Die Bekenntnisse des Meisters von Inkubus (Niedergeschrieben von John H. Watson, M.D.) ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Dieses Mal konnte ich meinen Zeitplan für den Upload einhalten. ^^ Viel Spaß bei Kapitel 6! Und noch einmal vielen Dank an Redrose für ihre treuen Kommentare! In jener Nacht wünschte ich mir nichts sehnlicher als Schlaf. Mein Herz brauchte nichts mehr als ungestörte Ruhe. Wie ich bereits an anderer Stelle berichtet habe, bin ich nicht unbedingt ein tatkräftiger Mensch[1]. Ich halte mich gerne an die erste Hälfte des alten Sprichwortes ‚Früh zu Bett’ (aber der Rest sollte lauten ‚spät aus dem Bett’). Als ich jedoch meinen Körper warm und behaglich ausgestreckt hatte, waren meine Gedanken kalt und unruhig. Ich konnte hören, wie Holmes unter mir hin und her schritt, ruhelos wie eine Katze. Normalerweise war er, wenn er gerade keinen Fall bearbeitete, so lethargisch wie eine Leiche und bewegte sich höchstens gezwungenermaßen aus seinem Sessel oder dem Bett. Doch wenn er eine Spur verfolgte, dann schien sein hagerer Körper beinahe schon verliebt in die Energie. Dann würde er tagelang nicht ruhen, ohne dass es ihn im Geringsten beeinträchtigte. Ich weiß nicht, ob er in jener Nacht überhaupt schlief, aber ich war dankbar, dass ich zumindest kein grässliches Violinespiel mehr hörte. Ich hätte es nicht ertragen. Ich wage zu sagen, dass ich nun für immer anders über jenes Instrument denken sollte. Der Schlaf fand mich schließlich irgendwann, nachdem die Uhr eins geschlagen hatte. Aber selbst dann war es ein seltsamer Halbschlaf, erfüllt mit farblosen Bildern. Ich war nicht in der Lage, jenen wirklich erholsamen Schlaf zu finden, aus dem man erfrischt aufwacht. Stattdessen wurde ich von erinnerungsgeladenen Alpträumen geplagt: Die Hitze der afghanischen Sommersonne brannte auf meiner Haut, während ich in einer trockenen Wüste stand, umgeben von Männern, die ich zu kennen glaubte. Die guten alten 5th Northumberland Fugeleers. Smyth…Bennett…Hampstead…sie alle waren da. Ich befand mich in einem provisorischen Chirurgenzelt und versuchte den gebrochenen Oberschenkel eines jungen Soldaten zu versorgen. Wir alle lachten über einen von Patrick Bennets Scherzen. Irgendetwas über die O-Beine des Captains. ‚Glaubt ihr, er trägt einen Kaktus in seiner Hose mit sich rum?’, erklärte uns Bennette seine eigene respektlose Theorie. Wir alle lachten. ‚Eines Tages wird man dich für deine Unverschämtheit verprügeln’, sagte ich ihm. In jener Sekunde verfüllte ein schreckliches Kreischen die Luft, scheinbar begleitet von tausenden Gewehrschüssen. Das Zelt wurde in große rote Fetzen zerrissen, als ich einen brennenden Schmerz in meiner Schulter und meinem Oberschenkel fühlte. Ich wurde auf den Boden geschleudert, ein Umstand, der mein Leben gerettet haben dürfte. Alles geschah in nur einem einzelnen Augenblick; der überraschende Rebellenaufstand war schon vorbei, bevor er richtig begonnen hatte. Alles was ich tun konnte, war am heißen Boden zu liegen und unter unerträglichen Schmerzen zu husten, kaum fähig die Augen offen zu halten. Bennett lag neben mir mit drei Kugeln in der Brust, über und über bedeckt mit seinem eigenen Blut. Der Junge, dessen Bein ich versorgt hatte, baumelte halb vom Tisch. Seine Augen, blank wie Glasmurmeln, starrten mich an. Eine Hand fiel herab, streifte meinen Kopf, die Finger zitterten noch leicht, sein Blut tropfte gemächlich – Tropfen für Tropfen – auf mein Gesicht. Ich dachte nur daran, von ihm weg zu kommen…aber der Schmerz, der mich durchbohrte, machte es mir unmöglich. Eine Violine begann hinter mir zu kreischen, übertünchte all die Schreie meiner Männer. Es war keine Musik. Nur Geräusch, entsetzlich lautes Geräusch, lauter und immer lauter…bis plötzlich ein schwarzer Schatten über mir erschien, ein großer, schlanker Schatten mit spitzen Zügen und langen scharfen Klauen. ‚Watson…’, zischte er und beugte sich über meine Kehle. Nein…nein…nein… „Nein!“ „Watson?“ Ich schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit meiner Kammer. Es war Holmes. Ich war nicht in Afghanistan, sondern hier in meinem Bett in London. Mein Herz schlug so schnell, dass ich eine Sekunde lang glaubte, ich würde einen Herzinfarkt bekommen. Ich fühlte mich so kalt…und nass. Über und über bedeckt mit meinem eigenen Schweiß. Ein krächzender Laut entkam meiner Kehle, doch mein Hals war so trocken und ausgedörrt, dass ich nicht sprechen konnte. „Was fehlt dir, Doktor?“, hörte ich ihn sagen. „Wa…“ Seine Hand war plötzlich auf meiner Schulter. Schaudernd wich ich zurück. Obwohl lange verheilt konnte ich immer noch einen Stich in den Wunden meines Körpers fühlen. Und er war es gewesen, der…nein, es war nur ein Traum. Oder? „Geht es dir gut?“ Seine Stimme klang jetzt besorgt. „Du bist so blass…bist du krank?“ Ich beobachtete, wie er nach dem Krug auf meinem Nachttisch griff, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. „Soll ich einen Arzt rufen?“ In seinem letzten Satz könnte ein Hauch Ironie mitgeschwungen haben, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Das Wasser war lauwarm, aber es verscheuchte den seltsamen Dämon, der meine Kehle zu umklammern schien und ich fühlte mich wacher. Lebendiger. „Nein, es geht mir gut.“, brachte ich hervor. „Es war nur…es war nur ein Traum. Sonst nichts.“ Ich versuchte zu lächeln, die Situation herunterzuspielen. Ich wollte nicht, dass er dachte ein bloßer Traum war genug, um mich in einen solchen Zustand zu versetzen. Schließlich war ich weder ein Schwächling noch ein Angsthase. Aber stattdessen schenkte er mir ein trauriges Halbgrinsen. „Wir alle haben von Zeit zu Zeit unsere Alpträume, Doktor.“ „Ja. Holmes, was machst du Mitten in der Nacht in meinem Zimmer?“ Er lachte. „Mein lieber Freund, du musst wirklich durcheinander sein. Es ist im Moment genau Viertel nach sieben. Und ich bin hier, um dich zu drängen.“ Mein ganzer Körper erstarrte für mehrere Sekunden. Ich hoffte nur, dass er es in dem immer noch dunklen Zimmer nicht sehen konnte. „Zu drängen…in welcher Hinsicht?“ „Mir im Wohnzimmer Gesellschaft zu leisten, natürlich. Soeben ist eine Klientin angekommen. Was hast du denn gedacht?“ Seine Augen verengten sich misstrauisch und ich schluckte eine mundvoll staubige Luft. „Nichts…überhaupt nichts. Aber eine Klientin? So früh?“ „Ja…und endlich ein Fall in den ich meine Zähne schlagen kann, wenn ihre Erscheinung überhaupt etwas aussagt. Also musst du kommen. Zieh dich an. Schnell jetzt, Watson! Wir dürfen die Dame nicht warten lassen!“ In einem Anfall von Energie sprang er von meinem Bett auf und klopfte mir auf den Arm, ehe er die Treppe hinunter eilte. Im Licht der Gaslampe konnte ich wieder klarer denken. Es war Morgen. Es war nur ein Traum gewesen…oder eher eine geträumte Erinnerung, bis Sherlock Holmes erschienen war…wie der Teufel, der mich mit sich hinab in die Hölle reißen wollte. Trotzdem war es ungewöhnlich. Ich war normalerweise kein Mann für solchen Unsinn. Vielmehr konnte ich mich nur ganz selten überhaupt daran erinnern, was in meinem Kopf ablief, während ich schlief. Und im Moment war ich sehr dankbar dafür. Ich würde eher nie wieder die Augen schließen wollen, als noch einmal das zu durchleben, was gerade passiert war. Ich war in Rekordzeit angezogen – sogar für meine Verhältnisse, war mir doch in der Armee Schnelligkeit gelehrt worden. Ich schnappte mir mein Notizbuch, spritzte mir etwas eisiges Wasser ins Gesicht und eilte nach unten. Ich hoffte sehr, dass sich der Schrecken, den ich gerade durchlebt hatte, weder in meinem Auftreten noch in meinem Verhalten widerspiegelte. Unsere Klientin war eine schöne Frau, ziemlich jung, mit weichem kastanienbraunem Haar, einem rosigen Glanz auf ihrem feenhaften Gesicht und kleinen dunklen Augen, umrandet von zarten Wimpern. Ihr Kleid und ihr Benehmen ließen auf Vermögen und Kultiviertheit schließen, aber ich verfügte über genug Menschenkenntnis, um den Geist in ihr zu erkennen. Ein humorvoller, abenteuerlicher Zug – bei Zeiten unterdrückt und bei Zeiten losgelassen. Ich hielt sofort sehr viel von ihr, noch bevor sie ein einzelnes Wort gesprochen hatte. Sie hatte irgendetwas an sich, das mich an Mary erinnerte. Holmes nahm – wie immer – nicht im Geringsten von solchen Feinheiten Notiz und konzentrierte sich stattdessen auf das Bedeutungslose. Was das in diesem Fall sein würde, konnte ich nicht erraten, aber er war zweifellos gerade dabei, sich ihre gesamte Vergangenheit und Gegenwart von einem Handschuh, einem Stiefel oder einer Sommersprosse auf ihrer Nase zusammenzureimen. Hatte er oben in meinem Zimmer nicht irgendetwas von ihrer Erscheinung gesagt? Ich war mir nicht sicher. Aber für ihn waren diese Kleinigkeiten die Würze in seinem Leben. „Miss…Bishop“, sagte er, nachdem er einen schnellen Blick auf ihre Visitenkarte geworfen hatte. „Ja“, sagte sie mit einer Stimme erfüllt von einer Intelligenz jenseits ihres Alters und Geschlechts. „Und Sie sind Mr. Sherlock Holmes, nicht wahr?“ „In der Tat. Das ist mein Freund und Kollege, Dr. Watson.“ Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln. „Ich habe Ihre Berichte über Mr. Holmes’ Fälle in The Strand gelesen. Sie haben mich davon überzeugt, Sie beide hier aufzusuchen.“ Holmes hatte sich mit seiner Lieblingspfeife, der Calabash, in seinen Lehnstuhl niedergelassen und ignorierte ihren Kommentar. Es war mir immer klar gewesen, dass er nicht sehr stolz auf meine Berichte über ihn war, abgesehen von ihrer Beliebtheit. Er hatte nichts übrig für die romantischen und fantastischen Elemente, die ich gewöhnlich mit einfließen ließ, auch wenn er nicht verleugnen konnte, wie bekannt er dadurch geworden war. „Wenn Sie also so freundlich wären, uns zu verraten, was Sie so früh am Morgen in die Baker Street führt?“ Ich warf meinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu, aber falls Miss Bishop sich an seiner Unhöflichkeit stieß, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Sicherlich, Mr. Holmes. Der Grund für mein Hiersein ist, dass mein Vater am Dienstag im Schlaf erstochen worden ist und die Polizei nicht damit vorankommt.“ „Großer Gott…Ihr Vater wurde ermordet?“ „Ich fürchte, Dr. Watson.“ „Sie haben mein tiefstes Mitgefühl, Miss Bishop.“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie mit der leichten Andeutung eines Lächelns. „Ich hatte jedoch schon vier Tage, um mit dem Schock fertig zu werden. Ich kann klar und offen sprechen, dass versichere ich Ihnen, falls Sie sich Sorgen um einen seelischen Zustand machen.“ „Exzellent“, sagte Holmes. „Dann bitte, von Anfang an. Und bitte, seien Sie so genau und detailliert wie möglich.“ „Vielleicht hätte Miss Bishop zuerst gerne eine Tasse Tee, Holmes.“ Als er meinen Gesichtsausdruck sah, sank er mit einem Seufzen zurück in seinen Sessel. Er wand sich fragend an unsere Klientin. „Ja, das würde ich in der Tat sehr begrüßen. Wenn es Ihnen keine Umstände macht. Ich stand ziemlich früh auf, wie Sie sehen können.“ „Oh, das ist kein Problem“, sagte Holmes. „Mrs. Hudson!“ „Holmes!“, sagte ich. „Musst du so schreien? Josh schläft noch und wenn du nicht willst, dass er hier tausende von Fragen stellt, sollte das auch so bleiben.“ Ich wusste, dass er das nicht gerne hörte. Wenn es etwas gab, das er am meisten verabscheute, dann war es gesagt zu bekommen, was er zu tun hatte. Das war etwas, das er nicht einmal von mir ertrug. Nummer zwei auf dieser Liste war, seine Gewohnheiten ohne guten Grund zu ändern. Und lauthals nach Mrs. Hudson zu schreien, war seine Gewohnheit, seit er sie zum ersten Mal getroffen hatte. „Verzeihung“, sagte er, während er sich seine Pfeife wieder anzündete. Seien Zähne würden wahrscheinlich dauerhafte Abdrücke darauf hinterlassen. „Ich hatte den Jungen vergessen.“ „Wenn ich fragen darf“, sagte Miss Bishop. „Wer ist Josh?“ „Mein Sohn. Er ist erst drei und schrecklich neugierig. In dieser Hinsicht sogar schlimmer als Holmes.“ Sie lachte sanft und wirkte noch mehr wie Mary. „Ich wusste nicht, dass sie Kinder haben, Dr. Watson. Er wird in keinem Ihrer Fälle erwähnt.“ Während wir auf den Tee warteten, erzählte ich ihr von meiner verstorbenen Frau und Holmes’ Rückkehr. Ich ließ alles Notwendige aus, wie zum Beispiel meine Empörung über seinen Betrug seinen ‚Tod’ betreffend und schloss mit meiner Rückkehr in die 221B, um ihm hier zu assistieren. Wenn sie diese seltsam fand, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Sie war eine echte Lady, wie Mrs. Hudson es gerne ausdrückte. Holmes ertrug diese Vertraulichkeiten so lange, wie es ihm sein Gemüt erlaubte – was nicht besonders lang war. Als Mrs. Hudson mit dem Tee kam, warf er ihr einen durchdringenden Blick zu und sagte: „Nun, wenn jetzt niemand etwas dagegen hat, würde ich meine Aufmerksamkeit gerne wieder dem Fall ihres verschiedenen Vaters zuwenden, Miss Bishop. Das ist der Grund Ihres Hierseins und es ist schrecklich früh.“ „Ja, Mr. Holmes, wissen Sie“— „Diese Uhrzeit ist für Sie allerdings nicht ungewöhnlich, da ich sehe, dass Sie ein Frühaufsteher sind. Ein wirklicher Frühaufsteher, denn es ist mindestens eine zweistündigen Kutschenfahrt von Dartmoor oder Exmoor, egal von welchem dieser beiden Orte sie kommen mögen.“ „Wie haben Sie“— „Sie leben zweifellos in einem größeren Anwesen und Sie unternehmen dort recht viele Spaziergänge. Ihre Familie hält sich Pferde und Sie sind eine begeisterte Reiterin. Sie müssen Pferde wirklich sehr mögen, Miss Bishop, Ihre eigene Kutsche zu lenken. Nur eine wirklich geschickte Lady ihres Standes würde sich zu so etwas verpflichten. Und es ist klar, dass der Tod Ihres unglücklichen Vaters, nicht Ihre einzige Sorge ist. Es gibt vieles, was Sie momentan beunruhigt.“ Sie lachte wieder, wie es die meisten Klienten tun, wenn Holmes sie fertig zusammengefasst hatte. „Es ist ganz erstaunlich. Von dieser Kunst zu lesen, Mr. Holmes, davon zu lesen, wie Sie es auf andere anwenden, ist schon großartig genug. Aber wirklich Zeuge zu sein, wie es an einem selbst angewendet wird, ist noch viel unglaublicher.“ „Das ist es nicht“, sagte er mit seinem üblichen Maß an falscher Bescheidenheit. „Nur ein paar Deduktionen, die selbst der Doktor machen könnte.“ „Vielen Dank, Holmes.“ Er fuhr fort, ohne sich auch nur im Geringsten an meinem Sarkasmus zu stören. „Dass Sie aus einem Gebiet im Südwesten kommen, ist leicht an den Schlammresten an ihren Stiefelabsätzen zu erkennen. Es ist ein zäher, ländlicher Dreck, der nur in feuchten, moorigen Gebieten wie Dartmoor oder Exmoor vorkommt. Ihr gebräunter Nacken und die Tatsache, dass Ihre Stiefel entlang der äußeren Naht abgenutzt sind, deuten beide darauf hin, dass sie viel draußen sind. Die Ringe unter Ihren Augen verraten mir, dass sie in letzter Zeit wohl viele Sorgen haben. Und was die Pferde betrifft, was sonst könnte die Krümmung Ihres Rückgrades verursacht haben – außer viel Zeit auf dem Pferderücken oder durch das Spinnen. Und eine Lady Ihres Standes, Miss Bishop, verbringt ihre Zeit nicht vor einem Spinnrad.“ „Aber woher wusstest du, dass sie ihr eigenes Gespann lenkt?“, fühlte ich mich gezwungen zu fragen. „Ihre Handschuhe“, sagte er begleitet von einem Schwung seiner Pfeife. „haben exakt solche schwarzen Male, wie sie durch die Zügel eines Gespannes entstehen.“ „Und die Tatsache, dass ich eine Frühaufsteherin bin, wussten sie, weil ich um diese Uhrzeit zu Ihnen gekommen bin, Mr. Holmes?“ „Meine liebe Miss Bishop…das ist eine unbrauchbare Annahme. Es liegt viel mehr daran, dass Sie tadellos angezogen sind, woraus sich schließen lässt, dass Sie, wie die meisten jungen Damen Ihres Alters, sehr auf Ihre äußere Erscheinung achten und Sie Ihrer Morgentoilette viel Zeit widmen. Ihre Schuhe allerdings sind willkürlich zugeknöpft. Das lässt mich vermuten, dass Sie heute Morgen bis auf die Schuhe schon recht früh angezogen waren. Danach trieb Sie zweifellos etwas so schnell wie möglich nach London, weshalb Sie sich nicht mehr die Zeit nahmen, die Sie normalerweise für Ihre Stiefel aufbringen würden.“ „Erstaunlich, Mr. Holmes.“ „Nein, Miss Bishop…es ist nur Logik. Und nun wären Sie bitte so freundlich und erzählen mir, was genau Sie dazu gezwungen hat, so plötzlich nach London aufzubrechen, dass Sie Ihre Stiefel vernachlässigt haben? Wenn Ihr Vater, wie Sie schon sagten, bereits seit vier Tagen tot ist, hatten Sie es offensichtlich nicht eilig, mich aufzusuchen.“ Sie senkte ihren Blick auf ihre Teetasse, als suchte sie sorgsam nach den richtigen Worten. Ich wünschte wirklich, Holmes würde lernen, ein wenig höflicher mit Frauen umzugehen. Es war seltsam. Es gab Zeiten wenn er vollkommen charmant zu ihnen war, Zeiten, in denen ich dachte, jedes Mädchen könnte sich glücklich schätzen, ihn zum Ehemann zu haben. Und manchmal war er so energisch…kaum mehr ein Gentleman. Ich dachte nicht, dass ich diesen Mann jemals wirklich verstehen würde. „Der Grund dafür, Mr. Holmes“, sagte sie mit leiser Stimme. „Ist, dass Inspektor Clayton, der den Mord an meinem Vater bearbeitet, sehr früh heute Morgen vorbeikam. Er informierte mich darüber, dass er Thomas Kingston unter Mordverdacht festgenommen hatte und Mr. Kingston auch passende Motive dafür hätte. Deshalb nahm ich den ersten Zug von Dartmoor nach London.“ „Und dieser Thomas Kingston ist wer?“ Ich bemerkte das leichte Erröten ihrer makellosen, porzellangleichen Haut, als sie antwortete: „Er ist unser Stallbursche. Er arbeitet für unsere Familie seit er zehn war, seit etwa elf Jahren mittlerweile. Seine Mutter war gestorben und sein Vater ein Trinker, der ihn schlug. Mutter hatte damals ein weiches Herz und nahm ihn bei uns auf. Er ist wundervoll zu den Pferden. Er und ich…nun, wir stehen uns recht nah.“ „In der Tat. Sie lieben ihn, nicht wahr?“ Er tauchte seine Pfeife in den Pantoffel, um sie zum dritten Mal nachzufüllen. Ich fragte mich, wie irgendjemand so viel Tabak auf leeren Magen vertragen konnte. „Ich…ja, Mr. Holmes. Das tue ich. Ich werde ihnen diese Tatsache nicht verheimlichen. Ich bin in Tom verliebt, seit ich noch ein ziemlich junges Mädchen war und er in mich. Wir hatten vor, in diesem Sommer zu heiraten. Jedenfalls bis diese hässliche Sache geschah. Oh, Mr. Holmes, Sie müssen ihm helfen!“, rief sie voller Gefühl, Gefühl, dass mein eigenes Interesse sofort schwinden ließ. Es war offensichtlich, dass diese junge Lady bereits versprochen war. „Wenn Sie ihn nur kennen würden. Sie würden sofort sehen, dass er zu so etwas niemals in der Lage wäre. Tom könnte genauso wenig einen Mord begehen wie ich. Er hat schon so viel Zorn und Schmerz in seinem kurzen Leben gesehen, dass ich weiß, er würde nie derart der Gewalt erliegen! Ich weiß es, Mr. Holmes, aber Inspektor Clayton ist so ein eigensinniger, sturköpfiger Mann, dass er mir nicht zuhören will!“ „Beruhigen Sie sich, Miss Bishop…“, sagte Holmes sanft und hob beruhigend die Hand. „Ich werde tun, was ich kann. Aber sie müssen ruhig bleiben. Vergessen Sie Ihren Mr. Kingston für einen Moment. Ich bin momentan viel mehr an Ihren Eltern interessiert. Holen Sie einmal tief Luft und erzählen Sie mir den Anfang der ganzen Geschichte.“ Miss Bishop nickte und warf meinem Freund einen dankbaren Blick zu, während sie einen Schluck Tee nahm. Einen Blick, wie er ihn sonst nie von einer Frau bekam. Und dann begann sie zu sprechen: „Meine Mutter ist die Tochter des Earl of Cantor, dessen Vorfahren schon seit Generationen im Osten von Dartmoor beheimatet sind. Tatsächlich könnten wir entfernte Verwandte der Baskervilles sein, durch die ich zum ersten Mal mit Ihren Geschichten in Berührung kam, Mr. Holmes.“ „Hm! Ich hoffe doch sehr, dieser Fall wird bedeutend weniger unordentlich“, unterbrach sie Holmes. „Komm schon, alter Junge. Von all deinen Fällen war es eindeutig der Hund, der deinen Namen in der Öffentlichkeit am meisten verbreitet hat. Es war eine faszinierende Angelegenheit.“ „Es war faszinierend unordentlich, noch dramatischer und reißerischer als der Großteil deiner anderen veröffentlichten Werke, Watson, dass ist der Grund, warum du ein solches Theater darum machst. Der Fall, das Geheimnis selbst war absolut simpel. Und nun, unterbrich Miss Bishop nicht mehr. Bitte fahren Sie fort.“ Es waren genau jene Gelegenheiten, an denen ich meinem Freund am liebsten den Hals umdrehen würde. Nur er konnte die Frechheit besitzen, zu behaupten, ich hätte unsere Klientin unterbrochen. Aber er war auch der einzige Mann, den ich damit durchkommen lassen würde. Bei jedem anderen hätte mich selbst in der Anwesenheit einer Lady nicht zurückgehalten. „Mein Vater – Bruce Bishop“, erläuterte sie auf einen Blick von Holmes hin. „War ein Fischer, bevor er meine Mutter kennen gelernt hatte. Er ist kein Mann für das trockene Land, Mr. Holmes. Ich habe das mittlerweile erkannt, aber er und Mutter verliebten sich so leidenschaftlich, dass sie beide glaubten, sie könnten dieses Hindernis überwinden. Ebenso wie die Tatsache, dass meine Großeltern mütterlicherseits gegen sie waren. Sie war zwar kein Sohn (tatsächlich hatten meine Großeltern keine männlichen Kinder) und auch nur die zweitgeborene Tochter, aber sie blieb immer noch die Tochter eines Earls. Und sie wollte einen einfachen Arbeiter heiraten.“ „Also heiratete sie heimlich“, erklärte Holmes. „Ja. Und mein Großvater war so zornig, dass er sie, sobald er es herausgefunden hatte, aus der Familie ausschloss und dazu zwang mit ihrem Ehemann in einer kleinen Hütte zu leben…nun ja, klein im Vergleich mit dem Anwesen, in dem sie aufgewachsen war. Aber als Großmutter nur ein paar Jahre später starb, änderte er seine Meinung. Er erkannte wohl die Wichtigkeit der Familie. Er bot dem Paar Hilton Grange an, einen der zahlreichen Familiensitze. Ich war damals ein Kind von sechs Jahren und mein Bruder, Richard, erst eins. Ich sollte Ihnen sagen, dass ich und mein Bruder die einzigen Kinder meiner Eltern sind. Meine Mutter hatte drei Totgeburten, bevor ich auf die Welt kam und noch eine vor Dicky. Ich kann Ihnen sagen, dass es meine Mutter sehr mitnahm.“ „Davon bin ich überzeugt“, hörte ich mich selbst sagen, unfähig mein Mitgefühl zurückzuhalten. Auch ich hatte die schreckliche Erfahrung eines totgeborenen Kindes gemacht. Und ich war ein Mann. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie viel schlimmer es für eine Frau sein musste, vier Kinder bei der Geburt zu verlieren, nachdem sie sie neun Monate lang in sich getragen hatte. Ich warf meinem Freund durch den Rauch meiner Zigarette einen Seitenblick zu und erwartete einen tadelnden Ausdruck auf seinem Gesicht. Aber da war keiner. Er schien tief in Gedanken versunken, während er lautlos kleine Rauchwolken ausstieß. Miss Bishop fuhr fort. „Mein Vater war nicht zufrieden mit seiner neuen Position als Herr eines so großen Anwesens. Black Bishop – so taufte Mutter Hilton Grange wegen des Achats, der in seiner Konstruktion verwendet worden war – wurde bald ein respektierter Wohnsitz in Dartmoor. Aber abgesehen von unseren Pferden gab es dort nichts was Vater von seiner Meeressehnsucht ablenken konnte. Und so kaufte er sich schließlich ein kleines Schifferboot und legte es in Plymouth vor Anker. Er fuhr damit hinaus, manchmal sogar ganze zwei Wochen. Mutter mochte es nicht, aber es war die einzige Unstimmigkeit zwischen ihnen, daher beschwerte sie sich nicht. Eines Tages jedoch, es war März ’88, also vor fast sechs Jahren, ging Vater wieder einmal an Bord der Catherine und wurde niemals mehr gesehen.“ „Was?“, rief ich unwillkürlich aus. „Aber ich verstehe nicht. Wenn Ihr Vater vor sechs Jahren verschwand, wie kommt es dann, dass er vor vier Tagen ermordet wurde?“ „Oh…sehen Sie, Dr. Watson, ich hätte sagen sollen, mein Vater verschwand vor sechs Jahren, nur um auf magische Weise vor drei Wochen wieder zurückzukehren. Ganz ähnlich wie Sie es mir von Mr. Holmes berichtet haben. Alle hielten ihn für tot. Auf See verschollen oder etwas Ähnliches. Aber dann vor drei Wochen kehrte er bei bester Gesundheit zurück. Mein Bruder, ich und alle, die ihn gekannt hatten, waren unbeschreiblich schockiert.“ Holmes schlug sofort die Augen auf. Wäre er auch eine Maschine, er hätte die Sekunde, in der unsere Klientin ihren Mund schloss, nicht genauer treffen können. „Nein, nein, nein“, sagte er. „So geht das nicht, Miss Bishop. Wenn Sie die Wahrheit sagen und Ihr Vater scheinbar von den Toten wiederauferstanden ist, dann müssen Sie mir schon genau erzählen, was passiert ist. Bitte, lassen Sie nichts aus.“ Sie nickte. „Nun, zunächst sollte ich Ihnen erzählen, dass meine Mutter seit einiger Zeit krank ist. Sie fiel vor fast einem Jahrzehnt der Schwindsucht zum Opfer und wird nun, wie der Arzt mir erzählt hat, nicht mehr lange in dieser Welt weilen. Ich sage das nicht, um Ihr Mitleid zu wecken, meine Herren, sondern weil ich fürchte, darin könnte der Grund für Vaters plötzliche Rückkehr seinen Ursprung finden.“ „Um Ihre Mutter noch einmal zu sehen, bevor sie stirbt?“, fragte ich. „Nicht ganz“, sagte sie mit einem traurigen Schütteln ihres hübschen Kopfes. „Vielmehr deshalb, weil in dem einzigen Testament, das Mutter jemals aufgesetzt hat, Vater immer noch der Alleinerbe des Hiltonvermögens ist, das mein Großvater ihr bei seinem Tod vor sieben Jahren hinterlassen hat. Sehen Sie, Mutter hat niemals aufgehört meinen Vater zu lieben, auch als jedermann sie von seinem Tod überzeugen wollte. Aber sie weigerte sich. Sie weigerte sich sogar ihr Testament zu ändern. Sie war davon überzeugt, dass er eines Tages zurückkehren würde. Bis vor drei Wochen dachte ich, es wäre bloße Einbildung, verursacht vielleicht von dem Zustand ihrer kranken Nerven…aber nun scheint es, dass sie Recht behielt.“ „Das ist wirklich faszinierend“, murmelte ich und zündete mir geistesabwesend eine Zigarette an. „Ich habe noch nie eine solche Geschichte gehört, du etwa, Holmes?“ „Niemals…nun, Sie sagten, Miss Bishop, dass Sie fürchten, Ihr Vater kehrte nur zurück, weil er irgendwie davon erfuhr, dass er so nach dem Tod Ihrer Mutter Black Bishop sowie eine Große Summe Geld aus dem Nachlass Ihres Großvaters erben würde?“ „Ja. Die ältere Schwester meiner Mutter starb unverheiratet und daher sind Richard und ich die einzigen lebenden Hiltonerben. Aber obwohl ich bereits volljährig bin, hat Mutter ihr Testament nie geändert, abgesehen von ein paar kleinen Änderungen, um mich und meinen Bruder nicht völlig leer ausgehen zu lassen. Vater hätte so gut wie alles bekommen…“, sie hielt inne und errötete leicht, als fiele es ihr nicht leicht fortzufahren. „Ich weiß, dass es nun scheint, ich selbst könnte schuldig sein. Wenn Vater wirklich tot gewesen wäre, dann wäre ich durch sein Nichtantreten des Erbes in der Tat die Begünstigte. Aber ich versichere Ihnen, weder Tom noch ich haben irgendetwas…“ „Oh, das würden wir niemals von Ihnen denken, Miss Bishop!“, rief ich unbändig. „Nicht wahr, Holmes?“ „Hmm?“ Er wand sich vom Feuer ab, in das er bewegungslos gestarrt hatte. „Oh…ich denke nicht…Miss Bishop, es gibt nur noch eines, was ich gerne wissen würde und dann, denke ich, können Sie gerne nach Black Bishop zurückkehren. Es wäre gut, wenn Sie mir die Details über die Rückkehr Ihres Vaters so genau wiedergeben könnten, wie Sie sie noch in Erinnerung haben. Die Lösung des Falles könnte damit zusammenhängen.“ „Natürlich, Mr. Holmes…ich erinnere mich sehr gut daran. So einen Tag vergisst man nicht leicht. Es war Sonntag, morgen genau vor drei Wochen, und Richard und ich hatten die Kirche in Darby, dem nahe gelegensten Dorf, besucht. Es liegt fast eine Stunde weit weg, aber nach Vaters Verschwinden, schien sich Mutter plötzlich in ihren Glauben zu verlieben und seitdem gehen wir jeden Sonntag in die Kirche. Als sie selbst zu krank dafür wurde, gingen mein Bruder und ich ohne sie. Sobald der Gottesdienst beendet war, hatte ich die Kirche verlassen und wollte zu unserer Kutsche zurückgehen. Dicky war noch in der Kirche. Ein Mann stand bei meinem Gespann, ein Mann, den ich trotz all der Zeit fast augenblicklich wieder erkannte. ‚Lizzie, meine Kleine’, sagte er und dann war ich mir sicher. ‚Vater!’, rief ich. ‚Vater, du bist nach Hause gekommen!’“ „Und dann?“ „Nun, wir alle waren so aufgeregt…der ganze Haushalt. Mutter allerdings…nun, ich glaube nicht, dass sie wirklich verstand, was geschah. Sie war beinahe katatonisch. Sie erlaubt nur Richard und ihrem Leibarzt nach ihr zu sehen. Dicky und sie standen sich immer sehr nah.“ „Welche Erklärung gab Ihr Vater für sein mysteriöses Verschwinden und seine wunderbare Rückkehr?“ Miss Bishop runzelte die Stirn. „Ich fürchte keine wirklich zufrieden stellende. Nur dass er sein Leben auf See zu sehr vermisst hatte. Er war so beschämt darüber, dass er uns verlassen hatte, dass er nicht einmal den Mut fand, uns zu schreiben und zu sagen, dass er noch lebte. Er dachte es sei besser, wenn wir glaubten, er sei tot, als dass er uns im Stich gelassen hatte. Aber über eine Sache blieb er unerbittlich, Mr. Holmes…er wusste nichts vom Testament meiner Mutter, sogar nachdem Mr. Bullard ihn davon in Kenntnis setzte…und er war zurückgekehrt, um seinen Frieden mit uns zu machen. Er sagte, er könne diese Schuld nicht mit ins Grab nehmen. Oh, ich glaube wirklich, dass er bereut, Mr. Holmes! Ich weiß, das Geld kann nicht der Grund für seine Rückkehr gewesen sein! Das kann einfach nicht sein! Schon allein deshalb weil er nicht wissen konnte, dass Mutter ihr Testament niemals geändert hat!“ „Einen Augenblick…Sie sprachen gerade von einem Mr. Bullard, nicht wahr? Wer ist er?“ „Mr. Ambrose Bullard“, sagte sie. „Vaters bester Freund und seit vielen Jahren der persönliche Solicitor[2] unserer Familie. Er war über die Jahre hinweg sehr freundlich zu uns. Nachdem Vater verschwand, kümmerte er sich um die rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten von Black Bishop.“ „Ich verstehe. Eine letzte Frage noch, Miss Bishop. Wer war in der Nacht, als Ihr unglücklicher Vater sein Ende fand, alles anwesend?“ „Nun…ich, natürlich, und Richard. Mr. Kingston war draußen in seiner Wohnung nahe den Ställen. Mrs. Oliver, unsere Köchin. Jane Merriweather und Anne Duncan, unsere Hausmädchen. Und Mr. Bullard war auch da.“ „Mr. Bullard?“ „Ja. Seit Vaters Rückkehr blieb er gelegentlich über Nacht. Die beiden hatten viel Geschäftliches zu erledigen, wie Sie sich vorstellen können.“ „Natürlich…trotzdem scheint mir das recht ungewöhnlich…“, murmelte Holmes mehr zu sich selbst, bevor er auf die Füße sprang, zur Tür ging und sie öffnete. „Das wird erst einmal reichen, Miss Bishop. Ich habe noch ein paar Dinge hier in London zu erledigen, aber wenn es keine Probleme gibt, würde ich den Tatort gerne noch heute besichtigen. Sagen Sie mir, ist Ihr Vater schon beerdigt worden?“ „Aber nein. Die Beerdigung ist für morgen in der Kirche von Darby angesetzt. Keine andere Kirche, als die, in der wir uns vor ein paar Wochen erst wieder gesehen haben.“ „Exzellent! Das ist in der Tat ein Glück! Ich glaube, heute fährt ein Zug, der in Dartmoor kurz nach fünf Uhr abends ankommt. Wäre es möglich, dass Sie sich mit dem Doktor und mir dort treffen könnten?“ „Nun…ja, ich denke schon. Aber Mr. Holmes, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt. Zum Beispiel, wie er ermordet wurde. Es ist nicht etwas, über das ich gerne spreche, aber es ist sicher sehr…“ „Nein, nein“, winkte Holmes ab. „Das würde ich lieber mit meinen eigenen Augen sehen und meine eigenen Schlüsse daraus ziehen. Momentan habe ich mehr als genug Daten. Die wichtigsten Fakten, die Sie mir aus zweiter Hand berichten können, sind alle angekommen und gespeichert. Was übrig bleibt, muss ich mit eigenen Augen sehen.“ In genau jenem Moment erschien mein Sohn. Er trug nichts als sein Nachthemd, seine Haare standen in alle Richtungen und seine Augen waren immer noch glasig vom Schlaf. Er bahnte sich vorsichtig seinen Weg die Treppe hinunter, indem er sich mit beiden Händen unten am Geländer festhielt. Ich muss zugeben, dass der Zeitpunk nicht schlechter hätte sein können. Fünf Minuten später und Miss Bishop wäre sicher aus dem Haus gewesen und ich müsste mich nicht mit den endlosen Fragen herumschlagen, die uns nun sicher waren. Er warf einen Blick auf die Lady und jegliche Schüchternheit, die ihn sonst auszeichnete, war sofort weggewaschen. „Wer bist du?“, fragte er geradeheraus. „Nun, ich bin Elizabeth Bishop. Eine Klientin von Mr. Holmes. Und du musst Josh Watson sein.“ „Ja. Hast du einen Fall?“ Sie lächelte. „Du bist ein wirklich scharfsinniger junger Mann. Ich habe tatsächlich einen Fall. Mr. Holmes wir ihn für mich untersuchen.“ „Kann ich dir helfen, Onkel?“ Holmes sah mich an und versuchte erfolglos ein Lächeln zu unterdrücken. Ich fand die ganze Sache weit weniger amüsant. „Nein, wirklich nicht, Josh. Miss Bishop muss nun zurück zu ihrem Zuhause und du musst frühstücken. Du und dein…Onkel könnt ein anderes Mal Detektiv spielen.“ „Es war nett dich kennen zu lernen, Josh“, sagte Miss Bishop und streichelte seine Wange. „Ich hoffe wir treffen uns irgendwann wieder.“ Er schmollte nun und hatte seine kurzen Arme vor der kleinen Brust verschränkt. Aber sein Ärger war auf mich gerichtet und nicht auf die Lady. „Das hoffe ich auch. Ich will deine Pferde sehen.“ Mein ganzer Körper erstarrte. Ich war froh, nicht auf der Treppe zu stehen, denn ich fürchte, ich wäre gefallen. Miss Bishop hielt mitten in der Bewegung inne und auch Holmes wirkte wie betäubt. „Wie…“, begann ich, aber meine Stimme versagte. „Woher wusstest du…es ist unmöglich…“ „Wusste ich was, Papa?“, fragte er. „John Sherlock Watson, hast du gerade eben unsere Unterhaltung mit Miss Bishop belauscht?“ Er wurde vor Angst mehrere Zoll kleiner. Dass ich ihn bei seinem vollen Namen nannte, war ein deutliches Zeichen dafür, wie aufgebracht ich war. „Nein, Papa. Hab ich nicht. Ich bin gerade erst aufgewacht. Ich schwör’s.“ „Lüg mich nicht an, Junge! Es ist völlig unmöglich, dass du von ihren Pferden wusstest, wenn du es nicht getan hast!“ „Ich lüge nicht!“, rief er und die ersten Tränen begannen seine blauen Augen zu trüben und fanden ihren Weg seine Wangen hinab. „Es war ihr Handschuh. Deshalb wusste ich es! Ich hab nichts gehört, was ich nicht sollte!“ „Ihr…Handschuh…“ Ich akzeptierte, dass Holmes von ihrem Handschuh, oder besser gesagt, den frischen Striemen darauf, auf ein eigenes Gespann schließen konnte. Aber mit Sicherheit…nein, das konnte nicht sein. Ein Dreijähriger konnte die Verbindung einfach nicht herstellen. Das war nicht möglich…„Was ist mit ihrem Handschuh?“ Zuerst schien er zu verschreckt, um zu antworten, aber dann siegte seine Sturheit. „Sie hat Zeichen auf ihrem Handschuh. Von dem Pferdeding. Den Schnüren.“ „Den Zügeln, John Sherlock, den Zügeln“, verbesserte Holmes. „Ja. Von den Zügeln.“ Ich war völlig fassungslos. „Aber woher wusstest du das bloß?“, fragte ich kopfschüttelnd. „Ich weiß nicht. Ich wusste es einfach. Sonst nichts, Papa.“ „Das ist wirklich sehr erstaunlich, Dr. Watson“, sagte Miss Bishop. „So ein kleiner Junge… nun, ich hätte wirklich gedacht, er sei Ihr Sohn, Mr. Holmes! Er scheint Ihre Beobachtungsgabe zu besitzen.“ Ich presste unwillkürlich die Zähne zusammen, ein Instinkt der mich wohl vor großer Scham bewahrte. Holmes lächelte – ein wenig zu breit – aber er hatte nicht den Mut mich nach dieser Bemerkung anzusehen. Aber es war offensichtlich, wie sehr er es genoss. „‚Wenn wir nach frühen Anzeichen beurteilt würden, wären wir alle Genies.’[3]“ Er bewegte sich in Richtung Treppenhaus und im nächsten Moment waren beide gegangen, gegangen bevor ich etwas sagen konnte, dass ich später bereuen würde. Nur Josh blieb, verständnislos, immer noch in seinem zerknitterten Nachthemd, mit rot geweinten Augen und wirkte ganz und gar nicht wie das Genie, das er mit Sicherheit eines Tages sein würde. „Es tut mir Leid, Papa“, sagte er schniefend. „Ich werd keine Edduktionen mehr machen, das versprech ich! Ich wusste nicht, dass es dich wütend macht.“ „Ich…oh, Joshie, ich bin nicht wütend auf dich.“ Ich hob ihn auf und genoss seine Wärme an meinem kalten Gesicht. „Eines Tages wirst du verstehen, wie schwer es ist, als einfacher Sterblicher unter den Göttern zu leben.“ _____________________________________ [1] Watson sagt in „Studie in Scharlachrot“, dass er notorisch faul sei, allerdings ich habe nie auch nur ein Anzeichen davon entdeckt. [2] Anmerkung des Übersetzers: Ein Solicitor ist in der britischen Rechtssprechung ein hauptsächlich bei niederen Gerichten zugelassener Anwalt. [3] Ähnelt einem Zitat nach Goethe: „Wenn Kinder sich beim Aufwachsen an frühe Anzeichen hielten, so gäbe es nichts als Genies.” (“If children grew up according to early indications, we should have nothing but Geniuses.”) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)