehmer Charakter.“ „Hmm…in der Tat. Bring das Licht hier her, Watson. Hier liegt unser unglücklicher Patriarch des Bishop-Clans.“ Die Leiche von Bruce Bishop lag nackt auf einem Tisch aus billigem Holz und war mit einem Leintuch bedeckt. Der Tisch war alt und wirkte, als sei er vor langer Zeit ein Esstisch gewesen. Aber nun war er mit rotem Blut bedeckt und mit Kerben und Kratzern übersehen. Zweifellos von der unruhigen Klinge eines empfindlichen Polizeichirurgen. Auch wenn Clayton anscheinend keine Ahnung hatte, wie entscheidend eine Untersuchung des Opfers in einem Mordfall sein kann, war das Holmes und mir völlig klar. Mein Freund entfernte das Tuch und ich bereitete mich eiligst auf den fast schon vertrauten Anblick vor. Um es genau zu sagen, der Anblick von durchscheinender Haut, die langsam verrottend einen grün-violetten Farbton annahm. In der Sommerhitze hätte nach vier Tage normalerweise schon der eigentliche Verwesungsprozess begonnen. Das kalte Novemberwetter war dagegen ein Vorteil und die Verletzungen waren auf seinem geschundenen Körper noch ausgezeichnet zu erkennen. Obwohl wir von Clayton wussten, dass keine Obduktion stattgefunden hatte, war ich ein wenig überrascht, keinerlei Nähte auf der Brust zu sehen. Das allerdings, was einem von einer Leichenhalle – provisorisch oder nicht – am deutlichsten in Erinnerung bleibt, ist der Geruch. Besonders nach ganzen vier Tagen. Der Geruch der Einbalsamierungsflüssigkeit vermischt mit Fäulnis. Man muss den Gestank einer Leiche wahrlich erst selbst erlebt haben, um zu wissen, wie schrecklich er ist. Bruce Bishop lag friedlich da und die Pennys waren immer noch auf ihrem Platz. In jenem Moment wurde mir bewusst, dass obwohl ich einen ganzen Tag mit seinen Kindern verbracht hatte, dies das erste Mal war, da ich ihn mit eigenen Augen sah. Er hatte das Aussehen seiner Kinder – dunkles Haar und, soweit man das noch sagen konnte, dunkle Haut. Seine Größe und sein Gewicht waren durchschnittlich. Glatt rasiert aber mit recht langen Koteletten. Keine Tätowierungen oder speziellen Erkennungszeichen. Alles in allem war er keine besonders bemerkenswerte Erscheinung. Tatsächlich waren die einzigen ungewöhnlichen Merkmale, die ich an dem Opfer erkennen konnte, die fünf oder sechs Messerstiche, die seine Brust und den Unterleib durchbohrten. Bruce Bishop war wirklich kein schneller oder gar schmerzloser Tod vergönnt gewesen. „Hast du das Messer?“, fragte ich Holmes. Er überreichte es mir und ich verglich vorsichtig seine Länge und Breite mit den Wunden. Es war ein fast augenblicklicher Schluss. „Das ist tatsächlich die Mordwaffe. Das kann ich beschwören.“ „Das habe ich niemals bezweifelt. Jetzt, erzähl mir von diesen Wunden“ Er verschränkte die Arme und schloss die Augen, um die Puzzleteile, die ich ihm beschrieb, mit vor dem inneren Auge seines unfassbaren Verstandes zu betrachten. „Gut…“, sagte ich und nahm einen tiefen Atemzug. „Er wurde von der rechten Seite angegriffen. Das kann ich an diesen beiden, etwas abseits liegenden Wunden sehen…eine davon durchdringt den Deltamuskel in der Schulter…hier, und die andere, den schrägen Bauchmuskel…sie ist aber weit genug von Milz und Nieren entfernt, um nicht viel Schaden anzurichten. Dieser Einstich hier ist in der Nähe des Darmbeins, aber verfehlte die Bauchaorta…und diese beiden in den Rippen…dieser hier könnte die Subclavia-Vene…nein, warte, ich glaube das hat er nicht, die Messerspitze stieß auf die erste Rippe. Der letzte Stich liegt zwischen der zweiten und der dritten Rippe auf dem Brustbein, weit weg von jeder Hauptarterie. Holmes, das ist sehr merkwürdig“ Ich hielt in meiner Untersuchung inne und wischte meine Hände an dem Leintuch ab. „Keine dieser Wunden erscheint mir wirklich lebensbedrohlich.“ Holmes schlug die Augen auf. „Bist du dir sicher?“ „Na ja…ohne ein Skalpell kann ich mir nicht ganz sicher sein. Aber ich bin ziemlich überzeugt davon. Der Grund könnte die ziemlich kurze Klinge des Messers sein. Oder vielleicht war der Täter so unsicher und nervös, dass er auf das Zielen verzichtete. Wahrscheinlich ist es eine Kombination dieser Möglichkeiten. Aber…nun ja, obwohl er fünfmal verletzt wurde, ist es seltsam, dass er überhaupt gestorben ist. Es hätte viel länger dauern müssen, bis er verblutete, wenn weder eine Arterie noch eine Vene durchstochen wurden. Es ist sehr seltsam.“ „Hmm…“, sagte Holmes und zog sich seine Handschuhe an. So sanft, als liebkoste er die Wange einer Frau, strich seine Hand über die Wunden. Er versuchte sie so zu sehen, wie sie vor vier Tagen gewesen waren. „Sieh her, trotz des begonnenen Verwesungsprozesses kann man noch deutlich erkennen, dass die Wunden in der Zeit von ihrer Zufügung bis zu Bishops Tod scheinbar überhaupt nicht verheilt sind. Nach diesen Stunden würde man eigentlich bereits einen gewissen Grad von Schorf erwarten, nicht wahr?“ „Bei Jupiter, du hast Recht…das ist wahrlich ein merkwürdiger Tod…ich frage mich, ob…Holmes, was tust du da?“ „Watson, sieh dir das an…“ Er hatte sein Vergrößerungsglas hervorgezogen und fuhr mit seinen Finger durch die Haare des Mannes. Dann untersuchte er seinen eigenen Daumen und Zeigefinger unter dem Glas, während er sie aneinender rieb. „Sieh dir meine Finger an. Siehst du diesen Rückstand?“ Ich nahm die Lupe und starrte angestrengt auf seine Hand, versuchte zu sehen, was er sah. „Nun…ich sehe eine schwache Verfärbung. Irgendetwas Dunkles…aber es könnte alles sein. Dreck…Ruß…dieser Ort ist nicht unbedingt ein Paradebeispiel an Sauberkeit.“ „Es ist kein Dreck und auch kein Ruß, würde ich sagen. Es hat diese dünne, ölige Konsistenz. Ich bräuchte mein Mikroskop, um genauere Schlüsse zu ziehen, aber aus dem Stehgreif würde ich sagen, es handelt sich um eine Art Tinte.“ „Tinte? Warum sollte ein Mann Tinte in seinem Haar haben?“ „Ich bin mir nicht sicher.“ Er griff nach seinem Mantel und zog sein Taschenmesser hervor, um damit einiger Strähnen von Bishops Haar abzuschneiden und sie dann sicher in seinem Taschentuch zu verstauen. „Gib mir das Messer, Doktor. Ich glaube wir sind hier fertig. Wir haben nun eines der Opfer in diesem merkwürdigen Fall getroffen. Ich denke es wird Zeit, dass wir mit dem anderen bekannt gemacht werden.“ „Ich hoffe Bishop war ein unterhaltsamer Gastgeber, meine Herren“, sagte Clayton, als wir wieder im Warteraum auftauchten. „Aber sollte das nicht der Fall sein, fürchte ich, dass es mit Kingston nicht anders sein wird.“ „Hegen Sie irgendeine Art persönlichen Groll gegen diesen Mann, Clayton? Ich muss sagen, sie scheinen sehr viel Befriedigung über seine Lage zu empfinden.“ „Er ist ein Mörder, Sir!“ Er hielt abrupt an. „Es ist wahr, dass ich es genieße, einen solchen Mann seiner gerechten Strafe zuzuführen!“ Wir standen nun vor einer Zelle mitten in einem düsteren, tunnelartigen Gang. Scheinbar war der einzige Unterschied zwischen dieser neueren, oberen Abteilung des Gefängnisses und der abstoßenden unteren Abteilung das zischende Gaslicht an den Wänden, das uns lange Schatten voraus warf. Eine weitere eiserne Zelle war unser Ziel; doch in dieser wartete der dunkle Umriss eines Mannes. „Auf die Beine!“, schrie Clayton, sobald die Tür geöffnet war und versetzte dem Gefangenen einen Tritt. „Um Gottes Willen! Er ist ja kaum mehr als ein Junge!“, rief ich. Clayton wand sich mir mit einem wütenden Blick zu; zornig dass ich es gewagt hatte, ihn vor einem Gefangenen zurechtzuweisen. „Bitte, meine Herren!“, sagte Holmes und ergriff meinen Arm. „Wenn Sie so freundlich wären, Clayton, uns mit ihm allein zu lassen. Das wäre ausgesprochen hilfreich.“ Aus irgendeinem Grund stimmte Clayton zu und ging hinaus. „Denken Sie nur daran, dass Sie meine Warnung beachten sollten, Mr. Holmes. Dr. Watson.“ Die Einrichtung der Zelle bestand aus einer bloßen Pritsche an der Wand, bedeckt mit einer braunen Wolldecke und einem Kissen. Darauf saß ein Bursche gegen die Wand gekauert, den Kopf auf die Hände gelegt. Er war dunkelblond und hatte breite Schultern, aber ein freundliches und kindliches Gesicht. Obwohl ich wusste, dass er mindestens achtzehn Jahre alt sein musste, wirkte er jünger. Als Clayton die Tür ins Schloss warf, zuckte er merklich und blicke uns aus dunklen, angsterfüllten Augen an. „Sie brauchen keine Angst zu haben, Mr. Kingston“, sagte Holmes. „Ich bin Sherlock Holmes und das ist Dr. Watson. Wir wurden von Elizabeth Bishop engagiert, um den Mörder ihres Vaters zu finden.“ „Sie kommen von Lizzie?“ Sein Gesicht leuchtete voller Hoffnung. „In der Tat.“ „Sie haben ihr nicht erlaubt, hierher zu kommen und mich zu besuchen. Es waren nur vier Tage, mein Herren, aber ich vermisse sie schrecklich. Ich würde meinem Tod glücklich gegenüber treten, wenn ich ihr schönes Gesicht nur noch einmal sehen dürfte.“ „Ich denke nicht, dass das notwendig sein wird“, sagte Holmes und setzte sich neben ihn. Da es keine anderen Sitzmöglichkeiten in der Zelle gab, lehnte ich mich gegen die Steinmauer und zog mein Notizbuch heraus. „Ich glaube an Ihre Unschuld in diesem Verbrechen und werde das auch beweisen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe.“ „Wenn es das ist, was Lizzie will, dann werde ich tun, was ich kann. Aber ich muss Ihnen sagen, Sir, dass ich schon Clayton und jedem anderen hier meine Unschuld beteuert haben. Sie wollen es nicht hören.“ „Nun, ich will es hören, Kingston. Zunächst einmal: Was fühlten Sie, als Bruce Bishop vor drei Wochen plötzlich zurückkehrte?“ Kingston schüttelte den Kopf. „Ich kam erst nach Black Bishop, nachdem Mr. Bishop verschwunden war. Lizzie überglücklich über die Rückkehr ihres Vaters, also freute ich mich mit ihr. Ich hatte keinen Grund, zu irgendwelchen anderen Gefühlen, Sir.“ „Aber irgendwann in diesen drei Wochen, wurde Bishop sehr wütend auf Sie. Und augenscheinlich auch Sie auf ihn. Worauf gründete sich dieser folgenschwere Streit?“ „Es war…nun…“ Sein dunkles Gesicht färbte sich im fahlen Licht rot. „Ich will Ihnen die Erklärungen ersparen, Kingston“, sagte Holmes. „Sie wollten seine Erlaubnis Miss Bishop zu ehelichen. Aber ihr Vater war widerwillig.“ Kingston nickte. „Ja, Sir. Auch wenn ‚widerwillig’ eine ziemliche Beschönigung ist. Um ehrlich zu sein, er war rasend. Rasend, dass ich so etwas auch nur vorschlagen konnte. Lizzie war die Enkeltochter eines Earls und ich war…nun ja, nicht vom selben Stand.“ „Ich bin sicher, die Tatsache, dass Elizabeth nach dem Tod ihrer Mutter 500 Pfund mehr erben würde, sollte sie verheirate sein, auch einen gewissen Einfluss auf die Ansichten ihres Vaters ausgeübt hat.“ „Aber…Lizzie und ich hatten kein Interesse an Geld. Das würde ich auf die Bibel schwören, Sir…“ „Natürlich, Kingston“, sagte Holmes und hob beschwichtigend die Hand. „Aber Sie erkennen, dass das alles Ihnen ein Motiv gibt. Das und das Messer natürlich“ Er griff in seine Tasche, zog das Messer daraus hervor und rammte es in die Holzpritsche zwischen ihnen. „Sie sind sich sicher, dass es Ihres ist?“ „Ich habe eine kleine Messersammlung, Sir. Ein paar habe ich noch von meinem Vater geerbt. Das einzige, was er mir jemals geschenkt hatte…ein paar habe ich über die Jahre als Geschenke erhalten. Meistens von Lizzie. Ich hatte zwei von genau dieser Art…“ Er hielt plötzlich inne, hob das Messer auf und starrte es ungläubig an. Seine Kinnlade fiel herab. „Ja. Kingston?“ Holmes schien eine solche Reaktion erwartet zu haben. Ich konnte den Eifer auf seinem Gesicht sehen. „Aber…nein, das ist unmöglich.“ „In Wahrheit ist es gar nicht Ihr Messer, oder, mein Junge?“ Kingstons Unterlippe zitterte. Er ballte seine recht Hand um das Messer zur Faust, drehte es immer hin und her. Er schüttelte den Kopf. „Nein!“, schrie er plötzlich und warf es hart auf den Boden. Mein eigenes fassungsloses Schweigen, machte das Klirren des Metalls auf dem Steinboden umso noch deutlicher. „Es ist nicht Ihr Messer, Kingston?“ „Natürlich ist es das nicht, Watson. Er will jemanden schützen. Wer ist es? Sagen Sie es mir und Sie sind ein freier Mann.“ Kingston warf meinem Freund einen wahrlich gequälten Blick zu. Seine Augen waren geweitet. Alle Farbe hatte seine Wangen verlassen. Es war schon lange her, seit ich einen so verstörten Mann gesehen hatte. Nun, vielleicht entspricht das nicht ganz der Wahrheit, aber ich hatte trotzdem Mitgefühl mit ihm. Als er zu sprechen begann, hatte sein Stimme jeden Ausdruck verloren: „Nein, Sir. Ich habe mich geirrt. Das ist ganz sicher mein Messer.“ Holmes sprang auf die Füße. „Um Himmelswillen, Junge! Ich weiß, dass Sie jemanden schützen! Wollen Sie wirklich Ihr Leben wegwerfen, nur weil Sie sich dazu verpflichtet fühlen?“ Aber er nickte nur. „Ich muss, Sir!“ „Seien Sie kein Narr, Kingston!“ Kingston sprang auf die Füße und hämmerte mit den Fäusten gegen das Gitter. „Clayton! Mr. Clayton! Ich will ein Geständnis machen!“ Nichts was Holmes sagte, konnte Clayton davon überzeugen, dass Kingston log und auch nicht Kingston, dass er einen schrecklichen Fehler beging. Clayton war begeistert, dass Holmes genau das getan hatte, was er versprochen hatte – ihm ein Geständnis verschafft. Er wollte nichts davon hören, dass es erlogen war. „Warum sollte er so etwas tun?“, fragte ich meinen Freund, als wir das Gefängnis verließen. „Wen will er schützen?“ „Den Mörder natürlich.“ „Aber wer ist es?“ Er schien mir gar nicht zuzuhören. „Es fehlt immer noch irgendetwas. Ein paar Puzzleteile passen einfach noch nicht ins Bild. Wir müssen zurück nach Black Bishop.“ Wir erreichten das Anwesen, genau nachdem das Begräbnis zu Ende war. Bruce Bishop war unter einem großen Marmorgrabstein hinter dem Anwesen beigesetzt worden, gegenüber dem Strom und den Pinien. Es war eine kleine, private Angelegenheit nur mit seinen Kindern, Dienern und einigen wenigen Dorfbewohnern, die als Sargträger mitgewirkt hatten. Ein runzeliger alter Vikar leitete das ganze Ereignis. Ich hatte halb die Anwesenheit von Lady Catherine erwartet, aber sie fehlte. Ich vermute, dass ihre Krankheit es nicht zuließ. Die Gäste wurden für ein kleines Mittagessen in die Bibliothek geführt. Miss Bishop, gekleidet in ein langes schwarzes Kleid, kam zu uns herüber. „Es tut mir Leid, dass Sie die Grabrede nicht miterleben konnten, meine Herren. Trotz der Umstände war sie sehr respektvoll und würdig.“ „Sie wurde zweifellos von Bullard gehalten?“, fragte Holmes. „Nein, eigentlich…baten wir den Vikar sie zu halten. Ich fürchte Mr. Bullard ist krank und konnte nicht kommen.“ Holmes zog die Augenbrauen hoch. „Ist er das? Was für ein…Zufall.“ „Nun, Vater ruht in Frieden. Nun muss nur noch sein Mörder vor Gericht gebracht werden. Sind Sie bei Ihren Nachforschungen schon vorangekommen?“ Während ich mir einen starken Tee holte, war ich davon überzeugt, dass er es bereits wusste, aber noch nicht bereit war es uns zu verraten. „Ich denke, dass ich am Ende des heutigen Tages eine Antwort für Sie haben werde“, sagte Holmes. Miss Bishop verließ uns darauf und Holmes und ich hatten Zeit die Bibliothek zu betrachten. Sie war wirklich beeindruckend. Alle Wände außer einer waren mit Regalen bedeckt, in denen sich vom Fußboden bis zur Decke Bücher stapelten. An dieser einen standen ein Lesetisch mit mehreren Fotographien und einigen Pistolen in Schaukästen. „Bemerkenswert…“, sage Holmes und deutete mir, sie zu untersuchen. „Das ist es sicherlich“, sagte ich. „Es ist zwar nicht die teuerste Sammlung, die ich kenne, aber sie haben tatsächlich einige Raritäten. Dieser Kavallerierevolver mit Steinschloss zum Beispiel stammt wahrscheinlich noch aus dem Jahre 1790. In England nach einem türkischen Entwurf gefertigt, würde ich sagen. Und, Holmes, sieh dir diese indische Toradormuskete an. Fabelhaft! Ende des letzten Jahrhunderts, verziert mit den wundervollen Goldornamenten der Koftgari.“ Holmes sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Mir war nicht klar, was für ein Fachmann du in Sachen Feuerwaffen bist, Doktor.“ „Äh…bei weitem kein Experte. Aber ich habe einiges aufgeschnappt. Es ist wirklich erfreulich, solche seltenen und gut erhaltenen Exemplare zu sehen.“ „Ihre Seltenheit ist allerdings nicht das Bemerkenswerte daran. Mehr die Tatsache, dass eine fehlt. Hier.“ Er deutete auf einen Kasten direkt über dem Schreibtisch. Er wurde von einer Trennwand geteilt und war offensichtlich dazu gedacht, darin zwei Pistolen aufzubewahren, wahrscheinlich von derselben Art: eine stupsnasige British Bulldog. Die eine Seite enthielt immer noch die Waffe; die andere war leer. „Vielleicht wird sie gerade gereinigt“, sagte ich. „Oder vielleicht haben sie nur eine davon.“ Holmes schnaubte. „Das bezweifle ich sehr stark. Außerdem finde ich, dass es höchste Zeit ist, nach London zurückzukehren. Wir kamen hier in den Genuss der herrlichen Landluft, aber das nächste Puzzleteil liegt in der Stadt“ Ich beobachtete, wie sein Blick auf eine der gerahmten Fotographien auf dem Schreibtisch fiel. Es war ein Portrait der Bishopfamilie, aufgenommen in glücklicheren Zeiten. „Ah, Miss Bishop“, sagte er und klopfte ihr auf der Schulter, während sie gerade dabei war mit einer mir unbekannten jungen Frau zu sprechen. „Entschuldigen Sie mich, aber ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Dr. Watson und ich für kurze Zeit in die Stadt zurück müssen. Und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir gestatten würden, dieses Bild Ihrer Familie auszuleihen?“ Sie nahm es mit einem abwesenden Lächeln in ihre Hände. „Ich kann mich noch daran erinnern, als es aufgenommen wurde. Nur Monate bevor Vater verschwand. Nehmen Sie es, Mr. Holmes, wenn es Ihnen hilft. Aber es ist die einzige Fotographie meines Vaters. Sie sollten…“ „Ich werde es mit meinem Leben schützen, Madam.“ Er lächelte und deutete mir mit einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes, zu gehen. „Oh! Sie werden mich doch auf dem Laufenden halten, wenn Sie etwas Neues erfahren, nicht wahr, Mr. Holmes?“ Er drehte sich zu ihr um. „Darauf können Sie sich verlassen“, sagte er. „Und wahrscheinlich schon sehr bald.“ Holmes starrte ständig auf die Fotographie und sah während der ganzen Heimreise kaum einmal davon auf. Ich wurde fast von meiner Neugier zerfressen, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann ich ihn nicht stören durfte. Wahrscheinlich waren es das sanfte Rattern des Zuges und die vorbei rauschende Landschaft, die meine Lider immer schwerer werden ließen, bis ich schließlich in einen leichten Schlaf glitt. Trotzdem fühlte ich mich nicht im Geringsten erholt, als der Zug schließlich in der Stadt in den Bahnhof einlief. Nur leer und steif. „Wir waren nur einen Tag fort und doch fühlt es sich wie eine ganze Woche an“, meinte ich, als wir in eine Kutsche stiegen. „Es muss an diesem Fall liegen, ich werde wahrlich dankbar sein, wenn du ihn gelöst hast und ich ein üppiges Abendessen und einen erholsamen Schlaf genießen kann, ohne dass mich der Mord an Bruce Bishop verfolgt.“ „Dein Wunsch wird sich schon sehr bald erfüllen. Wir müssen allerdings noch einen Zwischenstopp einlegen. Kutscher!“ Er gab eine Adresse an, die mir vage bekannt vorkam. „Wohin fahren wir, Holmes?“, fragte ich. „Zu Bullard natürlich.“ Eine Sache hat mich während meiner langen Bekanntschaft mit Sherlock Holmes immer besonders erstaunt hatte (und es gibt wahrlich viele Dinge an ihm, die mich erstaunten), war seine Fähigkeit, genau vorherzusagen, wann die Dinge ihre entscheidende Wendung nahmen. So wie an jenem Tag als wir gemeinsam in Bullards Büro ankamen. Genau rechtzeitig. Denn als wir an dem protestierenden Sekretär vorbeistürzten, fanden wir Bullard über einen eisernen Tresor gebeugt und hastig Papiere in einen Koffer stopfend. „Ich halte das für keine besonders gute Idee, Sir“, sagte Holmes und packte ihn mit einer Hand an der Schulter. „Und wenn Sie damit weitermachen, dann werde ich Watson hier nach einem Polizisten schicken lassen.“ „Mr. Holmes!“, rief Bullard. Seine Stimme versagte beinahe, als er zurücksprang. „Was tun Sie hier?“ „Der erste Grund, der mir dazu einfällt, Bullard, ist, um Sie zu fragen, warum Sie hier alle Ihre Sachen zusammenpacken? Besonders wo wir doch erst vor wenigen Stunden von Elizabeth Bishop erfahren haben, dass Sie zu krank seien, um das Begräbnis ihres alten Freundes Bruce Bishop zu besuchen.“ „Großer Gott!“, sagte ich und glaubte, nun endlich alle Teile in Händen zu halten. „Wir sind gewiss gerade noch rechtzeitig gekommen, Holmes. Offensichtlich wollte er aus der Stadt fliehen, bevor wir der Polizei sagen konnten, dass er Bishop ermordet hat!“ „Ermordet! Ermordet…nein, nein, Sir, ich schwöre, dass ich’s nicht war!“ Bullard lief – ganz ähnlich, wie bei unserer ersten Befragung – komplett rot an und sackte in einem Sessel zusammen. „Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Schlussfolgerung kommen, aber Sie irren sich“ „Wie wir zu dieser Schlussfolgerung kommen?! Nachdem wir Sie hier auf frischer Tat ertappten, wollen Sie immer noch leugnen? Dann ist das hier wohl Ihre Art von einem Frühjahrsputz?“ Ich wand mich zu meinem Freund um, während mein Zorn sich weiter steigerte. „Ich denke es ist wirklich höchste Zeit, dass ich einen Polizisten suche.“ „Aber ich habe niemanden ermordet, Sir! Das schwöre ich bei meinem Leben!“ Bullard war nun verzweifelt, bat uns in einer Art und Weise, dass ich halb erwartete, er würde auf die Knie fallen und uns anflehen. „Du verlogener Mistkerl…“ „Nein, Watson, warte“, sagte Holmes, als ich auf die Tür zuging, um meine Drohung wahr zu machen. „Er sagt die Wahrheit. Er hat Bishop nicht getötet. Nichtsdestotrotz trägt er die Schuld an einem beinahe ebenso abscheulichen Verbrechen.“ „Wirklich? Und das wäre?“ Holmes blickte verächtlich auf Bullard herab. „Sie haben mich gestern belogen, Bullard. Es war völlig offensichtlich, dass Sie wissen mussten, dass Bishop in jenen sechs Jahren am Leben war. Ohne einen Verbündeten wäre es ihm unmöglich gewesen, für so lange Zeit unterzutauchen.“ „Sie haben keine Beweise, Sir!“, rief Bullard. „Und selbst wenn ich es getan hätte; das ist kein Verbrechen!“ „Ich fürchte, Sie liegen in beiden Fällen falsch, mein lieber Sir.“ Holmes griff in seine Jackentasche und zog mehrere Stücke verblichenen Papiers hervor. „Vielleicht erkennen Sie das, Bullard? Wenn nicht, dann werde ich ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen. Dies ist das Testament des verstorbenen Warburton Bishop, des Vaters von Bruce Bishop. Sie erzählten mir gestern, ihm sei von seinem Vater eine bescheidene Summe hinterlassen worden, von der er in diesen sechs Jahren gelebt hatte. Aber diesem Testament zufolge waren ein Berg von Schulden, die er begleichen musste, und etwas persönlicher Besitz alles was Bishop erbte. Es wäre höchst unwahrscheinlich, dass ein Mann, der sein ganzes Leben als Fischer verbracht hat, viel zu vererben hätte. Sie, als sein Solicitor, hätten das gewusst.“ Bullard fiel zurück in seinen Ledersessel. Er war ein Mann, der einfach besiegt werden konnte. „Ich hatte niemals die Absicht irgendjemanden zu betrügen, am wenigsten von allen Catherine und ihre Kinder. Aber meine Treue zu Bruce überwog mein Urteilsvermögen. Er kam zu mir, Sir, kam zu mir als gebrochener Mann. Auch er wollte seine Frau und seine Kinder nicht verletzten, denn er liebte sie sehr, aber er verabscheute sein zurückgezogenes Leben. Und so entwickelten wir einen ehrbaren Plan. Er würde verschwinden und er würde alle in dem Glauben lassen, dass er seine Familie nicht verlassen hätte, sondern tot war. Ich nahm nur so viel Geld vom Besitz der Bishops, dass Bruce davon vorsichtig leben konnte. Catherine hätte es so gewollt! Und ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, dass er jemals zurückkommen wollte. Es war für mich eine ebensolche Überraschung wie für die Bishopkinder.“ „Was Sie soeben gestanden haben, Bullard, läuft auf Diebstahl und Erpressung hinaus. Sie können wohl kaum behaupten, dass alle Ihrer Schuld darin liegt, einem Freund geholfen zu haben“, sagte ich. „Stimmst du mir nicht zu, Holmes?“ Ich erwartete, dass er nun all die anderen Beweistücke ausbreiten würde, Beweisstücke, die zeigen würden, dass dieser Mann zweifellos ein Insekt war. Ein armseliges Insekt, dass einen langen Aufenthalt im Gefängnis verdiente. Aber er tat es nicht. „Ich würde Ihnen raten, Bullard, Ihr Vorhaben hier abzubrechen“ Er deutete auf die unzähligen Papiere, den halbgefüllten Koffer und den leeren Safe. „Andernfalls würden Sie gesetzwidrige Fluch noch auf die immer länger werdende Liste Ihrer Schandtaten hinzufügen“ Er erhob sich von seinem Stuhl und steuerte auf die Tür zu. „Warte! Holmes, wir können ihn doch ganz gewiss nicht einfach so hier lassen?!“ „Aber, aber, Watson, wenn wir ihn nun verlassen, schaffen wir es noch rechtzeitig nach Hause für ein frühes Abendessen. Ich bin mir sicher, unsere wundervolle Wirtin wird eines für uns vorbereitet haben. Wir werden hier nicht mehr gebraucht.“ Bullard sah so überrascht aus, wie ich mich fühlte. „Ich danke Ihnen…ich danke Ihnen vielmals, Mr. Holmes.“ „Wenn ich Sie wäre, Bullard“, sagte Holmes mit eisiger Stimme. „Wäre ich nicht so voreilig mit meinem Dank.“ In der Kutsche auf dem Weg zur Baker Street hatte ich beinahe Angst davor, das Gespräch auf das soeben Geschehene zu lenken. Aber ich konnte nicht widerstehen. „Holmes, ich muss zugeben, dass ich etwas erstaunt bin.“ Er lächelte und reichte mir einige Briefumschläge. „Das dachte ich mir schon. Ich hoffe, das hier wird dir alles etwas klarer machen.“ Ich betrachtete sie. Sie waren an einen ‚B. Warburton’ adressiert, irgendwo in Südfrankreich. „Was ist das?“, fragte ich ihn. „Als ich letzte Nacht nach Lord Hiltons Testament suchte, bin ich über diese Briefe gestolpert. Es schein ziemlich unglaubwürdig, dass Bishop sie wieder mit sich zurückbringen würde oder dass Bullard es nicht für nötig hielt sie zu verbrennen. Ich denke, die einzige Erklärung ist wohl, dass sie sich mit ihren Machenschaften so sicher fühlten, dass Bullerd niemals erwartet hätte, aufzufliegen. Ich kann dir allerdings versichern, dass zahlreiche andere davon genau in diesem Moment auf ihrem Weg zu Scotland Yard sind und bevor der Tat zu Ende ist, wird sich unser ehrenwerter Solicitor in Haft befinden.“ „Aber was genau steht in diesen Briefen?“ „Nicht mehr als eine ganze Ladung Diebstahl und Betrug – zusätzlich zu unserer bereits verurteilten Erpressung. Es scheint das Bullard, der bereits zugab, mit Bishop Kontakt gehab zu haben, auch für das Testament von Lady Catherine Hilton verantwortlich war – inklusive der Tatsache, dass ihr Ehemann immer noch der einzige Begünstigte war. Bishop und er planten seine Rückkehr zu einer Zeit, wenn Lady Catherine schon auf ihrem Sterbebett läge, um sich dann das Geld zu teilen.“ „Und ohne einen Penny für Elizabeth und Richard?“ Meine Verachtung für diesen Mann wuchs mit beachtlicher Geschwindigkeit. „Aber er erscheint mir auch verachtenswert genug, um sich schließlich auch gegen seinen Freund zu wenden. Vielleicht entschied Bishop nach seiner Rückkehr, dass er die ganze Erbschaft für sich haben wollte. Und Bullard war so wütend, dass er ihn getötet hat!“ Holmes warf mir einen spöttischen Seitenblick zu. „Das denke ich nicht, Doktor. Zuallererst scheint es höchst unwahrscheinlich, dass Bishop versucht haben sollte, seinen Freund zu betrügen bevor Lady Catherine tot wäre. Dafür wusste Bullard zu viel. Er hätte das Testament ändern können, die Polizei informieren oder wer weiß was noch. Ganz zu schweigen, dass das immer noch nicht erklärt, was Tom Kingston verbirgt. Nein, trotz seines schrecklichen Benehmens können wir mit Sicherheit sagen, dass er zu feige wäre, um einen Mord zu begehen.“ „Gut, aber wer war es dann?“ Er griff nach seinem Stock und klopfte damit gegen das Kutschendach. „Aber, aber, Watson“, sagte er. „Geduld ist eine Tugend.“ „Papa!“ Ich hatte kaum einen Fuß in die 221B gesetzt, als ich auch schon von den aufgeregt zappelnden Gliedern eines Dreijährigen bombardiert wurde. Er umklammerte meine Beine mit einer Kraft, die ich einem so kleinen Kerlchen niemals zugetraut hätte. „Ich glaube, ich hätte ganz gern meine Beine zurück, Sohn.“ Ich hob ihn in meine Arme. „So lange war ich doch auch wieder nicht weg, oder?“ „Doch das warst du“, sagte er, die kleinen Lippen zu einem Schmollmund verzogen. „Du warst die ganze Nach fort. Du warst nicht da, um mir vorzulesen, bevor ich ins Bett musste.“ „Aber Mrs. Hudson war doch hier. Hat sie dir nicht vorgelesen?“ „Sie ist aber nicht du.“ Bis zu diesem Moment hatte ich nicht einmal daran gedacht, dass dies die erste Nacht gewesen war, die der Junge ohne entweder seine Mutter, mich oder wenigstens sein Kindermädchen verbracht hatte. Nach allem, was passiert war, hätte ich erkennen müssen, wie sehr ihn das aus der Fassung bringen würde. „Es tut mir Leid, Josh. Aber Mr. Holmes brauchte mich in diesem Fall. Ich hatte nicht erwartet, dass wir über Nacht wegbleiben würden. Aber ich werde es wiedergutmachen. Sobald der Fall abgeschlossen ist, mache ich mit dir einen Ausflug in den Zoo. Na, wie klingt das?“ Er strahlte und schlang seine Arme um meinen Hals. „Versprichst du’s?“ „Natürlich. Ein Mann steht zu seinem Wort.“ Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich zu jenem Zeitpunkt unglaublich verbraucht. Ich hätte ihm das Blaue vom Himmel versprochen, wenn ich mich dafür nur vor dem Kamin im Wohnzimmer hätte ausstrecken dürfen. Mit einem herrlichen Abendessen natürlich und etwas starkem Tee und danach früh zu Bett. Dieser Fall hatte mich – im Gegensatz zu den vielen anderen aus Holmes’ fesselnder Vergangenheit – nicht mit Faszination erfüllt, mit dem Wunsch, ihm bei der Aufklärung zuzusehen, sondern lediglich mit dem starken Verlangen, er möge endlich vorüber sein. Ich hätte es auf die jüngsten Ereignisse in meinem Leben schieben können, oder auf die Tatsache ich nicht mehr so jung war wie früher oder auf irgendwelche andere Vorwände. Aber ich wusste, dass all das nicht die Gründe dafür waren. Etwas passierte. Etwas, das ich nicht benennen konnte. Aber sogar ich hatte genügend Voraussicht, um zu wissen, dass es noch nicht vorbei war. Ich konnte nicht sicher sagen, ob es mich erschreckte oder ich mir Sorgen machte, obwohl das vielleicht der Fall war. Alles, was ich in jenem Moment wusste, war, dass es mich irgendwo tief drinnen beschäftigte. Meine Seele spürte es. Und ich fühlte mich so verbraucht. „Komm, Josh. Lass uns ins Wohnzimmer gehen und es uns dort vor dem Kamin gemütlich machen. Dann kannst du laut vorlesen üben.“ Aber wir hatten gerade erst mit Mother Goose begonnen, als Holmes ins Zimmer rauschte. „Ich habe Mrs. Hudson gebeten, uns etwas Tee nach oben zu schicken. Ich muss mir diese bestimmten Haare unter dem Mikroskop ansehen.“ „Onkel!“, sagte Josh und blickte von seinem Buch auf. „Papa und ich gehen nach deinem Fall in den Zoo!“ Er starrte den Jungen an, als hätte er nicht einmal die geringste Ahnung, was ein Zoo sein sollte. „Zoo? Oh, sehr schön, John Sherlock.“ Der Junge beobachtete ihn mit überaus neugierigen Augen, während Holmes sein Taschentuch und die Fotographie hervorzog. „Kann ich helfen?“, fragte er. „Hmm…“ Er starrte konzentriert in seinen Apparat, drehte sorgfältig an den Rädchen. „Ich hatte Rech, Watson. Es ist tatsächlich Tinte. Eine billiger Druckertinte, im Übrigen.“ „Wirklich?“, sagte ich mit einem unterdrückten Gähnen. „Das ist faszinierend, Holmes.“ „Onkel? Kann ich helfen?“ Holmes seufzte, während er zum Kamin schlenderte, seine Calabash aufhob und sie stopfte. „Es fehlt trotzdem immer noch etwas. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich so lange brauche, um es zu verstehen.“ „Ich will helfen, Onkel!“ Er packte Holmes’ Rockschöße und zog heftig daran. „Josh, hör auf, ihn zu belästigen. Er versucht, zu denken. Komm her und sei einfach für ein paar Minuten still. Und dann kannst du mit uns Tee trinken.“ Holmes sah ihn an, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Nein, nein, Watson. Du kannst mir helfen, mein Junge. Es wäre zumindest ein exzellentes geistige Training, wenn schon sonst nichts dabei herauskommt. Jetzt nimm dieses Bild und setzt dich.“ „Komm schon, alter Junge, du denkst doch nicht ernsthaft, dass er erkennen könnte, was du übersehen hast?“ Holmes kauerte sich mir gegenüber in seinen Lehnstuhl. „Versuche ein wenig mehr Vertrauen zu haben, mein Freund.“ Josh nahm die Fotographie in seine pummeligen, kleinen Hände und studiert sie so konzentriert, dass ich lächeln musste. Rückblickend erkenne ich, dass ich der Einfältige gewesen war. Ich hätte es besser wissen sollen, als an meinem Kind zu zweifeln. Selbst im Alter von drei Jahren. „Was erkennst du?“, fragte ihn Holmes. „Sie sind glücklich.“ „Ja. Das ist offensichtlich. Aber du solltest mit deinen Beobachtungen tiefer gehen.“ „Na ja, die Frauen sind hübsch.“ Holmes quittierte mein Lachen mit einem Schnauben. „Das tut nichts zur Sache. Gib dir mehr Mühe, Junge.“ Josh legte das Bild weg und verschränkte die Arme. „Kann ich nicht. Edduzieren ist zu schwer nur mit Bildern, Onkel.“ „Es ist schon gut, mein Sohn“, sagte ich und wand mich zu Holmes. „Du erwartest zu viel von ihm. Es ist immer noch ein kleines Kind, um Himmels willen.“ Mein Freund knallte seine Pfeife auf den Tisch. „Du darfst ihm nicht erlauben aufzugeben, Watson! Er hat diese seltene genetische Veranlagung zum logischen Denken, aber sie wird verkümmern, wie jeder Muskel, der nicht trainiert wird. Nun, John Sherlock, sag mir was du siehst.“ Wäre ich nicht wegen der letzten 48 Stunden so erschöpft gewesen, dann wäre ich wütend über sein herablassendes Benehmen geworden. Schließlich war immer noch ich der Vater des Jungen. Aber weil ich todmüde war, tat ich es nur mit einem Schnauben ab. Sollte Holmes doch den Schulmeister spielen, wenn es ihm gefiel. Alles woran ich noch denken konnte, war endlich meine schweren Augenlider auszuruhen. „Hm, der Junge und das Mädchen sind Bruder und Schwester. Müssen sie, weil sie sich so ähnlich sehn.“ „Ja, ja. Das ist ein Anfang.“ „Die Frau schaut traurig. Nein…ihr geht’s nicht gut. Sie ist krank. Sie ist so dünn und diese dunklen Flecken unter den Augen.“ „Hervorragend, mein Junge!“ „Mehr kann ich nicht sagen, Onkel. Es tut meinen Augen weh, so viel zu starren. Nur eins noch: Der Mann ist Matrose.“ „Matrose? Woher willst du das wissen?“ „Er hat eins dieser Bootsdinger auf der Hand.“ Josh deutete auf einen Flecken auf dem Foto. „Glaub ich jedenfalls. Weiß nich’ mehr, wie die heißen.“ „Ein Anker…“ Holmes zog die Lupe aus seiner Weste und blinzelte durch sie mehrere endloslange Sekunden auf die Fotographie. Dann sprang er plötzlich auf die Füße. Er war so blass wie ein Gespenst und wirkte, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. „Großer Gott…Watson, wie konnte ich das nur übersehen?“ „Übersehen? Was hast du übersehen, alter Junge?“, frage ich benommen. „Es könnte alles umsonst gewesen sein…komm, Watson! Und beeil dich um Gotteswillen! Oh…und dein Revolver!“ Er war schon fast durch die Wohnzimmertür, während ich mich noch immer nicht aus meinem Lehnstuhl erhoben hatte. „Holmes, was ist überhaupt los? Es ist beinahe Abendessenszeit. Wo sollen wir denn jetzt noch hin?“ Seine Energie ermüdete mich nur noch mehr; schon allein ihm zuzusehen war fast zu viel. Weil ich mich immer noch nicht bewegt hatte, schnappte er sich selbst mein Armeerevolver von seinem Platz auf dem Schreibtisch und steckt es in seine Manteltasche. „Nach Black Bishop, natürlich.“ „Aber…aber da kommen wir doch gerade erst her!“ Holmes’ Gesicht war entsetzlich blass, eine beachtliche Leistung für einen Mann, der ohnehin schon kaum Farbe im Gesicht hatte. Rückblickend, werter Leser, würde ich beschwören, dass er auf irgendeine Art und Weise vorhergesehen hatte, was geschehen würde, auch wenn ich nicht sagen kann wie. „Mein lieber Doktor“, sagte er mit tiefer Stimme. „Wenn wir es nicht rechtzeitig dorthin schaffen, werden wir Zeugen einer weiteren Tragödie in Dartmoor werden.“ Eine schnelle Kutsche und eine halbe Guinea später saßen Holmes und ich schon wieder in einem geschäftigen Zug in Richtung des Moors. Sogar Josh war zu überrascht gewesen, als dass er gegen unsere mehr als ungeplante Abreise protestiert hätte. Ich hatte nur noch Zeit gehabt, Mrs. Hudson ein schnelles Zeichen zu geben, während wir durch die Vordertür gerannt waren. Das Einzige, das nun zu klären blieb, war, was Holmes auf der Fotographie gesehen hatte, dass wir nun in halsbrecherischer Geschwindigkeit zurück nach Black Bishop jagten. In andren Worten – alles. Er erreichten Charing Cross gerade noch rechtzeitig für den 5-Uhr-40-Zug und hatte keine Zeit mehr, uns ein privates Abteil zu sichern. Also kauerten wir nun neben einen älteren Kerl mit dicken Augengläsern, einem Kindermädchen und zwei ihrer Schützlinge. Als ich Holmes fragte, was zum Teufel überhaupt los war, machte er nur eine abweisende Kopfbewegung. „Nicht hier“, murmelte er. Wie ich es schaffe, die nächsten drei Stunden in völliger Unwissenheit zu überstehen, ist mir bis heute ein Rätsel, aber irgendwie gelang es mir. Niemals hatte ich so oft in so kurzer Zeit die Uhrzeit überprüft. Als der Zug langsam in den Bahnhof einlief, hatte ein grauer nebliger Regen die Landschaft überzogen. Es passte perfekt zu meiner aufgewühlten Stimmung. Ich hatte erwartet, wir würden Schwierigkeiten bekommen, da nur wenige Kutschen vor dem Bahnhof warteten, aber Holmes’ Adleraugen entdeckten eine, in derselben Sekunde, als sich die Abteiltür öffnete und er zerrte mich praktisch dorthin. „Black Bishop, sofort!“, sagte er. „Was wolln Sie denn dort?“, fragte der Kutscher. Es war ganz ohne Zweifel kein übliches Reiseziel. „Bringen Sie uns einfach hin, verdammt noch mal! Und sparen Sie die Peitsche nicht!“ Holmes kletterte hinein und wir fuhren los, bevor ich mich auch nur hinsetzten konnte. Ich hatte ihn schon seit langem nicht mehr so aufgeregt gesehen. „In Ordnung…“, sagte ich, als die Kutsche uns ruckartig und mit sogar noch größerer Schnelligkeit als Miss Bishops Pferde vorwärts zog. „Du musst mir endlich erzählen, was los ist, Holmes. Was hast du auf dieser Fotografie gesehen? Oder da ich dich kenne, mein Lieber, lautet meine Frage eigentlich: Was auf dieser Fotografie hat dich zu diesen Handlungen getrieben?“ „Weißt du, Watson…es gibt einen Grund, warum ich so große Schwierigkeiten mit diesem Fall hatte. Zuerst dachte ich, der Grund dafür…nun ja, wäre etwas anderes. Aber größtenteils ist es, weil ich die ganze Sache völlig falsch angegangen bin.“ Er starrte mich mit eindringlich an und überreichte mir das Bishopfamilienportrait. „Das ist das einzige, überlebende Bild von Bruce Bishop. Das machte es besonders schwierig. Wenn wir deinen Sohn nicht gehabt hätten, Doktor…ich hätte es vielleicht niemals bemerkt.“ Ich hatte mittlerweile die Grenze zur Wut überschritten. „Was bemerkt, verdammt?!“ Er deutete auf Bruce Bishops Handgelenk. Der Arm ruhte auf der Schulter seiner Frau. Die Ärmel waren ihm zu kurz und ich konnte gerade noch einen Flecken auf seinem Handgelenk erkennen. „Nimm das“, sagte Holmes und reichte mir sein Vergrößerungsglas. Damit konnte ich es deutlicher sehen. Es war eine Tätowierung. Eine Tätowierung, die mit ziemlicher Sicherheit einen Anker darstellte. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich immer noch nicht verstand. Ich gab Holmes beides zurück. „Und? Der Mann hatte sich einen Anker eintätowieren lassen. Was soll das schon bedeuten?“ „Was es bedeuten soll? Nun, Doktor, es bedeutet, dass der Fall gelöst ist! Wie der kleine Josh es allerdings mit bloßem Auge erkannt hat, werde ich wohl niemals wissen, aber Gott sei dank hat er es! Doktor, erinnerst du dich nicht mehr daran, wie wir die Leiche untersucht haben? Die Leiche hatte keine solche Tätowierung!“ Ich war so verdattert, dass ich immer noch nicht verstand, worauf er hinaus wollte. „Dann…haben wir eine Tätowierung übersehen, als wir die Leiche untersucht haben. Wie soll das den Fall lösen?“ „Watson…ich habe keine Tätowierung ‚übersehen’. Ich würde niemals etwas so Offensichtliches übersehen. Die Leiche auf der Polizeistation war nicht derselbe Mann, wie hier auf diesem Foto.“ Ich musste ihn fassungslos und ungläubig angestarrt haben, denn er fügte hinzu: „Es war nicht Bruce Bishop, der vor fünf Nächten ermordet wurde.“ „Aber…wie…wer dann?“ Holmes lehnte sich zurück in seinen Sitz und rieb sich die Schläfen. Seine Hände zitterten leicht. „Ich könnte es erklären, aber dann müsste ich alles in wenigen Augenblicken noch einmal wiederholen. Übe dich in Geduld und bete, dass das, was ich befürchte, nicht bereits in Black Bishop geschehen ist.“ „Und was soll das sein?“, fragte ich, obwohl ich mir ganz und gar nicht sicher war, ob ich es überhaupt wissen wollte. Holmes sah mir tief in die Augen. „Noch ein Mord.“ Im selben Augenblick als der eigensinnige Kutscher den Eingang des Anwesens erreichte, sprang Holmes aus der Kutsche und warf ihm einige Münzen zu. Trotzdem hatten wir uns kaum zwei Schritte von den Pferden entfernt, als Elizabeth Bishop schon auf uns zu gerannt kam. „Mr. Holmes! Dr. Watson! Aber wie konnten Sie mein Telegramm so schnell bekommen? Ich habe es doch gerade erst abgeschickt!“ „Ich habe kein Telegramm bekommen“, sagte Holmes. „Und warum sollten Sie mir eines schicken?“ Ihre dunklen Augen trübten sich und wurden so groß wie Hühnereier. „Aber woher wussten Sie dann, dass Tom entkommen ist?“ Ich bin mir sicher, Holmes muss genau so schockiert gewesen sein wie ich, auch wenn er sich solche Dinge so gut wie niemals auf seinem steinernen Antlitz anmerken ließ. „Tom Kingston ist entkommen? Ich hatte es erwogen…aber es ist jetzt viel wichtiger, ihren Bruder zu finden. Wir müssen Richard sofort finden.“ „Aber warum…“ Doch noch bevor Holmes antworten konnte, hörten wir eine Kutsche über die Felder rattern und sahen die dichten Staubwolken, die sie in der ohnehin schon trübe, kalte Nachtluft aufwirbelte. Aus 50 Fuß Entfernung konnte ich die zornige Rauchwolke sehen, die Claytons ganzer Körper auszustrahlen schien. Wie ein Hund rannte er auf uns zu, die Klauen und gelben Zähne gebleckt. „Wo ist er?! Eins sag ich Ihnen…“, aber dann schien er Holmes und mich zu bemerken. „Sie! Sie! Sie sind irgendwie für das Ganze verantwortlich, stimmt doch?!“ Getrieben von einem alten militärischen Instinkt machte ich einen Schritt nach vorn zwischen Holmes und Clayton. Es war gut möglich, dass er eine Waffe gegen meinen Freund ziehen mochte. Wütend genug war er zweifellos. Aber – und ich war unglaublich dankbar dafür – er tat es doch nicht. Holmes drückte meinen Arm und ich wusste, dass ihm klar war, was ich hatte tun wollen. Das war seine Art, mir zu danken. „Ich versichere Ihnen, Clayton, dass ich keine Ahnung habe, wo sich Kingston versteckt. Oder wie er entkommen ist, was das angeht. Was ich Ihnen allerdings sagen kann, ist, dass das momentan unser geringstes Problem ist. Wir müssen Richard Bishop finden. Und bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wo er ist.“ „Und ich sage Ihnen, Mr. Holmes, dass“— Doch plötzlich durchbrach ein lauter klarer Schuss in einiger Entfernung, dort wo die Baumreihen lichter wurden, die Stille. Das Geräusch einer Pistole. Miss Bishop schrie. Der Inspektor und die beiden Polizisten wirkten perplex. Ich selbst fühlte, wie mein ganzer Körper erschauderte. Nur Holmes schien unbewegt. Er verzog ärgerlich seinen Mund, weil seine Warnungen nicht gehört worden waren und deutete auf das Wäldchen. „Inspektor, ich fürchte, Ihr Gejammer könnte Sie um Ihren Verdächtigen gebracht haben. Folgt mir alle, und Beeilung!“ Holmes, eindeutig der Sportlichste unter uns, raste voraus in Richtung der Pinien, während ich selbst mit meinem verwundeten Bein versuchte ihn einzuholen. Clayton und seine Hunde waren direkt hinter mir. Nah genug, dass ich ihren feuchten Atem in meinem Nacken spüren konnte. Miss Bishop hielt verzweifelt den Saum ihres Kleides hoch und bildete den Schluss. Pinienzweige schlugen mir ins Gesicht und zweimal musste ich ganz anhalten, um nicht einen Abhang hinabzustürzen. Meine Stiefel versanken im feuchten Boden und während der Himmel immer dunkler wurde, war es hier unter den Bäumen pechschwarz. Ebenso wie Clayton verlor ich die hagere Gestalt meines Freundes rasch aus den Augen. „Hier drüben!“, hörte ich ihn rufen. „Schnell, Watson!“ Irgendwie gelang es mir sie zu finden, direkt am Ufer des Flusses, wo wir erst vor kaum 24 Stunden gestanden hatten. Doch dieses Mal war es ein weit schmutzigerer und hässlicherer Anblick. Holmes stand unterwürfig vor einem wütenden Richard Bishop. Er zielte mit einer British Bulldog direkt auf meinen Freund. Auf dem Boden nur fünf Fuß von ihm entfernt lag Thomas Kingston. Ich ignorierte den Schrecken und rannte sofort zu ihm. Er war in die Brust getroffen worden, zwischen den Lungen und dem Schulterplatt. Er blutete zwar, aber nicht sehr heftig. Plötzlich war Miss Bishop da und rannte auf uns zu. „Oh, Gott…oh, mein Gott…Tom…Nein!“ Sie brach auf dem Boden zusammen. Tränen strömten über ihre Wangen, während sie die Hand an Kingstons unverletzter Seite ergriff. „Es ist alles in Ordnung, Miss Bishop“, sagte ich, obwohl ich fand, dass die Wahrheit nicht weiter davon entfernt sein könnte. „Der Schuss durchbohrte den Pectorialis Major und vielleicht die zweite oder dritte Rippe, aber er hat anscheinend die Lungen und alle Hauptarterien verfehlt. Er wird leben, aber es ist notwendig, ihn sofort zurück ins Haus zu bringen, wo ich ihn ordentlich versorgen kann.“ „Ich fürchte, dass geht nicht“, sagte Richard Bishop. „Keiner von euch kann gehen. Ihr…ihr wisst zu viel.“ „Richard! Aber warum…wie konntest du?“ Miss Bishops Gesicht war entsetzlich blass. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wäre sie in Ohnmacht gefallen. Sogar ich empfand all das als großen Schock, aber für sie ging es um die eigene Familie. Ihr Bruder hatte gerade auf den Mann geschossen, den sie liebte. Unweigerlich griff ich nach ihrer Hand. Was konnte ich sonst schon tun? „Es ist recht einfach, Miss Bishop, wie er konnte“, sagte Holmes. „Das ist nicht das erste Mal, dass er versucht jemanden zu töten. Ich bin dankbar, dass er dieses Mal nicht erfolgreich war. Unerfreulicherweise für Ihren verstorbenen Onkel gelang es ihm allerdings, jenen zu erstechen.“ „Wovon reden Sie überhaupt, Mr. Holmes“, fragte Richard. „Ich fürchte, das ist der Druck. Ja, ich habe es getan. Aber es war mein Vater, den ich tötete und nicht mein Onkel.“ „Ich fürchte nicht, Master Bishop. Ihre Schwester wusste nicht einmal von Lord Michael Hiltons Existenz, aber Sie taten es. Sie haben es soeben bewiesen, indem Sie mich nicht nach einem Onkel fragten, von dem Sie nichts wussten. Ihre Mutter hatte ihn zweifellos Ihnen gegenüber erwähnt. Sie fühlte sich schuldig, weil Ihr toter Großvater ihn aus der Familie ausgestoßen hatte. Allerdings bezweifle ich nicht, dass Sie niemals erkannte, wenn Sie wirklich vor fünf Tagen getötet haben. Doch es war nicht Ihr Vater Bruce Bishop.“ Neben mir stöhnte Kingston, so als wüsste er, was soeben geschah. Er schien zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit hin und her zu schwanken. Ich legte meinen Mantel ab und faltete ihn zu einer Art Schlinge und legte ihn auf eine Seite und drückte seine Wunde auf die andere. „Ist Ihnen klar, Richard, dass dieser Mann hier verbluten wird, wenn ich ihn nicht operieren kann? Sie werden auch noch für einen zweiten Tod verantwortlich sein…warte mal, Holmes, hast du gerade gesagt, der Junge hat seinen Onkel getötet und nicht seinen Vater?“ Ja, das hatte er. In der Kutsche auf dem Weg nach Black Bishop hatte er erklärt, das Opfer sei nicht Bruce Bishop gewesen. Aber trotzdem ergab es für mich keinen Sinn. Wie konnte Clive und nicht Bishop das Opfer dieses Verbrechens gewesen sein? „Das habe ich, Watson. Ich hätte es im selben Moment erkennen müssen, als ich die Leiche untersuchte. Erinnerst du dich daran, dass du sagtest, es sei seltsam, dass der Mann überhaupt gestorben ist, da keine seiner fünf Stichwunden wirklich lebensbedrohlich sei?“ „Ja.“ „Das war das Stück de la resistance. Es war allerdings so merkwürdig, dass ich es nicht als wichtig ansah, bis es fast schon zu spät war. Siehst du, der Mann, den Master Bishop getötet hat, hatte etwas ganz bestimmtes mit ihm selbst gemeinsam. Er litt an Hämophilie. Clive starb, weil die Wunden, auch wenn sie nicht sehr tief oder gefährlich waren, einfach nicht aufhörten zu bluten. Es brauchte nur ein paar Stunden, während er dort lag und immer schwächer und schwächer wurde, bis er schließlich wortwörtlich ausblutete. Das erklärt auch, warum das Zimmer so seltsam aussah. Es gab zwar ein paar Spritzer, aber vor allem Lachen von getrocknetem Blut. Wenn eine Hauptarterie getroffen worden wäre, hätte es wesentlich mehr Blutspritzer geben müssen. Aber die gab es nicht. Das – zusammen mit der Untersuchung der Leiche – ist der eindeutige Beweis, dass das Opfer an einer schweren Form der Hämophilie litt.“ „Aber…aber, Holmes, woher willst du wissen, dass nicht auch Bishop selbst an dieser Störung litt? Schließlich leidet auch sein Sohn daran…“ Aber dann erinnerte ich mich an etwas. Etwas aus meiner Studienzeit, von dem ich niemals gedachte hätte, dass ich mich einmal dran erinnern müsste. „Ah…jetzt verstehe ich. Ich erinnere mich an einen Mediziner vom Beginn dieses Jahrhunderts, ungefähr 1810 denke ich. Ein Franzose, kein Amerikaner…nun, sein Name ist mir entfallen. Aber er bewies, dass Hämophilie eine Krankheit ist, die nur über die mütterliche Linie an männliche Nachkommen weitervererbt werden kann. Deshalb muss Richard die Krankheit von seiner Mutter geerbt haben. Und das bedeutet, es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Mann auf ihrer Seite der Familie auch an dieser Störung leidet.“ „Ja“, antwortete Holmes. „Du hast es erfasst, Doktor. Ich zog für eine kurze Zeit die ziemlich unwahrscheinliche Möglichkeit in Betrachtung, dass auch Bishop selbst Hämophilie gehabt haben könnte, aber das wäre ein zu großer Zufall…bis ich die Fotographie sah.“ „Welche Fotographie?“, fragte Richard mit ziemlich sanfter Stimme. Er zielte immer noch mit einer Pistole auf meinen Freund, aber wirkte, als habe er vergessen, was damit zu tun sei. „Die Einzige, auf der Ihre ganze Familie zu sehen ist, Junge. Mit einer Lupe ist darauf deutlich zu erkennen, dass Ihr Vater auf dem Handgelenk einen tätowierten Anker hatte. Aber der Mann, denn Sie getötet haben hatte keinen. Ich bin sicher, dass er immer darauf bedacht war, in eurer Gegenwart lange Ärmel zu tragen und seine Manschetten immer ordentlich zuzuknöpfen – für den Fall, dass sich jemand daran erinnerte. Es war der eine verdammte Beweis, die eine Sache, die Clive in seiner ansonsten makellosen Darstellung Ihres Vaters nicht kopieren konnte. Niemand der an so schwerer Hämophilie litt wie er, würde das Risiko einer Tätowierung eingehen.“ „Nein!“, rief Richard. „Das ergibt keinen Sinn! Sie und Dr. Watson versuchen nur mich zu verwirren!“ Die Hand mit der Pistole zitterte leicht. „Wir tun nichts dergleichen“, sagte Holmes. „Lass es mich dir so erklären. Dein Großvater enterbte deinen Onkel wegen etwas, dass er ‚Ekel erregenden Lebenswandel’ nannte. Ein paar Jahre später entwickelten dein Vater und sein Freund Ambrose Bullard einen Plan, mit dem sie ausgesorgt hätten. Bishop würde vorgeben, auf einer seiner zahlreichen Seereisen zu verschwinden und würde sein Leben im sorgenfreien Exil verbringen, bis sein Frau dem Tod schließlich nahe genug wäre, dass er zurückkehren und so tun konnte, als suche er Vergebung. Aber in Wahrheit wäre er hinter Lady Catherines Vermögen her. Es war Bullards Aufgabe, sicherzustellen, dass sie niemals ihr Testament änderte und in Zwischenzeit genügend Geld von ihrem Besitz abzuzweigen, dass Bishop davon leben konnte. Er schrieb seinem Freund regelmäßig und versorgte ihn so mit Informationen über den Zustand seiner Frau und seiner Kinder. Dafür hätte er die Hälfte des Vermögens erhalten. Unglücklicherweise für Bishop stieß er irgendwo durch einen Zufall auf seinen Schwager, von dessen Existenz er noch nicht einmal wusste. Nachdem er erstmal betrunken genug war, erfuhr Clive von ihm zweifellos alles über ihren sorgfältigen Plan und entschied, dass das seine Chance war. Er studierte Bishop lang genug, um ihn perfekt imitieren zu können und brachte ihn dann um. Bullard, der perfekte Idiot, erkannte während der ganzen sechs Jahre nicht, dass er Clive im allem versorgte, was er für diesen größten Auftritt seines Lebens brauchen würde. Er färbte sich die Haare mit Tinte dunkler – ich habe bei der Leiche noch Rückstände davon gefunden – und bräunte seine Haut, damit sie wie die eines Mannes war, der viel Zeit in der Sonne verbracht hatte. Sie ähnelten sich in Größe und Gewicht. Er ließ sich lange Koteletten wachsen und trainierte seine Stimme und seinen Gang, bis ihn niemand mehr von Bishop unterscheiden konnte. Kleine Widersprüche ließen sich mit den inzwischen vergangenen Jahren erklären. Außer natürlich der Tätowierung. Und dann kam endlich der Brief, auf den Clive gewartete hatte – Lady Catherine lag im Sterben. Würde den Monat wohl nicht überleben – jetzt war die Zeit für seine Rückkehr gekommen. Und er kehrte zurück. Seine Tochter empfing ihren geliebten Vater mit offenen Armen und glaubte an ein Wunder. Aber Clive rechnete nicht damit, wie viel Groll sein Sohn – oder eher Neffe – für seinen Vater empfand, weil er damals verschwunden war. Und als er dann auch noch erfuhr, dass er seine geliebte Mutter im Stich gelassen hatte – nun, das war mehr, als er ertragen konnte, nicht wahr, Richard? Du wolltest nicht zulassen, dass deine Mutter derartig für dumm verkauft wurde. Dir war zweifellos klar, dass deine Tat ein schreckliches Verbrechen war – sowohl in den Augen des Gesetzes als auch den Augen Gottes. Aber die Liebe zu deiner Mutter war stärker.“ Richard zitterte heftig. „Du nahmst das Messer, dass Thomas Kingston, dir geschenkt hatte. Vielleicht war dir nicht einmal klar, dass sie ihn verdächtigen würden. Dann wartetest du, bis du sicher sein konntest, dass er schlief. Du schlichst in sein Zimmer und stachst fünfmal auf ihn ein. Clive war so schockiert, dass er nicht einmal mehr schreien konnte. Du öffnetest das Fenster in der Hoffnung, die Polizei würde denken, ein Einbrecher hätte es getan. Und dann ließt du Clive dort liegen, verblutend, in dem Glauben, es sei dein Vater gewesen, den du soeben getötet hattest. Ein gerechter Tod, wie du mir erst gestern erzähltest.“ „Oh Gott…“, murmelte Miss Bishop. Sie hatte meine verschwitzte Hand in fassungslosem Schweigen umklammert. „Oh Gott, Richard…wie konntest du? Wie konntest du so etwas nur tun?“ „Du verstehst das nicht, Lizzie!“, schrie Richard. „Du genossest den Luxus der Ahnungslosigkeit! Ich sehe sie Tag für Tag, unsere Mutter! Es war sein Verschwinden, das Mutter in die Verzweiflung trieb und ihren Zustand so sehr verschlimmerte! Ich tat nur, was die Bibel gebietet. Und das ist Aug um Aug.“ Ich sprang auf die Füße, konnte meinen Ärger nicht länger zurückhalten. „Wer gibt dir das Recht, Jung? Wer gibt dir das Recht, über einen Menschen zu urteilen? Dein Vater mag nicht schuldlos gewesen sein, genauso wenig wie Clive, was das angeht, aber du hast kein Recht dazu, dich zum Richter aufzuschwingen und sie zu verurteilen!“ „Ich weiß sehr wohl um die Konsequenzen meines Handelns, Dr. Watson“, sagte der Junge. „Ich akzeptiere die Tatsache, dass ich in die ewig Verdammnis eingehen werde. Aber wie ich Mr. Holmes erst gestern erklärte, gibt es Dinge, die wichtiger sind als man selbst.“ „Aber Dicky…man wird dich hängen, für das, was du getan hast! Verstehst du das denn nicht?“ Auch Miss Bishop war nun auf ihren Füßen. Heiße Tränen begannen aus ihren schönen Augen zu strömen. Obwohl er so ruhig wirkte – Master Bishop, mit einem ausgeglichenen Ausdruck auf seinem Gesicht und in den leuchtenden Augen – fürchtete ich um seinen Geisteszustand. Wie konnte er eine Pistole auf drei Menschen richten, einer davon seine eigene Schwester, und davon sprechen, es sei ihm egal, wenn er für seine Taten zum Galgen oder in die Hölle gehen müsse? Wie konnte er…aber dann erkannte ich, wie er konnte…was er die ganze Zeit über vorgehabt hatte. „Nein, Lizzie“, sage er friedlich. „Für mich gibt es keine Hoffnung mehr. Also werde ich unserem Schöpfer gegenüber meine Pflicht erfüllen und das Unvermeidliche akzeptieren. ‚Ich hebe meinen Blick und sehe’[1]. Es ist für Ihn” Er hob die Pistole an seine Schläfe. „Keine Bewegung!“ Clayton und die Polizisten, die den gesamten Dialog verpasst hatten, waren plötzlich da, liefen über die Wiese auf uns zu – mit gezogenen Revolvern. Richard senkte irritiert seine Pistole. Und der nächste Augenblick geschah so schnell und verwirrend, dass ich kaum sagen kann, wie ich es alles unterbringen soll. „Nein, Clayton!“, rief Holmes, als er ihre Waffen erblickte. Er griff in seine Manteltasche. Er hätte es nicht tun sollen. Ich sah etwas Silbernes aufblitzen. Es war mein Armeerevolver. Richard Bishop sah die Pistole im selben Moment wie ich. Er wand sich zu meinem Freund. „Holmes, duck dich!“, rief ich. Ich könnte behaupten, die ganze Welt hätte sich in diesem Augenblick verlangsamt, aber das war nicht geschehen. Tatsächlich geschah alles ganz schnell. Ich rannte auf den Jungen zu und dachte nicht einmal daran, dass ich damit mein Leben wegwerfen könnte. Seine dunklen, zornigen Augen weiteten sich, als er sah, was ich tat. Ich traf ihn hart, sein kleiner Körper wurde vom Aufprall meines viel schwereren nach hinten geworfen. Ich hörte den Schuss nicht einmal. Aber ich fühlte ihn trotzdem. Ich denke, dass ist es, was der Krieg mit einem Mann anstellt. Nach einer Weile kann er die Schüsse nicht mehr hören, und weiß trotzdem, wann sie losgehen. Ich fühlte das stechende Brennen der Kugel, die sich in meinen Rücken bohrte. Es war ein grausamer Schmerz, ich glaube sogar schlimmer als meine früheren Schusswunden. Vielleicht schrie ich, aber ich bin mir nicht sicher. Irgendjemand – es musste wohl Elizabeth Bishop gewesen sein – tat es jedenfalls. Bis zum heutigen Tag kann ich immer noch ihren entsetzlichen Schrei in meinen Ohren gellen hören. Ich erinnere mich, dass ich – mit dem Kopf voraus – in den Fluss fiel. Als ich ins finstere Wasser eintauchte, war mein erster Gedanke, dass ich nun ertrinken würde, bevor die Kugel Zeit hatte, zu wirken. Aber ich ertrank nicht. Stattdessen packte mich jemand unter den Armen und zog mich zurück aus dem eisigen Wasser. Niemals war mir so kalt gewesen. Dicke Wassertropfen, die beinahe schon zu Eis gefroren waren, fielen von mir ab. Das Gefühl der Kälte ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ehe alles dunkel wurde. Aber da war eine Stimme. Sie sagte: „Nein…nein, oh Gott, was habe ich getan? John…“ ______________________________________________________________________________ [1] Der Prophet Jesaja 40:26 (Im Bibeltext eigentlich: „Hebe deinen Blick und siehe, wer dich geschaffen hat.“ (engl.: „Lift thy eyes on high and see; who created thee?“) Hosted by Animexx e.V. 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