Thanks for the memories
„Denkst du wirklich, dass das eine so gute Idee war?“, unterbrach plötzlich Boris Stimme die Stille, die sich über die verlassene Dachterrasse gelegt hatte.
Yuriy, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf einer der Liegen saß und schon seit längerer Zeit den dunklen Himmel über sich betrachtete, antwortete zuerst nicht. Fast hatte es den Anschein, als ob er die Frage des Neuankömmlings nicht mitbekommen hatte, doch dann atmete er tief aus. „Es kommt nicht darauf an, ob sie gut oder schlecht war, sondern nur, ob sie sinnvoll gewesen ist. Und ja, das glaube ich.“
Boris Mundwinkel zuckten kurz, als er sich dem Rothaarigen näherte. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, als er neben der Liege Halt machte und ebenfalls den Kopf in den Nacken legte, um den Blick auf das schwarze Firmament zu heften. „Warum schaust du den Himmel an, wenn du die Sterne doch nicht sehen kannst?“
Es waren nicht einmal so sehr die Wolken, die diese Nacht über sie hinweg zogen, die ihnen den Blick versperrten. Vielmehr war es die hell erleuchtete Stadt um sie herum, die sie so blendete. Das Einzige, was sie gerade noch erkennen konnten, war der blasse sichelförmige Mond.
„Darf ich mir den Himmel nur anschauen, um die Sterne zu sehen?“, war Yuriys Gegenfrage. „Vielleicht gefällt mir ja dieses dunkle Grau?“
Der andere schüttelte den Kopf, ließ seine Augen aber noch immer nichts anderes fixieren. Vielleicht erkannte er ja auch den Grund für die Faszination des Rothaarigen, wenn er sich nur eine Weile darauf konzentrierte? Als sein Nacken nach einigen Minuten zu schmerzen anfing, begann er leise die Titelmelodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“, einem alten Western, zu pfeifen. Es lenkte ihn kurzfristig von seinem steifen Nacken ab und übertönte dazu noch das Sirenengeheul und den Autolärm der Stadt. Er war gerade beim Luftholen, als er das leise Flüstern des anderen vernahm. „Ist das nicht etwas heuchlerisch, Boris?“
Jener zuckte mit den Schultern. „Nicht so heuchlerisch, wie jemandem vorzugaukeln, man würde ihn retten, nur um ihn nachher den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.“
„Bitte nicht so theatralisch, du brichst mir ja fast das Herz.“ Yuriys ironische Antwort ließ den Lavendelhaarfarbenen lächeln. Dessen ungeachtet klang seine darauf folgende Feststellung sehr nüchtern: „Kai wird dir seinen Tod nicht verzeihen. Du weißt, dass er dich dafür umbringen kann, Yuriy.“
Der Angesprochene lachte nur trocken. „Er wäre nicht der Einzige, der es auf meinen Kopf abgesehen hat. Außerdem, wer sagt denn, dass der Kleine stirbt?“
Der andere warf ihm einen schiefen Blick zu. Egal, wie hoch die Meinung seines Freundes über Rei Kon war, nichts konnte darüber hinweg täuschen, dass er das nächste Jahr nicht überleben würde. Nicht, wenn Sansy hinter ihm her war. Und nicht, wenn bald auch die Familie Hiwatari von ihm erfuhr. Nichts war tödlicher als ihr Groll. Kai hatte gute Gründe gehabt, Reis Rekrutierung noch nicht einmal in Betracht zu ziehen. Umso törichter wurde damit auch Yuriys Tat. „Ich dachte, du hättest Kai deine Loyalität versprochen.“
„Du hast es getan, Boris. Nicht ich. Meine Loyalität gehört allein meinen Zielen.“
Die hellen Augen des Stehenden weiteten sich plötzlich, als er die Wahrheit erkannte. „Rei ist nur Mittel zum Zweck? Ist dir deine Rache so viel wichtiger als sein Leben?“
Yuriy nickte zwar nicht, aber es war klar, was er dachte.
Als Boris später seine stille Betrachtung des Himmels fortsetzte, kam ihm der Gedanke, dass ihm die Situation eigentlich bekannt vorkommen müsste. Die Dunkelheit, die verschwundenen Sterne und eine lange Nacht vor vielen Jahren.
War die Wut seines Freundes wirklich noch so groß?
Die ersten Tage waren für Rei die schwersten gewesen. Es dauerte einige Zeit, bis er sich in den Tagesrhythmus der Akademie eingefunden hatte und er abends nicht mehr todmüde ins Bett fiel. In vielem erinnerte es ihn an die Polizeiausbildung, von der Michael ihm immer erzählte. Ausdauer und Krafttraining, Kampfsport, die Einführung in die Handhabung verschiedenster Waffen, angefangen bei einfachen Dolchen bis hin zu einem professionellem Scharfschützengewehr - all das sorgte dafür, dass er die ersten Wochen noch regelmäßig mit Muskelkater und Prellungen zu kämpfen hatte. Einfacher war da schon der Theorieunterricht, bei dem es im Grunde nur auf eine Losung ankam: Informationen sind die beste Lebensversicherung. Politik, Geschichte, Naturwissenschaften, Sprachen – es ging vor allem darum, dass sie später mit einer gewissen Allgemeinbildung starteten, die sie nach Aussage ihrer Lehrer bitter nötig hatten. Am meisten Schwierigkeiten bereitete es ihm dabei noch, dass er unter anderem den grundlegenden Wortschatz einiger Sprachen, darunter auch sein absoluter Favorit Französisch, lernen sollte.
Das Gebäude der Akademie war, wie Rei bereits vermutete hatte, ein alter Bürokomplex, den man vor einigen Jahren komplett renoviert hatte - jedoch nur im Inneren. Obwohl die Unterkünfte der Absolventen und Lehrkräfte in den oberen Stockwerken spartanisch eingerichtet waren, war alles andere, sprich Unterrichtsräume, Sportanlagen und Multimediaräume, Hightech vom neusten Stand. Es ging nicht darum, dass sie sich wohl fühlten, sondern darum, in möglichst kurzer Zeit so viel wie möglich zu lernen. Sie alle waren, egal ob sie aus dem Militär, der Marine, der Polizei oder woher auch immer rekrutiert worden waren, längst auf einem bestimmten Gebiet Spezialisten. Hier sollten sie nur noch gewisse andere Grundkenntnisse erwerben, wie zum Beispiel die Technikspezialisten den Umgang mit Waffen.
Als Rei das erste Mal in den verschiedensten Kursen, die man ihm zugewiesen hatte, seine Kollegen erlebt hatte, war er schnell unsicher geworden. Zwar hatte er, dank des Kampfsporttrainings, zu dem ihn seine Eltern genötigt hatten, wenigstens auf diesem Gebiet keine großen Probleme, dafür aber auf anderen. Die Anforderungen, die man ihm stellte, kamen ihm oft utopisch vor, doch jedes Mal, wenn ihm der Gedanke ans Aufgeben kam, tauchte vor seinem inneren Auge das Bild von Kai auf. Wenn er ihn wieder sehen wollte, musste er durchhalten.
Und nicht nur das, schließlich war das auch das Leben, das er sich gewünscht hatte. Wenn er schon nicht dieselben Voraussetzungen wie die anderen mitbrachte, musste er eben umso härter an sich arbeiten. Er lernte, die Zähne zusammenzubeißen, Geduld mit sich zu haben.
Aus irgendeinem Grund schien das auf die anderen Absolventen Eindruck zu machen, da Michael nach und nach nicht der Einzige blieb, der sich während des Essens oder zwischen den Kursen mit ihm unterhielt. So erfuhr Rei auch immer mehr über das Netzwerk, seine Mitglieder und sonstige offene Geheimnisse und Gerüchte, die unter den Leuten dort kursierten. Sogar bekannte Namen tauchten dabei auf, als Emily, eine blonde Absolventin des MIT, ihm erzählte, dass sie von Hitoshi Kinomiya angeworben worden war. Ihrer Beschreibung nach konnte er mit Takao verwandt sein, doch Rei hütete sich, anderen von der Begegnung mit Kais Team zu erzählen. Er wusste selbst nicht, ob es einfach nur an seiner Vorsicht lag, oder auch daran, dass er nicht wollte, dass andere davon wussten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er noch immer nicht darüber reden durfte, aber was brachte es schon, wenn es in aller Munde geriet? Außer Gerüchten und Getuschel nichts.
Sobald er sich erst einmal eingefunden hatte, verging die Zeit wie im Flug. Bald war er nicht mehr der Neuling und als der Chinese nach drei Monaten bei einem abendlichen Ausflug mit Freunden die Blicke einer Gruppe junger Frauen auf sich spürte, erkannte er plötzlich, wie sehr und vor allem schnell er sich verändert hatte. Nicht nur äußerlich, da er deutlich an Muskeln zugelegt hatte und seine Haltung sehr viel selbstbewusster wirkte, auch sein Wesen hatte sich verändert. Er hatte seine Naivität verloren, war ernsthafter und verschwiegener geworden – genau die Eigenschaften, die Yuriy noch vor einem Dreivierteljahr bei ihm bemängelt hatte, hatte er nun abgelegt – bis auf eine, und die würde er sich nicht nehmen lassen. Der Glaube an das Gute, an ein Happy End, daran, dass der Mensch nicht von Grund auf niederträchtig war. Vielleicht war das ein Fehler, vielleicht nur ein Relikt aus einem alten Leben, doch für ihn gehörte es unabdingbar zum Menschenbild dazu.
„Ich hab morgen wieder einen Termin beim Psychodoktor“, seufzte Michael und lächelte kurz darauf, als die Bedienung die drei gekühlten Flaschen Bier brachte. Nach einem überschwänglichen „Danke!“ nahm er einen tiefen Schluck davon, schloss dabei genießerisch die Augen. „Himmlisch! Das ist eine der Sachen, die ich vermisse. Abends mal mit den Kumpels weg und eine gepflegte Flasche Bier zischen.“
Rei lächelte nur, während Johnny McGregor, ein brünetter junger Mann, der ursprünglich aus Schottland stammte, grinsend meinte: „Aye, wobei wir uns ja noch freuen sollten, dass wir nur in der Akademie gelandet sind. Im Gegensatz zum Knast haben wir dort wenigstens jedes zweite Wochenende Ausgang.“
Der blonde Amerikaner verschluckte sich fast an seinem Bier, als er plötzlich zu lachen begann. „Aber auch nur, damit wir unsere ‚sozialen Kompetenzen’ verbessern.“
Johnny nickte, hielt dann seine Flasche hoch und warf dann ein: „Darauf trinken wir!“ Sie stießen alle drei an, nippten dann, bevor sie ihre Blicke durch die kleine verschlafene Bar, in der alte Rockmusik gespielt wurde, gleiten ließen. Während die anderen beiden nach Frauen, die sie ansprechen konnten, Ausschau hielten, hing Rei in Gedanken noch ganz anderen Dingen nach. Der Vergleich mit dem Gefängnis war gar nicht so weit hergeholt, wie man denken konnte. Die Regeln in der Akademie waren sehr streng, schon kleine Verstöße wurden geahndet und das zusammen mit der übermäßigen Überwachung sorgte dafür, dass kaum jemand es wagte, dagegen zu verstoßen – oder sich erwischen ließ.
So oder so waren die Sicherheitsvorschriften vertrauenserweckend genug, dass Rei sich keine Gedanken machen musste, dass Sansy ihn hier finden könnte, jedenfalls solange er nicht mit den anderen durch die Stadt zog. Dann waren seine Nerven bis auf das Äußerste angespannt, wenn er es sich auch nicht anmerken ließ. Ein Auge hatte er immer auf die Gäste, ein anderes auf die Ein- und Ausgänge. Immer einen Fluchtweg bereithalten, hieß die Devise, die man ihm beigebracht hatte.
Als Michael wieder schallend loslachte, wandte Rei seine Aufmerksamkeit wieder auf seine beiden Kumpanen und bekam gerade noch mit, wie Johnny sagte: „… und dann meint der Typ, dass ich nur beschränkte soziale Kontakte besitzen würde, nur weil ich mich geweigert habe, von den anderen zu reden. Ich habe mir das Grinsen wirklich verkneifen müssen, sonst hätte er mir am Ende noch unterstellt, ich wäre wahnsinnig.“ Er schüttelte mehrmals verständnislos den Kopf. „Hätten sie mir nicht gedroht, dass sie mich feuern, hätte ich mich längst geweigert, hinzugehen.“
Rei klopfte ihm mitfühlend auf die Schultern. „Du bist nicht der Einzige, der mit diesen psychologischen Beurteilungen so seine Probleme hat.“ Tatsächlich stöhnte mehr als die Hälfte der Leute jeden Monat über das obligatorische Treffen mit den Psychologen der Akademie. Es war zwar verständlich, dass das Netzwerk über seine zukünftigen Mitglieder und deren Eignung im Klaren sein wollte. Auch, dass sie dafür ausführliche Profile erstellen ließen. Doch für alle, die die Befragungen über sich ergehen lassen mussten, war es eine Qual, vor allem für den männlichen Teil. Es gab mehr als genug, die nicht gerne von sich redeten. Schlimmer wurde es aber, wenn man wirklich stumm blieb, dann begann das richtige Bohren nach Antworten.
So hatte auch Rei bereits öfter über seine Gefühle zu seiner Familie und zu seiner Ex-Verlobten sprechen müssen, als ihm lieb war. Glücklicherweise war das Thema dabei jedoch nie auf die Ereignisse gefallen, die ihn überhaupt erst hierher gebracht hatten, obgleich in dem perfekt geplanten Alltag in der Akademie selten Platz für Glück war. Deshalb vermutete er auch längst, dass jemand weiter oben nicht wollte, dass die Geschichte untersucht wurde. Vielleicht ja sogar auf Zutun von einem aus dem Team? Yuriy? Oder Kai, sofern er bereits wusste, wo Rei sich befand.
Hatte Kai es überhaupt schon erfahren? Wie würde er wohl reagieren? Würde er ihn sehen wollen? Hätte er dann nicht längst da sein können? Oder wollte er ihn ignorieren? Reis Augenbrauen zogen sich zusammen, als er einen tiefen Schluck des alkoholischen Getränks nahm und dabei die unliebsamen Gedanken wieder verdrängte. Er hatte den Plan gefasst, erst einmal seine Ausbildung zu beenden und dann nach Kai zu suchen. Und an diesen Plan würde er sich auch halten.
„Ist die Rothaarige da drüben nicht heiß?“, flüsterte Michael plötzlich Rei zu, verpasste ihm dabei einen leichten Ellbogenstoß. Der andere, der vorsichtshalber zurückgewichen war, folgte verwundert dessen Blick zur Bar, grinste nach einer kurzen Musterung der jungen Frau dann aber diabolisch. „Heiß, aber außerhalb deiner Liga.“
Der ehemalige Polizist sah ihn daraufhin gekränkt an und verschränkte die Arme. „Woher willst du das bitte wissen?“
Der Schwarzhaarige spielte geistesabwesend mit seiner Flasche, während er seine Freunde fokussierend nüchtern das Offensichtliche aufzählte: „Erstens, ihre Körperhaltung. Fällt dir nicht auf, dass sie mit verschränkten Armen und Beinen Richtung Bar sitzt und niemanden außer den Barkeeper und ihren Drink ansieht? Das bedeutet, dass sie auf keinen Fall angesprochen werden möchte und für sich bleiben will.“ Amüsiert beobachtete er, wie Michael verunsichert über seine eigene Haltung die Arme wieder auseinander nahm. „Zweitens, der Firmenausweis an ihrem Rock, den sie vergessen hat, abzunehmen. Sie kommt gerade von der Arbeit.“
Johnny wollte etwas anmerken, doch Rei ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Dazu kommt drittens, dass sie frisch geschminkt ist, das verraten die Lippenstiftabdrücke an ihrem Glas. Das bedeutet, dass sie sich für jemanden hübsch gemacht hat, auf den sie auch, viertens, wartet, da sie in den letzten fünf Minuten mehrmals auf die Uhr gesehen hat. Und fünftens.“ Als Rei Luft holte, murmelte Johnny verschmitzt: „Jetzt kommt der große Schlag, wart’s ab!“
„Fünftens hat die Dame vorhin, als sie rein kam, ihren Ehering abgenommen, was bedeutet, dass sie sich hier mit jemand Männlichen trifft, der nicht ihr Ehemann ist. Ergo, nichts für dich, Michael.“ Dieser sah ihn erst erstaunt an, legte sich dann aber stöhnend eine Hand über die Augen. „K.O. in fünf Schritten. Mit dir ist echt nicht zu spaßen, Rei.“
Der Chinese grinste selbstgefällig, erstarrte dann aber, als er einen Mann auf die Toilette verschwinden sah. Auch wenn er nur den Rücken zu Gesicht bekommen hatte - er war aus einer für Rei uneinsichtlichen Nische gekommen -, kam ihm doch der Gang erschreckend bekannt vor. Ohne viel darüber nachzudenken, stand er ebenfalls auf und entschuldigte sich kurz unter den verwirrten Blicken von Johnny und Michael.
Er musste der Sache nachgehen, musste sich sicher sein, ob nicht… Rei folgte dem Weg des Mannes bis zu dem Gang, der in den hinteren Teil der Bar führte und der glücklicherweise von dort aus nicht zu sehen war. Vor einer der drei Türen, die davon abgingen – auf einer stand „Privat“, die andere war die Damentoilette – ging er dann in Stellung. Seine vorhin für einen Moment aufkeimende Panik hatte sich gelegt, stattdessen konzentrierte er sich wieder auf das, was er gelernt hatte.
So lehnte er sich scheinbar lässig gegen die Wand gegenüber der Tür, eine Hand in der Hosentasche vergraben, die andere lag um den Griff seines Messers, das er bei seinen Ausflügen immer dabei hatte. Ein Revolver wäre ihm lieber gewesen, aber das war für solche Ausflüge viel zu auffällig.
Noch nie schien ihm das Warten so lange vorgekommen zu sein. Für einen kurzen Moment hatte er überlegt, die anderen beiden um Hilfe zu bitten, doch hätte das unliebsame Fragen aufgeworfen und Rei hoffte, mit einer Person noch allein fertig zu werden.
Dennoch spannte er seine Muskeln an, drückte seinen Unterkörper näher an die Wand, so dass dem Mann nicht sofort auffallen würde, dass Reis Hand im Begriff war, das Messer, das an seinem Gürtel befestigt war, zu ziehen.
Die Zeit verging, dann war die Klospülung zu hören. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Rei hielt die Luft an. Der Mann, ein schlanker Typ Ende dreißig, zuckte überrascht zusammen, als er plötzlich den Chinesen vor sich stehen sah. Dann wandte er sich wortlos ab und verschwand, leicht torkelnd, wieder Richtung Bar.
Fehlalarm, er hatte sich geirrt. Es war nicht Sansy gewesen.
Er atmete tief aus, ließ dann den Kopf schmerzhaft rückwärts gegen die Wand knallen. Bis auf den Gang hatten dieser Mann und Sansy keinerlei Ähnlichkeit besessen, ganz im Gegenteil. Er hatte wieder einmal nur Geister gesehen, seine Angst davor, ihm jetzt schon zu begegnen, spielte seinen Augen Streiche.
Fehlalarm.
„Reiß dich zusammen, Rei“, fuhr er sich selbst an, bevor er schließlich auch wieder zurück ging und sich von Michael erzählen ließ, dass die Rothaarige gerade wirklich von einem Mann abgeholt worden war und beide kurz darauf gegangen waren.
Fehlalarm.
Kai fluchte ein weiteres Mal, als eine Frauenstimme ihm wieder verkündete, dass der gewünschte Gesprächsteilnehmer momentan nicht zu erreichen sei. Erst Yuriy und dann auch noch Boris. Was war eigentlich momentan mit seinen Leuten los? Er wollte sein Handy schon wieder in der Hosentasche verschwinden lassen, als es unerwartet vibrierte und auf dem Display Brooklyns Name erschien. Verwirrt runzelte er die Stirn, nahm dann den Anruf mit einem knappen „Ja?“ als Begrüßung an.
Währenddessen schloss er leise die Küchentür, so dass Melanie und Monika, Moses Frau und Schwester, die im Wohnzimmer saßen und fernsahen, nichts von dem Gespräch mitbekamen.
„Takao ist da auf etwas gestoßen“, antwortete ihm die Stimme des anderen ohne Umschweife. „Du hast ihn doch darum gebeten, von Zeit zu Zeit Rei zu überprüfen.“
Kai seufzte und setzte sich dabei auf den Sims des geöffneten Fensters. Er erinnerte sich sehr gut daran, dass er dem Japaner diesen Auftrag gegeben hatte, aber auch, dass er ihn gewarnt hatte, nur im absoluten Notfall Bescheid zu geben. Der Graublauhaarige hatte auch so schon mehr als genug damit zu tun, den Chinesen aus seinen Gedanken zu verbannen. „Was gibt es denn so Wichtiges, was er glaubt, gefunden zu haben?“
„Überweisungen der Littleford-Green-Handelsgesellschaft.“
Kai hatte sein Teammitglied Brooklyn bisher immer sehr dafür geschätzt, dass er in jeder Situation die Dinge kurz und präzise benennen konnte, ohne viel darum herum zu reden. Doch dieses eine Mal hätte er sich fast gewünscht, Takao oder jemand anderen am anderen Ende der Leitung zu haben. Jemand, der diese Nachricht nicht so mitgeteilt hätte, als würde es sich um die Wetteraussichten der nächsten Tage handeln. Einer, der ihn etwas darauf vorbereitet hätte.
So aber kam ihm das Ganze erst absolut absurd vor, dann, als er verstand, dass es keinesfalls ein schlechter Witz war, erstarrte er augenblicklich zur Salzsäure. Fast hätte er das Handy fallen lassen, ohne dass er es mitbekommen hätte. Er hatte deutlich gespürt, wie sein Herzschlag ausgesetzt hatte und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Sein Mund war geöffnet, doch eine ganze Zeit lang drang kein Ton über seine Lippen.
Überweisungen der Littleford-Green-Handelsgesellschaft? Nein, das konnte nicht sein. Das war unmöglich! Das durfte nicht sein! Takao hatte sich sicher vertan. Niemals würde Rei je von dort Geld bekommen.
Niemals.
Und doch wusste er, dass es kein Fehler war. Takao machte so gut wie nie Fehler, jedenfalls was alles Elektronische anging. Wenn Brooklyn es ihm schon mitteilte, musste auch er es überprüft haben und dann musste es ja zwangsweise wahr sein. Aber wie nur? Wie konnte es sein?
„Wie lange schon?“, flüsterte Kai schließlich mit heiserer Stimme. Die Antwort konnte ihn nicht mehr überraschen. „Seit gut drei Monaten. Seitdem ist auch immer wieder Geld in New York abgehoben worden.“
Es passte so gut ins Bild. Hätte er es nicht wissen müssen? Wie nur hatte er so naiv sein können? Das Interesse seiner Vorgesetzten an Rei war unübersehbar gewesen, auch wenn sie versucht hatten, es vor Kai geheim zu halten. Die Verlockung war zu groß gewesen, vor allem jetzt, wo er für drei Monate untergetaucht war und er nicht hatte mitbekommen können, was in Amerika vor sich ging. Das Timing war perfekt gewählt.
Blieb nur noch die Frage, wer den Job des Rekrutierens übernommen hatte. Es musste jemand gewesen sein, dem der Chinese vertrauen würde, jemand, der ihn kannte. Und nachdem er ausfiel und er dem Großteil seins Teams vertraute, blieb nur noch eine einzige Person übrig. Yuriy. Deshalb war er also die letzten Monate so unerreichbar gewesen.
„Takao hat sich bereits in die Datenbank des Netzwerks gehackt und versucht herauszufinden, wie das passieren konnte. Er ist inzwischen auch über Yuriys Blackworth-Bericht gestolpert, der um einiges ausführlicher ist als der, den er uns gezeigt hat“, fuhr Brooklyn fort, nachdem Kai nichts mehr hinzugefügt hatte und erreichte damit, dass jener sein Entsetzen überwinden konnte. Es war zu spät um begangenes Unheil zu verhindern, jetzt musste er retten, was zu retten war. Er musste handeln.
„Könnt ihr herausfinden, wo Yuriy sich momentan aufhält?“
„Wir können es versuchen.“ Die Stimme des Orangehaarigen klang zweifelnd. Sie wussten beide, dass die Chancen, ihn zu finden, gering waren. „Was wirst du jetzt tun, Kai?“
Der junge Mann auf der Fensterbank sah kurz auf die Küchenuhr. „Nach New York fliegen. Ich muss wissen, was in meiner Abwesenheit geschehen ist.“
„Und dein Auftrag?“
„Abgeschlossen, ich habe alle Informationen, die ich brauche. Wir treffen uns in zwei Tagen im New Yorker Haus.“
Als Kai einige Minuten später das Wohnzimmer betrat, erwartete Melanie ihn bereits freudestrahlend. „Da bist du ja! Komm schnell her, der Film fängt gleich an! Du freust dich doch schon den ganzen Tag darauf, diese eine Schauspielerin in diesem sexy Kleid…“
„Ich muss gehen.“
Anmerkung:
Er weiß es… jaja, ich bin ja nicht gerne Überbringerin schlechter Nachrichten, aber da ich momentan gerade einmal wieder nur ein dreiviertel Kapitel dem jetzigen voraus bin, wird das nächste wohl doch noch etwas auf sich warten lassen.
Übrigens, die erste Szene dieses Kapitels lag mir wirklich sehr am Herzen. So sehr, dass ich daraufhin große Teile des Plots umgestellt habe und ich begonnen habe, ab nun auch immer öfter aus den Sichtweisen von Kai, Yuriy und den anderen zu schreiben.
@Katanori_Tanaka: Die Assoziation, die du bei Reis Ankunft hattest, von wegen Man in Black oder so – genau das habe ich mir beim Schreiben auch vorgestellt. Es war sozusagen ein kleiner Insider, denn du als Einzige entdeckt hast. xD *blümchen überreich*
@-kiara-, Nessy, Chichi, ShiraLinh, Megami, azure_sea, teufelchen_netty, Chinese_kitty, Amaretto, Ming-sama, Schneefloeckchen, Firefox_Takara, BlackSilverLady, Glückskeks: Vielen lieben Dank für eure teilweise wirklich sehr langen Kommentare! ;______; Ihr seid die Besten!