Ivan [Isolated]
Es ist nun über 48 Stunden her.
Über 48 Stunden ist er fort.
Über 48 Stunden und jede Minute denke ich an ihn.
Diese Ungewissheit bringt mich um den Verstand.
Ich wandere inzwischen schon auf dem schmalen Grad zwischen Vernunft und Wahnsinn.
Wenn ich doch nur endlich wüsste, wie es steht.
Wo er ist.
Was er macht.
Ob es ihm wenigstens einigermaßen gut geht.
Ob er überhaupt noch lebt…
Ich muss etwas unternehmen, denke ich und feuere meine Sporttasche ins Auto.
Training.
Das ist gut.
Ich muss irgendwo meine überschüssige Energie loswerden.
Frust loswerden.
Mich abreagieren.
Und Thomas weiß vielleicht etwas.
Er muss etwas wissen!
Ihn werden sie schon auf dem Laufenden halten.
Meine Chance etwas rauszubekommen.
Viel zu schnell lasse ich den Weg hinter mir und biege auf den Stadionparkplatz.
So viele Erinnerungen kommen sofort wieder hoch.
… als ich ihm den Zettel gegeben hatte…
Ich eile in die Kabine.
Bin mal wieder spät dran.
Es herrscht heute ungewöhnliche Stille.
Juri gesellt sich zu mir und nickt aufmunternd.
Ich möchte lächeln.
Als Dank.
Doch ich kann nicht.
Unser Trainer betritt die Kabine.
Sein Gesicht spricht Bände.
Mein Magen krampft sich zusammen.
Er mustert uns einen Augenblick und spricht dann.
„Wir ihr sicher schon wisst, musste Miro vorgestern ins Krankenhaus eingeliefert werden. Und es sieht leider so aus, als müssten wir die nächste Zeit ohne ihn auskommen-“
Gemurmel schwillt an.
„Was hat er denn?“, meint Tim.
Thomas runzelt die Stirn. „Die Ärzte sind sich noch nicht sicher. Es laufen noch Tests. Ich kann euch darüber noch nichts Konkretes sagen-“
Ich balle die Fäuste.
„Das soll alles sein? Du musst doch mehr wissen! Sie müssen doch irgendetwas gesagt haben-“, platzt es mir heraus, doch Juri legt seine Hand auf meine Schulter und hält mich zurück.
Ich verstumme.
Thomas mustert mich nachdenklich.
„Ivan, bleib doch bitte kurz hier. Die anderen fünf Runden um den Platz zum Aufwärmen.“
Wir bleiben in der Kabine zurück.
Thomas schließt die Tür.
Er seufzt wieder.
„Ivan, ich kann mir vorstellen, dass es dir zu schaffen macht, dass er jetzt ausfällt. Ihr hattet euch gerade perfekt aufeinander abgestimmt und den Sturm vorn jetzt wieder umzustellen, ist sicher nicht ideal, aber wir haben keine andere Wahl-“
Als ob es DARUM geht, denke ich.
Wen interessiert der Sturm.
Ich fühle mich so hilflos.
Tränen steigen schon wieder in meine Augen.
„Darum geht es nicht! Ich will wissen, was los ist! Du weißt doch mehr, als zu zugibst!“ murre ich ihn an.
Er hebt eine Augenbraue.
„Wenn du das glaubst, bist du auf dem Holzweg. Ich weiß leider nicht mehr. Ich weiß nur, dass es wohl nicht gut aussieht.“
Er setzt sich neben mich.
„Ivan. Von Trainer zu Spieler, behalt einen klaren Kopf! Wir brauchen dich in der Mannschaft. Du musst versuchen ohne ihn zu recht zu kommen!“
Du musst versuchen ohne ihn zu recht zu kommen.
Der Satz hallt mir in den Ohren.
Meine Gedanken schweifen ab.
Sehen ihn wieder vor mir.
Und wenn ich das nicht kann?
Ohne ihn?
Und wenn ich das nicht will?
Wenn ich es nicht schaffe?
„Verdammt Ivan, du musst dich zusammen reißen!“
Er holt tief Luft.
„Ich weiß, ich habe verdammt noch mal keine Ahnung, was da gerade zwischen euch abgeht, warum sie ihn ausgerechnet bei DIR abholen mussten, wo man doch eher vermutet hätte, er wäre bei seiner Frau gewesen und ich habe keine Ahnung, warum er gerade DEINEN Namen immer wieder gesagt hat, als er in der ersten Nacht im Krankenhaus unter Fieber gesprochen hat, wie der Arzt meinte. Und weißt du was?“
Er steht auf.
„Ich MÖCHTE es gar nicht wissen! Mir schwant Böses, wenn ich mir darüber Gedanken mache und Gott bewahre euch vor dem Unglück, das euch ereilen könnte, wenn nicht bald wenigstens einer von euch beiden zur Vernunft kommt und die Sache beendet!“
Er geht zur Tür.
„Ivan, komm wieder zur Vernunft. Du bist hier um Fußball zu spielen und die Mannschaft braucht dich. Vor allem jetzt.
Denk darüber nach.“
Er verlässt die Kabine und lässt mich zurück.
Das hat gesessen.
Und nun bin ich irgendwie völlig durcheinander.
Er hatte also doch mehr gewusst, als er zugegeben hatte.
Und wie konnte ich auch nur halbwegs hoffen, dass es niemandem merkwürdig vorkommen würde, dass er bei mir gewesen war.
Wie hatte ich so naiv sein können?
So dämlich.
Wie hatte ich Hoffnung haben können.
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Irgendwie schaffe ich es durchs Training.
Irgendwie schaffe ich es nach Hause.
Irgendwie schaffe ich es, mit meiner Frau einen Fernsehabend zu überstehen.
Nun ist Patricia längst im Bett verschwunden.
Doch ich will nicht schlafen.
Meine Gedanken kreisen immer noch nur um ihn.
Es ist spät.
Die Turmuhr am Ende der Straße schlägt 23 Uhr.
Ich lausche geistesabwesend.
Nach dem elften Schlag verstummt die Glocke wieder.
Stille.
Ich schließe die Augen.
Stille.
Und dann klingelt das Telefon im Arbeitszimmer.
Ich springe auf.
Mein Herz klopft wie wild.
Mein Gefühl sagt mir, er ist es!
Er ist es.
Ich weiß es.
Ich sprinte den Flur entlang und stürze ins Arbeitszimmer zu meinem Handy.
Unbekannter Anrufer.
Ich drücke auf den grünen Hörer und japse.
„Ja?“
Ich lausche.
Eine Ewigkeit scheint zu vergehen.
Ich fühle meinen Puls hämmern.
Dann…
„Ivan- bist du dran?“
Er ist es!
Meine Gefühle überschlagen sich.
Er hört sich schwach an. Ich höre deutlich seinen schweren Atem.
„Miro?“, nuschle ich.
„Ivan- hör mir zu.“ Er flüstert fast. „Ich darf nicht telefonieren. Hier sind keine Telefone erlaubt. Ich habe mir eins organisiert. Hör zu-“
Er macht eine Atempause.
„Ivan, du musst dich testen lassen!“, keucht er kann.
„Was? Was soll ich?“ fährt es mir heraus. „TESTEN? Worauf?“
Ja, worauf zum Teufel sollte ich mich testen lassen!
Als er nicht antwortet, wiederhole ich die Frage.
„Miro? WORAUF?“
Er hustet.
Dann flüstert er.
„Auf Tuberkulose.“