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His Destiny was Foreordained

♣ "Sein Schicksal war vorherbestimmt" RenxHorohoro
von

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Weiß

Titel: His Destiny was Foreordained - Sein Schicksal war vorherbestimmt

Pairing: RenxHorohoro

Disclaimer: Shaman King gehört mir nicht, denn wäre dies der Fall, müsste ich diese Fanfic nicht erst schreiben X3
 

¡!Wichtig!¡

Die Story beginnt eigentlich erst, als Yoh und die anderen schon einige Zeit in Dolby Village sind, aber hier im Prolog spielt die Handlung ungefähr zwei Monate früher.
 


 

Prolog: Weiß
 

Die Seele ernährt sich von dem, worüber sie sich freut

Augustinus Aurelius
 

Nacht hatte sich über die Umgebung gelegt. Es herrschte Stille und friedlich lag der Park in der Dunkelheit.
 

„Überschallgeschwindigkeitsangriff!"

„Schneelavine!"
 

Abgesehen von den Rufen zweier Jungen, die sich einen erbitterten Kampf lieferten. Sie standen sich auf der Wiese gegenüber, keuchend und nach Atem ringend. Sie waren die einzigen, die um diese Uhrzeit noch draußen waren.
 

„Alle Achtung Horohoro!", keuchte einer der Jungen. Er hatte schwarze Harre und seine Augen hatten dieselbe Farbe, wie das Furyoku, das ihn umgab. Außerdem hielt er eine traditionell chinesische Waffe, einen Kwandao, in der Hand. „Du bist ... besser geworden."
 

Sein Gegenüber, ein Junge desselben Alters, der seine Haare mit einem Stirnband im Zaum hielt und ebenfalls von Furyoku – allerdings handelte es sich hierbei um blaues - umgeben war, grinste und verstärkte den Griff um sein Snowboard. „Du bist aber auch nicht gerade schlecht, Ren."

„Daran habe ich nie gezweifelt", lautete die unverzügliche Erwiderung, gepaart mit einem überheblichen Verziehen des Mundes.

Horohoro schnaubte. „Wir sind heute aber gar nicht eingebildet, was?", stellte er trocken fest.

Ren lachte. „Nein, nur ehrlich."

„Du nimmst mich nicht ernst!"

„Doch. Würde ich dich nicht ernst nehmen, würde ich erst gar nicht mit dir kämpfen."

„Welch eine Ehre.“

„Genug davon", wandte Ren ein und richtete die Spitze seiner Waffe auf den Ainu. „So gut du auch sein magst, ich werde dich beim nächsten Angriff besiegen.“

„Träum weiter, Ren.“
 

Das Furyoku der beiden nahm zu. Sowohl Rens Waffe, als auch das Snowboard strahlten eine ungeheure Energie aus. „Bason, mach dich bereit", befahl Ren und setzte zum Sprung an.

/Ja Meister!/, entgegnete der Krieger.

„Kororo, aufgepasst, jetzt zeigen wir's ihnen!" Horohoro richtete mit einer Hand sein Stirnband.

Huh!, entgegnete Kororo.

Sie rannten los, direkt aufeinander zu. Entschlossenheit spiegelte sich in ihren Augen wieder. Das hier war für sie nicht nur ein simpler Trainingskampf. Er war ein Teil ihres ewigen Wettstreits, zu wichtig, um ihn freiwillig zu verlieren. Zum zweiten Mal attackierten sie sich.
 

„Alles oder nichts, Eiszapfenhagel!“

Überschallgeschwindigkeitsangriff!
 

Eine mächtige Energiewelle erschütterte den Park und verursachte eine Staubwolke. Aus einigen Bäumen stoben aufgeschreckte Vögel, die nicht wussten, was der Lärm zu bedeuten hatte. Sekundenlang konnte man nichts erkennen, doch schließlich verzogen sich die Schleier und die Sicht wurde wieder klarer. Ren und Horohoro standen sich erneut Auge um Auge gegenüber, jedoch hatten sie im Vergleich zu eben die Seiten gewechselt und die Distanz zwischen ihnen war geringer. Sie starrten sich an und keiner rührte sich.

Horohoro begann zu taumeln. „Glückwunsch", keuchte er, bevor er rücklings nach hinten ins Gras fiel. Ren ließ sein Kwandao fallen und sank auf die Knie. Schwer atmend sah er auf Horohoro herab, der genau so schnell atmete und alle Viere von sich gestreckt hatte. Minuten verstrichen, genutzt um Kraft zu sammeln und Atem zu schöpfen. Horohoro hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf seinen beschleunigten Herzschlag.

„Lieg da nicht so rum", riss ihn Rens Stimme aus den Gedanken. Er öffnete die Augen und erblickte den Chinesen, der vor ihm stand und ihm die Hand entgegenstreckte.

„Was?", entwich es dem Ainu, bevor er zu einem anderen Gedanken imstande war. Seit wann war Ren so zuvorkommend?

Der Schwarzhaarige hob die Augenbrauen. „Was ist los? Bist du da unten festgewachsen?"

Horohoro lächelte. Typisch Ren, bloß nie zu freundlich sein und im Notfall leere Phrasen benutzen. Er setzte sich auf, griff nach der Hand und ließ sich hochziehen. Anschließend klopfte er sich den Staub von den Klamotten, bevor er nach seinem Snowboard griff, welches neben ihm im Gras lag und es schulterte. Auch Ren griff nach seiner Waffe und hob sie auf. „Zeit zu gehen“, bemerkte er beiläufig. Sie wandten sich ab und ließen den Park hinter sich.
 

„Nächstes Mal mach ich dich fertig!", durchbrach Horos Stimme die Stille der Nacht.

„Das schafft du nie", erklang prompt Rens Stimme.

„Den Kratzer auf meinem Snowboard bezahlst du.“

„Träum weiter.“
 

oOo
 

„Wo warst du heute Nacht, Horohoro?"

Der Blauhaarige wirbelte herum und blickte direkt in Annas strenges Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Aufkeuchend wich er ein Stück zurück. „Musst du dich immer so anschleichen?!“ Er atmete aus und versuchte sich zu beruhigen.

Anna sah ihn abschätzend an. „Ich wiederhole mich eigentlich nur ungern, aber bitte: Wo warst du heute Nacht?"

„Ich war trainieren", erwiderte er und verzog trotzig den Mund.

„Trainieren? Seit wann trainierst du freiwillig?"

Er zuckte desinteressiert die Schultern. Anna stemmte die Hände in die Hüften. „Na ja, es soll mir egal sein. Eine Sache gibt es da aber noch. Da der Kurze heute Morgen nicht da ist, machst du das Frühstück!"

„Was? Warum ich?!", fragte Horohoro entrüstet. Annas Augen funkelten gefährlich.

„Weil erstens, wie ich bereits erwähnt habe, Manta heute Morgen nicht da ist, du zweitens heute Nacht einfach verschwunden bist, wir drittens die einzigen sind die schon wach sind und viertens", sie holte Luft und ihr Blick bohrte sich in den Horohoros, „ich nicht für das Frühstück zuständig bin." Sie wandte sich um und kehrte mit einem letzten eindeutigen Blick in ihr Zimmer zurück.

„Gemeinheit", grummelte Horohoro. „Sie hat doch bloß keine Lust. Mädchen und ihre Anti-Küchen-Komplexe."

„Das hab ich gehört", erklang Annas Stimme gedämpft durch die Schiebetür.

Horohoro zuckte zusammen. „Ist ja gut", fauchte er gereizt und stapfte knurrend zur Küche. Auf halbem Weg traf er auf Yoh, der ihm gähnend entgegenkam und offenbar auf dem Weg ins Bad war.

„Morgen", murmelte er müde und gähnte. Horohoro erwiderte nichts, sondern marschierte weiter, was ihm

einen verwunderten Blick Yohs einfing. Knurrend schob er die Tür der Küche hinter sich zu und begann damit, das Frühstück vorzubereiten. „Was bildet sie sich ein?", zischte er, während er Wasser heiß machte. „Ich bin doch nicht ihr Diener oder der Koch in diesem Haus. Überhaupt, warum tue ich das eigentlich? Ich sollte endlich lernen, meinen Willen durchzusetzen. Ren sagt das auch immer ..."

„Was sage ich immer?"

Vor Schreck fiel dem Ainu die Tasse aus der Hand. Sie wäre zu Bruch gegangen, hätte sie nicht jemand im letzten Moment aufgefangen. Langsam wandte Horohoro den Kopf und erblickte Ren. Einen Augenblick starrte er den Schwarzhaarigen fassungslos an, bis er wieder die Kontrolle über sich zurück gewann. „Musst du mir jetzt auch noch so einen Schreck einjagen?", fuhr er den Chinesen an. „Du bist ja genau so schlimm wie Anna. Immer müsst ihr euch so anschleichen!"

Ren grinste spöttisch. „Was denn? Hat der Schneemann Angst bekommen?"

„Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, du sollst mich nicht Schneehäschen nennen!", fauchte Horohoro aufgebracht und erdolchte Ren förmlich mit seinen Blicken.

Doch diesen ließ das kalt. „Warum nicht?", fragte er unschuldig.

Horohoro verengte die Augen. „Dann nenne ich dich Kurzhöschen!"

Ren sah erst an sich hinab, dann wieder Horohoro in die Augen. „Wie du siehst trage ich momentan keine kurzen Hosen, sondern nur dann, wenn ich meine Schuluniform anhabe."

Beleidigt verschränkte der Blauhaarige die Arme. „Halt doch die Klappe!"

Ren stellte die Tasse ab und warf einen Blick auf die Arbeitsplatte. „Hat Anna dich also tatsächlich zum Küchenjungen degradiert ", stellte er sachlich fest und lächelte herablassend.

„Scheint ganz so", meinte der Ainu achselzuckend. „Weil ich gestern mit dir trainieren war." Er wandte sich wieder an die Lebensmittel auf der Arbeitsfläche. „Ich konnte mich mal wieder nicht gegen sie durchsetzen und jetzt hab ich das Frühstück am Hals." Überrascht sah Horohoro von seiner Arbeit auf, als neben ihm ein Tablett auf die Arbeitsplatte gestellt wurde und jemand begann Reisschalen darauf zu stapeln.

„Was wird das, Ren?"

Angesprochener warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Wonach sieht es denn aus? Ich helfe dir."

„Du willst mir helfen?! Der große Tao Ren?"

„Ja, eben der. Ich war ja schließlich mit dir trainieren."

Noch immer sah der Stirnbandträger ihn aus großen Augen an. Ren warf ihm einen genervten Blick zu. „Was hast du denn? Los, steh da nicht so nutzlos herum, das Frühstück soll fertig werden." Horohoro schwieg, nicht wissend, was er von alldem halten sollte. „Außerdem", fügte Ren nach einigen Sekunden hinzu, „will ich verhindern, dass wir alle an deinen Kochkünsten krepieren."

„Nimm das zurück. So schlimm ist das auch wieder nicht!"

„Wenn es doch wahr ist, Horohoro."

„Was?!", fauchte der junge Ainu gereizt.

„Manchmal erinnerst du mich an einen kleinen Hund, wenn du mich so ankläffst oder so knurrst." Ren grinste ihn spöttisch an, während dem Ainu vor Fassungslosigkeit das Messer entglitt. Klirrend fiel es auf den Boden.

„Wie war das? Ich und ... und Hund?!"

„Bitte in grammatikalisch korrekten Sätzen.“

„Wag es nicht, mich noch einmal so zu nennen!“

„Hund.“

„Sag das nicht noch mal!“
 

Ein Tag wie jeder andere ...
 

oOo
 

Gemeinsam saßen sie beim Frühstück. Mittlerweile wurde es richtig voll in dem Haus der Asakuras. Nicht alleine Yoh, Anna, Manta und Horohoro wohnten dort, Ryu besetzte seit längerem ebenfalls wieder eines der Zimmer und selbst Tamaro wohnte nun auch dort. Und seit neuestem hatte sich sogar Ren zu ihnen gesellt.

Nicht wirklich freiwillig - Jun was der Ansicht gewesen, die Gesellschaft seiner Freunde würde ihm gut tun und Yoh und Horohoro hatten so lange auf ihn eingeredet, bis er entnervt eingewilligt hatte - aber er musste zugeben, dass es nicht annähernd so schlimm war, wie er zunächst befürchtet hatte. Er teilte sich mit Horohoro das Zimmer, was zur Folge hatte, dass sie nur noch öfter aneinander gerieten. Merkwürdigerweise stellte Ren seit kurzem fest, dass ihn diese Auseinandersetzungen mit dem Ainu nicht mehr so störten wie am Anfang, nein, viel mehr amüsierten sie ihn. Er fand Gefallen daran, den Stirnbandträger mit seiner betont kühlen und abweisenden Art aus der Fassung zu bringen. Auch den anderen war klar, dass ihre Streitereien nicht mehr so ernst waren, wie ganz am Anfang, als sie sich gerade erst kennen gelernt hatten. Und auch, wenn es niemand laut aussprach, wussten sie, dass es so etwas Freundschaft war, die sie verband. Nur unterschied sie sich in ihrer Ausdrucksweise von gewöhnlicher Freundschaft.
 

„Du warst heute Nacht echt noch trainieren?", fragte Yoh zwischen zwei Bissen, an Horohoro gewandt. Dieser

nickte. „Jepp, 'ab isch!", antwortete er mit vollem Mund.

Anna warf ihm einen warnenden Blick zu, woraufhin er hastig schluckte. Auf Rens Lippen legte sich ein spöttisches Lächeln, woraufhin der Blauhaarige ihn strafend anfunkelte.

„Und du hast mit ihm trainiert?", richtete Yoh sich nun an Ren.

„Ja", sagte dieser nur schlicht. „Erst wollte ich ja nicht mit. Aber Horohoro hat mich solange gedrängt, bis ich dann nachgab."

Horohoro holte bereits Luft um etwas Schlagkräftiges zu erwidern, als sein Blick nach draußen fiel. Seine Augen begannen zu strahlen und das Frühstück war vergessen. „Schnee!“

Alle wandten die Köpfe und sahen nun auch nach draußen. „Und das nicht zu knapp", stimmte Manta zu. Unvermittelt sprang Horohoro auf, schlüpfte in seine Schuhe und rannte nach draußen. Er warf einen Blick über die Schulter und sah nach oben zu seinem Zimmerfenster. „He Kororo, es schneit!"

Sein Schutzgeist streckte den Kopf durch das Fenster, sah den Schnee und lächelte. Sofort schwebte sie zu Horo hinab, welcher nun die Augen geschlossen hatte, die Arme ausgestreckt und das Gesicht gen Himmel gerichtet. „Das ist wie Zuhause!“
 

Die anderen wandten sich wieder ihrem Frühstück zu und unterhielten sich unbekümmert weiter. Sie alle wussten, wie sehr Horohoro den Schnee liebte. Nur einer nahm nicht an den Gesprächen teil, was zwar nicht weiter auffiel, da er sowieso morgens und überhaupt nicht der gesprächigste war, aber er hörte in diesem Moment gar nicht zu. Sein Blick lag auf dem jungen Ainu, der die Schneeflocken genoss, die ihm ins Gesicht fielen. Ren lächelte, als er sah, mit welcher kindlichen Freude Horohoro den Schnee empfing.
 

Das hier war Zuhause ...

Missverständnis

Kapitel 1: Missverständnis
 

Liebe ist das Gefühl, dass du fühlst, wenn du das Gefühl fühlst, das du nie zuvor gefühlt hast
 

≈ Zwei Monate später ≈
 

Ren blickte sich hoheitsvoll um. „Hier sind wir also. Doby Village. Der Ort, an dem die Träume eines Schamanen in Erfüllung gehen. Wo man hinsieht nur Schamanen und -"

„Hotdogs? Ihr bekommt einen Sonderrabatt, weil ihr eben erst eingetroffen seid."

„Silva!", erklang die allgemeine Ermahnung, gerichtet an den schwarzhaarigen Schamanenrichter, welcher eine weiße Schürze trug und sich nun verlegen am Hinterkopf kratzte. „Tut mir Leid ... aber als Richter des Schamanenturniers verdient man nun mal nicht viel. Ihr wollt nicht zufällig einen Schlüsselanhänger?"

„Nein, danke", knurrte Ren gereizt. Seufzend zog Silva weiter, resignierend und erkennend, dass er sich andere Kunden suchen musste. Kurz blickte Ren nach links und rechts, bevor er nickte, sich aus der Gruppe löste und zielsicher voranschritt. Sein Ziel: Das nächste Café.

„He Ren", rief Horohoro ihm hinterher. „Es würde uns nicht stören, wenn du mit uns redest!" Doch als der Gerufene nicht reagierte, folgte er ihm. Der Chinese setzte sich an einen Platz im Schatten und verschränkte die Arme. Die anderen folgten nach einiger Zeit seinem Beispiel und setzten sich mit an den Tisch.

Auf den Straßen wimmelte es von Schamanen, Auren von Schutzgeistern flimmerten im Sonnenlicht und gebündeltes Furyoku ließ die Luft erzittern. Dennoch herrschte um sie herum eine gelöste Atmosphäre, Stände waren aufgebaut worden, Souvenirs, sowie Essen wurde verkauft. „Dieser Ort erinnert mehr an einen Jahrmarkt, wenn ihr mich fragt", bemerkte Ryu mit dem vertrauten Klang seines Akzents, die Stirn nachdenklich gefurcht.

Yoh stimmte ihm zu. „Ja, alle scheinen so unbesorgt."

Ein Ruf richtete die Aufmerksamkeit aller zur Seite. Anna, Manta, Tamao, Jun und Li Pyron näherten sich ihrem Tisch.

Auf Yohs Lippen zeichnete sich ein erleichtertes Lächeln ab. „Schön euch hier zu sehen. Wir waren schon besorgt, ihr würdet nicht kommen."

„Das habt ihr vielleicht gehofft", bemerkte Anna und ihre Augen blitzten. „Wir haben noch einen zweiten Weg nach Doby Village gefunden. Ihr musstet durch die Unterwasserhöhle am Eingang tauchen, aber kaum wart ihr weg, fanden wir einen weiteren - trockenen - Zugang zum Dorf."

„Hätten wir den doch auch nur gefunden", beschwerte Horohoro sich mit einem gequälten Aufstöhnen.

„Aber echt", stimmte Chocolove mit ein. „Das wäre um einiges leichter gewesen!" Ren verkniff sich einen Kommentar. Stattdessen bestellte er sich sein Getränk.
 

~
 

Ren starrte an die Decke ihres Zimmers. Dieser Tag lag nun etwas mehr als eine Woche zurück. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er daran zurückdachte, wie sie die Teams für die nächste Runde des Turniers zusammengestellt hatten.
 

~
 

„Dreierteams?! Wie sollen wir das machen?"

Der Ausruf echote immer noch nach, als sich die Gruppe der Freunde am See versammelte. „Ihr habt es gehört", richtete Anna sich an die sechs Schamanen. „In dieser Runde kämpft ihr in Dreiergruppen! Also wer mit wem?"

„Vielleicht machen wir's mit einem Abzählreim", schlug Manta vor. „Oder du lässt sie Strohhalme ziehen ..."

Doch Ryu nahm ihm die Entscheidung ab, indem er Yoh einen Arm um die Schulter legte. „Ich werde Meister Yoh nicht von der Seite weichen!"

Faust schloss sich dem sofort an und stellte sich auf die andere Seite Yoh's. „Nachdem wir beim ersten Mal so erfolgreich waren, möchte ich auch bei dir bleiben." Er spielte dabei auf einen Kampf an, den die drei ein paar Tage zuvor bereits als Team hatten bestreiten müssen. Erstaunt blickte Yoh erst zu Ryu, dann zu Faust und wieder zurück.

Zur Überraschung aller schien das die restlichen drei Schamanen nicht zu stören. Zumindest einem von ihnen schien diese Art von Aufteilung nicht im Mindesten zu missfallen. Mit einem unheilvollen Grinsen zog Ren Horohoro und Chocolove zu sich. „Damit wäre das geregelt."

„Häh?", kam es einstimmig von den beiden anderen, die ob der Reaktion des Chinesen einigen Momenten der Erstarrung unterlagen.

„Ohne mich!", entschied Horohoro allerdings sofort dagegen, als er sich wieder gefangen hatte. „Weil du immer den Boss spielen willst!"

„Außerdem hast du keinen Sinn für Humor", fügte Chocolove bekräftigend hinzu.

Ren grinste selbstgefällig. „Ich mache euch ein Angebot: Ich übernehme das Kämpfen und ihr Clowns müsst nichts weiter tun, als euch zurückzuhalten und mich zu unterhalten, wenn ich eine Aufmunterung brauche."

Horohoro entglitten vor Verblüffen sämtliche Gesichtszüge. „Was?!"

„Wenn das so ist, mach ich mit", entschied Chocolove unvermittelt.

Ren grinste zufrieden. Horohoro nicht. „Was?!"
 

~
 

Oh ja, daran konnte er sich noch gut erinnern. Horohoros Gesichtsausdruck war einmalig gewesen und er hatte sich stark beherrschen müssen, nicht zu lachen.

Ren warf einen kurzen Blick nach rechts. Der Ainu schlief tief und fest und lächelte im Schlaf. Unmerklich zeichnete sich auch auf Rens Lippen Spuren eines Schmunzelns ab. Der Anblick hatte etwas, wie er zu seinem eigenen Leidwesen zugeben musste. Leise fluchte er und drehte seinen Kopf wieder gen Zimmerdecke. Ihn überkamen erneut die Erinnerungen an die letzten Tage. Besonders die Momente mit Horohoro schienen sich in sein Gedächtnis gebrannt zu haben.

Was sollte das? Das war nicht normal. Und warum lag er jede Nacht wach - so wie jetzt - und konnte partout nicht einschlafen? Er seufzte und setzte sich auf, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Seine beiden Teampartner schliefen ruhig. Wenigstens schienen sie keine derartigen Probleme zu haben ...

Leise erhob er sich und schlich sich aus dem Zimmer. Kaum hatte er den Raum verlassen, öffnete sich das Paar Augen, einer der vermeintlich schlafenden Personen.
 

Ren wusste nicht, wie lange er einfach dort saß und in den Himmel starrte, wie schon so oft in den vergangenen Nächten. Er befand sich auf dem Dach des Hauses, welches sie in Doby Village bezogen hatten. Wenn es so weiterging, würde er heute Nacht wieder keinen Schlaf bekommen.

Nicht, dass es ihn störte ein oder zwei Nächte lang nicht zu schlafen - er kannte Schlafentzug aus seiner Kindheit - aber es ging jetzt bereit sein paar Wochen so. Kontinuierlich. Kurz nachdem sie die Suche nach Doby Village begonnen hatten, hatten diese Schlafstörungen eingesetzt. Zunächst unmerklich, dann jedoch deutlicher, bis er schließlich Stunden und sogar Nächte lang nicht mehr schlafen konnte.

Bis jetzt hatten ihn die Kämpfe und genügend Kaffe zwischendurch immer wach gehalten, dach langsam aber sicher wirkte sich diese stetige Müdigkeit auch auf sein Verhalten gegenüber den anderen aus. Er dacht dabei an vorgestern ...
 

~
 

Die anderen unterhielten sich darüber, wie es wohl sei, mit der eigenen Familie als Team beim Schamanenturnier zu kämpfen. Während Ren darüber nachdachte, wie es wohl sei mit Jun in einem Team zu kämpfen, dämmerte sein Geist weg. Zunächst fiel es den anderen nicht auf. An seiner Haltung hatte sich nichts geändert, er saß da, mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen. Bis Horohoro sich zu ihm drehte und das Wort an ihn richtete: „Für mich wär's ein Graus. Und bestimmt wär's das für Ren auch."

Diese Worte rissen den Chinesen aus seinem Dämmerzustand, was zur Folge hatte, dass sein Kopf zur Seite rutschte, woraufhin er ganz aufschreckte. Überrascht riss er die Augen auf und wurde prompt rot. Nicht, weil man ihn beim Dösen erwischt hatte, sondern weil ihm klar wurde, von was er in den paar Sekunden geträumt hatte. Ein anderer Körper war ihm sehr nahe gewesen. Ein nur zu vertrauter Körper, dessen Besitzer ihn nun aufmerksam betrachtete und dessen Lippen sich nun, in der Realität, zu einem Grinsen verzogen. Horohoro lachte. „Guten Morgen Schlafmütze!"

Jetzt heißt es improvisieren, schoss es Ren durch den Kopf, was er auch gleich in die Tat umsetzte. „Ich hab die ganze Nacht nicht schlafen können, weil du geschnarcht hast!" Hoffentlich klang das für die anderen überzeugender, als er es selbst fand.

„Ich schnarche nicht", empörte sich Horohoro und ging zu Rens Erleichterung auf die vorangegangenen Worte ein.

„Doch", beharrte Ren. „Und zwar wie ein Nashorn!"

„Und du knirschst nachts mit den Zähnen", konterte der Ainu sofort, woraufhin Ren das Gesicht verzog, nur um bei Horohoros nächsten Worten zu erstarren. „Und manchmal redest du im Schlaf."

Ren spürte einen kalten Schauer seinen Rücken hinab laufen. Wunderbar. Da schlief er schon nur wenige Stunden und er musste gleich im Schlaf reden? Was zum Teufel hatte er gesagt?! Zum ersten Mal in seinem Leben schickte er ein Stoßgebet zum Himmel. Und zwar mit dem innigen Wunsch, nichts über Horohoro gesagt zu haben. Sein Herz setzte für wenige Momente aus, als der Ainu zum Sprechen ansetzte, nur um anschließen mit doppelter Geschwindigkeit gegen seinen Brustkorb zuhämmern.

„Neulich hast du was echt Witziges gesagt!" Erleichtert atmete er durch. Also doch nicht. Entwarnung. „Ich weiß nicht mehr, was es war, aber ich habe mich krankgelacht."
 

~
 

Seufzend blickte er nun zum Mond hinauf, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. /Meister, solltest du nicht besser zurückkehren? Du solltest schlafen!/

„Nein, Bason", widersprach er seinem Schutzgeist tonlos, den Blick nicht vom Himmel abwendend.

/Aber du hast morgen einen Kampf./

„Na und?", zischte Ren erbost und fixierte Bason. „Ich brauche keinen Schlaf! Es lief die letzten Wochen gut, also funktioniert es auch heute Nacht!"

/Aber Ren -/

„Kein aber Ren." Er fuhr hoch und starrte seinen Schutzgeist wütend an. „Es geht mir gut, verdammt noch mal! Ich halte es sehr wohl ohne Schlaf aus und jetzt hör auf mich damit zu nerven!" Betretenes Schweigen trat ein, als er sich wieder setzte. Nach ein paar Minuten hielt Ren es aber nicht mehr aus. „Es tut mir Leid, Bason", murmelte er und senkte den Blick. „Meine Nerven sind mit mir durchgegangen.

Bason näherte sich ihm in seiner kleinen Geistform, bis er direkt neben Ren schwebte. /Ist schon gut, Meister/, sagte der Krieger mit väterlicher Stimme. /Ich verstehe schon./

Eine Zeit lang blickten sie beide stumm in den mit Sternen übersäten Himmel, bis Ren die Stille erneut durchbrach: „Weißt du Bason, ich versteh es nicht. In letzter Zeit spielen meine Empfindungen verrückt. Liegt es daran, dass ich jetzt erkenne, dass ich ... Freunde gefunden habe oder werde ich wohlmöglich bloß krank?"

Überrascht sah Bason zu seinem Meister auf. Seit wann redete Ren offen über seine Gefühle? Diese Tatsache bewies nur, wie sehr Ren sich nun schon verändert hatte. Vielleicht wurde er tatsächlich zugänglich?

„Ich versteh es einfach nicht", fuhr Ren fort und legte den Kopf in den Nacken, starrte ins Leere. „Was ist nur los mit mir? Ich fühle mich, als stünde ich neben mir, ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren."

/Meister/, sagte Bason schließlich, nach einigem Überlegen, /ich glaube, du bist einfach nur verliebt./

Rens Augen weiteten sich, sein Kopf fiel nach vorne, sein Blick suchte Bason. „Ver-verliebt?!"

/Es scheint so./

„Das ist unmöglich." Ren schüttelte den Kopf, „Das kann nicht sein. In wen sollte ich -" Er stockte, als die Erkenntnis ihn übermannte und schluckte schließlich mehrmals. „Oh."

/Du hast es verstanden./

„Ich-", Ren schwieg, versuchte zu begreifen. „Aber ist es denn überhaupt möglich?" Das Bild von Horohoro erschien vor seinem inneren Auge und sosehr er es zu verdrängen versuchte, es verschwand nicht.

/Möglich?/, echote Bason und lachte leise. /Bist du nicht Beweis genug?/

Der Chinese nickte langsam, wenn auch widerstrebend. Dann wandte er sich an seinen Schutzgeist. „Stört es dich, dass ich ..."

Bason sah ihn lange an. /Meister, ich bin dein Schutzgeist. Ich habe geschworen, immer an deiner Seite zu bleiben und zusammen mit dir zu kämpfen. Und daran wird sich nichts ändern./

Ren wandte den Kopf und blickte wieder nach vorne. Eine sanfte Brise wehte und seine Haare fielen ihm ins Gesicht, verdeckten seine Augen. Nur das kaum sichtbare Lächeln auf seinen Lippen zeugte von seinem jetzigen Gefühlszustand. „Es wird schwer fallen, es wirklich zu akzeptieren. Aber ich glaube, du hast Recht.“
 

~
 

„Ren, du willst spazieren gehen?"
 

~ Zwei Monate zuvor in einem anderen Land ~
 

Der Angesprochene blickte auf. Er hatte sich soeben seinen Mantel übergezogen und einen Schal umgebunden. „Wonach sieht's denn sonst aus?", entgegnete er kühl. Horohoro sah ihn vorwurfsvoll an, schwieg jedoch. Ren streifte sich seine Handschuhe über die Hände und schlüpfte in seine Schuhe. Er war bereits im Begriff das Haus verlassen, als er Horohoro hinter sich rumoren hörte. „Warte, ich komme mit!"

Der Chinese blieb stehen und drehte sich um. Der Ainu zog sich rasch seine Stiefel über. Wortlos wandte Ren sich wieder der Eingangstür zu und schob sie auf. Gemächlich, die Hände in den Taschen, verließ er das Gelände der Asakuras. Er hörte schnelle Schritte hinter sich. „He, warte doch!“ Horohoro stapfte hinter ihm her, bis sie auf gleicher Höhe waren.

Der Schnee fiel immer noch vom Himmel, wie in den letzten Tagen. Ohne nennenswerte Unterbrechung. Dementsprechend lag er auch schon mehr als knöchelhoch. Ren warf einen kurzen Blick nach rechts und hob überrascht eine Augenbraue, als sein Blick auf das Bord fiel, welches unter Horohoros Arm klemmte. „Willst du Snowboarden?"

„Jepp." Er musterte den Stirnbandträger im Gehen von oben bis unten, wobei sein Blick an dessen kurzer Hose hängen blieb. „Ist das nicht etwas kühl?"

Horohoro schenkte ihm einen abschätzigen Blick und ein Kopfschütteln. „Wie kommst du darauf? Schon vergessen, ich komme aus dem Norden, Ich bin Kälte gewöhnt."

„Natürlich, Schneemann.“
 

„Schneller!“

Mit zunehmender Belustigung beobachtete Ren, wie Horhoro mit seinem Snowboard den Hügel regelrecht hinunter bretterte. Man hätte beinahe meinen können, der Ainu sein noch ein kleines Kind ...

Sie waren jetzt schon mindestens eine Stunde im Park. Ren saß auf einer Bank und Horohoro fuhr Snowboard. Obwohl der Chinese es nie offen zugeben würde: Der Ainu konnte gut snowboarden. Besser, als er erwartet hatte.

In dem Moment, als der Schwarzhaarige das gedacht hatte, geriet Horohoro ins Trudeln. Ren reagierte zu spät und bemerkte noch, wie etwas auf ihn zukam, ihn einen Moment später frontal traf und nach hinten von der Bank schleuderte. Auf dem Rücken liegend fand er sich wieder. Stöhnend öffnete er die Augen. Etwas Schweres lag auf ihm und sein Rücken protestierte, obgleich des harten Aufpralls. Als seine Sicht wieder klare Formen und Konturen annahm erkannte er, was genau ihn gerammt hatte. Entnervt fasste er sich an den Kopf und ließ sich zurück in den Schnee sinken. „Und ich wollte gerade noch meine Meinung über dich von stümperhafter Schamanensnowboarder zu mittelklasse Schamanensnowboarder ändern."

Ein gedämpftes Knurren folgte auf seine Worte. „Mach’s doch besser!"

„Erstens kann ich nicht Snowboarden – das weißt du - und zweitens, selbst wenn ich es könnte, bestünde noch immer eine Einschränkung: Du liegst auf mir und bist schwer.“ Doch entgegen seiner Erwartung stand der Horohoro nicht auf, sondern blieb einfach auf ihm liegen.

„Und was soll das jetzt werden?" Rens Stimme gewann an Schärfe.

„Weiß’ nicht", entgegnete Horohoro und grinste ihn auf unverschämte Weise an. „Ich find’s bequem."

„Ich nicht."

„Aha.“

„Wie würdest du dich als lebendiges Kissen fühlen, dem langsam der Rücken nass wird?"

„Kissen haben keinen Rücken", tadelte ihn Horohoro.

„Ich habe aber einen", beharrte Ren.

„Ach, echt?"

„Ja."

„Hätte ich ja nicht gedacht."

„Ich schon, denn mir wird langsam kalt am Rücken."

„Mir ist nicht kalt am Rücken."

„Du liegst ja auch nicht im Schnee."

„Stimmt."

„Sondern auf mir."

„Fein erkannt!"

„..."

„..."

„Was muss ich tun, damit du dich endlich meiner erbarmst?"

„Mal überlegen - mich einfach lieb fragen?"

Ren verzog das Gesicht. „Sei nicht albern?"

„Ich bin todernst.“

„Und absolut lebensmüde“, knurrte Ren.

„Möglich.“

Der Chinese verdrehte die Augen. „Wenn es denn sein muss. Würdest du so freundlich sein und mich von deinem Gewicht befreien?"

„Nö."

„He!"

„Tu nicht so empört Ren. Frag höflicher."

Langsam riss Ren der Geduldsfaden. „Höflicher?! Gut, hier hast du es höflicher. Geh von mir runter oder du erlebt den morgigen Tag nicht mehr!"

„Nein."

„Horohoro!"

„Ren!"

Sekundenlang starrten sie sich an, entschlossen und unbewegt, dann siegte die Kälte über Ren. Er seufzte frustriert, gab sich schließlich geschlagen. „Gut, du hast gewonnen.“ Seine Miene war angespannt. „Kannst du bitte von mir runtergehen?"

„Geht nicht."

„Bitte was?!"

„Ich hab gesagt, es geht nicht."

„Und warum, wenn ich fragen darf?"

„Mein Snowboard steckt fest."

„Und?"

„Es hängt zufälligerweise noch an meinen Füßen", knurrte Horohoro und ruckte unruhig hin und her.

Ren starrte ihn finster an. „Soll das heißen“, grollte er unheilvoll, „dass ich dich vollkommen umsonst um etwas gebeten habe. Dass du dir nur einen dummen Scherz daraus gemacht hast?

„Erraten."

Ren verengte seine Augen zu Schlitzen. „Na warte!" Er packte Horohoros Handgelenke und nach einer schnellen Drehung hatten sich die Positionen getauscht. Der Japaner unten, Ren auf ihm. Horohoro blinzelte perplex. „Na holla, wenn das so einfach ging, warum hat du das nicht schon vorher gemacht?"

Ren erwiderte seinen Blick unbewegt. „Wer weiß Vielleicht hab ich an das Gute in dir geglaubt."

Horohoro grinste. „Das hört sich ja an, als befürchtetest du, in mir schlummere das Böse.“

„Möglich", war die schlichte Erwiderung Rens.

Eine Pause entstand - „Und was hast du jetzt vor?" - welche von dem Horohoro unterbrochen wurde, bevor sie ausartete.

Rens Augenbrauen hoben sich an. „Ich weiß nicht - mich rächen?"

„War das eine Frage oder eine Antwort?"

Ren kam seinem Gesicht ein Stück näher. „Such's dir aus."

„Und wie willst du dich rächen? Willst du mich so lange mit Schnee bewerfen, bis mein Rücken freiwillig nass wird?“

„Legst du es darauf an?“

„Vielleicht.“

„Ist dir kalt?“

Horohoro stockte, denn diese Worte hatte er nicht erwartet. „Jetzt wo du es sagst ... ja.“

Ren nickte und lächelte selbstzufrieden. „Dann habe ich meine Mission erfüllt."

Mit diesen Worten erhob er sich, dann hielt er dem Ainu reflexartig die Hand hin. Grinsend griff dieser danach und ließ sich hochziehen, bevor er das Board von seinen Füßen löste und schulterte. Anschließend folgte er dem Chinesen, welcher bereits vorgegangen war.
 

„Weißt du was Ren, morgen bring ich dir das Snowboarden bei."

„Ha! Du mir?"

„Ja, ich dir!"

„Wer hat eben beinahe eine Lawine ausgelöst?“

„He, das ... du hast mich abgelenkt!"

„Ach, ich dich?"

„Genau."

„Klar."

„..."

„.Wehe, du bringst es mir nicht richtig bei."

„Quatsch, das klappt schon. Versprochen!"
 

~
 

„Ren."

Der Gerufene schreckte auf. „Was?" Überrascht wich er zurück, als er ein Gesicht unmittelbar vor seinem erblickte. Er blinzelte, dann erkannte er die Person, die ihn aus den Gedanken gerissen hatte. Oder hatte er geschlafen? „Du?", entwich es ihm.

Sein Gegenüber grinste. „Ja ich. Erstaunt mich zu sehen?" Das Grinsen verblasste. „Ich hab dich rausgehen hören und als du nicht zurückkamst hab ich dich gesucht."

Ren schluckte. „Horohoro ... weißt du, ich wollte nur -"

„Was ist los mit dir?", unterbrach ihn Horohoro und unterdrückte Sorge lag in seinem Blick. Der Chinese hatte das beklemmende Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Seine Brust hob und senkte sich rasch. „Mit mir? Überhaupt nichts!"

Horohoros skeptischer Blick bewies ihm, dass er nicht gut gelogen hatte. „Natürlich nicht", erwiderte der Ainu mit Ironie in der Stimme. „Klar ist nichts. Du schleichst dich nur jede Nacht aus dem Zimmer - sieh mich nicht so an, ja, ich habe es bemerkt - und essen tust du auch nicht mehr richtig."

Überrumpelt sah Ren ihn an. „Essen? Ich - Jun hat mich auf eine Diät gesetzt und -"

„Besagt diese Diät neuerdings, dass du gar nichts mehr essen sollst?"

Ren schwieg betroffen. Seit wann achtete Horohoro derart auf ihn? Schwer schluckend sah er zu, wie Horohoro sich neben ihn aufs Dach setzte und ihn von der Seite betrachtete. Ren wich seinem Blick aus. Nach einiger Zeit des betretenen Schweigens nahm Horohoro das Wort an sich. „Was hast du in letzter Zeit? Du benimmst dich merkwürdig."

„Nein“, wehrte Ren ab. „Das bildest du dir ein, Schneemann. Mit mir ist alles in Ordnung."

„Wirklich?" Der Blauhaarige sah ihn misstrauisch an, überging den stichelnden Kosenamen. „Was ist mit dem Kampf morgen?"

„Alles bestens", beharrte Ren stur. „Weißt du was?" Er stand eilig auf. „Ich geh dann mal rein, schlafen. Komm Bason."

/Ja Meister./ Eilig verschwand er wieder im Haus, Bason schwebte dicht hinter ihm. Den prüfenden Blick Horohoros konnte Ren noch lange im Nacken spüren.

Kämpfe!

2.Kapitel: Kämpfe!
 

Liebe findet einen immer, egal wie gut man sich versteckt
 

Desinteressiert starrte Ren in seine halbleere Kaffeetasse. Seine Gedanken kreisten noch immer um das Geschehene der letzten Nacht.

/Meister, ich glaube, du bist einfach nur verliebt./

Er lächelte verächtlich. Verliebt. Das er zu so was überhaupt in der Lage war.

„Guten Morgen auch!"

Er zuckte zusammen und hätte beinahe seine Tasse fallen gelassen. Als er erkannte, wer ihn so enthusiastisch begrüßt hatte, fasste er sich stöhnend an den Kopf. Wie konnte man so früh schon derart gut drauf sein? Das tat seinen Nerven überhaupt nicht gut. Und sein Kopf meldete bereits seit Stunden Protest an, was ihm ein heftiges Pochen hinter seinen Schläfen deutlich bestätigte.

Kurz - es ging ihm absolut mies und folglich wollte er den Kampf heute Morgen so schnell wie nur eben möglich hinter sich bringen. Da konnte er zwei derartige Energiebündel – noch dazu seine Teammitglieder - nicht gebrauchen!

Horohoro und Chocolove ignorierend nahm er einen Schluck Kaffe, um seine Nerven zu betäuben. Der bittere Geschmack brachte ihn dazu, das Gesicht kaum merklich zu verziehen. Er hielt für gewöhnlich nicht viel von Kaffee. Normalerweise beschränkte er sich bei dem was er trank auf Milch und Wasser. Immerhin, Milch war gesund und schmeckte ihm. (Außerdem baute sie Knochen auf und bei der Menge an Knochenbrüchen, die er schon erlitten hatte, konnte er eigentlich nie genug Milch trinken!) Doch momentan brauchte er Koffein - es ging nicht anders. Es war das einzige, das ich momentan aufrecht hielt.

„He Ren, was ist, träumst du?"

Mürrisch hob der angesprochene den Blick. Das war Antwort genug. Abwehrend hob Horohoro die Hände. „Ist ja gut! Bist du wenigstens bereit für den Kampf nachher?"

„Was glaubst du denn?", knurrte Ren gereizt, den Blick auf den Inhalt seiner Tasse gerichtet. Chocolove hatte bereits den Mund geöffnet um ihn mit einen Witz wieder in Stimmung zu bringen, brach jedoch ab, als er die heftig zuckende Augenbaue des Chinesen bemerkte, die davon zeugte, wie sehr er augenblicklich um Beherrschung rang.
 

oOo
 

Das Stadion war erfüllt von Lärm. Das Publikum war, um es auf den Punkt zu bringen, völlig aus dem Häuschen. Nicht, dass es wegen dem Kampf schon außer sich war, denn dieser hatte zum einen noch nicht einmal begonnen und zum anderen war die Atmosphäre bei jedem Kampf aufgeladen wie nichts. Unter den Zuschauern befanden sich auch die Mitglieder des Team Asakura, ebenso Anna, Jun, Manta, Pirica und Tamao.

„Was meint ihr?", fragte Yoh über das Getöse der Menge hinweg. „Wie ist dieses Team", er warf einen Blick auf die Anzeigetafel, „Elementary?"

„Sie sollen stark sein", beantwortete Anna seine Frage. „Immerhin sind sie unter die besten fünf Teams gekommen."

„Ich denke, unsere Jungs werden sie besiegen!", bemerkte Ryu zuversichtlich.

„Horohoro!" , schrie Pirica in die Arena hinunter. „Mach sie fertig. Ich weiß, du kannst es schaffen. Denk daran, wofür du kämpfst!“

„Sie wird sich nie ändern“, seufzte Manta kopfschüttelnd. Er musste sich auf zehenspitzen stellen, um über die Brüstung sehen zu können. Faust kümmerte sich nicht um die anderen, seine Aufmerksamkeit galt einzig Eliza.
 

„Okay, egal wie stark dieses Team Elementary auch sein mag, wir werden sie besiegen!" Ren war in seiner Rolle als Teamleader vollkommen in seinem Element. Seine Teamkameraden allerdings ließen seine Worte merklich kalt. „Nimm’s locker", brummte Horohoro desinteressiert. „Wir machen sie fertig und so weiter ..."

Ren verengte die Augen. „Treib es nicht zu weit, sonst setze ich dich auf die Reservebank."

„Das wagst du nicht", zische Horohoro und versteifte sich.

„Lass es drauf ankommen.“ Knurrend verschränkte der Ainu die Arme.

„He Leute", mischte sich Chocolove beschwichtigend ein. „Bleibt cool. Wir müssen uns konzentrieren. Ah, ich hab's, ein Witz lockert die Stimmung auf: Wie viele Schutzgeister braucht man um einen Apfel zu schälen? Na?"

„Erspar uns das!“, gaben Ren und Horohoro gleichzeitig zurück.
 

„Seht euch nur dieses Elend an", ertönte unvermittelt eine Stimme hinter ihnen, was die drei Mitglieder des Team Ren herumfahren.

„Und ihr wollt euch Team schimpfen?" Gesprochen hatte ein Junge mit schulterlangen blauen Haaren. Seine stechenden roten Augen fixierten Ren. Dieser verzog missbilligend das Gesicht. „Ach, meinst du? Und woher nimmst du dir die Unverschämtheit, das zu behaupten?"

Der Blauhaarige zuckte die Schultern. „Es ist einfach nur offensichtlich. Ihr stimmt mir doch zu ... Seishirou, Hiroshi?" Er wandte sich seinen Teamkollegen zu. Einer von ihnen hatte kurze rote Haare und blaue Augen, der andere schwarze Haare und grüne Augen. Beide nickten. „Allerdings. Du hast Recht, Keichi."

Horohoro ballte die Hände zu Fäusten. „Na wartet!", knurrte er und ein Ruck ging durch seinen Körper.

„Warte!"

Der Stirnbandträger hielt inne und wand sich um. „Was?!"

„Erstens", zischte Ren mahnend, „hat der Kampf noch nicht einmal begonnen, also reiß dich gefälligst ein bisschen zusammen. Und zweitens wollen sie uns doch nur provozieren, Idiot."

„Aber sie haben unser Team beleidigt!", protestierte nun auch Chocolove.

Ren bedachte ihn mit einem eindringlichen Blick. „Hebt euch das für den Kampf auf und lasst Silva endlich Wort kommen!"

Keinem war aufgefallen, das der Schiedsrichter bereits seit einiger Zeit versuchte, die Aufmerksamkeit Schamanen auf sich zu richten. Verlegen räusperte er sich, als nun alle Augen uneingeschränkt auf ihm lagen. „Nachdem das geklärt ist, ist der Zeitpunkt gekommen, das Signal zu geben. Der Kampf beginnt!"
 

Das war der Startschuss. Ein Stimmengewirr erklang, während jeder der Schamanen seinem Schutzgeist befahl, die Geistform anzunehmen.

„Suzaku, in die Feuerklinge!", befahl Keichi.

„Bakuni, in den Dreizack!", forderte Seishirou.

„Ryushinshi, in das Surfbrett!", schloss Hiroshi das ganze ab.
 

„Surfbrett?", wiederholte Pirica irritiert, den Blick auf ihren Bruder gerichtet, dessen Snowboard hell leuchtete.

„Das wird interessant", grinste Yoh und beugte sich vor.
 

„Wen darf ich mir vorknöpfen Keichi?", fragte Hiroshi enthusiastisch.

„Krümmere dich am besten um den vorlauten Nordländer", antwortete der Anführer des Teams, einen abwertenden Blick auf Horohoros Ainugewänder werfend.

„Aye!“ Noch bevor Horohoro auch nur den Mund öffnen konnte, um etwas zu entgegnen, musste er bereits eine starke Attacke abwehren.

Nordländer?", echote Ren und verzog abfällig den Mund. „Sei vorsichtig, was du sagst."

Sein Gegenüber grinste nur arrogant. „Du legst es wohl drauf an, was? Seishirou, ich nehme mir diesen großspurigen Typen mal ordentlich zur Brust!"

Seishirou wollte antworten, doch ein heftiger Schlag ließ ihn aufkeuchend zurücktaumeln. „Ich bin dein Gegner", rief Chocolove, der schnell geschaltet hatte. „Also sieh dich vor!"

Keichi festigte den Griff um sein Schwert und lächelte Ren überlegen an. „Dann kommen wir nun zu dir." Mit einem Knurren lief er los, holte aus und schlug mit seiner Klinge zu. Ren parierte den Schlag mit dem Donnerschwert. Sein Gegner setzte zum nächsten Schlag an. Klirrend trafen die Waffen aufeinander, sich mehr einen Schwert- als einen Schamanenkampf liefernd. Einzig das Glühen der Klingen zeugte von dem verwendeten Furyoku. Ren blinzelte und schaffte es nur mit Mühe Keichis folgendem Hieb auszuweichen. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Ich lasse nach. Elende Müdigkeit!

Auch seinem Gegner schien Rens Schwäche nicht entgangen zu sein. Er nutzte die kurze Unachtsamkeit des Chinesen aus. „Suzaku, Feuerschlag!" Die Attacke traf Ren frontal und schleuderte ihn einige Meter zurück. „Was ist?", höhnte sein Gegner. „War das etwa alles? Hast du schon genug?"

Ein Grinsen huschte über Rens Gesicht. Er sah zur Seite und sein Blick kreuzte die von Horohoro und Chocolove. Ren nickte. Sie hatten nicht umsonst mehrere Tage in der Wüste verbracht, um zu trainieren.

Riesengeistkontrolle!“, hallte es durch das Stadion.

„Erhebe dich, Ren der Große!“

„Wieso immer Ren der Große?"

„Ja, du bist echt egoistisch, Alter!"

Ein Knurren. „Ach seid doch still und jetzt kämpft gefälligst!“
 

„Und der Gewinner der Kampfes ist Team Ren!", verkündete Silva wenige Minuten später. Die Menge tobte. Wieder einmal ...
 

oOo
 

Abwesend stocherte Ren unbestimmte Zeit später in seinem Reis herum.

„Wasch ’ascht du denn?", fragte ihn Chocolove zwischen zwei Bissen. „Wir 'aben gerade ’ewonnen, Alter", er schluckte, „und du machst ein Gesicht, wie sieben Tage Regenwetter."

Rens Antwort bestand aus nicht mehr als einem verächtlichen Schnauben.

„Du siehst aus, als hätten wir verloren. Das ist ja schlimmer als Pirica, wenn sie Liebeskummer hat", bemerkte Horohoro und biss grinsend in seinen Cheesburger. Ruckartig erhob sich Ren und schob seine Schale beiseite. „Ich hab keinen Hunger", fauchte er ungehalten und verließ die Runde. Am Ausgang des Restaurants traf er auf Yoh und die anderen, marschierte jedoch wortlos an ihnen vorbei. Verwundert sahen sie ihm hinterher, setzten dann aber ihren Weg zum Tisch, an dem Horohoro und Chocolove saßen, fort.

„Welcher Schrecken ist ihm denn begegnet?", fragte Ryu irritiert und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die zwei übrigen Mitglieder des Teams Ren sahen sich nur an. „Man könnte meinen", murmelte Chocolove leise, „du hättest voll ins Schwarze getroffen."

Horohoro nickte und schluckte seinen Bissen.
 

Mit geballten Fäusten stapfte Ren durch die Straßen Doby Villages.

,Das ist ja schlimmer als Pirica, wenn sie Liebeskummer hat.' Horohoros Worte kreisten in seinem Kopf hin und her, trafen aufeinander, schienen sich zu vermischen und bereiteten ihm nur noch mehr Kopfschmerzen.

„Verdammt!" Mit voller Wucht rammte er seine rechte Faust gegen die Außenwand eines Hauses in einer dunklen Seitengasse. Ein Knacken war zu hören und zischend sog er die Luft ein. Idiot! Fluchend zog er die Hand zurück, die nun unkontrolliert zitterte. „Bei allen Geistern, warum jetzt?“

Erst die Sache mit Horo und Chocolove und nun das! Geschlagen ließ er sich an der Wand nach unten sinken und hielt krampfhaft mit der linken Hand seine zitternde rechte am Handgelenk umklammert. Frustriert legte er seinen Kopf in den Nacken. Warum waren Horohoros Worte der Wahrheit so verdammt nahe gewesen? Und warum ließ er sich von diesen Worten derart aus der Fassung bringen? Und was in Taos Namen sollte er jetzt machen?

Er war verliebt. Großartig. Nun wusste er zwar was mit ihm los war, aber nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Er konnte damit nicht umgehen. Bis jetzt war er noch nie in einer derartigen Situation. Außerdem war Horohoro ein Junge. Also setzten bei ihm nicht nur plötzlich seine Gefühle wieder ein, sondern sie richteten sich offensichtlich noch auf das falsche Geschlecht. Er selbst hatte damit weit weniger Probleme als die anderen es vermutlich hätten. Konnte in seinem Leben nicht ein Mal etwas unkompliziert verlaufen? Dies alles war doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

/Meister?/

„..."

/Meister?/

Ren öffnete die Augen und sah seinen Schutzgeist an. /Deine Hand, Meister. Vielleicht solltest du -/

„Schon gut. Es ist nicht weiter schlimm."

/Ja aber -/

„Bason."

/Ja, Meister. Entschuldige./

Ren schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon gut. Ich denke nur gerade nach. Ich weiß einfach nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Du hast es eben im Restaurant gehört - man merkt es mir bereits an. Ich muss unbedingt etwas unternehmen. So geht es nicht weiter.“

/Ich verstehe./

„Und überhaupt, was soll das Ganze? Warum verliebe ausgerechnet ich mich?! Ich dachte, ich könnte so etwas wie Liebe überhaupt nicht mehr empfinden, nach all dem, was meine Erziehung mir vermittelt hat. Ich bin doch eigentlich nur eine Kampfmaschine, ausgebildet von meinem Onkel, mit dem Ziel zu gewinnen. Etwas Vergleichbares wie meine jetzigen Gefühle waren nie vorgesehen."

/Das waren harte Worte./

Ein bitteres Lächeln umspielte Rens Lippen. „Die Wahrheit ist nie schön. Das habe ich schon früh gemerkt, Bason.“

/Das glaube ich nicht, Meister Ren./

„Was?" Ren stutzte. Seit wann widersprach Bason ihm?

/Du denkst du seiest eine Kampfmaschine?/

„Ja."

/Und wärst eigentlich nicht imstande etwas Derartiges zu fühlen?/

„Ja.“

/Aber du empfindest etwas. Meister Horohoro ist dir wichtig. Genauso wie Meister Yoh und alle anderen.“

„Vielleicht ist das ja nur eine Täuschung. Vielleicht irre ich mich auch nur und es ist etwas ganz anderes. Wie kann ich Liebe Definieren, wenn ich sie nicht kenne? Das ist unmöglich.“"

/Ist es nicht./

„Ach nein?"

/Meister, du hast dich verändert./

„Jemand wie ich kann sich nicht verändern. Du kannst aus einem Monster keinen Menschen machen."

/Doch. Früher magst du in etwa so gewesen sein, wie du es eben beschrieben hast -/

„Nur früher?"

/Ja, aber spätestens heute bist du ein Mensch. Keine Maschine, kein Monster, nur ein Mensch. Heute empfindest du etwas. Selbst damals warst du nie zur Gänze verloren. Du hattest schon immer etwas Menschliches in dir und spätestens dank Meister Yoh ist diese Menschlichkeit sichtbar./

„Mag sein, aber -"

/Und emotionslos warst du damals ohnehin nie gänzlich, das muss dir bewusst sein./

Ren schluckte. Jetzt unterbrach Bason ihn auch noch. Früher hätte er Bason für diese Respektlosigkeit ...

/Damals hattest du Jun, deine Schwester. Du hast sie immer geliebt Ren. Du liebst sie noch heute./

Der Junge schwieg und langsam schwebte Bason näher. /Es ist keine Schwäche zu fühlen. Und ich bin sicher, dass du es kannst. Du hast es bereits oft genug bewiesen, Meister, du hast dich verändert, du bist nicht mehr der alte Ren./

„Vielleicht hast du Recht, Bason.“ Ren hob den Kopf und sah seinen Schutzgeist an. „Ich hab mich verändert. Vielleicht darf ich sogar Gefühle zulassen. Aber noch ist das Schamanenturnier nicht beendet und bis dahin ist es besser, alles hinter mir zu lassen.“

/Ganz wie du meinst./

„Vielleicht später, wenn alles hier vorbei ist.“
 

„Nein, wie herzergreifend", ertönte aus den Schatten eine herablassende Stimme.

Ren schreckte auf. Sein Blick fixierte eine Person, im Schatten der Gasse und seine Augen verengten sich, als der den Sprecher erkannte. „Du?!“ Auf einer Kiste am Ende der Gasse saß Hao und grinste den Chinesen spöttisch an. „Ja, ich. Überrascht?"

Der Schwarzhaarige erhob sich rasch, seine unverletzte hand tastete nach dem Donnerschwert, welches an seinem Gürtel hing. „Was willst du hier?“ Seine Stimme war ruhiger, als er sich tatsächlich fühlte.

Hao lachte. „Was ich hier will? Ich suche Gesellschaft, darum bin ich hier.“

„Gesellschaft?“, echote Ren und schnaubte verächtlich. Dann such sie dir woanders.“

„Aber warum denn?" Hao sprang von der Kiste und kam langsam auf Ren zu, welcher instinktiv zurückwich. „Was denn? Ich beiße schon nicht."

„Ich wiederhole mich nur ungern", knurrte Ren und verstärkte den Griff seiner unverletzten Hand um sein Schwert. „Was willst du wirklich hier?" Er spürte einen Widerstand im Rücken und blieb notgedrungen stehen. Einen halben Meter vor ihm hielt auch Hao. Das Grinsen des Langhaarigen wurde eine Spur gefährlicher. „Dasselbe wie bei unserem letzten Treffen, Ren. Ich will, dass du dich mir anschließt!"

Rens Haltung spannte sich an „Tatsächlich? Ich habe es dir letztes Mal schon gesagt und werde es dir jetzt auch noch einmal sagen: Ich werde mich dir nicht anschließen. Vergiss es."

Hao kam ein Stück näher und stützte sich mit einem Arm neben Rens Kopf ab. „Wie schade. Dabei könntest du in meinem Team soviel mächtiger sein. Mein dummer Bruder weiß nicht, was er an dir hat."

Ren schluckte. Die Nähe von Yohs Zwillingsbruder war ihm mehr als nur unangenehm. „Verstehst du kein nein, wenn es eindeutiger nicht ist?“, knurrte er und verengte die Augen.

Sein Gegenüber schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, ich verstehe dich nicht. Was hält dich bloß bei diesen Schwächlingen - abgesehen von meinem Bruder? Du könntest soviel mächtiger sein. Und du könntest mir helfen, Yoh auf meine Seite zu holen! Oder" - in amüsiertes Funkeln schlich sich in Haos Blick- „ist es etwa wegen diesem Ainu?"

„Was?!" Ren wurde blass. Hao Mundwinkel zuckten triumphierend. „Scheint mir ein Treffer ins Schwarze zu sein.“

„Woher -?“ Der Chinese war sichtlich aus dem Konzept.

„Woher ich das weiß?", stellte Hao Rens unvollständige Frage. „Ein Vögelchen hat es mir zugezwitschert. Also wirklich, wer hätte das nur von Tao Ren erwartet?"

Langsam erlangte Ren seine Fassung zurück starrte Hao dunkel an. „Sei still."

„Und dann auch noch dieser Blauschopf aus dem Norden."

„Du sollst ruhig sein."

„Mit seinem schwächlichen Schutzgeist."

„Sei endlich still!"

„Wirklich enttäuschend."

Du sollst still sein, verdammt!"

Hao hob die Augenbrauen und bedachte Ren mit einem betont gleichgültigen Blick.. „Oha, ist da etwa jemand sehr empfindlich, wenn es um ein gewisses Teammitglied geht?"

Ren zitterte vor Wut. „Ich warne dich Hao, noch ein Wort - und ich schwöre dir, ich werde -"

Was wirst du?" Haos Stimme war herausfordernd und er verringerte die Distanz zwischen ihren Gesichtern um einige Zentimeter.
 

Knisternd wurden die Lautsprecher in Doby Villages Straßen eingeschaltet. Ein Räuspern war zu vernehmen. Sowohl Ren, als auch Hao wanden die Köpfe und fixierten den Lautsprecher, der ihnen am nächsten war.

„An Alle Schamanen." Dies war ohne Zweifel Godvas Stimme. Es rauschte stark und einen Moment schien es, als würden die Lautsprecher ihren Geist aufgeben und sich einfach ausschalten. Doch das geschah dann doch nicht. „Die zweite Runde des Schamanenturniers ist nun abgeschlossen. Drei Teams sind noch im Rennen: Team Asakura, Team Ren und Team Star. Für die dritte Runde werden die Teams allerdings aufgelöst und von dieser Runde an wird jeder Schamane für sich kämpfen. Außerdem - wo ist bloß dieser Zettel hin?" Man hörte das Rascheln einiger Blätter und ein gedämpfte Fluchen. „Wo hab ich nur-?"

„Hier ist er, Godva."

„Oh, vielen Dank, Calim, wo war ich stehen geblieben?", ein erneutes Räuspern erklang. „Ab morgen wird der Plan der nun folgenden Zweierkämpfe ausgehängt und der Eröffnungskampf der dritten Runde findet bereits morgen Abend statt. Bis dahin haben die teilnehmenden Schamanen Pause. eEholt euch so gut es geht, denn ab morgen beginnt die letzte und entscheidende Runde des Schamanenturniers." Erneut knisterten die Lautsprecher, dann kehrte Stille in das Dorf ein.
 

Haos Blick richtete sich auf Ren. „Soviel also zu den Teams. Ab morgen heißt es jeder gegen jeden." Er wandte sich ab und schritt davon. Kurz bevor er mit dem Schatten verschmolz, blieb er jedoch noch einmal stehen. „Noch kannst du dich entscheiden, Ren. Noch kannst du vernünftig sein und dich mir anschließen." Er warf einen Blick über die Schulter. „Triff deine Entscheidung, solange du es noch kannst." Mit diesen Worten und einem letzten Aufzüngeln der Flammen verschwand er.
 

oOo
 

„Ich bin wieder da." Ren betrat das kleine Häuschen, das er sich mit seinen Freunden teilte.

„Wo warst du?" Chocolove stand vor ihm und musterte ihn, die Hände wie eine ungeduldige Ehefrau in die Hüften gestemmt. Ren spielte für einen Moment mit dem Gedanken, ihm genau diese Worte als Antwort zu geben, doch seine derzeitige Stimmung verhinderte es.

„Spazieren", knurrte er stattdessen, nicht auf ein Gespräch erpicht und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei.

„Ah, Ren, da bist du ja." Auch Yoh und Ryu hatten mitbekommen, dass er eingetroffen war. „Wo bist du gewesen?"

„Ich habe es doch schon gesagt“, fuhr Ren sie brüsk an. „Ich war nur spazieren. Wollt ihr es etwa noch schriftlich?"

Yoh blinzelte und sah ihn perplex an. „Was ist los mit dir?"

„Alles bestens", fauchte Ren und wandte sich ab.

„So sieht das aber nicht wirklich aus." Nun hatte sich auch Horohoro zu ihnen gesellt. Er hatte die Arme verschränkt, auf seiner Schulter saß sein Schutzgeist. Bei dem Anblick des Ainus zog sich in Ren alles zusammen. „Dann kannst du offnebar nicht richtig sehen.“

Horohoro hob die Augenbrauen und sah ihn skeptisch an. „Also irgendetwas muss doch passiert sein."

„Nein."

„Ren, was ist mit deiner Hand?", warf Chocolove ein und beugte sich vor, um sie genauer zu betrachten. Ren zog sich zurück und funkelte ihn warnend an. „Nichts." Er ballte seine rechte Hand zur Faust und vergrub sie in seiner Hosentasche.

„Aber -", setzte Chocolove an, wurde jedoch schroff von Ren unterbrochen.

„Kein aber! Und jetzt lasst mich in Ruhe." Mit diesen Worten schritt er an den anderen vorbei zur Treppe.

Bason manifestierte sich neben ihm. /Meister, vielleicht sollten wir -/

„Nein."

/Aber es wäre besser, wenn sie es wissen -/

„Nein!" Ren blieb stehen und drehte sich zu seinem Schutzgeist um. „Wir sagen es ihnen nicht, verstanden?!", zischte er, sodass nur Bason ihn hören konnte. /Meister/, versuchte der Schutzgeist es ein letztes Mal, traf jedoch nur auf Ablehnung.

„Nein, Bason. Ich will jetzt alleine sein und kein Wort zu den anderen, klar?!" Damit drehte er sich um und verschwand in dem Zimmer, das er sich mit Horohoro und Chocolove teilte. Zurück blieb Bason, der ihm besorgt hinterher sah.

„Bason?"

Er drehte sich nach links. /Meister Horohoro?/ Auch die anderen sahen ihn an.

„Was ist los?“

/Meister Ren möchte alleine sein./

Horohoro seufzte. „So ein Miesepeter. Lassen wir ihn abkühlen.“ Sie kehrten in den wohnzimmerähnlichen Gemeinschaftsraum zurück. Auch Bason schwebte hinter ihnen her. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes standen Tassen und Tee, ebenso Kekse. Yoh betrachtete Rens Schutzgeist ernst. „Kannst du uns sagen, was vorgefallen ist?“

Bason wich seinen Blick aus. /Tut mir Leid, Meister Yoh, ich darf es nicht./
 

Eine Etage weiter oben lag Ren auf seinem Futon und starrte beinahe schon apathisch an die Decke. Warum hatte er gerade so überreagiert? Weder Bason, noch die anderen konnten etwas dafür, dass in seiner Welt plötzlich alles Kopf stand. Was war auf einmal wieder los? Bevor Hao aufgetaucht war, hatte er doch alles akzeptiert.

Er schluckte schwer. Hao wusste es. Das war alles andere als gut.

Er blickte aus dem Fenster und beobachtete aus halbgeschlossenen Augen, wie die Sonne allmählich hinter dem Horizont verschwand.

„Ren?" Horohoro hatte das Zimmer betreten. Ren hätte ihn nicht bemerkt, hätte er nicht gesprochen. Der Ainu trat näher. „Na los, rede. Was ist vorhin passiert, nachdem du aus dem Restaurant verschwunden bist? Oder war es vielleicht schon davor? Lag es an unserem Kampf heute?“

„Nein. Es ist nichts.“

Ein freudloses Lächeln umspielte Horohoros Lippen. „Das hast du eben schon gesagt und ich werde es dir jetzt genauso wenig glauben.

„Na und?", Ren betrachtete ihn desinteressiert. „Es ist mir egal, ob du es glaubst oder nicht."

Horohoro seufzte und ließ sich neben Ren auf sein Futon fallen. Während er den Schwarzhaarigen erneut ansah, entspannten sich seine Gesichtszüge kaum merklich. „Du kannst es mir erzählen. Immerhin sind wir doch ein Team."

Rens Blick verdunkelte sich. „Nein." Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. Er wusste jetzt, was ihn derart aus dem Konzept gebracht und schließlich so wütend gemacht hatte. „Du irrst dich. Wir sind kein Team mehr. Ab morgen sind wir Gegner."

Intermezzo

3. Kapitel: Intermezzo
 

Der Zweifel ist eines der billigsten und daher gefährlichsten Rauschgifte

Hans Krailsheimer
 

Der Morgen brach an. Langsam kroch die Sonne über den Horizont, tauchte den Himmel in ein Farbfeld aus rot. In einer fließenden Bewegung erhob sich Ren von seinem Stammplatz auf dem Dach und kehrte in das Zimmer zurück, welches er mit seinen Teamkameraden teilte. Kurz bevor er es betrat hielt er inne, da aufgebrachte Stimmen zu ihm vordrangen. Anscheinend unterhielten sich Chocolove und Horohoro gerade über etwas. Er trat näher, als sein Name fiel und obwohl er normalerweise nichts von Lauschen hielt, ignorierte er seine Prinzipien und lehnte sich an die Wand.

„Langsam mach ich mir Sorgen." - Horohoro. - „Er benimmt sich die ganzen letzten Wochen schon seltsam. Und dann erst sein Verhalten gestern Abend. Was hat er so plötzlich? Ist es vielleicht, wegen der neuen Runde im Turnier?"

„Ich weiß es nicht", antwortete Chocolove nach einer Weile. „Aber das ist wirklich mehr als kurios. Vielleicht sollte ich ihm mal wieder einen Witz erzählen, das lockert ihn sicher -"

„Nein! Chocolove, bloß das nicht. Er bringt dich um, wenn du das tust.“

„Aber, hat er denn nicht gesagt, als wir das Team Ren gegründet haben, dass wir beide ihn kämpfen lassen sollen, ihn aber zu unterhalten haben, wenn er eine Aufmunterung braucht? War das nicht genau so?"

„Ja schon ... aber du weißt doch was passiert, wenn wir das versuchen. Du kennst doch Ren. Wenn er etwas sagt, kannst du dich nicht darauf verlassen, dass er sich zu deinen Gunsten dementsprechend verhält. Und du weißt, was er macht, wenn du ihn darauf ansprichst."

„Ja, das weiß ich."

„Er rastet aus", erklang es unisono, gefolgt von einem resignierenden Seufzen. Unwillkürlich hoben sich Rens Mundwinkel an. Anscheinend hatten sich die beiden ihre Fragen selbst beantwortet. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.
 

„Ren?"

„Was?" Der Chinese sah auf - er war mal wieder sichtlich genervt. Was wollten alle in letzter Zeit nur von ihm? Kein Wunder, dass er lieber alleine war.

Yoh ließ sich grinsend ihm gegenüber auf den Stuhl fallen. Er hielt ein Eis in der Hand und wirkte sichtlich zufrieden. „Du hast gestern jemanden vergessen, Ren." Neben Yoh erschien Bason. /Meister./ Ren warf seinem Schutzgeist einen kurzen Blick zu, dann fixierten seine Augen wieder den Japaner vor sich. „Ich habe ihn nicht vergessen. Ich wollte alleine sein."

„Aha." Yoh leckte geistesabwesend an seinem Eis, stockte und schwenkte es demonstrativ. „Ist das nicht cool? Anna hat es mir erlaubt, ich kann es immer noch nicht fassen. Vielleicht meint sie, trotz der Diät sei es ein Ansporn für mich in der nächsten Runde.“

Ren schwieg, musterte ihn skeptisch, doch Yoh ließ sich von seiner Schweigsamkeit nicht beeinflussen. „Wer weiß, wann ich jemals wieder ein Eis bekomme. Sollte ich in der nächsten Runde verlieren, wird Anna es mich auf ewig büßen lassen ...“

Rens Haltung versteifte sich. „Ich wollte gestern alleine sein“, griff er das eigentliche Thema von sich aus wieder auf. „Genauso, wie ich jetzt alleine sein will", fügte er hinzu, als Yoh nicht weiter reagierte. Doch auch dieses Mal überging der Köpfhörerträger seinen Kommentar. Einen Moment lang spielte Ren mit dem Gedanken aufzustehen und zu gehen doch er verwarf die Idee rasch wieder, da er sich weigerte, kampflos das Feld zu räumen. Stattdessen nahm er einen großen Schluck Milch - seine Kaffeeration hatte er bereits intus - und begnügte sich damit, Yoh schlichtweg zu ignorieren. Es vergingen zehn Minuten, in denen weder Yoh noch Ren ein Wort sagten, bis die beiden auf eine Menschenmenge am Eingang des Cafés aufmerksam wurden. Ren stellte seine Flasche beiseite. „Was ist denn da los?"

Yoh zuckte die Achseln, viel zu sehr auf sein Eis fixiert. „Keine Ahnung."

„Es wurde soeben die Liste der anstehenden Kämpfe der dritten Runde ausgehangen." Die beiden Jungen blickten nach links. „Silva?"

Der Schiedsrichter trug erneut eine Schürze und stellte soeben Rens leere Flasche auf sein Tablett. Der Mann warf einen Blick auf die Menschentraube. „Jetzt steht fest, wer im ersten Abschnitt der dritten Runde gegen wen kämpft. Der erste Kampf ist bereits heute Abend - als Eröffnungskampf." Silva seufzte. „Ich bedauere es sehr, aber da der Schamanenrat entschieden hat, die Kontrahenten auszulosen, ließ es sich nicht verhindern, dass Hao gegen einen der übrigen Schamanen antreten wird. Es war klar, dass es früher oder später so kommen musste, aber es wäre besser, es so lange wie möglich zu verhindern. Allerdings ... da es neun Schamanen ins Finale geschafft haben, wird im ersten Abschnitt einer von ihnen pausieren müssen.“

Kopfschüttelnd wandte Silva sich ab und kehrte zu dem Tresen am anderen Ende des Raumes zurück. Ren blieb wenige Minuten nachdenklich sitzen, bis sich die Menschentraube allmählich auflöste, dann erhob er sich und schritt in Richtung Ausgang. Sein Blick fiel auf Horohoro, der nicht zu wissen schien, wie er auf die Liste reagieren sollte, Chocolove, der sichtlich aufgewühlt wirkte und letztendlich Ryu, der vollkommen am Boden zerstört war. Ren trat skeptisch näher. „Was ist denn mit euch los?"

Horohoro nickte mit dem Kopf zur Tür. „Sieh selbst." Der Chinese trat näher und betrachtete die Liste eingehend. Je mehr er las, desto höher wanderte seine Augenbraue. „Nicht schön“ murmelte er schließlich mehr zu sich selbst. „Zumindest für euch."
 

3. Runde des Schamanenturniers (Achtelfinale)
 

1.Kampf - Heute Abend: Tao Ren vs. Opacho

2.Kampf - Morgen: Hao vs. Chocolove

3.Kampf - Donnerstag: Asakura Yoh vs. Ryu

4. Kampf - Freitag: Faust VIII vs. Luchist
 

„Des einen Leid ist des anderen Freud", kommentierte Ren nach einiger Zeit sachlich. „Sieht so aus, als hättest du Pause, Horohoro." Der Ainu knurrte angesichts des spöttischen Untertons. Ren verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand neben der Liste. Sein Blick pendelte zwischen Chocolove und Ryu hin und her. Beide hielten die Blicke gesenkt. Er verdrehte die Augen.

„Jetzt lasst euch nicht so hängen", stieß er genervt hervor. Er wusste zwar wieso beide regelrecht neben sich standen, aber er wollte nicht einsehen, warum sie sich deshalb so derart hängen ließen.

„Chocolove, selbst wenn du gegen Hao antreten musst, ist das kein Grund so aus dem Konzept zu geraten. Ich dachte, du willst der größte Komödiant werden und da lässt du dich wegen einem Kampf gegen Hao verunsichern?! Und du Ryu", er richtete sich an den am Boden kauernden Biker. „Mag sein, dass dein Kampf ausgerechnet gegen deinen ach so tollen Meister Yo~oh“ - er ahmte Ryus Stimme und Tonfall nach – „ ist, aber jetzt reiß dich gefälligst zusammen. Nein, nicht nur du, ihr beide. Das kann man nicht mit ansehen! Dieses Verhalten ist erbärmlich."

Er schwieg und mehrere Augenpaare ruhten nun voller Unglaube auf ihm. Chocolove fand als erster die Sprache wieder. „Ren? Ist alles in Ordnung?"

„Wie?", der Angesprochene stutzte. Chocolove grinste schief. Ebenso Ryu, der sich langsam aufrichtete. „Nun ja, solche Ausbrüche kennt man nicht von dir."

„Unser Kurzhöschen wird emotional, kann das sein?", fügte Ryu scherzend hinzu. Auch er wirkte sichtlich bestärkt.
 

‚Meister, ich glaube, du bist enfach nur verliebt.'

‚Vielleicht darf ich sogar Gefühle zulassen.’
 

Ren spürte, wie ihm gegen seinen Willen Hitze ins Gesicht stieg. „Was? Emotional? Ich - nein." Die anderen grinsten ihn an und er spürte, wie er zunehmend nervöser wurde. Ruckartig drehte er sich schließlich um und wandte den anderen den Rücken zu. „Emotional?", wiederholte er spöttisch und schnaubte abfällig. „Von wegen. Ich konnte nur nicht länger mit ansehen, wie ihr zwei hier in Selbstmitleid versinkt. Und ihr wollt euch Schamanen nennen."

„Natürlich", entgegnete Horohoro ungläubig. „Wie konnten wir nur an deinen wahren Beweggründen zweifeln?"

„Gut erkannt", stimmte Ren ihm ernst zu. Er blickte kurz über seine Schulter. „Wenn ihr mich nun entschuldigt. Wir sehen uns nachher bei meinem Kampf. Komm mit, Bason."

/Ja Meister./

„Ren." Der Gerufene blieb stehen und seufzte. „Was denn noch?"

Horohoro trat näher. „Wenn dein Kampf nachher stattfindet, wäre es dann nicht besser, wenn wir vorher gemeinsam überlegen, wie du -"

„Nein danke."

„Aber -"

„Ich sagte nein. Mag sein, dass dieser Opacho einer von Haos Leuten ist, aber er dürfte kein Problem für mich sein."

„Bist du sicher?", mischte Chocolove sich mit ein und trat näher.

„Ja", entgegnete Ren schroff, ohne sich umzudrehen. „Ich schaffe das alleine. Und du", zischte er unvermittelt, während sein Blick sich auf eine schattige Seitengasse, unweit von ihnen richtete, „sollt mich gefälligst in Ruhe lassen, verstanden?!“ Mit diesen Worte, gepaart mit einem gereizten Schnauben wandte er sich endgültig ab und ging. Kaum war er außer Sichtweite, trat eine Person aus der Gasse, dicht gefolgt von einer kleineren Gestalt. Hao blickte lächelnd hinterher. „Scheint beinahe so, als fühle er sich belästigt“, bemerkte er leichthin. Wortlos schritt er an Chocolove, Horohoro und Ryu vorbei und blieb schließlich vor der ausgehangenen Liste stehen. Sein Blick wanderte über die gedruckten Zeilen.

„Interessant." Er richtete seine Worte an den Jungen neben sich, welcher sich darum bemühte einen Blick auf die Liste zu erhaschen und schließlich, als er dabei keinen Erfolg hatte, einen Satz machte und sich an Haos Schulter klammerte. „Sieht so aus, als würdest du heute gegen Ren antreten, Opacho."

„Ja, das stimmt“, bemerkte der Junge und ließ sich wieder fallen. Sein Umhang flatterte. „Aber ich werde ihn besiegen, Meister Hao!"

Der Langhaarige überging die Worte und sein Blick wanderte weiter an dem Plakat entlang. „Und morgen darf ich endlich selbst zum Zug kommen. Mein Gegner ist ... Chocolove?" Er blickte zur Seite und fixierte den dunkelhäutigen Schamanen. „Das bist du.“ Er erwartete keine Antwort, sondern richtete seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf Opacho. „Und Luchist wird erst am Freitag das Vergnügen haben. Das wird ihm aber gar nicht gefallen. Er ist doch so schrecklich ungeduldig. Es scheint, als wäre damit alles festgelegt. Lass uns wieder gehen, Opacho. Diese Blicke werden langsam lästig.“ Seine Stimme nahm einen gefährlichen Ton an und instinktiv wichen Horohoro, Chocolove und Ryu zurück.

Doch bevor Hao sich endgültig umdrehte, hielt er inne. Sein Blick ruhte auf Horohoro, der ihn argwöhnisch und gleichzeitig verunsichert anstarrte. „Was ist?", fragte der Ainu in einem Missglückten Versuch, selbstsicher zu klingen. „Hast du ein Problem?“

Hao musterte ihn herablassend. „Du bist also derjenige, den Ren -" Er besann sich eines Besseren und brach ab. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. „Was für eine Verschwendung.“

„Meister, wir wollten doch gehen." Opacho stand vor Hao und blickte aus seinen großen Augen zu ihm auf.

„Ja, du hast Recht.“ Flammen begannen um die beiden zu züngeln und ihre Konturen wurden zunehmend verschwommener.

„He, warte", rief Horohoro ihm nach. Hao schenkte ihm keine Beachtung, seine Gestalt schwand mehr und mehr. Horohoro machte einige Schritte auf Hao zu, hielt jedoch inne, als die Flammen an seinen Füßen zu lecken drohten. „Antworte! Was ist mit Ren?"

Doch Hao reagierte und verschwand gemeinsam mit Opacho in einer sich aufbäumenden Flammenzunge. Das wirst du schon noch früh genug erfahren, Ainu.

„Was war denn das gerade?", fragte Ryu Sekunden später voller Verblüffung.

„Keine Ahnung", antworteten Horohoro und Chocolove unisono. „Aber etwas Merkwürdiges geht hier vor sich."

„Das denke ich auch", pflichtete Yoh ihnen zu, der soeben adas Café verließ. Seine Kopfhörer hingen ihm um den Hals und in seinem Mundwinkel wippte der hölzerne Eisstiel auf und ab, dennoch lag Ernst in seinem Blick. „Irgendetwas braut sich hier zusammen" Vor dem Plakat mit der Liste blieb er stehen. „Oh", entfuhr es ihm überrascht. Erst blickte er zu Chocolove, dann zu Ryu, welcher erneut den Tränen nahe zu sein schien.

„Meister Yo~oh!"

„Ist schon gut, Ryu", lächelte Yoh aufmunternd. „Wir machen den Kampf zwischen uns unvergesslich.“ Er zwinkerte „Und Chocolove", er richtete sich an den anderen, „gib morgen einfach dein bestes. Erzähl Hao einen Witz, dann wird es schon klappen."

Obwohl die Situation alles andere als zum Scherzen war, musste nun auch Chocolove lächeln. „Gut, und am besten übe ich schon mal: Kennt ihr schon den Witz von dem Bus und der Schamanin, die -"

„Nein Chocolove!“, warf Horohoro mahnend ein, das Gesicht leidvoll verzogen.

„Gemeinheit."
 

„Zeit zum Trainieren.“ Ren stand vor einem Felsen außerhalb von Doby Village, umgeben von Sand und Wüste, in der linken Hand sein Donnerschwert. Bason blickte skeptisch auf die Hand, die das Schwert zitternd umklammerte. /Meister, bist du sicher, dass das gut geht? Normalerweise machst du das mit der rechten Hand./

Ren schnaubte. Er wollte sich nicht ausmalen wie stark seine Rechte Hand erst zittern würde. „Unsinn. Es wird funktionieren. Außerdem", er warf einen Blick auf seine rechte Hand. Sie war geschützt von einem hellen Verband, den Faust ihm trotz des Protestes angelegt hatte. ,Sie ist verstaucht', hatte der Arzt gesagt und Eliza hatte zustimmend genickt. ,Was schlägst du damit auch gegen eine Wand.’ Ren wusste nicht einmal, warum er ihm die Wahrheit gesagt hatte.

„Außerdem ist es ein eindeutiger Vorteil, mit beiden Händen gleich gut kämpfen zu können. Man ist flexibler und daran muss ich arbeiten.“

/Wenn du das sagst./

„Ja genau das sage ich. Und jetzt los, Bason. Geistform, Riesenkwandao!" Sein Furyoku strömte in das Donnerschwert und es die Waffe in seiner Hand formte sich zu einem lange, chinesischen Speer. Ren musterte ihn aufmerksam. „Die Geistform muss schneller erreicht werden. Bason, löse die Verbindung.“ Die Waffe verlor an Größe, bis Ren schließlich wieder das Donnerschwert in Händen hielt. Bason schwebte dicht neben ihm und Ren sah ihn eindringlich an. „Die Geistverschmelzung ist zu langsam.“

Die nächste Stunde hörte man in der näheren Umgebung nur Rens Rufe und sah danach einen gleißenden Lichtstrahl, als Bason auf seinen Befehl hin die Geistverschmelzung begann. Schließlich wagte der Krieger einen Einwand. /Meister, du solltest dich heute schonen. Die Geistverschmelzung ist bereits wesentlich schneller geworden. Es reicht./

Ren stand keuchend vor dem mittlerweile vollkommen zertrümmerten Felsen, umgeben von kleinen und großen Steinbrocken. Zum erneuten Mal an diesem Tag hielt er den Riesenkwandao fest umklammert. Er blickte auf seine linke Hand hinab, mit der er die Waffe führte. „Ja, es funktioniert tatsächlich. Allerdings bin ich mit links noch nicht annähernd so gut, wie mit rechts. Daran werde ich heute allerdings kaum noch etwas ändern können.“ Sein Furyoku schwand und er steckte das Schwert beiseite. „Komm Bason, wir gehen."

„Hallo Ren."

Der Schwarzhaarige zuckte wie unter einem Schlag zusammen und wirbelte herum. Sein Blick verfinsterte sich zunehmend. „Was ist?! Ich hab dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen!"

Hao lächelte kalt. „Aber, aber, wer wird denn gleich so wütend werden?" Er saß gelassen auf einem anderen Felsen und blickte belustigt auf Ren hinab. Dieser ballte die Hände zu Fäusten, ignorierte den dadurch entstehenden Schmerz in seiner rechten Hand und starrte Hao verächtlich an. „Hau ab. Verschwinde von hier."

Haos Lächeln wurde noch eine Spur selbstgenügsamer. „Wieso denn? Dies ist ein freies Land und mir ist momentan leider gar nicht nach Abhauen zumute.“

Nun reichte es Ren. Er kehrte Hao den Rücken. „Wenn du nicht gehst, gehe ich." Er schritt unbeirrt den Weg zum Dorf zurück. Kurz glommen Haos Augen auf, dann erhob er sich, machte einen Satz und landete unmittelbar vor dem Chinesen.

„Wohin denn so eilig des Weges, Ren?“, fragte und ein drohender Unterton schwang in seiner Stimme mit.

„Weg", entgegnete Ren knapp, blieb jedoch notgedrungen stehen, da Hao ihn am Weitergehen hinderte. „Von dir.“

„Es tut mir furchtbar Leid", bemerkte Hao übertrieben mitfühlend, „aber das trifft sich leider sehr schlecht. Ich bin nämlich hier, um dir ein letztes Angebot zu machen. Und wie soll ich dir die Bedingungen stellen, wenn du nicht gewillt bist, hier zu blieben und sie dir anzuhören?"

„Ach ja?" Ren schien sichtlich desinteressiert. „Gut. Rede – es ist offensichtlich, dass du vorher keine Ruhe lässt. Aber du kannst davon ausgehen, dass meine Antwort nein lauten wird."

Haos Augenbrauen schwangen in die Höhe. „Bist du dir sicher? Ich hege nämlich begründete Zweifel. Weißt du, ich kenne jetzt immerhin deinen Schwachpunkt und habe folglich einen unumstrittenen Vorteil."

„Schwachpunkt?"

Hao funkelte ihn heimtückisch an. „Ja, deinen Schwachpunkt. Du weißt schon. Das, was dich schwach macht. Die eine Sache, die dich dazu bringt, Dinge zu tun, die du unter gewöhnlichen Umständen niemals auch nur in Betracht ziehen würdest.“

„Ich weiß, was ein Schwachpunkt ist“, zischte Ren und verspannte sich.

„Dann solltest du deinen Schwachpunkt auch nur allzu gut kennen“, bemerkte Hao und lächelte unheilvoll. „Oder soll ich dir auf die Sprünge helfen? Er ist temperamentvoll und trägt ein Stirnband. Klingt das vertraut?“

Der Schwarzhaarige schluckte. „Horohoro?"

Haos Augen blitzten triumphieren. „Wir verstehen uns also. Dann lass mich offen mit dir sein, Ren. Du möchtest doch sicher nicht", etwas Diabolisches zuckte über sein Gesicht, „dass ihm wohlmöglich etwas zustößt, oder?"

Ren spürte, wie sich in ihm alles zusammenzog. „Du", er musste sich stark zusammenreißen, um seine Stimme unter Kontrolle zu behalten und das Zittern zu unterdrücken. „Das wagst du nicht!"

„Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?"

„Ich -", Ren brach ab. Was sollte er jetzt tun? Hao hatte ihn in der Hand. Seine Kehle war furchtbar trocken und er musste erneut schlucken. „Was willst du?", brachte er schließlich mühsam hervor.

Der Langhaarige feixte. „Dasselbe wie immer."

„Warum?"

Hao verschränkte die Arme. „Weißt du das etwa noch immer nicht? Lass es mir erklären: Du bist ein starker Schamane, stärker, als du dich im Moment selber hältst. Deshalb bist du mir von Nutzen. Du kannst mir helfen, mir die Macht meines Bruders zu holen."

Sekundenlang herrschte Stille, lediglich begleitet vom Rauschen des Windes.

„Hao", sagte Ren schließlich fest und mit der gewohnten Sicherheit in der Stimme. Er hob den Blick und sah den Braunhaarigen vor sich durchdringend an. „Ich lasse mich nicht von dir erpressen!" Mit diesen Worten riss er sich aus seiner Starre und schritt an Hao vorbei, zurück zum Dorf. Er spürte den stechenden Blick in seinem Rücken und konnte noch lange das dunkle Lachen des anderen hinter sich hören.
 

oOo
 

Ren seufzte. Noch eine Stunde bis zu seinem Kampf. Er lag wieder auf seinem Futon, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte wie schon so oft in den letzten Wochen die Decke des Zimmers an. In einer Stunde würde er in der Arena stehen und mit seinem Kampf die dritte Runde einleiten. Er fühlte sich ausgelaugt und leer und trotz allem schwand die Zuversicht, die er seit dem Lesen des Aushangs verspürte, nicht.

Haos Schatten - Opacho oder wie er nun hieß - war kein Gegner für ihn. Nein, es war Hao selbst, der ihm durch sein Wissen die Luft abschnürte. Was bei allen Schutzgeistern sollte er nun tun? Er konnte Haos Team nicht beitreten! Auf gar keinen Fall würde er zu einer Marionette werden. Niemals. Dennoch ...

Er konnte auch nicht einfach Horohoros Leben aufs Spiel setzen, bloß weil er es nicht mit seinem Stolz und seinem Ehrgefühl vereinbaren konnte. Hao bluffte nicht, er war todernst. Ren hatte bereits oft genug erlebt, zu was Yohs Zwillingsbruder in der Lage war und er hegte keinen Zweifel daran, dass Hao bereit war, seine Drohung wahr zu machen.

Basons Gestalt flimmerte neben ihm, als der Schutzgeist sich vorbeugte. /Meister Ren./

„Warum kann mein Leben nicht ohne Probleme verlaufen?“, entfuhr es Ren voller Wut und angestauter Frustration. Darauf wusste Bason keine Antwort und schwieg betroffen. Ren hatte sich aufgesetzt und die Hände in seine Haare gekrallt. Beinahe schon apathisch starrte er auf den Boden. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Rens Kopf ruckte nach oben und er blickte direkt in Horohoros Gesicht. Rens Augen weiteten sich, als er realisierte, wer dort vor ihm auf dem Boden kniete und ihn beunruhigt musterte.

„Du siehst übel aus." Echte Sorge schwang in Horohoros Stimme mit. Einige Sekunden lang starrte Ren ihn verblüfft an, dann verhärteten sich seine Gesichtszüge. „Mir geht es gut", erwiderte er abweisend und zog seine Schuler zurück, sodass Horohoro die Hand zurückziehen musste. „Und jetzt lass mich alleine.“

„Ren." Horohoro machte keine Anstalten, seinen Worten Folge zu leisten. „Tu nicht so, ich sehe, dass etwas nicht stimmt. Du kannst mich nicht so leicht täuschen, ich kenne dich.“

„Nein."

„Hör auf mit diesem billigen Schauspiel. Ich kenne dich gut genug, um zu sehen, dass du etwas verbirgst. Hat es vielleicht etwas mit", er zögerte, bevor er weiter sprach, „Hao zu tun?"

Nein! ", kam es augenblicklich von dem Chinesen undHorohoro verzog das Gesicht, Ungeduld zeichnete sich auf seinen Zügen ab.

„Das kam mir zu schnell und zu bestimmt. Also hat es tatsächlich etwas mit ihm zu tun. Ren, hör auf es zu leugnen und sprich.“"

„Kümmere dich um deine Angelegenheiten“, knurrte der Schwarzhaarige. „Und sprich diesen Namen in Zukunft nicht wieder aus, hast du verstanden?“

„Sag es mir, Ren“, forderte Horohoro unbeirrt und seine Augenbrauern zogen sich zusammen. „Was will Hao von dir? Er folgt dir, du sprichst mit ihm, als kanntest du ihn besser, als du vorgeben willst. Ihr scheint beinahe vertraut -" Noch bevor er den Satz beendete, wusste er, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Rens Züge waren erstarrt, dann breitete sich auf seinem Gesicht Zorn auf. Er riss sich von ihm los und sprang auf. „Kein Wort mehr, verstanden?! Es reicht! Warum kann es keiner von euch verstehen?! Ich will einfach meine Ruhe! “, schrie er Horohoro schließlich vollkommen aus der Fassung an. Dieser wich vor Schreck ein Stück zurück, fasste sich jedoch rasch wieder. Auch er erhob sich und baute sich vor dem Chinesen auf. In seinen Augen schien ein Feuer zu brennen und dann verlor er ebenso die Beherrschung und entgegnete nicht minder laut:
 

„Warum wir es nicht verstehen?! Vielleicht weil wir uns Sorgen um dich machen, du taktloser Trampel von einem Chinesen!“

„Vielleicht verlange ich überhaupt nicht, dass ihr euch Sorgen um mich macht?!“

„Wunderbar, dann hast du ein Problem: Sorgen lassen sich nicht einfach abstellen!“

„Was nur beweist, dass Gefühle etwas für Schwächlinge sind, die nicht in der Lage sind, sie zu kontrollieren!“
 

,Meister, ich glaube, du bist einfach nur verliebt.'
 

„Tatsächlich? Entschuldige, aber diese so genannten Schwächlinge sind zufällig eine Freunde!“

„Dann brauche ich eben keine Freunde!“

„Freunde bracht jeder!“

„Ich nicht. Ich komme sehr gut alleine klar!“
 

,Ich bin doch eigentlich nur eine Kampfmaschine, ausgebildet von meinem Onkel, mit dem Ziel zu gewinnen.'
 

„Das glaube ich dir aber nicht!“

„Dann glaub es mir eben nicht. Ich kann dir doch egal sein!“

„Du bist mir aber nicht egal, Ren!“
 

Ren setzte zu einem weiteren Satz an, doch er stockte, angesichts der letzten Worte. Es dauerte Momente, bis er sich ihre Bedeutung vollends bewusst wurde. „Was hast du gesagt?“, entfuhr es ihm.

Horohoro hatte die Hände zu Fäusten geballt und zitterte vor Wut. „Vielleicht bist du noch blinder, als ich geglaubt habe" - er schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf - „aber ich habe angenommen, du besitzt wenigstens noch soviel Sehvermögen um zu bemerken, dass wir Freunde sind. Freunde Ren, keine Zweckgemeinschaft. Aber offensichtlich habe ich mich geirrt." Er kehrte dem Chinesen den Rücken. „Es tut mir Leid, dass ich an dich geglaubt habe!", zischte er verächtlich und verließ den Raum.

Zurück blieb Ren, der sich fest auf die Unterlippe biss. Er hatte Horohoro sichtlich gekränkt. Von der anderen Seite betrachtet - vielleicht war das sogar gut. Wenn Horohoro ihn hasste, würde er ihm aus dem Weg gehen und das wiederum machte ihn nicht unbedingt zur Zielscheibe für Hao.

Er senkte den Blick, Er gab es nur ungern zu, alles in ihm sträubte sich dagegen, doch es ließ sich nicht verleugnen. Es ist besser so, Horohoro. Das lässt sich nicht bestreiten.

Freundschaftsdienst

4. Kapitel: Freundschaftsdienst
 

Um einen Freund zu gewinnen, muss man selbst einer sein

- Autor unbekannt -
 

„Und ich freue mich, hiermit die dritte Runde des Schamanenturniers zu eröffnen." Godvas Stimme hallte durch das Stadion und die Menge jubelte. Nur wenige erkannten die unterschwellige Sorge auf dem Gesicht des Schiedsrichters beim Aussprechen dieser Worte. „Der Kampf beginnt."

Bevor Opacho überhaupt an einen Angriff denken konnte, musste er bereits der Attacke Rens Riesenkwandaos ausweichen - was er nur mit knapper Not schaffte. Ein siegessicheres Grinsen schlich sich auf Rens Lippen. Dieser Kampf würde offenbar um Weiten einfacher werden, als er gedacht hatte.

„Bason, Ultrakavallerieattacke!" Er zielte direkt auf Opacho, doch bevor der Speerhagel den Jungen treffen konnte, begann dessen Gestalt unvermittelt zu flimmern, bevor sie unter dem Angriff schlagartig verblasste. „Was zum -", fluchte Ren, hielt inne und blickte sich um. Staub war aufgewirbelt worden und nahm ihm für wenige Sekunden gänzlich die Sicht und als er sich legte, ging ein Raunen durch die Menge. Opacho war tatsächlich verschwunden.
 

„Das glaube ich ja nicht“, entfuhr es Yoh, der zusammen mit allen anderen den Kampf von den Tribünen aus verfolgte. „Opacho ist weg."

„Wie hat er das gemacht?", fragte Manta, welcher seinen Blick durch die Arena schweifen ließ, auf der Suche nach Rens Gegner.

„Jedenfalls benutz er nicht denselben Trick wie Boris, der vermeintliche Vampir. Er hat Fledermäuse verwendet, um sein Verschwinden vorzutäuschen“, fuhr Yoh fort und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, den Blick nachdenklich auf Ren gerichtet.

„Ich fürchte, es ist weitaus schlimmer“, bemerkte Anna leise. Ihr Verlobter, Ryu und Manta starrten sie an, denn sie wirkte tatsächlich beunruhigt. „Der Junge hat sich nicht einfach unsichtbar gemacht - das ist für Schamanen unmöglich. Nein, ich glaube er kann zwischen den Dimensionen wechseln."

„Zwischen den Dimensionen wechseln?"

„Ja, er ist ein so genannter Wanderer. Er kann Ren aus einer anderen Dimension angreifen, es ist aber unmöglich ihn im Gegenzug zu erreichen, da er durch die Dimensionsverschiebung unantastbar gemacht wird und dieser Vorgang so komplex ist, dass keine mentale und irdische Kraft reicht, um ihn zu erreichen."

Einen Moment Schweigen, dann: „Häh?!"

Eine Augenbraue Annas begann zu zucken. „Im Klartext: Ren kann ihn nicht angreifen."

Erneutes Schweigen, dann: „Sag das doch gleich.“

„Aber was ist mit seinem Schutzgeist?", fragte Yoh schließlich. „Jeder Schamane hat einen Schutzgeist, was ist dann mit ihm?"

„Der Schutzgeist eines Wanderers nennt sich Wächter. Er bewacht die Tore zu den anderen Dimensionen und ermöglicht es Opacho erst, zwischen den Dimensionen zu wandern." Stille folgte auf ihre Worte. „Er sorgt dafür, dass Opacho unangreifbar wird!", erklärte Anna gereizt.

„Aha."

„Es ist ungefähr so wie bei Hao und dem Geist des Feuers", fuhr sie gefasster fort. „Wir haben doch schon bereits gesehen, wie er an einer Stelle einfach erscheint, wie es ihm beliebt. Der Geist des Feuers ist ebenfalls ein Wächter oder besitzt zumindest die Fähigkeiten eines solchen und macht es Hao möglich dort aufzutauchen, wo es ihm recht ist."

kam es clever von den anderen dreien.

„Ja, so ist das!", fauchte Anna sichtlich missgestimmt. „Und falls Ren sich nicht rasch etwas überlegt, sehe ich schwarz für ihn.“

„Sagt mal", begann Manta und sah sich um, „wisst ihr, was mit Horohoro und Chocolove ist? Sie sind doch immerhin Rens ehemalige Teamkameraden. Ich dachte, sie würden diesen Kampf sehen wollen."

„Ich hab Horohoro eben noch gesehen", meinte Yoh nachdenklich. „Er sagte etwas in der Richtung ‚noch zu erledigen’ und ‚keine Zeit’. WIe ich ihn kenne, meinte er damit etwas zu Essen. Vor dem Stadion gab es einige Verkaufsstände. Möglicherweise hat er Chocolove mitgenommen."

„Ja", murmelte Manta. „Kann schon sein.“
 

Rens Geduld neigte sich merklich dem Ende zu. Seine Augen suchten die Arena ab, doch Opacho blieb nach wie vor verschwunden. Der Chinese warf Godva, welcher am Rand der Arena stand, einen vorwurfsvollen Blick zu, woraufhin der Schiedsrichter nur bedauernd den Kopf schüttelte. Solange nicht eindeutig einer der beiden Kontrahenten kein Furyoku mehr besaß, würde der Kampf fortgesetzt werden, so lauteten die Regeln. Da gab es keine Ausnahmen. Ren seufzte. Womit hatte er das verdient? Wie sehr wünschte er sich momentan doch nur etwas gegen seine Kopfschmerzen und einen extrem starken Kaffee. Wenige Momente schloss er die Augen, um sich zu konzentrieren und den Schmerz in seinen Kopf zurück zu drängen.

„Ich sehe dich ganz genau!"

Er zuckte zusammen und riss die Augen wieder auf, traf jedoch auf Leere. Dennoch war es ohne Zweifel Opacho gewesen, der gesprochen hatte. „Wo bist du?", zischte er leise.

„Neben dir", hörte er die kindliche Stimme von rechts und drehte sich sofort in die Richtung. Doch noch immer fehlte von Opacho jeder Spur. Ren schüttelte den Kopf und knurrte. Ein Lachen erklang direkt neben seinem Ohr. „Ich bin neben dir. Allerdings in einer anderen Dimension."

„Verstehe", sagte Ren langsam und verarbeitete das soeben Erfahrene. Zum ersten Mal bemerkte er die Vorzüge seiner strengen, jedoch ausgeprägten Erziehung, die sein Wissen stark gefördert hatte. „Du bist also ein Wanderer."

„Genau wie mein Meister Hao."

„Schön für dich!", schnaubte Ren. „Aber das ist für mich momentan uninteressant.“ In Gedanken suchte er nach eine Möglichkeit, Opacho zu erreichen, doch sein besseres Wissen ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass es für ihn keine Weg gab, die Dimension, in der Opacho sich augenblicklich befand, zu finden, geschweige denn zu betreten. Er selbst konnte Opacho nicht ohne weiteres angreifen. Ihm blieb nur der Versuch, ihn aus dem Gewirr zu locken. Die Frage war nur, wie? Wie konnte er den Jungen aus der Reserve locken? Vielleicht ... immerhin, es war einen Versuch wert. Er straffte die Haltung und verzog höhnisch die Lippen. „Ich habe eine Nachricht für deinen ach so tollen Meister.“ Ren machte eine bedeutungsschwere Pause, dann erhob er die Stimme: „Er ist ein Schwächling!“

Schlagartig wurde es still in dem Stadion. Die Leute in der ersten Reihe hatten Ren deutlich gehört und hielten geschockt oder Überrascht die Luft an. Die Schamanen, die weiter hinten oder höher saßen, wurden ebenfalls still, jedoch vielmehr Neugierde darüber, warum alle anderen verstummt waren.

Ren wartete. Wenn Opacho nicht darauf reagieren würde, dann hatte er so gut wie verloren, denn er würde den Jungen niemals angreifen können. Nach Sekunden erklang allerdings die erhoffte Reaktion: „Was hast du gesagt?!" Opachos Stimme bebte vr Entrüstung. „Wie redest du von Meister Hao?"

Eine Energiewelle ging von einem unsichtbaren Punkt in der Luft los, zielte auf Ren. Opacho griff ihn direkt an. Ren reagierte nicht schnell genug, die Energiewelle traf ihn frontal und schleuderte ihn einige Meter zurück. Hustend fand er sich auf dem Rücken liegend wieder, doch trotz der Schmerzen schlich sich zu dem Husten ein leises Lachen. Er hatte ihn. Opachos Schwachpunkt.
 

oOo
 

„Ähm, Horohoro?“

„Was?" Ohne sich umzudrehen setzte der Angesprochene seinen Weg fort.

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Ich meine ja nur ..." Chocoloves Stimme wurde schwächer und war gegen Ende hin nur noch ein leises Murmeln. Horohoro verdrehte die Augen, blieb stehen und drehte sich nun doch um. „Chocolove, dieses Thema hatten wir bereits acht Mal. Ja, es muss sein. Wenn du es für zu gefährlich hältst - ich zwinge dich nicht, mitzukommen." Er schnaubte, wandte sich ab und ging weiter. Chocolove zögerte, dann folgte er ihm widerstrebend. „He ... he, warte!" Er beschleunigte seine Schritte und schloss zu dem Stirnbandträger auf. „So meinte ich das nicht, natürlich komme ich mit, Ich wollte doch nur fragen, ob du dein Vorhaben für klug hältst."

Horohoro schüttelte den Kopf. „Nein, das tue ich nicht. Aber wenn wir nichts unternehmen, lässt Hao Ren nie in Ruhe."

„Wir wissen noch nicht einmal, ob das wirklich stimmt.“

„Ich habe mit Ren geredet und glaub mir, es hat definitiv etwas mit Hao zu tun. Du hättest sein Gesicht sehen müssen, als ich den Namen genannt habe. So aufgebracht habe ich ihn lange nicht mehr erlebt.“

„Trotzdem bezweifle ich, dass ausgerechnet wir etwas ausrichten können. Du weißt, wie stark Yohs Bruder ist.“

„Wie könnte ich das vergessen?“ Horohoro vermied es, Chocolove von der kalten Klaue zu erzählen, die sich bei dem alleinigen Gedanken an Hao um seine Brust legte und ihm den Atem nahm. „Aber ich bin zuversichtlich.“ Er grinste den anderen sorglos an. „Und wir dürfen nicht vergessen“, fuhr er fort und versuchte dabei, zuversichtlich zu klingen, „wir sind niemand geringeres Team Ren. Wir halten doch zusammen oder nicht?“

„Da hast du wohl Recht.“ Auch Chocolove rang sich ein schiefes Grinsen ab. „Aber jetzt mal zu etwas Anderem. Wieso laufen wir eigentlich seit zehn Minuten durch diesen elendig langweiligen Wald?“

„Meinst du die Frage ernst?“

„Ich –“

„Oh, ich vergaß - Du bist ja ein Komiker“, beantwortete Horohoro sich die Frage selbst, bevor Chocolove seinen Satz richtig beginnen, geschweige denn beenden konnte.

„Sehr witzig“, murrte er missgestimmt. „Stell dir vor, ich meinte es wirklich ernst.“

„Silva hat mir gesagt, dass Hao und seine Leute irgendwo hier ihr Lager aufgeschlagen haben."

„Die sind aber schräg drauf." Chocolove verzog das Gesicht. „Die ganze Zeit in einem Wald pennen? Nein danke. Allerdings, wenn ich ehrlich bin – hier hat Hao wenigstens genug Holz, damit ihm sein Geist des Feuers nicht erlischt. Haha!"

Horohoro seufzte. „Chocolove, das war nicht witzig."

„Nicht?"

„Nein!"

„Verdammt.“

Horohoro schweig. „Hör mal“, nahm Chocolove schließlich wieder das Wort an sich, „was genau hast du vor, sollten wir sie finden?“

„Ich werde mit Hao reden.“

Reden?!", echote Chocolove ungläubig. „Ich bezweifle, dass man mit ihm einfach so reden kann. Du weißt, wie unberechenbar er ist. Ist dir auch klar, dass er sich vielleicht überhaupt nicht mehr an unsere Namen erinnert? Was, wenn wir in seinen Augen nicht mehr sind, als kleine lästige Störenfriede?“

„Dann werden wir ihm das Gegenteil beweisen. Ich werde auf jeden Fall versuchen, mit ihm zu reden. Und falls es nicht klappt muss ich ihn eben anders überzeugen."

Chocolove wollte lieber nicht näher auf diese andere Vorgehensweise eingehen.

„Horohoro, woher weißt du eigentlich von allem?“

„Das hab ich dir doch gesagt. Ren hat –“

„Du kannst es doch nicht nu aus seinem Verhalten geschlossen haben.“

„Nicht ganz, aber fast. Um ehrlich zu sein, waren Basons Worte ausschlaggebend.“ Horohoro dachte an sein Gespräch mit dem Schutzgeist vor wenigen Stunden zurück.
 

~
 

Der Kampf von Ren rückte stetig näher und wieder einmal war der Chinese unauffindbar. Fluchend durchstreifte Horohro die Zimmer. Ohne Erfolg. Als er schließlich in ihr gemeinsames Zimmer zurückkehrte, hielt er verblüfft inne. Am Fenster schwebte Bason und blickte hinaus.

„Bason?"

Der Krieger drehte sich um. /Meister Horohoro./

„Was macht du hier? Solltest du nicht bei Ren sein? Oder will er wieder einmal seine Ruhe?“, fügte er spöttisch hinzu.

Basons Schweigen war Antwort genug und nun bereute er seine Taktlosigkeit gegenüber dem Schutzgeist. „Ren benimmt sich kindisch“, murmelte er trotzig.

Bason blickte zu Boden. /Was er vorhin zu dir gesagt hat ... Ich bin mir sicher, er hat es nicht so gemeint./

„Du musst ihn nicht verteidigen", warf Horohoro ein und ließ sich auf sein Futon fallen. Kororo erschien neben ihm. „Auch wenn seine Worte mich beleidigt haben, weiß ich, dass sie nicht stimmen. Er würde sich nicht von einer Sekunde auf die andere ändern. Zumindest nicht zu schlechten.“ Er schwieg, doch nach wenigen Minuten schaffte er es nicht mehr, die Frage, die ihn beschäftigte, unausgesprochen zu lassen: „Bason, kannst du mir erklären, was mit Ren los ist?"

/Leider nicht./

„Aber -"

/Meister Ren hat es mir verboten./

„Bason." Der Schutzgeist sah auf. Horohoro blickte ihn eindringlich an. „Er benimmt sich Besorgnis erregend seltsam. Selbst Yoh macht sich mittlerweile Sorgen, Anna ist beunruhigt und sogar Faust ist es aufgefallen.“

Bason zögerte. /Was ist mit dir?/

„Was soll mit mir sein? Natürlich mache ich mir auch Sorgen. Aber er ist zu sehr auf sich fixiert, um zu bemerken, was um ihn herum vor sich geht.“

/Vielleicht./

Der Ainu schüttelte den Kopf und der entschlossene Ausdruck kehrte in seine Augen zurück. „Bason, erzähl es mir. Ich verspreche dir auch, dass Ren nichts davon erfahren wird.“

Bason zögerte merklich. /Ich kann nicht. Meister Ren hat mir immerhin befohlen -/

„Bason.“

/Ich darf es nicht. Alles, was ich befugt bin, zu sagen, ist, dass deine Vermutung nicht unbegründet ist./

„Dann hat es etwas mit Hao zu tun?!“

/Dies war alles, was ich dir sagen kann./

Horohoro erhob sich. „Das war alles, was ich gebraucht habe. Danke Bason.“ Er nickte dem Schutzgeist zu und verließ den Raum.
 

~
 

Zurück in der Gegenwart erkannte Horohoro, dass ihr Ziel sich unmittelbar vor ihnen befand. „Warte." Er streckte einen Arm aus und gebot Chocolove, stehen zu bleiben. „Wir sind da.“

Dunkelheit hatte sich über den Wald gelegt. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die dichtbelaubten Bäume verhinderten, dass das Licht noch bis zu ihnen vordrang. Der einzige Vorteil dieser Begebenheit bestand darin, dass Horohoro und Chocolove zwischen den Bäumen kein leicht erkennbares Ziel abgaben.

Vor ihnen schimmerte schwaches Licht zwischen den Büschen hindurch. Horohoro legte einen Finger an die Lippen und bedeutete Chocolove, still zu sein. Der Junge nickte und die beiden schlichen lautlos näher. Vorsichtig spähten sie an einem besonders breiten Baumstamm vorbei und erblickten eine breite Lichtung. Zelte waren dort aufgestellt worden und es bestand kein Zweifel daran, dass Horohoro und Chocolove sich einen günstigen Zeitpunkt ausgesucht hatten. Bis auf wenige Schamanen war die Lichtung leer. Dennoch kamen die Jungen nicht umhin zu erkennen, dass es sich bei den anwesenden Schamanen um Haos stärkste Gefährten handelte. Von Yohs Bruder fehlte jedoch jede Spur.

„Wo ist Hao?", raunte Chocolove Horohoro zu.

Der Ainu schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Er muss aber hier sein, denn als Rens Kampf begonnen hat, war er nicht im Stadion. Ich bin mir sicher, ich habe mich nämlich mehrmals vergewissert, dass er nicht da war.“

„Aber wenn er weder da noch hier ist, wo ist er dann?“

„Hinter euch“, erklang ein gefährliches Zischen. Horohoro und Chocolove wirbelten herum und erstarrten, als sie sich Hao gegenübersahen, welcher triumphierend lächelte. „Gehe ich recht in der Annahme, dass ich es bin, den ihr sucht?" Er machte einen Schritt auf sie zu. Flammen züngelten um seine Hände und beleuchteten die schockierten Gesichter der beiden Jungen. „Dann darf ich davon ausgehen, dass ihr euch nicht im Wald verlaufen habt, wie Luchist angenommen hat, als er euer Furyoku gespürt hat.“

Chocolove und Horo wichen zurück, als Hao noch trat. Der Blick der Dunklen Augen richtete sich auf Horohoro und die Haos Mundwinkel zuckten. „Ich muss zugeben, ich bin überrascht, ausgerechnet dich hier anzutreffen. Solltest du nicht bei Ren sein, und ihn bei seinem Kampf anfeuern, wie ein braver, treuer Freund?“, fragte er mit Hohn in der Stimme.

Horohoro ballte die Hände zu Fäusten. „Das sagst gerade du mir?", zischte er, um Beherrschung bemüht. „Wo du Ren doch keine Sekunde der Ruhe mehr lässt, wie ein verlorener Hund?!“ Er hörte Chocolove neben sich nach Luft schnappen, doch Horohoro war viel zu aufgewühlt, um sich über die Konsequenz seiner Worte Gedanken zu machen.

Haos Augenbrauen hoben sich. „Irre ich mich oder erweckst du tatsächlich den Eindruck eines eifersüchtigen Liebhabers?“

Blanke Wut zeichnete sich auf Horohoros Gesicht ab. „Nimm das zurück, du verlogener –“

„Horohoro!“ Chocolove presste ihm eine Hand auf den Mund und hinderte ihn daran, weiter zu sprechen. „Hast du den Verstand verloren?“, zischte er so leise, dass nur der Ainu ihn hören konnte. Horohoro gab dumpfe Laute von sich, dann riss er sich los. Zornentbrannt starrte er Hao an, welcher entgegen Chocoloves Befürchtungen keine Spur von Wut oder Entrüstung zeigte. Eindeutige Belustigung zeichnete sein Gesicht. „Dir scheinen meine Worte recht nahe zu gehen, Ainu“, stellte er spöttisch fest. „Doch nun zu etwas Anderem.“ Sein Ausdruck wurde augenblicklich ernst und seine Stimme nahm einen gefährlichen Ton an, als er weiter sprach: „Was habt ihr hier zu suchen?“

Chocolove schluckte schwer „War das mit eingeplant?", murmelte er Horohoro aus dem Mundwinkel zu.

„Nein“, gab dieser zerknirscht zurück, während sie weiter vor Hao zurückwichen, bis sie gezwungenermaßen auf die Lichtung hinaustraten und sämtliche Blicke der Anwesenden auf sich richteten. „War es nicht.“
 

oOo
 

Ren keuchte, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine erste Einschätzung hatte sich als Fehler erwiesen, denn Opacho war zweifellos kein schwacher Gegner. Seine Energiewellen zeigten auf Dauer beunruhigende Wirkungen. Sie verletzten nicht stark, doch je länger Ren sich mit ihnen konfrontiert sah, desto mehr schienen seine Kräfte zu schwinden. Er wusste, viele andere Schamanen hätten an seiner Stelle längst kapituliert, doch er besah zu viel Stolz und Entschlossenheit, um sich von einem Kind besiegen zu lassen, ohne sich einen Kampf von Angesicht zu Angesicht geliefert zu haben. Er trug nicht ohne Grund den Namen der Taos, er besaß Kraft, er besaß Kontrolle.

Eine Energiewelle löste sich aus dem Nichts und er reagierte zu langsam, um ihr auszuweichen. Er hatte nicht damit gerechnet und wurde frontal getroffen. Mit einem erstickten Schrei schlug er hart auf dem Boden auf. Ächzend richtete er sich auf. Das Donnerschwert lag zwei Meter neben ihm und Ren fluchte leise. Verdammt, ich bin ein Idiot! Ich hab fast kein Furyoku mehr. Daran hatte ich nicht gedacht. Eine erneute Energiewelle zielte auf ihn. Er machte einen Satz zur Seite, rollte sich ab und griff nach seinem Schwert. Es wir Zeit dem ganzen hier ein Ende zu setzen!, dachte er, während er dem nächsten Angriff auswich. Ich muss ihn jetzt so stark provozieren, dass er sich zeigt oder zumindest seine Deckung vernachlässigt. Denn immer wenn er aus einer anderen Dimension angreift, muss er ein Tor zu dieser Dimension öffnen. Ich muss den richtigen Moment abpassen.

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge als Ren still stehen blieb und die folgenden Attacken über sich ergehen ließ. Er holte tief Luft: „Hao ist der schwächste Schamane, den ich je gesehen habe und er wird sicher niemals Schamanenkönig werden, denn er hatte seine Chance und hat sie verpasst!

Er verstrichen Sekunden, dann reagierte Opacho: „Du lügst!“ Und endlich konnte Ren ihn wieder sehen. Das Tor war geöffnet, Opacho hatte bereits zur nächsten Attacke ausgeholt, doch angesichts der Worte gezögert. Diese Unachtsamkeit nutzte Ren aus. Er leitete sein gesamtes Furyoku in das Donnerschwert.

„Erwischt!“
 

oOo
 

Horohoro wusste, Chocolove und er steckten in der Klemme. Und Horohoro wusste, dass er selbst maßgeblich für ihre derzeitige Lage verantwortlich war.

„Ich wiederhole mich ungern." Haos Stimme hatte längst jede Spur Belustigung verloren und beinhaltete eine unausgesprochene Drohung. „Was wollt ihr hier?"

Horohors Hände zitterten. Seine angestaute Wut auf Hao gewann die Oberhand und die Worte verließen seinen Mund, noch bevor er überhaupt nachdenken konnte. „Wir wollen dass du Ren in Ruhe lässt!"

Die Stille, die auf seine Worte folgte war derart erdrückend, dass Horohoro es beinahe nicht mehr aushielt. Er spürte Haos durchdringenden Blick auf sich und war bemüht, ihm stand zu halten.

Eine starke Windbö durchstreifte die Baumwipfel und einen Moment schien es, als würde das Jubeln der Menge im Stadion zu ihnen herüberwehen, doch selbst wenn es tatsächlich so gewesen wäre, so wurde es beinahe im selben Augenblick vom Rauschen der Blätter verschluckt. Einige Haarsträhnen lösten sich aus dem Stirnband und fielen Horohoro vor die Augen, nahmen ihm sekundenlang die Sicht. Seine Starre löste sich, als Hao zu lachen begann. Zunächst leise, während seine Schultern merklich bebten, dann lauter und schließlich voller Gehässigkeit, was das Feuer in Horohoros Magen nur schürte. Es schien Minuten zu dauern, bis Hao sich beruhigte, doch selbst nachdem das Lachen verklungen war zierte seine Lippen ein gehässiges Lächeln. „Das ist nicht dein Ernst oder?", fragte er schließlich voller Herablallung. „Deshalb bist du hierhin gekommen? Ich kann nicht fassen, wie naiv viele Menschen doch sind.“

Horohoro verengte die Augen zu Schlitzen. „Wir sind nicht naiv.“

Hao ignorierte seine Worte, verschränkte die Arme und musterte Horohoro provozierend grinsend. „Und tust du, wenn ich mich weigere?"

Horohoro hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Er hatte Chocolove voller Absicht nichts Näheres zu seinem Vorhaben gesagt, denn er hatte gewusst, dass es riskant war. Genauso wie er wusste, dass seine folgenden der pure Wahnsinn waren: „Dann werde ich gegen dich kämpfen und wenn ich gewinne, wirst du tun, was ich verlange.“

Wenn Hao von seinen Worten überrascht was, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Miene blieb unbewegt. „Ist dir klar, was du soeben eingeleitet hast, Ainu?“ Seine Stimme war ruhig und abschätzend. Horohoro nickte und blickte ihn durchdringend an. „Dann soll es so sein. Sollte ich jedoch ich als Gewinner aus diesem Kampf hervorgehen, werde ich entscheiden, was ich zu tun und zu lassen habe.“

„Einverstanden.“

Ein Raunen durchzog die Reihen von Haos Anhängern. Luchist trat einen Schritt vor. „Meister Hao, vielleicht wäre es besser -"

Doch Hao brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. „Nein Luchist, das erledige ich persönlich." Er warf einen Blick auf Chocolove, der herausfordernd zurückstarrte. „Aber sorgt dafür, dass er sich nicht einmischt", fügte er kalt hinzu.

„Das wird er nicht", warf Horohoro schnell dazwischen, bevor Chocolove in der Lage war, zu reagieren. Ein entrüsteter Blick traf ihn von der Seite. „Aber Horohoro, du kannst doch nicht alleine gegen ihn -" Chocolove brach ab, als er das entschlossene Funkeln in Horohoros Augen bemerkte. Er rang mit sich selbst, dann sanken seine Schultern nach unten und er wandte den Blick ab. „Sei vorsichtig", flüsterte er, bevor er sich widerwillig in den Kreis der Menschen einreihte, der Hao und Horohoro mittlerweile umschlossen hatte.

Hao hob eine Hand und richtete sich unnötigerweise seinen Umhang. „Dir ist es tatsächlich ernst.“

„Was ist?", entgegnete Horohoro und rang sich ein schiefes Grinsen ab. „Dachtest du, ich mach einen Rückzieher, nachdem ich dich herausgefordert habe?"

„Ich hätte vielmehr erwarte, dass du Vernunft annimmst und um dein Leben rennst.“ Die Tatsache, dass Hao dieses Mal nicht lächelte machte Horohoro bewusst, dass er die Worte mehr als nur ernst meinte.

„Dann muss ich dich enttäuschen. Wenn ich etwas sage, halte ich mein Wort.“

Hao musterte ihn abschätzend. „Gibt es einen Grund für deine Selbstlosigkeit oder befindest du dich lediglich in einem Zustand der absoluten Leichtsinnigkeit?“

Horohoro zögerte, dann straffte er seine Haltung und sah Hao offen an. „Ich bin Mitglied vom Team Ren und als Team halten wir zusammen.“

„Dann weißt du entweder nicht, dass es ab heute keine Teams mehr gibt, oder du schaffst es nur nicht, dich an den Gedanken zu gewöhnen, dass du dich von nun an nicht mehr auf dein Team verlassen kannst und alleine kämpfen musst“, höhnte Hao. „Ihr haltet also zusammen? Wie rührend." Die letzten Worte waren gekennzeichnet von Zynismus. „Ich fürchte nur, dass dieser Glaube dir am Ende nichts bringen wird. Denn er ändert nichts daran, dass du alleine bist. Geist des Feuers!“ Der reisenhafte Schutzgeist materialisierte sich hinter Hao. Horohoro schluckte. Er wusste, ihm stand ein schwieriger Kampf bevor und er war sich nicht sicher, ob er ihn würde gewinnen können. Doch er würde nicht aufgeben, ohne es wenigstens versucht zu haben. „Kororo Riesengeistkontrolle!"

Kororo begann zu glühen und erhob sich schließlich in ihrer wahren Größe. Bei ihrer jetzigen Größe konnte sie es wahrlich mit dem Geist des Feuers aufnehmen. Horohoro stand auf der Schulter seines Schutzgeistes, hielt sich an ihrem Hals fest und das kalte Eis Kororos unter seinen Fingern war wie Balsam für seinen aufgewühlten Geist. „Ich verlasse mich auf dich“, flüsterte er und wusste im selben Moment, dass Kororo ihn verstanden hatte. Haos Haare stoben auf, als ein starker Wind aufkam und das Feuer um ihn herum lodernd aufzüngelte. „Na dann komm, wenn du dich traust!"

Kororo holte mit einer Faust aus, der Geist des Feuers tat es ihr gleich und als Feuer auf Eis traf, erschütterte eine Explosion den Wald, ließ die Vögel in ihrer Umgebung aus den Baumwipfeln stoben ließ.

Verraten

5. Kapitel: Verraten
 

Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut.

Wilhelm Busch
 

„Nein!" Opachos entsetzter Ausruf hallte durch das von Stille erfüllte Stadion. Der Junge stand vor Ren, die Augen geweitet und auf die Klinge von Rens Donnerschwert gerichtet, welche Millimeter vor seinem Hals schwebte. „Das geht nicht. Ich wollte doch für Meister Hao gewinnen!"

Rens Gesicht war eine Maske aus Emotionslosigkeit. Während er starr auf Opacho hinabblickte, verstärkte er den Griff um das Schwert. Die Klinge berührte Opachos Hals und Ren zeigte keine Regung, als Panik sich in Opachos Blick schlich. In einer sich wiederholenden Litanei wiederholten sich in deinem Kopf die Worte Er ist einer von Haos Handlangern – er ist einer von ihnen und spürte, wie die zurückgedrängt Wut auf Hao kurz davor war, sich stattdessen auf Opacho zu fixieren. Er stand kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, die Hand, mit der er das Schwert hielt, zitterte unkontrolliert. Ren sah Opacho schwer schlucken, als er dem Hass in seinen eigenen Blick begegnete.

„Ren!"

Er wandte den Kopf und folgte dem Ausruf. In der ersten Reihe auf den Tribünen erspähte er Yoh, der aufgestanden war. Selbst bei der Distanz, die zwischen ihnen lag, konnte er dessen eindringlichen Blick sehen. Yoh schüttelte den Kopf und seine Lippen formten zwei Wörter: ,Lass es!'

Sie wirkten wie ein Schlag auf Ren und holten ihn augenblicklich in die Realität zurück. Sein Kopf ruckte nach vorne und nun sah er wieder klar. Vor ihm stand keine bloße Marionette Haos, sondern ein verängstigter Junge, der nur durch seine Naivität auf der falschen Seite stand. Langsam ließ er das Schwert sinken und wandte den Blick ab. „Verschwinde", sagte er leise und kehrte Opacho den Rücken.

„Was?" Der Junge verstand nicht.

Verschwinde! ", wiederholte Ren nun eindringlicher, ohne ihn anzusehen. Sekunden verstrichen, dann verschwand Opaco im Nichts.

Calim atmete erleichtert aus. Er hatte als Schiedsrichter nicht eingreifen dürfen, nur im absoluten Ernstfall. Er blickte dankbar zu Yoh, welcher sich wieder gesetzt hatte, dann erhob er die Stimme: „Und der Gewinner des ersten Kampfes der dritten Runde ist Tao Ren!"

Das Publikum begann zu Klatschen und zu Jubeln. Ren zeigte sich unbeeindruckt davon, rammte die Spitze seines Schwertes in den Boden und stützte sich schwer atmend dann darauf ab. Opacho war stark gewesen, er hatte ihn unterschätzt.

„Ren, he." Er hob den Blick und sah Yoh und die anderen auf sich zukommen. „Das war ein klasse Kampf", lobte ihn der Japaner grinsend, keine Spur des Ernstes mehr in seiner Mimik, stattdessen begleitet von einem Lächeln.

„Wirklich nicht schlecht", stimmte Anna ihrem Verlobten zu, woraufhin fassungslose Blicke sie trafen. „Was ist?", fragte sie und verzog den Mund. „Ist Lob verboten?" Einstimmiges Kopfschütteln folgte.

„Du warst toll, Ren." Der Schwarzhaarige sah nach rechts und seine Gesichtszüge entspannten sich. Seine Schwester lächelte ihn an. Hinter ihr standen Tamao und Pirica. Ren spürte, wie ihm bei ihren Worten warm wurde und blickte rasch zur Seite. Danke“, nuschelte er peinlich berührt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ryu und Manta sich verstohlene Blicke zuwarfen und grinsten.

„Wo sind Horohoro und Chocolove?", fragte Ren schnell, um das Thema zu wechseln.

„Das wissen wir nicht“, gestand Yoh und blickte nachdenklich in de Himmel.

„Wir haben sie nicht gesehen", schloss Manta sich Yoh an und Ryu nickte zustimmend. „Aber wir gehen davon aus, dass sie trainieren.“

„Ich habe sie gesehen", wandte Pirica ein. Alle sahen sie an. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, fragte Manta.

„Kurz nachdem der Kampf angefangen hat, habe ich Horohoro dort oben beim Eingang gesehen." Pirica deutete auf das Tor. „Er hat sich umgeblickt, sich dann umgedreht und ist gegangen. Chocolove ist ihm hinterher. Ich dachte", sie stockte und ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Wenn sie noch nicht zurück sind - Ich dachte Horohoro wollte sich nur noch was zu Essen holen und Chocolove auch.“ Sie betrachtete Manta besorgt. „Was meinst du mit Training?“

„Wir dachten“, begann Manta langsam, „sie würden für ihre Kämpfe trainieren, weil Yoh Horohoro vorhin auch gesehen hat und er ihm gesagt hat, er müsse etwas erledigen. Aber das erklärt nicht, warum er trotz allem zum Stadion kommt und anschließend wieder verschwindet.“

„Vielleicht sind sie ja auch schon wieder zurück im Haus", versuchte Jun die allgemeiner Verwirrung zu schlichten. Ren atmete tief ein, zog schließlich das Schwert aus der Roten Erde und befestigte es an seiner Hose. „Ihr macht euch zu viele Gedanken“; bemerkte er knapp und ging vor. Alles, was er jetzt wollte war Schlaf, obwohl er nicht wusste, ob er selbst nach diesem Nervenaufreibenden und Kräftezehrenden Kampf ein Auge zutun konnte.
 

„Oh, ist der Kampf etwa schon zu Ende?" Vor dem Stadion trafen sie auf Faust und Eliza, die ihnen eng umschlungen entgegenkamen. Faust schien merklich überrascht.

„Der Kampf hat vor einer Stunde angefangen", klärte Yoh ihn auf.

„Tatsächlich?", fragte Faust erstaunt. „Und wir dachten, er wäre wohlmöglich verschoben worden. Horohoro und Chocolove sind uns nämlich entgegen gekommen, als wir vor einer Stunde aufgebrochen sind, darum unsere Annahme."

„Wohin sind sie gegangen?“, fragte Pirica und man sah ihr die Sorge nun deutlich an.

Faust hob die Hand und deutete zur Seite. „Dorthin. Doch sie sagten nicht, was sie vorhatten. Dort hört das Dorf immerhin auf.“

„Der Wald liegt in dieser Richtung“, sagte Yoh und alle Blicke richteten sich auf ihn.

„Der Wald?", wiederholte Ryu. Ren verschränkte die Arme und atmete aus. Was wollten Horohoro und Chocolove ausgerechnet im Wald? Dort gab es nichts, zum Trainieren eignete er sich alles andere als gut. Und weswegen sollten die beiden überhaupt trainieren, während zur selben Zeit ein Kampf stattfand. Das ganze Geschehen stank zum Himmel. Wald. Er wusste, er übersah etwas. Es gab einen Grund, eine Lösung, die Mit dem Wald verbunden war. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Hao! Sein Lager war im Wald. Sein Stützpunkt befand sich im Wald. Silva hatte es ihnen gesagt, daher wussten sie es. Schlagartig wurde ihm der ernst der Situation bewusst und er biss sich auf die Lippen, um nicht laut Aufzustöhnen. Diese Wahnsinnigen!

„Leute, schön euch zu sehen." Lyserg hatte sich zu ihnen gesellt.

„Lyserg, hi", grinste Yoh fund sein Lächeln wurde eine Spur breiter, sein Blick weicher. Lyserg hob grüßend die Hand. „Wie war der Kampf? Ich konnte leider nicht rechtzeitig kommen."

„Er war toll, Lyserg", sagte Ryu, sichtlich froh darüber, seinen Schützling zu sehen. „Du hast aber nicht zufällig Horohoro und Chocolove gesehen?“

Lyserg stutzte. „Nein, nicht dass ich wüsste.“

Ren machte unbemerkt ein paar Schritte zurück, bis er hinter der Gruppe stand. Niemand nahm Notiz davon. Kurz zögerte er, dann lief er los. Er merkte nicht, das Yoh ihm als einziger hinterher blickte, bevor er seine Aufmerksamkeit seufzend auf die anderen richtete, deren Aufmerksamkeit auf Lyserg ruhte. Yoh wusste, sie würden Rens Fehlen bald bemerken und er selbst war sich nicht wirklich sicher, ob es ratsam war, den Chinesen auf eigene Faust handeln zu lassen.

Er würde es später vielleicht bereuen, doch er kannte Ren und wusste, dass dieser sich nur äußerst ungern davon abhalten ließ. Erneut seufzte er und sein Blick fiel auf Lyserg, der in den letzten Minuten mehr und mehr von Ryu in Beschlag genommen worden war. Obgleich seiner Sorgen um Rens Handeln dachte er an den Grund zurück, warum Lyserg wieder ein Teil ihrer Gruppe war.
 

~
 

Dieser Grund lag genau drei Tage zurück. Er fand seinen Ursprung bei dem vorletzten Kampf der zweiten Runde. Team Asakura hatte gegen das Team X-Law antreten müssen. Während des gesamten Kampfes hatte Lyserg Yoh hasserfüllt angestarrt, bis es ihm ab einem Punkt zuviel geworden war. Er war, den Kampf ignorierend, entgegen seiner Natur regelrecht auf den Engländer losgegangen, hatte ihn an den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und angeschrieen, dass es ihm egal war, ob Lyserg ihn hassen würde oder nicht, denn er würde ihn immer als Freund ansehen, selbst wenn Lyserg, in ihm nur den

Zwillingsbruder Haos sehen würde.

Niemand hatte Yoh je so außer sich erlebt und Lyserg selbst hatte ihn nur wortlos angestarrt, ob es nun wegen des Ausbruchs oder der Frustration in seiner Stimme. Als Marco dann jedoch ungeachtet der Situation seine Waffe auf Yoh gerichtet und angegriffen hatte, hatte Lyserg sich dazwischengestellt und den Angriff abgewehrt. Marco hatte ihn mit einem undeutbaren Blick lange gemustert, bevor er seine Brille hochgeschoben und sich zu der eisernen Jungfrau Jeanne umgedreht hatte. Aufihren Lippen ruhte ein trauriges Lächeln, bevor sie sich an oh richtete:

„Ich muss gestehen, ich habe mich in dir geirrt, Asakura Yoh. Du hast ein reines Herz, du bist nicht von Hao besessen. Mir scheint, wir alle haben uns girrt. Wir X-Laws legen die Mission, Hao zu besiegen, nun in deine Hände. Und du, kleiner Lyserg, folge deinem Herzen, aber du bist bei uns X-Laws immer willkommen." Nach diesen Worten, hatte sich umgedreht und mit Marco das Stadion verlassen, woraufhin Silva den Sieg von Team Asakura verkündet hatte. Seitdem gehörte Lyserg wieder zu ihnen, obwohl es ihm am Anfang sichtlich schwer gefallen war, sich von neuem in ihre Gruppe einzugliedern. Dennoch hatte er rasch feststellen müssen, dass jeder von ihnen seinen Verrat behandelte, als habe er nie wirklich stattgefunden und Yoh erinnerte sich mit Belustigung an Rens erste an Lyserg gerichtete Worte zurück: ‚Wenn du noch länger mit diesem Gesichtsausdruck durch das Dorf rennt, wird man noch meinen, wir würden dich zwingen, bei uns zu sein. Es reicht schon, wenn ich das tue.’ Diese Worte waren wie ein Auslöser und Lyserg hatte rasch zu seinem alten Selbst zurückgefunden, ebenso wie sich das Verhalten aller untereinander merklich gelockert hatte.
 

~
 

Yoh spürte minutenlang das nagende Gefühl der Sorge, angesichts des Wissens, dass Ren alleine losgezogen war. Ryu war schließlich der erste, der Rens Verschwinden bemerkte und Yoh dadurch gleichsam die Last von den Schultern nahm. „Wo ist denn unser Gewinner?"

Auch Jun drehte sich um, ebenso wie die anderen, auf der Suche nach ihrem Bruder. „Du hast Recht. Wo ist Ren?"

„Im Wald", antwortete Yoh, den Blick abwesend in den Himmel gerichtet. „Genau wie Horohoro und Chocolove.“ Neben ihm erschien Amidamaru. /Warum sollte er ihnen folgen? Sie sind doch bloß im Wald. Es sein denn -/ Der Schutzgeist brach ab, als er den Zusammenhang verstand und schwieg betroffen. Yoh nickte zustimmend. „Du weißt, wer im Wald sein Lager aufgeschlagen hat."

„Was ist mit ihnen? Wer ist im Wald?", fragte Pirica besorgt, umschlang sich benommen mit ihren Armen und erweckte den Eindruck, als würde sie frösteln.

Yoh blickte auf. Nun hatte er keine andere Wahl mehr. Er hätte Ren von Anfang an folgen sollen, wie hatte er nur für einen Moment annehmen können Ren währe ihm wohlmöglich gewachsen?! Bei allen Schutzgeistern, Ren hatte einen Kampf hinter sich - er war erschöpft und hatte nur noch wenig Furyoku. Yoh konnte seine eigene Leichtsinnigkeit nicht nachvollziehen. Sie musste sich beeilen.

„Ryu, Faust, Lyserg, ihr kommt mit. Wir folgen ihm. Und ihr anderen", er richtete sich an die Übrigen, „ihr geht bitte zum haus zurück. Wir holen sie, macht euch keine Sorgen." Er klang so entschlossen, dass ihm keiner widersprach, obwohl er selbst sich alles andere als vollkommen überzeugt fühlte. Anna war die einzige, der seine Sorge aufzufallen schien, denn ihr skeptischer Blick ruhte für Sekunden auf ihm, bevor sie Manta, Tamao, Pirica, Jun, sowie Li Pyron gebot, ihr zu folgen. „Sie wissen schon, was sie tun.“

„Kommt, Jungs." Yoh lief los, und hörte die Schritte der anderen hinter sich. Sie wirkten verwirrt, dennoch widersprachen sie nicht, denn sie wussten, wenn er derart reagierte, meinte er es mehr als ernst.

/Weißt du auch, wo du hin musst?/, fragte Amidamaru, welcher dicht neben Yoh schwebte. „Ja", keuchte der Japaner im Laufen. „Ich war schon mal da, kurz vor seinem Kampf gegen die Lee-Mädchen. Du weißt schon, ich wollte mit ihm sprechen und ihm sagen, dass er ihnen nichts tun sollte. An dem Tag bin ich Hao im Wald begegnet." Yoh hatte ein schlechtes Gefühl. Etwas in ihm sagte ihm. Dass diese Nacht etwas geschehen würde.
 

oOo
 

Ren blieb unvermittelt stehen. „Bason." Seine Stimme war schneidend.

/Ja Meister?/ Die Gestalt des Kriegers erschien neben ihm, Ren blickte ihn jedoch nicht an. „Warum ist Horohoro bei Hao? Welchen Grund hat sein Handeln?"

Basons Gesichtsausdruck gefror. /Meister, ich -/

„Hast du es ihm gesagt?"

/Du weißt, dass ich nur dein Bestes will./

„Ich hab dich etwas gefragt, Bason. Antworte, hast du es ihm gesagt?!" Rens Stimme bebte vor unterdrückter Wut.

/Nicht direkt, aber -/, gestand Bason, wurde jedoch von Ren unterbrochen, bevor er in der Lage war, sich zu rechtfertigen. „Sei still. Ich hatte dir befohlen, niemandem etwas zu sagen. Du hast dich meiner Anweisung widersetzt."

/Meister, du verstehst nicht. Er hat -/

„Oh, ich verstehe sehr wohl." Ren griff in seine Tasche und Bason erstarrte. Rens Blick ruhte auf der Todestafel in seiner Hand, dann richtete er ihn wieder auf den Krieger. „Ich verlange, dass du in die Tafel zurückkehrst.“

/Aber Meister -/

„Bason. In die Todestafel! Das ist ein Befehl!"

Basons Haltung fiel in sich zusammen. /Wie du befiehlst, Meister./ Langsam löste er sich auf und verschwand in dem schwarzen, kalten Stein der Tafel. Ren betrachtete sie und einige Sekunden zeigte sich Enttäuschung in seinen Augen. „Ich dachte, ich könnte dir vertrauen." Dann verhärtete sich sein Blick und mit einer schnellen Bewegung verschwand die Tafel wieder in seiner Hosentasche. Schließlich lief er weiter. Wenn euch etwas zugestoßen ist, bekommt ihr es mit mir zu tun!
 

Schon von weitem konnte er die Schreie hören. Schreie, einer ihm nur allzu vertrauten Person, ebenso wie das arrogante Lachen einer anderen, verhassten Person. Rens Schritte wurden länger. Horohoro, dieser einfältige dumme ... Idiot! Hoffentlich ging es ihm gut. Durch die Baumreihen erspähte er Licht. Er verlangsamte seine Schritte und spähte durch das Dickicht. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Chocolove und sein Schutzgeist versuchten verzweifelt an den Haos Schamanen vorbeizukommen, um zu Horohoro zu gelangen, doch selbst die Riesengeistkontrollen brachte ihm nichts.

Horohoro selbst stand keuchend und mit etlichen Kratzern und Schrammen versehen vor Hao, der nicht einmal außer Atem zu sein schien. Das Stirnband des Ainus lag zerrissen auf dem Boden, Strähnen seines gelösten Haares hingen ihm ins Gesicht. Er umklammerte mit beiden Händen das Ikupasi wie ein Schwert und wehrte verbissen Haos Attacken ab.

„Bist du etwa schon am Ende?", höhnte Hao.

„Das - hättest", keuchte Horohoro, schnappte nach Luft und setzte erneut zum Sprechen an. „Das hättest du ... wohl gerne!"

„Gib auf!", riet ihm Hao und ein überlegenes Lächeln glitt über seine Züge. „Du kannst doch kaum noch stehen.“

„Niemals!"

„Dann lässt du mir keine andere Wahl", bemerkte Hao mit affektiertem Bedauern. Er schnippte mit dem Fingern und der Geist des Feuers holte zum vernichtenden Schlag aus.

„Hao, hör auf!“

Die Handlung fror ein. Die Faust des Geist des Feuers war knapp vor Horohoro erstarrt, selbst Chocolove und die anderen Schamanen hatten innegehalten. Ein triumphierendes Lachen entwich Haos Kehle. „Oh, was für eine Überraschung. Wir haben eben noch von dir geredet."

Horohoro war wie gelähmt. Wieso musste Ren ausgerechnet jetzt kommen, wo er doch gerade so kläglich gegen Hao verlor?! Er war so ein Versager. Selbst für Ren hatte er Hao nicht besiegen können! Langsam und mit viel Überwindung zwang er sich dazu, sich zu Ren umzudrehen Der Chinese zielstrebig auf ihn zu.

„Was" - Horohoro hustete - „was willst du hier, Ren?"

Rens Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Sei still und verschwinde von hier!“, fuhr er ihn im Vorbeigehen an, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Horohoro zuckte zusammen und sah auf den Boden. In diesem Moment fühlte er sich wie der letzte Verlierer. „Ich wollte nur, dass ... ich wollte doch nur ..."

„Erspar mir das", unterbrach Ren seine Erklärung und ging an ihm vorbei auf Hao zu. Wenige Meter vor ihm blieb er stehen. „Lass ihn in Ruhe Hao."

Dieser grinste breiter und kam Ren entgegen. Als sie auf gleicher Höhe waren und nebeneinander standen, blieb er stehen, seinen Blick in den Sternenklaren Himmel gerichtet. „Und wenn ich es nicht tue?"

Ren drehte den Kopf nach links und starrte Hao von der Seite her wütend an. „Treib es nicht zu weit", zischte er leise. „Du wirst mich so nicht auf deine Seit ziehen können, akzeptier das!“

Hao lachte leise und blickte ebenfalls zur Seite. Seine Augen blitzten Ren amüsiert an. „Was denn? Du drohst mir? Noch dazu bsit du so anmaßend, mir Anweisungen zu geben?" Er senkte seine Stimme. „Hast du schon vergessen, dass ich dich in der Hand habe?"

Ren verengte seine Augen zu Schlitzen, verbiss sich jedoch die nächste Erwiderung. Triumphierend glommen Haos Augen auf. „Wo bleibt denn deine berühmte Antwort? 'Ich lasse mich nicht erpressen!' Ren, ich habe keine Lust mehr auf Spiele, ich will eine klare Antwort. Entscheide dich: Schließ dich mir an oder ich eliminiere den Ainu."

„Was?!", entfuhr es Ren fassungslos.

Hao sah ihn durchdringend an. „Du hast zehn Sekunden.“

„Das kannst du nicht machen!“ Rens wurde unruhig, sein Blick ruhte aufgewühlt auf Hao und suchte nach ANzichen dafür, dass seine Worte nur eine weitere Lüge, ein weiteres Siel waren. Doch er traf nur auf eine gefährliche Dunkelheit in Haos Blick, die Panik in ihm aufkommen ließ. Er hatte keinen Zweifel an dem, was sein verstand ihm sagte, doch seine Gefühle wiesen ihn in die Entgegengesetzte Richtung. Er würde es sich nie verzeihen, wenn Horohoro seinetwegen etwas passieren würde, aber er konnte sich ebenso wenig Haos anschließen.

„Fünf Sekunden." Haos Worte waren wie Gift.

Er konnte es nicht. Es war falsch. Er würde es nicht schaffen. Er konnte es nicht schaffen. Er verkrampfte sich, drängte die Zweifel zurück, als ihm vollends bewusst wurde, dass Hao bereit war, Horohoro zu töten, dass er bereit war, ebenso Chocolove zu töten und dass er von Anfang an keine Wahl gehabt hatte, dass Hao es die ganze Zeit so hatte aussehen lassen, jedoch nur mit ihm gespielt hatte, um die Niederlage in seinem Blick nun voller Genugtuung genießen zu können.

Ren öffnete den Mund, alles in ihm weigerte sich, doch er ignorierte es, ignorierte den bitteren Geschmack des Verrats. „Ich tue es."

„Ren." Horohoro Stimme war nicht mehr als ein angestrengtes Krächzen. Er hatte Rens Worte nicht gehört, einzig Hao hatte die mit Bitterkeit und Schmerz gefüllten Worte vernommen. Das grausame Lächeln auf seinen Lippen war Bestätigung genug und Ren spürte, wie der Selbsthass wuchs, je länger er Haos Blick erwiderte, in dem Wissen, das Horohoro und Chocolove jeden Moment bewusst werden würde, zu was er von diesem Moment an geworden war: Ein Verräter.

„Kororo“, hörte er Horohoros Stimme hinter sich, deutlicher als je zuvor, obgleich sie doch Meter voneinander trennten. Vielleicht war es die Befürchtung, dass es das letzte Mal war, dass er die Stimme voller Hass auf ihn hören würde, vielleicht war es das Adrenalin, dass durch seinen Körper peitschte. „In das Ikupasi.“ Er hörte, wie Horohoro sie aufrichtete und mit einem Blick in Haos Gesicht wusste er, was er tun sollte, bevor Hao es aussprechen musste.

Schnelle Schritte kündigten Horohoro an, das Splittern und knacken von Eis verriet, was er vor hatte und Ren wusste, wenn er nicht tat, was Hao verlangte, würde Horohoro sterben. Her und jetzt. „Ren, geh beiseite!“, rief Horohoro hinter ihm, holte mit seiner Waffe aus und zielte direkt auf Haos Herz, bevor er mit einem Schrei zustach.
 

„Horohoro, Chocolove, Ren!" Yoh, Lyserg, Ryu und Faust erreichten die Lichtung, als eine Explosion den Wald beben ließ. Schnee und Eiskristalle peitschten durch die Luft, erschwerten das Atmen und endlose Sekunden verstrichen, bevor der Nebel aus gesplittertem Eis, Wasser und Staub sich legte. Yoh öffnete den Mund, doch kein Laut entwich seiner Kehle, als die Erkenntnis ihn übermannte.
 

„W-wie?", stieß Horohoro fassungslos hervor, während er zu realisieren versuchte, was geschehen war. Hao lächelte zufrieden. Er begegnete Rens unbewegtem Blick und spürte Zorn und Nichtverständnis in sich aufwallen, bevor sie ihn wie eine heiße Welle trafen. „Ren, was zum ... was tust du?!“, stieß Horohoro ungläubig hervor. „Was ist in dich gefahren?!“

Doch Ren reagierte nicht auf seine Worte, presste stattdessen die Klinge des Schwertes stärker an Horohoros Hals. Diesem Stockte der Atem als er ein Brennen und danach etwas Warmes seinen Hals hinab laufen spürte. Das konnte doch nicht sein. Das durfte einfach nicht sein! Das Ikupasi entglitt seinen Fingern und fiel zu Boden.

„Das ist nicht dein Ernst", flüsterte er und suchte Rens Blick. Zu seinem Schrecken stieß er dort jedoch nur auf Kälte und Hass.

„Geh", sagte Ren eindringlich und kalt, blickte ihn weiterhin durchdringend an.

„Du machst doch nur Witze."

„Geh", wiederholte Ren.

„Lass es Ren. Hör auf."

Geh!

Horohoro schreckte zurück, stolperte und fiel auf den Boden. Mit geweiteten Augen blickte er zu Ren auf. Unglaube, und Schmerz lagen in seinem Blick. Ren lächelte hämisch. „Ich bin jetzt keiner mehr von euch. Ich gehöre zu Haos Team."
 

oOo
 

„Es ist geschehen", sagte Jeanne, die eiserne Jungfrau. Sie hatte Marco den Rücken zugewandt und die Hände wie bei einem Gebet gefaltet hatte. „Das Unvermeidbare ist eingetroffen. Es hat sich ereignet."

Marco schob seine Brille nach oben und hob beunruhigt die Augenbrauen. „Und es ließ sich nicht verhindern?" Er saß wie Jeanne inmitten ihrer wallenden Haarpracht, welche ihr über den Rücken fiel, den Kopf schüttelte. „Nein, es war vorbestimmt, dass es so kommt. Dass er so handelt. Niemand hätte es verhindern können."

Erneut schob Marco die Brille hoch, bevor er seufzte, sie absetzte und sich fahrig über die Augen strich. Von nun an würde es noch schwieriger werden.
 

oOo
 

„Der Schamanenrat muss eingreifen, Godva!"

„Nein, nur im allergrößten Notfall."

„Aber das hier ist ein Notfall!" Sliva war bemüht, den Mann nicht anzubrüllen, aber er beherrschte sich. Doch Godva blieb hart und starrte stumm auf den flimmernden Bildschirm, auf dem sich das eben geschehene auf der Lichtung wiederholte. Kurz schloss Godva die Augen. „Wir werden nicht eingreifen. So lautet der Wille des Schamanenkönigs."
 

oOo
 

„Nein", entfuhr es Yoh. Er starrte Ren bestürzt an. Sein Gefühl hatte ihn nicht betrogen, sein Zögern hatte alles nur verschlimmert! Auch die anderen waren nicht minder entsetzt.

Horohoro Blick war starr. „Nein!", flüsterte er heiser, Trotz und Nichtglaube sichten sich ihren Weg in seine Stimme.

„Doch." Rens Stimme ließ die Temperatur um sie herum noch um einige Grade sinken.

„Nein", wiederholte Horohoro. „Du lügst doch!"

„Ich lüge nie", stellte Ren sachlich fest.

„Doch, du tust es jetzt!!", schrie Horohoro ihn und versuchte sich aufzurappeln, fiel jedoch wieder zurück.

„Nein." Ren ließ seinen Blick kurz über seine ehemaligen Freunde streifen, dann drehte er sich ruckartig um und wandte den anderen seinen Rücken zu. „Geht mir aus den Augen."

Langsam löste Yoh sich der Reihe. Neben Horohoro ging er in die Hocke, legte sich dessen Arm um die Schulter und zog ihn behutsam hoch. Horohoro ließ dies ohne Widersprüche mit sich machen, den Blick stumm auf Ren gerichtet. Kororo griff mit einer Hand nach dem Ikupasi, bevor sie sich auf Horohoros Schulter niederließ und sich an ihn schmiegte, das Stück Holz fest umklammernd. Yoh stützte ihn und dirigierte ihn auf den Waldrand zu. Er bedeutete Chocolove ihm zu folgen, was dieser nach einigem Zögern und einem unsicheren Blick auf Ren widerstrebend tat, doch nicht ohne die Nachdrücklichkeit seines Leoparden, welcher ihn mit seiner Nase beständig anstupste und voran schob.

„Geht schon", sagte Yoh eindringlich zu Ryu, Faust und Lyserg, die sich widerstrebend umdrehten und im Wald verschwanden. Kurz bevor Yoh mit Horohoro das Dickicht erreichte, kehrte das Leben in den Körper seines Freundes zurück. Er riss sich von Yoh los und wirbelte herum. Hasserfüllt starrte er Rens Rücken an. „Ich kann nicht fassen, dass du uns die ganze Zeit betrogen hast!“

Ren reagierte nicht auf die Worte Horohoros, was den Ainu nur noch rasender Machte. Hätte er das Gesicht des Chinesen gesehen hätte, hätte er erkannt, dass Ren um seine Beherrschung rang, doch so blieb dieses Vergnügen nur Hao vorbehalten, welcher die Situation vollends auskostete.

„Horohoro, lass gut sein", wandte Yoh ein und griff nach Horohoros Arm.

Hao begann zu lachen. Er legte Ren eine Hand auf die Schulter und grinste Yoh triumphierend an. „Mein verehrter Bruder, hier siehst du, was dir deine Freundschaft bringt! Dein treuester Freund ist jetzt auf meiner Seite, wie gefällt dir das?" Ren warf einen flüchtigen Blick über seines Schulter.

Horohoro, der versucht hatte sich aus Yohs Griff zu befreien, erstarrte. Irgendetwas hatte einen Moment lang in Rens Blick gelegen, was er bis jetzt noch nie bei dem Chinesen gesehen hatte. Doch kaum hatte dieser Gedanke es geschafft, ihn zu irritieren, kehrte die Verachtung in Rens Gesicht zurück und Horohoro zweifelte. Eine Einbildung, resultierend aus dem Wunsch, dies alles wäre nur ein schlechter Albtraum.

„Gehen wir", flüsterte Yoh und zog ihn in den Wald. Ohne sich noch einmal umzudrehen verschwanden sie zwischen den Bäumen und folgten den anderen. Während sie mit gesenkten Blicken zurück schlichen war Yoh mit etwas anderem beschäftigt.

Wie sollten sie das nur jemals Jun beibringen?

Verletzt

6. Kapitel: Verletzt
 

Liebe sei auch, den Schmerz des anderen zu spüren, nicht immer nur den eigenen.
 

Ren hatte die Hände zu Fäusten geballt und den Blick gesenkt. Hao verschränkte die Arme und lachte gehässig. „Meinen Glückwunsch. Du hast heute Abend nicht nur Opacho geschlagen", er deutete auf den Jungen, der am Feuer saß und stumm hineinblickte, „du bist von nun an auch vollwertiges Mitglied meines Schamanenkönigreichs."

Ren spürte Haos Hand auf seiner Schulter, schwer wie Eisen und knurrend schlug er sie beiseite. „Fass mich nicht an!"

Hao lachte abfällig. „Du scheinst gereizt. Woran mag das nur liegen? Kann es sein, dass es daran liegt, dass du soeben jeden deiner Freunde verraten hast?“

Ren starrte ihn hasserfüllt an, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung zwischen den Bäumen verschwand, das grausame Lachen Haos noch lange in den Ohren. Seine Schritte wurden schneller und länger, bis er schließlich rannte. Minuten, Stunden schienen zu verstreichen, bis er schwer atmend stehen blieb. Seine Lungen brannten, ein Stechen zog sich durch seine Seiten. „Verdammt!" Seine Knie gaben nach und er sank auf den Waldboden. „Verdammt!“, wiederholte er und schlug mit den Fäusten auf den kalten Boden, empfing den Schmerz, der seine Arme hinauf schoss, mit Zufriedenheit. Er verfluchte seinen Ausbruch, verfluchte seinen Kontrollverlust und alles auf dieser Welt.

Als Erbe der Taos hatte man ihn gelehrt, dass Kontrollverlust gleichbedeutend mit einer Niederlage war. Beides war unverzeihlich. Kontrollverlust bedeutete, dass er Gefühle zuließ. Trauer und Wut waren Gefühle, die er beherrschen musste.

Gefühle bedeuteten Schwäche. Schwäche bedeutete Vernichtung.
 

‚Zerstöre oder du wirst zerstört!'
 

Rens Augen weiteten sich, als er sich an die Worte erinnerte, die seine Erziehung maßgeblich beeinflusst hatten.
 

‚Zerstöre oder du wirst zerstört!'
 

Er schüttelte den Kopf. Krallte die Hände in seine Haare, wollte vergessen.
 

‚Zerstöre oder du wirst zerstört!'
 

„Sei still!“ Die Geister seiner Vergangenheit drohten ihn heimzusuchen, er schloss die Augen, wollte die Schmerzen, die Trauer, den Verrat vergessen. Die Todestafel von Bason rutschte aus seiner Tasche, fiel auf den Boden und begann zu glühen.

„Sei still ... lass mich einfach in Ruhe!“

/Meister./ Das Glühen wurde stärker, Ren nahm es nicht wahr. /Meister Ren./ Das Leuchten erfüllte die Umgebung. Bason zögerte, widersetzte sich dann jedoch dem Befehl Rens und verließ die Tafel von sich aus. Betroffen viel sein Blick auf das, was von seinem einst so stolzen Meister übrig geblieben war. Traurigkeit spiegelte sich in Basons Gesicht wider. Erst Jen und nun Hao – in Rens Leben würde es immer jemanden geben, der ihn seines Willens berauben würde. Zögernd näherte er sich Ren. /Meister. Es ist alles gut./

Ren zuckte zusammen. „Bason?“, flüsterte er und sah auf. Der Krieger zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln, obgleich ihm momentan nichts ferner lag, als zu lächeln. /Du bist nicht alleine./ Es bereitete ihm Schmerzen, Ren so zu sehen. In seinem Blick lag Hoffnungslosigkeit und Angst. „Bason“, es schien ihn Überwindung zu kosten, seinem Schutzgeist in die Augen zu sehen, „Bason, ich hab doch richtig gehandelt, oder? Sag mir, dass ich das Richtige getan habe.“

/Ja Meister. Du hast das Richtige getan/, versuchte Bason ihn zu beruhigen. /Das war sehr selbstlos von dir./

„Sie werden mich hassen."

/Nein./

„Doch, werden sie. Ich habe sie verraten. Aber vielleicht ist es richtig so. Sie müssen mich hassen. Vielleicht ist es mir, dem Oberhaupt der Taos, nicht gestattet ein normales Leben zu führen.“ Ren schluckte, „Ich will nicht, dass Jun mich hasst. Horohoro hat mich ohnehin nie wirklich gemocht, darum trifft es ihn nicht so schwer, aber nicht auch noch Jun."

/Meister Ren./

Ren lehnte sich an einen Baum, zog die Beine an sich, schlang die Arme um sie und bettete seinen Kopf auf seine Knie. „Vielleicht ist es ja gut so. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen. Ich muss einfach stark bleiben."
 

oOo
 

Betroffenes Schweigen erfüllte den Raum, niemand sprach ein Wort. Jun hatte das Gesicht in den Händen vergraben, Li Pyron hatte ihr tröstend von hinten die Hände auf die Schultern gelegt. Die anderen saßen stumm um den runden Tisch. Pirica nahm ihren Blick keine Sekunde von ihrem Bruder. Es schien nicht mehr er selbst zu sein. Horohoro war von Faust nach ihrer Ankunft versorgt worden. Nun wurde ein Großteil seiner Haut von Verbänden und Pflastern verdeckt und man hatte ihm eine Decke um die Schultern gelegt. Krampfhaft umklammerte Horohoro die Tasse Tee in seinen Händen und starrte mit ausdruckslosem Blick auf die heiße Flüssigkeit. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, kamen nicht über die Frage des Warums hinaus und er wurde zunehmend unruhiger.

„Das darf doch nicht wahr sein!" Er knallte die Tasse auf den Tisch, sodass ein großer Teil ihres Inhalts überschwappte. Ruckartig erhob er sich, ignorierte die verwunderten Blicke der anderen und verließ den Raum. „So ein verdammter Idiot!", hörten man ihn fluchen, dann folgten seine Schritte auf der Treppe, bevor sie schließlich verklangen.

„Horohoro!", rief Pirica ihm hinterher und wollte ihm folgen, doch Yoh hielt sie fest. Er schüttelte den Kopf und gebot ihr, sich wieder zu setzen. „Du solltest ihn lassen. Er braucht Zeit für sich.“

„Würdet ihr de Freundlichkeit besitzen, uns eine Erklärung zu geben genau im Wald passiert ist?", fragte Anna schließlich.

Yoh seufzte. Von Jun erklang ein unterdrücktes Schluchzen.
 

Geschlagen ließ Horohoro sich auf sein Futon fallen und vergrub sein Gesicht fest im Kissen. Viel länger hätte er es dort unten auf keinen Fall ausgehalten! „Ren, du bescheuerter, dämlicher ... dummer Dummkopf!", nuschelte er in das Kissen und fluchte erneut.

Seine Hand wanderte zu dem Pflaster an seinem Hals. Dort hatte Ren ihm mit seinem Schwert in die Haut geritzt. Er hob den Kopf. Seine Augen brannten fürchterlich. Er konnte damit leben, dass Ren ihn verletzt hatte, doch es war der Blick, der ihn erschüttert hatte. Ren hatte ihn schon auf viele Arten angesehen, doch nie derart voller Hass. Warum sah Ren ihn so an?

Er spürte eine sanfte Bewegung neben sich. „Kororo?"

Sein Schutzgeist erschien vor ihm auf dem Kissen, das Ikupasi noch immer in den kleinen Händchen. Sie schwebte näher und legte es sachte vor ihm auf das Kissen, bevor sie sich daneben setzte und ihn aus verständnisvollen Augen anblickte. Das Brennen in seinen Augen nahm zu du Horohoro knurrte. Er wollte nicht heulen - nicht wegen Ren. Er wollte nicht, dass es so wehtat, an vorhin zu denken. Erneut presste er sein Gesicht in das Kissen, doch dieses Mal um den wütenden Aufschrei zu dämpfen, der sich seinen Weg aus seiner Kehle suchte.

‚Geh!’

Dieses Wort, das Ren ihm entgegen geschrieen hatte, hallte in seinem Kopf noch immer nach. Fest presste er die Augen zusammen, sah den verachtenden, hassenden Blick trotz allem weiterhin vor seinem inneren Auge.

‚Danke - dafür, dass wir Freunde sind.'

Er fuhrt hoch, als die Erinnerung ohne Vorwarnung zurückkehrte. Diese Worte hatte Ren einmal zu ihm gesagt. Doch warum dachte er ausgerechnet jetzt an den tag vor mehreren Monaten zurück. Vielleicht, weil er zu dem Zeitpunkt noch unter der Illusion gelebt hatte, Ren und er würden sich verstehen? Möglich.
 

~ Zwei Monate Vorher ~
 

„Ich will nicht."

„Komm schon, das macht Spaß."

„Nein."

„Du hast gestern aber ganz anders geklungen."

„Da stand ich neben mir, weil du mich unter dir begraben hattest.“

„Fällt dir nichts Besseres ein?"

„Sollte es?"

„Ist doch egal, du kommst jetzt mit. Und wenn ich dich dahin schleifen muss. Du lernst das heute!"

„Ich will aber nicht!"

„Pech gehabt!"

„Nerviger Schneemann.“
 

„Jetzt sei doch mal etwas lockerer!"

„Tut mir leid, dass ich ein bisschen verspannt bin, wenn ich kurz davor bin, mein Gleichgewicht zu verlieren!", fauchte Ren gereizt und krallte sich unbewusst an Horohoro Jacke fest. Dieser schüttelte nur den Kopf. „So wird das nie was. Streng dich doch mal ein bisschen mehr an."

„Ich wollte das hier eigentlich gar nicht."

„Fang nicht wieder an rumzumaulen!"

„Du hast mir gar nichts zu sagen, Schneemann!"

„Jetzt geht das wieder los ..."

„Wie war das? Sag das noch mal, du - ah!" Er hatte den Kampf um das Gleichgewicht verloren und fiel nach hinten in den Schnee. Horohoro blickte ihn einen Moment lang perplex, brach dann jedoch in haltloses Gelächter aus. Ren verzog missbilligend das Gesicht. „Wunderbar."

Prustend deutete Horohoro auf ihn. "Du ... ich glaub’s ja nicht - zum Schießen! Ich bräuchte einen Fotoapparat!"

„Idiot", murmelte Ren und wandte den Blick ab. „Hilf mir lieber auf."

Noch immer kichernd griff Horohoro nach Rens Arm und zog ihn hoch. Schwankend stand der Chinese wieder auf den Beinen. „Und du bist sicher, dass das Snowboard nicht einfach defekt ist?"

„Gib dem Snowboard nicht die Schuld. Es kann nichts dafür, dass du dich so ungeschickt anstellst, Ren.“

„Also ist es auch auf deine Unfähigkeit zurückzuführen, dass du gestern gestürzt bist?“

Horohoro überging diese Worte. „Vielleicht hast du genug Theorie und braucht mal ein bisschen Praxis?"

„Praxis? Du willst -? Nein. Oh nein! Ohne mich. Du schubst mich nicht von diesem Hügel!"

„Ach komm schon."

„Nein."

„Dir passiert schon nichts."

„Nein!"

„Nur ein Mal."

„Nein!"

„Ich fang dich auch im Notfall auf."

„Nei -", Ren stockte. "Was?!"

Horohoro grinste schief und fasste sich an den Hinterkopf. „Na ja, ich fang dich auf, wenn du fallen solltest."

Ren schwieg. Schließlich seufzte er. „Du lässt mir vorher ohnehin keine Ruhe. Wenigstens habe ich so eine kleine Absicherung.“

„Klasse, das wird super."

„Übertreib es nicht, Blauschopf."

„Tze.“

„Jetzt sei nicht gleich beleidigt."

„Pah!"

„Ach Schneemann.“

„Ach Spitzkopf.“

„Mach mich nicht nach.“

„Mach ich doch gar nicht!"

„Wir driften vom Thema ab."

„Mir doch egal!"

„Dann brauch ich also nicht zu fahren?"

„Oh doch!"

"..."
 

„Gut, soweit verstanden, Ren? Du fährst vor, ich bin direkt hinter dir. Nur für den Fall der Fälle." Ren nickte und warf einen Blick den Abhang hinab. Er schluckte. Dann gab Horohoro ihm unvermittelt einen Stoß und zu seinem Entsetzen bemerkte er, wie der Abhang immer näher kam. Er gewann zunehmend an Geschwindigkeit und versuchte sich, an Horohoros Worte zu erinnern. ‚Mach dir keinen Kopf, wie du es machst, sondern tu es einfach.' Er schaffte es tatsächlich, sein Gleichgewicht zu halten -

„Gut so Ren." Horohoro fuhr dicht neben ihm und grinste. Ren machte den Fehler, sich von ihm ablenken zu lassen. Es gab nur eine mögliche und eintreffende Folge: Gleichgewichtsverlust. Er fing bedrohlich an zu schlingern, wirbelte Schnee auf und schwankte immer stärker.

„Ren!" Horohoro handelte geistesgegenwärtig, bevor Ren fiel und packte ihn an der Jacke. Dadurch verlor er jedoch ebenfalls das Gleichgewicht und zusammen kippten sie zur Seite, fielen in den Schnee und schlitterten noch ein paar Meter weiter den Abhang hinab, direkt in eine Schneewehe. Sekundenlang war es still, bis Horohoro nach Luft schnappend den Kopf aus der überraschend hohen Schneewehe steckte. Er blickte sich um. „Ren?"

Keine Reaktion. War der Chinese wohlmöglich noch irgendwo in dieser Schneewehe? Was wenn er durch den Sturz ohnmächtig geworden war und nicht mitbekam, wie er erstickte? Horohoro spürte Panik in ihm aufwallen. Mit einer Hand tastete er blind im Schnee herum, bevor er ein Stuck Stoff zu fassen bekam und geistesgegenwärtig zog. Im nächsten Moment wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Das Stück Stoff konnte er nun eindeutig als Rens Jackenkragen identifizieren. Allerdings ließ sich der Blick, mit dem Ran ihn nun bedachte, nicht als freundlich bezeichnet werden. Hastig ließ Horohoro den Kragen los und fasste sich verlegen lachend an den Hinterkopf. „Oh, hallo Ren. Du hast dir hoffentlich nichts getan?"

Die Augenbrauen des Chinesen zogen sich bedrohlich zusammen. „Nein, habe ich nicht", knurrte er.

„Das freut mich!", versuchte Horohoro übertrieben fröhlich den Chinese zu beruhigen, was jedoch eher ins Gegenteil umschlug.

"Horohoro."

Der Angesprochen erstarrte. „Ja?", fragte er vorsichtig.

Ren hob eine Hand. „Wunder dich nicht, wenn ich mich jetzt ein wenig merkwürdig verhalte. Das ist wahrscheinlich nur eine 'Schockreaktion', als Folge dieses Unfalls, für den schon wieder du verantwortlich bist." Und mit diesen Worten legte er Horohoro die Hand an den Hinterkopf und drückte ihn mit dem Kopf voran in den Schnee. „Das ist dafür, dass ich deinetwegen schon wieder im Schnee gelandet bin!"

Prustend kam Horohoro wieder hoch, das Gesicht voller Schnee. Er funkelte Ren angriffslustig an. „Ach ja? Meine Schuld? Wer hat denn angefangen zu Schwanken, wie ein Betrunkener?!"

„Ich hätte mich schon wieder gefangen!"

„Träum weiter!“

Ren wandte den Blick ab. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich im Notfall wirklich auffangen würdest. Deshalb war ich etwas überrascht, als du nach meiner Jacke gegriffen hast." Zuerst war Horohoro über die Ehrlichkeit seiner Worte überrascht, dann grinste er. „Ich hab doch gesagt, dass ich im Fall der Fälle da bin. Hast du mir etwa nicht geglaubt?"

Ren schüttelte leicht den Kopf, woraufhin Horohoro die Augen verdrehte. „Ach ja, ich vergaß. Dem Erben der Taos hilft man ja nie. Deshalb ist er es nicht gewohnt. Ren, weißt du was? Wenn ich irgendwann in nächster Zeit mal wieder was von eurem Erbe-der-Tao-Dynastie-was-soviel-bedeutet-wie-Ren-darf-keine-Gefühle-zeigen-und-sich-somit-in-einen-Eisklotz-verwandeln-der-noch-kälter-ist-als-sämtliches-Eis-auf-Hokkaido-Mist höre, dann, ich schwöre es dir, werde ich eigenhändig nach China fahren und denen mal was erzählen, von wegen keine Hilfe annehmen oder Gefühle zeigen!"

Gegen seinen Willen musste Ren lächeln. „Das Angebot klingt verlockend. Ich würde nur allzu gerne sehen, wie du versuchst überhaupt erst nach China zu kommen. Willst du etwa schwimmen?"

„Ich könnte ja dafür sorgen, dass sich das Wasser teilt."

„Sei nicht albern."

„Ich meine es ernst!"

„Natürlich.“

„Aber offensichtlich nimmst du mich nicht ernst."

Ren verschränkte die Arme. „Angesichts der Tatsache, dass wir hier in einer Schneewehe sitzen, meine Kleidung wieder nass wird und du mich mit einem Schneemangesicht, dem nur noch eine Möhre fehlt, ansiehst, fällt es mir schwer, dich ernst zu nehmen, ja."

„Das ist dein Pech, Ren."

„Nein, eher deins. Aber das willst du offensichtlich nicht verstehen.“ Er zuckte die Schultern. „Wenigstens kann ich dich jetzt

zu Recht Schneemann nennen."

Horohoro verzog das Gesicht. „Es macht dir Spaß, mich zu ärgern, kann das sein?"

Ren hob eine Augenbraue. „Und da bist du von ganz alleine drauf gekommen, Schneemann?"

„Pass auf, gleich wird der Schneemann sauer und fällt dich an."

„Das will ich sehen."

"..."

"..."

„Ren, zitterst du?"

„Nein."

„Aber ich sehe es doch ganz deutlich."

„Du hast wahrscheinlich wieder nur Wahnvorstellungen."

„Was heißt hier wieder?!"

„Lass mich doch in Ruhe."

„Wenn du alleine weiterzittern willst, bitte."

„Ich zittere nicht!"

„Denkst du, ich lach dich aus?"

"..."

„Ah, mir geht ein Licht auf. Zittern bedeutet Schwäche. Und was sagt deine Familie zu Schwäche? Richtig, Schwäche ist schlimm. Re~n, erinnerst du dich noch, was ich gerade über eure Familienansichten gesagt habe? Willst du, dass ich nach China gehe?"

Ren schnaubte abfällig. „Jetzt mach aber mal halblang. Ja ich friere, weil meine Sachen bis auf die Haut durchnässt sind, was ganz zufälligerweise deine Schuld ist!"

„Na bitte, geht doch. Du kannst es dir also doch eingestehen."

„Horohoro?"

„Re?“

„Wenn ich deinetwegen krank werde, dreh ich dir den Hals um."

„Unsinn, Ren. Du wirst doch nicht krank."
 

„Nur eine leichte Grippe, nichts weiter. In ein paar Tagen ist er wieder ganz der Alte.“

„Gut, danke." Anna führte den Arzt bis zur Tür. Der Mann lächelte, bevor er dem Mädchen ein Fläschchen mit Tabletten gab.

„Die muss er zweimal am Tag nehmen, ansonsten verordne ich Bettruhe. Training sollte er in den nächsten Tagen ohnehin vermeiden."

Anna nickte. „Dafür werden wir sorgen. Vielen Dank."

„Keine Ursache." Sie schloss die Tür hinter dem Mann. Seufzend drehte sie sich um und ging zurück zu dem Zimmer, aus dem sie ursprünglich gekommen war. Als sie die Tür aufschob musste sie unwillkürlich schmunzeln. Der Anblick, der sich ihr bot, war einmalig.

„Ach komm schon."

„Nein."

„Hab dich nicht so."

„Nein!"

„Es tut mir Leid!"

„Das bringt mir nicht viel."

„Ach Ren, jetzt sei doch nicht so nachtragend."

„Nachtragend?! Das ist ja wohl das mindeste!" Ren schniefte, was nur an dem Schnupfen lag, der sich zu seiner Grippe gesellt hatte. Horohoro kniete neben seinem Futon und blickte schuldbewusst auf den Chinesen hinab. Rens Gesicht war gerötet vom Fieber und seine Augen waren glasig, funkelten Horohoro jedoch nach wie vor nachtragend an.

„Also - Ren, weißt du ..."

Ren verdrehte die Augen. „Was denn noch? Und warum stotterst du so?"

Horohoro kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Na ja“, er holte etwas hinter seinem Rücken hervor und hielt es Ren hin, während er peinlich berührt zur Seite sah, "der ist ... für dich."

„Bitte?“ Mühsam richtete Ren sich auf und nahm das Objekt in die Hände. Er musterte es. „Horohoro ... was ist das?"

„Das ist ein ... Kranich. Der soll Glück bringen."

„Glück?"

„Na, du weißt schon. So ein Brauch eben. Wenn jemand krank ist, setzten sich die Freunde zusammen und basteln tausend Kraniche, damit die Person schnell wieder Gesund wird.“

„Tausend Kraniche?", wiederholte Ren überrascht.

„Gut, für tausend hat es nicht so gereicht ... aber wart nur ab, du bekommst bestimmt noch einen von Yoh und Manta. Und wenn du Glück hast vielleicht auch von Anna. Und ich glaube Tamao wollte dir auch einen basteln, aber sie hat vorhin den Versuch aufgegeben. Der sah aber auch nicht so gut -"

„Danke."

„Was?"

„Danke." Ren hob den Blick und sah Horohoro in die Augen. „Für den Kranich. Und auch danke ... dafür, dass wir Freunde sind."

Beide Schwiegen, bevor Ren trocken hinzufügte: „Aber die Papierfigur sieht nicht wie ein Kranich aus. Eher wie ein Huhn."

„Ren, das ist unverschämt! Wärst du nicht krank, würde ich dich -"

Was würdest du mich dann, Schneemann?"

Kopfschüttelnd schob Anna die Tür wieder zu.
 

‚Danke - dafür, dass wir Freunde sind.'
 

Warum dann das ganze?, fragte Horohoro sich in der Gegenwart. Hatte Ren ihnen etwa die ganze Zeit etwas vorgespielt? War alles nur ein Schauspiel gewesen, um sich am Ende gegen sie zu stellen.

„Unmöglich", flüsterte Horohoro leise. Das konnte nicht sein. Es war einfach nicht möglich, dass nichts von all dem echt war. Aber warum hatte Ren sie dann verraten? Es gab keinen nachvollziehbaren, keinen gerechtfertigten Grund für sein Handeln! Dennoch musste einen Grund geben, der Ren dazu gebracht hatte, so zu handeln. Irgendetwas war geschehen.

Was sollte er denn noch glauben? Rechtfertigte der Grund, den Ren hatte, dessen Handeln? Gab es überhaupt eine Rechtfertigung?

So viele Fragen. Und doch nur eine Antwort. Er kommt nicht mehr zurück.
 

oOo
 

/Meister Ren?/ Mit besorgtem Ausdruck schwebte Bason um Ren herum, der sich seit der letzten Stunde nicht bewegt hatte, die Arme noch immer um die Knie geschlungen, den Kopf weiterhin auf den Knien abgestützt.

Der Gefühlsausbruch Rens hatte tatsächlich nur wenige Minuten gedauert, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Den Rest der Zeit hatte er nachgedacht. Hatte versucht, die erdrückende Leere, die in seinem Inneren herrschte zu verdrängen.

/Meister Ren/, Bason rang nach den richtigen Worten, /ich ... ich bleibe bei dir./ Ren hob den Kopf. Die Unsicherheit war aus seinem Blick gewichen, der Schatten der Angst war verschwunden. /Meister?/

„Bason."

/Ja?/

Ren erhob sich und drehte sich um. „Lass uns gehen." Bason folgte ihm. Der Schutzgeist haderte mit sich selbst, ein Gewissen

nagte an ihm. /Ren?/

Der Chinese blieb stehen und sah ihn an. „Was ist?“

Bason schwebte unruhig auf einer Stelle auf und ab. Er musste es jetzt sagen. Wenn nicht jetzt, wann dann? /Meister, ich - ich muss -/ Er brach ab, als er an Rens angsterfüllten Blick zurückdachte. Nein, er konnte es nicht. Er brachte es nicht übers Herz. /Es tut mir leid, Meister Ren. Alles./

Ren blinzelte irritiert, dann schüttelte er den Kopf. „Du kannst doch nichts dafür, Bason. Dir muss überhaupt nichts Leid tun."

/Doch Meister/, sagte Bason bedrückt, beließ es jedoch bei diesen Worten. Sie gingen stumm weiter.

Nach unbestimmter Zeit schimmerte das Licht von der Lichtung durch die Blätter vor ihnen.. Kurz bevor sie das Dickicht verließen blieb der Chinese stehen. „Bason?"

/Meister Ren?/

Ren sah ihn an. „Danke."

Der Schutzgeist stutzte. /Wofür?/

Ein Lächeln zeichnete sich auf Rens Lippen ab. „Dafür, dass du bei mir geblieben bist, obwohl ich ein Verräter bin."

Bason spürte, wie sich bei den Worten Unbehagen in ihm ausbreitete. Ren sollte sich nicht bei ihm bedanken. Nicht dafür. /Das ist selbstverständlich. Ich bin dein Schutzgeist. Ich werde immer bei dir bleiben./

„Und Bason."

/Ja?/

„Bitte tu mir einen Gefallen."

/Welchen?/

„Falls ich mich gleich nicht beherrschen kann und Hao angreifen will – bitte halte mich auf.“

/Natürlich./

Ein letztes Mal straffte der Schwarzhaarige die Schultern, bevor er auf die Lichtung hinaustrat, Bason dicht hinter ihm schwebend.

Lange ruhten die Blicke der anderen Schamanen auf ihm, bevor sie sich wieder ihren eigentlichen Tätigkeiten widmeten. Ein kurzer Blick verriet Ren, dass Hao mit Luchist und Opacho am Lagerfeuer saß und sich mit ihnen unterhielt. Langsam näherte Ren sich dem Feuer, erstarrte jedoch auf halbem Weg. Sein Blick haftete starr auf dem Objekt, welches vor ihm auf dem Boden lag.

Bason schwebte näher.

/Ist das nicht -?!/

Langsam bückte Ren sich und griff nach dem beinahe vollkommen zerfetzten Stück Stoff. Das Blau schimmerte durch die Schicht Staub und wenigen Tropfen Blut zu ihm hinauf. „Horohoro." Das Wort kam so leise über Rens Lippen, dass selbst Bason, der dicht neben Ren schwebte, es kaum verstand. /Ren?/

Seine Faust schloss sich fest um das einstige Stirnbad von Horohoro, das dieser bei dem Kampf gegen Hao hatte einbüßen müssen.

Hao lächelte spöttisch, als er Ren erblickte. „Ren, möchtest du dich nicht zu uns setzen? Wir sind doch von nun an eine große, glückliche Familie, findest du nicht?“

Der Chinese verengte die Augen und verzog den Mund. Dennoch richtete er sich auf und ging zum Lagerfeuer, wo die anderen ihn bereits erwarteten. Der Griff um das Stirnband wurde noch eine Spur fester. Ich schwöre dir Hao, eines Tages werde ich dich für alles büßen lassen!

Verdammt

7. Kapitel: Verdammt
 

Wenn du Menschen verurteilst, hast du keine Zeit, sie zu lieben.

Mutter Teresa
 

~ Zwei Monate vorher ~
 

„Jetzt nimm schon."

„...."

„Stell dich nicht so an."

„..."

„Nimm sie jetzt!"

„..."

„Muss ich dich zwingen?!"

„..."

„Ren, mach jetzt verdammt noch mal den Mund auf!"

„..."

Horohoros Augen blitzten gefährlich. „Du hast es so gewollt!" Mit einer schnellen Bewegung war er über Ren und presste seine handgelenke fest auf den Boden. „He", protestierte der Chinese und versuchte sich loszureißen, jedoch ohne Erfolg. „Lass mich los, du elender - hmpf!" Sein Satz wurde erstickt, als Horohoros Hand blitzartig nach rechts langte, nach den Tabletten griff und

sie Ren in den Mund schob.

„Schlucken", befahl der Horohoro unbeirrt. Ren schüttelte trotzig den Kopf. Horohoro kam seinem Gesicht ein Stück näher. „Du schluckst jetzt!" Erneutes Kopfschütteln. „Re~en was ist denn los?", fragte Horohoro plötzlich zuckersüß lächelnd. „Hast du etwa", nun grinste er spöttisch, „Angst vor den bösen, bösen Tabletten?"

Rens Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Augen verengten sich. Knurrend schluckte er die Tablette und schenkte Horohoro einen strafenden Blick. „Danke auch!", zischte er in seinem Stolz verletzt. Horohoro grinste noch immer.

„Jetzt tu nicht so", er ließ Rens Handgelenke los und setzte sich wieder neben ihm auf den Boden. „Du weißt, dass du sie nehmen musst, um gesund zu werden."

Ren schnaubte nur, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. „Wie erniedrigend."
 

Ren öffnete die Augen, als er Geräusche von draußen hörte. Er erhob sich langsam aus seinem Schneidersitz. Die letzten Stunden hatte er meditiert, um sich Klarheit für seine derzeitige Lage zu verschaffen. Dabei war diese verfluchte Erinnerung wieder hochgekommen. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken abzuschütteln und schritt bedächtig zum Ausgang des Zeltes.

Wenigstens ein Gutes hat dies alles, dachte er selbstironisch. Ich hab mein eigenes Zelt.

Er gab einen leisen, abfälligen Laut von sich, bevor er das Tuch am Eingang des Zeltes beiseite schob und nach draußen trat. Sein Blick schweifte über die Lichtung und er erblickte den Urheber des Geräusches. Opacho saß am Feuer, beziehungsweise vor den Resten, dem glimmenden Holz, das vor ein paar Stunden noch lichterloh gebrannt hatte. Einige kleine Flammen züngelten ab und an zwischen den verkohlten Ästen hoch. Ren wusste nicht wieso, aber etwas in ihm brachte ihn dazu, auf den Jungen zuzugehen und sich letztendlich neben ihn auf einen Stein sinken zu lassen. Opacho zuckte zusammen und sah ihn

schließlich wütend und schockiert zugleich von der Seite an.

„Was willst du?" fragte er und Argwohn schwang deutlich in seiner Stimme mit.

Ren hob eine Augenbrauen. „Darf ich mich denn nicht einfach ans Feuer setzen oder brauche ich dafür unbedingt einen GJund?"

Opacho zögerte. „Nein“, gestand er schließlich und wandte den Blick ab.

„Siehst du." Zu seiner Zufriedenheit bemerkte Ren, dass er sich mittlerweile wieder gut unter Kontrolle hatte. Das Meditieren hatte eben doch etwas gebracht. Sein Blick richtete sich ungewollt wieder auf Opacho, welcher gezwungen ins Feuer starrte und offenbar versuchte, ihn so gut es ging zu ignorieren. Es dauerte, bis Ren bewusst wurde, warum der Junge sich ihm gegenüber so verhielt.

„Hör mal", durchbrach er nach einigem Zögern die Stille, die einzig vom vereinzelten letzten Knacken der Äste in den Überresten des Feuers gestört wurde. „Wegen unserem Kampf ...“ Er wusste selbst nicht, woher der plötzliche Drang kam, sich bei dem jungen zu entschuldigen. Vielleicht, weil ihm in den Sinn gekommen war, was Jun einmal zu ihm gesagt hatte, als er noch ganz klein war, bevor er von seinem Onkel zu einem Monster ausgebildet wurde: ,Wenn du einem Menschen Leid zufügst, musst du dich bei ihm dafür entschuldigen.'

Voller Bitterkeit wurde ihm bewusst, dass in dem Fall sehr viel Arbeit vor ihm lag. Bei soviel Leid, das er verbreitet hatte, bevor er auf Yoh und die anderen getroffen war. Andererseits - vielleicht war es jetzt an der Zeit, sich diesen Satz zu Herzen zu nehmen. Vielleicht hasste er nicht jeden Anhänger Haos so sehr, wie er zunächst angenommen hatte.

Opachos Blick, anfangs noch voller Misstrauen und unterdrückter Wut, war spätestens seit Ren sich unterbrochen hatte voller Erwartung auf ihn gerichtet. „Es tut mir Leid, ja?", meinte Ren schließlich nach einiger Überwindung und starrte angestrengt in die kleinen Flämmchen, zwischen den Ästen. Stille legte sich zwischen die beiden. „Ich wollte nicht so reagieren.

„Ist gut."

Ren zuckte zusammen. Ren hob den Kopf und starrte Opacho verwundert an. „Was?“

Der Junge ihn in kindlicher Freundlichkeit an. „Der Kampf hat lange gedauert und du warst gereizt."

Jetzt hatte Opacho es doch tatsächlich geschafft ihn, Tao Ren, zu verblüffen.

„Heißt das, du", Rens Stimme war der pure Unglaube, "du nimmst die Entschuldigung einfach so an?"

„Ja."

„Obwohl ich Hao beleidigt habe?“

„Ja.“

Ren gab den Versuch auf, Opacho zu verstehen. Dennoch musste er zugeben, dass der Gedanken, jemanden zu haben, den er wenigstens nicht hasste, etwas Tröstliches hatte.

„Dein Schutzgeist ist mächtig", sagte Opacho irgendwann, nachdem erneut Stille eingekehrt war. Ren lächelte schwach und nickte, während Stolz ihn erfüllte. „Ja, das ist er. Den nächsten Satz sprach er mehr zu sich selbst. „Bason ist etwas Besonderes. Wenn ich ihn nicht hätte, wäre ich nichts."

/Danke Meister Ren./

Ren blickte überrascht nach links, direkt in das Gesicht Basons, der sichtlich gerührt zu sein schien. „Bason?", fragte Ren überrumpelt und erkannte, dass er die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. Unangenehm berührt blickte er zur Seite. „Bilde dir nichts darauf ein", murmelte er. „Wir sind trotz allem noch nicht stark genug.“

/Natürlich, Meister./ Ihm entging das Schmunzeln, welches auf Basons Lippen lag.
 

oOo
 

Yoh vergewisserte sich, dass alle schliefen, dann verließ er den Raum und schlich die Treppe zum Dach ihres Hauses hoch. Er musste hier sein, das stand außer Frage. Er spähte um die Ecke und sah sich in seiner Vermutung bestätigt. Horohoro saß an demselben Fleck, an dem Ren jede Nacht seit sie hier in Doby Village angekommen waren, gesessen und in den Himmel gesehen hatte. Yoh hatte es auch gewusst, jedoch nie ein Wort darüber verloren. Yoh betrachtete Horohoro lange und eindringlich und kam nicht umhin, Mitleid zu empfinden. Horohoro starrte geradezu apathisch in den Himmel und Kororo sorgte dafür, dass alles was sich in seiner Nähe befand von Schnee bedeckt wurde, indem sie es in einem Radius von einigen Metern schneien ließ. Yoh seufzte leise. Ein Anblick des Jammers.

/Es scheint ihm doch ganz schön nahe zu gehen/, bemerkte Amidamaru, der neben Yoh erschien und dessen Blick ebenfalls auf Horohoro ruhte.

„Ja", stimmte Yoh bedauernd zu. „Das tut es." Er trat aus dem Schatten und ging auf den Ainu zu. Im Unkreis von drei Metern lag der Schnee schon mehr als knöchelhoch. Knirschend gab der unter seinen Füßen nach und Yoh fröstelte, als er durch seine Sandalen mit dem Schnee in Berührung kam. Doch er ging weiter, bis er neben Horohoro stand, welcher ihn nicht ansah, sondern weiterhin in den Himmel blickte. „Was willst du hier?"

„Die Frage lautet wohl eher, was was du hier tust, Horohoro", bemerkte Yoh ruhig und sah zu dem anderen hinab.

„Gar nichts. Ich sehe mir bloß die Sterne an", lautete die monotone Antwort. Yoh ließ sich neben Horohoro in den Schnee fallen, ignorierte die Kälte dabei vehement und runzelte stattdessen die Stirn. Noch immer kein Blickkontakt. Er warf einen Blick auf Kororo, welche bedauernd den Kopf schüttelte. Erneut seufzte Yoh. „Hör mal", begann er schließlich, „ich weiß, es ist schwer zu akzeptieren, was mit Ren geschehen ist.“ Er bemerkte, wie Horohoro bei Rens Namen zusammenzuckte und sein Blick sich verfinsterte. „Aber", fuhr der er fort, „wir dürfen uns deswegen nicht aus der Bahn werfen lassen."

„Bitte?!", Horohoro sah Yoh nun direkt an. Unglaube lag in seinem Blick. Yoh jedoch sprach unbeirrt weiter. „Glaub mir, bald wird es besser. Wir brauchen einfach nur etwas Zeit, dann akzeptieren wir es und - erinnerst du dich noch, wie Lyserg zu den X-Laws übergelaufen ist? Wir dachten, wir hätten ihn für immer verloren" - Yoh sah nicht, wie sich langsam Zorn auf Horohoros Gesicht ausbreitete - „aber letztendlich hat er eingesehen, dass es so nicht richtig war" - Horohoro begann zu zittern – „und jetzt gehört er wieder zu uns. Du siehst, alles hat seine Richtigkeit" - er ballte die Fäuste – „wir dürfen trotzdem nicht aus den Augen verlieren, dass er vorerst unser Gegner ist. Außerdem glaube ich, dass Ren -" Horohoros Faust schlug fest zu und er taumelte zur Seite.

/Yoh!/

Yoh hob die Hand und fasste sich mit ihr an das getroffene Kinn, während er Horohoro überrascht anblickte, welcher wutentbrannt schnaubte. „Du begreifst es offenbar nicht!", fuhr Horohoro ihn mit vor Zorn bebender Stimme an. „Das hier ist nicht so, wie mit Lyserg und den X-Laws! Hao ist ein anderes Kaliber und -"

„Das weiß ich", unterbrach Yoh ihn erstaunlich ruhig. Seine Gelassenheit angesichts der Situation schien Horohoros Wut anzufachen wie Öl. Er packte Yoh am Kragen seines Hemdes und zog ihn ruckartig zu sich. Kororo wich verschreckt zurück, während Amidamaru alarmiert näher schwebte. /Das reicht jetzt! Horohoro, lass gut sein. Es hat doch keinen Sinn -/

„Schon gut Amidamaru", sagte Yoh leise aber bestimmt.

Das weiß ich?!", imitierte Horohoro Yoh verächtlich und starrte ihn durchdringend an. „Das glaub ich dir aber nicht! Wenn du es wüsstest, würdest du wissen, dass Ren nicht wiederkommen wird! Er gehört jetzt zu Hao und jeder der einmal zu Hao gehört, wird nicht mehr von ihm loskommen" - er wurde mit jedem Wort lauter, bis er beinahe schrie – „also sieh den Tatsachen ins Gesicht, Ren kommt nicht mehr zurück!

Yoh starrte Horohoro unbewegt an, sagte nichts, sondern ließ ihn reden, denn er wusste, dass reden in diesem Moment dem entsprach, was Horohoro tun musste, um mit der Situation klar zu kommen.

„Kapier es endlich", flüsterte der Ainu und der Griff um Yohs Kragen lockerte sich merklich, als Horohoro zur Seite sah und den Blick senkte. „Also sprich nicht davon, als würde wie in einem Film am Ende alles gut werden, denn das tut es hier im wahren Leben nicht. Nimm es nicht so auf die leichte Schulter."

„Du irrst dich, Horohoro." Yoh hob die Hand und löste Horohoros Griff um sein Hemd. „Es ist nicht so", wiederholte Yoh. „Ich nehme es nicht auf die leichte Schulter. Mir tut es auch weh, aber wir konnten es nicht verhindern."

„Natürlich konnten wir das!“, widersprach Horohoro. „Wenn wir nur -"

„Wenn wir was?!", fiel Yoh ihm ins Wort. „Überleg genau, es gab nichts, das wir hätten tun können. Oder wüsstest du einen anderen Weg?“

„Nein, aber –“

„Nichts aber. Wir können nichts an der Vergangenheit ändern. Aber an der Zukunft."

„Wie meinst du das? Ich habe doch gesagt - und du weißt es auch - dass jeder, der einmal auf Haos Seite war, nicht wieder von ihm loskommt."

„Und ich sagte bereits, du irrst dich, Horohoro", widersprach Yoh und ein Lächeln war auf seinem Gesicht erschienen. „Es gibt jemanden, der einst auf Haos Seite war, es heute aber nicht mehr ist."

Horohoro stutzte. „Wen?"

Yohs Lächeln wurde bitter. „Mich."

„Dich? Yoh, du -"

„Hast du vergessen, was Hao vor kurzem gesagt hat?"
 

Der Geist des Feuers erschien aus dem Nichts hinter der Gruppe und sie wirbelten herum. Hao stand auf der Hand seines Schutzgeistes und sah überlegen grinsend auf sie hinab, bevor er sprang und sicher auf dem Boden landete. Er setzte sich gemächlich in Bewegung und ging langsam auf Yoh zu. Die anderen bildeten eine Schneise, durch die Hao erhaben schritt. Ihm entging nicht, wie sie den Griff um ihre Waffen festigten und Anna ihre weißen Perlen anhob.

Auf gleicher Höhe mit Yoh blieb er stehen. Er wandte den Kopf und lächelte anerkennend. „Ich habe deine neue Kraft gesehen und ich muss sagen, du bist besser damit umgegangen, als ich erwartet habe." Er neigte den Kopf. „Ich fürchte nur, ich werde meine andere Hälfte bald zurückfordern." Yoh starrte ihn perplex an und Hao hob eine Augenbraue. „Wusstest du es nicht? Wir beide sind zwei Hälften eines gemeinsamen Ganzen."

Yohs Augen weiteten sich. „Was willst du damit sagen?", fragte er argwöhnisch, doch Hao ging bereits weiter, auf seine eigenen Schamanen zu, die mit dem Geist des Feuers auf ihn warteten. Der Wind ließ seinen Umhang flattern.

„Wir werden uns bald wieder sehen, mein Bruder.“

Mit diesen Worten und einem Flattern seines Umhangs verschwanden er und seine Gefährten in einer Welle aus züngelnden Flammen.
 

„Ich erinnere mich“, sagte Horohoro langsam. „Aber was hat das -"

„Damit zu tun?", beendete Yoh die Frage für ihn. „Einfach alles. Hao hat gesagt, er und ich seien Teil eines gemeinsamen Ganzen. Das bedeutet, er und ich müssen früher einmal eins gewesen sein - eine Person, verstehst du? Folglich war ich damit

wohl genauso schlimm wie er heute, doch wie du jetzt sehen kannst, bin ich nun das genaue Gegenteil von ihm.“

„Yoh, das mit Ren ist doch völlig -"

„Anders, ich weiß. Aber doch auch wieder nicht, denn es bedeutet, dass es für Ren noch Hoffnung gibt. Außerdem glaube ich, dass Ren nicht grundlos so gehandelt hat.“

Horohoro verkrampfte sich. „Grund hin oder her, es gibt keine Rechtfertigung für das, was er getan hat.“ Yoh legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Kopf hoch Horohoro. Das hier ist zwar kein Film, aber ich bin mir sicher, auch wir finden unser Happy End." Jetzt lächelte Yoh wieder und Horohoro kam nicht umhin, es zu erwidern, wenn auch mit weitaus weniger Überzeugung.

„Hör mal Yoh", er warf einen unsicheren Blick auf sein Kinn, welches er in der Dunkelheit nur undeutlich erkennen konnte, „ich wollte dich nicht schlagen. Ich habe überreagiert.“

„Schon vergessen", erwiderte Yoh abwinkend. Dann wurde er wieder ernst. „Ich kann dich verstehen. Er ist dir wichtig, nicht wahr.“

„Alle meine Freunde sind mir wichtig!“

„Ich weiß. Mir auch.“
 

oOo
 

Ren spürte die Nervosität wie eine schleichende Kreatur, deren Atem er im Nacken spürte. Er warf aus den Augenwinkeln einen Blick nach rechts und hatte das beklemmende Gefühl spitzer Zähne in seinem Nacken, als er Haos Blick begegnete. Hao, Opacho, Luchist und er selbst waren auf dem Weg zum Stadion, da Haos Kampf gegen Chocolove unmittelbar bevorstand. In Ren zog sich alles zusammen, wenn er daran dachte, dass er hier den anderen begegnen könnte ... müsste ... würde. Jun - ob sie ihn hassen würde? Nicht sie. Er biss sich geistesabwesend auf die Unterlippe. Yoh durfte ihn hassen, die anderen durften ihn hassen, Horohoro hasste ihn bereits, aber nicht auch noch Jun.

Mit Schrecken bemerkte er, wie das Stadion unaufhaltsam näher rückte, bis sie schließlich davor standen. Verdammt, er wollte hier weg. Aber er konnte nicht - durfte nicht. Hao hatte ihm befohlen mitzukommen. Alles, was ihm blieb, war, während des Kampfes wegzusehen. Hao konnte unmöglich kontrollieren, ob er den Kampf mit ansah oder nicht.

Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte. Unbestimmte Zeit später fand er sich in dem Stadion wieder, auf den höchsten Tribünen und blickte abwesend in die Arena hinab. Bald würde der Kampf beginnen. Chocolove gegen Hao. Der arme Kerl würde so gut wie keine Chance gegen Hao haben. Wenn Horohoro es nicht schaffte, würde Chocolove ebenso wenig Erfolg haben.

Calim hob den Arm und die Menge verstummte.
 

„Der Kampf beginnt!"
 

Ren musste sich eingestehen, dass sein Leben mehr und mehr einer persönlichen Hälle glich. Der schmererfüllte Laut, den Chocoloves Schutzgeist zehn Minuten später von sich gab, als der Kampf bereits in vollem Gange war, machte Ren diese Tatsache nur allzu stark bewusst. Es nicht mit anzusehen, wie Chocolove unaufhaltsam auf seine Niederlage zulief. Ein Blick auf Calim zeigte Ren, dass es dem Schamanenrichter ähnlich ging und er sich beherrschen musste, um nicht einfach einzugreifen.

Ren lächelte gequält. In gewisser Weise ging es ihnen gleich. Ihnen beiden war verboten worden, etwas zu unternehmen, ihre Hände waren gebunden. Calim durfte den Kampf erst beenden, wenn einer der Schamanen kein Furyoku mehr hatte oder nicht

mehr zum Kämpfen in der Lage war und Hao schien im Bezug auf seinen Gegner eindeutig auf letzteres aus zu sein.

Mit einem erstickten Schrei wurde Chocolove gegen die Wand der Arena geschleudert und Ren meinte für einen Moment, Steine bröckeln zu hören. Langsam rutschte Chocolove an der Wand hinab, kniete röchelnd und nach Luft schnappend auf dem Boden und versuchte mühsam sich aufzurichten, während sein Schutzgeist ihn so gut es ging zu stützen versuchte. Knurrend wandte Ren den Blick ab.

Nein Ren, sieh nicht zur Seite.

Er schreckte auf, als unmittelbar neben ihm Haos Stimme erklang. Ein Blick zur Seite und anschließend in die Arena bestätigte ihm jedoch, dass Hao sich nicht gerührt hatte. Wahrscheinlich benutzte Hao sein Furyoku, um mit ihm zu kommunizieren, anders wusste Ren sich die Stimme nicht zu erklären. Er war bereits im Begriff, seinen Blick erneut abzuwenden, als Hao ihn scharf zurechtwies und dieses Mal unbewusst zusammenzucken ließ: Ich habe gesagt, du sollst hinsehen!

Ren wandte den Kopf und sein Blick fiel auf Hao, der unten in der Arena stand, kurz von Chocolove abgelassen hatte und zu Ren hinaufsah. Ich befehle es dir, Ren. Das konnte nicht sein Ernst sein, schoss es Ren durch den Kopf.

Hao hob die Hand und der Geist des Feuers griff erneut an. Sieh hin, Ren. Sieh an, was ich mit deinen kleinen schwachen Freunden machen kann, wann immer mir danach ist!

Rens Augen weiteten sich im Horror, als er erkannte, was Hao ihm mit seinem Handlen zeigte. Er versuchte zu gehorchen, doch bereits nach wenigen Sekunden musste er gepeinigt den Blick wieder abwenden. Es ging nicht, doch es verstrich keine Sekunde, als ein scharfer Schmerz seinen Kopf durchzuckte. Du sollst hinsehen, Ren!

Widerstrebend richtete er seine Augen auf Hao und den am Boden kauernden Chocolove. Er spürte regelrecht, wie Hao zufrieden grinste. Ren ballte die Hände zu Fäusten, da sie unkontrolliert zu zittern begonnen hatten.

So ist es gut. Sieh hin.

Eine Attacke traf Chocolove frontal und ein Stöhnen ging durch die Menge. Die Knöchel von Rens Fingern traten schon weiß hervor und er ignorierte den Schmerz, als er sich zusätzlich auf die Lippen biss, um keinen Laut von sich zu geben, im Angesicht des Anblicks, der sich ihm bot.

Sei froh, dass du auf meiner Seite bist und merke dir - Chocolove schrie schmerzerfüllt auf - so kann es jedem deiner schwachen Freunde ergehen.

Ein Ruck ging durch Rens angespannten Körper und er biss sich so fest auf die Lippen, dass er Blut schmeckte. Seine Augen nahmen einen starren Ausdruck an, während sein Blick weiterhin auf Chocolove geheftet war, der reglos auf dem Boden der Arena lag.
 

Unsicher blickte Opacho zwischen Ren und seinem Meister hin und her, bis er schließlich auf Haos zur Ruhe kam, welcher gehässig lachend auf Chocolove hinab sah. „Meister Hao, was ist nur mit dir los?"
 

„Der Sieger ist Hao“, verkündete Calim mit aschfahlem Gesichtsausdruck und rief mit einer raschen Handbewegung einige Sanitäter zu sich. Als wäre seine Worte ein Startschuss, rannten Yoh und die anderen sofort auf Chocolove zu, der nicht rührte. Ren, Opacho und Luchist waren ebenfalls die Tribünen hinab gestiegen, um Hao zu empfangen und standen abseits des Geschehens.

Zwei Sanitäter eilten mit einer Trage herbei und begannen umgehend, Chocolove zu untersuchen. Yoh, der neben dem bewusstlosen gekniethatte, richtete sich auf und starrte Hao zornig an. „Warum?", fragte er laut.

„Warum nicht?", stellte Hao die Gegenfrage.

Yoh ballte die Fäuste. „Weil es falsch ist!"

Hao verzog abschätzend die Lippen. „Falsch? Eine eher vage Beschreibung. Ich persönlich halte es für einen netten Zeitvertreib."

Netter Zeitvertreib, hallte es in Rens Kopf nach. Hao verletzte Menschen, brachte sie an den Rand ihrer Existenz und bezeichnete dieses Unterfangenen lediglich als Zeitvertreib, während Menschen, die ihm wichtig waren, litten.

„Du Teufel!", zischte Yoh.

„Teufel?", wiederholte Hao amüsiert. „Ja, vielleicht bin ich ein Teufel, aber du kennst meine Ideale." Er bedeutete Opacho, Luchist und Ren mit einer flüchtigen Handbewegung näher zu treten.

Die ersten beiden taten, wie ihnen geheißen, nur Ren blieb stehen. Der Chinese reagierte ohne Protest, und blieb neben Hao stehen. Er blickte Yoh ausdruckslos an, welcher kaum merklich zurückwich, als ihm Rens Gleichgültigkeit angesichts Chocoloves Zustand bewusst wurde. Er hatte wenigstens mit einer schwachen Regung gerechnet, doch nicht damit. „Ren“, entwisch es ihm unbewusst.

Horohoro blickte auf, als der Name des Chinesen fiel. Er hatte den geholfen, Chocolove auf die Trage zu heben und Pirica, Manta, Ryu und Faust waren, dicht gefolgt von Calim, der sich ebenfalls verantwortlich für Chocoloves Zustand fühlte, zur Krankenstation geeilt. Neben ihm selbst und Yoh waren lediglich Lyserg und Anna geblieben.

Seine Augen weiteten sich, als er Ren erblickte, er wich unbewusst einen Schritt zurück und spürte die besorgten Blicke von Anna und Lyserg auf sich. Rens Gleichgültigkeit erfüllte ihn mit Zorn und Unglaube.
 

Betrübt schloss sich ein Paar goldener Augen, die dem Geschehen von Fern aufmerksam gefolgt waren. Ein Seufzen war zu vernehmen. „Das hätte nicht geschehen dürfen.“
 

oOo
 

„Jeanne?"

„Ja, Marco?"

Der Blonde überlegte einen Moment, bevor er weiter sprach. „Was werden wir X-Laws jetzt tun?“

„Nichts."

„Gar nichts?!"

„Genau.“

„Aber", nervös schob Marco sich die Brille hoch, „es muss etwas unternommen werden. Wir dürfen hao nicht gewähren lassen. Er ist zu weit gegangen!“

„Trotzdem.“

„Jeanne, ich bitte dich, wir können doch nicht zulassen, dass Hao –“

„Wir müssen."

„Wieso?", fragte Marco und klang flehend.

Jeanne blickte aus dem Fenster ihres Hauses. In ihren Augen glitzerten Tränen, die wenige Sekunden später ihre blassen Wangen hinab liefen und auf die Fensterbank tropften. „Weil es nicht unsere Aufgabe ist, Hao zu besiegen."

Schicksal

8. Kapitel: Schicksal
 

Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.

Friedrich Nietzsche
 

Der Mond schien voll und dennoch blass auf die Welt unter sich hinab. Jun blickte stumm aus dem Zimmerfenster, hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und biss sich auf die Lippen. „Es ist meine Schuld."

„Nein, du irrst dich", widersprach Li Pyron, der dicht hinter ihr stand und sie besorgt betrachtete. Jun schüttelte schwach den Kopf. „Doch ist es. Es ist alleine meine Schuld."

„Sag doch nicht so was, Jun. Das stimmt nicht."

„Doch Pailong. Ich hätte es ihm sagen sollen."

„Du wolltest lediglich sein Bestes."

„Ich habe als große Schwester versagt", schluchzte sie und Tränen liefen über ihre geröteten Wangen. „Es war meine Pflicht es ihm zu sagen. Er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Er hätte es erfahren müssen. Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht. Er war doch gerade dabei, endlich sein Leben zu leben."

Fürsorglich nahm der Schutzgeist sie in die Arme und wiegte sie sachte vor und zurück, um sie zu beruhigen. „Alles wird gut, Jun."

„Versprichst du mir das?", schluchzte Jun unterdrückt.

Der Druck der Umarmung wurde fester. „Ja Jun, ich verspreche es dir."
 

oOo
 

„Warum tut Hao so etwas?", fragte Horohoro in die Stille des Krankenzimmers, in dem Chocolove lag. Noch immer war er bewusstlos.

„Weil er ein Monster ist."

„Das ist kein Grund!", zischte der Ainu.

„Natürlich ist das ein Grund", gab Anna gelassen zurück.

„Nein ist es nicht! Das ist überhaupt kein Grund für irgendetwas.“

Sie hob eine Augenbraue. „Und warum nicht?"

Horohoro senkte den Blick. „Du würdest es nicht verstehen. Niemand würde es verstehen, denn sie hatten Ren nicht gehört. Horohoro war der einzige, der Ren gehört hatte, an diesem Abend vor einigen Wochen, in der Wüste auf der Suche nach Doby Village ...
 

Ren saß vor dem Lagerfeuer im Sand und blickte nachdenklich in die züngelnden Flammen. Die anderen schliefen bereits, abgesehen von Horohoro, der neben ihm am Feuer saß.

„Ich bin ein Monster", durchbrachen Rens Worte schließlich die Stille der Nacht. Horohoro, der bereits leicht gedöst hatte, schreckte auf und blickte ihn geschockt von der Seite an. Was redete Ren da?! Und wie kam er mit einem Mal darauf? „Sag so was nicht. Das ist nicht wahr.“

„Doch, es ist wahr“ widersprach Ren mit nicht erklärbarer Ruhe in der Stimme.

„Nein!", beharrte der Ainu und straffte die Schultern, als ob er Ren damit von der Aufrichtigkeit seiner Worte überzeugen wollte. Das Verhalten des Chinesen war ihm in den vergangenen Tagen zunehmend seltsam vorgekommen. Diese Worte bestätigten seine Vermutung, dass mit Ren etwas vor sich ging. Etwas, von dem er nicht wusste, ob er genau darüber bescheid wissen wollte.

„Jetzt reg dich nicht gleich so auf. Es ist eben so.“

„Aber -"

„Und außerdem", fuhr Ren ungerührt fort, „ist es vielleicht gar nicht so schlecht ein Monster zu sein. So wird man wenigstens nicht verletzt."

Horohoro stutzte. Seit wann redete Ren offen über seine Gedanken und Gefühle? Irgendetwas lief hier falsch.

„Ren ..."

„Wer weiß", sprach Ren weiter, ohne auf Horohoro zu achten, „vielleicht kann ich ja irgendwann ein gutes Monster werden, was meinst du?" Horohoro würde niemals den gequälten Blick vergessen, mit dem Ren in diesem Moment in die Sterne gesehen hatte.
 

,Ein gutes Monster.'
 

„Nicht alle Monster sind schlimm", murmelte Horohoro und verließ den Raum. Die anderen sahen ihm verständnislos nach, abgesehen von Yoh, der nachdenklich wirkte.

„Weißt du, was er damit meint?", fragte Anna forschend, die Yohs Blick bemerkt hatte. Ihr Verlobter schüttelte den Kopf. „Nein, tue ich nicht."
 

Was ihnen entging, war der anschätzende Blick, den Lyserk auf die Tür warf, durch die Horohoro soeben verschwunden war.
 

oOo
 

Regungslos saß Ren am Feuer und starrte in die Flammen. Dennoch nahm er nichts von dem wahr, was vor ihm lag, vielmehr blickte er durch die Flammen hindurch. Hao saß ihm gegenüber und musterte ihn mit unverhohlenem Interesse, doch Ren schien selbst davon nichts mitzubekommen.

Netter Zeitvertreib, hallte Haos Worte noch immer in seinem Kopf nach. Wie konnte jemand nur so grausam sein?

Warum?, hatte Yoh Hao gefragt. Warum? Ren stellte sich genau dieselbe Frage. Was brachte einen Menschen dazu, derart grausam zu sein und noch dazu gefallen an dieser Entmenschlichung zu finden?

So kann es jedem deiner schwachen Freunde ergehen.

Horohoro ...

Opacho saß mit Luchist ebenfalls am Feuer warf Ren aus den Augenwinkeln besorgte Blick zu. Opacho wusst, es hing mit dem Kampf zusammen, doch es musste außerdem etwas mit Hao selbst zu tun haben, neben der Tatsache, dass sein Meister einen von Rens Freunden schwer verletzt hatte. Es musste an dem liegen, was Hao gesagt hatte. Opacho spürte, wie Kälte ihn erfüllte, als er an Haos Worte zurückdachte.

Nach weiteren Minuten, in denen es nicht den Anschein machte, als würde Rens Zustand sich in nächster Zeit in irgendeiner Weise verändern, drehte Hao sich auf seinem Stein um, zu den anderen Schamanen, die erwartungsvoll auf der Lichtung saßen und auf Haos Anweisungen warteten. Hao grinste seine Gefolgsleute süffisant an. „Gut, wenn ihr heute bei dem Kampf wart", er machte eine gebieterische Pause und von den Schamanen kam zustimmendes Gemurmel, dann fuhr er fort und sie verstummten augenblicklich, „dann ist euch nicht das Exempel entgangen, dass ich an meinem Gegner statuiert habe.“ Sein selbstgefälliges Grinsen wurde eine Spur breiter. „Früher oder später wird es jedem so ergehen, der sich mir in den Weg stellt." Eine eindeutige Drohung schwang in seiner Stimme mit. Eine Warnung, sich nicht gegen ihn zu stellen. „Bald wird es soweit sein, dann werde ich Schamanenkönig. Und die unwürdigen Menschen werden für immer von dieser Welt verschwinden!"

Ren zeigte keine Regung angesichts Haos Worten. /Meister Ren?/, erklang leise Basons Stimme neben dem Chinesen, doch dieser reagierte nicht. /Meister Ren, vielleicht wäre es besser ... Meister?/

Warum ich? Warum niemand sonst?

„Freut euch", fuhr Hao fort und lachte selbstgenügsam, „bald haben wir unsere Ziele erreicht und -"

„Warum?" Nicht mehr als ein Würgen.“

„Hm?" Haos Lachen erstarb und er drehte sich verwundert um. Ren hatte den Kopf angehoben, seine bernsteinfarbenen Augen hatten Hao fixiert und funkelten ihn durchdringend an. Sie strahlten wieder die übliche Kälte aus, die diesmal gänzlich auf Hao gerichtet war. „Warum?", fragte er erneut, nun jedoch nachdrücklicher. Seine Stimme war leise und emphatisch - verlangte geradezu nach einer Antwort.

Haos Augenbrauen hoben sich ein Stück und er drehte sich nun vollends zu Ren um. „Warum was?", fragte er stichelnd.

„Warum?!", fragte Ren nun nur noch energischer.

Das übliche dekadente Grinsen erschien auf Haos Zügen. „Du musst schon deutlicher werden."

Ren erhob sich jählings, stand nun aufrecht und majestätisch vor dem Langhaarigen, der unberührt zu ihm hinaufsah. Der Schwarzhaarige verengte seine Augen zu gefährlichen Schlitzen und ballte die Hände zu Fäusten. Nur noch das Feuer trennte Hao und ihn. Die anderen Schamanen hielten den Atem an. Niemand maßte sich ungestraft an, so mit Hao zu reden.

„Warum?", fragte Ren zum vierten Mal. „Warum ich? Warum ausgerechnet ich?" Es war ihm egal, dass die anderen Gefolgsleute Haos ihm zusahen, er wollte endlich die Antwort auf diese Frage. Endlich Klarheit.

Hao blieb unbeeindruckt. „Das habe ich dir schon einmal gesagt. Aber bitte, wenn du es noch mal hören willst: Du hast Potential. Du bist wesendlich besser, als die anderen, du weißt es -"

„Komm mir nicht so!“, fuhr Ren ihm scharf dazwischen und in diesem Moment schien selbst Hao überrascht von Rens Temperament. Bason erschien neben dem Chinesen. Er schien merklich beunruhigt.

„Wie willst du denn, dass ich dir antworte?", fragte Hao, der sich wieder gefasst hatte, provozierend.

„Ehrlich!", antwortete Ren augenblicklich.

Haos Augen glommen auf. „Du willst die Wahrheit?!"

„Das und nichts anderes!"

/Meister Ren, nein! Hao .../ Es war das allererste Mal, dass Bason mit Hao sprach. Doch dieser schaute den Schutzgeist nur kalt an. „Halt dich da raus, Bason!", zischte er und Ren hätte sich darüber gewundert, dass Hao Bason überhaupt Beachtung schenkte, doch er war zu erpicht auf die Antwort. Der Kopf des Langhaarigen ruckte wieder in Rens Richtung. „Die Wahrheit und nichts anderes?!", höhnte er. „Du weißt es also nicht. Deine Schwester hat sich wohl nicht überwinden können, es dir zu sagen“, spuckte er verächtlich aus. Dann grinste er voller Spott und Geringschätzung. „Die Wahrheit?! Ich gebe sie dir!"

/Hao, nein!/
 

„Jun?"

„Ja Ren?"

„Ich habe Angst."

„Das brauchst du nicht."

"Aber ich hab trotzdem Angst." Der Junge schniefte.

„Komm her." Jun zog ihren kleinen Bruder in ihre Arme. „Alles wird gut, Ren-chan."

Der sechsjährige Junge hob den Blick. „Vater macht mir Angst." Jun drückte ihn sachte näher an sich, schwieg jedoch. „Jun, er sagt, ich müsse das Erbe der Taos antreten. Aber vorher müsste ich noch ein spezielles Training ablegen."

„Alles wird gut." Jun strich ihm durch die Haare und für wenige Momente schien Rens Welt wieder in Ordnung.
 

„Nein!"

„Doch!"

„Nein!"

„Doch!"

„Horohoro!"

„Ren!"

„Wieso willst du es nicht verstehen? Ist dein Gehirn da oben zugefroren, Schneemann?"

„Hat die Sonne deins verglühen lassen, Spitzkopf?"

„Treib es nicht zu weit!"

„Würde ich nicht wagen, ehrenwerter Tao Ren!"

„Na warte, du -" Mit einer raschen Bewegung hatte Ren sich auf den Ainu geworfen und presst eihn zu Boden. Er kam

dem Gesicht des Ainus so nahe, dass sie nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Ein selbstsicheres Grinsen zierte sein Gesicht. „Ich übernehme die Nachtwache, nicht du.“

„Aber -"

„Keine Widerworte, Horohoro!"

„Doch!"

Ren stutzte. „Wie war das?“

„Ich mache heute auch Nachtwache!", beharrte der Stirnbandträger felsenfest.

„Nein."

„Doch."

„Entschuldigt, ihr beiden", erklang eine Stimme neben ihnen.

„Was?!", entgegneten Ren und Horohoro gleichzeitig.

Jun lächelte nervös. „Tut mir leid, dass ich störe."

„Du störst nicht", sagte Ren schnell und sah sie entschuldigend an, blieb jedoch weiterhin auf Horohoro liegen.

Jun wirkte sichtlich angespannt. „Ren, ich fürchte, ich muss mit dir ... wenn es nicht stört ...“

„Doch", flüsterte Horohoro Ren aus dem Mundwinkel zu.

„Nein", erwiderte Ren und musste ungewollt grinsen.

„Doch!"

„Nein!"

„Doch!"

„Ähm", Jun musterte die beiden Jungen, die sich belustigt stritten, mit zunehmendem Misbehagen. Ein gequälter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Sie brachte es nicht übers Herz, es Ren zu sagen. Nicht jetzt, wo er langsam dabei war, sich zu öffnen. Zu leben.
 

„Nein", flüsterte Ren mit weit aufgerissenen Augen.

„Doch", entgegnete Hao kalt und sah ihn hochmütig an. Die Blicke aller Anwesenden ruhten auf dem Chinesen, der den Eindruck machte, als sei er dem Tod begegnet. Bason schwebte beunruhigt näher. /Meister Ren? Meister?/

„Du lügst doch", wisperte Ren geschockt und starrte Hao entgeistert an. „Du lügst. Sag mir, dass du lügst - sag es!"

,Du lügst doch!', hatte Horohoro auch zu ihm gesagt, als er verkündet hatte, er gehöre nun zu Hao. Und er selbst hatte geantwortet -

„Ich lüge nie", sagte der Braunhaarige so ruhig, wie Ren damals auch geklungen haben musste.

„Das kann nicht stimmen", würgte der Schwarzhaarige hervor. „Unmöglich!"

"Möglich", entgegnete Hao schlicht. „Und wahr."

„Nein!", schrie Ren ihn unvermittelt an.

„Es kann nicht wahr sein! Meine Familie kämpft seit zwei Jahrtausenden um die Schamanenkrone, für ihre Ehre.“

„Falsch!“, donnerte Hao in derselben Lautstärke, „Sie kämpft seit zwei Jahrtausenden um die Schamanenkrone – für mich!“

„Nein!“

„Doch Ren! Seit zwei Millennien kämpft deine Familie für mich, als treue Untergebene.“

„..."

„Du kannst deine nicht leugnen, Ren! Auch du bist dazu bestimmt, ein treuer Untergebener für mich zu sein, wie deine Vorfahren. Mit dem Befehl, dass du an meine Seite trittst, habe ich nur das eingefordert, was mir zusteht – deine Loyalität und deine Stärke.“

„Warum hat mir nie jemand etwas darüber ...", flüsterte Ren gebrochen und Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. „Meine Mutter, mein Vater, Jun un, sie -", er brach ab. Jun?
 

„Ren, ich fürchte, ich muss mit dir ... wenn es nicht stört ...“
 

Das durfte nicht wahr sein. Hatte Jun es ihm etwa sagen wollen?

„Deine Mutter durfte es dir nicht sagen, genauso wenig dein Vater, En", erklärte Hao kalt lächelnd mit verschränkten Armen. Noch immer saß er auf dem Stein und blickte zu Ren hinauf. "Du solltest erst in dem Glauben bleiben, für dich selbst um den Schamanentitel zu kämpfen. Jun, dein ach so feines Schwesterlein hatte die Aufgabe, es dir auf dem Weg nach Doby Village zu sagen, aber offensichtlich", er verzog missbilligend das Gesicht, „hat sie es wohl nicht übers Herz gebracht. Ebenso Bason."

Ren zuckte zusammen und sah Bason fassungslos an. „Bason?"

Nein, nicht das. Nein.

Bason senkte schuldbewusst den Blick. /Es tut mir leid, Meister Ren./

Nein!

„Ja Ren, auch Bason", fuhr Hao mitleidlos fort. „Er wurde dir nur als Schutzgeist zur Seite gestellt, weil ich es befohlen habe."

„Nein!", wehrte Ren die Worte ab, versuchte verzweifelt ihnen keinen Glauben zu schenken. Doch Hao ging nicht mehr auf seinen kümmerlichen Protest ein. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass mein treuester Helfer irgendeinen dahergelaufenen schwachen Schutzgeist erhält."

Ren hielt sich mit den Händen die Ohren zu. „Sei still." Er wollte es nicht mehr hören.

„Ich bin nicht still, Ren. Verschließe dich nicht vor der Wahrheit!"

„Nein ... bitte." Jetzt war er sogar schon soweit, Hao darum zu bitten.

„Was ist denn, Ren?", fragte dieser unschuldig. „Erträgst du die Wahrheit etwa nicht?"

„Hör auf", keuchte Ren leidend.

„Nein, ich lasse dich erst in Ruhe, wenn du es akzeptierst, Ren!", sagte Hao mit unbarmherzig unbeteiligter Stimme.

Bason schwebte schützend näher an Ren. /Hao, lass ihn!/

Gebieterisch erhob Hao sich nun doch und sah Ren unbewegt an. „Das werde ich nicht! Ren, sieh es ein, es war alles geplant. Ich brauchte nur noch einen kleinen Anreiz, um dich auf meine Seite ziehen zu können. Und du weißt, wer diesen Anreiz darstellte.“

Ren nahm in Zeitlupe die Hände von den Ohren. Er begann zu zittern. „Halt Horohoro da raus!"

„Akzeptier es, Ren!", wurde Hao mit einem Mal wieder laut. „Der Sinn deines Lebens war von deiner Geburt an vorbestimmt.“

Ren fühlte sich, als sei in seinem Inneren etwas zerbrochen. Die Scherben seines Geistes splitterten und barsten. Sie bohrten sich schmerzhaft in seine Seele. Das Licht in seinen bernsteinfarbenen Augen verlosch und sie wurden starr und stumpf. Jegliches Leben schien aus seinem Inneren zu weichen, verlor sich irgendwo in der Schwärze seines Bewusstseins, genau wie Haos Worte. Taubheit hüllte ihn ein, umschloss ihn, wie ein Käfig. Mein Schicksal ...

Verwundert hob Hao eine Augenbraue. Er hatte mit einem erneuten Ausbruch von Ren gerechnet, aber damit? Der Chinese sagte nichts mehr, sein Blick war ausdruckslos. Hao verengte die Augen. Das war nicht vorgesehen.

/Meister Ren. Meister?/ Unruhig schwebte Bason um Ren herum. /Ren?/ Seine Rufe wurden eindringlicher, doch von Ren kam keine Reaktion. Er starrte nur weiterhin stumm ins Leere.

Zögernd stand Opacho auf und näherte sich dem Schwarzhaarigen. Er warf einen unsicheren Blick auf Hao, bat stumm um dessen Einverständnis, doch dieser zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, bevor er es sich wieder auf seinem Stein bequem machte. Langsam hob Opacho die Hand und griff nach Rens. Langsam brachte er den Chinesen dazu, ihm zu folgen. Bason schwebte dicht neben ihnen und warf stetig besorgte Blicke auf Ren.

In Rens Zelt angekommen drückte Opachor ihn mit sanfter Gewalt auf sein Futon. Auch dies ließ der Schwarzhaarige zu, ohne es zu bemerken.

/Danke/, sagte Bason leise, der unweit neben dem Jungen schwebte.

Opacho lächelte ihn in kindlicher Freundlichkeit an. „Keine Ursache. Er scheint einen schweren Schock zu haben." Opacho wurde ernst. „Das tut mir leid. Ich habe nichts von dem gewusst, was Meister Hao gerade gesagt hat."

/Ich schon!/, sagte Bason betrübt, während sein Blick auf Ren ruhte, der stumm und emotionslos an die Decke des Zeltes starrte.

/Ähm/, Bason zögerte, /würdest du ihn - könntest du ihn vielleicht .../ Er machte ein paar zaghafte Gesten in Richtung Bettdecke. Opacho verstand und zog den Stoff über Rens eiskalten Körper. „Du machst dir große Sorgen um ihn."

/Ja. Es ist meine Schuld, dass es ihm so geht./

Opacho sah ihn lange an. „Was ist damals eigentlich passiert?"

Bason senkte den Blick. /Wo soll ich da anfangen?/ Er dachte zurück, an das Ereignis, welches vor Jahrtausenden seine Zukunft bestimmen sollte.
 

*~*
 

„Bason!"

Der Krieger sah auf. Vor ihm stand ein Unteroffizier, der sich ehrfürchtig verneigte. „Ja?", fragte Bason und legte die Waffe, die er soeben noch poliert hatte, beiseite.

„Der Kaiser verlangt Euch zu sprechen."

Bason erhob sich majestätisch und sah den Mann in der Rüstung verwundert an. „Der Kaiser persönlich?"

„Ja, Herr."

„Wo finde ich ihn?"

„In seinem Zelt, Herr."

„Gut. Dann werde ich gleich gehen." Der Kaiser schritt an dem Unteroffizier vorbei, schob den Vorhang am Eingang des Zeltes beiseite und trat hinaus. Missbilligend verzog sich sein Mund, als sein Blick über die vielen Zelte und Verletztenn schweifte. Wann hatte dieser Krieg bloß ein Ende? Während er sein Donnerschwert an seinem Gürtel befestigte, überquerte er schließlich das Zeltlager und erreichte schließlich das Hauptzelt, welches sich um einiges von den anderen Zelten abhob. Ein letztes Mal straffte er die Schultern, bevor er es betrat.

Das Zelt war prunkvoll eingerichtet. Kostbare Tücher mit chinesischen Glückssymbolen hingen an den Wänden und in der Mitte des Zeltes stand ein hoher Stuhl, auf dem, in wertvollste Gewänder gehüllt, der Kaiser Chinas saß. Den Thron flankierten je zwei Soldaten links und rechts. Des Kaisers eben noch finstere Mine hellte sich bei Basons Anblick merklich auf. „Bason."

Bason kniete vor dem Kaiser nieder. „Ihr habt gerufen, mein Kaiser?"

„Ja. Wir müssen handeln." Der Mann hob die Hand und die Soldaten verließen das Zelt. Anschließend erhob er sich und schritt auf Bason zu, der noch immer ehrfürchtig kniete. Er lächelte auf den anderen hinab. „Erhebe dich, mein Freund. Du musst wahrlich nicht vor mir knien, tapferster Mann Chinas."

Nach einigem Zögern erhob sich Bason schließlich. Er bemerkte den, trotz allem besorgten Blick des Herrschers. „Was ist geschehen, mein Kaiser?"

Dieser seufzte, bevor er zu erklären begann: „Einer meiner Späher ist soeben zurückgekehrt. Er berichtete mir, dass der Feind an der Westfront an Verstärkung gewonnen hat und unaufhaltsam näher rückt."

Beunruhigt musterte Bason den Kaiser. „Was werdet Ihr nun tun?"

Der Kaiser wandte ihm den Rücken zu. „Ich bin ein alter Mann, Bason. Zu alt für den Krieg. Das habe ich in den letzten Wochen nur allzu deutlich gespürt."

„Kaiser?"

„Bason", der alte Mann drehte sich wieder zu ihm um, „ich möchte dir den Posten des Oberheerführers übergeben."

Bason erstarrte. „Aber Herr, das ist Euer -"

Er verstummte, als der Kaiser nur den Kopf schüttelte. „Ich bitte dich, Bason. Dich, den stärksten Krieger Chinas. Dein Ruf dringt sogar bis in das Land unserer Feinde vor, sodass selbst sie sich fürchten. Bason, ich, der Kaiser, lege die Zukunft meines Volke in deine Hände."

Er senkte demütig den Kopf. „Ich ... ja, mein Kaiser."
 

„Bason, der Feind rückt vor!"

„Ich weiß, deckt die West- und Südseite!"

„Nein, mein Lord. Sie kommen von Osten!"

„Von Osten?"

„Ja!“

„Eine Falle! Ruf die Krieger zurück!" Rasch lenkte Bason sein Pferd nach rechts. „Komm schon schwarzer Phönix, lass mich jetzt nicht im Stich." Er drehte sich zu den ungefähr fünfzig Kriegern um, die in Reihen hinter ihm standen und auf seine Befehle warteten. Seine treuesten Kämpfer.

„Chung-Hai-Fu?"

Ein junger Mann löste sich aus der ersten Reihe und ritt näher. „Ja, mein Lord?" Auf der behandschuhten Hand des Mannes saß ein stolzer Adler. Bason sah ihn an. „Schicke dem Kaiser eine Nachricht. Schreibe ihm, dass wir gewinnen werden."

„Jawohl."

„Fun-Ten-Pa?" Ein weiterer Reiter löste sich aus der Reihe der anderen Krieger. Auch er war noch sehr jung.

„Ja, Bason?"

„Du bist mein treuester Mann und Freund."

Ten-Pa lächelte. „Ich weiß."

Bason erwiderte es schwach. „Mein Freund, ich möchte, dass du mit deinen Leuten zurück zum Palast reitest und ihr den Kaiser für den Fall der Fälle mit eurem Leben schützt. Meine Männer werden mit mir den Feind von hinten angreifen."

Der junge Mann zögerte. „Bist du dir sicher, Bason?"

„Ja."

Ten-Pa nickte ihm, nachdem er ihn eingehend angesehen hatte, schwach zu, gab seinen Leuten mit der Hand ein Zeichen und ritt mit ihnen in die andere Richtung, zurück zum Kaiserpalast.

„Viel Glück, mein Freund!", rief er Bason noch zu, dann verschwand er in einer Staubwolke, aufgewirbelt von den Pferdehufen.

Bason sah ihnen lange nach. „Dir auch viel Glück", sagte er leise, bevor er sich seinen Männern zuwandte.
 

Aufmerksam sah er sich um. Sie passierten gerade mit ihren Pferden einen Engpass, auf dem Weg zu dem Hauptstützpunkt ihres Feindes. Wenn sie diesen Punkt zerstören würden, wäre es für den Rest der chinesischen Armee ein leichtes, die Truppen des Feindes vernichtend zu schlagen. Doch zunächst musste ihre Mission erfolgreich enden.

„Achtung!"

Ein Pfeil sirrte dicht vor ihnen in den Boden. Basons schwarzer Hengst scheute, doch er schaffte es, ihn zu beruhigen.

Seine Augen weiteten sich, als die Erkenntnis ihn überrollte. Er wirbelte zu seinen Kriegern herum. „Ein Hinterhalt! Geht in Deckung!"

Doch wo in Deckung gehen, wenn keine da war? Es gab nur eine Möglichkeit. Sie mussten den Engpass so schnell wie möglich verlassen. Er gab den Männern ein Zeichen. Sie sollten so schnell wie möglich Losreiten. Nur wenige hundert Meter vor ihnen sah er den Ausweg. Dort hinten war der Engpass zu Ende. Ihre Rettung.

Wenn ich nicht schon mindestens ein Drittel meiner Männer durch diesen Hinterhalt verloren hätte, dachte er bitter. Er zügelte sein Pferd und bedeutete seinen Männern weiter zu reiten, während er sich umdrehte, um einen Überblick über die ganze Situation zu bekommen.

Die feindlichen Krieger hatten sich oberhalb des Engpasses zwischen den Felsen platziert und feuerten mit Pfeilen auf sie. Erneute verfehlte ihn ein Pfeil nur knapp und er begriff, dass es zu riskant wäre, noch länger hier zu bleiben. Er zog an den Zügeln seines Pferdes und es wandte sich in die gegebene Richtung.

„Lauf!" befahl Bason, und es setzte sich in Bewegung. Er hatte gerade einige Meter hinter sich gebracht, als ein stechender Schmerz seine linke Schulter durchzog. Er keuchte schmerzerfüllt und begann zu schwanken. Nur mit Mühe schaffte er es, sich auf dem Sattel seines Pferdes zu halten. Er saß nach links und erkannte, dass ein Pfeil ihn getroffen und seine Schulter durchbohrt hatte. „Los, schwarzer Phönix, schneller!"

Doch zu spät. Ein Pfeil traf sein Pferd, welches gequält wieherte und zur Seite kippte. Bason fiel vom Sattel und landete hart auf der Erde. Ein Blick nach vorne zeigte ihm, dass seine Männer innegehalten und sich umgewandt hatten. Sie machten Anstalten, auf ihn zuzureiten.

„Nein!", rief Bason ihnen zu. „Kommt nicht näher! Sonst treffen sie euch auch mit den Pfeilen! Im Moment seid ihr weit genug weg!" Er hörte ein erneutes Sirren hinter sich und spürte, wie sich etwas in seinen Rücken bohrte. Er stöhnte auf und sackte zusammen. Nein!

Er durfte jetzt nicht sterben. Er hatte es dem Kaiser doch versprochen ...
 

,Bason, ich, der Kaiser, lege die Zukunft meines Volkes in deine Hände.'
 

Er durfte ihn nicht enttäuschen. Nur am Rande bekam er mit, wie ein dritter Pfeil ihn traf. Die Schmerzen waren ohnehin schon unerträglich und er spürte, wie sich die Schwärze an den Rand seines Bewusstseins schlich, während seine Sicht immer unschärfer wurde. Ich darf nicht sterben! Nicht jetzt! Doch es war zu spät ...
 

Du willst nicht sterben?

Nein!
 

Was war das für eine Stimme? Wer sprach da zu ihm?
 

Würdest du alles tun, um weiterleben zu können.

Alles.
 

Ja, er würde alles tun, um den Willen des Kaisers zu erfüllen.
 

Ich kann dir helfen.

Helfen?
 

Wie konnte man ihm noch helfen? Er starb, das wusste er.
 

Ich schenke dir das Leben, wenn du als Gegenleistung einen Pakt mit mir eingehst.

Einen Pakt?
 

Es gab noch eine Chance auf Leben? Es gab noch Hoffnung?
 

Ja, es gibt noch Hoffnung.

Was muss ich tun?

Du bist einverstanden?

Ja!
 

Einen Moment schwieg die unbekannte Stimme.
 

Du wirst Leben. Als Gegenleistung kehrst du nach deinem Tod als Schutzgeist auf die Erde zurück.

Als Schutzgeist?
 

Was bedeutete das? Er hatte entfernt schon von so etwas gehört. Schutzgeister gehörten zum Schamanentum.
 

Du wirst einem meiner Helfer als treuer Schutzgeist dienen, wenn die Zeit gekommen ist.

Dienen?

Ja.
 

Bason zögerte. War das richtig? Andererseits - welche Möglichkeiten gab es sonst noch, um weiterleben zu können?
 

Keine.

Ich bin einverstanden.

Gut.
 

Um ihn herum wurde es mit einem Mal strahlendhell. Erblinzelte gegen das Sonnenlicht. Licht, Sonne - er lebte!
 

Vergiss unsere Abmachung nicht.
 

Bason schüttelte den Kopf. „Niemals."
 

*~*
 

/Damals wollte ich nur dem Willen des Kaisers gerecht werden/, sagte Bason betrübt. /Ich wollte Leben. Nur deshalb bin ich diesen Pakt eingegangen./ Opacho hörte ihm geduldig zu und sah nachdenklich an die Zeltwand. /Wenn ich gewusst hätte, welche Folgen mein Handeln hat ... ich will nicht sagen dass ich nicht zugestimmt hätte, aber ich ... ich wollte Ren nie diesen Schmerz zufügen./ Er schwiegen.

„So war das also."

Opacho und Bason schreckten auf und ihre Köpfe ruckten in die Richtung, aus der die Stimme kam. /Meister!/

Der Chinese hatte sich aufgesetzt und den Blick von der Decke genommen. Noch immer wirkten seine Augen leer und ausdruckslos.

Bason schwebte näher, als Ren Anstalten machte, aufzustehen. /Meistern, nicht. Du solltest nicht sofort aufstehen./

„Wieso sorgst du dich um mich?", fragte Ren kalt und sah Bason teilnahmslos an.

Dieser wich zurück. /Wieso -? Ich bin dein Schutzgeist, also –“

„Warum machst du dir Sorgen um mich?", wiederholte Ren, ohne irgendeine weitere Mimik zu zeigen. „Ich bin doch gewissermaßen nur ein Gegenstand. Für Hao bin ich ein Mittle, eine Waffe für seinen Sieg, für meinen Vater war ich dasselbe. Und für dich war ich ein Ticket zum Leben, um deine letzte Pflicht erfüllen zu können."

Bason sah verletzt zur Seite. /Meister, ganz so ist es nicht, ich -/

„Ich mache dir keinen Vorwurf", fuhr Ren dazwischen. Der Schutzgeist sah überrascht auf, nur um bei Rens nächsten Worten die Augen zu weiten. „Wir alle handeln aus Eigennutz heraus. Keine Handlung von uns erfolgt, ohne dass wir in ihr nicht wenigstens einen kleinen Vorteil für uns sehen."

Entsetzt wich Bason zurück. Ren erhob sich nun gänzlich. Strähnen seines Haares fielen ihm ins Gesicht und verdeckten seine Augen, während er unberührt weiter sprach.

„Hao hat gesagt, meine Familie hätte ihm seit zwei Millennien gedient. Es ist also meine Bestimmung, an seiner Seite zu Kämpfen."

/Meister Ren, was redest du da?/

„Mir ist nur etwas klar geworden. Mein Schicksal ist es, für Hao zu Kämpfen. Ich dachte, ich könnte den Fängen meiner Familie und meines Erbes entkommen, aber ich habe mich geirrt. Nun weiß ich, was ich zu tun habe." Er hob den Blick und Bason und Opacho keuchten entsetzt auf. Rens einst klare bernsteinfarbene Augen glommen rot auf.

/Meister Ren?/, fragte Bason bestürzt. /Was ist los mit dir? Was -/ Er brach ab. Sein Blick wanderte an Ren vorbei und seine Augen verengten sich. /Hao/, knurrte er leise.

Der Schamane stand am Eingang des Zeltes, hatte den Vorhang mit einem Arm beiseite geschoben, seine andere Hand ruhte auf Höhe seiner Hüften. Ein zufriedenes Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

„Meister Hao?", fragte Opacho unsicher, doch erhielt er keine Reaktion. Bason wechselte von seiner kleinen Geistform, die er die ganze Zeit beibehalten hatte, in seine Menschengestalt. Seine rechte Hand legte sich rein instinktiv um den Griff seines Schwertes. /Hao, was hast du mit Ren gemacht?/, fragte er drohend.

Die Augenbrauen des anderen wanderten in die Höhe, seine Mundwinkel hoben sich. „Nicht wirklich viel. Ich habe ihn ein wenig", er trat näher heran und legte Ren eine Hand auf die Schulter, was dieser ohne mit der Wimper zu zucken duldete, „willig gemacht. Der Geist des Feuers besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, Leute von seinem Willen zu überzeugen, ganz gleich, wie stark sie sich zunächst dagegen wehren mögen.“

/Nein!/, rief Bason entsetzt aus.

„Doch", gab Hao mit einer stoischen Gelassenheit zurück, die regelrecht grausam war. Er wandte sich Opacho zu, der ihn leicht irritiert ansah. „Opacho, verlass bitte das Zelt. Ich muss mit Bason reden.“

Basons Hand, die noch immer das Schert umklammerte, verkrampfte sich bei diesen Worten, während Opacho nur verwundert blinzelte. „Aber...aber Meister", protestierte er dann. „Warum kann ich nicht –“

Opacho “, zischte Hao und bedachte den Jungen mit einem gefährlichen Blic, der Opacho zurückstolpern ließ.

zusammenzucken ließ. „Geh jetzt!"

Mit ängstlichem Gesichtsausdruck lief der Junge an Ren und Hao vorbei aus dem Zelt. Kurz ballte Rens Hand sich zur Faust, bevor sich erschlaffte und keine weitere Regung mehr zeigte. Hao hatte Opacho hinterher gesehen, nun wandte er Bason wieder den Kopf zu. „Und nun zu dir", sagte er leise. „Wir hatten eine Abmachung, erinnerst du dich?"

Der Schutzgeist schwieg.

„Erinnerst du dich, Bason?!", fragte Hao nachdrücklicher und ein gefährlicher Unterton schwang in seiner Stimme mit.

/Ja/, gab Bason schließlich nach.

Hao nickte zufrieden. „Ich gab dir das Leben und du erklärtest dich dazu bereit, nach deinem Ableben als Schutzgeist

zurückzukehren und einem meiner Gefolgsleute zu dienen."

/.../

„War es nicht so?!", verlangte Hao kalt zu wissen.

/Ja, es war so./

Nun grinste Hao wieder. „Du wirst Rens Befehlen weiterhin gehorchen und sie ausführen, mit dem kleinen Unterschied, dass Rens Befehle zufällig den meinen entsprechen werden. Haben wir uns verstanden?" Bason wich seinem Blick aus. „Ob wir uns verstanden haben?!"

Der Krieger schluckte. Eine Abmachung ...

/Ja, das haben wir./
 

Eine Abmachung, die das Leben eines rettete und das eines anderen zerstörte.

Liebe

9. Kapitel: Liebe
 

Wen nie die Liebe leiden ließ, dem schenkt die Liebe niemals Glück.
 


 

,Der Sinn deines Lebens war von deiner Geburt an vorbestimmt!'
 

,Du kannst deine Herkunft nicht leugnen!'
 

,Run, ich hab Angst ...'
 

„Ren ..."
 

,Akzeptier es, Ren!'
 

,Vater macht mir Angst.'
 

„Ren."
 

,Du lügst doch!'
 

‚Netter Zeitvertreib. ..'
 

„Ren!"
 

,Zerstöre oder du wirst zerstört!'
 

„Ren!“
 

„Horohoro.“
 

Er riss die Augen auf. Keuchend versuchte er sich zu orientieren. Alles um ihn war verschwommen. Er blinzelte heftig und die Umgebung nahm allmählich wieder klare Konturen an. Die Schwärze am Rand seines Blickfeldes verschwand. Langsam setzte er sich auf und sah sich desorientiert um, spürte jedoch wenige Sekunden später zwei Hände an seine Schultern, die ihn mit sanfter Gewalt wieder nach hinten drückten. „Bleib liegen. Schon gut."

Er blinzelte irritiert, sah in das Gesicht der Person über sich und blinzelte erneut. „Horohoro?", entwich ihm der vertraute Name einem Krächzen gleich. Der Ainu grinste schief. „Ja, ich. Überrascht?" Ren schwieg.

Was war hier los? Wieso war Horohoro hier? Ren sah sich um und sein Hals war mit einem Mal unangenehm trocken. Das war doch - das konnte doch nicht sein! Er lag in ihrem Zimmer, im Haus der Asakuras. Was ging hier vor sich? Sein Blick suchte Horohoros, welcher die Augenbrauen hob. „Du stehst ja noch ziemlich neben dir. Aber ist ja auch kein

Wunder, du hast wirklich gefiebert. Muss ein schlimmer Traum gewesen sein." Er musterte ihn besorgt. „Geht es denn jetzt wieder einigermaßen?"

Wie betäubt nickte Ren. Ein Traum. Ein ... Traum. Nur ein Traum.

Horohoro griff neben sich nach dem Lappen und hielt ihn in die Schüssel mit kaltem Wasser. Anschließend wrang er ihn aus und wollte ihn Ren gerade wieder auf die noch immer leicht erhitzte Stirn legen, als er merklich stutzte. Ren lächelte warm. „Ren, was ist los? Steigt dir das Fieber zu Kopf? Soll ich den Arzt rufen?"

Doch Ren schüttelte nur, weiterhin lächelnd, den Kopf. Nur ein Traum.

„Mit ist nur eben etwas klar geworden", sprach er leise. Er setzte sich auf und sah den Ainu durchdringend an. „Horohoro.“

Er beugte sich vor und registrierte mit einem warmen Gefühl, dass sein gegenüber nicht zurückwich, vielmehr seiner Bewegung entgegen kam. Ihre Gesichter näherten sich, Ren hob eine Hand und legte sie in Horohoros Nacken, ertastete die Haare des anderen. Er sah Horohoro aus halbgeschlossenen Augen das Lächeln erwidern, während ihre Lippen sich näherten. Ren spürte Horohoros Atem auf seinem Gesicht, konnte den Ainu riechen, ihn fühlen.

Unvermittelt erstarrte er. Seine Augen, die bis eben noch geschlossen waren öffneten sich wieder. Irgendetwas stimmte hier nicht.
 

Zu perfekt ...
 

Plötzlich begann Horohoro sich vor seinen Augen aufzulösen, die restliche Umgebung mit ihm. Wie von einem jähen Windstoß erfasst, lösten sie sich in Federn auf, die auseinander stoben und Ren umhüllte. Er streckte eine Hand nach ihnen aus, ließ sie jedoch Augenblicke später wieder sinken.

Sinnlos. Nur eine Illusion.

Eine einzelne weiße Feder fiel in Zeitlupe direkt vor ihn auf den nun pechschwarzen Boden. Der Boden war schwarz wie alles um ihn herum. Nur diese Feder ...

Einsam. Wie diese Feder.

Er hob sie auf und betrachtete sie mit einem sehnsuchtsvollen Blick. Bloß eine Illusion. Er hörte Schritte hinter sich, die stetig näher kamen. Die Feder verschwand, wie schon die anderen vor ihr, im Nichts.

Schnell richtete Ren sich auf und drehte sich um. Trotz der stetigen Dunkelheit konnte er die Person, die auf ihn zukam, zumindest schemenhaft wahrnehmen. Ihre Konturen hoben sich von der Restlichen Umgebung ab, ihre Gesichtszüge jedoch lagen im Schatten. Einzig die Augen der Person waren deutlich auszumachen. Sie stachen aus den dunklen Zügen des Gesichts hervor, wie die Feder eben noch von ihrer schwarzen Umgebung. Doch waren sie nicht weiß, sondern golden. Golden, wie das Licht der Sonne.

„Es tut mir Leid, dass es nur eine Illusion war", sprach die Person und durchbrach die eiserne Stille. Ihre Stimme war weich und klar zugleich und Ren ordnete sie gedanklich einem jungen Mann zu. Eine deutliche Spur Bedauerung schwang in den gesprochenen Worten mit. „Ich wünschte, die ganze Sache wäre wirklich nur ein unbedeutender Traum, aber dem ist leider nicht so. Verzeih, dass ich dich getäuscht habe, doch ich wollte dir wenigstens einen Moment der Zufriedenheit geben, inmitten all des Leids, welches du durchleben musstest."

„Wer bist du?", fragte Ren und Argwohn schwang in seiner Stimme mit.

Kurz schwieg die andere Person, bevor sie schließlich weiter sprach. Ihre Stimme hallte in der stetigen Schwärze um sie herum nach, verlor sich jedoch nicht in ihr. „Ich bin der, den ihr den stärksten Schamanen nennt. Ich bin der, der das höchste spirituelle Wesen widerspiegelt und der die Macht hat, sich selbst Muter Natur zur willigen Dienerin zu machen. Ich bin der, der aus den guten Seelen aller lebenden und nicht lebenden Schamanen erschaffen wurde. Ich bin der Schamanenkönig."

„Der Schamanenkönig?", wiederholte Ren und hob die Augenbrauen. „Seit wann hat der Schamanenkönig eine materielle Form, geschweige denn die eines Menschen?"

„Ich halte es für sinnvoller, den Schamanen, mit denen ich Kontakt aufnehme, in einer Gestalt gegenüberzutreten, die ihnen vertraut ist."

„Wieso?", fragte Ren abschätzend. „Erblassen sonst alle vor Ehrfurcht?"

„Das wäre eine Art, es auszudrücken.“

„Bei mir brauchst du dir um etwas Derartiges keine Sorgen zu machen", entgegnete Ren spöttisch. "Ich würde nicht zitternd vor dir auf die Knie fallen."

Von seinem Gegenüber erklang ein belustigter Laut. „Ich muss zugeben, es ist äußerst interessant, sich mit dir zu unterhalten, Tao Ren."

„Ach ja?"

„Ja."

"Und warum willst du überhaupt mit mir reden", harkte Ren misstrauisch nach. „Warum das alles? Warum diese Illusion? Wo sind wir hier?"

Die goldenen Augen sahen ihn lange und eindringlich an. Ren hielt dem Blick stand. „Ich will deine letzten beiden Fragen zuerst beantworten, bevor wir uns der ersten zuwenden", sagte der Schamanenkönig schließlich. „Diese Illusion habe ich entstehen lassen, um dir wenigstens eine kurze Zeit der Ruhe, in deiner vertrauten Welt zu geben. Obwohl ich zugeben muss, dass es wohlmöglich doch keine sehr gute Idee war. Ich hätte bedenken müssen, wie du dich wühlen wirst, wenn du erfährst, dass es nur eine einfache Illusion war."

„Ich verkrafte das schon", entgegnete Ren schroffer als gewollt. Er wollte nicht mit Samthandschuhen behandelt werden, nur weil er vielleicht ein bisschen mehr als die anderen durchgemacht hatte. Die goldenen Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. „Das weiß ich, aber du musstest schon soviel durchmachen." Ren wandte den Blick ab, um nicht mehr in diese Augen sehen zu müssen, die ihn mühelos zu durchschauen schienen.

„Um deine letzte Frage zu beantworten", fuhr der Schamanenkönig fort, „wir sind hier in einer Zwischendimension, die ich kurzzeitig erschaffen habe."

Ren hob den Blick wieder. „Zwischendimension also", sagte er nachdenklich. „Na ja, für dich dürfte das als Schamanenkönig nicht allzu schwierig sein."

„Das stimmt. Ich habe einen Teil deines Bewusstseins hierher geholt, da ich der Meinung bin, dass der Zeitpunkt näher rückt, dass etwas unternommen werden muss."

„Was muss unternommen werden?"

„Das führt uns nun zu deiner ersten Frage. Nämlich der Beweggrund, der mich dazu brachte, mich dir zu offenbaren und mit dir reden zu wollen."

„Und der wäre?"

„Hao.“

Der Schamanenkönig sah, wie Rens Haltung sich bei dem Namen merklich versteifte und seine Augen sich gefährlich verengten. „Hao?", wiederholte der Chinese leise und deutlicher Hass schwang in seiner Stimme mit.

Der Schamanenkönig seufzte. „Ich dachte mir, dass du so reagieren würdest."

Rens Augen blitzten gefährlich, als er den anderen mit ihnen fixierte. „Wie sollte ich auch sonst reagieren?!", gab er ungehalten zurück. Es war ihm gleich, ob er mit dem Schamanenkönig, der höchsten Autorität überhaupt sprach, und dass sein Tonfall respektlos war. Sein Hass auf Hao war das Einzige, was er in diesem Augenblick spürte. Ein brennender

Hass, der sich bis tief in seine Seele zu fressen schien.

Die Person vor ihm wandte den Blick ab. „Nein, verzeih. Es ist nur gerechtfertigt, dass du so auf ihn reagierst." Ren stutzte, angesichts der Worte. „Ich verlange auch nicht, dass du ihm verzeihst, was er dir angetan hat", fuhr der Schamanenkönig fort, „aber ich habe dennoch eine Bitte an dich."

„Und die wäre?", fragte Ren forschend. Er sah, wie der Schamanenkönig erneut den Blick abwandte und spürte, wie sich

Unbehagen in ihm ausbreitete. „Sie wird mir nicht gefallen", stellte er sachlich fest.

„Nein", stimmte der Schamanenkönig ihm zu. „Das wird sie nicht."

Ren schluckte, versuchte aber trotzdem so gefasst wie möglich zu bleiben. „Sag schon", forderte er, darauf bedacht so ruhig zu klingen, wie angesichts dieser Umstände möglich war. „Was verlangst du von mir?"

„Bitte befolge Haos zukünftige Befehle."
 

oOo
 

Horohoro schreckte auf und blickter sah nach rechts. „Kororo, hast du das auch gspürt?"

/Huh!/ Sie nickte bestätigend. „Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Das spüre ich."

Ren, er blickte in den Himmel über sich. In den letzten Tagen habe ich dauerhaft sein Bild vor Augen. Er fehlt mir, seine Gesellschaft fehlt mir.
 

oOo
 

Ren entglitten sämtliche Gesichtszüge. „W-was hast du da gesagt?!", fragte er schockiert und Entsetzten war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich soll weiterhin -?! Ich dachte, du bist hier, um mir zu helfen!"

„Ich", der Schamanenkönig schien mit sich selbst zu hadern, „kann dir momentan nicht helfen. Noch nicht."

In all seiner Fassungslosigkeit spürte Ren Zorn und Verbitterung in sich aufsteigen. Sie breiteten sich in ihm aus, nahmen von ihm Besitz. Seine Hände begannen zu zittern und er ballte die Fäuste. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

„Es war von Anfang an klar", sagte er leise und seine Stimme wankte merklich, Bitterkeit schwang in ihr mit. Der

Schamanenkönig hob den Blick. „Was war klar?", fragte er verwundert.

„Es war klar, dass du nicht wirklich hier sein konntest, um mir zu helfen. Warum auch?!" Er lachte kalt und emotionslos auf. „Warum sollte man mir auch helfen? Ich bin Tao Ren. Was habe ich denn erwartet? Dass man vielleicht auch mal etwas für mich tut? Nein, ich bin nur ein kleiner, unbedeutender Handlanger Haos. Ich bin einer von denen, die ich früher selbst bekämpft habe." Seine Stimme schwankte bedrohlich und seine Augen brannten. All das, was er in den letzten

Stunden erlebt und erfahren hatte, drängte nun von allen Seiten auf ihn ein. Doch er sprach weiter. „Ich weiß, dass ich schwach bin. Ich weiß, dass ich bereits oft versagt habe. Ich weiß, dass ich nicht bekommen kann, was ich mir aufs sehnlichste wünsche -"

All diese Frustration, dieser Hass auf sich selbst, diese Verbitterung ...

Ren spürte, wie das Brennen zunahm. Die goldenen Augen seines Gegenübers weiteten sich, als vor dem Chinesen etwas auf den Boden tropfte. Rens Stimme drohte ihm nun zu versagen, doch er zwang sich weiterzureden, wurde noch etwas lauter als vorher. „Aber muss man mir das immer wieder klar machen?! Ich habe es doch begriffen! Ich habe begriffen, dass ich keine Freunde haben kann, dass ich sie verraten musste! Ich hab begriffen, dass meine Gefühle nicht richtig sein können!" Tränen rannen ihm über die Wangen, er schien sie nicht wahrzunehmen, seine Beine quittierten ihm vollends den Dienst und er sank in die Knie, stützte sich mit den Armen vom Boden ab. „Ich habe begriffen, dass ich so nicht fühlen darf, dass es falsch ist und ich ihn sowieso nur in Gefahr bringe! Ich habe verdammt noch mal begriffen, dass ich ihn nicht haben kann! Ich habe es doch begriffen! “ Er schrie diese Worte regelrecht. „Aber warum", er sah auf und sein Gegenüber stockte, als er den Schmerz und die tiefe Verzweiflung in den bernsteinfarbenen Augen des Schwarzhaarigen sah. Rens Stimme war nur noch ein schwaches Flüstern. „Warum tut es immer noch so weh? Warum?"

Erneut tropften vor ihm etwas auf den pechschwarzen Boden. Der Schamanenkönig ging vor Ren auf die Knie. Er sah ihn warm an, hob die Hand und strich dem Schwarzhaarigen über die Wange, wischte die Tränen beiseite. „Weil du ihn liebst."
 

*~*
 

„Jun?"

„Ja, Ren-chan?"

„Was ist Liebe?"

Jun hob Überrascht den Blick und sah den Jungen vor sich verwundert an. Er sah sie aus naiven bernsteinfarbenen Kinderaugen an und etwas Wissbegieriges lag in seinem Blick. „Liebe?", wiederholte Jun langsam, als sein sie nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

Zustimmend nickte Ren. „Ja, Liebe. Was ist das, Jun? Ich hab das Wort nur einmal gehört."

Sie zog den vierjährigen Jungen zu sich und setzte ihn sich auf den Schoß. „Und wo hast du davon gehört?", fragte sie lächelnd und strich ihm liebevoll durch die schwarzen Haare.

„Na ja", begann Ren zögernd, „in einem Märchen."

„In einem Märchen?"

Er nickte ohne sie anzusehen, während er mit einem Bändchen an seinem Chinesischen Oberteil spielte. „Ich weiß, Vater verbietet so etwas wie Märchen, aber ... Bason hat es mir erzählt."

„Bason?", sagte Jun erstaunt und belustigt zugleich, während ein Bild von einem bärtigen Opa-Bason in einem Schaukelstuhl und mit großer Vorliebe zum Geschichtenerzählen in ihrem Kopf herumgeisterte und sie zum Schmunzeln brachte.

„Ich habe so lange gebettelt, bis er es mir erzählt hat."

„Und welches Märchen war es?", fragte Jun sanft lächelnd. „Ein Chinesisches?"

„Nein", Ren schüttelte den Kopf. "Es war nicht von hier. Bason sagt, es kommt aus dem Westen. Von ganz weit weg!"

„Ach ja?"

„Ja. Er hat gesagt, er hätte es, als er noch gelebt hat von einem Reisenden gehört, der aus dem Westen kam. Er sagt, es hieße", der Junge überlegte kurz, schien offenbar nach dem Namen zu suchen, „Dornblume ... Dornröschen! Das hat er gesagt. Komischer Name, findest du nicht auch, Jun? Aber in dem Märchen wurde von Liebe gesprochen."

„Und jetzt möchtest du von mir wissen, was Liebe ist?"

„Ja!"

„Verstehe", sie blickte kurz überlegend zur Seite. „Liebe lässt sich nicht so leicht beschreiben, Ren-chan. Die Liebe ist so allumfassend. Sie ist nur einen Hauch vom Hass entfernt, da Hass ein genauso starkes Gefühl ist, nur ins Gegenteil gewandelt. Aber wenn du mal jemanden von ganzem Herzen liebst, Ren-chan", sie strich ihm über die Wange, „dann

musst du dafür sorgen, dass dieser Person nichts passiert. Beschütze das, was dir wichtig ist, mit jeder Faser deines Herzens."

Fragend blickte der Kleine zu seiner Schwester auf. „Glaubst du, ich finde diese Person irgendwann?"

„Davon bin ich überzeugt, Ren-chan."

Ein Strahlen breitete sich auf dem Kindergesicht aus und seine Augen leuchteten glücklich. „Aber denk daran", Jun hob die Hand und wedelte Ren bedeutungsvoll mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht hin und her. „Wen die Liebe nie leiden ließ, dem schenkt die Liebe auch kein Glück."

Nachdenklich blickte Ren auf den Boden und hob dann den Blick. Seine Augen funkelten entschlossen. "Ich werde diese wichtige Person finden und beschützen, mit allem was ich habe!"

Jun fuhr ihm lächelnd durch die Haare. „Davon bin ich fest überzeugt, Ren-chan."
 

*~*
 

Rens Augen weiteten sich, während er in die tiefgoldenen Augen seines Gegenübers starrte. „Weil ich ihn -"

„- liebe", beendete der Schamanenkönig den Satz, behielt seine Hand an Rens Wange. „Und das weißt du auch."

Ren erwiderte nichts, starrte nur weiterhin in die goldenen Augen. „Ren", sprach der Schamanenkönig nun eindringlicher. „Du weißt es doch."

Stumm nickte der Schwarzhaarige. Es war, als würden ihm seine Gefühle zum ersten Mal vollends bewusst. Als realisierte er erst jetzt gänzlich, für wen sein Herz mittlerweile schlug. Für wen es sich entschieden hatte. Und es schmerzte, zu wissen, dass diese Gefühle aussichtslos waren. Ohne Hoffnung. Er war darauf vorbereitet, war sich seiner Gefühle bereits vor Wochen zum Teil klar gewesen, aber die komplette Erkenntnis war trotz allem nicht erträglicher. Und das trieb ihn in die Verzweiflung. Fraß ihn von innen auf.

Sein Gegenüber erkannte dies und zog ihn in eine Trost spendende Umarmung. Und dieses eine Mal ließ Ren es zu. Er klammerte sich an den anderen, ließ seinen Gefühlen, wie vor kurzem in dem Wald, freien Lauf. Wenigstens dieses eine Mal noch.

„Ich will doch nur glücklich sein", flüsterte er gebrochen. Mehr nicht. Glücklich und frei.

„Ich weiß", sagte der Schamanenkönig und strich ihm über den Rücken. „Und ich mache dir keinen Vorwurf, Ren, dass du mich für dein Schicksal möglicherweise hasst. Es tut mir leid.“
 

oOo
 

Was war Zeit? Eine subjektive Einschätzung, mehr nicht. Es war egal, wie lange er bereits hier saß und seiner Verzweiflung freien Lauf ließ. In diesem Moment durfte er schwach sein. Und man schenkte ihm den erhofften Trost, den ihm all die Jahre über verwehrt war.

Nach weiteren Minuten - oder waren es Stunden? – erlangte er die Kontrolle über sich selbst zurück und die Umarmung löste sich. Ein letztes Mal ließ er all seine Gefühle auf sich einwirken, dann verdrängte er sein Selbstmitleid und sah auf. Ihm stockte der Atem, als sein Blick auf den Schamanenkönig fiel. War das möglich? Er schluckte und setzte zum sprechen an: „Du siehst aus, wie -"

„Ich weiß, wie ich aussehe, Ren", unterbrach ihn der Schamanenkönig und Ren konnte das sanfte Lächeln auf seinen Zügen erkennen, da sein Gesicht nun nicht mehr im Schatten lag. Ren öffnete den Mund, schloss ihn und schluckte, bevor er ihn wieder öffnete und leise fragte: „Warum?"

Eine Hand strich ihm durch die Haare, genauso, wie Jun es früher bei ihm getan hatte. „Du hast es dir gewünscht, ich habe dir diesen Wunsch erfüllt."

Zaghaft hob Ren eine Hand, bewegte sie auf das Gesicht des anderen zu. „Horohoro." Nur wenige Zentimeter vom Gesicht entfernt hielt er inne. Er sah in die noch immer goldenen Augen seines Gegenübers. Langsam ließ er die Hand sinken, sein Blick glitt zur Seite, fixierte einen imaginären Punkt inmitten all der Schwärze um ihn herum und

er schüttelte den Kopf. „Es wäre – es ist nicht dasselbe", sagte er leise.

„Das dachte ich mir."

„Wie meinst du das?" Verwirrt sah Ren wieder auf.

„Ja, ich habe es mir schon gedacht", sagte der Goldäugige noch einmal und seine eben noch so vertraute Gestalt wechselte zurück in die schattenhafte Form, bei der einzig seine Augen erkennbar waren. „Siehst du Ren, das nennt man Liebe."

„Das verstehe ich nicht."

„Was verstehst du nicht?"

„Warum ich?", fragte der Chinese rückte ein Stück von dem anderen weg und sah ihn hilflos an. „Warum verliebe ich mich?"

„Warum solltest du es nicht?", stellte der Schamanenkönig die Gegenfrage.

„Weil es falsch ist!", entgegnete Ren brüsk.

„Wie könnte Liebe je falsch sein?", war die erneute Gegenfrage auf Rens Aussage.

Ren ließ den Kopf sinken. „Ich würde ihm doch nur unnötig Schmerz zufügen."

Er spürte, wie eine Hand sich unter sein Kinn legte und ihn zwang seinen Kopf anzuheben und wieder in diese allwissenden Augen zu sehen. „Der Einzige, den ich hier leiden sehe, bist du."

„Ich habe es verdient."

„Und warum?"

„Weil ich ein Tao bin."

„Und was ändert das?"

„Alles."

Der Schamanenkönig seufzte. „Ich sehe, ich muss dir noch viel erklären."

„Ach ja?!"

„Hör zu, Ren: Du magst ein Tao sein, aber was sagt das schon? Du hast ebenso ein Recht darauf, zu fühlen und zu handeln, wie jedes andere Lebewesen. Dieses Recht nennt ihr Menschen den freien Willen."

„Den besitze ich nicht."

„Warum besitzt du ihn nicht, Ren?"

„Mein ganzes Leben lang wurde ich manipuliert. Erst von meinem Vater und letztendlich von Hao, der, wenn man es genau sieht, mein ganzes Leben verfälscht und gesteuert hat und zwar in die Richtung, die ihm persönlich am besten passte."

„Dein ganzes Leben? Alles?"

„Ja."

„Hat er entschieden, dass du dich verliebst? Hat er entschieden, wen du liebst?“

Ren fuhr zusammen. Nein, das hatte Hao nicht entschieden. Das nicht. Es war ein Vorteil für ihn gewesen, aber er hatte es nicht entschieden. Das war er selbst gewesen.

Er konnte förmlich sehen, wie der Schamanenkönig ihn wieder anlächelte. „Ich sehe an deinem Blick, dass du die Antwort bereits selbst erkannt hast. Nein, Hao konnte nicht bestimmen, dass du dich in den Jungen verliebst. Denn diese Entscheidung traf dein Herz und dein Herz wird immer einen freien Willen habe, ganz gleich, ob du das Gefühl hat, von außen manipuliert zu werden. Denn dein Herz hört auf keine Regeln. Es mag nicht wahr, und für deine Ohren vielleicht kitschig klingen, aber so und nicht anders ist es. Und du musst akzeptieren, wie es sich entscheidet. Nenn es Schicksal oder Zufall, aber es ändert nichts. Verzweifle nicht daran, Ren. Du darfst alles tun, bloß nicht verzweifeln. Denn dann wirst du automatisch verlieren und das ist es wahrlich nicht wert."

„Willst du mir damit sagen, dass -"

„Ich will dir gar nichts sagen. Es ist deine Entscheidung, ob du es so sehen willst, oder nicht." Stumm nickte der Schwanzhaarige. „Aber einen Rat möchte ich dir trotz alldem noch geben und ich schlage dir ernsthaft vor, ihn zu befolgen: Hör auf das, was deine Schwester dir damals über die Liebe gesagt hat."

„Woher weißt du, was sie gesagt hat?"

„Das bleibt mein Geheimnis." Mit diesen Worten erhob der Schamanenkönig sich in einer fließenden Bewegung. „Ich schätze, es ist an der Zeit, dass du zurückkehrst. Du bist schon lange genug weg."

„Lange?", fragte Ren ungläubig. „Aber ich bin doch erst -"

„In eurer Dimension sind bereits zwei Tage vergangen", erklärte der Schamanenkönig ruhig.

„Zwei Tage? Wie konnte so schnell -?“

„Du warst ohnmächtig, Nachdem Hao kurzzeitig die Kontrolle über deinen Geist übernommen hat, bist du ohnmächtig zusammengebrochen. Diese Tatsache habe ich mich zum Nutzen gemacht, um dich hierhin zu holen. Meine Macht ist zwar überragend, aber bei weitem nicht stark genug um etwas so gewaltiges wie die Zeit zu beeinflussen. Ren", der Schamanenkönig sah auf den Chinesen hinab, „ich habe dich vorhin gebeten, Haos zukünftige Befehle zu befolgen. Ich möchte dies nur zu deinem Besten. Hao hat schon einmal die Kontrolle über dich übernommen, dies wird nicht noch einmal passieren, dafür sorge ich. Ich möchte nur, dass du seine Pläne widerstandslos ausführst, damit er in dem Glauben bleibt, er hätte weiterhin die Kontrolle über dich. Es ist sehr wichtig, dass er davon ausgeht."

Ren nickte. „Ich werde seine Befehle befolgen."

„Was immer er von dir verlangt", fuhr der Schamanenkönig eindringlich fort. „Hörst du, Ren?"

Dieser zögerte. Was immer Hao von ihm verlangte? Was, wenn er den Befehl bekam -?

„Versprich mir vorher bitte etwas", sagte Ren leise und sah auf.

„Was soll ich dir versprechen?" Rens Augen hatten wieder ihren vollen Glanz angenommen und eine feste Entschlossenheit lag in ihnen. „Versprich mir, dass Horohoro nichts passiert. Beschütze ihn, wenn nötig, sogar vor mir selbst."

„Ist das dein Wunsch?", fragte der Schamanenkönig, ließ sich seine Überraschung obgleich der Forderung jedoch nicht anmerken.

„Mehr verlange ich nicht", sagte Ren und sah ihn durchdringend an. „Dann tue ich auch, was du von mir wünschst."

Ein Nicken folgte auf seine Worte. „So sei es. Ich verspreche, den Ainu zu schützen. Im Ernstfall sogar vor dir." Er erwiderte Rens prüfenden Blick, bis dieser überzeugt war.

„Ich werde Haos Befehle folge leisten."

„Deine Entschlossenheit und dein Mut sind bewundernswert, Ren. Es ist sehr tapfer, dass du das alles auf dich nimmst."

„Habe ich denn eine Wahl?“, gab Ren bitter zu bemerken. Der Schamanenkönig wandte sich ab, zeigte keine Reaktion auf Rens letzte Worte. „Dein Bewusstsein wird in Kürze in deinen Körper zurückkehren. Ren, sei gewiss, dass ich immer ein Auge auf dich haben werde."
 

Der Schamanenkönig war im Begriff zu gehen, hatte soeben den ersten Schritt gemacht und war bereit, mit der Dunkelheit zu verschmelzen, als ihn etwas zurückhielt. Überrascht bleib er stehen, drehte den Kopf und sah auf seine

Hand hinab. Ren saß noch immer auf dem Boden, hatte wieder den Blick gesenkt. Er hatte den Arm ausgestreckt und den

Schamanenkönig an der Hand festgehalten.

„Warte", kam es leise von Ren. „Eine Bitte noch." Noch immer hielt er den Blick gesenkt.

„Was möchtest du?"

„Diese Illusionen", kam es stockend und beinahe schon geflüstert von dem Chinesen. „Würdest du - ich meine, könntest du", er hob den Blick und etwas Flehendes lag in seinen Augen, „bitte."

Und der andere verstand. „Wenn du es so wünscht." Er streckte seine freie Hand aus und berührte mit seinem Zeigefinger Rens Stirn. „Ich schenke dir eine weitere Illusion. Doch bedenke, du darfst dich nicht ihr verlieren."

Ren nickte und spürte bereits im nächsten Moment, wie eine Welle der Müdigkeit ihn überrollte. Seine Augen wurden schwer und er kippte zur Seite. Der Schamanenkönig nickte und löste sich schließlich auf, vereinigte sich mit der Dunkelheit um ihn herum. Doch davon bekam Ren bereits nichts mehr mit, hatte ihn ein anderer Teil der Dunkelheit doch bereits in ihre Umarmung gezogen.
 

*~*

Illusionen

10. Kapitel: Illusionen
 

Ein einziger Augenblick der Liebe kann wichtiger sein, als der ganze tägliche Trubel
 

„Ren? He, Ren!" Wortfetzen drangen an seine Ohren, doch sein Geist war noch zu benebelt, um ihren Sinn zu erfassen. „Ren? Nicht schlafen - hey!"

Nach und nach lichtete sich der Nebel um seinen Verstand und er war in der Lage, die Augen aufzuschlagen. Sie fühlten sich so schwer an wie Blei. Zunächst sah er alles verschwommen und er musste mehrmals blinzeln, doch schließlich nahm alles um ihn herum wieder scharfe Umrisse an. Die Erkenntnis, wo er war, ließ ihn allerdings erneut verwundert blinzeln. Ein großer Raum mit vielen Einzeltischen, samt Stühlen eine große Tafel?

„He, Ren!" Er blickte nach rechts, in die Richtung, aus der die Stimme kam.

„Horohoro?", fragte er noch immer leicht schläfrig. Der Ainu stand neben seinem Tisch auf dem er, wie er soeben leicht peinlich berührt feststellte, anscheinend geschlafen hatte, und trug eine ... Schuluniform?

Schuluniform? Was zum -?! Er bemerkte, dass er ebenfalls eine solche Uniform trug.

„Na endlich. Bist du auch mal wach, Dornröschen?", fragte der Stirnbandträger belustigt von oben auf ihn herabgrinsend und stützte sich lässig mit einer Hand von Rens Tisch ab, während er sich mit der anderen die Schultasche über die Schulter geworfen hatte, „ich dachte schon, ich muss dich wach küssen."

Wach küssen? , schoss es Ren durch den Kopf und er konnte eben noch verhindern, dass ihm das Blut in den Kopf schoss. Interessiert beugte der Blauhaarige sich etwas zu Ren hinab, der sich nur ein Stück aufgesetzt hatte.

„Sag mal, seit wann schläfst du in der Schule? Ich dachte, das wäre meine Macke!" Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.

"Schule?", fragte Ren irritiert und setzte sich nun vollends auf.

Der Ainu verdrehte die Augen. „Ja, Schule. Gott, du musst ja echt voll weg gewesen sein." Er griff nach Rens Tasche und zog den Chinesen am Arm von seinem Stuhl. „Na komm, Yoh und die anderen warten schon draußen auf uns."

Protestlos ließ Ren sich von Horohoro aus dem Klassenzimmerraum bugsieren und durch die Gänge des Schulgebäudes hinter ihm herziehen. Nur langsam sickerte die Erkenntnis in seinen Geist. Er war in der Schule - diese Illusion ... Illusion?

Sie verließen das Gebäude und Horohoro zog ihn nach links. „Wohin", setzte Ren schon an, da ihm schleierhaft war, wo Horohoro mit ihm hinwollte, doch dieser unterbrach ihn. „Zu den Fahrrädern, Idiot. Alter, hast du eben im Koma gelegen und alles vergessen?"

„Nenn mich nicht Idiot, Idiot!", fauchte Ren zurück und er sah, wie auf Horohoros Gesicht ein Grinsen erschien.

„Na bitte, das klingt doch schon viel eher nach dir."

Sie bogen um eine Kurve und Ren erblickte vor ihnen die Fahrradständer. Dort warteten bereits die anderen auf sie. Yoh, Anna, Manta, Lyserg und Chocolove.

Ja, dachte Ren und lächelte, während er sich von Horo weiter zu ihnen ziehen ließ, so sollte es eigentlich sein.

„Da seid ihr ja endlich", kam es genervt von Anna, „wir wollten schon ohne euch fahren."

„Wir konnten sie gerade dazu überreden noch zwei Minuten auf euch zu warten", raunte Chocolove Horohoro aus dem Mundwinkel zu. „Die ist mal wieder so was von schlecht drauf ..."

„Das hab ich gehört!"

„Verdammt."

Ren stand stumm daneben, während die anderen ihre Fahrradschlösser aufschlossen. Unwohl sah er sich um. Habe ich auch eins? Wenn ja, welches ist es?

„Mein Fahrrad", begann er zögernd.

„Steht bei Yoh Zuhause und hat einen Platten", vollendete Horohoro seinen Satz und schwang sich auf sein Fahrrad. „Sag bloß, das hast du auch vergessen?"

Ren antwortete nicht, sondern seufzte nur leise. Das hieß dann, dass er zu Fuß gehen konnte. Großartig. Missmutig schulterte er die Schultasche, die Horohoro ihm noch in die Hand gedrückt hatte und machte sich auf den Weg.

„He Ren, wo willst du hin?", rief Horohoro ihm hinterher und er und die anderen setzten sich mit ihren Fahrrädern in Bewegung.

„Nach Hause, wohin sonst?", gab Ren verstimmt zurück. Horohoro fuhr dicht neben ihm und sah ihn verwundert an. „Zu Fuß?", fragte er konfus. Ren blieb stehen - Horohoro tat es ihm gleich - und der Chinese bekam aus den Augenwinkeln mit, dass die anderen ebenfalls anhielten und ihrem Gespräch interessiert folgten. Langsam drehte Ren sich zu dem

Ainu um, der sich grinsend mit dem Ellbogen vom Lenker seines Rades abstützte und sein Gesicht auf seine Hände bettete.

„Ja, zu Fuß. Wonach sieht es sonst für dich aus?"

Horohoro zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, ich meine ja nur, heute Morgen bist du immerhin auch bei mir mitgefahren und das Angebot steht noch. Aber wenn du lieber zu Fuß gehst", ein erneutes Schulterzucken folgte.

Rens Augen weiteten sich leicht. „Ich bin mit dir ...?"

„Ja, Mann!", sagte Horohoro und verdrehte theatralisch die Augen, „Mal ehrlich, hattest du während der letzten Stunde 'nen Blackout? Das ist ja fast schon nicht mehr normal."

Verwirrt fasste Ren sich an den Kopf, versuchte sich zu erinnern, doch ohne Erfolg. „Ich weiß nicht. Ich fühle mich nicht so, aber", er schüttelte den Kopf, "“ergiss es, schon gut." Er drehte sich um und schritt weiter auf das Schultor zu.

„Kommt ihr jetzt, oder wollt ihr da Wurzeln schlagen?", rief er den anderen, die ihm hinterher sahen, über die Schulter zu. Er hörte Chocolove etwas von wegen typisch Ren murmeln und sah, bevor er den Blick wieder nach vorne richtete, wie Anna und Manta nur stumm die Köpfe schüttelten. Doch es kümmerte ihn nicht.

„Ren." Horohoro überholte ihn mühelos, bremste und blieb quer vor dem Chinesen mit seinem Fahrrad stehen. Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf seinen Gepäckträger. „Na los, steig auf. Wenn wir auf dich warten, kommen wir ja nie rechtzeitig Zuhause an."

Von dieser direkten Aufforderung nun doch sichtlich überrumpelt starrte Ren ihn an. „Während ihr hier mal so mit euren Diskussionen die Zeit verplempert, fahren wir schon mal vor", entschied Anna und die vier anderen Jungs stimmten ihr zu. Sie fuhren allesamt los, an Ren und Horohoro vorbei. Kurz bevor sie das Schultor passierte, hörten sie Anna noch rufen: „Und wer als zuletzt ankommt, macht das Abendessen!" Dann verschwand auch sie um die Kurve.

Knurrend sah Horohoro ihr hinterher. Dann drehte er sich wieder zu Ren um und seine Augen sprühten förmlich Funken. „Na komm schon, Ren, spring hinten drauf! Wir kommen nicht als Letzte an!" Bei so viel Eifer musste Ren schmunzeln, schüttelte aber dennoch den Kopf. „Lass nur, du kannst ruhig losfahren. Mit mir als Balast schaffst du es nie."

„Wollen wir wetten?", fragte der Stirnbandträger angriffslustig.

„Hm?"

„Ich wette, ich schaffe es mit dir hinten auf meinem Gepäckträger, Ren!"

„Ach ja?"

„Ja!"

„Das will ich sehen."

„Dann steh da nicht so dumm rum, sondern steig endlich auf!"

„Hör auf, mich rumzukommandieren, Schneemann!" Trotzdem steig er hinter Horohoro auf den Gepäckträger, seine Schultasche auf dem Rücken. Der Ainu grinste ihn über die Schulter breit an. „Halt dich fest!"

Argwöhnisch sah Ren sich um. „Und wo bitte?", stellte er die Gegenfrage. Der Blauhaarige verdrehte die Augen. Er griff nach Rens Arm, zog ihn zu sich nach vorne und schlang ihn sich um den Bauch. „An mir, woran denn sonst, Idiot?"

Ren spürte, das Blut in die Wangen schoss. „An dir?!"

„Du kannst es auch lassen, aber beschwer dich dann nicht bei mir, wenn du runter fällst."

„Nein ... schon gut." Stockend schlang Ren nun auch den anderen Arm um Horohoros Bauch, als dieser in die Pedalen trat und losfuhr.

„Denen zeigen wir, dass wir so was nicht mit uns machen lassen! Weder mit einem Horohoro noch mit einem Ren!" Er trat kräftiger in die Pedale, als sie das Schultor hinter sich ließen und bog nach rechts.

„Wo willst du hin?", fragte Ren gegen den Fahrtwind. „Die anderen sind nach links abgebogen!"

„Wir nehmen eine nette kleine Abkürzung!"

„Eine Abkürzung?"

„Ja!"

„Wo genau führt die lang?", fragte Ren misstrauisch.

„Durch den Park!" Der Ainu bog erneut um eine scharfe Kurve, diesmal jedoch nach links. Ren hielt sich instinktiv fester.

„Geht das nicht etwas weniger waghalsig?", fragte er leicht empört.

„Nicht, wenn wir noch vor den anderen da sein wollen!"

Vor sich erkannten sie schon den Eingang zum Park und Horohoro schoss mit seinem Rad hindurch und über den Kiesweg.

„Und jetzt?", fragte Ren und sah sich um.

„Halt dich gut fest!", war die einzige Antwort, die Ren widerstandslos befolgte. Man wusste ja nie. Und bei Horohoro schon gar nicht. Er sollte Recht behalten, denn der Stirnbandträger riss unvermittelt den Lenker herum. Sie verließen

den Kiesweg und überquerten die Wiese, fuhren direkt auf das kleine Wäldchen zu. Ren dämmerte, was der andere vorhatte. „Horohoro, nein! Lass das lieber, das geht schief!"

„Wieso? Willst du etwa verlieren?"

„Nein, aber -" Zu spät, denn sie hatten bereits die erste Baumreihe passiert. Rens Augen weiteten sich vor Schreck. Hier ging es bergab, trotzdem trat Horohoro wie ein Verrückter weiter in die Pedalen. Er musste aufpassen, dass sie nicht gegen den nächsten Baum prallten. Nein, er konnte nicht mehr hinsehen! Verzweifelnd und schon mit dem Leben abschließend presste Ren seine Stirn gegen Horohoros Rücken und schloss die Augen. Solange er es nicht sah, war es nur halb so schlimm. Der Boden unter ihnen war holperig, der Wind rauschte an ihnen vorbei, Horohoro war warm ...

Unvermittelt hörte das Holpern auf und sie hatten wieder ebenen Boden unter den Rädern.

„Du kannst die Augen jetzt wieder Aufmachen, Ren. Der Wald ist hinter uns und ja, wir leben noch."

Ren tat kommentarlos wie ihm geheißen, öffnete die Augen, hob den Kopf und sah sich um. Ja, sie fuhren wieder auf der Straße. Horohoro bog rechts ab und Ren erkannte nur wenige hundert Meter vor ihnen das Asakuraanwesen. Von den anderen war weit und breit nichts zu sehen und auch ihre Fahrräder standen nicht vor der Tür.

„Sieht ganz so aus, als hättest du es geschafft", stellte Ren lächelnd fest.

„Ja, danach sieht es aus!", stimmte Horohoro ihm stolz zu. „Dank meines überragenden Fahrstils!"

„Der uns fast das Leben gekostet hätte", bemerkte Ren trocken.

„So schlimm war das doch gar nicht!", protestierte der Ainu. „Was kann ich dafür, dass es für deine zarten Nerven zuviel war?“

„Wie bitte?!", Ren wurde leicht blass, dann kehrte die Röte in sein Gesicht zurück. „Sag das noch mal!"

„Du hast zarte Nerven, Ren.“

„Hab ich nicht!"

„Doch, du klammerst dich nämlich noch immer wie ein Ertrinkender an mich.“ Augenblicklich ließ Ren den Ainu los, schien jedoch für einen Moment vergessen zu haben, dass er auf einem Fahrrad saß. Einem Fahrrad, welches mit ziemlicher Geschwindigkeit über den Asphalt jagte. Die Folge aus dieser Unbedachtheit war, dass er das Gleichgewicht verlor und drohte, nach hinten zu fallen.

„Ren!" Geistesgegenwärtig ließ der Ainu das Lenkrad los und griff mit einer Hand nach dem Schwarzhaarigen. Allerdings geriet das Fahrrad nun gefährlich ins Schlingern und nach einigem Hin- und Herschlängeln auf der Straße machte es einen eleganten Bogen und fand sein Ziel in der Hecke vor dem Haus der Asakuras. Ren spürte, wie er nun gänzlich vom Gepäckträger flog, in hohem Bogen in hohem Bogen auf den Rasen fiel und hart landete.

Stille kehrte ein. Man hörte das vereinzelte Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes und das Hinterrad des

verkehrt herum im Gebüsch steckenden Fahrrads, welches langsam zum Stillstand kam.

Ren öffnete blinzelnd die Augen, sah den stechenden hellblauen Himmel über sich und die Sonne, die ihm ins Gesicht schien. Neben sich hörte er ein Stöhnen.

„Ren ... lebst du noch?", fragte Horohoro keuchend und Ren sah aus den Augenwinkeln, wie der Ainu mühevoll versuchte sich aufzurappeln, dann jedoch leicht wimmernd wieder zurücksank. Der Chinese schloss die von der Sonne geblendeten Augen. „Nein."

Er hörte, wie Horohoro näher robbte und leise lachte. „Echt nicht?"

„Echt nicht."

„Schade."

Ren öffnete nach einigem Überlegen doch wieder die Augen und fixierte den Blauhaarigen, der sich halb über ihn gebeugt hatte und leicht schmerzverzerrt grinste. Ren verengte prüfend die Augen. „Und was ist mit dir? Hast du dir was getan?"

Der Stirnbandträger schüttelte den Kopf. „Naa, bin nur etwas unglücklich gefallen." Ren hob den Kopf an und musterte den anderen misstrauisch. „Und deshalb wimmerst du hier so rum?", fragte er angesäuert.

Horohoro sah ihn beleidigt an. „Ich wimmere nicht!"

„Ach ja? Und was hab ich dann eben gehört?"

„Das bildest du dir ein, Spitzkopf!"

„Natürlich." Er setzte sich auf und sah sich um. Sie waren direkt im Vorgarten gelandet. Elegant und ... schmerzhaft. Langsam stand er auf, prüfte ob auch noch alles an ihm heile war, aber es war nichts, bis auf eine Schramme, die er am Oberarm hatte und die durch das Loch im Ärmel seiner Schuluniformjacke zu sehen war. Sie brannte etwas, aber es war so gut wie nichts. Er wandte sich dem Ainu zu, der noch immer halb auf dem Boden saß.

Ren hob eine Augenbraue. „Was ist? Ist es da unten etwa so bequem? Soll ich dich da liegen lassen?"

Horohoro schüttelte den Kopf, blieb aber trotzdem sitzen, starrte weiterhin stumm auf den Rasen.

Rens Augenbraue begann leicht zu zucken. „Horohoro", knurrte er leise.

„Du Ren", kam es schließlich von dem am Boden liegenden.

„Was?!", fauchte der Angesprochene zurück.

Horohoro hob den Blick und sah ihn leicht betreten an. „Ich glaub, ich hab mir den Fuß verknackst.“

Ren starrte ihn bewegungslos an. Rührte sich nicht.

„Ren?", fragte Horo vorsichtig, rechnete schon mit einem Zornesausbruch. Schließlich kehrte Bewegung in Rens Körper zurück und er ging vor dem Ainu in die Hocke. Horohoro schluckte, als er Rens wütenden Gesichtsausdruck sah. Er wich dem Blick aus, bereits mit einer Tirade an Beleidigungen rechnend, doch nichts dergleichen kam. Überrascht blickte er auf. Ren starrte ihn noch immer durchdringend an, dann schloss der Schwarzhaarige unvermittelt seufzend die Augen und verpasste dem Stirnbandträger eine beinahe schon sanfte Kopfnuss. „Idiot, warum hab ich wohl gefragt, ob du dir was getan hast?"

„Wie?", fragte Horohoro konfus. Rens Reaktion wollte nicht in sein Schema passen, doch Ren ignorierte das, griff nach einem Arm des Stirnbandträgers, legte ihn sich um die Schultern und schlang seinen eigenen Arm um Horohris Hüften und zog ihn hoch. „Dummer Schneemann", sagte er kopfschüttelnd. Horohoro erwiderte nichts, sondern lächelte nur.

„Hey, ihr zwei!"

Sie drehten sich um. Yoh und die anderen waren soeben um die Ecke gebogen. Quietschend hielten sie vor Ren und Horo, als sie den Kiesweg des Grundstücks, welcher bis kurz vor die Haustür ging, erreichten. Chocoloves Augen waren groß. „Wie habt ihr es vor uns geschafft?"

„Abkürzung", war Rens knappe Antwort.

Anna warf einen Blick auf das lädierte Fahrrad, das noch immer an derselben Stelle verkehrt herum im Gebüsch steckte. Sie schürzte missbilligend die Lippen. „Und wie ist das passiert?"

„Unfall", gab Ren zurück.

Yoh stieg vom Fahrrad. Er musterte Horohoro, den Ren noch immer stützte. „Und was soll das", fragte er grinsend.

„Verletzung", knurrte Ren. Er drehte sich um und zog Horohoro mit sich.

„Und was habt ihr jetzt vor?", fragte Chocolove interessiert.

„Verarzten", kam es kurz angebunden von Ren und er betrat mit Horohoro das Haus. Kurz bevor die Tür sich hinter ihnen schloss, warf der Ainu noch einen Blick über die Schulter und sagte in einem triumphierenden Tonfall, unterstützt von einem selbstgefälligen Grinsen: „Ach so, da wir ja schon länger da sind, ist es nur fair, wenn ihr das Abendessen zubereitet.“ Das protestierende Murren der anderen Jungen ließ ihn nur noch breiter grinsen. Als die Tür hinter ihnen zufiel und er mit Ren den Flur zur Treppe humpelte, hörten sie Anna sagen: „Ihr habt ihn gehört. Also los, macht das Abendessen!" Das genervte Stöhnen der anderen war die Antwort auf ihre Worte.
 

oOo
 

„Socke aus!", befahl Ren, nachdem er Horohoro auf einen Stuhl im Badezimmer verfrachtet hatte. Die Schuhe hatten er und der Ainu bereits im Eingangsbereich des Hauses hinter sich gelassen. Horohoro tat wie ihm geheißen, besser gesagt, er versuchte so zu tun, alerdings mit wenig Erfolg. Ein Wimmern entwich seiner Kehle.

Rens Blick war nun abschätzend. Er konnte es nicht mit ansehen, wie Horohoro übertrieb, denn so sehr konnte es unmöglich weh tun. „Stell dich doch nicht gleich so an."

Horohoros Blick verfinsterte sich. „Es tut aber weh!", gab er gereizt zurück.

„Dein Pech", kam es trocken von Ren.

„Bitte, wenn der Herr es so befiehlt!", sagte Horohoro, dem der Geduldsfaden gerissen war, zornig und riss sich die Socke vom Fuß. Ein Fehler. Ein sehr großer Fehler. Ein äußerst schmerzhafter noch dazu, denn augenblicklich sandte der angeschlagene Fuß heftige Schmerzwellen durch seinen Körper an sein Gehirn. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei und biss sich fest auf die Unterlippe. Seine Hand grub sich fest in seinen Oberschenkel und in seinen Augen brannten beinahe schon die Tränen, die er jedoch erfolgreich zurückdrängen konnte.

Ren schüttelte den Kopf. „Dummkopf", sagte er resignierend und eine Spur von Mitgefühl schwang in seiner Stimme mit. Er kniete sich vor Horohoro auf die Fliesen und nahm den Fuß behutsam in die Hände. „Das kann aber auch nur dir passieren."

„Du bist doch schuld, dass wir diesen Unfall überhaupt gehabt haben!", gab Horohoro knurrend zurück. Ren hob den Blich, sah den Stirnbandträger eindringlich an, beschloss dann jedoch, nichts zu sagen und betrachtete stattdessen aufmerksam den Fuß.

„Sieht nach einer hübschen Verstauchung aus. Tut das weh?", er drückte leicht gegen den Knöchel und Horohoro schrie auf.

„Au! Ja verdammt, das tut weh!", fuhr er den Chinesen an, der nur leicht spöttisch lächelte.

„Ja wirklich", sagte er mit einer fachmännischen Mine, „eindeutig verstaucht."

„Elender Sadist!", zischte Horohoro leise.

„Ich dich auch", entgegnete Ren mit ungerührt, bevor er nach einem kleinen Arztkoffer unweit von ihm griff, ihn öffnete und nach einem Verband griff. „Ich mache dir jetzt einen Stützverband, damit kannst du dann wieder einigermaßen laufen. Du musst den Fuß aber trotzdem schonen und so weinig wie möglich belasten."

„Ja, Muter", gab Horohoro genervt zurück. Rens Hand schnellte vor und schloss sich um das Handgelenk des Stirnbandträgers, welcher zusammenzuckte und den anderen perplex anstarrte. Ren sah ihn durchdringend an. „Ich meine es ernst Horohoro." Er begann, den Verband fest um Horohoros Fuß zu wickeln. Der Blauhaarige rechnete erneut mit einer unangenehmen Schmerzwelle angesichts dieser Berührung, allerdings blieb diese zu seiner Verwunderung aus. Misstrauisch und nachdenklich blickte er auf den Ren hinab, der weiterhin vor ihm auf dem Boden kniete und so ein ganzes Stück kleiner war, als er momentan. Seufzend lehnte Horohoro sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah an die Decke des Bades. „Ich versteh dich echt nicht", sagte er kopfschüttelnd.

„Hm?" Ren hielt in seiner Tätigkeit inne und sah auf. Noch immer starrte Horohoro an die Decke.

„Was verstehst du nicht?", fragte Ren und neigte den Kopf.

Horohoro wandte den Blick von der Badezimmerdecke ab und fixierte Ren Er grinste, als er dem fragenden Blick begegnete. „Vieles."

„Sehr aufschlussreich", brummte Ren und verdrehte die Augen.

„Aber vor allem", fuhr Horohoro, den Einwand Rens nicht beachtend, brach jedoch ab.

„Vor allem was?", harkte Ren nach. Horohoro starrte einen Moment stumm in die Luft, schüttelte dann den Kopf und grinste Ren erneut an. „Jetzt hab ich es vergessen."

„Bitte?!" Ren verspürte das dringende Bedürfnis seine Hände um Horohoros Hals zu legen und langsam zuzudrücken. Er verdrängte den Gedanken. Jetzt brachte der Ainu ihn sogar schon so weit, sich zu wünschen, Gewalt auszuüben. Knurrend fuhr er fort, den Verband um Horohoros Fuß zu wickeln.

„Genau das verstehe ich nicht!", sagte Horohoro unvermittelt. Ren wäre durch die unerwarteten Worte des Stirnbandträgers beinahe zusammengezuckt. Innerlich darüber fluchend sah er erneut auf. „Was verstehst du nicht?", fragte er eindringlich. „Und wehe, du vergisst es jetzt wieder, Schneemann!"

Horohoro schüttelte den Kopf. „Nein, tue ich nicht."

„..."

„..."

„Ren?"

„Nun sag schon.“

„Normalerweise hättest du mich nach dem Zwischenfall die Leviten gelesen, oder mich so lange beleidigt, bis ich meinen eigenen Namen vergesse, aber du hast nichts gesagt und mir einfach weiter den Fuß verbunden."

Ren hob die Augenbraue. „Ach ja?"

„Ja!"

Der Chinese zuckte die Schultern. „Wenn du das sagst. Mir war einfach nicht danach."

„Jetzt tu doch nicht so!"

„Tze.“

Horohoro verschränkte die Arme vor der Brust und kam dem Gesicht des Schwarzhaarigen mit seinem eigenen sehr nahe, als er sich provozierend vorbeugte. „Ich merke es schon, Ren, du hast dich verändert."

„Habe ich das?", fragte der Angesprochene desinteressiert und unterdrückte ein Seufzen. Als ob ihm das nicht selbst aufgefallen wäre. Ja, er hatte sich verändert. Und?

Nun grinste Horohoro wieder und kam noch ein Stück naher. Ihre Gesichter trennten nur noch wenige Zentimeter. „Du bist menschlicher geworden. Du lächelst auch mal ab und zu."

„Hn." Ren hörte nur halb zu. Viel zu sehr fesselten ihn die Augen des Ainus, die ihn durchdringend ansahen. So intensiv ...

Das Grinsen des Größeren wurde noch eine Spur breiter. „Weißt du was?", murmelte er.

„Was?", entgegnete Ren genauso leise. Er spürte den Atem des Ainus auf seinem Gesicht.

„Ich", flüsterte der Ainu und verringerte die Distanz, die sie noch von einander trennte, „denke, das wir genug Zeit vertrödelt haben“ Mit diesen Worten hob er die Hand und fuhr dem Chinesen neckisch durch die Haare. Dieser viel durch den plötzlichen Stimmungsschwung regelrecht aus allen Wolken. Perplex starrte er Horohoro an, der sich wieder nach hinten gelehnt hatte und ihn belustigt angrinste.

Langsam sickerte die Erkenntnis in das Bewusstsein den Chinesen. Nur ein Scherz ... Und er hatte sich auch noch Hoffnungen gemach, hatte sich derart vorführen lassen! Er spürte zu seiner Verbitterung, wie sich Röte auf seinen Wangen ausbreitete. Ruckartig erhob er sich, ließ den Rest Verband einfach auf den Boden fallen.

„Idiot", zischte er noch, wobei unklar war, ob er damit sich selbst oder Horohoro meinte, dann verließ er ohne einen Blick zurück, den Raum. „Ren?", hörte er Horohoro rufen, doch er reagierte nicht. „Warte Ren, was ist?"

Er antwortete nicht, zog ruckartig die Tür hinter sich zu und stapfte wütend den Gang entlang. Als er die nächste Flurecke hinter sich gebracht hatte, blieb er stehen. Er lehnte sich an die Wand hinter sich, da mit einem Mal alles um ihn herum begann zu schwanken. Oder schwankte er selbst? Er schloss die Augen, versuchte sich zu sammeln. Er legte eine Hand auf seine linke Wange. Sie war warm, er war also immer noch rot. Verdammt, womit hatte er das verdient? Diese Blamage ...

Er hörte, wie sich die Tür des Bades erneut öffnete. „Ren?"

Ich bin nicht da. Geh nach unten zu den anderen.

Er hörte unregelmäßige Schritte, die sich seinem Standort langsam näherten. Offensichtlich humpelte Horohoro noch

immer. Heftig schüttelte Ren den Kopf. Was machte er sich hier Gedanken, ob dieser Idiot von einem Ainu humpelte oder nicht?

„Ren", die Stimme des Ainus klang beschwichtigend, „ich weiß das du noch da bist."

„Na und“, entgegnete er kalt und presste sich trotz allem dichter an die Wand, als ob sie ihm Schutz spendete. Er hörte den Andern Luft holen: „Es tut mir leid.“

Rn schloss die Augen. „Was tut dir leid, Dummkopf?“, höhnte er abweisend. Er hörte, wie Horohoro immer näher kam, doch kurz bevor er um die Ecke sehen konnte, fand Ren seine Stimme wieder. „Bleib stehen."

Er selbst stand im Schatten, konnte jedoch auf dem Holzboden den Schatten des Ainus erkennen, welcher sich nicht mehr rührte. Anscheinend war Horohoro wirklich stehen geblieben war, bevor er einen Blick auf Ren erhaschen konnte. Langsam ließ der Chinese sich an der Wand auf den Boden hinabsinken und hörte, wie Horohoro es ihm gleichtat.

Da saßen sie nun, nicht einmal ein Meter Distanz lag zwischen ihnen und doch trennte sie die Biegung des Flures voneinander. Ren fiel es so wesentlich leichter, als wenn er dem Ainu ins Gesicht, oder noch schlimmer, in die Augen hätte sehen müssen.

„Du benimmst dich heute seltsam, Ren."

Der Angesprochene schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. „Ich weiß."

„Was ist los mit dir?"

Ren antwortete nicht. „Liegt es an mir?"

Ren schwieg. Ja, es lag an Horohoro, aber das wusste er doch schon längst. Außerdem konnte Horohoro nichts dafür, dass Ren alles was mit ihm zu tun hatte, derart ernst nahm.

„Also liegt es an mir", gab der Stirnbandträger resigniert von sich.

„Hn."

„Warum so plötzlich?"

Ren öffnete die Augen und starrte nachdenklich an die gegenüberliegende Wand. Plötzlich? Das kam nicht plötzlich.

„Du willst nicht darüber reden", stellte Horohoro nüchtern fest.

Ren zog es vor, nichts zu erwidern. Was sollte er auch sagen? Es stimmte, er wollte nicht darüber reden.

„Was kann ich denn tun?"

„Mich in Ruhe lassen", gab Ren kühl zurück.

Er hörte ein humorloses Lachen. „Denkst du wirklich, ich würde es dir so einfach machen, Ren?"

„Nein", gab er ehrlich zu und spürte gegen seinen Willen, dass seine Mundwinkel flüchtig nach oben zuckten. Das war typisch Horohoro.

„Jetzt sag schon."

„Was soll ich sagen?", fragte er genervt und schloss wieder die Augen.

„Na was dich zu so einer Veränderung gebracht hat? Was hab ich gemacht?"

„..."

„Ren, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was ich falsch gemacht habe."

Seit wann war Horohoro so zuvorkommend? Das war doch sonst auch nicht seine Art. Woher kam der plötzliche Sinneswandel? Ren antwortete dem Ainu nicht, war viel zu sehr mit den Fragen beschäftigt, die er sich selbst stellte.

„Ren", wiederholte Horohoro gereizt, da es ihm anscheinend auf die Nerven ging, keine Antworten auf seine Fragen zu bekommen.

„Du hast nichts falsch gemacht", fauchte der Chinese nicht minder verstimmt, da er es nicht schaffte, die von ihm selbst gestellten Fragen sinnvoll zu beantworten. Schweigen folgte seinen Worten und Ren knurrte unwillig. „Nein, du hast nichts falsch gemacht. Wenn jemand hier etwas falsch macht, dann ich."

„Ich", Horohoro schluckte, „im Badezimmer gerade“, Ren zuckte zusammen, „da ... hättest du ... ich meine hätten wir uns ... wenn ich nicht ... hättest du mich ...", er brach ab.

Ren lächelte bitter, was der Horohoro dank der Wand, die sie voneinander abschirmte, nicht sehen konnte. Er wusste auch so, was der Stirnbandträger versuchte zu sagen. „Ich fürchte, ja", bemerkte er trocken. Er hörte, wie Horohoro bei seinen Worten scharf die Luft ausstieß. „Das ist krass.“

„Ja", bestätigte er. „Das ist es allerdings." Und das wäre es noch mehr gewesen, wenn es tatsächlich geschehen wäre, fügte er in Gedanken hinzu.

„Warum?", fragte der Stirnbandträger und Ren hörte aus dessen Stimme, dass er das ganze noch nicht recht glauben konnte. Oder nicht wollte. Er zuckte die Schultern, obgleich Horohoro diese Geste nicht sehen konnte. „Ich weiß es nicht."

„Du weißt beunruhigend wenig, Ren", stellte Horohoro fest. Sie schwiegen und jeder hing seinen Gedanken nach. „Du Ren?", fragte der Blauhaarige nach einer Weile.

„Hm?"

„Was würdest du sagen, wenn ich dir gestehe, dass es mich ... na ja ... nicht wirklich gestört hätte, wenn wir uns eben im Bad ... also ... du weißt schon."

Der Blick des Chinesen, der bis eben noch leicht verschwommen ins Nichts vor sich ging, wurde schlagartig wieder klar und seine Augen weiteten sich. „Ist -", er schluckte, da sich seine Kehle mit einem Mal unnatürlich trocken anfühlte, „ist das dein Ernst?!" Er sah, wie der Schatten des Ainus sich bewegte und deutete diese Bewegung als ein Nicken. „Horohoro", begann er, doch seine Stimme versagte ihm. Was sollte er jetzt sagen? ‚Großartig, dass du nichts dagegen hast, wenn wir also anfangen könnten?’ Nein, alles erschien momentan falsch.

„Ren."

Er wandte den Kopf und erblickte die Hand des Ainus, die dieser ausgestreckt hatte, so dass Ren sie nun auch sehen konnte. Er zögerte, streckte dann jedoch die eigene Hand aus und legte sie auf die des Ainus, festigte den Griff. „Danke."

Ein einziges Wort, mehr nicht, und trotzdem war es das, was im Augenblick wohl am ehesten beschrieb, was in ihm vor sich ging. Er spürte, wie der Druck seiner Hand erwidert wurde.
 

Danke.
 

*~*
 

Flatternd öffnete er die Augen. Was war los? Wo war er? Nachdem er mehrmals geblinzelt hatte, richtete er sich zögernd auf und sah sich um. Er lag in seinem Zelt.

Die Erkenntnis übermannte ihn. Sein Zelt. Hao. Das Schamanenturnier. Die vermeintliche Kontrolle. Das Treffen mit dem Schamanenkönig. Ihr Gespräch. Sein Ausbruch. Die Illusion.

Wie bei einer Diashow zogen die Bilder an seinem inneren Auge vorbei. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Er und Horohoro, das alles war nur eine Illusion gewesen. Eine Illusion, die er sich gewünscht hatte.

Mühsam erhob er sich. Nach zwei Tagen des Liegens fühlten sich seine Beine schwach an, doch er schaffte es aufrecht stehen zu bleiben. Wankend fasste er sich an die Stirn und schloss die Augen, bis die Umgebung sich endlich dazu

entschloss, sich nicht mehr vor seinen Augen zu drehen. Träge schüttelte er den Kopf und eine Welle der Traurigkeit erfasste ihn, als er an die Illusion zurückdachte. Sie war schön gewesen.

Ein entschlossener Ausdruck trat in seine Augen, als er seine Schultern ein letztes Mal straffte. Er würde dafür sorgen müssen, dass diese Illusion irgendwann in Erfüllung gehen würde. Mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Verluste. Mit diesem Gedanken schob er den Stoff am Eingang seines Zeltes beiseite und trat nach draußen, in das Licht der bereits untergehenden Sonne.

Besessen

11. Kapitel: Besessen
 

Freundschaft: So etwas wie Liebe mit Verstand

Sabine Sauer
 

„Horohoro?"

Der Ainu blickte auf. Er saß auf dem Dach auf seinem selbst angeeigneten Stammplatz und starrte ausdruckslos in die Luft, wobei sich das als äußerst nichts bringend herausstellte, denn weder hatte ihn ein urplötzlicher Geistesblitz durchzuckt, noch hatte dies Ren zurückgebracht, was er sich - unterbewusst wahrscheinlich - irgendwie doch gewünscht zu haben schien. Das unangenehme Gefühl in seinem Magen bestätigte ihm diese Vermutung.

Sein getrübter Blick traf auf Lyserg, der neben ihm stand und ihn aus seinen grünen Augen fragend und auch eine Spur

beunruhigt ansah. Irrte er sich, oder wirkte der Engländer leicht nervös.

„Hm?"

Er war einsilbig geworden in letzter Zeit, das war ihm selbst auch aufgefallen. Seine Antworten kamen nun nicht nur mit Verzögerung, sie verloren auch mehr und mehr an Inhalt. Sollte er sich deshalb Sorgen machen? Nun ja, die anderen schienen es jedenfalls zu tun. Nach einiger Überlegung, wie es schien, setzte Lyserg sich neben ihn. Morphin saß auf der Schulter des Grünhaarigen und selbst sie schien angespannt zu sein.

„Ich denke", begann Lyserg nach einer Weile, „da gibt es etwas, das du wissen solltest."

„Und das wäre?", fragte der Horohoro desinteressiert. Er hatte genug davon, dass Ryu und Manta dauerhaft versuchten, ihm eine Reaktion zu entlocken, oder ihn mit Chcolove-ähnlichen Witzen zum Lachen zu bringen. Lyserg holte Luft, öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und schien zu überlegen. Nach einigen Sekunden begann er zu sprechen, jedoch stockte er zwischendurch immer wieder, als wäge er genau ab, welche Worte er sprach: „Wie du weißt, war ich bis vor kurzem ... Mitglied der X-Laws. Und als ein solches ... Mitglied, habe ich vieles ... mitbekommen.“ Er machte eine Pause, schien mit sich zu ringen.

„Hast du das?", fragte Horohoro abwesend und es schien ihn nicht zu kümmern, dass er unhöflich war - eine Missetat, für die seine Schwester ihn zweifellos gerügt hätte. Bei ihm schienen ohnehin viele Dinge in letzter Zeit an Sinn und Wert verloren zu haben.

„Ja, in der Tat", bestätigte Lyserg und warf Morphin einen Hilfe suchenden und gleichsam fragenden Blick zu. Diese nickte aufmunternd und lächelte ihn bestärkend an. „Diverse Dinge."

Horohoro stutzte, wandte den Kopf und sah den Engländer nun direkt an. Wenn Lyserg schon so harderte, ihr ruhiger und ausgeglichener Lyserg, dann konnte - dann musste - es etwas Ernstes sein, was er im Begriff war, ihm zu erzählen. Konnte es sein, dass ...

Er schluckte, zögerte, fragte dann jedoch zaghaft: „Diverse Dinge über ... über Ren?"

Lyserg sah ihn überrascht an, hatte offensichtlich nicht mit dieser direkten Frage gerechnet, oder war ganz einfach nur erstaunt über die Tatsache einen solch langen Satz aus Horohoros Mund zu hören, war dies doch ein Rekord - hatten seine Antworten doch in letzter Zeit eher den Durchschnittswert einer einzigen Silbe, nicht den, eines ganzen Satzes.

„Also ... ja", gestand er, nachdem er sich wieder von seiner kurzweiligen Sprachlosigkeit erholt hatte. „Ja, über Ren." Er senkte den Blick und knetete nervös die Hände.

„Und was ist mit ihm?", fragte der Blauhaarige, begierig, mehr zu erfahren. Sein Interesse war geweckt und nun gierte er geradezu danach, mehr zu erfahren. „Weißt du irgendwas über ihn? Hast du etwas in Erfahrung gebrach?“ Horohoro hatte Ren seit zwei Tagen nicht gesehen, weder bei den Kämpfen der dritten Runde, noch im Dorf selbst, als wäre er verschwunden. Wann immer Hao erschienen war, hatte Horhoro unbewusst nach dem Chinesen Ausschau gehalten, doch erfolglos. Niemand von Haos Anhängern hatte ertwas über seinen Verblaib verlauten lassen, geschweige denn Genaueres von sich gegeben.

Lyserg schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Ich meine etwas anderes. Ich habe neulich gehört, wie Jeanne und Marco sich unterhalten haben - über Ren. Und da, ich dachte es würde dich interessieren, wollte ich mit dir reden. Sie sprachen über Ren und über das, was geschehen ist und – wie soll ich es am besten sagen?“ Er brach ab, hob den Blick und sah Horohoro direkt in die Augen. „Jeanne meinte, es sei sein Schicksal."

Der Stirnbandträger sah ihn verständnislos an. „Wie meinst du das, es ist sein Schicksal? Was ist sein Schicksal?"

„Ich weiß es nicht", gestand Lyserg und er schien es ernsthaft zu bedauern, „ich habe nur gehört, wie sie gesagt hat es ist sein Schicksal. Den Rest der Unterhaltung habe ich leider nicht mitbekommen."

„Es ist sein Schicksal", wiederholte Horohoro nachdenklich, starrte wieder trübsinnig ins Leere. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung neben sich war und bekam nur halb mit, wie Lyserg sich wieder erhob.

„Also ... ich dachte nur, du solltest das wissen. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber vielleicht kommen wir ja noch hinter die Bedeutung." Er hörte Schritte, die sich entfernten, wollte bereits wieder in seiner Welt aus trüben Gedanken versinken, als er leise, nur geflüsterte, Worte vernahm, die zweifelsohne Lyserg vor sich hermurmelte.

Falls wir es jemals verstehen."

Er spürte schlagartig, wie sein Gemüt sich verdüsterte, seine Hoffnung, die in den letzten Minuten schwach in ihm aufgekeimt war, im Nichts verpuffte, zusammen mit der Aussicht, vielleicht doch etwas - nur irgendetwas - ausrichten zu können.

'Falls ...'
 

oOo
 

„Weißt du Anna, ich kann einfach nicht glauben, dass Ren grundlos die Seiten gewechselt hat", bemerkte Yoh nachdenklich und kaute abwesend auf dem Strohhalm des Getränkes herum, welches er gerade im Begriff war zu trinken. „Ich bin sicher, wir hätte es gemerkt, wenn er uns die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hätte."

Die Blonde nickte langsam. „Ich bin auch der Meinung, dass sein Verhalten nicht unbegründet ist", stimmte sie ihm zu. „Hao muss irgendetwas getan haben. Die Frage ist nur, was Ren dazu bringen könnte, freiwillig zu seinem Feind überzulaufen.“

„Das frage ich mich auch, doch was mir am meisten Sorge bereitet", er ließ von dem malträtierten Strohhalm ab, „ist Horohoro. Er benimmt sich von Tag zu Tag besorgniserregender. Er ist so depressiv, so abweisend. Er ist irgendwie wie Ren", meinte er betrübt und beobachtete, wie die Eiswürfel in seinem Glas allmählich in der Sonne schmolzen.

Obgleich der ernsten Situation huschte ein Schmunzeln über Annas Gesicht. „Kannst du dir denn nicht denken, warum er plötzlich so ist?"

Yoh grinste schwach und sah zu ihr auf. „Klar kann ich das. Mir ist schon klar, warum er ihn so mitnimmt, dass Ren weg ist, aber er selbst scheint es nicht zu wissen."

Anna sah ihn einen Moment lang schweigend an, bevor sie sich erhob. „Vielleicht solltest du mit ihm reden und es ihm klarmachen. Ich meine, du bist immerhin sein bester Freund." Sie drehte sich um. „Ich geh noch ein paar Einkäufe erledigen, mal sehen, ob ich den Kurzen finde, ich bin überzeugt er würde mir liebend gerne helfen.“

Yoh lachte leise. „Wenn du Manta suchst, der ist bei Ryu und versteckt sich vor dir."

„Besten Dank", erwiderte das Mädchen und schritt davon. „Wenn ich wiederkomme geht es mit dem Training weiter", fügte sie im Gehen hinzu. „Du musst noch stärker werden."

Yoh stöhnte gequält auf und sank in sich zusammen. „Aber Anna", wimmerte er, dann hielt er inne, als ihm etwas bewusst wurde. „He, und wer bezahlt für die Getränke?", rief er ihr hinterher. Sie blieb stehen und warf ihm über die Schulter ein charmantes Lächeln zu. „Man lässt eine Dame nicht bezahlen." Und mit diesen Worten bog sie um die nächste Ecke.
 

oOo
 

Erneut vernahm er Schritte, die sich ihm näherten. Er machte sich nicht die Mühe, nachzusehen, wer da kam - die Person würde sich von ganz allein zu erkennen geben.

„Hi, wie geht's?"

Unverkennbar. Also war es diesmal Yoh, der ihn mit seiner Anwesenheit beglückte, ihn davon abhielt, seinen düsteren Gedanken zu erliegen, sich ihnen unterzugehen. Na besten Dank auch. Schienen neuerdings alle daran gefallen zu finden, ihn zu belagern? Zugegeben, belagern war nicht die Richtige Beschreibung, zumindest dann nicht, wenn es um Yoh ging. Denn so, wie er ihn kannte, machte Yoh sich tatsächlich ernste Sorgen um ihn, wenn er ihn schon aufsuchte. So war Yoh - aufopferungsvoll, pflichtbewusst, nett. Aber bei Gott, er konnte momentan keine Nettigkeit vertragen. Keine Trost spendenden Worte, keine Aufmunterungsversuche, keine Sätze, wie ,es wird schon wieder' oder ,Kopf hoch'. Nein, alles was er wollte war seine Ruhe. Nachdem, was Lyserg ihm verkündet hatte, wollte er noch viel weniger Gesellschaft.

Zu seiner Überraschung setzte Yoh sich nur neben ihn und beließ es dabei, stumm in die Ferne zu blicken. Horohoros Mundwinkel zuckten unwillkürlich, als er sich an die Nacht erinnert fühlte, in der er Yoh aus einer Laune heraus eine verpasst hatte.

Stille legte sich über sie, nur das Zwitschern der Vögel war zu hören. Nach einiger Zeit begann ihm die Stille unangenehm zu werden. Ironisch, wo er doch derjenige war, der seine Ruhe wollte. Trotzdem hatte diese Stille eine

erdrückende Wirkung auf ihn, die er mittlerweile nicht mehr aushalten konnte - Nicht mehr wollte. Er seufzte geschlagen, verraten von seinen Empfindungen.

„Ich komme mir vor, wie in einem schlechten Film", bemerkte er zusammenhanglos und sprach endlich den Gedanken aus, der ihm seit Tagen keine ruhige Minute mehr ließ.

Yoh nahm seinen Blick von dem unbestimmten Fleck, den er in weiter Ferne fixiert hatte, drehte wandte den Kopf und sah Horohoro fragend an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Blauhaarige das Wort ergreifen würde. Andererseits, vielleicht würde es so einfacher werden.

„Wie in irgendeinem einem verdammten Film", wiederholte Horohoro und etwas Melancholisches schlich sich in seinen

Blick. „Und der Hauptcharakter mit der dunklen Vergangenheit ist auf die böse Seite gewechselt."

Yoh stutzte, grinste dann jedoch. „Weißt du", meinte er belustigt, „in Filmen gibt es trotz allem bestimmte Personen, die sich in die Hauptperson mit dunkler Vergangenheit verlieben." Er beobachtete den anderen genau und sah, wie Horohoro bei seinen Worten unangenehm berührt zur Seite blickte.

„Und welche Person sollte sich in so einen kalten, arroganten Typen verlieben?", fragte er mürrisch.

Yoh überlegte übertrieben lange. „Nun ja, meistens die naive, leicht tollpatschige Person mit dem sonnigen Gemüt."

Horohoro dachte über die Worte nach, Yoh konnte beinahe sehen, wie sich die Zahnräder hinter seiner Stirn bewegten, bis sie schließlich hörbar einrasteten. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, während er Yoh nun wütend anfunkelte. „Wie bitte?! Ich würde mich doch niemals in so einen eiskalten, hochnäsigen, überheblichen, von sich selbst eingenommenen Chinesenfuzzi wie Ren verlieben! Außerdem wäre das vollkommen unnormal!"

Lammfromm musterte Yoh ihn und lächelte lieblich. „Woher willst du wissen, dass ich von dir und Ren geredet habe? Das hast du alleine so interpretiert, mein Lieber. Aber da dich dieses Thema anscheinend doch nicht so kalt zu lassen scheint ..."

Nach und nach begann das Gesicht seines Gegenübers eine dunkle Färbung anzunehmen. Yohs Grinsen wurde noch eine Spur breiter und er nickte betont beteiligt. „Aha, wirklich sehr interessant. Du hast mir doch neulich noch gesagt, du würdest ihn mögen. ‚Sehr sogar', um dich zu zitieren."

Horohoro schluckte. „Ja - ich meine nein. Jein ... ach, was weiß ich.“

„Du benimmst dich so, seit er weg ist", erklärte Yoh und sein Tonfall klang belehrend.

„Ja", murmelte der Stirnbandträger und nickte betreten.

Der Asakura gluckste leise. „Tja, du naive, tollpatschige Person mit dem sonnigen Gemüt, es scheint, als hättest du deine Rolle gefunden und besetzt. Und ich würde es nicht als unnormal bezeichnen. Unnormal ist das, was du dir selbst antust, indem du dich weigerst, es zu akzeptieren.“

„Vielleicht“, gestand Horohoro und ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er zu Yoh aufblickte. „Danke.“

„Dafür sind Freunde da.“
 

oOo
 

Der Himmel schimmerte karmesinrot, in der Ferne sah man schon einen Stich lila, der sich allmählich ausbreitete. Die Sonne verschwand hinter den Baumwipfeln, die Schatten wurden länger. Opacho hob den Blick, als einer dieser langen Schatten auf ihn fiel. Seine Augen weiteten sich erstaunt.

„Du bist wach", stellte er erleichtert fest und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ren, der sich mit einer Hand den steifen Nacken rieb, öffnete eines der Augen, welche er dabei geschlossen hatte und brummte. „Hn ... sieht ganz so aus."

Verwirrung zeichnete sich auf Opachos Gesicht ab, denn Rens Verhalten unterschied sich von dem bisherigen. „Wie geht es dir?", fragte erund musterte den Chinesen besorgt.

Seine Antwort bestand aus einem gleichgültigen Schulterzucken. „Wie soll es mir schon gehen?"

Opacho verstand nicht, was genau hier vor sich ging. Seit wann war Ren so phlegmatisch, als ob ihn alles kalt ließe?

Sekunden verstrichen, bevor der Schwarzhaarige von sich aus das Wort ergriff und tatsächliches Interesse zeigte, als er sich auf der verlassenen Lichtung umsah. „Ist etwas passiert?"

„Einiges", antwortete Opacho, „Aber du warst ja auch zwei Tage ohne Bewusstsein."

Ren zog es vor, ihn nicht darüber aufzuklären, dass er darüber Bescheid wusste und er beließ es dabei, einfach zu nicken, als Zeichen, dass er verstanden hatte, dabei gedankenverloren in den Himmel blickend. „Was genau ist in der Zeit passiert?"

„Nun ja", begann Opacho und holte tief Luft, „vorgestern ist Asakura Yoh, Zwillingsbruder von Meister Hao, gegen Holzschwert Ryu angetreten und hat gewonnen." Geistesabwesend nickte Ren erneut, während er aufmerksam zuhörte. „Und gestern ist Luchist gegen den Arzt, Faust VIII. angetreten und Luchist hat natürlich gewonnen. Faust war stark, dennoch hat er verloren - wenn auch knapp."

Rens Augen verengten sich. Das bedeutete, für die nächste Runde wären nur noch fünf Schamanen im Turnier. Nur noch fünf. „Und wo sind Hao und seine treuen Anhängsel jetzt?"

Opacho verzog einen Moment lang das Gesicht, beschloss dann jedoch, trotzdem zu antworten. „Meister Hao hat ihnen befohlen, zu trainieren, da er meinte, dass der große Kampf näher rücken würde. Also sind sie tiefer in den Wald gegangen. Und Meister Hao“, er zögerte, „ist beim obersten Schamanenrat."

Ren horchte auf. „Was will er dort?"

Opacho senkte den Blick. „Das hat er mir nicht gesagt. Er redet nur noch wenig mit mir. Ich habe nur den Befehl bekommen, hier Wache zu halten, für den Fall, dass du aufwachen solltest."

Ren entging der traurige Ausdruck in den Augen des Kleineren nicht. Langsam ließ er sich neben diesen auf einen Stein sinken. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie verspürte er regelrechte Sympathie für Opacho. Er war nicht so, wie Hao und seine übrigen Schamanen. Es verwunderte eigentlich, dass ein Junge wie Opacho, der noch ein Kind war - viel zu klein für diesen Krieg - in eine derartige Gesellschaft gelangen konnte.

„Was ist los?", fragte er und stellte zu seinem Missfallen fest, dass seiner Stimme die übliche Gefühlskälte fehlte. Himmel, was war los mit ihm, noch vor kurzem - vor zwei Tagen, um genau zu sein - hatte er sich gefühlt, als hätte sein

Leben keinen Sinn mehr und heute sorgte er sich um andere? Das hatte er früher doch auch nie getan. Lag dies alles an dem Gespräch mit dem Schamanenkönig und der Illusion? Hatte ihm dieser Zwischenfall wohlmöglich den Mut gegeben, den er zum Weitermachen brauchte? All diese Fragen ...

„Meister Hao verhält sich seltsam", flüsterte Opacho und seine Augen glänzten verdächtig.

„Inwiefern?", harkte Ren nach.

„Er ist ... anders. Seine ganze Art."

„Ich habe keine Veränderung bemerkt", knurrte Ren und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Das einzige, das sich verändert ist seine zunehmende Grausamkeit.“

„Nicht nur das. Du würdest es bemerken, wenn du ihn so gut kennen würdest wie ich", erklärte der Junge. „Ich

meine, er und ich, wir sind doch Freunde" - er ignorierte Rens ungläubigen Blick und dessen abfälliges Schnauben, bei seinem letzten Wort' – „aber jetzt ist er so", er schien nach Worten zu suchen, "so erbarmungslos. Früher wollte er einfach eine Welt für Schamanen erschaffen, dann hatte er mit einem Mal das Verlangen, die Menschen von diesem Planeten zu vertreiben und jetzt - ich habe das Gefühl, er ist besessen", murmelte Opacho mit bebender Stimme.

Ren starrte lange an. „Besessen?", wiederholte er fassungslos.

Opacho nickte kaum merklich.

„Besessen von was?!"

Der Junge schluckte und sah mit angsterfülltem Blick zu ihm auf. „Vom Geist des Feuers."
 

oOo
 

„Was willst du hier?", fragte Silva drohend und stellte sich schützend vor Godva. Hao grinste selbstgerecht und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand der Höhle.

„Könnt ihr euch das nicht denken?"

Calim stellte sich neben Silva und auch die anderen Mitglieder des Schamanenrates rückten nun näher, zogen einen Kreis um Hao, der weiterhin grinste, sich davon nicht im geringsten beeindrucken oder gar einschüchtern ließ. Überhaupt zeugte sein Äußeres und sein Auftreten von einer beunruhigenden Gelassenheit.

„Rede!“, forderte nun auch Calim und sein Furyoku umströmte ihn, zeugte davon, dass er jederzeit kampfbereit war, genau wie Silva.

Hao musterte sie herablassend, sein Haar begann hin und her zu wiegen und eine Brise erfasste die Anwesenden. „Ich bin hier, um euch einen Handel vorzuschlagen."

„Einen Handel?", wiederholte der oberste Schamanenrichter ungläubig. „Wieso sollten wir einen Handel mit dir eingehen, Hao?"

Ein diabolisches Funken huschte durch Haos Augen. „Weil die gegebenen Bedingungen euch keine andere Wahl lassen werden." Kleine Flammen züngelten mittlerweile um ihn herum.

„Welche Bedingungen?", fragte Godva und Argwohn schwang in seiner Stimme mit.

Hao stieß sich von der Wand ab, schritt mit wehendem Umhang auf den Ältesten der Schamanenrichter zu. Zu seiner Genugtuung bemerkte er, wie Silva und Calim instinktiv näher zusammenrückten, während die anderen Mitglieder des Schamanenrates vor ihm zurückwichen. Vor den Brüdern blieb Hao stehen, sah unbeeindruckt zu ihnen auf. „Geht mir aus dem Weg", befahl er kalt.

„Nur über meine Leiche!", entgegnete Silva und Calim nickte zustimmend.

Hao hob den Arm. „Das lässt sich einrichten." Mit einer schnellen Bewegung nach rechts, einem roten Aufblitzen hinter ihm und einem aufzüngeln der Flammen, wurden die beiden aus dem Weg geschleudert. Mit einem dumpfen Schlag krachten sie gegen die Wand der Halle und sanken bewegungslos an ihr hinab.

„Silva, Calim!", rief Godva entsetzt.

„Nur keine Panik", beschwichtigte Hao ihn, süffisant grinsend. „Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, ihren Wünschen nachzukommen. Sie werden es überleben." Er trat näher an Gorva heran und beugte sich leicht hinab, da der Mann ein ganzes Stück kleiner war als er selbst. „Und nun zu uns beiden. Zu meinen Bedingungen."

„Was willst du?", knurrte Godva und in seinen Augen lagen Abscheu und Zorn.

„Ihr überreicht mir den Titel des Schamanenkönigs und beendet umgehend das Turnier -"

„Niemals!", unterbrach der Mann ihn sofort.

Hao überging seine Aussage. „Oder", fuhr er fort und legte eine bedeutungsschwere Pause ein, „ich töte Ren."

Godva starrte ihn entsetzt an. „Das würdest du nicht tun!"

Hao tat sich unbeteiligt. „Bist du dir da sicher?"

„Du würdest ihn nicht umbringen!", beharrte Godva mit bebender Stimme.

„Ich bin zu allem bereit", grinste Hao teuflisch und seine Augen glommen rot auf. „Das solltest du mittlerweile wissen, alter Narr.“

„Er ist einer deiner Männer", versuchte Godva weiter zu argumentieren.

„Nebensächlich."

„Du bist verrückt!"

„Nein, nur entschlossen, das zu vollenden, was ich mir vorgenommen habe."

„Ich würde dir niemals freiwillig die Krone des Schamanenkönigs überlassen!"

„Das ist schade", bemerkte Hao bedauernd, „denn damit besiegelt du Rens Urteil." Er streckte die Hand aus und ließ knapp über seiner Handfläche eine Flamme aufzüngeln. Voller Faszination betrachtete er sie und ihr Schein hinterließ einen bedrohlichen Glanz in seinen Augen. „Überlege es dir gut. Willst du Schuld am Ableben eines Unschuldigen haben? Was wohl Yoh und seine Freunde - Rens Freunde - sagen würden, wenn sie wüssten, dass der Schamanenrat das Turnier über das Leben ihres Freundes stellt? Ich bin der Ansicht, dass sie davon nicht wirklich begeistert sein würden. Sie würden sich vielleicht sogar gegen euch stellen. Nicht auf meine Seite, aber sie wären auch nicht dazu bereit, euch im großen Kampf zu unterstützen. Was meinst du? Bist du nicht auch der Ansicht?" Er schloss die Faust fest um die Flamme und sie verlosch mit einem Zischen.

„Du Teufel!", zischte Godva hasserfüllt.

Hao lachte leise. „Diesen Namen gibt man mir oft. Und das nur, weil ich eine Ansicht vertrete, die nicht der euren entspricht. Ihr solltet euer Blickfeld vielleicht etwas erweitern, was sagst du?"

Godva antwortete nicht. Es war totenstill in der Halle, als Hao sich aufrichtete. „Ich gebe euch drei Tage Zeit. Was ihr während dieser drei Tage macht, bleibt euch überlassen, aber solltet ihr euch nicht entscheiden - ihr wisst, was dann geschehen wird." Sein Tonfall war drohend und mit einem letzten Aufzüngeln der Flammen um ihn herum verschwand er in einer Feuersäule, während sein hämisches Lachen noch lange nachklang.
 

oOo
 

„Vom Geist des Feuers?", wiederholte Ren ungläubig. „Wie soll das gehen? Ich dachte, er würde den Geist des Feuers beherrschen."

„Das dachte ich auch", meinte Opacho niedergeschlagen. „Aber eine andere Erklärung gibt es einfach nicht. Das Schlimme daran ist", er seufzte, „bei diesen Umständen ist es unmöglich einzuschätzen, was er als nächstes plant."

„Das hört sich aber nicht so an, als ob du wirklich überzeugt von deinem Meister bist", bemerkte Ren. „Heißt das etwa, dass du das, was dein Meister tut, nicht mehr gutheißt?"

„Ich befüchte, es ist genau so.“

„Das hätte ich nicht erwartet."

„Wie ... wie meinst du das?"

Ren sah ihn lange und eindringlich an. „Ich dachte, du würdest immer hinter ihm stehen, egal was er macht. Immerhin ... auf dem Weg nach Doby Village, war er auch nicht wirklich freundlich zu uns und du hast nichts unternommen."

„Ich fand es nie gut, auf welche Art und Weise er seine Ziele in die Tat setzen wollte", erklärte Opacho betrübt und starrte auf den Boden vor sich. „Aber ich - seine ursprünglichen Idealien waren gut, konnten die Welt nur verbessern, und es war sein Wunsch, das zu tun. Aber irgendwann fing er an sich zu verändern. Ich hab nichts gesagt, hab gehofft, dass es vielleicht nur vorläufig so wäre und dass er bald wieder ganz der Alte werden würde, aber es wurde immer schlimmer. Bald war er wie besessen von dem Gedanken, Schamanenkönig zu werden und vor ein paar Tagen ... als er dich gezwungen hat zu uns zu kommen oder als er seinen letzten Kampf gegen diesen Jungen, Chocolove, hatte, da ist wieder diese Seite in im zum Vorschein gekommen, die mir Angst macht. Auch vor zwei Tagen, als er dir erzählt hat, dass", Opacho zögerte, „Als er über deine Familie sprach.“

Rens Augen nahmen einen nicht zu deutenden Ausdruck an und er wandte den Blick ab.

„Zu dem Zeitpunkt war wieder so. Wie besessen. Man sieht es, wenn man ihm in die Augen schaut, denn dann haben sie nicht mehr ihre ursprüngliche Farbe sondern scheinen rot." Opacho schauderte bei der Vorstellung. „ch glaube, er selbst bemerkt diese Veränderung gar nicht."

„Was willst du mir damit sagen?", fragte Ren tonlos. Opacho sah ihn an. Der Chinese hatte sein Gesicht gesenkt und dunkle Haare verdeckte seine Augen. „Warum erzählst du mir das? Warum sagst du mir, er sei von etwas besessen? Glaubst du, das würde irgendetwas an meiner Einstellung ihm gegenüber ändern?"

Der Junge überlegte, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nein, deshalb sage ich das nicht. Ich weiß, dass du ihn hasst. Ich weiß, dass du ihn am liebsten ... ich weiß es, ja. Aber ich mochte nur etwas verhindern."

„Und das wäre?", fragte Ren und wandte ihm den Kopf zu. Noch immer konnte man seine Augen nicht genau ausmachen.

Opacho starrte ihn einige Sekunden schweigend an. „ch möchte nur nicht", begann er schließlich, „dass du den falschen Hao hasst. Der wahre Hao ist nicht so, wie der, den du hier siehst. Du hasst nur ein Scheinbild, eine Marionette des waren Teufels, des Geist des Feuers, fürchte ich. Ich weiß nicht, was er damit bezweckt, aber ich erzähle es dir auch, Ren", der Chinese zuckte überrascht zusammen, da Opacho ihn das erste Mal bei seinem Namen genannt hatte, „weil ich eine Bitte an dich habe." Opacho atmete tief ein und aus, es schien ihn viel Überwindung zu kosten, die nächsten Worte auszusprechen. „Bitte bring den alten Hao zurück."
 

oOo
 

Bitte bring den alten Hao zurück.

Noch immer echote dieser Satz in seinem Kopf herum. Ließ ihm keine Ruhe. So oft er die Worte Opachos auch Gedanklich wiederholte, sie sogar selbst noch einmal laut aussprach, um vielleicht so Erleuchtung zu finden, er verstand sie nicht.

Bitte bring den alten Hao zurück.

Er kannte Hao. Hao war ein überheblicher, von sich selbst eingenommener Bastard, der sein Leben verwirrt, auf den

Kopf gestellt, zerstört und vor seinen Augen mit Füßen getreten hatte. Hao war ein verrückter Irrer - anders konnte man es ausdrücken – der Freude daran fand, andere, die nicht seine Ansichten teilten, zu eliminieren, sie auszulöschen..

Bitte bring den alten Hao zurück.

Und dennoch gab es einen kleinen Jungen, der daran glaubte, den wahren Hao zu kennen. Den Hao, der eine bessere Welt wollte, der nur vom richtigen Weg abgekommen zu sein schien, der angeblich von seinem eigenen Schutzgeist besessen war.

/Meister Ren?/

Eine zaghafte Frage, gestellt von einer nur allzu vertrauten Stimme, unweit von ihm entfernt. Ren sah nach rechts, erblickte Bason, der zwischen den Bäumen auf und ab schwebte, ihn schuldbewusst betrachtete und nicht wagte, näher zu kommen. Das schlechte Gewissen konnte Ren ihm bis zu seinem derzeitigen Sitzplatz, einem Baumstumpf mitten im Wald, ansehen. „Bason."

Ren Stimme hatte etwas Feststellendes an sich. Ja, dort schwebte Bason. Sein treuer Begleiter, solange er zurückdenken konnte, sein Beschützer, wenn er Probleme hatte, sein - er schluckte schwer - sein erster wahrer Freund, wenn er zurückdachte. Er überwand seine Zweifel und deutete neben sich. „Würdest du herkommen?"

Umgehend spürte er einen kalten Schauer, der seinen Rücken hinab lief und hatte für wenige Augenblicke das Gefühl, die Worte seines Vaters wieder hören zu können: Ein Tao hatte gefälligst etwas zu Befehlen! Ein Tao lässt sich nicht verunsichern. Schwäche bedeutet Zerstörung.

Aber verdammt noch mal, er war momentan kein Tao, er war Ren. Nicht mehr und nicht weniger. Und das dort war Bason, der ein Recht darauf hatte, sich zu rechtfertigen, und sich zu dem Gesagten Haos zu äußern. Vorsichtig, als würde er jeden Moment mit einer scharfen Zurechtweisung rechnen, schwebte Bason näher.

/Meister./

Vielleicht, schoss es Ren durch den Kopf, als keiner von ihnen das Wort ergriff. Vielleicht sollte ich etwas

sagen. Vielleicht sollte ich den ersten Schritt wagen, ihn riskieren.

„Ich trage dir nichts nach", sagte er schließlich, ließ durch seine Stimme ein Eichhörnchen, unweit von ihnen, aufschrecken und die Flucht ergreifen. Er spürte Basons erstaunten und ungläubigen Blick auf sich und sprach weiter: „Ich hatte in den letzten Stunden ausreichend Zeit, nachzudenken."

Tatsächlich war die Sonne schon vor vielen Stunden untergegangen, hatte der Nacht Platz gemacht, die sich wie ein Tuch über sie gelegt hatte. Seitdem saß Ren auf diesem Baumstamm und hatte nachgedacht.

„Ich verstehe, welche Gründe dich damals dazu gebracht haben, so zu handeln und ich glaube, dass niemand an deiner Stelle anders gehandelt hätte. Das, vor zwei Tagen zu dir gesagt habe entspricht nicht der Wahrheit. Ich hatte kein Recht, dir Vorwürfe zu machen. Ich war in dem Moment lediglich verbittert, ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Und dann", er holte tief Luft und sah angestrengt in den Himmel über sich, versuchte dem Blick Basons zu entgehen, „hat Hao die Kontrolle übernommen.“ Er hörte, wie Bason scharf die Luft einzog, „Aber ich versichere dir, dass es nicht noch einmal dazu kommen wird, davor bin ich von nun an gewappnet." Er dachte an den Schamanenkönig und sein Versprechen. „Hao wird keinerlei Kontrolle über mich haben, zumindest nicht so, wie er sich das vorstellt. Er wird glauben, er kontrolliere mich, aber das wird nicht so sein. Wir werden seine Befehle weiterhin ausführen müssen, damit er keinen Verdacht schöpft. Dann sehen wir weiter. Was sagst du, Bason", er lächelte seinen Schutzgeist aufrichtig an. Es war sein erstes wahres Lächeln seit langem und Bason stockte, als er Ren so sah. „Schaffen wir das, mein Freund?"

Der Schutzgeist spürte ein seltsames Gefühl in sich aufkeimen. Es suchte sich seinen Weg durch seinen Geist, breitete sich in ihm aus. Es war Stolz. Stolz darüber, das Ren beschlossen hatte, zu kämpfen, dass er weiter leben wollte. Und dann Lächelte auch er. Zeigte, dass er verstanden hatte. /Natürlich schaffen wir das, Ren, mein Freund./

Krankenbesuch

12. Kapitel: Krankenbesuch[
 

Manche Zuneigung leuchtet ein, andere erscheint sonderbar
 

„Komm, nun lass dich doch nicht so hängen. Das war ’ne einmalige Sache.“

Der dämmrige Raum wurde einzig von dem Licht, dass durch die Ritzen der zugezogenen Vorhänge fiel, erhellt. Strahlen der aufgehenden Sonne, die den Raum nicht viel wärmer erschienen ließen, als er war.

„Na los. Jetzt komm wieder zu dir.“

Seine Stimme war das Einzige, was die Stille durchbrach, unterstützt vielleicht, von dem regelmäßigen Atmen der Person vor ihm. Sein Blick schweifte an den Wänden entlang, nahm einen trübsinnigen Ausdruck an. Er wandte seinen Kopf und fixierte die Person vor sich.

„Weißt du, langsam fängt die Sache an, mich wirklich zu überfordern. Ich meine, ich weiß echt nicht mehr, was ich denken soll. Einerseits würde ich ihm am liebsten für das, was er getan hat, den Kopf abreißen, ihn grün und blau schlagen ...“ Ein Seufzen erfüllte den Raum. „... aber auf der anderen Seite fehlt er mir und ich will verstehen, warum er das getan hat.“

Er lehnte sich zurück, legte seinen Kopf in den Nacken und richtete seinen Blick gen Zimmerdecke, betrachtete die schwarzen und grauen Schatten und lächelte nun leicht verträumt.

„Weißt du noch, auf dem Weg nach Doby Village, da haben wir Ren einmal, als er schlief, mit Stiften das Gesicht bemalt. Am nächsten Tag ist er dann die ganze Zeit so rum gelaufen und hat sich gewundert, warum wir alles gelacht haben, bis wir ihm dann irgendwann den Spiegel von Anna vors Gesicht gehalten haben.“

Er fuhr sich durch die blauen Haare, ohne den Blick von den unklaren Konturen an der Decke zu nehmen. Das Lächeln wurde zu einem träumerischen Grinsen.

„Echt, so wütend hab ich ihn noch nie erlebt. Der hätte uns beinahe im Fluss ertränkt.“
 

„Echt ... einmalig.“
 

Seine Augen weiteten sich und ein Kopf ruckte nach vorne. „Ch-Chocolove?!“, keuchte er überrascht und starrte

in das Gesicht des Dunkelhäutigen. Chocolove hatte seine Augen geöffnet und sah ihn müde mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen an. Der Ainu sprang von seinem Stuhl auf und war wenige Momente direkt neben seinem verletzten Freund. „Mann, wie geht es dir? Soll ich dir was bringen? Bei allen Ainus, jag uns nie wieder so einen Schrecken ein. Ich dachte, mein Herz bleib stehen!“

In Chocoloves Augen blitzte es auf und er meinte angriffslustig: „Tatsächlich? Ich dachte, dich bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Das erinnert mich an den Witz mit dem Esel und -“, hustend brach er ab und hielt sich die Hand vor den Mund. Horohoro half ihm, sich in einer halbwegs aufrechten Position aufzusetzen und an das Kopfende des Krankenbettes zu lehnen.

„He Alter, übertreib es lieber nicht. Lass es ruhig angehen“, meinte er besorgt und behielt vorsorglich eine Hand an der Schulter des anderen.

Der Husten klang langsam ab und als Chocolove die Hand wieder vom Mund nahm, grinste er leicht gequält. „Ach was, von so ein paar Verletzungen lasse ich mich doch nicht klein kriegen.“

Horohoro schnaubte. „Von wegen klein. Faust meint, dass du dir mindestens zwei Rippen angeknackst und deinen linken Arm geprellt hast, von den vielen Kratzern ganz zu schweigen.“

„Jetzt wo du es sagst“, Chocolove fasste sich wimmernd an die linke Seite seiner Brust. „Ich spüre da was

stechen.“

Horohoro verpasste ihm eine sanfte Kopfnuss. „Idiot, die Rippen sind weiter unten. Ungefähr da“, er tippte mit dem Finger auf eine Stelle, einige Zentimeter unter Chocoloves Hand. Dieser zuckte zusammen. „Au!“

„Jetzt stell dich nicht so an!“

„Gehst du mit all deinen Patienten so liebevoll um?“

„Nur, wenn sie Chocolove heißen und sich nicht beherrschen können.“

„Und wenn ich nicht Chocolove, sondern Ren heißen würde?“

„Dann - he, was meinst du damit?“

Doch Chocolove sinnierte schon weiter vor sich hin. „Ja, wenn ich Ren heißen würde, dann würdest du dich sicher aufopferungsvoll um mich kümmern und mich gesund pflegen.“

Die Wangen des Ainus färbten sich. „W-wie kommst du darauf?“, fragte er stockend. Chocolove warf ihm einen viel sagenden Blick zu. „Ach, nur so. Ich meine ja nur - so wie du mir die kleine Geschichte von eben erzählt hast. Du vermisst ihn, was?“

„I-ich, also“, der Farbton gewann an Intensität und das Grinsen Chocoloves wurde eine Spur breiter, „na ja, das ist- ich meine, ich – ach, du weißt doch ganz genau, was ich darüber denke!“, brauste er schließlich auf, als ihm die Worte ausgingen.

Der Gesichtsausdruck Chocoloves war die pure Unschuld. „Nein. Erzähl du es mir.“

„Ja, verdammt, ich vermisse ihn! Zufrieden?!“

„Na also, geht doch.“

„Äh, wie?“ Horohoro blinzelte verwirrt, bevor er realisierte, was er von sich gegeben hatte. „Oh, nein, ich meinte eigentlich -“

„Du brauchst nichts weiter zu sagen, ich hab dich schon verstanden“, meinte Chocolove fröhlich, hielt sich dennoch seine schmerzenden Rippen.

„...“

„He, du kannst jetzt aufhören, einer Tomate Konkurrenz zu machen.“

„Das ist alles deine Schuld!“

„Was, meine?“, fragte der Komiker gespielt getroffen. „Nein, ich befürchte eher, es ist die Schuld unseres guten Überläuferfreundes, Ren.“

„Wenn du nicht verletzt wärst“, knurrte Horo gefährlich.

„Na, nicht auf die armen misshandelten Komiker“, wies Chocolove ihn tadelnd zurecht.

„So schlecht kann es dir gar nicht gehen, wenn du schon wieder so mit mir reden kannst!“

„Aber warum die Chance nicht nutzen, wen sie sich bietet?“, fragte Chocolove zuckersüß. „Na los, Horokeu, hol dem armen kranken Chocokeu ein Glas Wasser.“

„Hol es dir selber!“, fauchte der Ainu.

„So redet man aber nicht mit einem in Mitleidenschaft geratenen Kämpfer.“

„Argh, pass auf, oder ich werde dich -“

„Ein Wasser, bitte“, war die geflötete Erwiderung.
 

„Zufrieden?“

„Nun ja, gegen ein Eis hätte ich nichts einzuwenden ...“

„Ein Eis? Geht’s noch?!“

„Was denn? Ich bin krank und pflegebedürftig.“

„Ja klar, pflegebedürftig. Aber ganz besonders da oben.“ Der Ainu tippte sich mit einem Finger gegen seine Stirn. Chocolove sah ihn vorgeschobener Unterlippe schmollend von unten herauf an. „Jetzt sei nicht so fies zu mir und bring mir ein Eis.“

„Das meinst du also ernst?“

„Ich scherze nicht.“

„...“

„Was siehst du mich jetzt so komisch an?“

Horohoro blinzelte. „Hab ich gerade richtig gehört? Du, ich meine, du, Chocolove, willst mir gerade ernsthaft

erzählen, dass du keine Scherze machst. Entschuldige meine Überraschung, aber DU?!“

Chocolove wollte die Arme vor seiner Brust verschränken, brach dieses Vorhaben jedoch aufgrund einiger stechenden Schmerzen in seiner unteren Brustregion schließlich ab. „Jetzt tu nicht so überrascht.“

Der Stirnbandträger schüttelte den Kopf. „Ich tu nicht so, ich bin überrascht.“

„Dein Pech. Mein Eis.“

„Hol es dir selber.“

„Horokeu ...“

„Hör auf mich so zu nennen.“

„Ist dir Horo-chan etwa lieber?“

„Wage es und du hast bald wirklich gebrochene Rippen!“

„Was denn, du drohst deinem einstigen Teammitglied? Horohoro, ich bin zutiefst von dir enttäuscht.“

„Dein Pech.“

„Eis.“

„Hör auf hier rumzunörgeln.“

„Noch nörgele ich nicht.“

„Was denn, heißt das, das Maximum ist noch nicht erreicht?“

„Nicht im Ansatz.“ Er grinste den Ainu an.

„Du machst mich fertig, echt mal!“

„Krieg ich jetzt mein –“

„Ja, verdammt!“
 

„Lecker.“

„Das kriegst du zurück!“

„Wenn du meinst.“

„...“

„Du erinnerst mich irgendwie an Ren?“

„Hm?“ Überrascht sah Horohoro auf. „Wie meinst du das?“

Chocolove sah ihn nicht an, er blickte gedankenverloren an die gegenüberliegende Wand, während er sein Eis aß. „Damit meine ich“, begann er zu erklärend, „dass mich deine Reaktionen an ihn erinnern.“

„Hn.“ Der Blauhaarige ließ leicht den Kopf sinken und starrte auf den Boden. Chocolove nahm den Blick von

der Wand und betrachtete den Ainu eingehend. „Was ist passiert, während ich K.O war?“

Horohoro zuckte hilflos die Schultern. „Nichts. Was soll schon passiert sein?“

„Ha ha, das war ein guter Witz. Wie lange war ich bewusstlos?“

„Etwas mehr als drei Tage.“

„Hm.“ Chocolove ließ gedankenverloren seinen letzten Rest Eis verschwinden, „Das ist neuer persönlicher

Rekord. Und was ist mit den anderen?“

Noch immer hielt der Ainu den Blick gesenkt. „Yoh hat gegen Ryu gewonnen und Faust gegen Luchist verloren.“

„Und was ist mit Ren?“

„Nichts. Er hat sich nicht blicken lassen. Passt zu ihm.“

„Komm, jetzt tu nicht so, Horohoro.“

„Ich tu nicht so. Das ist nun mal typisch.“

„Klar. Also nichts Neues?“ Ein Kopfschütteln war Antwort auf diese Worte. „Und wieso benimmst du dich dann so seltsam?“

Der Kopf des Stirnbandträgers ruckte nach oben. „Du wunderst dich, dass ich mich seltsam benehme, nachdem einer meiner Freunde die Seiten gewechselt hat?“

Nun schüttelte Chocolove den Kopf. „Nein, so meine ich das nicht. Aber du benimmst dich auch im Vergleich dazu anders. Du wirkst nicht mehr so wütend, wie am Anfang.“

„Das ist jetzt drei Tage her.“

„Trotzdem.“

„Trotzdem was?“

„Trotzdem ist das etwas anderes.“

„Sag mal“, der Ainu verengte misstrauisch die Augen, kam dem Gesicht Chocoloves sehr nahe und tippte mit dem Zeigefinger gegen dessen Stirn, „hattest du während deiner Ohnmacht eine Erleuchtung oder warum bist du neuerdings so komisch?“

„Hä?“ Chocolove sah ihn an, als wäre er nicht mehr ganz dicht. „Wovon redest du? Darf man nicht auch mal etwas ernster sein?“

Horohoro seufzte. „Man schon, aber bei dir ist es unheimlich.“

„Tze, als ob das so schlimm wäre“, meinte Chocolove beleidigt. „Aber weich jetzt nicht vom Thema ab. Was ist sonst noch in den drei Tagen passiert, dass du deine Ansichten geändert hast und ihn jetzt verstehen willst? Hast du mit jemandem darüber gesprochen?“

„Hm“, gab der Blauhaarige recht einsilbig zurück.

Chocolove runzelte die Stirn. „Mutierst du jetzt zu einer neuen Ausgabe von Ren?“

„Nein.“

„Hat Yoh mit dir geredet?“

„Wie kommst du –“

„Yoh schafft es immer, unsere Ansichten mit einem Gespräch zu verändern.“

„Findest du?“

„Du nicht?“

„Na ja ...“

„Und was hast du jetzt vor?“

„Hm?“

„Nach deinem Ansichtswechsel?“

Horohoro zuckte von neuem die Schultern. „Ich weiß nicht. Abwarten?“

„Klingt nicht sehr überzeugt.“

Stille legte sich zwischen die beiden. Chocolove starrte auf die weiße Decke seines Krankenbettes und Horohoro hatte weiterhin den Boden fixiert. „Lyserg hat mir etwas erzählt.“

Chocolove wandte den Kopf. „Was denn, du rückst von selbst mit der Sprache raus?“

Der Stirnbandträger ging nicht darauf ein, sondern sprach weiter, was Lyserg ihm vor kurzem eröffnet hatte. „Er erzählte, dass er Jeanne hat sagen hören, dass es Rens Schicksal sei.“

Chocolove zog die Augenbrauen in die Höhe. „Dass was sein Schicksal sei?“

„Na das. Was hier passiert, eben.

„Sein Schicksal?“

„Scheint so.“

„So ein Mist.“

„Kannst du laut sagen.“

„Wirst du es Yoh sagen?“

„Wird er mir was sagen?“

Die Köpfe der beiden ruckten zur Seite und überrascht weiteten sich ihre Augen. „Yoh?!“

Der Braunhaarige stand im Eingang zum dunklen Krankenzimmer und lächelte schwach. Er trat näher. „Hallo Chocolove, schön, dass es dir wieder besser geht“, grinste er fröhlich.

Chocolove hob den Daumen. „So schnell mache ich nicht schlapp!“

Yoh durchquerte den Raum, griff nach einem Stuhl in einer der Ecken und schob ihn neben Horohoros an Chocoloves Krankenbett. Anschließend ließ er sich darauf fallen. „Wie fühlst du dich?“, fragte er e ernst an Chocolove gewandt.

„Wie zerschlagen“, gab dieser schwach grinsend zurück.

„Du hattest Glück“, fuhr Yoh erklärend fort, „dass du nicht noch schlimmer dran bist. Die Ärzte waren schnell da genug eingegriffen und auch Hao hat nicht alles gegeben.“

Chocolove knurrte, beim Erwähnen seiner Niederlage. „Meine Rippen danken es ihm, aber ich würde ihn am

Liebsten ...“

„In deinem Zustand solltest du das lassen“, belehrte ihn Yoh. „Werd erstmal wieder gesund, dann sehen wir weiter.“

„Was ist mit der nächsten Runde?“, fragte Chocolove rasch, um das Gespräch in eine etwas andere Richtung zu lenken.

Yohs Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur ernster und auch Horos verdüsterte sich. „Das wissen wir nicht“, meinte Yoh schließlich. „Wir wissen gar nichts. Seit gestern haben wir weder Silva, noch Calim gesehen. Sie lassen sich nicht mehr blicken. Auch ihr Café ist geschlossen.“

„Das ist allerdings seltsam.“

„Überhaupt“, meinte Yoh nachdenklich, „scheint die ganze Stimmung im Dorf seit gestern beunruhigend angespannt. Es liegt etwas in der Luft, es ist nur nicht sicher, was.“

Langsam nickte Chocolove, schien angestrengt zu überlegen. Horohoro schwieg beharrlich.

„Du wolltest mir etwas sagen?“, richtete Yoh sich schließlich an den Ainu, welcher verdutzt blinzelnd aufsah.

„Es geht um Lyserg.“

Yoh hob überrascht die Augenbraue. „Lyserg?“

Rasch und in knappen Sätzen erklärte Horohoro Yoh, was der Engländer ihm erzählt hatte und was er davon hielt. Yoh sah dem Stirnbandträger lange in die Augen. „Sein Schicksal?“

Horohoro wandte unwohl den Blick ab. „Gott, das Wort ist jetzt schon so oft gefallen, ich kann es echt nicht mehr hören.“ Chocoloves Blick war auf den Ainu gerichtet und als dieser sich dessen bewusst wurde, sah er den Komiker misstrauisch an. „Was ist?“

Der Blick Chocoloves zeugte von Verwunderung, Erstaunen, bis hin zu Ungläubigkeit. „Du wirst echt immer mehr zu Ren, weißt du das? Du bist schon genauso leicht reizbar und mürrisch.“

Der Stirnbandträger schnaubte. „Schönen Dank auch.“

„Er scheint dir echt zu fehlen.“

„Und wenn schon ...“

„Wir müssen etwas unternehmen“, warf Yoh nun ein. Die beiden anderen Seufzten.

„Wem sagst du das?“

„Euch.“
 

oOo
 

„Godva, bist du dir sicher?“ Silvas Blick spiegelte Besorgnis und Unruhe wider. „Bedenke, was Hao uns gesagt hat. Wenn wir das tun, ist Ren dem Tode geweiht.“

Sie standen in der Halle des Schamanenrates. Silva trug mehrere Verbände, hatte offensichtliche Probleme, sich aufrecht zu halten und redete bereits einige Minuten auf den anderen ein. Das Oberhaupt der Schamanenrichter wich seinem Blick aus. „Es bleibt mir nichts anderes übrig. Das Schamanenturnier findet alle fünfhundert Jahre statt und hat es erst einmal begonnen, so kann man es nicht mehr beenden. Der Schamanenkönig lässt es nicht zu.“

„Wurde es je versucht?“

Godva sah auf, in seinen Augen lag Unruhe. „Das wird nie jemand auch nur annähernd wagen.“

„Es geht um das Leben eines Jungen.“

„Sein Leben gegen das Schicksal der Menschen“, entgegnete Godva betrübt.

„Du willst sein Opfer in Kauf nehmen? Es damit rechtfertigen“, fragte der Schwarzhaarige ungläubig.

„Ich habe keine andere Wahl.“

„Noch haben wir die Wahl!“, beharrte Silva hartnäckig.

„Der Wille des Schamanenkönigs ist unabänderlich.“

Frustriert wandte Silva sich ab und ballte die Fäuste „Er ist doch noch ein Junge“, flüsterte er und wollte nicht glauben, mit was er hier konfrontiert wurde.

„Ich weiß“, stimmte Godva mit todernster Mine zu. „Doch wir haben keine andere Wahl.“
 

Keine andere Wahl...
 

ooo
 

„Ich hab Hunger.“ Sowohl Yoh als auch Horohoro starrten Chocolove ungläubig an. Dieser lächelte verlegen.

„Tut mir Leid, aber zwei Tage Auszeit machen sich langsam bemerkbar.“

„Normalerweise ist so etwas mein Part“, murmelte Horo, während auch Yoh nun wieder lächelte.

„Auf leerem Magen lässt es sich schlecht denken“, stimmte er zu.
 

oOo
 

„Wie machen wir es diese Runde?“, fragte Silva mit zitternder Stimme und humpelte unruhig auf und ab. „Werden wir die Gegner wieder auslosen? Oder bestimmen wir sie selber?“

Der Schamanenrichter schüttelte den Kopf. „Es darf immer nur gelost werden. Anders ist die Aufstellung ungültig. So verlangt es der Schamanenkönig.“

Godva wandte sich an die anderen Schamanenrichter. „Macht euch bereit. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir erarbeiten jetzt die Aufstellung für den zweiten Teil der letzten Runde des Schamanenturniers.“

Der oberste Schamanenrichter wollte sich gerade umwenden, als ihn eine Hand an seiner Schulter daran hinderte. Er drehte sich um. „Silva?“

Der Schwarzhaarige hatte den Blick gen Boden gerichtet. „Godva, ich bitte dich“, er schien nach Worten zu suchen, „nur bei dieser Auslosung, bitte, schließe Hao nur für diese Auslosung aus. Es sind fünf Schamanen im Finale.“ Er hob den Blick. „Godva, nur diese Auslosung. Damit am Ende der Stärkste der fünf gegen Hao antritt. Somit wird unsere Chance auf einen Sieg gegen ihn größer und wir verhindern vielleicht ein weiteres Opfer.“

Godva sah ihn lange und eindringlich an. „Silva, das geht nicht.“

Der Griff um seine Schulter wurde fester. „Godva, es geht hier um das Wohl von Unschuldigen! Selbst der Schamanenkönig kann das nicht gutheißen.“

Wenige Sekunden noch sahen sie sich stumm an, dann wandte Godva sich endgültig um. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
 

Rauschend schalteten sich die Lautsprecher des Dorfes an. Automatisch hielten alle derzeitigen Bewohner in ihren Aktivitäten inne.

„An alle Schamanen“, erklang verzerrt von der schlechten Übertragung, Godvas Stimme. „An alle Schamanen. Heute Mittag beginnt der zweite Teil der dritten Runde. Nur noch fünf Schamanen sind im Turnier und die Aufstellung der nächsten beiden Kämpfe lautet wie folgt: Heute Mittag tritt Asakura Yoh gegen Luchist an. Im unmittelbar anschließenden Kampf wird Horohoro gegen Tao Ren antreten. Ich bitte die vier Schamanen, sich um punkt zwölf Uhr im Stadion einzufinden. Verspätung oder Nichterscheinen wird mit Disqualifikation bestraft.“

Knackend schalteten sich die Lautsprecher aus. Stille hatte sich wie ein Schleier über das Dorf gelegt.
 

oOo
 

„Ich hab keinen Hunger mehr“, stellte Chocolove monoton fest. „Jetzt ist mir schlecht.“

Er und Yoh warfen besorgte Blicke auf Horohoro, der beim Klang seines Namens wie zur Salzsäule erstarrt war. Nun saß er bewegungslos auf seinem Stuhl und starrte ausdruckslos in Leere. „Horohoro?“

Der Ainu konnte nicht ausmachen, wer von seinen beiden Freunden ihn beim Namen genannt hatte. Wie eine Maschine erhob er sich von seinem Stuhl. „Ihr entschuldigt mich. „War das seine Stimme? So emotionslos? Er achtete nicht weiter auf die bedrückten Gesichter der beiden anderen, sondern machte auf dem Absatz kehrt und verließ beinahe fluchtartig den Raum.

Verdammt!, war alles, was er denken konnte.

Kaum dass er einigen Abstand zwischen sich und dem Zimmer gebracht hatte, lehnte er sich kraftlos an die Wand des Flures, in dem er stand. Es konnte nicht mehr weit bis zu seinem Zimmer sein, doch er hatte das Gefühl, keinen weiteren Schritt mehr machen zu können. Er fasste sich mit einer Hand an die Stirn und legte den Kopf in den Nacken. „Verdammt, warum ausgerechnet jetzt?“
 

oOo
 

„Das ... kann nicht ihr Ernst sein!“ Unglaube lag in seiner Stimme und starrte entsetzt auf das Dorf vor sich, von wo aus die Ankündigung Godvas zu ihnen herüber geklungen war. „Das ist nicht wahr!“

/Meister, vielleicht solltest du dich besser wieder setzen/, meinte Bason und schwebte besorgt näher.

Der Schwarzhaarige funkelte ihn an. „Hinsetzen?“, wiederholte er und seine Augen verengten sich. „Ich soll mich hinsetzen? Wie bitte soll ich mich hinsetzen?! Ich werde mich die nächsten Stunden nicht hinsetzen können, vor lauter Unruhe!“

Verwundert über soviel Offenheit seines Meisters, blickte Bason ihn nur erstaunt an. Doch Ren ließ sich davon nicht stören. Er begann vor seinem Schutzgeist auf und ab zu laufen, hin und wieder leise auf Chinesisch zu fluchen. Bason beließ es dabei, stumm seinen Bewegungen zu folgen. Er wusste, dass Ren mit diesem Verhalten ausdrückte, wie sehr ihn diese Ankündigung aufgewühlt hatte. Er konnte sich vorstellen, wie es im Inneren seines Meisters wirklich aussah. Wie auf einem Schlachtfeld. So und nicht anders musste es sein.

Ren hatte in den letzten Tagen vieles durchmachen und über sich ergehen lassen müssen und das nur, um einer, für ihn wichtigen Person, damit zu helfen und nun stellte sich heraus, dass vielleicht alles umsonst war, weil er selber nun dieser Person schaden musste.

„Was denken die sich denn?“, knurrte Ren und warf hin und wieder zornige Blicke in Richtung Dorf. „Warum haben sie ausgerechnet diese Auswahl treffen müssen?“

/Vielleicht haben sie es nicht entschieden, sondern per Zufall gemacht/, warf Bason vorsichtig ein. Ren wirbelte auf dem Absatz herum und funkelte ihn zornig an. „Und wenn schon, dann hätten sie gefälligst in einer anderen Reihenfolge auslosen sollen!“ Er fuhr fort, wie ein nervöser Tiger in einem Käfig auf und ab zu laufen. „Warum? Warum ich gegen ihn? Warum bin ich es?“

Er ließ sich auf den Baumstumpf fallen und vergrub die Hände in seinen Haaren, senkte den Blick gen Waldboden. Bason schwebte näher. Ab jetzt war der Zeitpunkt erreicht, an dem sein Meister alle Unterstützung brauchte, die er bekommen konnte. /Ren/, sagte er und versuchte so beruhigend wie möglich zu klingen. /Es ist gut. Ich bin bei dir./

Ren achtete nicht auf die Worte. Seine Hände verkrallten sich tiefer in seinen Haaren und er kniff die Augen zusammen. „Warum muss ich es sein, der wohlmöglich seinen Traum zerstört?“

Bason wechselte von seiner kleinen roten Geistergestalt in die durchsichtige Menschengestalt. Er legte Ren einen Arm um die Schulter, und auch wenn diese Berührung physisch nicht spürbar war, so war sie es doch mental. Ren hob den Kopf und blickte Bason von der Seite an. Seine Augen hatten einen betrübten Glanz. Der Krieger sah ihn nicht an, er blickte in den Himmel. /Meister, erinnere dich an das Versprechen, dass du deinen Freunden einst gegeben hast./

Rens Augen weiteten sich leicht. „Denkst du - hat es noch Wirkung? Ich meine, immer noch?“ Seine Gedanken wanderten an den Zeitpunkt des Versprechens zurück.
 

*~*
 

„Du Ren?“

„Hm?“ Der Schwarzhaarige öffnete die Augen und blickte direkt in den dunklen Nachthimmel über sich, einzig erhellt, von den vielen Sternen. Horohoro hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lag ein Stück neben ihm und blickte ebenfalls die Sterne an.

„Vermisst du manchmal eigentlich dein Zuhause?“

Ren schnaubte abfällig und sah kurz zu ihm hinüber. „Vermissen? Dieses Gefängnis? Nein.“ Horohoro wandte leicht den Kopf und sah den Chinesen von der Seite an. Dessen Augen hatten einen kalten Glanz angenommen. „Ich werde diesen Ort niemals vermissen.“

Horohoro sah wieder in den Himmel. „Manchmal vermisse ich mein Zuhause schon“, meinte er leise. „Meine Schwester“, er schmunzelte leicht, „sie ist meine Familie. Es ist immer schön wieder nach Hause zu kommen und sie hat schon das Essen gemacht.“

Ren sah ihn einen Moment ungläubig an, schüttelte dann den Kopf. „Du denkst natürlich wieder nur ans Essen.“

„Nein, ich meine es ernst. Es wäre schön, wenn sie jetzt auch hier wäre.“

Ren warf einen Blick auf eine der schlafenden Gestalten, ein Stück von ihnen entfernt. Das Holz im Feuer knackte und erhellte die Umgebung schwach. Der Ausdruck in Rens Augen wurde einen Moment lang weicher. Horohoro entging das nicht und er lächelte leicht. „Du hast es gut. Deine Schwester ist hier, um dich anzufeuern.“

Sofort nahm Ren den Blick von der schlafenden Gestalt und starrte wieder stur in den Himmel. „Na und? Sie konnte mich mal wieder nicht alleine gehen lassen. Als ob ich ein kleines Kind wäre.“

„Also, im Moment benimmst du dich aber, wie ein kleines Kind.“

Ren funkelte den Ainu an. „Was soll das bitte heißen?“

„Gar nichts.“

„Dann ist ja gut.“
 

„Du Ren?“

„Das hatten wir schon mal. Was ist denn?“, fragte der Schwarzhaarige entnervt.

„Wenn das Schamanenturnier bald weitergeht“, er machte eine Pause, bevor er fortfuhr, „ich frage mich immer, was passiert, wenn ich gegen einen von euch antreten muss.“

Der Chinese hatte genug von den Sternen und rollte sich auf die Seite, so dass er nun zu Horohoro gewandt lag. Dessen Gesichtsausdruck war unnatürlich ernst. Ren neigte den Kopf. „Es ist gut möglich, dass wir gegeneinander antreten müssen. Na und? Du bist doch in der ernsten Runde schon gegen Yoh angetreten.“

Der Stirnbandträger wandte ihm den Kopf zu. „Woher weißt du das?“, fragte er überrascht.

Ren grinste ihn spöttisch an. „Frag niemals, woher ein Tao seine Informationen hat, Das ist ein Familiengeheimnis.“

Der Ainu stöhnte frustriert auf. „Na toll, schon wieder die Familie.“

„Du hast gegen Yoh verloren.“

Horohoro knurrte. „Na und? Du doch auch fast.“

„Es war ein Unentschieden“, berichtigte ihn der Schwarzhaarige. Außerdem hatte er Glück.“

„Richtig müsste es wohl eher heißen: Du hattest Glück, Ren.“

„Nein, du hast mich schon richtig verstanden: Yoh hatte Glück.“

„Ich hatte Glück?“, fragte eine müde Stimme über ihnen und sie sahen auf. Yoh hatte sich über sie gebeugt und grinste sie noch leicht verschlafen an.

„Hi“, meinte Horohoro und grinste zurück.

„Was seid ihr zwei noch wach?“, fragte Yoh, ließ sich vor den beiden auf den Boden fallen und gähnte.

„“as bist du noch wach?“, stellte Horohoro die Gegenfrage.

„Ich hab euch reden gehört. Habt ja interessante Themen“, bemerkte Yoh belustigt. Er wandte sich an Ren: „Und ich hatte also Glück, ja? Wenn ich mich richtig erinnere hast du sogar zugegeben, dass ich der Gewinner des Kampfes war.“

Rens Augen verengten sich und er richtete sich auf, stützte sich auf seinen Unterarm. „Das war, bevor ich erfahren hatte, dass das Ergebnis unentschieden war! Das hab ich dir damals auch gesagt!“

Yoh zuckte weiterhin grinsend die Schultern. „Das ändert nichts daran, dass du es gesagt hast.“

„Pah“, Ren sah ihn mürrisch an. „Red es dir nur weiterhin schön.“

Yohs Grinsen wurde breiter. „Das brauche ich nicht, das ist es schon.“

„Das nächste Mal gewinne ich!“, meinte Ren voller Überzeugung.

„Nein, ich gewinne“, warf Horohoro dazwischen.

Ren sah ihn gelangweilt an. „Träum weiter.“

„Du glaubst mir nicht?“, fragte Horohoro angriffslustig.

Ren legte den Kopf noch in Stückchen schräger. „Muss ich das?“

„Na warte! Wenn wir gegeneinander antreten, mach ich dich fertig!“

Ein unbeteiligtes Lächeln umspielte Rens Lippen. „Das will ich sehen.“

„Okay“, der Ainu strotzte nur so von Selbstbewusstsein. „Wenn wir jemals gegeneinander antreten, schenken wir uns nichts!“

„Wenn du das sagst.“

„Na los, Ren“, meinte Yoh fröhlich, „gib dir einen Ruck. Er meint es ernst.“

„Ach was?“, fragte Ren mit gespielter Überraschung. „Das tut er? Na gut“, er resignierte, „wenn ihr mich dann in Ruhe lasst.“ Er hob den Blick und sah Horohoro fest in die Augen. „Wenn wir im Schamanenturnier aufeinander treffen, werde ich dir nichts schenken.“

„Versprochen?“

„Wenn du es unbedingt willst: Versprochen.“
 

*~*
 

/Du hast ihm dein Wort gegeben, Meister Ren. Meister Yoh war dabei./

„Und kurze Zeit später habe ich sie verraten.“

/Trotzdem hat er dein Wort und ich dachte du hältst, was du versprichst./

„Das tue ich auch.“

/Dann tu es jetzt. Ich denke, Meister Horohoro würde es so wollen, wenn er wüsste, was wirklich hier vor sich geht./

„Ich kann nicht.“

/Warum nicht?/

Ren sah ihn nicht an. „Es geht einfach nicht. Ich kann nicht gegen ihn kämpfen. Nicht mehr.“

Auch wenn mir der Schamanenkönig sein Wort gegeben hat, es kann immer etwas schief laufen. Und ich will Horohoro nicht verletzen. Nicht noch einmal.

Hoffnung

13. Kapitel: Hoffnung
 

Liebe ist die höchste Tapferkeit: sie ist zu jedem Opfer bereit.
 


 

‚Du hast ihm dein Wort gegeben, Meister Ren. Meister Yoh war dabei.’
 

‚Es geht einfach nicht. Ich kann nicht gegen ihn kämpfen. Nicht mehr.’
 

‚Ich will Horohoro nicht verletzen. Nicht noch einmal.’
 

Er öffnete die Augen, als vom Stadion der Applaus zu ihnen herüber klang. Die Sonne hatte den Zenit erreicht und brannte vom Himmel, einzig die Kronen der Bäume vermochten ihre Strahlen zu brechen und ihr Licht zu zerstreuen. Einige Vögel zwitscherten und der Wind rauschte durch die Blätter, doch er nahm diese Naturgeräusche nicht wahr. Der ferne Applaus und die Jubelrufe schienen seine gesamte Wahrnehmung einzunehmen.

/Meister, wir sollten uns langsam auf den Weg machen/, wagte Bason einen vorsichtigen Versuch, den er im nächsten Moment beinahe bereute, da ihn ein Paar bernsteinfarbener Augen abgrundtief böse anfunkelte. „Nein!“

/Aber Meister, du hast gehört, was Godva gesagt hat. Verspätung oder Nichterscheinen wird mit Disqualifikation geahndet./

„Na und? Vielleicht ist es besser, wenn ich disqualifiziert werde, dann nütze ich Hao nichts mehr und werde unbrauchbar für ihn“, entgegnete der Schwarzhaarige tonlos und starrte nun mit leerem Blick auf die Bäume vor sich.

„Ich glaube nicht, dass du diese Worte ernst gemeint hast, oder Ren?“

Der Schwarzhaarige zuckte bei diesen Worten zusammen, doch hauptsächlich, weil er die Stimme erkannt hatte. Sein Kopf schnellte in die Höhe und er erblickte auf dem Ast eines Baumes vor ihm eine nur allzu vertraute und verhasste Gestalt. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Was willst du?“, fragte er und versuchte, so beherrscht wie möglich zu klingen und sich nichts von seinem Hass und seiner tiefen Verachtung anmerken zu lassen. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass seine Stimme leicht zitterte, als er diese Frage stellte.

Hao lachte leise, schienen ihn diese Worte doch zu amüsieren, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Chinesen richtete. „Ich bin hier, um dich an die Abmachung zu erinnern. Hast du vergessen, dass du meine Befehle ohne zu hinterfragen ausführen sollst? Du bist meine Marionette, Ren.“

Natürlich hatte der Schwarzhaarige es nicht vergessen. Wie könnte er auch? „Ich kann mich an keinen Befehl erinnern“, antwortete er ruhig, versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu halten und seine Maske aufrecht zu erhalten.

Hao machte einen Satz, sprang vom Baum und landete galant auf dem Waldboden. Er schritt langsam auf Ren zu, der seine Schritte argwöhnisch verfolgte. Dicht vor dem Chinesen blieb Hao stehen. Noch immer lächelte er auf eine Art und Weise, die es Ren kalt den Rücken hinab laufen ließ. Das Lächeln gewann an Umfang, da es Hao nicht entging, wie der Schwarzhaarige sich in diesem Moment fühlte.

„Aber, aber.“ Er hob die Hand und Ren wollte zurückweichen, doch ein gefährliches Aufblitzen der mehr rot denn braun wirkenden Augen Haos hielt ihn davon ab. Er ließ es widerwillig geschehen, dass der Langhaarige die Hand an seine Wange legte. „Ich habe dir vielleicht bis jetzt noch keinen Befehl erteilt, aber daran kann ich etwas ändern, wenn du willst.“ Die Augen des Chinesen weiteten sich minimal und das Lächeln Haos bekam etwas Teuflisches. Mit seiner Hand strich er über Rens Wange, woraufhin der Schwarzhaarige sich versteifte. „Ich verlange von dir, dass du jetzt ins Stadion gehst und deinen kleinen Freund aus dem Weg räumst.“

Blankes Entsetzen erschien in Rens Augen und das Lächeln Haos wurde noch dämonischer. „Du hast schon richtig gehört, Ren. Beseitige den Ainu oder ich werde es persönlich tun. Und ich würde mich nicht darum kümmern, ob es dabei zu weiteren überflüssigen Opfern kommt.“ Seine Hand fuhr geradezu sanft Rens Wangenknochen nach. „Was würdest du sagen, wenn deinem Schwesterchen etwas zustoßen würde?“

Ren keuchte. „Nein, das würdest du nicht -“

„Oh doch, ich würde, Ren. Und ich werde es tun, wenn du nicht tust, was ich dir sage. Ich brauche nur ein weiteres Druckmittel gegen dich, wenn dein kleiner Ainu bald nicht mehr unter uns weilt, wirst du mir noch ergebener sein. Und deine liebe Schwester ist tatsächlich der beste Ersatz für den nervigen Blauschopf.“

„Das kannst du nicht von mir verlangen“, stieß Ren ungläubig hervor. Der Sinn des Befehls wollte ihm noch immer nicht begreiflich werden. Er wollte nicht verstehen, was Hao ihm befohlen hatte. Er konnte es nicht.

Die Hand auf seiner Wange verharrte und Haos Augen verengten sich, dennoch wich das Lächeln nicht von seinen Zügen. „Doch, ich tue es, Ren.“ Die Fingernägel des Langhaarigen gruben sich schmerzhaft in Rens Haut. „Also gehorche.“

„Aber –“, setzte der Schwarzhaarige an, brach jedoch ab, als der Druck der Hand sich verstärkte und sie die Nägel tief in seine Wange bohrten. Er unterdrückte zwanghaft einen Schmerzlaut, wollte Hao nicht auch noch diese Genugtuung gönnen. Etwas Warmes lief seine Wange hinab, tropfte ihm vom Kinn. Das Lächeln war aus Haos Gesicht verschwunden und sein Mund war vor unmissverständlichem Missfallen verzogen, während es in seinen Augen bedrohlich funkelte.

„Du hast mir zu gehorchen, Ren. Tu, was ich dir sage, oder es wird dich teuer zu stehen kommen. Dich und

deine Freunde. Wenn es sein muss werde ich sie eigenhändig, einen nach dem anderen, aus dem Weg räumen und du wirst zusehen und nichts dagegen tun können.“

Rens Hals war nach diesen Worten unnatürlich trocken und er musste schwer schlucken. Vor seinem inneren Auge spielten sich unzählige Horrorszenarien ab.

„Du wirst meinen Befehl befolgen, Ren“, sagte Hao und seine Worte duldeten keinen Widerspruch, während das Brennen auf Rens Gesicht anschwoll. „Du hast keine Wahl, denn du stehst unter meine Kontrolle.“

Der Schwarzhaarige, der Haos Blick bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreich standgehalten hatte, wandte geschlagen den Kopf und nickte.. Haos Hand zwang ihn, erneut aufzublicken, direkt in die dunkel und bedrohlich wirkenden Seelenspiegel des Langhaarigen zu blicken, die triumphierend glommen. „So ist es gut. Gehorche und füge dich.“ Der Griff seiner Hand lockerte sich, doch das Brennen blieb. Nun strich er regelrecht zärtlich über die geschundene Haut, wischten das Blut ab, während sich erneut ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigte. „Du bist meine Marionette, Ren. Und nun geh.“ Er ließ die Hand sinken.

Ren warf ihm einen letzten, nicht zu deutenden Blick zu, dann wandte er sich schweigend um, gab Bason, der dem Geschehen mit sichtlichem Unbehagen gefolgt war, mit der Hand einen Wink, ihm zu folgen und verschwand schließlich zwischen den Baumreihen.

Noch immer lächelnd blickte Hao ihm hinterher. Seine Lippen verzogen sich zu einem diabolischen Grinsen, während er seine Hand hob, die blutigen Finger betrachtete. Anschließend hob er den Blick und starrte auf die dunklen Reihen der Bäume, durch die der Chinese soeben verschwunden war. Langsam ließ er die Hand wieder sinken, während es in seinen Augen unheilvoll aufblitzte und ein rotes Flimmern hinter ihm in der Luft lag.

„Eine wirklich schöne MaRyunette“, sprach er mehr zu sich, denn zu jemand anderem, seinen Blick noch immer nicht von der Stelle nehmend. „Nur schade, dass ich sie so bald zerstören muss.“

Sein Lachen durchdrang die friedliche Stille des Waldes, wurde vom Wind mitgetragen, erreichte schließlich sogar Ren, der beinahe den Waldrand erreicht hatte und sich dabei auf seinem Weg kein einziges Mal umdrehte.
 

oOo
 

Unruhig lief der Horohoro in der Kabine auf und ab. „Er ist nicht da. Ich fasse es nicht, unser Kampf fängt gleich an und er ist nicht da!“

„Beruhige dich, Horohoro“, mahnte Chocolove, der es sich nicht hatte nehmen lassen, bereits einen Tag nach seinem Erwachen sein Krankenbett zu verlassen und der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Rolle des Coaches zu übernehmen - dabei Pirica, die widerwillig nachgegeben hatte, von ihrem Platz verdrängt hatte. (Zudem hatte Chocolove sämtliche Überzeugungskraft aufbringen müssen, um Faust davon zu überzeugen, auch nur einen Schritt machen zu dürfen, ohne dass der Arzt gleich herbeieilte, um ihn, unterstützt von Eliza, wieder ins Bett zu verfrachten.)

Die hölzerne Krücke, die dabei half, dass Chocolove seine angebrochenen Rippen nicht überlastete, lehnte neben ihm an der Bank, auf der er saß und nun mit skeptischem Blick zu Horohoro aufblickte, der wie ein gehetztes Tier in auf und ablief. Neben der Bank lag Mic, der stolze Leopard, der seinen Herrn seit seinem Erwachen bei jedem Schritt nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Beruhigen?!“, echote Horohoro ungläubig und wirbelte zu dem anderen herum. „Erklär mir, wie ich mich beruhigen soll, wenn Yoh da draußen gegen Luchist antritt, Ren noch immer nicht erschienen ist und ich gleich, falls er denn doch auftaucht, gegen ihn antreten muss!“

„Ich soll dir erklären, wie das geht?“, wiederholte Chocolove und musterte ihn eindringlich, bevor seine Hand hervorschnellte, Horohoro an seinem Ainugewand packte und mit einem Ruck neben sich auf die Bank zog. „Ganz einfach: Setz dich hin – wage es nicht, wieder aufzustehen!“, fuhr er scharf dazwischen, als Horohoro Anstalten machte, sich wieder zu erheben. „Ich habe mein Krücke und wenn du nicht aufpasst, wirst du schmerzhafte Bekanntschaft mit ihr machen!“ Grummelnd blieb der Stirnbandträger sitzen.

Ein Lächeln erschien auf Chocoloves Zügen. „Na bitte, geht doch. Und jetzt atme tief ein und aus, hör auf zu Hyperventilieren und beruhige dich.“

Widerwillig folgte Horohoro den Anweisungen und tatsächlich beruhigte sich sein beschleunigter Atem und auch sein Puls verlangsamte sich wieder, lag damit in einem gesunden Bereich. Nach einigen Sekunden, die nur durch das Jubeln oder Aufstöhnen der Menge erfüllt war, richtete er seinen Blick wieder auf den Jungen neben sich. „Und jetzt?“, fragte er hilflos. „Ich fühle mich, als ob ich jeden Moment umfallen würde, mein Magen dreht sich wie ein Kreisel und mir ist, als müsste ich mich jeden Moment übergeben.“

„Glaub mir, das macht jeder mal durch“, entgegnete Chocolove mit fachmännischer Miene und klopfte ihm dabei aufmunternd auf die Schulter. „Ich denke, die meisten von uns waren schon mal verliebt.“

Der Blick, den er daraufhin von Horohoro zugesandt bekam, hätte einen Felsen zu Staub zerfallen lassen, doch er wich ihm gekonnt aus und lachte. „Jetzt nimm es nicht so schwer, das wird schon. Du gehst gleich da raus, versohlst ihm den Hintern und bläst ihm ordentlich den Marsch. Das bringt ihn sicher zur Vernunft.“

Der Ainu antwortete nicht, sondern starrte nur Stumm auf den Boden, während er ein leichtes Nicken andeutete. Augenblicklich wurde auch Chocolove wieder ernst. „Nun komm, Horohoro. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, aber da musst du leider durch. Erstens ist das, was ich gesagt habe, gar nicht mal so abwegig und zum anderen ... willst du deinen Traum etwa so einfach aufgeben?“

Der Kopf des Blauhaarigen schnellte hoch und er starrte Chocolove ungläubig an. „Meinen Traum?“

Er erntete einen Stoß in die Seite. „Du weißt doch. ‚Ein unvorstellbar großes Feld voller Huflattichblätter, auf dem Menschen und Koro Pokurru gemeinsam in Frieden miteinander Leben können’ oder wie du es sonst noch so schön ausgedrückt hast.“

„Nein, dass ...“ Horohoro versagte die Stimme. Kororo erschien wie aus dem Nichts neben ihm und landete auf seine Schulter. Er wandte den Kopf und sah sie an. „Kororo?“

Huh! Sie lächelte aufmunternd und nickte ihm zu.

„Siehst du, Horohoro“, meinte Chocolove grinsend, „auch Kororo stimmt mir zu.“

Auf den Zügen des Ainus erschien ein entschlossener Ausdruck, bestärkt durch die Worte Chocoloves und die Geste Kororos. Er sah den anderen fest an und nickte. „Gut, ich gehe gleich da raus und wenn Ren auftaucht, wird er sein blaues Wunder erleben. Er wird den Tag noch bereuen, an dem er die Seiten gewechselt hat.“

„Genau das wollte ich hören!“

Huh!
 

oOo
 

Angespannt beobachtete Jun das Geschehen vor sich. Mit jedem Schlagaustausch, den die beiden Kontrahenten ausführten, wurde sie nervöser. Bald war es so weit. Dann würde ihr Bruder gegen Horohoro antreten. Ren ...

Ungewollt spürte sie, wie sich erneut Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Eine Hand legte sich auf ihre und sie blickte zur Seite, direkt in das Gesicht ihres Schutzgeistes, der sie verständnisvoll ansah. Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch die Tränen, die nun über ihre Wangen liefen, straften sie dafür umso mehr Lügen.
 

oOo
 

Beunruhigt folgte das zierliche Mädchen dem Geschehen vor sich in der Arena des Stadions. Ihre Augen nahmen jede ausgeführte Attacke mit Sorge wahr. Ihr Begleiter, der unmittelbar neben ihr saß, wirkte nicht minder angespannt, doch warf er ihr hin und wieder besorgte Blicke zu, während er die Hand hob und die Brille auf seiner Nase zurechtrückte.

Sie holte erschrocken Luft, als Yoh von einem besonders starken Angriff Luchists getroffen und einige Meter zurückgeschleudert wurde.

„Jeanne“, sprach der blonde Mann neben ihr und seine Hand fand erneut das Brillengestell, während er sie beunruhigt musterte. „Was wird geschehen, wenn Asakura Yoh verliert?“

Sie faltete die Hände ineinander wie bei einem stummen Gebet, wandte den Blick jedoch nicht von dem Geschehen. „Er darf nicht verlieren“, sprach sie leise und Marco merkte, dass ihre Stimme leicht zitterte. „Er darf es nicht. All unsere Hoffnung liegt auf ihm.“
 

oOo
 

„Lucifer, setze dem ein Ende!“, befahl Luchist und sein Schutzgeist schoss aus seinem Revolver, direkt auf den Braunhaarigen zu, der sein gesamtes Furyoku bereits in sein Lichtschwert und die Antiquität gelenkt und somit die ultimative Waffe gebildet hatte.

„Nicht so schnell! Amidamaru!“ Mit diesem Ruf ließ der Kopfhörerträger seine Waffe hinabschnellen. Sie

traf den gegnerischen Schutzgeist unmittelbar und teilte ihn in der Mitte.

„Nein!“ Luchists Ausruf folgte eine erdrückende Stille, die sich über das gesamte Stadion legte.
 

oOo
 

„Hast du das gehört?“ Horohoro war in die Höhe geschnellt.

Chocolove zögerte. „Also ich höre ehrlich gesagt nichts.“

„Das meine ich ja, es ist auf einmal so still.“

Beide lauschten angespannt. Chocolove neigte den Kopf. „Es scheint, als wäre der Kampf zu Ende.“

„Bei allen Koro Pokurrus, hoffentlich hat Yoh gewonnen ...“
 

oOo
 

/Meister./

„Ja Bason, ich habe es auch bemerkt. Der Kampf scheint vorüber.“ Ren setzte seinen Weg unbeirrt fort. Sie hatten das Stadion beinahe erreicht. Stolz ragte es vor ihnen in die Höhe, wurde von der Sonne hell beschienen.

/Ob Meister Yoh -/

Die Worte Basons gingen in dem jähen Jubel der Menge unter, der ihnen schier die Sinne zu rauben schien. Rens Mundwinkel zuckten nach oben. „Es scheint beinahe so.“ Doch die schwache Gefühlsregung schwand, als er sich seiner anstehenden Härteprüfung wieder bewusst wurde. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und seine Kehle brannte. Er hoffte, der Schamanenkönig würde sein Wort halten.
 

oOO
 

„Und der Gewinner des Kampfes ist Asakura Yoh!“, verkündete Silva mit sichtlicher Erleichterung und deutete auf den jungen Schamanen, der im Zentrum der Arena stand und mit undurchdringlicher Mine auf seinen Kontrahenten starrte, der bewusstlos am Boden lag. Auf einen Wink Silvas eilten Sanitäter herbei, die den Verletzten auf einer Trage vom Platz trugen.

Nach einer Ewigkeit wie es schien, hob Yoh den Blick und das altbekannte Grinsen erschien auf seinem Gesicht, welches er, gepaart mit einem heiteren Winken, seinen Freunden zusandte, die auf den Tribünen saßen und teilweise – man sprach in diesem Fall von Manta und Ryu – bereits einen Siegestanz aufführten. Anschließend wandte er sich ab und verließ die Arena durch einen Seitenausgang, den Jubel des Publikums noch immer im Rücken. Er durchquerte einen dunklen Gang, als er unvermittelt eine Stimme hinter sich vernahm: „Yoh, warte!“

Er blieb stehen und drehte sich langsam um. Neben ihm erschien Amidamaru. Das spärliche Licht, das von der Arena in den Gang fiel, ließ nur schemenhaft erkennen, welcher Person vor ihm stand, dennoch ließ die Statur keinen Zweifel zu. „Silva?“
 

oOo
 

„Hast du das gehört, Chocolove? Hast du das gehört?!“

„Natürlich“, entgegnete der Angesprochene gereizt. „Ich bin nicht taub.“

„Yoh hat gewonnen! Er hat tatsächlich gewonnen!“

„Horohoro, he – Horohoro! Komm wieder runter!“

„Oh Gott.“ Die Züge des Ainus erschlafften. „Das heißt, gleich bin ich dran.“ Seine Beine knickten ein und er fiel zurück auf die Bank, vergrub das Gesicht in den Händen. „Das überlebe ich nicht“, vernahm Chocolove seine gedämpften Worte und der Tonfall des Ainus hätte tonloser nicht sein können.

„Der erste Kampf ist entschieden“, erklang mit einem mal Calims Stimme von der Arena her. „Asakura Yoh gewinnt gegen Luchist. Der nächste Kampf beginnt in Kürze.“

Horohoro begann unbewusst zu zittern.

„Horokeu Usui gegen Tao Ren.“ Die Menge begann zu Jubeln, während sich das Zittern des Ainus verstärkte.

Zaghaft legte Chocolove eine Hand auf seine Schulter. „Horohoro, ich glaube dir, dass es schwer ist, aber da musst du leider durch. Reiß dich ein bisschen zusammen, wo ist der selbstbewusste Junge hin, der mir eben noch verkündet hat, er würde Ren in den Hintern treten? Geh da jetzt raus und zeig es ihm!“ Es verstrichen Sekunden, bevor er ein zaghaftes Nicken spürte.
 

oOo
 

„Was gibt es, Silva?“, fragte Yoh ruhig und musterte den Schiedsrichter seines Kampfes aufmerksam. Der Schwarzhaarige Mann schien sichtlich beunruhig, trotz der Tatsache, dass Yoh soeben einen weiteren Handlanger Haos aus dem Turnier gedrängt hatte. „Ich muss mit dir sprechen, Yoh. Es ist äußerst wichtig.“

Yoh wechselte einen viel sagenden Blick mit seinem Schutzgeist. „Was ist passiert?“

„Es geht um Hao.“

Yoh lächelte bitter. „Was in diesem Turnier dreht sich nicht um Hao?“

„Und um deinen Freund Ren.“

Der Gesichtsausdruck des Jungen wurde augenblicklich ernst. „Was ist passiert?“

Silva zögerte, zwang sich dann jedoch, den Mund zu öffnen und zu sprechen: „Hao hat gestern den Schamanenrat aufgesucht. Er verlangte, dass wir das Turnier umgehend abbrechen und ihm den Titel des Schamanenkönigs überlassen. Er gab uns eine Frist von drei Tagen, um einen Entscheidung zu fällen. Sollten wir der Forderung nicht zustimmen ... wird er Ren töten.“

Sprachlos starrte Yoh den Schiedsrichter an. „Töten?“, wiederholte er nach einigen Sekunden ungläubig. „Er will Ren -?“ Silva nickte und Yohs Augen weiteten sich. Fassungslosigkeit lag in seinem Blick. „Aber Ren ist jetzt auf seiner Seite.“

„Wahrscheinlich genau aus diesem Grund“, meinte Silva leise und senkte den Blick.

„Und“, Yoh schluckte, versuchte sich zu sammeln, schaffte es schließlich, „was hat der Schamanenrat beschlossen, Silva?“ Ein ungutes Gefühl beschlich den ihn und als Silva seinem forschenden Blick auswich, schien die schlimmste Befürchtung bestätigt. Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Das glaube ich nicht.“

„Ich fürchte schon. Godva lässt sich nicht umstimmen.“ Noch immer mied Silva den direkten Kontakt mit den vorwurfsvoll schimmernden dunklen Augen Yohs. „Ich habe alles versucht - erfolglos. Aus diesem Grund bin ich zu dir gekommen.“

„Godva lässt zu, das Ren sein Leben lassen wird?!“, fragte Yoh und ballte die Fäuste.

„Es ist der Wille des Schamanenkönigs.“

„Gibt es etwas, dass wir tun können?“

Silva hob erstaunt den Blick. Als er Yohs entschlossenen Gesichtsausdruck sah, schloss sie die tiefe Kluft der Hoffnungslosigkeit merklich. Erleichterung durchströmte ihn. „Wir werden kämpfen müssen. Gegen Hao.“

Yoh blinzelte. „Wir? Heißt das, du -?“

Silva nickte und ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Ich werde euch unterstützen, an deiner Seite kämpfen, wenn es soweit ist. Selbst, wenn ich durch dieses Verhalten gegen sämtliche Richtlinien der Schiedsrichter verstoße, ich werde nicht zulassen, dass Hao noch einmal so viel Leid verbreitet, wie er es einst bei meiner Familie getan hat.“

„Das ist ehrenvoll, Silva.“

„Das bin ich allen schuldig, nachdem ich so oft schon kläglich gescheitert bin.“

„Unsinn.“ Silva sah auf und erstarrte. Yoh lächelte ihn mit einer derartigen Freundlichkeit und einem Verständnis

an, dass es ihm beinahe den Atem nahm. „Du bist nicht gescheitert Silva. Und das wirst du auch in Zukunft nicht.“

„Yoh ...“

/Yoh hat Recht/, stimmte Amidamaru bekräftigend zu. /Dein Handeln ehrt dich./

„Ich danke euch.“

„Wir sollten uns beeilen“, meinte Yoh nachdenklich. „Der Kampf beginnt gleich. Wir sollten auf alles gefasst sein.“

/Das werden wir./

Yoh nickte. „Alleine um Horohoros und Rens Willen wegen.“
 

oOo
 

Mit zitternden Knien verließ Horohoro die Kabine, durchquerte den Flur, der in die Arena führte und bei jedem Schritt, den er tat, wurden seine Schritte schwerer, bis es ihm beinahe unmöglich erschien, weiter zu gehen. Sonnenstrahlen, die in die Arena schienen, fielen durch das große Tor, durch das er jeden Moment schreiten würde. Kurz bevor er hinaustrat, blieb er stehen. Das Zittern griff nun auch auf seine Hände über und er ballte gezwungen die Fäuste, um es zu unterdrücken. Angespannt schluckte er. Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Stirn und lief seine Wange hinab, verharrte kurz an seinem Kinn, bis er sich der Schwerkraft ergab und dem Boden entgegen fiel.

Tief atmete er ein. Er musste das jetzt tun. Es war seine Pflicht. Für seinen Traum, für alle Koro Pokurrus, für seine Schwester. Und für Ren. Zischend stieß er die Luft aus und straffte seine Schultern, stand nun gerade und aufrecht, bereit, jedes Hindernis, das sich ihm in den Weg stellen würde, zu überwinden.

Die Sonne schien ihm ins Gesicht, blendete ihn und er schloss einige Sekunden die Augen, bevor er sie vorsichtig öffnete und blinzelnd versuchte, seine Umgebung wahrzunehmen, Die Menge begann zu Jubeln und Applaus brandete durch das Stadion.

Huh!

„Kororo, du bist bei mir“, sprach er leise, um sich zu beruhigen. Sie strich ihm aufmunternd über die Wange, bevor sie den Stiel ihres Blattes mit beiden Händen umschloss und sich auf seiner Schulter niederließ. Horohoros Blick fiel auf Calim, der in der Mitte der Arena stand und ihm nickend gebot, näher zu treten. Horohoro wandte den Kopf und sein Blick glitt über die Menschenmenge, suchte nach seinen Freunde, um durch ihren Anblick wenigstens ein bisschen seiner Selbstsicherheit wieder zu finden.

„Horohoro!“

Dieser Ruf übertönte für Momente den Lärm der Menge und ließ seinen Kopf herumschnellen. Seine Augen suchten und fanden schließlich seine Schwester, umringt von seinen Freunden.

„Horohoro, glaub an dich!“

Ein Lächeln erschien auf seinen Zügen. Seine Schwester würde ihn immer unterstützen, sie stand immer hinter ihm, ganz gleich, was geschah. Alle seine Freunde - wie ihm klar wurde - als er neben seiner Schwester Manta und Ryu erblickte, die ihm zuwinkten und schließlich auch Chocolove, der sich auf seinen Krücken zu ihnen durchkämpfte, nachdem er ihm in der Kabine noch viel Glück gewünscht und sie schließlich verlassen hatte, um sich seinen Platz bei den anderen zu sichern. Horohoro hob die Hand und zeigte ihm den erhobenen Daumen. Chocolove erwiderte die Geste grinsend und verpasste Ryu dadurch ungewollt einen schwungvollen Schlag mit der Krücke. Während auf den Tribünen nun haltloses Durcheinander ausbrach, wandte Horohoro sich ab, stand nun auf seiner Seite der Arena und überblickte die weite Fläche.

Er würde es irgendwie schaffen. Ob er gewann oder verlor, die Hauptsache war, dass Ren wieder zur Besinnung kam und seinen Fehler einsah. Doch um dies zu tun, musste Ren erst einmal erscheinen. Seine Seite der Arena war leer.
 

oOo
 

„Bason, ich weiß nicht, ob ich es schaffe“, murmelte Ren so leise, dass sein Schutzgeist Mühe hatte, ihn zu verstehen. Seine Schritte waren unterschiendlich lang, ließen ihn wirken wie ein gehetztes, verfolgtes Tier und sein Blick wanderten unruhig von einer Ecke des Ganges zur anderen. Bason schwebte näher, so dass er sich nun unmittelbar neben Ren befand. /Du musst an dich glauben, Meister. Es ist nicht leicht, aber du bist stark. Du bist sehr stark, Ren und das weißt du. Du hast ihm dein Wort gegeben und der Schamanenkönig hat dir sein Wort gegeben. Und ich werde dich unterstützen und an deiner Seite bleiben, das schwöre ich dir./

„Danke, Bason.“

/Du wirst es schaffen, Meister. Du darfst nur nie die Hoffnung verlieren. Der Schamanenkönig und ich stehen hinter dir. Es wird gut gehen./

„Das hoffe ich. Der Glaube, dass es gut geht, ist alles, was ich noch habe.“ Mit diesen Worten durchschritt er das Tor zur Arena, trat dem Licht entgegen.
 

Licht galt als Hoffnungsspender. Seine Hoffnung lag hinter dem Licht. Und es würde sich zeigen, ob diese Hoffnung auch ohne das Licht überleben konnte.

Asche

„Wenn wir im Schamanenturnier aufeinander treffen, werde ich dir nichts schenken.“

„Versprochen?“

„Wenn du es unbedingt willst: Versprochen.“
 

„Ich habe es ihm versprochen.“
 

14. Kapitel: Asche
 

„Und nun kommen wir zum zweiten Kampf des heutigen Tages“, verkündete Calim der unruhigen Menge und hob zur Verdeutlichung den Arm, um auf die beiden Kontrahenten zu deuten, die sich in einigen Metern Entfernung gegenüber standen und sich seit ihrem einstigen Erblicken keine Sekunde mehr aus den Augen gelassen hatten. Sie machten den Eindruck von Raubtieren, die ihre Beute fixiert hatten und nun nur noch auf den richtigen Zeitpunkt zum Angriff warteten und solange verharrten. Ihre Blicke waren undurchdringlich, ihre Minen unbewegt.
 

Zufrieden lächelnd lehnte Hao sich auf seinem Platz zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Dies wird ein interessanter Kampf, das habe ich im Gefühl, Opacho.“

Der Junge warf seinem Meister einen beunruhigten Blick zu, wandte ihn jedoch rasch ab, als die Augen des Langhaarigen sich auf ihn richteten. „Du bist so still, Opacho. Stimmt etwas nicht?“

Der Kleinere schüttelte schnell den Kopf, wagte es allerdings nicht, den Blick erneut zu heben. „Nein, Meister, es ist alles gut.“

Hao gab sich offenbar mit dieser Antwort zufrieden und wandte sich wieder den Geschehen in der Arena zu. „Warte nur ab, Opacho, gleich wird es interessant. Wir werden ein reizvolles Schauspiel zu sehen bekommen.“

Opacho schluckte schwer, seine dunklen Augen lagen auf Ren. „Ja, Meister.“
 

„Ich halte das einfach nicht mehr aus“, wimmerte Pirica und wippte unruhig auf ihrem Platz vor und zurück. „Wie lange, will der Schiedsrichter denn noch warten? Der Kampf soll endlich beginnen!“

„Nur keine Sorge, meine Schöne“, wandte Ryu, charmant wie eh und je, ein und lächelte sie aus der Reihe hinter ihr aufmunternd an, „ich bin sicher, es geht jeden Moment los.“

„Ich frage mich, was ihnen im Moment durch den Kopf geht“, murmelte Manta nachdenklich, während er sich auf seinen Platz stellen musste, um einen Blick in die Arena werfen zu können. Augenblicklich wurde auch der Ex-Biker wieder ernst und Piricas Blick verdüsterte sich. Alle warfen vorsichtige Blicke auf Jun, die stumm neben ihnen saß und ausdruckslos in die Arena hinabblickte, mit einer Hand die ihres Schutzgeistes umklammerte, der einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Unaufhaltsam liefen Tränen über ihre Wangen.

„Jun“, meinte Pirica und rutschte ein Stück näher zu der jungen Frau, sah sie freundlich an. „Mach dir keine Sorgen um deinen Bruder. Meiner wird ihm die Leviten lesen und ich bin sicher, er kommt wieder zur Vernunft. Meinst du nicht auch, Anna?“ Sie richtete sich an das blonde Mädchen neben ihr, das bis zu jenem Moment aufmerksam nach unten gesehen und sich nicht an ihren Gesprächen beteiligt hatte. Nun löste sie ihren Blick und wandte sich ihnen zu. Ihre Mine war undurchsichtig. „Ich will dir keine nutzlosen Versprechungen machen, Jun“, meinte sie langsam und jedes Wort klang überlegt. Die Grünhaarige sah sie an und deutete die Spur eines Nickens an, während ein gezwungenes Lächeln auf ihren Lippen erschien. „Das verlange ich auch nicht, Anna.“

„Ich weiß.“

„Anna“, meinte Pirica vorwurfsvoll, doch sie überging dies.

„Allerdings“, dieses Wort ließ Jun ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen richten, „stehen die Chancen, dass Horohoro gewinnt und dein Bruder wieder zur Vernunft kommt, nicht schlecht.“

Ungläubig sah Run sie an, dann, nach einigen Minuten, verebbte der Tränenstrom und ein ehrliches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, während sie die Hand ihres Schutzgeistes drückte, welcher sie warm ansah. „Danke Anna.“ Die Blonde schwieg.
 

„Lyserg.“ Der Engländer sah auf und seine Augen weiteten sich erstaunt. „Yoh!“ Der Braunhaarige hatte sich durch die Zuschauerreihen gekämpft und stand nun unmittelbar neben dem Platz des Grünhaarigen, der sich zu den restlichen X-Laws gesellt hatte. Auch Jeanne hatte ihre Aufmerksamkeit auf Yoh gerichtet. „Asakura Yoh, was ist es, dass du von uns möchtest?“, fragte sie mit ihrer sanften Mädchenstimme.

Yoh lächelte sie an. „Ich möchte gerne mit Lyserg reden, wenn es geht.“

Gemeinter warf der eisernen Jungfrau einen fragenden Blick zu, woraufhin diese nickte. „Geh nur, mein kleiner Lyserg. Es liegt an dir, wie du dich entscheidest.“

„Danke.“ Lyserg erhob sich.

„Komm mit“, meinte Yoh an ihn gewandt, „es ist besser, wenn wir das nicht hier besprechen.“ Er blickte an dem Engländer vorbei und erwiderte Jeannes Blick. „Und ich möchte euch bitten, wachsam und auf alles vorbereitet zu sein.“

Jeanne sah ihn durchdringend an, schien etwas in seinen Augen zu suchen, bis sie es offenbar fand und zustimmend nickte. „Wir werden deinen Rat befolgen, Asakura Yoh, und bereit sein.“

Ein Grinsen erschien auf Yohs Zügen, verlieh ihm die gewohnte Manier. „Cool, das freut mich. Los Lyserg, lass uns gehen.“

„Sicher, Yoh.“

„Was will er uns damit sagen?“, fragte Marco das Mädchen neben sich, seinen Blick nicht von den beiden Jungen nehmend, die sich stetig von ihnen entfernten, während er sich nachdenklich die Brille hoch schob.

„Das sich die Zukunft bald entscheiden wird.“

„Oh.“
 

Aufmerksam musterten die kleinen Augen Morphine den Braunhaarigen vor sich, während sie sich auf Lysergs Schulter bequem machte. Ihre transparenten Flügelchen bewegten sich leicht vor und zurück, während dabei leicht glitzernder Staub aufwirbelte.

Sie hatten sich in einen der dunklen Flure zurückgezogen, der Lärm der Menge drang nur noch gedämpft zu ihnen durch. Yoh hatte dem Engländer in wenigen Worten die derzeitige Lage erklärt und ihn in Kenntnis gesetzt. Nun hatte sich Stille zwischen die beiden gelegt, während Lyserg nachdenklich an die gegenüberliegende Wand starrte.

„Was“, durchbrach er schließlich das erdrückende Schweigen und schluckte, „was werden wir jetzt machen, Yoh?“

Yoh verschränkte die Arme und wechselte einen viel sagenden Blick mit seinem Schutzgeist, der dicht neben ihm schwebte. „Wir werden auf alles gefasst sein. Hao hat einen Fehler gemacht, als er dachte, er könnte uns einfach mit Rens Leben drohen. Wir werden ihn nicht damit durchkommen lassen.“

Lyserg sah ihn beunruhigt an. „Was willst du damit sagen, Yoh?“

Die Augen des Braunhaarigen sahen ihn entschlossen an. „Wenn es sein muss, werden wir gegen Hao kämpfen.“

„Bist du dir sicher?“

„Es muss sein, befürchte ich.“

„Ich hasse Hao.“

„Ich weiß.“

„Er hat meine Familie umgebracht.“

„Ja.“

„Aber ... er ist dein Bruder.“

„Ja.“

„Deine Familie.“

„Ich weiß.“
 

Es war seltsam, beinahe schon grotesk. Noch vor wenigen Minuten hatte er sich gefühlt, als würde sein Kopf vor lauter Gedanken und unterdrückten Empfindungen bersten und nun schien es, als wären sämtliche Gedanken mit einem Mal hinfort geweht. Seit er ihn sah.

Der Blauhaarige trug nicht seine gewöhnliche Winterkleidung – angesichts der Temperaturen wäre dies auch mehr als nur verwunderlich – sondern eine traditionelle Ainubekleidung, ein aufwendig besticktes Stirnband, dunkele Handschuhe, eine lange offene Weste ohne Ärmel, die einen eindrucksvollen Einblick auf seinen Oberkörper zuließ – wie Ren schwer schluckend feststellte – eine kurze Hose und schwere Stiefel, die ihm beinahe bis zu den Knien reichten. Der Chinese schüttelte den Kopf, um sich von diesem Anblick zu lösen und seine Aufmerksamkeit wieder auf das Wesentliche zu lenken. Er war nicht hier, um Horohoro anzustarren. Bitter lächelnd gestand er sich jedoch ein, dass er nicht abgeneigt wäre, dieser Tätigkeit weiterhin nachzukommen.

„Nun gut“, hob Calim die Stimme und richtete somit alle Aufmerksamkeit auf sich. „Ich erkläre hiermit den Kampf für eröffnet!“

Die Menge jubelte, während sich in Ren alles zusammenzog. Doch er behielt seine Maske aufrecht, versuchte, sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen, festigte den Griff um sein Donnerschwert.

„Bason, in das Schwert.“ Umgehend befolgte sein Schutzgeist den Befehl und wenige Sekunden später war die Waffe umgeben von einer gelben machtvollen Aura. Er sah, wie Kororo bei Horohoro dasselbe tat und mit dem Ikupasi des Ainus verschmolz, bis ein Schild und schwertähnliche Waffe entstand. Halte dein Wort, Schamanenkönig.

Mit diesem Gedanken setzte er sich in Bewegung, rannte auf seinen Gegner zu und holte mit dem Schwert zum Schlag aus.
 

„Kororo, Achtung!“ Horohoro hob den Arm und wehrte mit seinem Ikupasi das Schwert ab, welches mit einem metallenen Klingen abprallte und Ren ein Stück zurückschleuderte. Durch die Wucht des Aufpralls wurde der Ainu ebenfalls nach hinten gedrückt, schaffte es jedoch, sich auf den Beinen zu halten. Keuchend hob er den Arm, machte eine ausfallende Bewegung und schleuderte ihn in Rens Richtung. Von der Waffe lösten sich Eissplitter, die mit einer hohen Geschwindigkeit auf Ren zuschossen.

„Bason!“

Eine Kraftwelle ging in einem pulsierenden Rhythmus von dem Schwert des Schwarzhaarigen aus, zerstörte augenblicklich alle Splitter, die als Pulverschnee auf den Boden rieselten und in der Hitze der Mittagssonne schmolzen. Der Sand färbte sich dunkel. Verzeih mir, Horohoro. Ren rammte mit einem Schrei das Schwert in den Boden. „Wall der Spitzen!“

Die Erde der Arena begann zu Beben, ein Raunen ging durch die Menge, einige schrieen erschrocken auf, als mit einem Mal unzählige Speere aus dem Untergrund brachen und sich ihren Weg an die Oberfläche suchten, dabei alles aufzuspießen suchten, was sich ihnen in den Weg stellte. Noch immer kniete Ren auf dem Boden, keuchend klammerte er sich an sein Schwert, bis er es schließlich wagte, seinen Blick zu heben. Die Speere hatten einen Bogen um ihn gemacht, er befand sich auf dem einzig unberührten Fleck in der Arena. Horohoro konnte es nicht geschafft haben. Unmöglich.

Ein Zittern ergriff von seinem Körper Besitz. „Sag“, flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme, „hast du dein Wort gehalten?“

Eine unheimliche Stille hatte sich, einem Tuch gleich, über das Stadion gelegt. Langsam richtete der Schwarzhaarige sich auf. Aus seinen Augenwinkeln nahm Ren unvermittelt eine Bewegung wahr. Reflexartig warf er sich wieder auf den Boden. Gerade noch rechtzeitig, denn nur den Bruchteil einer Sekunde später spürte er etwas Scharfes knapp über seinen Kopf hinwegzischen. Als er den Kopf hob und aufsah, weiteten sich seine Augen ungläubig. Wenige Meter vor ihm stand Horohoro, ohne den geringsten Kratzer davon getragen zu haben. Um ihn herum lagen die Speere, die bis eben noch die gesamte Arena eingenommen hatten. Er hatte sie alle mit seinem Ikupasi niedergewalzt. Einfach so.

Er ist seit unserem letzten Kampf stärker geworden.

„Was ist Ren, war das etwa schon alles?“ Die Kälte in der Stimme des Ainus ließ ihn erbeben. Er wusste, dass Horohoro ihn hasste, dennoch schmerzte diese Erkenntnis, jetzt, wo er zum ersten Mal deutlich mit ihr konfrontiert wurde. Er griff mit einer Hand nach dem Donnerschwert, das noch immer unberührt in der Erde steckte und auch den Angriff des Ainus ohne Schäden überstanden hatte, und zog es mit einem kräftigen Ruck heraus.

„Geht es dir gut, Bason?“, fragte er leise.

/Ja Meister./

„Das ist gut.“

„Ich bin noch lange nicht geschlagen, Ren!“, rief Horohoro ihn mit ausdruckslosem Gesicht zu. „Da musst du dir schon besseres einfallen lassen.“

„Das werde ich, glaub mir“, flüsterte der Chinese mehr zu sich, denn zu jemand anderem. Denn ich tue es für dich.

„Jetzt bin ich dran! Kororo, Eiszapfenhagel!“ Die blaue Aura um das Ikupasi verstärkte sich und entlud sich in einem Schwall aus spitzen, handgroßen Eissplittern.

Diesmal kann ich sie nicht einfach zerstören, schoss es Ren durch den Kopf. Er musste sie selbst abwehrten. In einer schnellen Bewegung sprang er beiseite, wich so den ersten Eiszapfen aus, die ihn sicher mühelos durchbohrt hätten, rollte sich ab und kniete schließlich halb auf dem Boden. Er hob die Hand mit dem Schwert und hielt es, einem Schutzschild gleich, vor sich. Wenige Momente später spürte er auch schon, die Zapfen, die daran abprallten und an ihm vorbei flogen. Etwas streifte seine heile Wange und er spürte etwas Warmes seinen Hals hinab laufen.

Ein besonders großer Eiszapfen prallte gegen das Donnerschwert und er wurde nach hinten geschleudert. Die Waffe entglitt seiner Hand und fiel einige Meter von ihm entfernt mit einem dumpfen Klirren in den Sand. Er richtete sich mühevoll auf, seine Brust schmerzte ob des harten Aufpralls, der ihm für wenige Sekunden die Luft aus den Lungen gepresst hatte.

/Meister!/

Er hob den Blick und erkannte die nächste Eiszapfensalve, die direkten Kurs auf ihn nahm. Er wollte sich aufrappeln, schaffte es jedoch nicht rechtzeitig. Die Zapfen würden ihn durchstoßen. Er schloss die Augen, wollte es nicht mit ansehen. Vielleicht war es das Beste so. Vielleicht war es sein Schicksal, so zu sterben.
 

„Versprochen?“

„Wenn du es unbedingt willst: Versprochen.“
 

Nein! Er riss die Augen auf. Er hatte es Horohoro doch versprochen! Ein Schatten fiel auf ihn. „Bason, nicht!“ Sein Schutzgeist hatte seine Reisenform angenommen und sich schützend vor seinen Meister aufgebaut. Einer stolzen Mauer gleich fing er jeden Eiszapfen ab, ließ es nicht zu, dass sie Ren erreichten. Langsam richtete dieser sich auf, ignorierte die Schmerzen, die dabei durch seinen Körper jagten. „Ba ... son.“

/Ich bin hier Meister. Ich lasse dich nicht im Stich!/

Er bückte sich und griff nach dem Donnerschwert. „Komm her.“

/Wie du wünscht./

Die Riesengeistkontrolle löste sich auf, kehrte in seine Hand zurück, verschmolz mit dem Donnerschwert. „Riesen-Kwandao“, befahl Ren und das Schwert verformte sich, wurde zu einer neuen Waffe, einer vergrößerten Form seines ursprünglichen Kwandaos.

Horohoro machte einige Schritte auf ihn zu, starrte ihn weiterhin ausdruckslos an. Ren spürte, wie der Blick des Ainus auf seine verletzte Wange fiel und für einige Sekunden dort verweilte. Doch nicht die Wange, die von dem Splitter getroffen wurde. Es war die Wange, die von Hao so zugerichtet worden war.
 

Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, Knirschend brach das Holz der zerstörten Speere unter seinem Gewicht, hin und wieder auch einer seiner eigenen Eiszapfen, die Ren abgewehrt hatte. Noch immer konnte er den Blick nicht von dem Chinesen nehmen. Das Blut auf dessen Wange nahm ihn in seinen Bann. Eine Wange des Schwarzhaarigen war von einem der Eiszapfen gestreift worden, ein feiner Kratzer befand sich dort, aus dem noch immer ein schwaches Rinnsal Blut lief, doch auf der anderen befanden sich vier tiefe Schrammen, die unmöglich von ihm stammen konnten.

Wer hatte Ren so zugerichtet? Und das vor ihrem Kampf?

Er spürte eine glühende Wut in sich aufwallen, nicht auf Ren, gegen den er derzeit kämpfte, sondern gegen denjenigen, der Ren diese Verletzungen zugefügt hatte. Wer wagte es, Rens Gesicht derart zu verunstalten? Der Griff um das Ikupasi verfestigte sich, als er sah, wie Ren sein Donnerschwert umformte. Er wollte nicht gegen den Chinesen kämpfen, doch er musste ihn besiegen, damit dieser wieder zur Vernunft kam. Er musste.

„Kororo, Eishammer.“

Auch seine Waffe verformte sich, wurde zu einem festen Eisbrocken in der Form eines Hammerkopfes, der alles zerschmettern konnte, das es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. Damit konnte er töten, wenn es drauf ankam. Doch so weit würde es nicht kommen. So weit durfte es nicht kommen. Das würde er nicht zu lassen. Dann rannte Ren auf ihn zu, dieser umklammerte fest den Kwandao und er selbst holte mit dem Hammer aus, bereit, den letzten Schlag zu setzen. Es tut mir leid, Ren.
 

„Siehst du das. Wie die zwei sich bekämpfen. Es ist schrecklich, einfach dabei zusehen zu müssen, wie sie sich gegenseitig zerstören.“

Lyserg warf dem Jungen neben sich einen beunruhigten Blick zu. „Aber wir können nichts machen, Yoh.“

„Ich weiß. Und das ist es auch, was mich beinahe verrückt macht. Es einfach tatenlos geschehen lassen und dabei zusehen.“

„Du hast Recht.“

„Doch was mich am meisten stört“, Yoh hob den Kopf und fixierte eine Person schräger oberhalb von ihrem derzeitigen Aussichtspunkt, „ist er.“

Lyserg folgte dem Blick des Kopfhörerträgers und blieb schließlich an der gemeinten Person hängen, die sich sichtlich über das Geschehen in der Arena zu amüsieren schien. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und glühende Wut flammte in seiner Brust auf. „Hao“, zischte er leise und in diesem einen Wort, diesem Namen, lag der gesamte Hass der letzten Jahre.

„Er ist für das alles verantwortlich“, sagte Yoh mit bitterer Stimme. „Mein eigener Bruder.“

Lyserg hob die Hand und legte sie tröstend auf Yohs Schulter, übte leichten Druck aus, um dem Jungen zu zeigen, dass er nicht alleine war. „Du kannst nichts dafür, Yoh. Du bist nicht er. Ich habe dies zwar erst spät erkannt, doch es ist eine Sache, bei der ich mir sicherer nicht sein kann.“

Yoh sah ihn an und schenkte dem Engländer ein dankbares Lächeln. „Danke Lyserg. Es ist nicht leicht, sich das immer wieder einzureden, wenn man irgendwo tief da drinnen“, er legte zur Verdeutlichung seiner Worte eine Hand auf die Stelle seiner Brust, wo sein Herz ruhte, „auch jetzt noch zweifelt.“
 

„Es sieht gut aus für Horohoro!“, jubelte Pirica glücklich.

Anna blieb skeptisch. „Sagen wir es so, es sieht immerhin nicht wirklich schlecht für ihn aus.“

„Das meine ich doch!“

„Zwischen diesen beiden Aussagen liegt immer noch ein Unterschied, Pirica“, belehrte sie die Blonde, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Willst du damit sagen, Horohoro wird verlieren?!“

„Ich will damit nur sagen, dass er noch nicht gewonnen hat.“

„Ren ...“

„Keine Sorge, Jun. Selbst wenn Horohoro nicht gewinnen sollte, wird Ren spätestens von Pirica wieder zur Vernunft gebracht, sollte sie aufgebracht in die Arena stürzen.“ Manta lachte daraufhin nur gezwungen.
 

Keuchend standen sie sich gegenüber. Keinen Moment ließen sie sich aus den Augen. Bereit, sofort zuzuschlagen, sollte der andere den ersten Schritt machen. Dann liefen sie los. Sie holten aus und schlugen zu. Festes Eis traf auf stabiles Metall und ein Klirren hallte durch das Stadion. Durch den harten Aufprall wurden beide zurückgeschleudert. Wieder standen sie sich gegenüber. Ihre Schultern hoben und senkten sich rasch, unter dem rasselnden Atemschöpfen

der beiden Kontrahenten. Die Menge war verstummt, schon lange wagte es keine mehr die angespannte Stille zwischen den beiden zu durchbrechen.
 

„Nächstes Mal mach ich dich fertig!", durchbrach Horohoros Stimme die Stille der Nacht.

"Das schafft du nie!", erklang prompt Rens Stimme.
 

Damals ...

Schicksal ...
 

Ein leises Flüstern, einem Windhauch gleich, vom Wind durch die Luft getragen.
 

Ein heiseres Lachen schnitt, einem Messer gleich, durch die Nerven zehrende Stille. Sämtliche Augen richteten sich auf Ren, der sich keuchend auf den Beinen hielt und lachte. Die Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten die Sicht auf seine Augen.

Dann hob er den Blick und sah Horohoro direkt in die Augen. Ein schiefes Grinsen lag auf seinen Zügen und in seinen Augen funkelte es. Dann sprach er und seine Stimme hallte durch das gesamte Stadion. „Immer dasselbe! ’Schicksal ... Schicksal ...’ Ich kann und will es nicht mehr hören, darum bin ich nicht hier!“

Nun erschien auch auf Horohoros Gesicht ein Grinsen. „Seit wann hört ein ‚stolzer Tao’ auf das Schicksal?“
 

Schicksal ...

Schicksal ...
 

„Kämpfe!“

Ren spannte bei diesen Worten Horohoros sämtliche Muskeln an und sammelte seinen letzten Rest Furyoku in seiner Waffe. „Bason, dies hier wird der letzte Angriff.“

/Ja, Meister. Ich werde alles geben./

Die Stärke der gelben Aura vervielfältigte sich, wurde immer heller, bis es einem die Sicht nahm. Der Ainu tat es ihm gleich, auch er sammelte seine letzten Kraftreserven, nutzte sie, um den Hammer in seiner Hand noch einmal zu vergrößern. Die hier war ihre letzte Chance. Wenn sie es jetzt nicht schafften ...

Ein letztes Mal noch sahen sie sich an, dann liefen sie erneut los. Gleichzeitig. Aufeinender zu. Mit einem Ziel. Zur selben Zeit wurde zum finalen Schlag ausgeholt.
 

„Bason!“

Ich bitte dich, Schamanenkönig, halte dein Wort!
 

„Kororo!“

Ren, werde endlich wieder normal!
 

Danach ertönte eine ohrenbetäubende Explosion.
 

„Jeder mit einem Wunsch. Den anderen zu retten, um jeden Zweck.“
 

Schreie aus dem Publikum ertönten, Zuschauer wichen panisch zurück, als die Druckwelle der Detonation sie erreichte und auf die Plätze presste oder sie nach hinten schleuderte. Nach und nach öffnete man die Augen und rappelte sich auf, doch zu erkennen war nichts. Eine Staubwolke hatte sich über die Arena gelegt, ließ keinen Blick auf das Geschehen unter ihr zu. Vereinzelte verirrte Lichtstrahlen fanden ihren Weg aus der Wolke, gaben jedoch keinen Hinweis auf den Ausgang des Kampfes.
 

„Was sollen wir machen, Yoh?“, rief Lyserg, der sich verzweifelt an das Geländer vor sich geklammert hatte, um nicht umzufallen, über den Lärm der hysterischen Menge hinweg.

„Ich weiß es nicht“, antwortete der Kopfhörerträger in derselben Lautstärke. „Ich fürchte, wir können nichts für sie tun.“
 

Ein heftiger Windstoß schoss über sie hinweg. Augenblicklich beruhigten sich alle im Stadion. Der Windstoß wurde begleitet von weiteren Windböen, die sich ihren Weg in die Arena suchte, die Staubwolke aufwirbelten. Allmählich lichtete sich der dunkle Dunst, gab Einblick auf die Szenerie am Boden. Ein beunruhigtes Raunen zog sich von einem Ende des Stadions bis zum Anderen.
 

Ren und Horohoro standen einige Meter voneinander entfernt, hatten sich den Rücken zugekehrt und hielten den Blick gesenkt. Jeder umklammerte noch immer seine Waffe mit der Hand und Furyoku umströmte sie. Angespannt starrten alle in die Arena hinab, verharrten, warteten darauf, dass etwas geschah. Das etwas passierte. Irgendetwas ...
 

Ein schmerzerfülltes Stöhnen, das durch Mark und Bein ging und Ren, der vor aller Augen auf die Knie sackte, ließ viele nach Luft schnappen. Calim, der kurz vor der Explosion an den Rand der Arena zurückgewichen war, machte einige zaghafte Schritte auf die beiden zu. Er musterte Ren beunruhigt und hob schließlich den Arm. „Der Kampf ist entschieden. Der Sieger ist -“, er brach ab. Sein Blick war ungläubig auf den Chinesen gerichtet.
 

„Was ist los?“, fragte Pirica aufgebracht. „Warum spricht er nicht weiter? Horohoro hat gewonnen!“

„Nein“, entgegnete Anna und lehnte sich noch ein Stück weiter über die Brüstung vor ihr. Ihre Augen weiteten sich und zum ersten Mal wirkte sie entsetzt. „Ren hat immer noch Furyoku!“

„Was?!“
 

Zitternd kniete Ren auf dem Boden, den Blick nicht von seiner rechten Hand nehmend, um die noch immer eine kleine Menge seines gelben Furyokus pulsierte. „Bason“, hauchte er leise, „gib jetzt nicht auf. Wir sind noch nicht geschlagen, hörst du?“

/Meister/, erklang wie aus weiter Ferne Basons Stimme, /ich ... bin bei dir./

„Wir müssen uns konzentrieren, Bason. Wir sind stark und das wissen wir“, redete er ihnen beiden Mut zu, konzentrierte sich dabei auf seine innere Energie. „Wenn wir uns nur konzentrieren, dann können wir es schaffen.“

/Ich unterstütze dich, Meister Ren./

„Wir dürfen nicht verlieren.“

/Das werde wir nicht, Meister./

Er verengte seine Augen, sammelte im Geist sämtliche Kräfte die er finden konnte um sich und verharrte. „Bason“, flüsterte er, „ich brauche deine Hilfe.“

/Was muss ich tun?/

„Gib mir einen Anstoß. Ich brauche einen kurzen Schub Energie, um meine restlichen Kräfte zu befreien.“

/Ich gebe dir, was ich noch habe./

Unvermittelt spürte Ren eine gewaltige Kraft durch seine Adern strömen. Er bäumte sich auf. Das Furyoku um seine Hand züngelte wie eine Flamme, als er seine gesammelte Energie frei ließ, dann schien es zu explodieren. Eine Welle der Kraft umströmte seinen rechten Arm, sein Furyoku wurde mit einem Schlag mehr. Er hörte Calim erschrocken aufkeuchen, als er sich aufrichtete und sich langsam umdrehte.
 

Horohoro sah ihn an, er hatte sich bereits weit vor ihm wieder umgewandt und in seinen Augen lag ... nichts. Sein Blick war ausdruckslos und er wirkte seltsam fern. Er schien beinahe durch Ren hindurch zu sehen. Doch er hob den Arm mit seinem Ikupasi, als er die Bewegung des Chinesen registrierte. Seine Beine setzten sich in Bewegung, erst langsam, wurde jedoch schneller und schließlich rannte er auf Ren zu.

Auch Ren fühlte sich anders als sonst. Er hob wie in Trance den Arm und wehrte den Angriff mühelos ab – aus den Augenwinkeln registrierte er, wie Calim wieder zurückwich – und holte selbst zum Schlag aus. Die Schmerzen, die seinen Körper bei dieser Bewegung durchzuckten spürte er wie durch Watte.

Wie Tiere gingen sie immer wieder aufeinander los, vergessen waren ihre Gefühle, einzig der Wille zum Sieg schien jeden von ihnen zur Gänze einzunehmen. Rens Augen waren mittlerweile halb geschlossen, er parierte und teilte die Schläge, wie durch einen plötzlichen Instinkt gesteuert, aus.
 

/Meister .../

Was tue ich hier ...?

/Meister Ren, beherrsche dich!/

Warum kämpfe ich ...?

/Du tust es für ihn, Ren! Mach die Augen auf und siehe, was mit euch geschieht!/

Wer ...?
 

Er riss die Augen auf und plötzlich war es, als hätte man ihn brutal aus einem Traum gerissen. Die Schmerzen nahmen ihm für einige Sekunden die Sicht, dann war er wieder in der Realität. Er wich im letzten Moment einem Schlag Horohoros aus, dabei erhaschte er einen Blick auf dessen Gesicht und keuchte entsetzt auf. Er duckte sich unter dem folgenden Schlag hinweg und sprang einige Schritte zurück, aus der Reichweite des Ainus.

„Nein!“, war das einzige, was er hervorbrachte. Sein Blick huschte über die Tribünen und Ränge und blieb schließlich an einer Person hängen, die ihn zufrieden angrinste. Ein glühendes Stück Eisen schien in seiner Brust zu liegen, brannte bei jedem Luftzug unsagbar.

„Das kannst du nicht getan haben!“ , schrie er mit einem Mal, ignorierte die Tatsache, dass der andere ihn aus dieser Entfernung und bei dem Lärm der Zuschauer unmöglich würde hören können.
 

Die Antwort Haos bestand aus einer Handbewegung, die ihm gebot, seinen Blick nach vorne zu richten. Und als Ren seine verzweifelten Augen in die gebotene Richtung lenkte, sah er nur noch einen vereisten Hammer auf sich zurasen, gepaart mit einem höhnischen Blick aus rot glühenden Augen, die ihn einst noch voller Schalk angefunkelt hatten.
 

Horohoro ...
 

Es ist schwer, Mensch zu bleiben, wenn ringsum alles, auch das eigene Schicksal, in Schutt und Asche fällt.

Anna Politkovskaja

Erwartung

Die Antwort Haos bestand aus einer Handbewegung, die ihm gebot, seinen Blick nach vorne zu richten. Und als Ren seine verzweifelten Augen nach in die gebotene Richtung lenkte, sah er nur noch einen vereisten Hammer auf sich zurasen, gepaart mit einem höhnischen Blick aus rot glühenden Augen, die ihn einst noch voller Schalk angefunkelt hatten.
 

Horohoro ...
 

15. Kapitel: Erwartung
 

Ren wartete auf den alles übertreffenden Schmerz und er wurde nicht enttäuscht. Jedoch war der Schmerz nicht annähernd so qualvoll, wie er erwartet hatte. Ein dumpfes Pochen ging von seinen Armen aus, die er aus einem Reflex heraus im letzten Moment schützend hochgerissen hatte, doch er selbst blieb wo er war, wurde nicht einmal nach hinten geschleudert. Zaghaft öffnete er die Augen, die er zusammengekniffen hatte und blinzelte ungläubig, als er sich der Situation bewusst wurde.

Es verwunderte ihn nicht, dass seine Arme schmerzten, da sie den Angriff frontal abbekommen hatten, doch wurden seine Knochen unter dem Aufprall des Eishammers nicht zerschmettert. Der Grund dafür war ohne Zweifel das Furyoku, das seine Arme umströmte und den Aufschlag drastisch abgeschwächt hatte.

/Meister, gib nicht auf, ich werde dich verteidigen!/

Das Gesicht Horohoros war vor Anstrengung verzerrt, da er noch immer verzweifelt versuchte, Ren mit seinem Hammer zu Fall zu bringen. Erbarmungslos drückte er mit der Eiswaffe zu, Ren spürte die Erde unter seinen Füßen knirschen, als er ein Stück nach hinten geschoben wurde, nicht im Stande war, dem ununterbrochenen Druck mehr als sein Körpergewicht entgegenzusetzen.

Mit Schrecken registrierte er, wie, nach weiteren verstrichenen Sekunden, der Furyokustrom zu schwinden begann. Nach und nach wurde die Aura schwächer. „Bason“, keuchte Ren, dessen Atem sich unter der, auf ihn einwirkenden Schmerzen und Anstrengung, beschleunigte.

/Ich werde nicht mehr lange durchhalten, Meister .../

„Nein, Bason, geh nicht“, flüsterte er. „Ohne dich ... kann ich ... nicht ... gewinnen.“

Doch das Furyoku wurde weniger und die Schmerzen in seinen Armen nahmen zu. Einige Augenblicke hatte Ren das schreckliche Gefühl, seine Knochen brechen zu hören, bis er bemerkte, dass er nur ein Eiszapfen gewesen war, der unter seinem Gewicht nachgegeben hatte. „Bason, wir haben ... noch eine ... Möglichkeit ...“
 

„Ren!“ Yoh hatte sich weit über das Geländer gebeugt, die Augen entsetzt geweitet. Lyserg hatte ihn beunruhigt am Arm gepackt, er schien zu befürchte, dass der Kopfhörerträger jeden Moment springen würde. „Was zum Teufel ist in Horohoro gefahren?!“

„Willst du nicht eher fragen, wer in ihn gefahren ist?“

Yoh wirbelte herum und sah sich unvermittelt seinem Bruder gegenüber. Hao musste während sie abgelenkt gewesen waren seinen Platz verlassen und sich zu ihnen hinunter begeben haben. Die Erkenntnis übermannte Yoh und blankes Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus- Er schüttelte den Kopf. „Das meinst du nicht ernst!“

„Bist du selbst von dem überzeugt, was du gerade versuchst, mir einzureden, Bruder?“

„Du kannst unmöglich –“, Yoh fehlten offenbar die passenden Worte und er brach ab, deutete hilflos in die Arena hinab.

Hao neigte den Kopf und lächelte unschuldig. „Doch ich kann, Bruder, und ich tue es.“

„Warum?“

„Weil es amüsant ist.“

„Was?! Hao merkst du überhaupt, was du da sagst?! Das kannst du nicht meinen!“

„Oh doch, das tue ich.“

„Sei still!“ Yoh schien durch Haos Worte nun vollends die Kontrolle zu verlieren. Er packte seinen Bruder am Kragen und holte mit einer Faust aus. „Und du Teufel, bist auch noch mein Bruder!“ Einen Augenblick meinte er, Schmerz Augen Haos wahrgenommen zu haben, doch den Bruchteil einer Sekunde später wurde dieser - sollte er denn überhaupt existiert haben - von der üblichen Gelassenheit verdeckt. Ein süffisantes Grinsen legte sich auf Haos Lippen. „Tu es, Yoh. Schlag mich. Schlag mich“, sein Grinsen verblasste und seine Augen glommen bedrohlich auf, „wenn du es kannst.“

Noch immer hatte Yoh seine Faust gehoben, doch nun begann sie leicht zu zittern, was Hao zu einem verächtlichen Schnauben verleitete. „Ich wusste, dass du es nicht kannst. Du bist einfach zu weich, das ist deine –“

Ein harter Schlag unterbrach ihn. Sein Kopf ruckte zur Seite und die Strähnen seines Ponys fielen ihm ins Gesicht, verdeckten seine Augen. Noch immer hielt Yoh ihn fest am Kragen gepackt. Sein Atem ging stoßweise. „Vergiss nicht“, er atmete zitternd ein und aus, während seine Stimme bedrohlich wankte, „dass es immer noch meine Freunde sind, denen du dieses Leid zufügst. Ich mag weich sein, aber wenn es um meine Freunde geht, dann solltest du vorsichtig sein!“

Hao wandte den Kopf - seine Wange färbte sich bereits rot - und sah Yoh direkt in die Augen. Einige Sekunden war der Blick des Langhaarigen ausdruckslos, dann verhärtete er sich und die Kälte kehrte wieder zu ihm zurück.

„Genau da liegt deine Schwäche, Yoh“, zischte er leise und voller Verachtung. Er hob die Hand und legte sie auf die seines Bruders, die noch immer den Kragen seines Umhanges umklammerte und löste sie brutal. „Du bist so berechenbar, wenn es um das geht, was dir wichtig ist. Deine Handlungen sind genauso voraussehbar, wie die von Ren.“

„Ich wusste die ganze Zeit, dass du dafür verantwortlich bist, dass er uns verraten hat“, flüsterte Yoh, sodass nur Hao imstande war, ihn zu verstehen.

Ein spöttisches Grinsen manifestierte sich auf dessen Zügen. „Du hast ja wirklich blindes Vertrauen in deine Freunde, Brüderchen. Warum akzeptierst du nicht einfach, dass er sich für die richtige Seite entschieden hat?“

„Meine Freunde sind nicht so. Er ist nicht mehr so.“

„Ach ja?“, fragte der Langhaarige und hob provozierend die Augenbraue. „Und warum versuchen zwei deiner Freunde gerade, sich gegenseitig umzubringen?“

Yohs Augen verengten sich. „Nur einer von ihnen Hao, und auch nur, weil du ihn kontrollierst.“

„Ach ja, ich vergaß. Wie dumm von mir. Ich muss zugeben, es war nicht wirklich schwer, in die Gedanken des kleinen Ainus einzudringen. Er wirkte ziemlich aufgewühlt. Woher mag das nur kommen?“

„Das weißt du ganz genau!“

„Oh, stimmt ja. Aus demselben Grund, aus dem Ren die Seiten gewechselt hat.“
 

„Bason, es hat vorhin nicht funktioniert ... aber wenn wir es noch einmal ... versuchen ... ein allerletztes Mal ... glaubst du ... du schaffst es?“

/Ich weiß es nicht, Meister. Aber ich werde alles geben, wenn du es verlangst./

„Ich werde ... auch ... alles geben. Alles ... was ich noch ... habe.“ Knirschend wurde er noch ein Stück nach hinten geschoben. „Bason ... wir brauchen ... das Donnerschwert.“

/Es liegt nur wenige Meter links von dir. Du hast es vorhin fallen lassen./

Rens Blick wanderte in die gebotene Richtung und erfasste das Schwert, das im Sand lag und von der Sonne beschienen wurde. Er sah kurz zurück zu Horohoro, dessen rote Augen ihn triumphierend anfunkelten, dann spannte er sämtliche Muskeln an und warf sich nach vorne. Durch den plötzlichen Widerstand überrumpelt, taumelte der Ainu einige Schritte zurück. Diese Augenblicke der Unachtsamkeit nutzte Ren aus, stürzte sich zur Seite und rannte los, auf das Donnerschwert zu. Doch bevor er es erreichte, spürte er einen explodierenden Schmerz im Rücken. Horohoro hatte sich schneller wieder gefasst, als erwartet und ihm mit seinem Hammer einen direkten Schlag in den Rücken verpasst. Mit einem dumpfen Aufprall fiel Ren zu Boden. Hustend versuchte er wieder zu Luft zu

bekommen und öffnete, die unter Schmerzen zusammengekniffenen Augen.

Helle Flecken tanzten vor seinen Augen auf und ab und eine bleierne Müdigkeit, versuchte von ihm Besitz einzunehmen. Etwas Warmes ging von seiner Hand aus, die er ausgestreckt hatte und ein Blick verriet ihm, dass ihm noch immer ein kleiner Rest Furyoku geblieben war. Ein Wunder.

/Meister, das Schwert!/

Er hob den Kopf und erblickte ein kleines Stück vor sich das Donnerschwert. Er hörte Horohoros Schritte, die immer näher kamen. Stockend streckte er seine, vor Anstrengung zitternde, Hand aus. Ein Schatten fiel über ihn und er registrierte, wie Horohoro den Arm mit dem Eishammer hob, bereit, ihm den tödlichen Hieb zu verpassen.

Nein, Horohoro, das bist nicht du!

Er schloss die Hand fest um den Griff des Schwertes, augenblicklich durchströmte es das Furyoku und mit einer schnellen Bewegung drehte er sich auf den Rücken in dem Moment, als Horohoro, den Hammer niederschlug. Eis traf auf Metall.
 

Eine erneute Druckwelle durchzog das Stadion, diesmal jedoch erschütterte sie das Gebäude bis in seine Grundfesten. Helles Licht blendete alle. Sein Ausgangspunkt war der Ort, ans dem die beiden Waffen sich getroffen

hatten. Die Menge schloss geblendet die Augen.

Nach einigen Sekunden ließ die Stärke des Lichtes nach, ging ins Ertragbare über, bis die Augen schließlich wieder gefahrlos geöffnet werden konnten. Dieses Mal musste es einfach vorbei sein. Es konnte unmöglich noch weitergehen.

Zum wiederholten Male an diesem Tag wurde durch die Explosion eine Staubwolke aufgewirbelt, doch dieses Mal dauerte es nicht so lange, bis der Dunst sich legte.

Zwei Gestalten wurden sichtbar. Zunächst nur ihre Konturen, dann, als der Staub sich schließlich vollends gelegt hatte, erkannte man sie. Einer von ihnen kniete gekrümmt am Boden, der andere lag bewegungslos im Sand.
 

Pirica schlug sich die Hände vor den Mund um einen Aufschrei zu unterdrücken. „Horohoro“, hörten die anderen sie erstickt keuchen.
 

Verzweifelt versuchte Ren, neben dem Staub auch noch Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen. Röcheln und nach Luft ringend, versuchte er sich oben zu halten und nicht dem verlockenden Ruf der Ohnmacht nachzugeben, die ihn zu sich rief.

„Horohoro“, sagte er leise, keuchte den Namen mehr, als dass er ihn sprach, da er noch immer um Sauerstoff bemüht war. „Geht es ... dir gut?“ Er bekam keine Antwort. „Horohoro?“ Langsam hob er den Blick. Als er die reglose Gestalt vor sich erkannte, schien es ihm, als hätte man ihm des Bodens unter seinen Füßen beraubt. Sämtliches Blut wich ihm aus dem Gesicht und seine Augen weiteten sich. Nein! Nicht er!

Mühsam rappelte er sich auf, beachtete die dabei entstehenden Schmerzen nicht, würdigte Calim, der alarmiert näher trat keines Blickes, stolperte auf Horohoro zu und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. „Horohoro ...“

Sein Blick schweifte unfokussiert über den Körper des Ainus, bis er stockte. Eine seltsame schwache Aura ging von dem Blauhaarigen aus, schien sich vor seinen Augen in glänzende Lichtpartikel aufzulösen. Und er irrte sich doch nicht. Die Brust des Ainus hob und senkte sich. Das hieß, er lebte!
 

‚Ich habe mein Wort gehalten, Ren.’
 

Einem leichten Windhauch gleich, vernahm er die vertraute Stimme.
 

‚Ich habe ihn vor dir beschützt. Er lebt. Er ist nur bewusstlos.’
 

Ren schloss für einige Sekunde die Augen. Danke.

„Der Kampf ist entschieden!“, erklang mit einem Mal Calims Stimme hinter ihnen. „Den Sieg trägt Tao Ren davon.“ Einige Sekunden herrschte überraschte Stille, dann begann das Publikum zu jubeln. Der Schiedsrichter trat neben den Chinesen und sah auf sie hinab. „Ihr beide müsst auf die Krankenstation.“

Ren schüttelte den Kopf. „Mir geht es gut.“ Er belog sich damit selbst, doch er war im Moment nicht wichtig. Wichtig war, dass Horohoro auf die Krankenstation kam und untersucht wurde. Danach ... würde alles wieder gut werden, dessen war er sich sicher.
 

„Glaube nicht, dass ich es dir so leicht mache, Ren!“
 

Die bedrohliche Stimme übertönte den Lärm der Menge und ließ die Menschen abrupt verstummen. Ren wirbelte herum und erblickte Hao, der auf dem Geländer einer Tribüne stand und von einer roten Aura umgeben war. Neben ihm nahm er schemenhaft zwei weitere Gestalten wahr, die er als Yoh und Lyserg erkannte. Der Engländer hielt Yoh verzweifelt am Arm fest, da dieser Anstalten machte, seinen Bruder aufhalten zu wollen.
 

„Hast du vergessen, was ich dir befohlen habe?“
 

Ren zuckte unbewusst zusammen. Als hätte man ihm einen Eimer kalten Wassers über den Kopf geschüttet, übermannte ihn die Erkenntnis. Entsetzen breitete sich in ihm aus und das dämonische Grinsen in Haos Gesicht bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.
 

„Ich habe dir gesagt, was geschieht, wenn du dich mir verweigerst!“
 

„Nein!“, rief Ren nach oben und eine Spur der Panik lag in seiner Stimme. „Ich habe ihn geschlagen, ich habe ihn besiegt, er ist keine Gefahr für dich, Hao.“
 

„Ich hatte dir nicht befohlen, ihn ‚nur’ zu besiegen, Ren.“
 

Hao verschwand in einer aufzüngelnden Flamme und erschien wenige Meter vor Ren in einem lodernden Flammeninferno. Hinter ihm erschien der Geist des Feuers. Langsam trat Hao näher und Ren wich, je näher er kam, ein weiters Stück zurück, bis er bemerkte, dass er unmittelbar vor Horohoro stand. Er richtete seinen Blick nach vorne auf Hao, der einen halben Meter vor ihm stehen blieb.

Der Blick des Langhaarigen war erbarmungslos. „Tritt beiseite, Ren, damit ich beenden kann, was du nicht imstande warst, fertig zu bringen.“

„Nein.“ Er dachte nicht daran, Horo seinem sicheren Tod zu überlassen.

Die Augen Haos verengten sich. „Du bist mein Untergebener, Ren. Du hast zu tun, was ich dir befehle!“

„Nein, ich habe beschlossen, mich nicht einfach meine ‚Schicksal’ zu ergeben!“ Horohoro hatte ihn wachgerüttelt. Mit einem so einfachen Satz. ‚Seit wann hört ein ‚stolzer Tao’ auf das Schicksal?’

Warum hatte er sich so lange von einer Fessel namens Schicksal binden lassen, wenn die Lösung doch so einfach war? Nein, er war nicht bereit, dies und die Erkenntnis so einfach hinfort zu werfen! Nicht jetzt, wo er dem Ziel so nahe war.

„Du hast ‚beschlossen’?“, echote Hao und lachte abfällig. „Ren, du vergisst, dass ich dich in der Hand habe. Ich könnte jeden deiner kleinen Freunde einfach so beseitigen und du könntest nichts dagegen machen. Denn du bist alleine. Ganz alleine.“
 

„Ist er nicht.“
 

Rens Kopf ruckte bei diesen Worten zur Seite und auch Hao wandte sich um. Im Eingang zur Arena stand Yoh, sein Lichtschwert, das von einer hellblauen Aura des Furyokus umgeben wurde in der einen, und seine Antiquität in der anderen Hand. Ren starrte ihn ungläubig an. „Yoh, du –“

„Endlich habe ich es verstanden“, sprach Yoh weiter und trat näher. „Endlich weiß ich, wie es so weit kommen konnte. Wie du Ren dazu gebracht hast, uns zu verraten. Und wir waren auch noch so dumm, uns täuschen zu lassen.“

Eine weitere Person trat aus dem Schatten des Eingangs und näherte sich Yoh und ihnen. Ren schluckte. „Lyserg?“

Der Engländer hatte den Arm, an dem sein Pendel hing, gehoben und zielte damit auf Hao, während er sich neben Yoh stellte. Er warf Ren einen warmen Blick zu. „Ich habe verstanden, was Yoh meint und auch ich werde nicht einfach nur zusehen.“

„Glaubt ihr ernsthaft, ich würde mich von euch aufhalten lassen?“, höhnte Hao verächtlich und der Geist des Feuers wandte sich den beiden zu. „Solange ich den Geist des Feuers besitze, kann niemand mich besiegen.“

„Sie sind nicht alleine!“ Ryu betrat nun ebenfalls die Arena, er hatte während der Aufregung seinen Platz verlassen und gesellte sich nun zu Yoh und Lyserg, sein Holzschwert angriffbereit in der Hand.

„Und ich bin auch noch da!“ Chocolove trat, auf seine Krücke gestützt, in die Arena und humpelte, von Mic begleitet, zu den anderen.

Hao musterte jeden von ihnen abschätzend, bevor er sich wieder Ren zuwandte, der seinen Blick erwiderte. „Glaube mir Ren“, raunte Hao ihm dunkel zu, „so einfach kannst du dich nicht von deinem Schicksal trennen.“ Dann wandte er sich ab und schritt mit wehenden Haaren davon, verschwand in einem Rausch aus Flammen, zusammen mit seinem Schutzgeist.

Reflexartig hob Ren den Kopf und ließ seinen Blick suchend über die höchsten Tribünen wanderte, bis er schließlich an einer kleinen Gestalt hängen blieb, die ihn während des gesamten Kampfes keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Opacho sah ihn offen an und Ren deutete den Ansatz eines Nickens an. Der Kleine verstand und wenige Momente später war auch er verschwunden.

Kaum, dass von Opacho nichts mehr zu sehen war und er realisierte, dass er den Klauen Haos entkommen war, dass das Leid vorerst ein Ende hatte, wurde er sich der einnehmenden Schmerzen und seiner Müdigkeit bewusst. Es war als würde er durch das Verlassen von Haos Seite die letzten Schutzschilde fallen lassen und sich somit den Wehklagen seines geschundenen Körpers wehrlos ausliefern.

Die Umgebung begann sich zu drehen und Schwärze suchte sich ihren Weg in sein Blickfeld, zunächst nur am Rand, doch stetig weiterwandernd, ihm die Sicht raubend. Er spürte, wie seine Beine nachgaben und er zur Seite fiel.

„Ren!“

Ein Paar Arme fing ihn auf, bewahrte ihn vor dem harten Aufprall auf dem Boden und presste ihn an einen anderen Körper. Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme, doch er kannte sie ...

„Yoh?“ Verschwunden war seine Maske, er war müde, ausgelaugt und geschlagen. Physisch.

„Ren, wir sind alle hier.“

„Bringt Horohoro ... auf die Krankenstation“, murmelte er, kurz davor sich in die schützenden Arme der Ohnmacht zu begeben, die auf ihn warteten.

/Meister, halte durch!/

„Bason“ Die Schwärze nahm ihm jede Möglichkeit, sich zurecht zu finden. „Geht es dir ... gut?“

/Ja Meister, es geht mir gut./

„Das ... freut ...“

Weiter kam er nicht, denn die Ohnmacht hatte ihn nun gänzlich zu sich gerufen, ihn in ihre wärmende Umarmung gezogen und sein Kopf fiel schlaff auf Yohs Schulter. Doch davon bekam er bereits nichts mehr mit.
 

oOo
 

Brennende Hitze. Ein Feuer, das von seinem Körper Besitz nahm, ihn von innen heraus verbrannte, ihn verschlang. Es sollte aufhören. Etwas Kühles auf seiner Stirn ließ ihn ruhiger werden. Ruhe. Stille.
 

„Glaubst du, es geht ihm gut?“

„Wir können ihn ja schlecht fragen.“

„Was sagt Faust noch gleich?“

„Lass mich überlegen - dass es ihm nicht gut geht?“

„Ha ha, darauf wäre ich jetzt echt nicht gekommen.“

„Warum fragst du dann?“

„Du machst mich fertig, echt!“

„Dann frag einfach nicht.“

„Du bist total unkommunikativ!“

„Und?“

„Das ist doof.“

„Das hast du aber schön ausgedrückt.“
 

Er spürte, wie sein Geist langsam wieder zu Bewusstsein kam und konnte weit entfernt, zwei bekannte Stimmen wahrnehmen. Er spürte, dass er auf etwas Weichem lag und je näher sein Bewusstsein dem Erwachen kam, desto stärker spürte er auch den dumpfen Schmerz, der durch seinen Körper zu pulsieren schien, wie Lava. Er versuchte den Schmerzen zu entkommen, versuchte wieder in den Zustand des Schlafes zu kommen und tatsächlich schaffte sein Geist es, sich zu entfernen, den unerträglichen Schmerzen zu entkommen und in den Tiefen seines Unterbewusstseins Schutz zu finden.
 

Als er das nächste Mal an die Oberfläche seines Bewusstseins glitt, empfingen ihn zwar immer noch Schmerzen, doch lagen diese nun im Bereich des Ertragbaren. Seine Augenlider, schien bleischwer und er schaffte es nur unter großer Kraftanstrengung, sie flatternd zu öffnen.

Er blickte an eine graue Decke über sich, die mit einigen Kratzern versehen war. Mit aller Kraft konzentrierte er sich und schaffte es schließlich, seinen Kopf ein Stück zu drehen, woraufhin er scharf die Luft ausstieß, als Schmerzwellen seinen Körper durchzuckten.

Er lag in einem schwach beleuchteten Zimmer. Durch die Vorhänge des Fensters – eigentlich nur ein schlichtes Loch in der Wand, das von einem dunklen Stück Stoff verdeckt war – fielen vereinzelte Lichtstrahlen, die darauf schließen ließen, dass draußen die Sonne schien. Anscheinend war es Tag.

Er wagte es nicht, seinen Kopf wieder zu bewegen, also beließ er ihn in dieser Position und gab sich damit zufrieden, leicht vor sich hin zu dösen, während sich in ihm die Frage auftat, wie lange er schon hier lag.
 

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch es war Yohs Stimme, die ihn aus seinem Dämmerzustand riss. „Du bist wach.“

Er öffnete die Augen und erblickte den Braunhaarigen, der sich auf einem Stuhl neben seinem Bett niederließ. Er musterte Yoh aufmerksam, suchte nach einem Anzeichen von Verachtung oder Abscheu in dessen Blick, doch er fand nichts dergleichen. Er versuchte sich aufzurichten, doch erneut wurde er von einer Schmerzattacke übermannt und niedergestreckt. Er stöhnte gequält auf, während Yoh sich rasch erhob und sich auf die Kante seines Bettes setzte.

„Ren, du darfst dich nicht überanstrengen. Faust sagt, dass mindest ein Rückenwirbel angebrochen ist

und einige Rippen auch. Du hast Glück, dass Horohoros Hammer dir nicht das Rückgrad zertrümmert hat.

Bleib besser liegen.“

Ren war zu schwach, um sich diesem Rat zu widersetzen und so beließ er es dabei, Yoh einfach nur anzusehen, dabei stumm auf die Beschimpfungen und Rügen wartend, die bald kommen mussten. Immerhin hatte er sie alle verraten.

„Ich bin froh, dass es dir wieder einigermaßen gut geht“, sagte Yoh schließlich und ließ Ren ungläubig die Augen weiten. „Wir hatten einige Zeit echte Sorge, ob du es schaffst. Du hattest hohes Fieber. Faust meinte, dein Körper könnte zu geschwächt vom Kampf und dem Energieentzug durch so viel Furyokuverlust sein, dass du es vielleicht nicht überlebst. Du hast ganz schon viel abbekommen. Die angeknacksten Rippen, der angebrochene Wirbel, deine Unterarme sind stark geprellt und nicht zu vergessen die vielen blauen Flecken, die du ohne Zweifel haben musst. Und deine Wange ...“, kurz schwieg er, bevor er leise fragte, „diese Kratzer ... Ren, hast du sie von Hao?“

Der Chinese wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er beschloss, das Thema zu wechseln.

„Was“, setzte er an, doch nur ein klägliches Krächzen verließ seine Lippen. Erst jetzt wurde er sich der Tatsache bewusst, dass sein Hals staubtrocken war.

„Warte.“ Yoh griff nach einem Glas Wasser auf dem Tisch neben dem Bett, hob Rens Kopf leicht an und führte das Glas an dessen Lippen. Gierig leerte Ren das Glas in wenigen Zügen, bevor Yoh ihn behutsam in die Kissen zurücksinken ließ.

„Wie lange bin ich schon hier?“, fragte Ren schließlich mit leiser Stimme.

Yoh sah ihn gerade heraus an. „Vier Tage.“

Beiahe verschlug es Ren die Sprache. „Vier?“, wiederholte er ungläubig. „Aber, wie kann das -?“

„Du hast geschlafen. Anfangs warst du bewusstlos, dann hast du das Fieber bekommen und seit gestern hast du durchgeschlafen. Das Turnier ist vorübergehend eingestellt. Das Halbfinale beginnt in zwei Woche. Da du trotz deines Sieges verletz bist, hat Silva durchsetzen können, dass allen Schamanen eine Pause zugestanden wird, um sich von ihren Kämpfen zu erholen.“

Sie schwiegen.

„Yoh“, meinte Ren schließlich, was den Braunhaarigen aufsehen ließ. „Ich ... das alles, es ... tut mir leid. Alles.“

„Das muss es nicht.“

„Was?“, Ren starrte ihn voller Unglaube an. „Aber ... ich habe euch alle verraten ...“

„Wir wissen es, Ren. Wir wissen, warum du es getan hast. Oder zumindest glauben, wir, es zu wissen. Und glaub mir“, er sah ihn fest an, „niemand von uns macht dir auch nur den geringsten Vorwurf.“

„Was ist mir Horohoro?“, fragte Ren zögernd. „Wie geht es ihm?“

Er registrierte, wie sich Yoh bei seinen Worten verkrampfte. Konnte es sein, dass -?! Horohoro war doch nicht etwa -?

„Es geht ihm gut. Er ist schon wieder auf den Beinen. Er hat keine Verletzungen davongetragen, was ein Wunder ist, bei eurem Kampf.“ Der Knoten in Rens Brust löste sich, doch nur um Momente später wieder zurückzukehren. Wenn Yoh nicht wegen Horohoros Gesundheit besorgt war, weswegen dann? „Was ist mit ihm, Yoh? Ist etwas

vorgefallen?“

Ruckartig erhob sich der Braunhaarige. „Ich gehe Faust holen. Er sollte wissen, dass du wach bist. Er wird dir sicher Tabletten gegen die Schmerzen geben.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, ohne noch einen weitern Blick auf Ren zu werfen.
 

Die nächsten Tage verbrachte Ren zwischen Schlafen und dem Wachsein. Hin und wieder bekam er Besuch. Chocolove hatte ihn bereits am Tag seines Erwachens besucht und sie hatten lange geredet. Chocolove teilte die Meinung Yohs voll und ganz und hatte Ren keinen Vorwurf gemacht, obwohl er doch indirekt mitverantwortlich für dessen Blessuren war, wie er versucht hatte, Chocolove klar zu machen. Doch dieser hatte nur abgewehrt und gemeint, dass es einzig und alleine Hao gewesen war. Auch Manta und Ryu waren, zusammen mit Lyserg, vorbeigekommen und sogar Anna und Tamao hatten einen Blick hineingeworfen und ihn begrüßt.

Dann, zwei Tage nach seinem Erwachen, war Jun gekommen. Sie hatte zögernd sein Zimmer betreten, eine Vase mit Blumen in der Hand, die sie auf den Tisch neben sein Bett gestellt hatte. Er selbst hatte es nicht gewagt, sie anzusehen, zu schmutzig hatte er sich gefühlt. Doch dann hörte er sie schluchzen und bevor er auch nur in irgendeiner Weise reagieren konnte, hatte sie ihn fest an sich gepresst. Sie hatte ihm beteuert, wie Leid ihr alles täte und das sie immer wieder vorgehabt hätte, es ihm zu sagen, es allerdings nie übers Herz gebracht hatte, ihm das Leben, das er zu diesem Zeitpunkt begonnen hatte, zu zerstören.

In dem Moment hatte er alle Tao-Regeln ignoriert und die Umarmung erwidert, war Jun doch die einzig wahre Familie, die er noch hatte. Seitdem besuchte sie ihn regelmäßig, brachte ihm jeden Tag frische Blumen mit. Doch so sehr ihn dies auch mit einer Wärme erfüllte, die er vorher noch nicht gekannt hatte, so wurde eine schmerzende Tatsache damit doch nicht verdeckt.
 

Seit seinem Erwachen hatte Horohoro ihn kein einziges Mal besucht.
 

Enttäuschung wächst auf dem Boden der Erwartung.

Sirius C.F.

Schmerz

@ Rici-chan: Dieses Kapitel ist für dich weil du mir dieses geniale Bild gewidmet hast ; )
 

16. Kapitel: Schmerz
 

Warum ist es unmöglich, jemanden etwas Gutes zu tun, ohne ihm weh zu tun? Warum ist es unmöglich, jemanden zu lieben, ohne ihn zu vernichten?

Amélie Nothomb
 

Ausdruckslos starrte er an die Decke über sich. Seit er hier lag, kam er dieser Tätigkeit beklemmend oft nach. Obwohl er regelmäßig Besuch bekam, konnten diese kurzen Ablenkungen doch nicht die Leere in seinem Inneren füllen. Nicht einmal die stetigen Schmerzen, die ihn noch immer bei jeder unüberlegten Bewegung heimsuchten, schafften dies.

Menschen gingen in seinem Krankenzimmer ein und aus, doch er bekam es nur am Rande mit.

Er wartete. Wartete auf ihn.

Er hatte aus den Gesprächsfetzen der anderen mitbekommen, dass es dem Ainu gut ging und er bereits wieder das Bett verlassen hatte. Aber warum besuchte er ihn dann nicht? Was war passiert, dass Horohoro ihn wie einen Geächteten mied?

Diese Frage nagte an seinem Geist, ließ ihm keine Ruhe, suchte ihn sogar in seinen Träumen heim, die meistens von dem höhnischen Lachen Haos begleitet wurden.

Ich habe für ihn gekämpft, habe versucht, ihn vor Hao zu beschützen, und jetzt? Ich will ihn sehen. Ich will mit ihm sprechen und ihm alles erklären.

„Bason?“, fragte er leise. Umgehend erschien sein Schutzgeist, der in den letzten Tagen unzählige Stunden an seiner Seite verbracht und ihm Gesellschaft geleistet hatte. /Ja, Meister Ren?/

„Ich möchte Horohoro sehen.“

/Meister, wie stellst du dir das vor?/

„Ich werde ihn suchen.“

/Aber Faust hat angeordnet, dass du das Bett in den nächsten Tagen nicht verlassen sollst. Dein Rücken .../

„Das weiß ich, Bason“, fuhr er seinem Schutzgeist dazwischen, welcher umgehend verstummte. Er sah Bason durchdringend an. „Aber ich kann einfach nicht länger warten.“ In seiner Stimme lag Schmerz und Bason konnte sich nur allzu gut denken, wie Ren sich fühlen musste. Von dem verlassen, für den er all dies überhaupt erst getan hatte. Er senkte den Blick und sah zu Boden. /Ich kann nicht gutheißen, dass du deine Gesundheit aufs Spiel setzt, Meister, aber ich verstehe dich/, gab er zu.

Ren nickte leicht und setzte sich auf. Sein Rücken protestierte bei dieser Bewegung, doch er ignorierte den Schmerz. Er wollte nicht schon am Anfang scheitern. Er rückte immer weiter nach rechts, bis er die Bettkante erreichte und die Beine hinab ließ. Seine nackten Füße berührten den Steinboden und er erschauderte. Vorsichtig stand er auf, zuckte jedoch augenblicklich wieder zurück, als ein Stechen seine Brust durchfuhr. Keuchend legte er eine Hand auf den Verband, der ihn stützen und seine Rippen schonen sollte.

Er hatte einige Verbände, wie er bereits kurz nach seinem wirklichen Erwachen vor einigen Tagen hatte feststellen können, nachdem Chocolove ihm ‚netterweise’ einen Spiegel vor sein Gesicht gehalten hatte.

Ein Platzwunde auf der Stirn wurde von einem strahlend weißen Stück Stoff verdeckt, seine, von Hao, zerkratzte Wange wurde von einem hellen Pflaster geschützt, sein Hals von einem festen Verband gestützt und seine Brust beinahe vollkommen von dem weißen Stoff eingenommen.

Bason schwebte alarmiert näher. /Vielleicht solltest du wirklich noch einige Tage warten, Meister/, wandte er zaghaft ein, doch Ren schüttelte nur den Kopf.

„Ich kann wirklich nicht länger warten, Bason. Es fängt an, weh zu tun, weißt du. Immer nur zu warten.“ Er sammelte seine Kräfte und erhob sich in einer schnellen Bewegung. Dieses Mal waren die Schmerzen nicht so stark, wie bei seinem ersten Versuch. Schwankend stand er auf den Beinen. Die Umgebung, begann, sich zu drehen.

Die letzten Tage hatte er beinahe durchgängig liegend verbracht, nun musste sein Körper sich erst einmal wieder an die aufrechte Position gewöhnen.

Schwer atmend stützte er sich von der Lehne des Stuhls, der neben seinem Bett stand, ab und wartete, bis sich seine Sicht klärte und die Umgebung beruhigte. Dann hob er den Blick und ließ den Stuhl los, trat auf den Tisch in diesem Zimmer zu, auf dem sauber zusammengefaltet, ein Stapel Kleidung lag. Jun hatte sie gestern mitgebracht.

Er selbst trug momentan nichts, abgesehen von seiner Boxershorts. Langsam streckte er die Hand aus und griff nach der Hose. Anschließend begann er sie sich, unter einigen grotesken Verrenkungen, gepaart mit penetranten Schmerzen, an zu ziehen. Nach etlichen Minuten, unter den skeptischen Blicken Basons, schaffte er es schließlich und begab sich an die nächste Hürde. Seinem Oberteil.

Nachdem er weitere zehn Minuten später noch immer zu keinem Resultat gekommen war, gab er den sinnlosen Versuch letztendlich auf. Stattdessen schlüpfte er nur in seine Schuhe und richtete sich schließlich keuchend wieder auf. Wenn das Anziehen schon so schwer war, wie würde dann erst die Suche aussehen? Er verdrängte diesen deprimierenden Gedanken, schob ihn beiseite und begann seine Suche. Die Holztür seines Zimmers ging quietschend hinter ihm zu.
 

Einen Fuß vor den anderen.

Wie ein stärkendes Mantra wiederholte er diese Worte in Gedanken, während er sich bei jedem Schritt an der Wand des Flures abstützte.

Einen Fuß vor den anderen.

Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet, während er das Haus durchquerte und nach dem Ausgang suchte. Dies hier war die Krankenstation, irgendwie musste man doch hier raus kommen. Er spürte Basons besorgten Blick auf sich und war sich sicher, dass er momentan kein wirklich gesundes Bild abgab. Trotzdem musste er weiter.

Einen Fuß vor den anderen.

Zu seinem Glück war er bis jetzt noch niemandem begegnet. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die durch die Fenster – oder auch einfach nur Löcher – auf den Flur schien, war es auch noch früher Morgen. Kein Wunder, dass außer ihm, der er nach Tagen der Bettruhe einfach nicht mehr schlafen konnte, niemand auf den Beinen war.

/Meister, der Ausgang ist dort vorne./

Er hob den Blick, folgte dem Wink seines Schutzgeistes und erblickte die Tür. Bason hatte Recht, dies musste der Ausgang sein. Dadurch bestärkt, beschleunigte er seine Schritte, bis er die Holztür erreichte und aufzog. Sonnenstrahlen fluteten den Flur, schienen ihm ins Gesicht und ließen ihn geblendet die Augen schließen. Nach einigen Sekunden wagte er es, sie wieder zu öffnen.

/Meister, willst du das wirklich tun?/, fragte Bason, versuchte ein letztes Mal, ihn um zu stimmen, doch er ließ sich nicht beirren. Nicht jetzt.

„Ja, Bason.“

/Dann werde ich dich weiterhin begleiten./

Er antwortete nicht, trat auf die Straßen Doby Villages hinaus und schloss die Tür zur Krankenstation hinter sich.
 

oOo
 

„Was meinst du? Isst Ren Schokolade?“

Yoh warf einen skeptischen Blick auf den Berg Schokoladentafeln in Chocoloves Armen und zuckte hilflos die Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab ihn bis heute noch nie welche Essen sehen. Alles was ich über seine Gewohnheiten weiß ist, dass er regelmäßig Milch trinkt.“

Der Komiker hatte sich in den letzten Tagen gut erholt und die Krücken letztendlich ganz beiseite gelegt, war er doch angeblich wieder so gesund, dass er Bäume ausreißen könnte – wie er es Yoh mit einem breiten Grinsen versichert hatte. Chocolove starrte den Kopfhörerträger nach seinen Worten ungläubig an. „Echt? Er trinkt Milch? Sogar regelmäßig?! Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

„Nicht? Bei den Mengen ...“

„Echt jetzt? Du machst doch Witze!“

„Nein, das ist mein voller Ernst.“

„Ich glaub’s ja nicht.“ Chocolove kicherte. „Ren und Milch. Zwei Dinge, die ich niemals miteinander verbunden hätte. Aber in Schokolade ist ja auch ein bestimmter Anteil Milch. Ich bin sicher, die wird er schon essen.“

Yoh grinste und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Wenn du das sagst.“
 

Die beiden Jungen durchquerten den Flur der Krankenstation, bogen um eine Ecke und steuerten direkt auf die Tür zu Rens Zimmer zu. Yoh ließ die Hände sinken und packte den Türgriff, drückte die Tür auf. „Hi Ren, wir wollten dir nur einen kleinen –“, er brach ab.

„Was ist los?“, fragte Chocolove verwundert. „Ist er noch nicht angezogen? Warte, lass mich sehen!“ Er drängelte sich fies grinsend an Yoh vorbei ins Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen, als er nur einen leeren Raum vorfand. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht. Langsam drehte er sich zu Yoh um. „Wo ist er?“

Yoh hielt noch immer den Türgriff fest in der Hand, schien es nicht zu wagen, die Tür loszulassen und erwiderte Chocoloves Blick ebenfalls fragend. „Ich weiß es nicht.“

„Vielleicht ist er ja nur auf dem Klo?“, versuchte Chocolove nach möglichen Erklärungen zu suchen.

„Ich werde mal nachsehen“, antwortete Yoh und verließ den Raum, ließ Chocolove alleine. Der Komiker trat neben das Bett und legte die Tafeln Schokolade auf den Nachttisch. Er hörte schnelle Schritte, die sich dem Zimmer näherten und als er sich wieder umwandte, erblickte er einen keuchenden Yoh, der offenbar den Weg vom Klo zurück gerannt war. „Er ist nicht da“, stieß er hervor. Chocolove schluckte. „Und wo kann er sein?“

Neben Yoh erschien Amidamaru. Er sah die beiden Jungen eindringlich an. /Könnt ihr euch das nicht denken?/

Chocolove und Yoh wechselten einen viel sagenden Blick. „Horohoro.“
 

oOo
 

Keuchend arbeitete Ren sich voran, ließ eine weitere Gasse hinter sich. Er konnte sich nicht erinnern, dass sich das Haus, in welchem sie sich über das Turnier hinweg einquartiert hatten, so weit von Dorfzentrum entfernt befand.

„Bason ... wie weit ist es noch?“

Sein Schutzgeist löste sich von seiner Seite, schwebte in die Höhe und kehrte nach einigen Sekunden zu ihm zurück. /Nicht mehr weit, Meister. Du hast es bald geschafft. Du musst gleich links abbiegen und anschließend wieder rechts, dann bist du am Ziel./

Ren nickte. Noch so weit ... ich fühle mich, als würden meine Beine jeden Moment nachgeben. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, hatte er die Wegbeschreibung Basons erfüllt und stand vor ihrem Haus. Hoffentlich treffe ich vorher auf niemanden, sonst werde ich sofort wieder in die Krankenstation verfrachtet, bevor ich Horohoro überhaupt sehen kann.

Er machte die letzten Schritte auf das Steinhaus zu, streckte die Hand aus und legte sie um den Türgriff. Dann, nach einigem Zögern, während er versucht hatte, seine Atmung zu beruhigen, damit das Stechen in seiner Brust nachließ, zog er die Tür auf. Stille schlug ihm entgegen. „Bason, könntest du nachsehen, ob jemand da ist?“

Bason schwebte in das Haus und es vergingen einige Minuten, bis er wieder zurückkehrte. /Im unteren Teil des Hauses ist niemand, was die erste Etage angeht, so weiß ich es nicht./

Ren nickte und betrat das Haus, schloss die Tür so leise wie möglich hinter sich. Dann lehnte er sich an selbige und atmete ein paar Mal tief durch. Anschließend stieß er sich ab und nahm Kurs auf die Holztreppe, die in die erste Etage führte. Dort, wo sich ihre Zimmer befanden. Dort, wo Horohoro sich befand. Hoffentlich. Er erklomm eine Stufe nach der anderen, hielt sich dabei mit einer Hand die schmerzenden Rippen. Als er die letzte Stufe erreicht hatte, seufzte er leise auf. Damit hatte er die erste schwere Hürde gemeistert. Nun blieb ihm nur noch, Horohoro zu finden. Er durchquerte mit schleppenden Schritten den Flur, auf dem Weg zu dem Zimmer, das er sich vor einigen Tagen noch mit Horohoro und Chocolove geteilt hatte.

Der Vorhang – das Zimmer besaß nun einmal keine Tür – war zugezogen. Vorsichtig näherte er sich ihm. Kurz bevor er ihn beiseite schob, verharrte er. Horo wusste alles, davon musste er ausgehen, doch er musste es ihm noch erklären. Er stieß ein letztes Mal zitternd den Atem aus, dann schob er das Stück Stoff mit einer schnellen Bewegung beiseite.
 

Blinzelnd versuchte er sich an das helle Licht, das durch das Fenster flutete und ihm direkt ins Gesicht schien, zu gewöhnen und schließlich legte sich das Stechen in seinen Augen und er begann wieder klar zu sehen. Doch wider Erwarten erblickte Ren nicht den Ainu – vielmehr ein verlassenes sauberes Zimmer. Überrascht blinzelte er und brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass Horohoro nicht da war. Merklich sackten seine Schultern nach unten. Geschlagen lehnte er sich an den Rahmen der Tür und schloss die Augen.

Und jetzt? Was sollte er jetzt machen? Sich in die Krankenstation zurück schleichen und hoffen, dass niemand seine Abwesenheit bemerkt hatte? Das glaubte er doch selber nicht!

/Meister, ich spüre die Präsens eines anderen Schutzgeistes/, meinte Bason unvermittelt.

Ren öffnete seine Augen und sah den Krieger aufmerksam – ja, beinahe schon begierig - an. „Und wo?“ Bason zögerte einige Moment, bevor er vorsichtig zu bekennen gab: /Auf dem Dach des Hauses. Aber ich glaube nicht, dass du –/

Doch Ren hörte ihm nicht mehr zu, da er bereits auf dem Weg zu der Treppe war, die auf das Dach führte.

/Meister, warte!/ Bason beeilte sich, den Chinesen einzuholen.

Ren kämpfte sich Schritt um Schritt voran, versuchte die stetig zunehmenden Schmerzen zu unterdrücken, sie vorerst zu verdrängen. Er hatte wichtigeres zu erfüllen. Als er die Treppe erreichte und hinauf blickte, entwich seiner Kehle ein leises, gequältes Stöhnend. War diese Treppe wirklich immer schon so lang und hoch gewesen? Mit einem beklemmenden Gefühl im Magen begab er sich an den zweiten beschwerlichen Aufstieg, der ihm sicher noch einige Schmerzen bereiten würde.
 

oOo
 

Anna musterte das Objekt in ihrer Hand mit Adleraugen. Ihre Augenbrauen waren konzentriert zusammengezogen und ihre Mundwinkel ließen keine Regung vernehmen. Silva schluckte.

Als sei der Blonden dies nicht entgangen, richtete sie ihren Blick auf den Schwarzhaarigen, welcher augenblicklich gerade stand. „Und du bist wirklich sicher“, begann sie unheilvoll und dem Schamanenrichter wurde noch eine Spur flauer in der Magengegend. Anna hob die Hand und hielt ihm das kleine Objekt vor die Nase. „Dass dies echte Handarbeit ist?!“

Schweiß hatte sich auf Silvas Stirn gebildet und er blickte Hilfe suchend zu Calim. Dieser gab ihm mit einer hilflosen Geste zu verstehen, dass er die Antwort genauso wenig kannte und notgedrungen richtete Silva seinen Blick wieder auf Anna, die ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Der hölzerne Schlüsselanhänger pendelte vor Silvas Gesicht hin und her, der dargestellte Adler blickte ihn beinahe vorwurfsvoll an.

Silva räusperte sich. „Ja, Anna, da bin ich mir sicher.“ Er versuchte so viel Überzeugung wie möglich in seine Stimme zu bekommen.

Die Blonde musterte ihn skeptisch, bevor sie die Hand zurück zog – Silva atmete unbewusst erleichtert aus – und das hölzerne Tier misstrauisch betrachtete. „Tatsächlich?“, fragte sie leise. Calim nickte bekräftigend.

„Und warum“, fuhr Anna finster fort und hielt den beiden Männern schließlich die Unterseite des Anhängers entgegen, „sehe ich dann hier die Worte Made in China?“

Die Luft erschien Silva mit einem mal unnatürlich dünn. Er lächelte verlegen und fasste sich an den Hinterkopf. „Nun ja ... wir haben dort eine unserer Zweigstellen?“ Er blickte aus den Augenwinkeln zurück zu Calim. „Und darum ... du verstehst?“

„In China?“, fragte das Mädchen und warf ihm einen abfälligen Blick zu, bevor sie den Anhänger beiseite stellte. „Ich dachte, euer Unternehmen besteht nur aus euch beiden?“

„Ja ... aber der Hauptsitz ist in ... China.“

„Aha.“

„Anna“, wandte Tamaro, welche die ganze Zeit schweigend daneben gestanden und der Szenerie gefolgt war, schüchtern ein. „Wie wäre es denn, wenn du einfach den Anhänger kaufst? Ich meine“, ihre Wangen röteten sich, „ob es nun Handarbeit ist oder nicht, er sieht doch schön aus und ...“ Ihre Worte verklangen, als die Blonde ihr einen strafenden Blick zusandte und sie senkte beschämt den Blick. „Ich will dir natürlich nichts vorschreiben“, murmelte sie entschuldigend.

„Meine Güte, wenn es euch glücklich macht.“ Anna legte den Anhänger zu den anderen Sachen auf die Theke. „Ich nehme ihn dazu.“ Sie wandte sich an Tamaro. „Wenn du willst kannst du ihn haben. Ich bin ein Freund von Handarbeit.“ Merklich erleichtert atmete Silva auf.

Die Stimmen von Yoh und Chocolove ließen sie aufblicken. Die beiden Jungen eilten die Straße entlang, direkt an dem Souvenirshop der beiden Schamanenrichter vorbei. Anna wandte sich ab. „Entschuldigt mich einen Moment.“

Sie durchquerte den Laden mit raschen Schritten. „Yoh!“

Bei dem Klang ihrer Stimme erstarrte der Braunhaarige augenblicklich. Langsam drehte er sich zu ihr um. Sie stand in der Tür des Shops und sah ihn forschend an. „Wo wollt ihr beiden so früh hin?“

Auch Chocolove wandte sich nun um, während Yoh antwortete: „Wir suchen Ren.“

„Ren?“, wiederholte Anna und hob die Augenbrauen. „Warum sucht ihr ihn? Er ist doch auf der Krankenstation.“

Yoh schüttelte den Kopf. „Nein, als wir ihn eben besuchen wollten, war sein Bett leer.“

„Faust sagt doch, er soll sich noch schonen.“

„Deshalb suchen wir ihn auch.“

„Und wo, wenn ich fragen darf?“

Yoh sah sie durchdringend an und Anna verstand. Nun zeichnete sich sogar auf ihren Zügen Beunruhigung ab. Nicht stark, dennoch erkennbar. „Beeilt euch“, meinte sie leise und drehte sich um. Die Tür des Ladens fiel hinter ihr zu.

Yoh wandte sich an Chocolove. „Du hast sie gehört.“
 

oOo
 

„Hao wird nicht lange ruhen.“ Jeanne hatte Marco und Lyserg den Rücken gekehrt und blickte aus dem Fenster ihres Zimmers in den blauen Himmel. „Wir müssen wachsam sein.“

„Was sollen wir tun, Jeanne?“, fragte Marco voller Anspannung und schob sich in einer raschen Bewegung die Brille hoch.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nichts, abgesehen davon, auf alles gefasst zu sein.“ Sie wandte sich um und betrachtete die beiden mit sorgenvollem Blick. „Jetzt, wo der Junge nicht mehr auf seiner Seite ist, wird er vieles daran setzen, ihn zurück zu bekommen. Sollte er dies nicht schaffen, gehe ich davon aus, dass er ihn zerstören wird. Und alles was ihm teuer ist.“

„Woher –“, setzte Lyserg bereits an, doch Jeanne fuhr bereits erklärend fort.

„So denkt Hao. Was er nicht bekommt, darf niemand bekommen. Momentan ist er voller Hass und Zorn darüber, dass Ren es gewagt hat, sich gegen ihn zu stellen. Er dachte, er hätte den Jungen unterworfen und nun hat sich herausgestellt, dass er sich geirrt hat. Hinzu kommt seine Wut auf –“

„Yoh“, entfuhr es dem Engländer, der mit einem Mal verstand.

Jeanne nickte langsam. „Genau.“

„Aber ich verstehe nicht –“

„Das brauchst du noch nicht zu verstehen, kleiner Lyserg. Ich verspreche dir, das wirst du früh genug.“Sie drehte sich wieder um, sah aus dem Fenster. „Und jetzt geh, Lyserg. Ich spüre, dass sich etwas ankündigt.“ Voller Trauer senkte sie den Blick, auch wenn die beiden anderen es nicht sehen konnten. „Deinem Freund Ren wird in kurzer Zeit großer Schmerz widerfahren.“
 

oOo
 

Er trat keuchend auf das flache Dach hinaus und schloss im ersten Moment, von der Sonne geblendet die Augen. Sie schien heute die Angewohnheit zu haben, ihm dauerhaft ins Gesicht zu scheinen ...

Er schob diesen Gedanken beiseite und sah sich um. Sein Herzschlag beschleunigte sich merklich, als er eine nur allzu vertraute Gestalt am anderen Ende des Dachs ausmachte, die ihm den Rücken gekehrt hatte und bewegungslos dort saß. Seine Kehle schien mit einem Mal wie ausgetrocknet und er schluckte schwer, um das beklemmende Gefühl loszuwerden. Erfolglos.

Er wollte einen Schritt auf den Ainu, welcher ihn offenbar noch nicht bemerkt hatte, zumachen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Wie erstarrt stand er noch immer an derselben Stelle, nicht in der Lage, sich auch nur ein Stück von der Stelle zu bewegen. So wenige Meter trennten sie und dennoch schaffte er es nicht. War er etwa so aufgeregt, dass ihm seine Beine nicht mehr folgen wollten? Konzentriert lenkte er seinen gesamten Willen auf sie und schaffte es schließlich, einige zaghafte Schritte zu machen.

Je näher er Horohoro kam, desto schneller schlug sein Herz und sein Atem beschleunigte sich deutlich. Vergessen waren die Schmerzen seiner Verletzungen, seine gesamte Aufmerksamkeit lag auf dem Ainu, welcher so nahe war.

Einen halben Meter hinter dem anderen blieb er stehen. Er befürchtete bereits, Horo würde seinen unnatürlich lauten Herzschlag hören, doch noch immer rührte sich der Ainu nicht. Er hob eine Hand und registrierte zu seinem Entsetzen, dass sie zitterte. Fassungslos über seine körperliche Schwäche schüttelte er den Kopf. Seit wann war er so durch den Wind, sobald er auch nur in Horohoros Nähe kam? Ein letztes Mal schluckte er schwer, dann nickte er Bason zu, welcher ihm stumm gefolgt war und erhob die Stimme:
 

„Hallo ... Horohoro.“
 

Der Blauhaarige zuckte unter seinen Worten zusammen und wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich zunächst, als er voller Unglauben zu Ren hinaufstarrte, dann verengten sie sich zu schmalen Schlitzen. Ruckartig erhob er sich und wich ein Stück zurück, blickte Ren feindselig an. „Was willst du?“

Ren blinzelte einige Male, doch das Bild, welches sich ihm bot blieb dasselbe. Was war mit Horohoro los? „Ich wollte“, er räusperte sich, da seine Stimme mehr nach einem Krächzen klang. „Ich bin nur ...“ Warum schaffte er es nicht, die Worte hinter sich zu bringen? Er war hier, um Horo die Wahrheit zu sagen. Nein, sicher kannte der Ainu die Wahrheit schon. Er war hier, um sie ihm zu erklären. Um sich zu rechtfertigen. Ren schreckte kaum merklich zurück, als ihn ohne Vorwarnung ein Gedanke traf.
 

Was ist, wenn er mich wegen der Wahrheit hasst?
 

Warum sonst sollte Horohoro ihn so ansehen, wie er es soeben tat? Doch etwas in ihm weigerte sich, dies zu akzeptieren. So ist er nicht. Horohoro ist immer verständnisvoll gewesen. Warum sollte das jetzt anders sein?

„Ich bin hier, um dir -“, setzte er an, doch wurde er grob von Horohoro unterbrochen.

„Verschwinde!“

Ren erstarrte. Konnte nicht glauben, was der andere von sich gegeben hatte. Er musste sich verhört haben. „Nein, du verstehst nicht“, versuchte er zu erklären, dabei bemüht, seine Stimme normal klingen und nicht wanken zu lassen. Warum war es nur so verdammt schwer, die richtigen Worte zu finden?! Wieso schaffte er es nicht? „Ich wollte –“

„Ich will nichts von dir hören!“, zischte der Ainu und machte zur Verdeutlichung seiner Worte einen Schritt nach hinten – entfernte sich somit noch mehr von dem Chinesen, welcher nicht verstand, was Horohoro hatte. Der es nicht verstehen wollte. Nicht konnte.

Warum war Horohoro mit einem Mal so abweisend? Warum sah er ihn so hasserfüllt an? Dem Chinesen war als würde sich eine eiserne Hand fest um sein Herz schließen und langsam zudrücken. Er machte einen zögerlichen Schritt auf den anderen zu, wollte nicht aufgeben, konnte nicht akzeptieren, was sein Geist versuchte, ihm begreiflich zu machen. Horohoro konnte ihn doch nicht einfach so hassen.

„Bleib da stehen“, zischte der Stirnbandträger und ballte die Fäuste.

Ren hörte nicht auf ihn.

„Du sollst stehen bleiben“, wiederholte Horohoro eindringlicher, als Ren nicht die Anstalten machte, stehen zu bleiben.

„Horohoro, hör mir zu. Ich wollte nicht ... das alles hab ich nur –“
 

„Bleib stehen!“
 

oOo
 

„Ich hoffe, wir sind noch nicht zu spät“, keuchte Yoh im Rennen und aufrichtige Sorge lag in seiner Stimme.

„Vielleicht machen wir uns nur unnötig Sorgen und Ren hat ihn noch gar nicht gefunden“, meinte Chocolove mit wenig Optimismus in der Stimme.

/Ich kann die Präsenz von Bason spüren/, bemerkte Amidamaru, der unmittelbar neben Yoh schwebte und erstickte mit diesen Worten sämtliche Hoffnungen im Keim.

„Bist du dir sicher?“, fragte Yoh merklich beunruhigt.

/Ja. Bason war hier. Er ist sehr nah./

„Das heißt, Ren ist schon bei Horohoro“, brachte Chocolove die Tatsachen auf den Punkt. Die Tür ihres Hauses flog auf und die beiden Jungen eilten durch den Vorraum, die Treppen hinauf. /Auf dem Dach/, wies Yohs Schutzgeist ihnen die Richtung.

Sie erklommen die erste Treppe ins Obergeschoss, eilten über den Flur und die nächste Treppe zum Dach hinauf. Sie hörten ein dumpfes Geräusch von oben. In Yoh zog sich alles zusammen. Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe und traten in das Licht der Morgensonne hinaus. „Was zum –“, gab Chocolove ungläubig von sich.

Auch Yoh blieb stehen sich und starrte voller Entsetzen auf das Szenario, was sich ihnen bot. Warum hast du das getan, Horohoro?
 

oOo
 

/Meister Horohoro!/, rief Bason bestürzt aus und nahm seine menschliche Schutzgeistgestalt an.

Die Faust des Ainus zitterte noch immer, als er sie langsam sinken ließ und Ren ausdruckslos ansah. Der Chinese stand wie vom Donner gerührt da und starrte fassungslos zur Seite. Verschwunden war seine einstige Gelassenheit, seine Ruhe, seine eiserne Selbstbeherrschung. Der Schlag Horohoros hatte ihn unerwartet getroffen. Ein unangenehmes Ziehen ging von seiner Wange aus, doch war dies nichts im Gegensatz zu dem Chaos, welches in seinem Inneren wütete.
 

Ren war ein Mensch, der nie viel Wert auf kitschige Gefühle gelegt hatte. Wenn Yoh und die anderen von gut aussehenden Mädchen aus der Schule geredet hatten – dabei immer darauf bedacht, dass Anna sie nie dabei erwischte - hatte er selbst sich immer entschieden im Hintergrund gehalten und wenn Anna wieder eine ihrer Nachmittagsserien gesehen hatte, war er so schnell wie möglich außer Reichweite geflüchtet, bevor die Blonde ihn noch in dieses Nachmittagsritual mit einbezog, ihn womöglich über das Beziehungsraster aufklärte und ihm zu erklären versuchte, wer mit wem zusammen war oder wer sich erst kürzlich von wem getrennt hatte.

Es hatte ihn schlicht und ergreifend nicht interessiert, zumal er damals noch der Überzeugung gewesen war, dass er es überhaupt nicht zu wissen brauchte. Er hatte angenommen, ihn würde etwas Derartiges niemals treffen. Er hatte stets stumm den Kopf geschüttelt, wenn er von irgendwoher mitbekam, dass Menschen bei einer Trennung von einer geliebten Person Herzschmerz verspürten und litten. Er konnte nicht glauben, dass es einen solchen Schmerz überhaupt gab. Er kannte nur physischen Schmerz. Es war unmöglich, dass das Herz schmerzte, nur weil einem etwas Schlechtes widerfuhr.
 

Umso bestürzter war Ren, als er nun ein unerwartetes Ziehen in seiner Brust verspürte, welches unmöglich von dem Schlag des Ainus stammen konnte. Es schien ihm – so befremdlich es auch auf ihn wirkte – als würde sich sein Herz vor Leid zusammenziehen. Das Pochen in seiner getroffenen Wange war nichts gegen diesen reißenden Schmerz in seinem Inneren.

Er hob den Blick, den er starr auf den Boden gerichtet hatte und sah langsam zu Horohoro auf. Zögernd suchte er den Blick des Ainus, während er eine Hand hob und sie ungläubig auf seine getroffene Wange legte.Erst jetzt sickerte die Erkenntnis vollständig zu ihm durch. Horohoro hatte ihn geschlagen.

Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen waren sie schon oft aneinander geraten. Zwischen ihnen gab es unzählige Auseinandersetzungen und mehrfache Handgemenge bis hin zu heftigen Konfrontationen. Sie hatten sich bereits oft scherzhafte Kopfnüsse verpasst, Ren hatte mit seiner Waffe im Zorn den Ainu mehrfach nur knapp verfehlt. Doch geschlagen – richtig geschlagen – hatten sie sich noch nie.

Sein Blick wanderte das Gesicht des Stirnbandträgers hinauf, suchte seine Augen und er hielt inne. Rens Magen verkrampfte sich, als er sich der unterdrückten Wut in Horohoros Augen gegenübersah. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich dem anderen gänzlich unterlegen.

Dies war ein Gefühl, das er nicht kannte. Mit dem er nicht klarkam. Er konnte vieles verkraften, doch die offene Abneigung des Ainus machte ihm mehr zu schaffen, als er jemals befürchtet hatte. Es war, als hätte man ihm des Bodens unter den Füßen beraubt. Ungläubig schüttelte er den Kopf, als würde er durch diese Handlung den Zorn aus Horohoros Augen vertreiben können.

„Warum -“, setzte er zu einem kläglichen Versuch an, realisierte jedoch bereits im selben Moment welche Sinnlosigkeit sich dahinter verbarg und brach ab. Horohoro lag im Recht mit dieser Reaktion. Wahrscheinlich hasste ihn der Ainu bereits abgrundtief, weil er über alles Bescheid wusste und Ren für das, was er getan hatte, verurteilte. Er wandte den Blick ab und starrte auf den hellen steinernen Boden des flachen Daches. Der Schmerz in seinem Inneren drohte ihn zu überwältigen. Ruckartig drehte er sich um. Nicht vor Horohoro.
 

„Tut mir Leid.“
 

Nur diese Worte. Mehr brachte er nicht mehr hervor, dann setzten sich seine Beine wie von alleine in Bewegung, geleitet von dem unbändigen Schmerz in sich, welcher ihm gebot, sich so weit wie möglich von Horohoro zu entfernen, nur um diesem Blick nicht mehr ausgesetzt zu sein. Blind rannte er los, bemerkte nicht einmal Yoh und Chocolove, die durch seine Reaktion aufgeschreckt, versuchten, ihn aufzuhalten, ihm etwas hinterher riefen.

Er hörte nichts. Er sah nichts. Er spürte lediglich ...
 

Schmerz.

Schuld

17. Kapitel: Schuld
 

Achte auf Deine Gedanken,

denn sie werden Worte
 

Achte auf Deine Worte,

denn sie werden Handlungen.

 

Achte auf Deine Handlungen,


denn sie werden Gewohnheiten.
 

Achte auf Deine Gewohnheiten,


denn sie werden Dein Charakter.
 

Achte auf Deinen Charakter,


denn er wird Dein Schicksal.
 

Mit abwesendem Blick starrte Horohoro auf seine geballte Faust hinab. Ein sanftes Pochen ging von ihr aus und mit beinahe schon perfidem Interesse wurde sie von ihm betrachtet. Er war in seinem Leben selten außerhalb eines Schamanenkampfes handgreiflich geworden – das letzte Mal, an das er sich bewusst erinnern konnte war sein kürzlich ereigneter Kontrollverlust gegenüber Yoh gewesen, aber sonst? Und nun hatte es Ren getroffen.

Seine Faust verkrampfte sich, während seine Knöchel hell hervortraten. Er lag im Rech. Es war nur gerecht, dass er sich Ren gegenüber so verhalten hatte.

Ein geringer Teil von ihm protestierte gegen diese Behauptung, doch er drängte ihn rasch zurück, fixierte sich verbissen auf diese Gewissheit, um den Schmerz, der schon so lange in ihm wütete nicht noch stärker zu machen.
 

Ren hatte sie verraten und war auf Haos Seite gewechselt.

Ren hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er nichts mehr von ihm wissen wollte.

Ren hatte im Stadion versucht, ihn umzubringen.
 

Diese Gewissheit schmerzte am meisten von all dem, was in den letzten Tagen geschehen war. Er hatte damit leben können, dass Ren nicht mehr zu ihnen gehörte, doch das Wissen um das tatsächliche Ausmaß Rens Hasses war wie ein Dorn, der sein Herz durchbohrte und nicht gewillt war, es zu verschonen. Es war nur gerecht, dass er Ren einen Teil dieses Schmerzes hatte zurückgeben wollen. Auch, wenn er wahrscheinlich nur physisch war.

Ein fester Griff um seine Schulter ließ ihn augenblicklich wieder in das Hier und Jetzt zurückkehren. Er spürte, wie er herumgerissen wurde und sah sich unmittelbar einem Paar zornig funkelnder brauner Augen gegenüber.

Der Griff um seine Schulter nahm zu und ein beklemmendes Ziehen ging von ihr aus. Horohoro wollte protestieren, doch Yoh kam ihm zuvor „Was sollte das?!“, fuhr er ihn ungehalten an, während sich seine Augen vor Wut verengten. „Warum hast du das getan?“

Horohoros Blick wanderte an Yohs Gesicht hinauf, blieben an dessen Augen hängen. „Weil er es verdient hat“, antwortete er tonlos, ohne die geringste Spur von Reue.

Fassungslosigkeit breitete sich auf dem Gesicht des Braunhaarigen aus, bevor seine Miene sich schlagartig verdüsterte. „Was willst du damit sagen?“, fragte er leise und seine Stimme klang bedrohlich.

„Dass es ihm recht geschieht. Er hat nichts anderes verdient, wenn –“

Er brach gezwungenermaßen ab, da der Griff um seine Schulter sich um ein weiteres verstärkt hatte und der Schmerz allmählich den Bereich des erträglichen verließ. Seine Worte schienen der letzte Funke gewesen zu sein, der Yoh endgültig die Fassung verlieren ließ. Er hob die andere Hand und krallte sie in Horohoros freie Schulter. „Kannst du mir mal sagen, was in dich gefahren ist?!“, schrie Yoh ihn an.

Horohoro wollte zurückweichen, doch die Hände hielten ihn davon ab. Er hatte Yoh noch nie so außer sich gesehen.

„Was soll das heißen ‚er hat es verdient’?! Ist dir eigentlich klar, was du da gerade getan hast?“

Horohoro verstand nicht, was auf einmal in ihn gefahren war. Yoh wusste doch, wie er für Ren empfunden hatte - er war es doch überhaupt gewesen, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Warum stellte er sich auf einmal gegen ihn?!

Unbändige Wut wallte in ihm auf und er riss sich ruckartig von Yoh los, machte einige Schritte zurück und brachte somit Abstand zwischen sie.

„Ich habe ihn geschlagen!“, schrie er dem Braunhaarigen in derselben Lautstärke entgegen. „Und ich hatte verdammt Recht damit, um das mal klar zu stellen!“

„Einen Dreck hattest du!“, entgegnete Yoh und Horohoro schreckte bei diesen Worten zurück, hatte er den anderen doch noch nie derart mit jemandem reden hören. Schlagartig wuchs die Wut in ihm, wurde beinahe unerträglich. Seine Enttäuschung über Ren und der Verrat Yohs waren wie Salz, das in eine offene Wunde gestreut wurde.

„Sei still! Du hast doch keine Ahnung!“

„Ich habe sehr wohl eine Ahnung! Wahrscheinlich habe ich sogar mehr Ahnung, als du, so wie du dich hier aufführst!“

„Was soll das denn heißen?! Willst du mir damit etwa sagen, ich wüsste nicht, was hier vor sich geht?!“

„Ja, genau das will ich. Du hast rein gar nichts erkannt, wenn das deine Reaktion darauf ist!“

Ein unkontrollierbares Zittern ergriff von dem Ainu Besitz. Er hob die Arme und umschlang schützend seine Körper mit ihnen, ganz so, als würde er mit dieser Geste den Schmerz, den Yohs Worte in ihm verursachten, verdrängen können. „Was weißt du denn schon?!“, schrie er Yoh aufgebracht an. „Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt!“

Bei diesen Worten wich der Zorn aus Yohs Gesicht. Erstaunt blickte er auf den Ainu, welcher den Kopf schüttelte, während das Zittern noch immer nicht von ihm weichen wollte. Chocolove, welcher die ganze Zeit über stumm hinter ihm gestanden hatte trat langsam näher, bis er auf Höhe mit Yoh war. Auch er war überrascht.

„Du hast keinen Schimmer, wie es ist!“, schrie Horohoro weiter, schien die Reaktion der beiden nicht bemerkt zu haben. Seine Augen blickten ins Leere. „Du weißt nicht, wie weh es tut, zu wissen, dass er dich ohne zu zögern verraten würde, dass er dich abgrundtief hasst, dass alles nur gespielt war, dass er versucht hat, dich umzubringen. Es tut weh und ich will, dass es endlich aufhört. Er hat es verdient, wenn damit nur ein Teil dieser Schmerzen endlich verschwindet!“

Yoh schluckte schwer. Er hatte mit etwas in der Richtung gerechnet, doch dass es so schlimm um den Ainu stand hätte er nicht erwartet. Er machte einige zögerliche Schritte auf den anderen zu. „Horohoro“, meinte er ruhig, doch dieser wich nur noch weiter vor ihm zurück, schüttelte heftig den Kopf.

„Hör auf damit. Ich will es nicht mehr hören!“

Yoh folgte dieser Bewegung, bis er unmittelbar vor Horohoro stand. Er hob eine Hand und legte sie zaghaft auf die Schulter des anderen. Dieser zuckte unter der Berührung zusammen, blieb jedoch wo er war. „Horohoro“, wiederholte Yoh eindringlich und diesmal zeigte es Wirkung. Der Ainu hob den Blick und sah Yoh an. In ihnen spiegelten sich Schmerz und Enttäuschung wider.

„Was ist auf einmal mit dir los?“, fuhr Yoh ruhig fort. „Noch vor wenigen Tagen hast du mir selbst gesagt, dass du glaubst, Ren hätte einen Grund gehabt, die Seiten zu wechseln.“

Horohoro wandte den Blick ab. „Das mag sein, aber – “

„Und Ren wollte dich während es Kampfes auch nicht umbringen. Um ehrlich zu sein“, Yoh zögerte, wusste er doch nicht, ob dies der richtige Moment war, um es dem Ainu zu eröffnen, beschloss dann jedoch, dass dieser ein Recht darauf hatte, es zu erfahren, „eigentlich war es eher umgekehrt der Fall.“

Sämtliche Farbe wich aus Horohoros Gesicht. „Umgekehrt?“, keuchte er entsetzt und Bildsequenzen, die er zunächst nur für einen Traum gehalten hatte, erschienen vor seinem inneren Auge.
 

Er, wie er über Ren stand, welcher am Boden lag, den Eishammer in der Hand.

Er, wie er zum vernichtenden Schlag ansetzte.

Er, wie er versuchte, Ren zu töten.
 

„Das kann nicht sein“, stieß er ungläubig hervor. Ein Würgen bahnte sich seine Kehle hinauf, als er sich vorstellte, wie er Ren umbringen wollte, doch er drängte es zurück. Übelkeit nahm ihm für einige Augenblicke die Sicht. „Ich wollte doch nie ... ich hatte nie vor“, stammelte er halb benommen, nicht imstande gänzlich zu realisieren, was Yoh ihm soeben eröffnet hatte.

„Ich weiß“, meinte Yoh einfühlsam und seine Stimme riss Horohoro aus seiner vorläufigen Lethargie. Zögernd blickte er zu dem anderen auf. „Es warst auch nicht du, der Ren umbringen wollte. Hao hatte für eine bestimmte Zeit die Kontrolle über deinen Körper.“

„Hao?!“ Eine neue Erinnerung erschien vor seinem geistigen Auge. Eine schmeichlerische Stimme, die ihn zu sich lockte, die ihm versprach, den Schmerz, den er bei Rens Anblick empfunden hatte, von ihm zu nehmen, ihn davon zu befreien. Bitterkeit keimte in ihm auf. Er war dieser Stimme blind gefolgt!

„Ren hat versucht, dich wieder zurück zu holen, doch war ihm klar, dass dies nur gelingen würde, wenn er dich besiegt“, fuhr Yoh fort, nahm seinen besorgten Blick dabei nicht von dem Ainu, welcher von Wort zu Wort mehr in sich zusammensank.

„Warum?“, fragte Horohoro nach einiger Zeit leise. Seine Stimme schwankte und war nahe daran, zu brechen, doch er verhinderte dies. Vorerst. „Warum hat er versucht, mich zurückzuholen, wenn er uns doch verraten hatte?“

Yoh atmete einmal tief ein und aus, bevor er schließlich antwortete. „Wie du schon vor ein paar Tagen richtig erkannt hattest, hat Ren einen Grund dafür, uns zu verraten. Er wechselte nicht freiwillig auf Haos Seite. Mein Bruder hatte in Druckmittel, das ihn dazu zwang.“

„Wen?“, fragte Horo und hob den Blich, sah Yoh direkt in die Augen. „Etwa Jun? Aber sie war doch die ganze Zeit hier.“

„Hao braucht keine Geisel als solches, um jemanden zu erpressen. Wenn er es wirklich will, kann er Leuten schaden zufügen, ohne sie überhaupt zu sehen. Aber nein, es war nicht Jun.“

„Wer dann?“

Und als Yoh seinen Blick erwiderte, ihn eindringlich und voller Ernst ansah, da wusste er es, noch bevor der Braunhaarige es aussprach. „Du warst es.“
 

oOo
 

Er wusste nicht, wie lange er gerannt war. Er nahm kaum wahr, dass er blindlings durch die Straßen Doby Villages stolperte, Menschen anrempelte und hörte nicht, wie sie sich über diese Unachtsamkeit beschwerten.

‚Verschwinde!’

Horohoros Worte hallten einem Echo gleich in seinem Kopf nach, malträtierten seinen Verstand und er hielt sich die Ohren zu, wollte es nicht mehr hören.

‚Ich will nichts von dir hören!’

Rens Schritte beschleunigten sich merklich, als er blindlings in eine Seitenstraße bog. Es sollte aufhören!

‚Bleib da stehen!’

Er rannte, seine Lungen schmerzten, verlangten nach einer Pause, nach mehr Sauerstoff, doch er ließ es nicht zu, wollte es nicht zulassen. Seine angebrochene Rippe sandte protestierend ob der Strapazierung Schmerzwellen durch seinen Körper, doch er war nicht gewillt stehen zu bleiben. Eher würde er seinen Körper an die Grenzen seiner Leistung treiben. Diese Schmerzen sollten den psychischen Schmerz überdecken. Sein Herz raste, schlug ihm bis zum Hals, doch er rannte weiter in die dunkle Gasse hinein.

‚Bleib stehen!’

Er riss die Augen auf und blieb von einer Sekunde auf die andere unvermittelt stehen. Einem Aufschrei gleich hatte er diese Worte vernommen und für wenige Augenblicke war ihm, als würde er wieder vor Horohoro stehen. Doch dann verschwamm dieses Scheinbild und er erkannte, wo er sich wirklich befand.

Seine Augen weiteten sich, als er realisierte, dass er kaum einen halben Meter von einer rissigen Mauer entfernt stand.

Langsam ließ er die Hände sinken, die bis dahin noch immer auf seinen Ohren verweilt hatten. Schwer schluckend wurde ihm bewusst, dass er in seinem Wahn in eine Sackgasse gebogen war, ohne es zu merken. Wenn Horohoros Worte ihn nicht in die Realität zurück geholt hätten, dann ...

Der Spruch ‚mit dem Kopf durch die Wand’ hätte eine völlig neue Bedeutung bekommen. Er schüttelte den Kopf. Es war nicht der richtige Moment für Sarkasmus.

Das penetrante Stechen in seiner Brust erinnerte ihn daran, warum er sich tatsächlich hier befand. Unwillkürlich begann er zu zittern. Seine Beine drohten, ihm den Dienst zu quittieren und rasch lehnte er sich an die nächste Wand, krallte eine Hand dabei Halt suchend in das feste Gestein. Sein Atem ging stoßweise und nur schwerlich beruhigte sich sein Herzschlag, weigerte sich jedoch letztendlich, wieder den gewohnten Rhythmus einzunehmen. Noch immer schlug es schnell, pumpte Blut durch seinen Körper, der nun umso deutlicher zeigte, wie sehr ihm Rens plötzlicher Sprint missfiel. Seine Rippen meldeten sich mit einer eindeutigen Beschwerde, ein Stechen breitete sich in seinem Oberkörper aus und er hob keuchend die Hand, presste sie in einem halbstarken Versuch, den Schmerz abnehmen zu lassen, darauf.

Schwer atmend sackte er an der Wand hinab, als seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten, sein Körper von einer unabwendbaren Schwäche übermannt wurde.

Er senkte ergeben den Kopf und ein gnadenloser Schmerz jagte durch seinen Nacken, ließ ihn aufstöhnen und noch weiter in sich zusammensacken. All die Schmerzen, die nach Verlassen des Krankenbettes vorhin zu ignorieren versucht hatte, schienen nun auf ihn einzuströmen. In einem letzten Versuch, das ganze so erträglich wie möglich zu machen, drehte er sich so, dass er mit dem Rücken an die Wand gelehnt halb auf dem Boden saß. Die Knie zog er an und verbarg sein Gesicht in seinen Armen. Wäre er doch bloß niemals heute Morgen aufgewacht.

Dieser Tag hatte sich von einem Albtraum zu einer Katastrophe entwickelt und sein Herz schien sich bei jedem Schlag zu verkrampfen. Dieser Schmerz war nicht mit den trivialen Blessuren seines Körpers gleichzusetzen.

Er hatte in wenigen Augenblicken erfahren, dass psychischer Schmerz weit über den körperlichen hinausging. Dass wenige Worte, wenige Gesten einen Menschen zerstören konnten.

Er hob die Hand und tastete nach seiner leicht pochenden Wange. Horohoro hatte einen harten Schlag. Wahrscheinlich lag dieser an all dem Hass, den der Ainu für ihn empfand. Ein bitteres Lächeln erschien auf Rens Zügen, während seine Hand sich in seine Wange krallte. Ja, das musste es sein. Horo hatte es noch nie geschafft, seine Gefühle im Zaum zu halten. Immer hatte er sie aller Welt offenbaren müssen. Immer ... und immer wieder ...

Er biss sich auf die Lippen.

Das war typisch für Horohoro. So war er. Der enthusiastische, gefühlsgesteuerte, tollpatschige Ainu.

Seine Augen schlossen sich von alleine.

Mit dem Herzen auf der Zunge, der kaum einem Menschen gegenüber negative Gefühle empfand ...

Er hob die Hände und krallte sie in seiner Haare. Eine Welle der Hoffnungslosigkeit übermannte ihn, verschlang ihn.

Warum hörte dieser Schmerz nicht auf?! Wie lange sollte er noch warten, bis seine Seele es endlich akzeptierte, sein Herz wieder normal schlug und er nicht mehr das Gefühl hatte, als hätte man ihm etwas Wichtigem beraubt?! Warum hatte er Horohoro auch verraten müssen?!

Er hob den Kopf gen Himmel. Die Sonne war auf dem Weg in den Zenit, vereinzelte Wolken störten das klare Blau, welches sich über ihm ausbreitete, ein Vogel flog über Doby Village hinweg. Ein Falke. Rens Augen öffneten sich, als er die Stimme erhob und den Schmerz aus seiner Seele entließ: „Warum musste ich ihm das antun?!“

Und am Himmel schrie der Falke, als wolle er damit Rens Verzweiflung, die stumme Frage nach der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, mit ihm teilen.
 

oOo
 

Horohoro saß auf seiner Schlafmatte. Den Blick voller Unglauben auf seine Hände gerichtet, war er bereits seit Stunden nicht mehr ansprechbar. Unverwandt ruhten seine Augen auf den Händen, die Ren verletzt hatten, die ihm grundlos Schaden zugefügt hatten – in dem Glauben, das Richtige zu tun.

Wie er es überhaupt zurück in ihr Zimmer geschafft hatte entzog sich seinem Wissen, es interessierte ihn jedoch wenig.

Yohs Worte, die Offenbarung von Rens Handlungsmotiv, war wie ein Schlag mitten ins Gesicht gewesen. Seine Ansichten waren schlagartig über den Haufen geworfen worden und das kurze Glücksempfinden darüber, dass Ren sie doch nicht freiwillig verraten hatte wurde augenblicklich von der schrecklichen Last der Schuldgefühle übermannt. Er hatte Ren mehr als nur Unrecht getan. Er war es, der dadurch Ren verraten hatte. Nicht umgekehrt.

Wie hatte er nur so blauäugig sein können? So selbstsüchtig. So dumm. Er hasste sich selbst für das, was er getan hatte, mehr denn je. Der Schmerz darüber, dass er seinen einstigen Traum durch das Ausscheiden aus dem Schamanenturnier nicht verwirklichen konnte war gering dagegen, selbst die Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und Verzweiflung die er verspürt hatte, in dem Glauben, Ren habe ihn töten wollen erschienen nichtig gegen diese Empfindungen.

Huh! Kororo spürte seine innere Aufgewühltheit. Sie saß auf seiner Schulter, das grüne Blatt in der Hand und schmiegte sich tröstend an seinen Hals. Mach dir nicht solche Vorwürfe, schien diese Geste zu sagen, doch nahm Horohoro sie nicht wirklich wahr.

„Wie konnte ich nur?“, fragte er sich zum unzähligsten Mal. Er hatte diese Frage schon so oft in den leeren Raum gestellt. Nie hatte er eine Antwort auf sie gefunden. „Wie konnte ich ihm das antun?“

/Meister Horohoro?/

Der Ainu zuckte zusammen, als habe man ihn geschlagen und wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich, als er Bason erblickte, der im Eingang zu dem Zimmer schwebte und ihn besorgt musterte.Angst erschien in Horohoros Augen und er wich leicht zurück. „Was willst du?“, fragte er beinahe schon mit einer Spur Panik in der Stimme.

Bason kam zaghaft näher, hielt jedoch inne, als Horohoro weiter zurückwich. /Ich will dir nichts tun/, meinte er behutsam und betrachtete den verschreckten Ainu mit einer Mischung aus Sorge und Mitleid. /Ich bin nur hier, um mit dir zu reden. Du wirkst aufgewühlt und verwirrt./

Horohoro lachte auf. Es war ein kaltes, gefühlloses Lachen. „Aufgewühlt bin ich, ja. Verwirrt weniger. Aber warum willst ausgerechnet du mit mir reden? Du solltest mich hassen, nach allem, was ich Ren angetan habe.“ Seine Stimme schwankte verdächtig und er wandte den Blick ab, starrte gebannt auf den Boden des Zimmers. „Du solltest mich mindestens genauso hassen, wie ich es tue.“

Bason seufzte. /Ich hasse dich aber nicht. Genauso wenig wie Meister Ren dich hasst./

Horohoros Kopf schnellte bei diesen Worten in die Höhe. „Woher willst du das wissen?!“, fragte er aufgebracht. „Ich habe ihn verletzt – ich habe ihn geschlagen! Wir haben uns in unserem Leben noch nie geschlagen, aber ich habe es getan! Damit habe ich alles zerstört!“ Er sprang auf, blickte voller Zorn auf Bason, welcher seinem Ausbruch stumm folgte. Es schien so, als bräuchte der Ainu jemanden, bei dem er sich aussprechen konnte, dem er sagen konnte, was derzeit in ihm vorging, auch wenn er es sicherlich abstreiten würde, sollte man ihn direkt danach fragen. „Ich dachte, ich könnte ihm die Schuld für alles geben, ihn dafür hassen, dass er mich so verletzt hat und jetzt stellt sich heraus, dass dieser Hass – dies alles – vollkommen unbegründet ist! Nicht einmal Hao kann ich jetzt noch die Schuld geben, denn letztendlich bin ich der Grund dafür, dass Ren dies alles geschehen ist! Ich bin es, nicht Ren oder Hao! Einzig ich – alleine durch die Tatsache, dass ich existiere. Und als ob das nicht genug ist, muss ich Ren auch noch zum Dank für alles schlagen. Er muss mich dafür einfach hassen! Dafür und für den anderen Schmerz, der ihm durch mich widerfahren ist!“

Seine Augen brannten fürchterlich, doch er ließ es nicht zu. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Er

durfte nicht noch schwächer werden, als er ohnehin schon war!

/Denkst du nicht, dass Ren sich dessen durchaus bewusst war, als er Haos Forderung zugestimmt hat?/ Basons Stimme war ruhig, sein Blick ernst auf Horohoro gerichtet, welcher den Schutzgeist ungläubig ansah. /Glaubst du nicht, dass Ren wusste, was es für Konsequenzen haben würde, wenn er euch verriet – wenn er dich verriet?/

Der Ainu schluckte schwer, er senkte den Blick. „Doch ... das nehme ich an, aber –“

/Und dennoch hat er es getan/, fuhr Bason unbeirrt fort. Sein Blick wurde milder. Er sah Horohoro, der auf ihn wie ein verlorenes Kind auf ihn wirkte – ja, genauso wie Ren schon oft in seinen Augen ausgesehen hatte – beinahe schon väterlich an. /Er hat es getan, weil er nicht wollte, dass dir etwas geschieht. Er wusste, du würdest ihn für diesen Verrat hassen, doch er tat es trotzdem. Und der Gedanke an deinen Hass schmerzte ihn sehr. Beinahe wäre er daran zugrunde gegangen./

Horohoros Blick trübte sich, Seine Sicht verschwamm. Hastig hob er den Arm und wischte sich fahrig über

die Augen. „Dass -“, er stockte und musste sich einige Sekunden sammeln, bevor er weiter sprach, „ich wusste nicht, dass es so um ihn stand. Ich ... anfangs verstand ich sein Handeln nicht, ich war verletzt und verurteilte es. Doch dann erkannte ich irgendwann, dass der Ren den ich kannte - den wir alle kannten - niemals grundlos so handeln würde. Ich nahm an, dass es etwas geben musste, dass Ren dazu gebracht hatte. Ich klammerte mich an diesen Gedanken, in der Hoffnung, er würde stimmen. Und ... nachdem Hao die Kontrolle über mich übernommen hatte ... ich dachte wirklich, Ren würde versuchen, mich umzubringen. Dieser Gedanke tat unendlich weh und nach dem Kampf war ich davon überzeugt, Ren habe uns tatsächlich verraten. Das, was mich daran jedoch am meisten schockiert ist ...“ Er brach ab, nicht imstande, den Satz zu Ende zu führen. Die grausame Realität schmerzte mehr,

als alles andere. Er amtete stoßweise ein und aus, sein Herzschlag erschien ihm mit einem Mal unnatürlich schnell. Unsicher fuhr er fort: „Es war nicht die Nachwirkung von Haos Kontrolle, die mich so denken ließ. Diese feste Überzeugung kam von mir. Mein Verstand und mein Herz waren zu diesem Schluss gekommen und ich glaubte wirklich daran. Dafür habe ich ihn gehasst.“ Er schüttelte sich aus Abscheu vor sich selbst. „Ich habe es tatsächlich geglaubt, ich kann es nicht fassen! Ren hat so vieles durchgemacht und nach alldem ist der einzige Dank, dem ich ihm dafür entgegenbringe ein Schlag ins Gesicht. Verabscheuungswürdig, mehr bin ich nicht!“

/Das stimmt nicht/, warf Bason ruhig dazwischen. /Alleine die Tatsache, dass du deine Fehler erkannt hast, zeugt von Stärke. Menschen irren sich. Sie machen Fehler. Sie glauben manchmal Dinge, für die sie sich später verurteilen. Meiste Ren wird dies verstehen. Auch er hat in seinem Leben Fehler begangen, für die er sich noch heute schuldig fühlt./

„Ich kann ihm nie wieder in die Augen sehen“, flüsterte Horohoro gebrochen, den Blick ausdruckslos an die gegenüberliegende Wand gerichtet. „Nicht nach alldem, was geschehen ist.“ Er zögerte, schien mit sich selbst zu ringen, dann fuhr er an Bason gewandt fort: „Tut mir Leid, aber ... ich muss jetzt alleine sein. Kororo.“ Das Mädchen verstand und erhob sich von seiner Schulter. Mitleidvoll sah sie ihm nach. Horohoro wandte sich ab und verließ schnellen Schrittes das Zimmer.

Bason blickte auf den Schutzgeist hinab. /Du hast einen außergewöhnlichen Meister. Ich verstehe, warum Ren so viel an ihm liegt./

Und Kororo lächelte ihn an.
 

oOo
 

„Es wäre zwecklos, jetzt mit ihm zu reden.“ Yoh nahm dankend die mit Tee gefüllte Tasse von Anna entgegen. Leise seufzte er, dann nahm er zaghaft einen Schluck von dem heißen Getränk. Die Blonde goss sich ebenfalls ein wenig davon ein, dann reichte sie die Kanne an Chocolove weiter.

„Wie lange ist er schon dort oben?“, fragte sie.

„Bald sind es zwei Stunden. Ren ist auch schon so lange verschwunden.“

„Er könnte mittlerweile überall sein“, warf Chocolove ein, nahm sich einen Keks aus der Schale, die auf dem hölzernen Tisch stand und biss eine Ecke davon ab. Mic ist von der Suche noch nicht zurückgekehrt – entweder hat Ren einen wirklich sicheren Ort gefunden, oder er hat längst das Land verlassen.“

Anna warf ihm einen strengen Blick aus den Augenwinkeln zu. „Man macht keine Witze“ – Chocolove zuckte ertappt zusammen – „beim Tee trinken.“

Der Dunkelhäutige verschluckte sich an seinem Keks und fing haltlos an zu husten. Nur knapp entging er dem Erstickungstod, woran Yoh nicht ganz unschuldig war, hatte er sich doch letztendlich dazu erbarmt, dem Komiker fest auf den Rücken zu schlagen.

„Und da sagt man mir, ich sei makaber“, murmelte Chocolove mit einem verstohlenen Blick auf die Blonde,

während er schmollend an seinem Rest Keks knabberte. „Beim Tee trinken ... also echt ... kein Funken Mitgefühl.“

„Das musst du gerade sagen, Möchtegern-Unterhalter“, gab Anna spitz zurück.

„Ich versuche nur, die Leute aufzumuntern, wenn sie traurig oder besorgt sind“, widersprach Chocolove empört und wedelte, seine Worte damit zusätzlich unterstriechend, mit seinem Keks vor Annas Gesicht hin und her. Sie verzog missbilligend den Mund.

„Sollten wir ihn nicht besser selbst suchen?“, meinte Yoh mit einem besorgten Blick auf die Uhr, die Auseinandersetzung der beiden schlichtweg nicht beachtend. „Er ist noch immer nicht wieder ganz fit, wer weiß, was ihm noch passiert.“

„Das bringt nichts“, entgegnete seine Verlobte unbeirrt und trank, Chocolove ignorierend, in aller Ruhe ihren Tee weiter. „Er will offenbar nicht gefunden werden, ansonsten hätte Chocoloves Schutzgeist ihn längst zurückgebracht oder uns zumindest über seinen Aufenthaltsort informiert.“

„Auch wieder wahr“ Erneut seufzte Yoh

/Nimm es nicht so schwer Yoh/, meinte Amidamaru tröstend. /Er wird sicher bald von alleine zurückkommen./

„Seine körperliche Verfassung beunruhigt mich nur an zweiter Stelle. Viel mehr mache ich mir Sorgen ...“ Seine Worte verklangen, als sie schnelle Schritte und Gepolter hörten, welche eindeutig aus Richtung der Treppe stammten. Wenige Sekunden später sahen sie Horohoro über den Flur, an dem Aufenthaltsraum vorbei und in Richtung Tür eilte.

„He, Horohoro!“ Yoh erhob sich, doch die Tür des Hauses fiel bereits wieder zu. Langsam ließ er sich zurück auf seinen Platz sinken. Eindringlich sah er Anna an. „Wir sollten ihn nicht ohne weiteres gehen lassen.“

Das Mädchen stellte ihre Tasse ab und setzte gerade zu einer Antwort an, da erklang hinter ihnen Basons Stimme: /Das ist nicht nötig. Was zu klären ist, wird sich klären./

„Wie meinst du das?“, wollte Chocolove interessiert wissen. Sein Keks war bereits aufgegessen und unter Annas strengen Blicken wagte er es nicht, sich einen neuen zu nehmen.

/Ich habe mit ihm geredet. Er hat Schuldgefühle – sogar sehr starke, aber ich bin davon überzeugt, dass er sich wieder fängt. Er ist stark, ich glaube sogar noch stärker als Ren./

„Und was ist mit ihm?“, fragte Yoh, noch immer nicht zur Gänze überzeugt. „Solltest du nicht zumindest mit ihm reden?“

Bason schüttelte den Kopf. /Dieses Mal kann ich ihm nicht helfen. Ren ist gefangen in seinem Schmerz und nur Horohoro wird es schaffen ihn aus diesem Käfig zu befreien./

„Hast du ihm das gesagt?“, harkte Yoh nach.

/Nein, auch darauf muss er alleine kommen. Es würde für sie nie eine Zukunft geben, wenn sie nicht selbst erkennen, was zu tun ist./

„Er hat Recht“, stimmte Anna zu, während sie sich Tee nachgoss. „Horohoro weiß jetzt, wie Ren für ihn empfinden muss. Ren tut dies nicht – es liegt also an Horohoro, den ersten Schritt zu tun. Zumindest muss er es sein, der auf Ren zugeht. Das muss er von sich aus erkennen.“

„Diesmal bin ich ganz Annas Meinung“, stimmte Chocolove zu und hob die Hand. „Nicht, dass ich das sonst nicht wäre“, fügte er rasch hinzu, nachdem er einen gefürchtete Blick der Blonden geerntet hatte, „aber das Ganze ergibt durchaus einen Sinn. Wir können wohl nichts anderes tun, als abwarten und Tee zu trinken.“ Demonstrativ nahm er einen Schluck aus seiner Tasse.

„Ja, offenbar“, meinte Yoh schließlich. Er stutzte, dann erschien ein Lächeln auf seinen Zügen. „Hey Chocolove,

das war jetzt tatsächlich witzig.“

„Wie?“ Chocolove war von diesen Worten sichtlich überrascht. „Findest du echt?“ Seine Augen begannen zu leuchten. Und zur Feier dieser Premiere gönnte er sich noch einen Keks. Anna schüttelt nur stumm den Kopf, während Bason den Blick aus dem Fenster gen Himmel schweifen ließ.

/Ihr müsst es alleine schaffen. Vertraut auf euch. Ihr seid stark. Ihr müsst nur eure Ängste überwinden und es erkennen./

Sühne

18. Kapitel: Sühne
 

Reue ist Verstand, der zu spät kommt.

Ernst Freiherr von Feuchtersleben
 

Ren wusste nicht, wie lange er in der Dunkelheit der Gasse gesessen hatte. Von Verzweiflung zerfressen hielt er es irgendwann einfach nicht mehr aus. Sein Körper hatte mit der Zeit aufgehört zu schmerzen, eine kalte Taubheit hatte von ihm Besitz ergriffen und zitternd hatte er sich aufgerichtet. Seine Beine wollten ihn kaum tragen, doch er zwang sie rücksichtslos dazu und begann seinen Marsch. Wohin dieser ihn führte, war ihm selbst schleierhaft. Er wollte nicht hier bleiben, nicht in dieser Dunkelheit sitzen, die langsam von ihm Besitz zu ergreifen schien, doch zurück wollte er ebenso wenig.

Letztendlich überließ er seinem Unterbewusstsein die Kontrolle, welches wie von alleine einen Weg einschlug, ihn durch die Straßen und aus Dolby Village hinaus führte. Er kam an Menschen vorbei, die ihm genauso wenig Beachtung schenkten, wie er ihnen.

Obgleich er ein bizarres Bild bieten musste, nur mit Hose und Schuhen bekleidet, der Rest des Körpers von Verbänden umgeben, hielt ihn niemand auf. Menschen waren dafür bekannt, Dinge, die sie nicht sehen wollten auch tatsächlich nicht wahr zu nehmen. Doch es kümmerte ihn nicht, dachte er doch nicht einmal darüber nach. In seinem Kopf herrschte erdrückende Leere.

Schließlich ließ er auch die letzten Häuser hinter sich, steuerte nun den Wald an. Der einzige Ort, der ihm noch Schutz bieten konnte. Vereinzelte Lichtstrahlen fanden den Weg durch die Kronen der Bäume, schafften es letztendlich bin zum Waldboden zu gelangen und spendeten hie und da schwaches Licht. Wie von selbst trugen seine Beine seinen müden Körper auf den ersten Baum am Waldrand zu, dann quittierten sie ihm vollends den Dienst. Wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, sackte er an dem Baumstamm hinab, lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an selbigen und schloss die Augen.

Die Geräusche des Waldes erfüllten ihn und schenkten seiner malträtierten Seele ein wenig Linderung. Bleierne Müdigkeit legte sich in seine Glieder, doch er ließ es nicht zu, dass der Schlaf ihn übermannte. Er wusste, dass es für seinen Zustand verheerende Folgen haben würde, wenn er nun einschlief.

Noch immer meinte er, Horohoros hasserfüllte Stimme hören zu können, noch immer zog sich sein Herz bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammen und noch immer pochte seine Wange unaufhörlich. Doch er hatte es längst aufgegeben, nach dem warum zu fragen. Sein verbitterter Geist hatte es nicht akzeptiert, doch er war es müde geworden. Es war ganz einfach so. Unvermeidbar. Unabänderbar.

So wie alles, was ihm in seinem Leben widerfahren war. Wahrscheinlich hatte er in seinem vorherigen Leben eine Todsünde begangen und musste nun dafür büßen.

Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen. Sicher, so musste es sein. Wahrscheinlich hatte er etwas Unverzeihliches getan. Wenn er in diesem Leben so weitermachte, würde sein nächstes mit Sicherheit auch nicht viel besser aussehen. Ein leises, freudloses Lachen entwich seinen Lippen. „Ich habe es verdient, anders kann man es nicht erklären.“
 

Und der Wind erfasste seine Worte, trug sie davon, hinein in das Blau des Himmels.
 

oOo
 

Horohoro war sich nicht bewusst, wohin er eilte. Seine Beine schienen einen eigenen Willen entwickelt zu haben, trugen ihn durch die Straßen Doby Villages. Die Mittagshitze hatte den Großteil seiner Bewohner in ihre Häuser gedrängt und nur selten sah er jemanden.

Er kam an einem Restaurant vorbei und hielt abrupt inne. Sein Blick war auf das bunte Schild neben dem Eingang gerichtet. Erinnerungen kamen in ihm auf. Bilder von ihm, Ren und Chocolove, wie sie oft in diesem Restaurant zu Mittag gegessen hatten – durchgängig Chinesisch. Beinahe fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt. Er meinte sogar sich und die anderen beiden auf den leeren Stühlen ihres Stammtisches sehen zu können. Schwache Konturen zeichneten sich in der flimmernden Mittagsluft ab und ihre Stimmen hallten in seinem Kopf nach.
 

„Warum muss es jeden Tag Chinesisch geben?!“

„Komm mal wieder runter, Schneemann. Es war dein Vorschlag, den Gewinner wählen zu lassen. Und da ich nun mal gewonnen habe ...“

„Aber du hast gemogelt!“

„Wie hätte ich mogeln sollen? Du hast die Spiele ausgesucht, ich war gar nicht in der Lage, sie zu manipulieren.“

„Jetzt tu nicht so cool und sieh mich gefälligst an, Spitzkopf!“

„Ist das Blickkontakt genug? Oder willst du noch mehr?“

„Äh ... du hättest nicht gleich so nahe kommen müssen ...“

„Erst danach verlangen und sich dann beschweren? Feine Manieren hast du.“

„Das sagt der Richtige! Wer führt sich denn immer auf, wie Herr Ich-kann-und-weiß-alles-besser, he?!“

„Ähm ... Jungs? Beruhigt euch, der Besitzer sieht uns schon so komisch an. Ich sag euch, wenn ihr so weiter macht wirft man uns noch hochkantig aus dem Laden. Und dann sind wir nicht nur ‚ladenlos’, sondern regelrecht ‚entladen’.“

„Chocolove!“

„He, jetzt seht mich doch nicht gleich so an. Das war doch nur ein Witz!“
 

Die Stimmen verklangen, ebenso wie ihre Gestalten verblassten. Kopfschüttelnd wandte Horohoro sich ab, fasste sich an die Stirn. Er sollte so bald wie möglich aus der Sonne raus.

Wie von selbst setzten seine Beine sich wieder in Bewegung, trugen ihn weiter. An kleinen Cafés vorbei, bis er schließlich unvermittelt vor einem unscheinbaren Laden stehen blieb. Seine Augen weiteten sich, als er sich zurück erinnerte.
 

„Was meinst du, würde mir so was stehen?“

„...“

„Was ist?“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Wieso nicht? Findest du nicht, dass es schlanke Hüften macht?“

„Chocolove, geh sofort zurück in die Kabine und zieh das Kleid aus!“

„Aber wieso denn, Horolein? Du verletzt gerade zutiefst meine Gefühle.“

„...“

„Pah, dann eben nicht.“

„Die beleidigte Diva spielst du aber ziemlich gut.“

„Ja, nicht? Dafür habe ich lange und hart geübt.“

„Chocolove, du wirst mir allmählich unheimlich.“

„Nicht doch, Horohoro, fürchte dich nicht. Dein strahlender Ritter kommt und rettet dich!“

„Wah! Verdammt, mach den Vorhang wieder zu!“

„Aber was den Renchen, schämst du dich etwa? Das brauchst du doch nicht. Onkel Chocolove und Onkel Horo

wollen doch nur mal sehen, wie Klein-Ren die Sachen stehen.“

„Ja Ren, zeig doch mal. Du brauchst dich nicht wegdrehen. Los, zeig mal, was du da an hast.“

„Verzieht euch und macht den Vorhang wieder vor. Ich warne euch, ich werde euch mit meinem Donnerschwert in handliche Stücke zerlegen!“

„Hast du das gehört, Horohoro? Er hat uns tatsächlich gedroht. Ich fasse es nicht! Ren, wie konntest du nur? Wo wir doch so viel für dich getan haben. Und jetzt lässt du uns einfach so fallen!“

„Weißt du, du würdest dich gut als Besetzung in einer von Annas Nachmittagsserien eignen.“

„Findest du, Horohoro? Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Sollte aus meiner Karriere als Komiker nichts werden – woran ich natürlich stark zweifele – hätte immer noch eine Zweitmöglichkeit.“

„Könnt ihr dieses Gespräch freundlicherweise vor dem Laden weiterführen? Mir wird gleich schlecht.“

„Aber Ren, wir können dich doch nicht einfach so alleine lassen. Wo bleibt da die Verantwortung?“

„Tze. Idioten, alle beide.“
 

Beinahe meinte Horohoro, die Umrisse ihrer Gestalten in den Umkleidekabinen im hinteren Teil des Ladens erhaschen zu können. Für wenige Augenblicke schien es ihm, als könne er tatsächlich Ren erkenne, der in einer der Umkleidekabinen stand, mit nacktem Oberkörper, nachdem Chocolove ihn einfach überrumpelt hatte, einem Hemd in der Hand und einem leichten Rotschimmer auf den Wangen. Es war an dem Tag ein Bild für die Götter gewesen und hatte sich gegen seinen Willen in sein Gedächtnis gebrannt. Genauso, wie alles, was mit dem Chinesen zu tun hatte. Ob er wollte oder nicht.

Seine Schultern sackten unwillkürlich ein Stück nach unten und er setzte seinen Weg fort, schleppender als zuvor.

Diese ganzen schönen Momente, die sie verbracht hatten, der Spaß, den sie miteinander gehabt hatten ...

Erst jetzt realisierte er richtig, wie wichtig ihm dies alles war. Wie einzigartig und wertvoll. Doch nun war es zu spät dafür. Was blieb, war einzig die Erinnerung daran. Er bemerkte kaum, dass die Häuser um ihn herum allmählich weniger wurden, die Anzahl der Geschäfte und Cafés abnahm. Erst, als er ein leises Quietschen vernahm sah er auf. Er schluckte, als er die alte Schaukel erkannte, die einsam am Rande Dolby Villages stand und einen so verlassenen Eindruck erweckte, wie selten zuvor.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand längst erreicht und brannte erbarmungslos auf sie nieder. Die Luft flimmerte in der Hitze des Tages und das Licht blendete den Ainu. Schützend hob er einen Arm, verengte die Augen und in diesem Moment war es ihm als könne er wieder sich, Ren und Chocolove sehen, wie sie vor einigen Tagen genau auf eben jener Schaukel gesessen hatten. Er und Chocolove auf je einer Schaukel, Ren an einen ihrer Holzpfähle gelehnt, die Arme verschränkt und mit einem gelangweilten Blick.
 

„Komm schon Ren. Wenn du es nicht wenigstens ausprobierst, weißt du nie, ob es dir gefällt oder nicht!“

„Seid ihr sechsjährige oder was? Werdet endlich erwachsen und hört mit diesem Schwachsinn auf.“

„Ren, sei doch nicht so ein Spielverderber.“

„Chocolove hat Recht. Versuch es doch wenigstens mal, danach kannst du immer noch sagen, dass du es nicht magst.“

„Nein danke.“

„Jetzt sie kein Feigling und komm her. Sieh mal, wie einfach das geht. Vor und zurück. Ist das so schwer?“

„Ich bin kein Feigling, Schneemann! Himmel, wenn ihr mich dann endlich in Ruhe lasst, dann versuche ich es eben. Aber ich kann dir gleich sagen, dass es mir nicht –“

„Hör auf zu reden und setzt dich. So und jetzt musst du dich festhalten, genau hier und – sag mal, warum erklär ich dir das eigentlich? Du dürftest doch wissen, wie man schaukelt. Das hast du als kleiner Junge doch sicher gemacht, nicht?“

„Nein.“

„Was?“

„Habe ich nicht.“

„Du bist nie geschaukelt? Ich meine, echt noch nie?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Darum.“

„Ren, sei nicht albern. Alle Kinder haben, als sie klein waren geschaukelt. Warum hast du es nicht?“

„Bei uns gab es keine Schaukeln.“

„Wo bitte hast du gelebt, dass es da keine Schaukeln gab. Oh ... okay, verstehe schon. Aber ... na ja, für mich war es immer selbstverständlich. Chocolove?“

„Mann, für mich auch, Alter.“

„Ich habe viele Dinge nicht getan, die ‚alle’ Kinder offenbar tun. Was ist so toll daran, zu schaukeln? Ich verstehe euch nicht. Was findet ihr daran, so, wie ‚alle’ zu sein?“

„Zu sein wie ‚alle’ bedeutet nicht zwangsläufig etwas Schlechtes ...“

„Ach ja? Nun, für mich schon. Ihr entschuldigt mich. Ich werde nicht so sein wie alle und jetzt gehen.“

„He Ren, jetzt bleib doch hier. He, verdammt, so war das doch nicht gemeint!“

„Es hat keinen Zweck, Trey. Lass ihn.“

„Dieser verdammte Sturkopf. Ich sehe schon, wir müssen noch einiges umpolen.“
 

Ein Klumpen hatte sich in seinem Magen gebildet. Auf einmal verkraftete er den Anblick der Schaukel nicht mehr.

So einsam ...

Er wandte sich ruckartig ab.

So verlassen ...

Blind rannte er los. Weg, nur weg. Weg von diesem Bild, weg von diesen Gedanken, weg von diesen Erinnerungen.

Wie Ren ...
 

Und die Schaukel quietschte leise im Wind.
 

oOo
 

Er verfluchte alles. Sich, die Welt, das Schicksal - oder wie es sich sonst schimpfen mochte - und Horohoro.

Er hätte nicht an diesem Turnier teilnehmen sollen. Er hätte sich gar nicht erst verändern sollen, dann hätte all dies nicht so wehgetan. Er hätte sich nicht in Horohoro verlieben dürfen. Ein abfälliger Laut verließ seine Lippen. Liebe, was war das schon? Ein überflüssiges Gefühl, das mehr Schmerz als Glück mit sich brachte. Warum wurde sie überall gepriesen, wo sie doch in Wirklichkeit so schwarz und Unglück bringend war? Oder lag es an ihm? Machte er aus der Liebe etwas Schlechtes? Möglich wäre es.

Er legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Es war noch nicht einmal Mittag, doch er fühlte sich, als sei er Tage unterwegs gewesen. Sein Körper schmerzte, seine Wange pochte, jedoch ging alles nach und nach in eine schwere Taubheit über. Er war dankbar darüber, dennoch fühlte er gleichzeitig eine Art Verlust, je mehr die Taubheit ihm die Schmerzen nahm. Leere machte sich in ihm breit.

Er wusste, er sollte dankbar darüber sein, doch der Schmerz war der letzte Rettungsring gewesen, der ihn daran gehindert hatte, in Selbstmitleid und Trauer zu ertrinken. Ein heiseres Lachen entfloh seiner trockenen Kehle.

Noch vor einigen Wochen hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, zu welch einem jämmerlichen Schatten seiner Selbst er einmal werden würde. Erbärmlich. Er wurde melancholisch, aufopferungsvoll, gefühlsduselig. Was würde als nächstes kommen? Erneut lachte er leise, doch mehr aus Hohn gegenüber seiner Selbst.

Ich bin wirklich ein strahlender Held, dachte er schließlich voller Bitterkeit, den Blick dabei nicht von

dem blauen Himmel nehmend. Rette meinem besten Freund das Leben – denn zu diesem war Horohoro auf ihrer Reise unweigerlich geworden. Zu dem und zu noch so viel mehr – schließe mich den Bösen an und schaffe es nicht einmal, das ganze durchzuziehen. Die, die ich verraten habe müssen mich retten und der tapfere Held wird von seiner großen Liebe – unweigerlich verzog er den Mund – eiskalt und knallhart abserviert. Ich habe es wirklich drauf.

Der Wind rauschte durch die Blätter des Baumes, an dem er lehnte. Er schloss die Augen. Resignierend.

„Ich schätze, auf dieser Welt gibt es keinen größeren Idioten als mich, Tao Ren.“
 

„Doch, den gibt es. Mich.“
 

oOo
 

Er war nicht froh, als er die Gestalt Rens erkannte. Vielmehr war ihm speiübel. Reue war es, die ihn dazu brachte. Schuldgefühle, die seinen Herzschlag beschleunigten und das schlechte Gewissen, welches ihn daran hinderte, auf dem Absatz kehrt zu machen und das Weite zu suchen. Er war es, der Ren Unrecht getan hatte, der ihn geschlagen hatte, obwohl Ren es gewesen war, der alles Recht gehabt hätte, ihn zu schlagen.
 

Dafür, dass er an ihm gezweifelt hatte.

Dafür, dass er sich von Hao während des Kampfes hatte kontrollieren lassen.

Dafür, dass er versucht hatte, ihn zu töten.
 

Ren war es, der ihn jetzt hassen durfte, nicht umgekehrt. Er musste sich entschuldigen, er musste seine Sichtweise klarstellen. Ren sollte verstehen, ihm verzeihen, oder zumindest seine Handlungsgründe nachvollziehen.

Dennoch wurden seine Schritte langsamer, je näher er dem Baum kam. Seine Füße wurden schwerer, je deutlicher er jedes Detail in Rens Gesicht erkennen konnte, bis hin zu der von seinem Schlag geröteten Wange.

Sein Herzschlag war bereits ungesund schnell und seiner Hände waren feucht vor Angstschweiß. Fragen schossen durch seinen Kopf, Fragen wie Ob seine Wange sehr schmerzt?, Wird er mir jemals verzeihen? und nicht zuletzt Was soll ich ihm sagen?. Er wusste, wenn er ihm erst in die Augen sah, würde er vergessen, was er sich an Worten zurechtgelegt hatte. Er würde vor Ren stehen, wortlos, erklärungslos, ihn anstarren und kein einziger Laut würde über seine Lippen kommen. Und Ren würde sich von ihm abwenden, ihn hassen, wie er es getan hatte, als sie sich kennen gelernt hatten.

Und als er schließlich Rens Worte vernahm, konnte er einfach nicht anders, als darauf zu reagieren, Ren zu korrigieren und ihn darauf aufmerksam machen, dass es jemanden gab, der einen Fehler begangen hatte, der sich idiotisch verhalten hatte. Ihn selbst.

Nun hatte er die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Chinesen. Noch vor einigen Tagen hätte er vieles dafür gegeben, doch nun wünschte er sich, Ren mochte die Augen von ihm abwenden. Es war so schwer diesem Blick stand zu halten, wenn Schuldgefühle an einem nagten. Der Ausblick auf die noch immer gerötete Wange des anderen machte das ganze nicht unbedingt leichter. Horohoro schluckte schwer, wich Rens Blick aus, starrte stattdessen auf einen Fleck im Gras.

„Ich hab dich gesucht“, murmelte er. Kurzzeitig wanderten seine Augen ein Stück nach oben, blieben jedoch an der entblößten Brust des Chinesen hängen, deren einziger Schutz der weiße Verband darstellte. Er konnte nicht fassen, dass er Ren tatsächlich geschlagen hatte, obwohl er doch verletzt war. Er hatte wirklich kein bisschen Einfühlvermögen.

Der Chinese schwieg. Ein Kloß bildete sich in Horohoros Hals, das Schlucken fiel ihm nun ungemein schwer. Was wollte er noch gleich gesagt haben? Alle Worte waren weg, wie befürchtet ...

Er holte tief Luft, wappnete sich mental auf alles was folgte und blickte nun auf, sah Ren fest in die Augen. Es fiel ihm schwerer, als befürchtet. Angestrengt war er darum bemüht, den Blick nicht gleich wieder zu senken. „Ich“, setzte er an, brach ab und versuchte es schließlich nach einigen Momenten erneut. „Es tut mir leid.“

Er wusste, diese Worte wirkten angesichts dessen, was alles zwischen ihnen vorgefallen war, unnatürlich hohl und leer. Sie waren geradezu lächerlich, aber er brachte in diesem Moment nichts anderes zustande. Er biss sich auf die Lippen, selbst im Klaren darüber, dass er wohlmöglich mit genau diesen Worten einen Fehler begangen hatte. Die Tatsache, dass Ren weiterhin schwieg und ihn musterte verbesserte seine Lage nicht wirklich. Er spürte seine Hände zittern und vergrub sie notgedrungen in seinen Hosentaschen. Wie von selbst senkte er wieder den Blick, starrte auf den Boden vor seinen Füßen.

„Es war mein Fehler“, fuhr er schließlich fort, den blick nicht von dem grünen Gras nehmend. Es war einfacher, wenn er Ren nicht ansah. „Ich habe dir Unrecht getan, dabei hast du das alles nur ...“ Er schwieg. Es war so ungemein schwer, es auszusprechen. „Ich hatte nicht das Recht, dich für etwas zu schlagen, wofür eigentlich ich die Schuld trage. Das hast du nicht verdient, nach“, er suchte nach dem passenden Wort, fand jedoch keins, „allem ... allem, was passiert ist.“

Er ließ eine kurze Pause, während der er sich sammelte, dann sprach er weiter. „Ich schulde dir Dankbarkeit. Ich habe während unseres Kampfes versucht, dich umzubringen und du hast trotz allem versucht, mich zurück zu holen. Du wurdest verletzt“, erneut streifte sein Blick die bandagierte Brust des Chinesen, bevor er sich wieder gen Erde richtete, „während ich nicht einmal einen Kratzer abbekommen habe. Das ist nicht gerecht. Ich ... ich wollte nicht kontrolliert werden, aber ich habe ganz plötzlich seine Stimme gehört“, nun war er an den Punkt gelangt, an dem er begann, sich zu rechtfertigen, „und sie hat mich manipuliert. Hao hat mich manipuliert. Ich wollte dir nichts antun. Natürlich war ich wütend auf dich - das stimmt – aber ich wollte dich nie verletzen.“ Er sprach nun merklich schneller. „Aber diese Stimme hat auf mich eingeredet, ich konnte nichts dagegen tun und dann ... ich kann mich nur noch Bruchstückhaft an den Kampf erinnern. Ich wollte dich nicht umbringen!“ Nun überschlugen sich seine Worte geradezu. „Ich wollte dich nie umbringen!“ Sein Atem beschleunigte sich, seine Haltung war in sich zusammengefallen. Ren sprach noch immer nicht. „Und als ich schließlich wieder zu mir kam, da ... es hat mir niemand gesagt, was während des Kampfes geschehen war. Alles, was ich wusste war, dass du gewonnen hattest. Ich war frustriert, ich war wütend. Mein Traum war zerbrochen und du ... ich hatte so eine Wut auf dich.“ Er zog die Hände aus den Taschen und gestikulierte hilflos mit ihnen. „Und als du auf vorhin auf einmal auf dem Dach standest, da ... da ...“ Er suchte krampfhaft nach Worten. „Meine Gefühle sind mit mir durchgegangen. Ich habe falsch gehandelt, ich hätte dich nie schlagen dürfen. Es war nicht richtig. Wir kennen uns jetzt schon so lange, haben uns schon so oft gestritten, aber nie haben wir uns geschlagen. Und ich Idiot, der eigentlich an allem Schuld ist, schlage dich, obwohl du verletzt bist. Ich kann verstehen, wenn du mich jetzt noch mehr hasst als vorher, verdammt, ich hasse mich selbst für das, was ich getan hab!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe dir nicht vertraut. Ich hab wirklich gedacht, du hättest uns verraten. Was bin ich für ein Freund, wenn ich nicht einmal einen funken Vertrauen in andere setzen kann?!“

„Horohoro.“

Sein Kopf schnellte in die Höhe. Nach all der Zeit, in der Ren geschwiegen hatte, sog der Ainu jedes Wort des Chinesen auf, als wäre es lebensnotwendiges Wasser.

Der Schwarzhaarige sah ihn noch immer unverwandt an. Seine Hand jedoch deutete neben sich, war somit eine unmissverständliche Aufforderung an den Ainu war, sich hinzusetzen. Beinahe augenblicklich kam Horohoro dieser Aufforderung nach. Er setzte sich zu Ren ins Gras, behielt jedoch einen sicheren Abstand zwischen sich und dem anderen.

„Du solltest dir nicht solche Vorwürfe machen“, begann Ren nun zu sprechen. Horohoro starrte ihn gebannt an. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er die Anwesenheit des anderen vermisst hatte. Wie sehr es ihm gefehlt hatte, mit Ren zu reden, seine Stimme zu hören, ihn zu sehen ...

Erst wenige Augenblicke später realisierte er den Inhalt Rens Worte. Doch der Chinese sprach bereits weiter: „Ich habe nicht weniger Fehler begangen. Mein erster war es, anzunehmen, euch ohne große Probleme verraten zu können. Ich habe tatsächlich geglaubt, es würde mir leichter fallen, sobald ihr mich hassen würdet. Doch da lag ich falsch. Es war wesentlich schwerer, in dem Wissen um euren Hass zu handeln, als ich geahnt hatte. Mein zweiter Fehler war es, dass ich es zugelassen habe, das Hao mich zeitweise ebenfalls kontrolliert – genau, wie er es bei dir im Kampf getan hat.“ Horohoro machte Anstalten, ihm ins Wort zu fallen, doch er ließ sich davon nicht beirren, ging jedoch auch nicht näher auf seine letzten Worte ein. „Und als ich dir schließlich im Kampf gegenüberstand fiel mir schließlich auf, wie kurzsichtig ich doch gewesen war. Es fiel mir schwer, gegen dich zu kämpfen. Es war nichts im Vergleich mit den vielen Übungskämpfen, die wir bereits bestritten hatten. Jeden Kampf, auf unserem Weg nach Doby Village hätte ich dem mit dir vorgezogen und als Hao schließlich die Kontrolle über dich hatte, da wurde mir klar, dass es für mich unmöglich war, euch endgültig zu verraten.“

Horohoro folgte seinen Worten schweigend. Je mehr er hörte, desto dreckiger und verlogener fühlte er sich. Wie hatte er nur an Ren zweifeln können? Der Chinese hatte sich verändert, er war nicht mehr das herzlose Monster, das sie einst kennen gelernt hatten. Er war ein Mensch.

„Ich machen dir keinen Vorwurf für deine Reaktion, Horohoro“, meinte Ren nun und der Ainu zuckte wie unter einem Schlag zusammen. „Ich hätte an deiner Stelle nicht anders reagiert, außerdem hatte ich es verdient.“

Horohoro sprang auf. Wütend funkelte er auf den Chinesen hinab. „Was redest du da? Gerade du hast es am wenigsten verdient! Yoh hat mir alles erzählt“, seine Stimme wurde lauter. „Er hat mir erzählt, warum du es gemacht hast. Wie kommst du nur auf so eine hirnrissige Idee? Wegen mir?! Sag mir, dass das ein Scherz ist! Du kannst das unmöglich alles nur wegen mir getan haben! Sag mir, dass es wegen Jun war, dass es wegen Yoh oder aus einem anderen Grund war!“ Er konnte nicht glauben, dass Ren es nur getan hatte, um ihn zu schützen. Yoh musste sich geirrt haben. Es konnte einfach nicht der Wahrheit entsprechen. Denn dann läge er selbst noch mehr im Unrecht, als er es ohnehin schon tat. „Sag es mir, Ren! Ich will es von dir hören“, forderte er.

Der Chinese erhob sich, blickte ihn durchdringend an. „Ich sagte dir bereits, ich habe nicht weniger Fehler begangen, als du“, meinte er leise, den stechenden Blick nicht von dem Ainu nehmend. Dann hob er die Stimme an. „Und mein dritter Fehler war es“, in seinen bernsteinfarbenen Augen blitzte es auf, während er mit der Faust ausholte und Horohoro einen gezielten Kinnharken verpasste, „das hier nicht schon während unseres Kampfes in der dritten Runde getan zu haben.“

Aufkeuchend stolperte der Ainu einige Schritte zurück. Aus geweiteten Augen starrte er den Chinesen an, lediglich das Ziehen in seiner rechten Wange zeugte von dem eben vorgefallenen. Er hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit.

Ren ließ langsam seine Faust sinken und betrachtete sie mit perfidem Interesse. Ein beinahe schon wehmütiges Lächeln zierte seine Lippen. „Vielleicht hätte der Schlag dich aus Haos Kontrolle zurückgeholt. Ein Faustschlag ist wesentlich effektiver, als jeder Angriff mit noch so viel Furyoku. Das habe ich heute herausgefunden. Wahrscheinlich wärst du tatsächlich wieder du selbst gewesen.“

Horohoro schwieg. Er starrte Ren weiterhin fassungslos an. Das Ziehen in seiner Wange ging in ein schnelles Pochen über, welches parallel zu seinem beschleunigten Herzschlag verlief.

Ren ließ die Faust nun ganz sinken. In seinem Blick lag kein Hass, wie Horohoro befürchtet hatte. „Hör auf, dir Vorwürfe zu machen“, meinte der Chinese und seine Worte waren bestimmend. „Wir haben beide Fehler gemacht, sowohl du, als auch ich. Jetzt sind wir quitt. Letztendlich war ohnehin alles meine Entscheidung. Und wenn ich etwas nicht ausstehen kann“, sein Blick verdüsterte sich, „dann ist es, wenn man meine Handlungsmotive anzweifelt.“

„Ren“, murmelte Horohoro. Seine Hände zitterten nun stärker, als zuvor und seine Kehler brannte, genauso, wie seine Wange. Doch diesen Schmerz bekam er nur am Rande mit. Er machte einen Schritt auf den Chinesen zu, dann noch einen und schließlich wurde er schneller. Mit wenigen schnellen Schritten war er bei Ren, packte ihn grob an der Schulter und presste ihn an sich. Während ein Arm sich auf dem Rücken des Chinesen wieder fand, krallte sich seine linke Hand in den schwarzen Schopf des anderen, drückte ihn fest an sich. Er spürte, wie Ren ebenfalls die Arme hob und die Umarmung nicht minder stark erwiderte, obgleich der Schmerzen, die er dabei verspüren musste.

Horohoro hatte die Augen krampfhaft geschlossen, versuchte seinen abgehackten Atem zu beruhigen. Versuchte, sich zu beruhigen. Ren war da. Ren hasste ihn nicht. Er würde nicht wieder gehen.
 

„Du bist wirklich dumm, Schneemann.“

„Genauso dumm wie du, Spitzkopf.“
 

Er lächelte. Und er konnte fühlen, wie Ren das Lächeln gegen seine Schulter erwiderte.

Bedacht

Wichtig!

Ich verwende jetzt durchgängig die japanische Namen. Ich habe die Geschichte komplett überarbeitet und die Namen entsprechen jetzt dem japanischen Original, also bitte nicht irritieren lassen ; )
 


 

Kapitel 19: Bedacht
 

Jenseits von Richtig oder Falsch existiert ein Ort - dort begegnen wir uns.

Dschelal ed-din Rumi
 

Horohoro hatte mit vielem gerechnet. Er hatte viel Zeit gehabt, sich diesen Moment auszumalen, diese Minuten, die nun folgten. Er hatte Vorstellungen gehabt, in denen Ren und er nebeneinander gesessen und geredet hatten, während die Sonne über ihren Köpfen ihren Zenit überschritt und sich dem Horizont näherte. Er hatte sich vorgestellt, wie sie sich gegenseitig anschrien und die Schuld beim anderen suchten. Dann hätten sie sich geprügelt.

Womit Horohoro nicht gerechnet hatte war, dass sie sich anschweigen würden. Nachdem der erste Schritt gemacht worden war und das Wichtigste zwischen ihnen aus der Welt geschafft war, fehlten ihnen die Optionen, die Perspektiven. Peinlich berührt hatten sie nach unbestimmter Zeit voneinander abgelassen, hatten einen Schritt zurück gemacht und waren ihren Blicken ausgewichen.

Der Ainu hatte den überwältigenden Drang zurückgekämpft, Ren sofort wieder an sich zu ziehen und so viel mehr zu tun, als ihn nur zu umarmen. Er hatte Ren vermisst, nicht nur seine nüchternen und nervigen Kommentare, auch die körperliche Nähe von Ren hatte ihm schmerzlich gefehlt. Seit Yoh ihn auf seine Gefühle aufmerksam gemacht hatte - sie ihm mit schmerzhafter Präzision vor Augen gehalten hatte - kam er nicht umhin, die bis dahin mehr als vorhandenen Signale seines Körpers und seines Denkens viel bewusster als vorher wahrzunehmen.

Er schämte sich dafür, schämte sich für sein Verlangen, Ren wieder und wieder an sich zu ziehen und ihn nicht mehr loszulassen, während er Ren noch vor wenigen Tagen erst zur Hölle gewünscht und dann - von Hao manipuliert und letztendlich kontrolliert - beinahe umgebracht hatte. Er schämte sich dafür, dass er sich nicht gegen Hao gewehrt hatte, dass Yohs Zwillingsbruder so leichtes Spiel mit ihm gehabt hatte. Er schämte sich dafür, dass Ren es ihm nicht übel nahm.

Ren hatte alles für ihn getan, hatte sie verraten, hatte bewusst die Verachtung seiner Freunde in Kauf genommen, nur um ihn zu schützen. Horohoro verstand Ren, ihm war klar, dass er in diesem Moment, würde er vor die Wahl gestellt, nicht anders für Ren handeln würde, doch ein Zweifel fraß sich schmerzhaft und unnachgiebig durch seine Gedanken. Er wusste nicht, ob er an Rens Stelle, zu eben dem Zeitpunkt, an dem Ren sich hatte entscheiden müssen, das Gleiche getan hätte. Und dieser Zweifel war das Beschämendste, mit dem Horohoro sich seit langem konfrontiert sah.

Er würde Ren nicht noch einmal nach dem Grund für seine Entscheidung fragen, der Chinese hatte ihm auf äußerst schlagkräftige Weise zu verstehen gegeben, dass er das Anzweifeln seiner Beweggründe nicht duldete. Horohoro musste resignierend feststellen, dass Ren einen guten Schlag hatte. Zielsicher und stark. Er sollte wahrscheinlich froh sein, dass er und Ren sich noch nicht geprügelt hatten, denn er war sich nicht mehr so sicher, ob seine Chancen gegen Ren sehr gut stehen würden.

Horohoros Blick streifte Rens und er wurde sich mit einem Schlag der Tatsache bewusst, dass Ren abgesehen von einer langen Hose und seinen Schuhen nichts trug. Er spürte Hitze in sein Gesicht steigen, als er bemerkte, dass er Ren offen auf die Brust starrte, die einzig von dem Verband verdeckt wurde. Rasch wandte er den Blick ab und streifte sich umständlicher als nötig die Jacke von den Schultern.

„Du solltest dir etwas überziehen, sonst erkältest du dich noch.“

Er spürte Rens stechenden Blick auf sich, umging es jedoch, ihn zu erwidern, während er dem Chinesen die Jacke entgegenhielt. Ja, er wusste, dass es sehr warm war und die Gefahr, sich zu erkälten ungemein gering war. Ja, ihm war bewusst, dass seine Jacke farblich nicht im Geringsten zu Rens Hose passte - aber wen kümmerte es? „Nun nimm schon, bevor ich es mir anders überlege.“ Er gab sich genervt, in Wahrheit jedoch raste sein Herz und er verfluchte sich für sein albernes Verhalten.

Zu seiner Erleichterung ging Ren nicht darauf ein und nahm stattdessen das angebotene Kleidungsstück wortlos entgegen. Er zog es sich über und als er den Reißverschluss der Jacke hochzog, durchzuckte Horohoro der jähe Wunsch, Ren daran zu hindern. Er unterdrückte einen frustrierten Laut und vergrub die Hände in den Taschen seiner Shorts.

„Was hältst du von einem Eis?“, fragte er unvermittelt.

Rens Augen verengten sich argwöhnisch. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist? Eben noch warst du vollkommen fertig mit den Nerven und jetzt willst du plötzlich Eis essen?“

„Falsch“, widersprach Horohoro ihm resolut und sah Ren nun direkt an. „Du wirst ein Eis essen, während ich bezahle.“

Rens taxierte ihn in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verärgerung, doch seine zuckenden Mundwinkel verrieten ihn. Er war nicht halb so schlecht auf Horohoros Vorschlag zu sprechen, wie er ihm glauben machen wollte. „Du bist doch verrückt.“

Nein, dachte Horohoro im Stillen, du bist verrückt. Weil du tatsächlich alles für mich aufs Spiel gesetzt hast, du wahnsinniger Idiot.
 

Ren stellte keine Fragen, als Horohoro ihn aufforderte, mitzukommen. Er stellte auch keine Fragen, als sie Seite an Seite durch die sich allmählich wieder mit Menschen füllenden Gassen von Doby Village schritten. Die Mittagshitze war der erträglicheren Nachmittagswärme gewichen, Souvenirshops und andere Läden öffneten wieder ihre Fensterläden, Cafés wurden wieder von Kunden besetzt. Ren überließ Horohoro die Führung und als sie sich schließlich in einem kleinen Café an einem Tisch im Schatten eines Sonnenschirmes gegenübersaßen und Horohoro ihm die Eiskarte entgegenhielt durchbrach Ren das Schweigen zwischen ihnen.

„Willst du kein Eis?“ Niemand hatte gesagt, seine Worte würden einen Sinn ergeben. Er passte sich lediglich Horohoros Verrücktheit an, weil eben dieses Handeln, dieser Moment, in dem sie etwas so Normales und Alltägliches taten, was überhaupt nicht zu der Situation passte, genau das war, was sie beide brauchten. Sie hatten sich gehasst, bekämpft, sich verziehen. Diese Alltäglichkeit war das einzig Richtige, was Horohoro hatte vorschlagen können. Ren war ihm sehr dankbar dafür.

„Nicht wirklich“, entgegnete Horohoro und Ren brauchte einige Momente um zu realisieren, dass die Worte des Ainus sich auf seine Frage bezogen. „Außerdem“, Horohoro wühlte in den Taschen seiner Hose, „hätte ich dafür überhaupt nicht genug Geld mit.“ Er sah auf. „Du kannst alles bestellen, sofern es nicht mehr als ...“, er betrachtete die Münzen, dann hielt er Ren die offene Handfläche entgegen, „so viel kostet, sonst müssen wir den Abwasch machen.“ Er grinste.

Ren runzelte die Stirn. „Dir ist schon klar, dass das gerade für eine Kugel reicht?“

„Tatsächlich?“ Horohoro verzog den Mund. „Na herrlich. Okay, bestell dir eine Kugel deiner Wahl, solange es nicht Schokolade ist.“ Er schauderte. „Als Chocolove auf der Krankenstation lag hat er mich regelmäßig zum Eisholen losgeschickt und - du wirst es nicht glauben! - dieser Typ isst echt nicht anderes als Schokolade! Ich werde für den Rest meines Lebens nicht mehr unbeschadet Schokolade in jeder Form ansehen können ...“

Ren hörte ihm schweigend zu, dann bestellte er sich mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen bei der Bedienung eine Kugel Schokoladeneis. Er konnte die Empörung in Horohoros Gesicht erkennen und seine Mundwinkel hoben sich. „Denkst du, ich nehme auf deine Abneigungen Rücksicht?“

Horohoro verschränkte die Arme und murmelte etwas, das wie „Noch immer ganz derselbe“ klang und Ren nahm dankend das Eis entgegen. Mit offensichtlichem Genuss begann er, die Kugel zu essen, Horohoro dabei provozierende Blicke zuwerfend.

Der Ainu strafte Ren zunächst mit Nichtachtung, nachdem mehrere Minuten jedoch schweigend verstrichen und Ren keine Anstalten machte, etwas daran zu ändern, verlor der Ainu die Geduld, entriss dem Chinesen den langen Löffel und gönnte sich etwas Schokoladeneis. Er erwiderte Rens skeptischen Blick fest, gab ihm den Löffel zurück und sagte trotzig: „Denkst du, ich nehme auf dich Rücksicht, nur weil du verletzt bist, Spitzkopf?“

„Ich dachte, du kannst Schokoladeneis nicht mehr sehen.“ Es war keine Frage, viel mehr eine Feststellung.

„Na und?“ Ren beobachtete, wie Horohoro ein Schauer überfiel und er kurzzeitig zitterte, offenbar darum bemüht, das Eis mit dem verhassten Geschmack zu schlucken. „Das ändert nichts.“

„Sturkopf.“ Ren aß das Eis auf und schob den Becher beiseite. Dann sah er Horohoro direkt an. Der Ainu erwiderte den Blick lange, dann setzte er zum sprechen an: „Meine Lieblingssorte ist Schnee.“

Rens Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Das ist keine Sorte“, bemerkte er sachlich.

„Wer sagt das? Es ist doch kalt, kann schmelzen und hat eine eigene Farbe.“

„Weiß ist keine Farbe.“

„Ach ja, was ist es dann?“

„Eine Nichtfarbe, Idiot.“

„Aber man kann es doch sehen, also muss es eine Farbe sein!“

„Vergiss es. Schnee also? Der hat doch gar keinen Geschmack.“

„Das sagst du, aber warst du schon mal auf Hokkaido und hast dir die frischen Schneeflocken auf der Zunge zergehen lassen? Weißt du, wonach sie schmecken?“

„Nach saurem Regen?“

Horohoro sah ihn scharf an und Ren bereite seine Bemerkung beinahe noch im selben Moment. Er wusste, dass Horohoro auf dieses Thema sehr empfindlich reagierte. „Nur ein Scherz“, setzte er darum beschwichtigend hinzu. „Wonach schmecken sie?“

„Nach Leben.“

Horohoros Worte, gesprochen mit so viel Überzeugung, Aufrichtigkeit und Sehnsucht, lösten etwas in Ren aus. Er sah den Ainu an, sah den verträumten Blick, das sanfte Lächeln auf seinen Lippen und kam nicht umhin, sich den Geschmack - das Gefühl - dieses Schnees vorzustellen und Horohoro zu glauben.

Das Fehlen eines spöttischen Kommentars schien Horohoro aus den Gedanken zu reißen, er schüttelte den Kopf und das Grinsen kehrte auf seine Züge zurück. „Was rede ich da, du kannst es nicht wissen, denn du warst nie da.“ Er neigte den Kopf. „Wenn alles hier vorbei ist und du dich benimmst, vielleicht nehm’ ich dich dann mal mit.“

„Natürlich“, entgegnete Ren gelassen und strich mit einer Hand abwesend über das Tischtuch. Für einen Moment ließ er diesen Vorschlag auf sich wirken, dann schob er ihn beiseite. „Und jetzt bezahl das Eis, damit wir gehen können. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen.“

Seine Worte holten sie wieder in die Realität zurück. Sie saßen noch immer in demselben Café, doch es befand sich in Doby Village, das Turnier fand noch immer statt, Ren war verletzt, er trug Horohoros Jacke, sie hatten wenige Tage zuvor gegeneinander gekämpft, Ren hatte sie für Horohoro verraten. All dies rückte zunehmend wieder ins Zentrum ihrer Wahrnehmung, die wenigen Minuten außerhalb dieses Handlungsstranges, die wenigen Momente, in denen sie wieder so normal wie früher gewesen waren, als wäre all dies nicht geschehen, hatten sie kurzzeitig vergessen lassen. Doch das war nun vorbei, es ließ sich nicht länger vergessen.

Sie erhoben sich, Horohoro legte das Geld auf den Tisch und sie setzten sich in Bewegung, ließen das Café, in welchem ihnen eine kurze Zeit der Ruhe vergönnt gewesen war. Es trug den Namen La Armonía.
 

„Was machen deine Verletzungen, Ren?“, fragte Horohoro während sie die Straße entlanggingen, an zahllosen Ständen und Kiosks vorbei. Sein Blick wanderte zu seiner eigenen Jacke, welche die Verbände verdeckte. Der weiße Stoff unmittelbar an Rens Hals war noch sichtbar, Horohoro wurde noch immer ganz übel bei dem Gedanken, dass er der Urheber dieser Verletzungen war. Er wusste nicht, wie lange ihn die Schuldgefühle dafür belasten würden, doch er hoffte, dass es noch lange war. Er hatte es verdient. Das sagte er nicht laut.

„Es geht mir gut“, entgegnete Ren und warf Horohoro im Gehen warnende Blicke zu. „Und hör auf, mich so anzusehen. Es ist halb so schlimm, ich bin bald wieder so gut wie neu.“ Tatsächlich machte Ren zwar den Eindruck, als bereitete ihm das Gehen Schmerzen, doch er bat Horohoro nicht um Hilfe und der Ainu war schlau genug, Ren nicht gegen dessen Willen zu helfen. Das wäre mehr als unklug gewesen. Ren konnte viele Schmerzen ertragen. Mehr als er.

„Mit Faust als Arzt ist das kein Wunder“, murmelte Horohoro und dachte daran, wie beiläufig und dennoch präzise der Mediziner seine Verletzungen nach dem Kampf versorgt hatte.

„Horohoro.“ Rens Stimme holte ihn wieder in die Realität zurück. Sie befanden sich noch immer auf der Straße, Menschen gingen an ihnen vorbei, beachteten sie kaum, Gemurmel lag in der Luft und der Geruch von frischem Essen. Dem Ainu erschien es so skurril, so fremd, mit Ren durch diesen Straße zu schlendern, als wäre nie etwas gewesen, als hätte Ren nie den Verrat begangen. Für ihn. Er konnte es noch immer nicht glauben. Für Horohoro war diese Entwicklung eine Chance, Menschen um sie herum nahmen sie nur als zwei gewöhnliche Jungen wahr, die am Turnier teilgenommen hatten oder - wie in Rens Fall - noch daran teilnahmen, doch für Horohoro war Ren nicht irgendein Junge.

„Du hörst mir nicht zu.“ Ren knuffte ihn im Gehen in die Seite und Horohoro machte einen Schritt zur Seite, musste einer alten Frau ausweichen und hätte sie beinahe angerempelt. Er entschuldigte sich und ging weiter, versuchte mit Ren Schritt zu halten. „Das war aber nicht gerade nett“, maulte er.

„Ich hab dir gesagt, du sollst dir keine Vorwürfe machen“, erwiderte Ren ungeachtet Horohoros Anschuldigung. „Und wenn ich dich noch einmal mit diesen Gesichtsausdruck sehe, bei dem man meinen kann, man hätte dir deinen Nachtisch geklaut, du wehleidiger Spinner, dann gebe ich dir meine Definition von Vorwürfen und glaub mir, das willst du nicht.“ Horohoro starrte ihn ungläubig an, sein Mund stand offen und Ren grinste herablassend. „So wie es aussieht, haben wir uns verstanden, Schneemann.“

Sie verließen die Straße, bogen in die Gasse, die zu ihrem Haus führte. Sie war verlassen, die Menschen waren auf der Hauptstraße und der Lärmpegel sank merklich, je weiter sie die größeren Wege hinter sich ließen. Je näher sie dem Haus kamen, desto schneller schein die Zeit für Horohoro zu vergehen. Er wusste nicht, wie lange er mit Ren unterwegs gewesen war, doch die Zeit kam ihm so begrenzt vor, dass er beinahe um sie fürchtete.

Als das Haus schließlich in Sicht kam und Horohoro an ihre Freunde dachte, die dort in einem der Räume auf sie warteten, erschienen ihm die Minuten gemeinsam mit Ren im Café mit einem Mal wie etwas, das nicht wirklich stattgefunden hatte. Sie passten einfach nicht in das Bild der unschönen Realität, die sich in den letzten Wochen von den hässlichsten Seiten gezeigt hatte.

Als sie an die Tür traten hielt Horohoro Ren zurück. Seine Hand krallte sich in den Ärmel seiner eigenen Jacke. Ren blieb stehen, sah ihn nicht an. „Keine Vorwürfe“, wiederholte er mahnend, doch Horohoro war weit davon entfernt, sich in diesem Moment Vorwürfe zu machen.

Er hob die freie Hand, legte sie in Rens Nacken und zog ihn zu sich. Als er Ren endlich küsste, fürchtete er beinahe, er unterliege einer weiteren Täuschung, einer Manipulation Haos wohlmöglich, doch Ren fühlte sich so echt an - die Angst und die Unruhe, die ihn durchströmte, das alles fühlte sich so real, so wirklich an - dass es kein Trug sein konnte.

Er presste sich dichter gegen Ren, seine Lippen fanden Bestätigung durch Rens und Horohoro fühlte, wie er sich verlor. Das war so anders, als er es sich vorgestellt hatte. Er spürte kein Glück, keine Freude, keine buchstäbliche Glückseligkeit, er empfand Furcht, Aufgewühltheit und ein gewisses Maß an Verzweiflung, doch diese Kombination der Gefühle machte den Kuss zu dem, was er war. Unbeschreiblich.

Er küsste nicht irgendein Nachbarsmädchen, er küsste Tao Ren, einen Jungen, seinen besten Freund, seinen Rivalen, seinen Verräter und gleichzeitigen Retter. Ren war zu so vielem geworden, ohne das Horohoro es wirklich gemerkt hatte und jetzt war er so viel, dass ihm ganz kalt wurde bei dem Gedanken, dass Ren noch vor wenigen Tagen auf Haos Seite gestanden hatte.

Er spürte einen festen, unnachgiebigen Griff oberhalb seiner Hüfte und realisierte, dass Ren sich ebenso stark an ihn presste, wie er sich an ihn. Die Lippen des Chinesen bewegten sich gegen seine, kurzzeitig fragte Horohoro sich, woher Ren die Erfahrung nahm, dann verwischte dieser Gedanke, ebenso wie alle anderen, nur noch das Gefühl von Ren blieb. Rens Lippen auf seinen, Rens Zunge an seiner, Rens Atem auf seiner Haut, Rens Hände an seinem Körper.

Atemlos lösten sie sich voneinander und Horohoro zog Ren in eine feste Umarmung, schloss zittern die Augen, hielt den Chinesen so fest, als fürchtete, er würde Anstalten machen, wegzulaufen, dabei war ihm selbst viel eher nach weglaufen zumute - und er wusste noch nicht einmal, wieso. „Ich“, setzte er an, brach jedoch ab. Verkrampft suchte er nach Worten, fand keine und öffnete trotzdem den Mund: „Ich ... also ... ich weiß nicht - Ren.“ Der einzige Begriff, die einzige Person, die seine Gedanken beherrschte.

Eine Hand fuhr bestimmt durch seinen Nacken, zielstrebig und sicher. Sie brachte das Zittern von Horohoros Körper zum verklingen. „Schon gut.“ Horohoro hatte Rens Stimme nie so sehr hören müssen, wie in diesem Moment. Ruhig, ausgeglichen, wissend. Und so beruhigend. „Ich weiß.“

Und Horohoro zweifelte einen Moment daran, dass er Ren fester umarmen konnte, als er es gerade tat.
 

Ren hatte es nicht glauben wollen, als Horohoro ihn geküsst hatte. Es war so anders gewesen, so vollkommen anders, als er es erwartet hatte du doch auf seine eigene Art so viel besser. Er hatte Horohoros Unruhe gespürt, seine Angst, dennoch hatte der Ainu so sicher und unbeirrt gewirkt, dass Ren ihn beinahe dafür beneidet hätte. Beinahe.

Er konnte Horohoro verstehen, so lange hatte er die Erkenntnis gehabt, doch nie hätte er damit gerechnet, dass es Horohoro ebenso ging. Er war froh gewesen, dass Horohoro ihm verziehen hatte, der Faustschlag des Ainus vom Morgen hatte er längst vergessen, Horohoros Entschuldigung und die Schuldgefühle des Ainus wahren mehr als genug Entschädigung gewesen. Und nun das.

Ren hatte es sich gewünscht, er war tatsächlich so gefühlvoll wie Annas Nachmittagsseifen geworden. Etwas, vor dem er sich gefürchtet hatte, seit Bason ihn auf dem Dach des Hauses auf seine Gefühle aufmerksam gemacht hatte. Ren konnte nicht behaupten, dass es ihn nicht störte, es störte ihn sogar ziemlich, doch er konnte es nicht ändern. Sobald es um Horohoro ging konnte er nicht mehr rational, geschweige denn objektiv handeln.

Horohoro hatte ihm sämtliche Objektivität geraubt. Spätestens seit dem Kuss durchströmten ihn Empfindungen, die er zwar einordnen, in Gegenwart seiner Schwester jedoch niemals auch nur zu denken gewagt hätte. Er wollte Horohoro wieder küssen, ihn berühren, bei Gott, er war auch nur ein Teenager, gelenkt von offenbar zu vielen Hormonen.

Er schloss rasch atmend die Augen, Horohoro klammerte sich an ihn wie ein Ertrinkender. Einfältiger Schneemann. Für ihn schmeckte Schnee nach Leben. Für Ren hatte alles in seiner Vergangenheit den faden Beigeschmack von Trostlosigkeit gehabt. Und dennoch - oder auch gerade aus diesem Grund - konnte er Horohoro nicht loslassen, sondern ihn - im Gegenteil - nur fester an sich ziehen. Es war, als versuche man sich als positiver Pol vom negativen Gegenstück zu lösen. Die Kraft, die man dafür aufbringen müsste, war das Resultat nicht wert.

„Seit wann?“, hörte er Horohoro gegen seinen Hals murmeln und spürte zu seinem eigenen Missfallen heißkalte Schauer seinen Rücken hinab laufen.

„Was weiß ich“, entgegnete er, obwohl er sich noch so genau an den Moment der Erkenntnis erinnern konnte, wie an kaum etwas anderes. „Unwichtig.“

„Verstockter Sturschädel“, lachte der Ainu leise und Ren spürte, wie Horohoro sich langsam entspannte. Der heiße Atem des Ainus an seiner Haut begann ihn zunehmend abzulenken.

„Das sagt der richtige. Überempfindliches Kleinkind“, konterte Ren und fuhr abwesend mit einer Hand durch Horohoros dunkle Nackenhaare. Er verspürte den unvermittelten Wunsch, das Stirnband des anderen zu lösen und zu beobachten, wie seine Haare sich anschließend ausbreiten würden. Er hatte Horohoro noch nicht oft ohne Stirnband gesehen ...

„Nur dann, wenn es um dich geht.“

Ren brauchte Sekunden, um das aus den Worten resultierende Geständnis zu begreifen. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, was Horohoro ihm damit sagte. All die Zeit, die Stunden, die Tage in denen er sich selbst Vorwürfe gemacht hatte, weil er seine Freunde und Horohoro verraten hatte, die Angst, die er gehabt hatte, gehasst zu werden, all seine Befürchtungen wurden mit diesen wenigen Worten nichtig, verblassten.

Ren drängte das Verlangen zurück, Horohoro an die Außenwand des Hauses zu pressen und seiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen. Offenbar nicht hartnäckig genug, denn wenige Augenblicke später fand er sich mit Horohoro in eben dieser Konstellation wieder und küsste den Ainu mir einer ungekannten Sicherheit und Zielstrebigkeit.

Er spürte das Zittern, das den anderen Körper durchlief mit einem gewissen Maß an Genugtuung, fühlte sich bestätigt und begann, Horohoro durch sein Handeln den Atem zu rauben. Unnachgiebig machte er seine Ansprüche geltend, demonstrierte Horohoro sei Talent nun auch auf anderen Gebieten. Doch hatte er den Kampfgeist des Ainus außer Acht gelassen. Horohoro ließ sich nicht widerstandslos dominieren und demonstrierte Ren seinen Willen mir niederschmetternder Kühnheit. Ren spürte, wie ihm schier selbst der Atem geraubt wurde, er fand sich nun mit der Wand im Rücken und Horohoro unmittelbar an sich wieder, unglaubliche Lippen auf seinen und Horohoros Zunge in seinem Mund. Ren hatte noch nicht oft geküsst, doch er stellte fest, dass er beunruhigend schnell Gefallen daran fand.

Schwer atmend lösten sie sich nach einer Ewigkeit voneinander und Horohoro musterte ihn belustigt. Er beugte sich vor, sah Ren von der Seite her provozierend an und fragte herausfordernd, gerade so laut, dass Ren ihn hören konnte: „Das lässt dich nicht kalt oder?“

Zum ersten Mal seit langem spürte Ren, wie er unter Horohoros Blick rot wurde. Durchtriebener Nordbewohner! Horohoros leises Lachen verstärkte seinen Wunsch, dem Ainu für diese unverschämte (jedoch nicht unwahre) Unterstellung sämtliche Leviten zu lesen. Er sah ihn finster an und verpasste ihm eine Kopfnuss. Zu seinem Missfallen zeigte Horohoro keine Anzeichen von Irritation, geschweige denn Empörung, er schenkte dieser Geste keine Beachtung. Sein Grinsen nahm dafür an Umfang zu.

„Das ist mehr Bestätigung als jedes ja “, kicherte er und fuhr Ren durch die Haare. Ren hob die Hand und packte Horohoro am Handgelenkt, starrte ihn durchdringend an. „Pass auf deine Worte auf, Schneemann.“

Horohoro ließ von Ren ab und machte einen Schritt zurück, noch immer sichtlich belustigt. „Natürlich, ehrenwerter Tao-sama.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Ganz wie Ihr meint.“

Er wandte den Kopf und blickte zur Tür. „Wir sollten reingehen.“ Er entfernte sich von Ren und legte eine Hand auf den Türgriff. Bevor er sie öffnete, hielt er inne. „Es ist mir ernst, Ren. Halt es nicht für eine Phase oder einen Scherz.“

Ren lehnte noch immer an der Außenwand, ließ Horohoro nicht aus den Augen. Er seufzte. „Ich weiß.“ Mit einem gefährlichen Lächeln fügte er hinzu: „Sonst würde es dich nämlich kalt lassen.“ Mit Genugtuung beobachtete er, wie nun Horohoro die Röte ins Gesicht stieg, bevor er an ihm vorbei ins Haus ging.
 

Chocolove stellte die Tasse mit Tee auf den Tisch, als er Geräusche an der Tür hörte. Er warf einen letzten Blick auf das noch halbvolle Porzellan und verzog das Gesicht. Er hatte heute für sein Leben genug Tee getrunken und gewartet.

Er war selten so unruhig gewesen. Trotz Annas Strenge war es ihm nicht möglich gewesen, all die Stunden des Wartens ruhig zu verharren. Unruhig war er im Zimmer auf und abgelaufen, hatte dabei nicht nur Anna, sondern auch Mic Jaguar an die Grenzen seiner Nerven getrieben. Chocolove hatte keine Rücksicht auf die warnenden Blicke genommen, die ihm zuteil wurden, er hatte sich ausgemalt, was Ren oder Horohoro alles zustoßen könnte.

Es stand nicht fest, dass Horohoro Ren in dem Gewirr der Straßen von Doby Village fand, genauso gut war es möglich, dass Ren infolge von Überanstrengung irgendwo zusammenbrach und niemand ihn fand. Er bewunderte Bason für seine eiserne Ruhe und das Vertrauen in Ren und Horohoro und so sehr er den beiden auch selbst vertrauen wollte, die Sorge verschwand nicht.

Als er vor wenigen Minuten die Stimmen der beiden vor dem Haus ausgemacht hatte, wäre er beinahe aufgesprungen und zu ihnen geeilt, doch ein durchdringender Laut von Mic hielt ihn zurück. Er suchte Yohs Blick. Yoh hatte die letzten Stunden zwischen schlafend oder einfach nur aus dem Fenster blickend verbracht und gebot ihm nun, sitzen zu bleiben. Widerstrebend befolgte Chocolove die Bitte und während die Minuten verstrichen nahm seine Gesichtsfarbe, trotz ihres natürlichen dunklen Tons, eine noch intensivere Färbung ab. Es bestand kein Zweifel daran, was Ren und Horohoro draußen taten und es war Chocolove mehr als nur unangenehm, ihnen wie ein Spanner zu lauschen.

Yoh hatte selig gelächelt, Anna hatte unbeirrt in ihren Zeitschriften geblättert, Bason war bewegungslos auf der Stelle geschwebt, doch Chocolove hätte wetten können, ein Schmunzeln auf seinen Zügen zu erkennen. Er war froh, dass Tamao und Pirica nicht anwesend war, er stellte sich mit Grauen vor, wie die zartbesaitete Tamao in Ohnmacht gefallen wäre und bei Pirica wusste er sich nicht einmal auszumalen, wie sie reagiert hätte.

Als Ren und Horohoro schließlich das Haus betraten hielt ihn nicht mehr zurück. Nachdem er die Tasse abgestellt hatte, sprang er auf und eilte in den Flur hinaus. Er ließ Ren und Horohoro keine Chance etwas zu sagen, geschweige denn ihm zu entkommen, da hatte er jeden von ihnen gepackt und zog sie an sich.

Er war keine Person von tiefen Gefühlen, er zeigte sie nie wirklich offen, er trat für seine Freunde ein, doch besonders bei Ren und Horohoro hatte in der Zeit ihrer Teamarbeit enge Kontakte geknüpft. Er wäre bereit gewesen, sämtliches für sie zu opfern und in diesem Moment, in dem Team Ren im Flur wieder gemeinsam beisammen stand wurde ihm erst richtig bewusst, wie sehr es ihm gefehlt hatte. Die Plänkeleien, ihre Beschwerden über seine schlechten Witze, Rens Schweigsamkeit, Horohoros ausgelassene Art, die er in den letzten Tagen zwar allmählich wieder gewonnen hatte, jedoch nicht halb so sehr, wie vor all diesen Geschehnissen.

Ren und Horohoro wehrten sich nicht gegen die Umarmung doch Chocolove merkte, wie sie sich über seine Schultern fragende Blicke zuwarfen. Natürlich waren sie solche Reaktionen nicht von ihm gewohnt, doch es kümmerte ihn in diesem Moment nicht. Sekunden verstrichen, dann gab er sie wieder frei und machte einen Schritt zurück, stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie finster.

„Ich verlange keine Erklärung“, begann er unheilvoll, sein Blick wanderte von Ren zu Horohoro. „Aber was habt ihr zwei Sturköpfe euch nur bei allem gedacht?! Ihr könnt froh sein, dass ihr beide gesund ausseht, sonst hätte ich eigenhändig dafür gesorgt, dass es euch noch schlechter geht!“

Sie starrten ihn an, sprachlos und überrumpelt und er konnte nicht anders, als zu grinsen. „Vollidioten“, murmelte er und schüttelte den Kopf. „Jagt mir nie wieder so einen Schrecken ein. Weder du, Ren, noch du, Horohoro. Keine Alleingänge mehr“, ein Blick auf Ren, „keine Depressionsphasen“, ein Blick auf Horohoro, „kein gar nichts, verstanden?“

Er malträtierte sie so lange mit Blicken, bis sie schließlich nickten. Er ließ ihnen keine Wahl, er würde keine andere Antwort akzeptieren. Als er die Bestätigung sah, fiel endlich nach all den Tagen die stetige Sorge von ihm und er spürte förmlich, wie seine Haltung merklich in sich zusammensank. Er lächelte seine Freunde an. „Na bitte.“

Er wandte sich um und kehrte zurück in das Wohnzimmer, schritt an Yoh, Anna und Bason vorbei. Obwohl er eben noch das Gefühl gehabt hatte, nie wieder Tee trinken zu können, setzte er sich im Schneidersitz vor den nicht einmal kniehohen Tisch, griff nach seiner Tasse und leerte sie in einem Zug. Er spürte Mics Präsenz hinter sich und lehnte sich müde an seinen Schutzgeist. „Bin ich froh.“
 

Ren und Horohoro wechselten vielsagende Blicke. Ren lächelte. „Scheint, als wäre es an uns allen nicht ohne weiteres vorbeigegangen.“

„Könnt ihr mir mal sagen, was das wird?!“ Annas scharfe Worte ließen sie zusammenzucken. Yohs Verlobte baute sich vor ihnen auf, ein Ebenbild des Grauens mit einer durch und durch bösen Aura. Sie starrte Horohoro todbringend an. „Glaub nicht, dass ich nicht bestens informiert bin, über alles und du “, ihre stechenden Augen richteten sich auf Ren, „hast dein Krankenbett nicht ohne Folgen verlassen, das versichere ich dir. Du bist verletzt, Faust hat dir nicht ohne Grund Bettruhe verordnet!“ Yoh lächelte weiterhin selig, während Horohoro und Ren merklich in sich zusammen schrumpften. „Ren, du legst doch sofort wieder hin - ich kann nicht glauben, wie verantwortungslos ihr gewesen seid!“

Widerstand war zwecklos, Anna war zu allem entschlossen und mehr als nur wütend. Schweigend gehorchte Ren, Horohoro wurde untersagt, ihm zu folgen. Und während Anna den Chinesen zu seinem Zimmer eskortierte und Horohoro eiskalt der ersten Etage verwies, seufzte sie leise. Problemfälle, wohin man sah. Und sie kann nicht umhin, trotz allem stolz auf sie zu sein.
 

oOo
 

Jeanne die Eiserne Jungfrau verschloss das letzte Element ihrer Rüstung. Sie spürte Marcos besorgten Blick auf sich, als sie sich aufrichtete, erwiderte ihn mit Ruhe und Sanftmut. „Hör auf, dich zu sorgen“, tadelte sie ihn milde und seine Hand wanderte nervös zu der Brille.

„Ihr habt gesagt, Ihr würdet Asakura Yoh das Kämpfen überlassen.“

„Das tat ich, doch im richtigen Moment darf ich mich des Kampfes nicht entziehen. Dieser Moment ist jetzt gekommen.“ Sie neigte den Kopf, ihr Haar fiel ihr über die Schultern. „Was wäre ich für eine Beschützerin, wenn ich nicht die, die ich liebe, beschützen könnte?“

„Aber Ihr beschützt uns doch immer!“, widersprach Marco. Sie sah die Verzweiflung in seinem Blick, obwohl er sie vor ihr verbergen wollte. Sie liebte ihn für diese menschlichen Züge, für diese Versuche, für sie stark zu sein. Er war ein so unschätzbarer Freund.

„Und weil ich euch auch in Zukunft beschützen will, muss ich dies jetzt tun.“

„Dann lasst uns mit Euch kommen“, flehte Marco und seine Stimme schmerzte Jeanne im Herzen. Er wusste, dass sie es niemals zulassen würde, dass ihnen etwas geschah.

„Du kennst meine Antwort, ohne dass ich sie dir sagen muss.“

„Geht nicht. Jeanne, bitte.“ Marco machte einen Schritt auf sie zu, verharrte jedoch, als sie den Kopf schüttelte. Sie war jung, doch in ihren wenigen Lebensjahren hatte sie genug Grausamkeit gesehen. Genug Schmerz verspürt. Sie wollte nicht noch mehr verlieren, indem sie diejenigen, die ihr so sehr vertrauten, in ihren Untergang führte.

Sie wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Worte. Shamash erschein neben ihr und seine Augen betrachteten sie wissend und tröstend. Sie war ihm dankbar für diese Geste und während sie Marco hinter sich ließ, war sie sich zu jeder Sekunde vollauf bewusst, dass sie ihn wohlmöglich nie wieder sehen würde.

Anarchie

Vorwort(e): I'm not dead yet. Das hier ist der Beweis dafür. Ich danke noch einmal für das Verständnis vieler Leser, die mich nicht mit Spams (oder Briefbomben) für meine Unverschämtheit bestraft haben, sie mehr als ein Jahr für das letzte Kapitel warten zu lassen XD

Ich fasse mich kurz - danke für jeden einzelnen Kommentar zum letzten Kapitel, jetzt geht's los! Und nur als keine Warnung, der Plot schreitet von nun an wirklich voran. Ich habe immerhin eine Storyline zu finden = )
 


 

Kapitel 20: Anarchie
 

Eine Nacht der Anarchie verursacht mehr Schaden als hundert Jahre Tyrannei.

Arabisches Sprichwort
 

„Jeanne ...“
 

Feuer, das alles, um sie herum verschlang. Züngelnde Flammen, die nach mehr dürsteten. Sie fürchtete das Feuer nicht, sie fürchtete seinen Meister nicht. Ihr Arm erhob sich gebieterisch über die Flammen, ließ es erzittern. Es stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus und wich zurück.
 

Anna trat beiseite und ließ Marco hinein. Er stolperte an ihr vorbei, Faust trat vor und fing ihn auf, bevor er zu Boden ging.
 

Ein übersinnliches, grausames Lachen, das Toben des Feuers übertönend. Es ging ihr durch Mark und Bein, brachte sie zum Wanken, doch sie war noch nicht bereit, nachzugeben. Sie stemmte sich gegen die Macht, die sie niederdrücken wollte.
 

Marco klammerte sich an Faust, sein Gesicht ein Meer aus Verzweiflung und Trauer. Tränen rannen über seine Wangen. Yoh trat näher, Amidamaru schwebte neben ihm. Anna schloss unbemerkt die Tür, leise fiel sie ins Schloss.
 

Sie machte sich für den Angriff bereit, sammelte ihre verbliebene Kraft und wehrte sich gegen das sie verzehrende Übel. Shamash gab einen qualvollen Laut von sich, doch sie vertröstete ihn auf später. Sie sah ihr Ziel deutlich vor Augen, sah Hao, hörte seinen vermeintlichen Triumph. Und dann entlud sie es, ihre Kraft, ihren Glauben, ihre Hoffnung, in einem vernichtenden Angriff, der alles um sie herum zerstörte. Und mit dem Gedanken an Marco und Lyserg ...
 

„Jeanne“, murmelte Marco und schloss die Augen. Ein erstickter Laut entwich seinen Lippen.
 

... starb Jeanne, die eiserne Jungfrau.
 

Eine bedrückende Stille senkte sich über den Raum. Lyserg wich einige Schritte zurück und sank zitternd zu Boden, starrte fassungslos auf das, was von Marco übrig geblieben war. „Jeanne ist tot?“, fragte er fassungslos und schüttelte immer wieder den Kopf. „Nein ... sie kann nicht tot sein!“

Niemand erwiderte etwas auf seine Worte, sie schwiegen, bestürzt und schockiert zugleich. Lyserg begann stumm zu weinen, sein Schutzgeist schmiegte sich tröstend an ihn, doch er reagierte nicht auf ihre Versuche.

Faust löste sich aus der Starre und bugsierte Marco in den Wohnraum. Anna öffnete einen Schrank in der Ecke und kehrte mit einem Futon zurück, breitete es auf dem Boden aus. Marco wehrte sich nicht, als sie ihn hinlegten, er hatte die Augen geschlossen und murmelte Worte, die niemand verstand. Yoh sah Faust fragend an, doch dieser schüttelte bloß den Kopf. Er konnte nichts für Marco tun.

„Wie konnte das passieren?“, fragte Yoh leise, dennoch nachdrücklich. Marcos Augen öffneten sich, sein Blick heftete sich an Yohs.

„Sie hat beschlossen, zu kämpfen.“ Er schluckte, seine Stimme zitterte. „Sie wollte ... uns alle beschützen. Sie ließ mich nicht mit ihr gehen. Ich habe sie angefleht ...“ Seine Worte verklangen, er presste sich die Hand auf den Mund, gedämpfte Laute waren zu hören.

Anna schloss schweigend die Vorhänge des Fensters, Yoh ließ sich schwer auf das Sitzkissen vor dem Tisch fallen. Seine Miene war unbewegt, er wich den Blicken der anderen aus. Faust bat Eliza, seinen Arztkoffer zu holen, anschließend verabreichte er Marco ein Beruhigungsmittel. Lyserg saß regungslos am Boden, starrte ins Leere, versunken in düsteren Gedanken und dem nun weiter genährten Hass auf Hao.
 

oOo
 

Sie hatten alles versucht, um Godva davon zu überzeugen, das Turnier einzustellen. Sie hatten argumentiert, hatten diskutiert, getobt, ihn gebeten, doch das Oberhaupt der Schiedsrichter blieb standhaft. Das Turnier würde fortgesetzt werden, der Tod Jeannes war ein schockierender Umstand, ein weiter tragischer Verlust und ein weiteres Opfer Haos, doch das Turnier stand über allem, selbst über den Toten.

Lyserg hatte gewütet, nur mit Mühe hatten sie ihn beruhigen können. Sein Hass auf Hao nahm unermessliche Formen an, nun hatte er eine weitere ihm wichtige Person verloren, fühlte sich betrogen vom Schamanenrat, betrogen von seinen Freunden, die die Entscheidung einfach so hinnahmen. Yoh hatte auf ihn eingeredet, versucht ihn milde zu stimmen, doch der Engländer war außer sich, stand kurz davor auf Yoh loszugehen. Als er es schließlich tat, setzte Yoh sich nicht zur wehr, er ertrug die Schläge, Lysergs Wut und seine Zornestränen. Chocolove wollte eingreifen, doch Anna hielt ihn zurück, Ren und Horohoro hatten Abstand gewahrt, Horohoro war anzusehen, wie viel Beherrschung es ihn kostete, sich zurückzuhalten.

Als Lysergs von Verzweiflung getriebene Rage schließlich schwand und er fluchend neben Yoh auf den Boden sackte, diesen für seine Güte und Großherzigkeit verwünschte, hatte Yoh sich aufgerichtet und Lyserg mit einem Lächeln an sich gezogen. „So sind Freunde“, sagte hatte er gesagt und Lyserg an seiner Schulter weinen lassen.

Die Stimmung in Doby Village kippte. Zahllose Anhänger Jeannes suchten die direkte Konfrontation mit Hao, wollten Rache für den Tod ihrer Anführerin, doch sie scheiterten bereits an Haos Untergebenen. Die Krankenstationen des Ortes waren überfüllt, es verging kein Tag, ohne Verletzte oder gar Tote. Angst, die zuvor nur unterschwellig in Doby Village geherrscht hatte, breitete sich nun offen aus, die Bewohner wurden unruhig, fürchteten um ihr eigenes Leben, fürchteten einen Überfall. Läden schlossen, die Straßen waren verlassen, einstige Beobachter des Turniers reisten ab. Der Schamanenrat verlor die Kontrolle, längst hörte niemand mehr auf Godvas Beschwichtigungen, das, was nun die Stadt beherrschte, war viel mächtiger.
 

oOo
 

„Wenn mich jemand fragen würde, ich glaube ich würde mit Freuden mein Leben eintauschen.“

Ren musterte Yoh von der Seite, voller Skepsis und Argwohn. Es war das erste Mal, dass er solche Worte von Yoh hörte. „Ist das dein Ernst?“, fragte er leise.

Yoh nickte langsam, den Blick abwesend in die Ferne gerichtet. Auf seinen Zügen lag kein Lächeln, seit Tagen hatte man es nicht mehr bei ihm gesehen. Er, der sonst dafür bekannt war, in jeder noch so auswegslosen Situation das Positive zu sehen, hatte an dem Tag von Jeannes Tod aufgehört zu lächeln. Die Realität hatte ihn eingeholt.

„Als Hao das erste Mal gesagt hat, wir wäre Brüder, wollte ich ihm nicht glauben. Ich konnte ihm nicht glauben. Doch als Vater seine Worte dann bestätigte, musste ich es glauben. Weißt du, was es für ein Gefühl ist, einen Mörder zum Bruder zu haben? Das Gefühl ist stark genug, um einen wünschen zu lassen, jemand anderer zu sein, bloß nicht der Bruder dieser Person.“

Ren atmete langsam ein, der Boden des Daches unter seinen Händen war unnatürlich kühl. Hatte Jun auch so gedacht, als er gemordet hatte? Hatte sie sich auch gewünscht, nicht seine Schwester sein zu wollen? Der Gedanke schmerzte stärker, als er sich eingestehen wollte. Ren konnte sich nur mit Mühe von ihm lösen.

„Während ich bei Hao war“, begann er und registrierte am Rande, wie Yoh ihn ansah. Er hatte bisher mit niemandem von ihnen über diese Tage gesprochen. „Da habe ich ihn selbst erlebt. Er ist grausam und gnadenlos. Seine Anhänger halten blind zu ihm. Und trotzdem gibt es wenigstens einen unter ihnen, der zweifelt. Ich habe mit Opacho gesprochen und du hast ein Recht darauf, zu erfahren, was er mir gesagt hat.“ Ren sah Yoh direkt an. „Er ist der festen Überzeugung, Hao wäre vom Geist des Feuers besessen.“

Fassungslosigkeit breitete sich auf Yohs Gesicht aus. „Besessen? Du meinst, der Geist des Feuers kontrolliert ihn?“

Ren schüttelte den Kopf. „Ich meine nichts. Opacho meint, es zu wissen. Ich gebe nur seine Ansicht wieder.“

„Und was meinst du dazu?“, fragte Yoh.

„Ich weiß es nicht. Der Geist des Feuers ist unwahrscheinlich stark, Hao konnte mit ihm Jeanne töten, wo wir selbst es doch nicht einmal geschafft haben, Jeanne zu berühren, als wir sie selbst noch bekämpft haben.“

„Das stimmt.“ Yoh senkte den Blick, Resignation und Reue auf seinen Zügen. Dafür, dass er einen Moment lang gehofft hatte.

Ren zögerte, beschloss dann jedoch, die Worte auszusprechen: „Hao ist nicht menschlich.“ Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: „Ich stand vor ihm , ich habe mit ihm gesprochen und da ist nichts Menschliches an ihm. Es ist etwas an ihm, dass ... man hat das Gefühl, es zerstört einen von innen heraus. Es ist nicht nur Haos Kraft, es ist seine ganze Ausstrahlung. Das ist nicht ... natürlich. Es ist sein Schutzgeist.“ Er wusste, dass es die richtigen Worte gewesen waren, als Yohs Mundwinkel zuckten.

„Na so was, du ringst um Worte? Das erlebt man nicht oft.“

Ren murrte. „Gewöhn dich lieber nicht dran.“

„Keine Sorge.“ Yoh neigte den Kopf, lächelte nun tatsächlich. „Ich werde es nicht wagen.“

Sie schnitten das Thema nicht weiter an. Yoh wusste, was Ren für ihn getan hatte und Ren wusste, dass er Yoh mit seinen Worten eine Last von den Schultern genommen hatte. Zumindest bis man ihn vom Gegenteil überzeugte, konnte Yoh mit der Zuversicht leben, keinen Mörder zum Bruder zu haben.

„Wird das jetzt zur Gewohnheit?“, erklag Horohoros Stimme unvermittelt hinter ihnen. Schritte näherten sich und der Ainu setzte sich neben Yoh an den Rand des Daches. „Findet man euch nach Mitternacht jetzt jede Nacht hier oben?“

„Stört es dich?“, entgegnete Ren und lächelte spöttisch. „Ach, ich vergaß, kleine Ainus sollen ja bereits um acht schlafen.“

„Pass auf, was du sagst“, drohte Horohoro spielerisch und erwiderte das Lächeln herausfordernd. „Du bist der Verletzte von uns und wenn Anna doch hier oben erwischt, dann will ich nicht in deiner Haut stecken.“ Kororo, bis dahin verborgen zwischen Horohoros Haaren, kicherte, erhob sich in die Luft und ließ sich auf Rens Schultern nieder. In den letzten Tagen suchte sie vermehrt die Nähe des Chinesen auf, während Horohoro und Bason häufig bei einem Gespräch gesehen wurden.

Rens Mundwinkel hob sich kurz, dann lag seine Aufmerksamkeit wieder auf dem Ainu. „Anna wird mich aber nicht erwischen.“ Der ungläubige Blick von Horohoro wurde mit einer Handbewegung abgetan. „Im Gegensatz zu dir bin ich vorsichtig und mache nicht alle durch unnötigen Lärm auf mich aufmerksam.“

„Ich war heute ausgesprochen unauffällig“, widersprach Horohoro empört. „Niemand hat bemerkt, dass ich mich aufs Dach geschlichen habe.“

„Niemand“, bestätigte Chocolove, der nun ebenfalls auf das Dach hinaustrat. Er grinste und zeigte ihnen voller stolz das Victory Zeichen, als sie sich zu ihm umdrehten. „Nur meine hervorragenden Ohren konnten die umfallende Zimmerpflanze nicht überhören.“

Ren lachte leise, während Horohoro vor Scham rot anlief. „Das war ein Unfall!“, beharrte er. „Und ich hätte sie beinahe rechtzeitig aufgefangen. Was steht die auch mitten im Raum?“ Sowohl Chocolove, als auch Ren zogen es vor, Horohoro nicht darauf aufmerksam zu machen, dass die Pflanze auf der Fensterbank stand.

„Wenn euch der Nachthimmel so fasziniert, solltet ihr Astrologen werden“, bemerkte Chocolove und setzte sich zu ihnen. Er griff nach einem kleinen Stein neben sich, holte aus und warf ihn in hohem Bogen von sich. „Und Leute, was ist das?“, fragte er, woraufhin ihn drei fragende Blicke trafen. Er grinste sie überlegen an und antwortete: „Ein Himmelskörper!“ Es folgte ein gemeinsames Aufstöhnen von Horohoro und Ren, während Yoh leise kicherte.

Bason und Amidamaru wechselten schmunzelnd bedeutungsschwere Blicke, Mic Jaguar brummte und Kororo summte fröhlich.

Das Quietschen der Tür hinter ihnen zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Lyserg trat zaghaft aus dem Schatten und kam langsam auf sie zu. Er lächelte entschuldigend und setzte sich neben Ren. „Ich dachte mir, dass ihr hier seid“, sagte er zu seiner Rechtfertigung, doch niemand tadelte ihn für seine Anwesenheit. Yoh beugte sich vor, um ihn anzusehen. „Wie geht es dir?“, fragte er.

„Den Umständen entsprechend“, gestand Lyserg und lächelte schwach. Eine angenehme Stille senkte sich über das Dach und abwesende Blicke wurden in den Himmel gerichtet.

„Ren hat mal gesagt, wenn er in den Himmel sieht, dann träumt er von Milch, wann immer er die Milchstraße sieht“, nahm Horohoro schließlich als erster wieder das Wort an sich. Ren zuckte wie unter einem Schlag zusammen und sandte giftige Blicke in die Richtung des Ainus. Befreites Lachen folgte auf Horohoros Worte, Chocolove prustete. „Ren, das ist ja schon eine Obsession“, bemerkte er belustigt.

Der Chinese verschränkte peinlich berührt die Arme. „Ist es nicht. Was spricht dagegen, Milch zu mögen? Und Horohoro“, ein gefährliches Lächeln erschien auf seinen Zügen, „jemand, dessen Lieblingsfarbe Babyblau ist, der sollte meine Vorlieben nicht ins Lächerliche ziehen.“

Horohoro errötete, als weiteres Lachen auf Rens Worte folgte. „Das ist nicht Babyblau, du Ignorant, das ist Himmelblau! Außerdem ist es nicht meine Lieblingsfarbe, das ist nämlich be - ich meine, das ist etwas vollkommen Anderes!“

Chocolove griff Horohoros Ausrutscher mit Freuden auf. „Ach, was ist dann deine Lieblingsfarbe? Wolltest du ganz zufällig Bernstein sagen?“, fragte er mit vielsagendem Blick auf Ren.

„Natürlich nicht!“, protestierte Horohoro. „Ich meinte ... beige, du Idiot!“

„Aber sicher doch“, lachte Chocolove. „Was immer du sagst, Casanova.“

„Sei vorsichtig, Chocolove“, drohte Horohoro, „aus zuverlässigen Quellen weiß ich nämlich, dass du dir heimlich Annas Serien ansiehst.“

Der Beschuldigte erschauderte merklich. „Wer hat das behauptet? Niemand weiß - ich habe nie ... das kannst du nicht beweisen!“

„Glaubst du?“ Horohoro lächelte durchtrieben. „Fragen wir doch mal Tamao, die dich vor einigen Tagen dabei beobachtet hat.“

Ren war der erste, der in schallendes Gelächter ausbrach. Einen Moment lang, wurde er von den anderen überrascht angesehen, dann stimmten sie mit ein. Selbst Chocolove musste schließlich lachen. Als sie sich wieder beruhigten, kicherte Horohoro noch immer und Chocolove hatte Mühe, eine ernste Miene zu bewahren. „Na gut, ich gebe mich geschlagen. Du hast mich überführt.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber jeder hat seine Obsessionen, nicht wahr Horohoro, Ren?“

„Keine Ahnung wovon du redest“, entgegneten sie gleichzeitig und zogen dadurch die allgemeine Belustigung auf sich.

In diesem Moment vergaßen sie den Ernst, der die Vergangenen Tage dominiert hatte, die Unruhe, die sie auf das Dach getrieben hatte, die keinen von ihnen Schlafen ließ. In diesem Moment waren sie gewöhnliche Jungen, die scherzten und sich gegenseitig aufzogen. In diesem Moment lebten sie wieder.
 

Viel später in dieser Nacht, als sie wieder in ihren Zimmern waren, saßen Horohoro und Ren in der Dunkelheit auf ihren Futons und sahen sich an. Chocolove schlief fest, hin und wieder murmelte er etwas im Schlaf.

„Es ist erschreckend“, sagte Horohoro leise, „wie aus einem einfachen Turnier so schnell bitterer Ernst wird. Es war klar, dass es hart wird, doch dass wir um unser Leben kämpfen müssen, dass es beinahe zur Nebensache wird, wie viel Furyoku wir haben, sondern einzig und alleine zählt, wie viel Leben noch in uns ist, damit habe ich nicht gerechnet.“

„Damit hat niemand gerechnet“, bemerkte Ren ebenso leise.

„Aber die Schamanenrichter haben gewusst, dass Hao kommen wir. Silva hat es doch gewusst, weil Hao laut ihm alle fünfhundert Jahre versucht, Schamanenkönig zu werden.“ Ren schwieg. „Und du Ren?“, fragte Horohoro schließlich. „Hast du damit gerechnet?“

Ren sagte lange Zeit nichts, dann hörte Horohoro ein Rascheln aus Rens Richtung, anschließend einen zischend ausgestoßenen Atem. „Ich ... hätte das Turnier zum bitteren Ernst gemacht, wenn ich nicht so früh auf Yoh als Gegner getroffen wäre. Dieser Kampf hat so vieles in mir verändert, meine Ansichten, meine Auffassungen, meine Wünsche. Hätte ich nicht gegen Yoh gekämpft, ich hätte bei keinem meiner zukünftigen Gegner auf Leben oder Tod Rücksicht genommen.“

„Ich verstehe“, murmelte Horohoro, obwohl er tatsächlich nur einen Bruchteil verstand und gleichzeitig wusste, dass es so war. „Ich habe immer nur gehofft, Schamanenkönig zu werden, um den Bestand der Huflattichblätter zu sichern.“

Ren seufzte. „Du bist wahrscheinlich einer der wenigen, der den Titel nicht für sich selbst haben wollte.“ Er lachte trocken. „Nein, du bist wahrscheinlich der einzige, der nicht aus egoistischen Antrieben gehandelt hat.“

„Im Prinzip bin ich ziemlich egoistisch“, lächelte Horohoro matt, obwohl er wusste, dass Ren es nicht sah. „Ich will mich nicht wieder umsonst abmühen. Ich habe schon so oft versucht Felder am Leben zu erhalten, nur um eins nach dem anderen schließlich aufzugeben zu müssen, weil niemand sonst sich die Mühe machte, auf sie zu achten. Es tut weh, die Huflattichblätter sterben zu sehen und anschließend diejenigen, die sie so dringend brauchen.“ Horohoro schloss die Augen. „Ich wollte diese Schuldgefühle nicht mehr spüren müssen, darum wollte ich Schamanenkönig zu werden. Du siehst, ich bin doch egoistisch.“

„Der verschiebst die Perspektiven“, widersprach Ren. „Es ist nicht egoistisch, du redest es dir bloß ein. Ob es nun aus Schuldgefühlen heraus geschieht oder nicht, spielt keine Rolle, du wolltest es für jemand anderen erreichen.“

„Ach Ren, du hast so eine nette Art, das schön zu reden. Das hätte ich nicht von dir erwartet“, erwiderte Horohoro. Trotzdem war er Ren dankbar für seine Worte. Sie beruhigten ihn, entgegen seiner Erwartung.

„Ich von mir auch nicht“, gestand Ren. „Eigentlich ist es nicht fair, dass ich noch im Turnier bin. Du hättest es viel eher verdient.“

Horohoro verdrehte die Augen. „Jetzt fang nicht so an.“ Er hatte befürchtet, dass das Gespräch diese Richtung einschlug. „Ich will kein Mitleid von dir, Ren. Du hast gewonnen, weil du besser warst, Ende der Geschichte. Ende der Geschichte“, wiederholte er mit Nachdruck, als er hörte, wie Ren zum Sprechen ansetzte. „Herrgott, du bist echt schlimm. Ich dachte, damit wären wir durch, Tao Ren. Und wenn sich jemand bezüglich des Kampfes Gedanken machen muss, dann bin ich das.“

„Und jetzt bist du es, der falsch liegt“, entgegnete Ren scharf.

„Werdet ihr euch mal einig?“, brummte Chocolove missgestimmt und zog sich die Decke über den Kopf. „Das kann man sich ja nicht mehr mit anhören. Lebt mal in der Gegenwart, Jungs.“

Horohoro und Ren starrten auf die Auswölbung der Decke, unter der Chocolove sich nur zu einer Kugel zusammenrollte, dann schüttelten sie gleichzeitig, ohne es zu sehen, die Köpfe. „Ignorant“, sagten sie, legten sich hin und drehten sich auf die Seite. Sie sahen auch nicht, dass Chocolove unter der Decke lächelte.
 

Das Halbfinale des Turniers rückte von Tag zu Tag in greifbare Nähe. Tagtäglich unterzog Ren sich einiger Nervenaufreibender, jedoch nicht minder effektiven Untersuchungen Fausts, ließ sich Stück für Stück von dem Arzt heilen. Zwei Tage vor Beginn des Halbfinales erklärte Faust ihn für genesen. Ren wusste, dass er es den medizinischen Kenntnissen und dem Furyoku von Faust zu verdanken hatte, dass nach so kurzer Zeit alle Brüche und Prellungen verheilt waren. Unter normalen Umständen hätte dieser Prozess Wochen bedurft.

„Du solltest deine Grenzen kennen, Ren“, sagte Faust zu ihm, während er seinen Arztkoffer packte. „Du bist zwar genesen, das heißt aber nicht, dass du unverwundbar bist. Bis zum Halbfinale musst du dich schonen, denn sonst“, er sah ihn fest an, „überlebst du nicht lange.“

Ren nickte, neigte prüfend den Kopf von einer zur anderen Seite und stellte mit Zufriedenheit fest, dass der Schmerz nun gänzlich ausblieb. Dann stand er auf, griff nach seinem Oberteil und zog es sich über. „Keine Sorge“, erwiderte er ernst, „ich habe nicht vor, schon zu sterben.“

Faust lächelte, während Eliza ihm den Koffer abnahm. „Das will ich hoffen.“ Er nickte ihm zu, dann verließ er den Raum. Ren wusste, dass er nun die Krankenstation von Doby Village aufsuchen würde, um dort zu helfen. In den letzten Tagen waren weitere Opfer Haos dazugekommen, weitere Verletzte und Tote und Faust half, wo er nur konnte.

„Schon aufgeregt?“, erklang Chocoloves Stimme hinter ihm. Ren drehte sich um, der Dunkelhäutige lehnte an der Wand neben der Tür. „Gleich werden die Paarungen bekannt gegeben.“ Ren taxierte ihn mit einem abschätzigen Blick. „Du sagst das so, als wäre es etwas Verbotenes“, bemerkte er spöttisch.

Chocolove verschränkte die Arme. „Tue ich gar nicht“, widersprach er schmollend. „Ich sage nur, wie es ist.“

„Und wir alle wissen, dass du der beste dafür bist“, zog Ren ihn auf, während er sich das Donnerschwert an den Gürtel band.

„Mach dich nicht über mich lustig, Tao Ren“, drohte Chocolove und hob spielerisch die Faust. „Sonst bekommst du die geballte Kraft eines Komikers zu spüren!“

Ren beging den Fehler, ihn nicht ernst zu nehmen. „Versuch es.“ Er konnte nicht schnell genug Blinzeln, da bereute er seine Worte bereits, den Chocolove setzte zu seinem gefährlichsten Angriff an. Die folgenden zehn Minuten attackierte Chocolove ihn mit Witzen der übelsten Art, bis Ren sich voller Verzweiflung die Ohren zuhielt und auf sein baldiges Ende wartete. Horohoro war derjenige, der ihn erlöste. Er bemerkte im Vorbeigehen, dass Manta von seinem Einkauf Schokolade mitgebracht hätte. Schlagartig verstummte Chocolove, machte kehrt und verließ das Zimmer ohne einen weiteren Blick zurück auf Ren zu werfen. Dieser ließ langsam die Hände sinken, räusperte sich peinlich berührt und richtete sich resignierend seine Kleidung. „Idiot“, murmelte er. Basons Mundwinkel zuckten verräterisch, doch er schwieg. Er wusste, dass Ren eine wichtige Lektion gelernt hatte.
 

Der Zeitpunkt für die Verkündung der Paarungen im Halbfinale kam und verstrich genauso ereignislos. Unruhe breitete sich in Doby Village aus, niemals war eine Ansage verschoben worden oder gar ausgefallen. Ren saß im Schneidersitz am Tisch, die Augen geschlossen und meditierte, Yoh lehnte an der Wand, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke.

Alle anderen waren ebenfalls anwesend, Manta und Ryu versuchten Tamao, Pirica und Jun eine besondere Art des Kartenspielens nahe zu legen, Ryu bat Lyserg regelmäßig, sich ihnen anzuschließen und mitzumachen, doch er lehnte matt lächelnd ab. Anna trank bedacht eine Tasse Tee, Chocolove hatte vor Minuten begonnen, mit dem übrig gebliebenen Gebäck einen Turm zu bauen und Horohoro lief seit unbestimmter Zeit unruhig im Raum auf und ab.

„Hör auf damit“, sagte Anna schließlich in scharfem Ton, woraufhin Horohoro inne hielt. „Du machst es nur noch schlimmer, als es schon ist.“

„Na und?“, entgegnete Horohoro angriffslustig, woraufhin sämtliche Aktivität kurzzeitig eingestellt wurde und die Aufmerksamkeit sich auf ihn richtete. „Erzähl mir nicht, dass wir keinen Grund zur Sorge haben.“

Anna stellte die Tasse ab, dann sah sie Horohoro strafend an. „Es ist nicht dein Kampf.“

„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte Horohoro und ballte die Fäuste. „Das macht es höchstens nur noch schlimmer“, griff er ihre zuvor gesagten Worte auf. Anna verengte die Augen. „Horohoro“, begann sie drohend, doch der Ainu unterbrach sie: „Tu doch nicht so, als ließe es dich kalt!“ Er starrte Anna wütend an. „Du bist doch mindestens genauso besorgt wie ich.“

„Das reicht“, mischte Chocolove sich ein und sah Horohoro eindringlich an. „Beruhig dich.“

„Wie könnt ihr bloß so unbeteiligt sein?“, entrüstete sich der Ainu. „Wer weiß, was passiert ist?! Und wir sitzen hier rum du tun absolut gar nichts, wir warten und es könnte längst -“

„Horohoro.“ Diesmal hatte Ren gesprochen und der Ainu verstummte, sah den Chinese aufgebracht an. Ren hatte die Augen geöffnet. „Hör auf.“

„Aber“, setzte Horohoro an, doch etwas in Rens Blick brachte ihn zum verstummen. Dieser deutete mit einer Hand neben sich. „Setzt dich.“ Horohoro befolgte stumm den Befehl, es kostete ihn viel Überwindung, Rens Aufforderung nachzukommen. Seine Fäuste zitterten, er wich den Blicken der anderen auf, die gebannt dem geschehen folgten. „Ich hasse es, zu warten“, murmelte er so leise, dass nur Ren ihn richtig verstehen konnte. „Es könnte wer-weiß-was passiert sein.“

„Du hast recht“, stimmte Ren ihm ebenso leise zu. „Aber wir sind alle unruhig. Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig bekriegen.“ Horohroro nickte, sah Anna entschuldigend an, doch sie verdrehte nur die Augen.

„Bemüh dich nicht“, sagte sie gelangweilt. „Ich nehme es dir schon nicht übel. Den Abwasch wirst du trotzdem die nächste Woche übernehmen müssen.“ Der Ainu lächelte müde und nickte. Er wusste, dass dies Annas Art war, ihm zu verzeihen.

Weitere Stunden verstrichen ereignislos und die allgemeine Unruhe wuchs. Als die Sonne schließlich zu sinken begann, rührte sich Yoh zum ersten Mal. Er griff nach seinem Katana und der Antiquität und stand auf. „Wir gehen“, sagte er bestimmt und niemand widersprach ihm.

Ren beendete die Meditation, tat es oh gleich und griff nach seiner Waffe, Horohoro, der die vergangenen Stunden Ren beobachtet hatte, folgte ihm und Lyserg, Chocolove und Ryu erhoben sich ebenfalls. Yoh sah Anna ernst an, doch sie schüttelte den Kopf. „Glaub nicht, dass ich hier bleibe.“

„Horohoro“, sagte Pirica flehend, doch ihr Bruder verengte die Augen. „Du bleibst zusammen mit Tamao und Jun hier.“

„Jun“, richtete Ren sich an seine Schwester, „bitte pass auf sie auf.“ Sei lächelte ihn aufmunternd an. „Nur wenn für dich dasselbe gilt“, sagte sie mahnend und Ren nickte. Dann wandten sie sich ab und verließen gemeinsam das Haus.

Die Straßen von Doby Village waren verlassen und still. Der Wind fegte durch die Gassen, wirbelte Staub auf und erzeugte ein trostloses Heulen. Fensterläden waren geschlossen, ebenso Cafés und Souvenirläden. Es war, als ob das gesamte Dorf verlassen wäre. Sie überquerten das Dorfzentrum, trafen lediglich auf vereinzelte Menschen, verirrte Personen, auf dem Weg nach Hause, die ihren Blicken auswichen und an ihnen vorbeieilten. Sie ließen die Häuser hinter sich und näherten sich dem Hauptquartier des Schamanenrates. Ein prunkvolles Gebäude versperrte den Eintritt in die dahinter liegende Höhle. Nun trafen sie auf Wachen.

„Wir suchen Godva“, sagte Yoh mit fester Stimme und die Schamanenrichter wechselten Blicke.

„Er befindet sich in einem Krisenrat“, antwortete einer der Männer. „Asakura Yoh, was führt dich hierher?“

„Wir wollen helfen.“

Überrascht beobachteten sie, wie die Männer beiseite traten. „Und wir benötigen jede Hilfe, die wir bekommen können. Tretet ein.“ Ihre Gesichter waren hinter den hohen Kragen ihrer Schamanenkleidung kaum auszumachen, denn sie lagen im tiefen Schatten. Die Gruppe folgte der Aufforderung und sie betraten das Gebäude. Sie folgten Yoh, der sie zielstrebig zur Höhle führte.

Ein großer Kreis Männer hatte sich im Zentrum der Höhle gebildet, alle Schamanenrichter waren anwesend. Sie verstummten, als sie die Neuankömmlinge bemerkten. Godva löste sich aus den Reihen und trat vor. Auf seinen Zügen lag Trauer und tiefe Sorge. „Ich hatte gehofft, dass ihr kommt.“

„Was ist passiert?“, fragte Yoh. „Warum wurden nicht wie angekündigt die Paarungen verlesen?“

„Wir mussten einen Krisenstab einberufen, nachdem ... zwei unserer Brüder den Kampf mit Hao suchen wollten.“

Yohs Haltung verkrampfte sich, denn er wusste sofort, wen Godva meinte. „Silva!“

Der Älteste senkte betrübt den Blick. „Silva und Calim haben meine Befehle missachtet und sich von uns abgewandt. Sie verließen das Hauptquartier, um Hao unschädlich zu machen. Ich habe umgehend Männer losgeschickt, die ihre Verfolgung aufnehmen sollten. Calim konnten sie kurz vor dem Wald in Gewahrsam nehmen, doch Silva ...“ Er verstummte und schüttelte den Kopf. „Er wird gegen Hao gekämpft haben.“ Jeder der Anwesenden wusste, was dies bedeutete.

„Was ist mit dem Turnier?“, fragte Ren prüfend. Godva sah ihn lange an, dann antwortete er. „Ich weiß es nicht. Der Schamanenkönig spricht nicht zu uns.“

Ren ballte die Hände zu Fäusten. Was hast du vor?, fragte er sich und dachte an das Paar goldener Augen zurück, das ihn bereits mehrfach begleitet hatte. Warum lässt du das zu? Er verstand den Schamanenkönig nicht, hatte sich zwar nie angemaßt, ihn zu verstehen, doch er war der festen Überzeugung, dass der Schamanenkönig handeln musste. Es war seine Pflicht. Selbst wenn vorgesehen war, dass der Schamanenkönig sich niemals einmischte, aber irgendetwas musste er doch tun ...

„Was sollen wir tun?“ Es war Horohoro, der diese Frage stellte.

„Wir müssen gegen Hao kämpfen!“, erwiderte Lyserg fest entschlossen. In seinem Blick lagen Kälte und Zorn.

„Nein“, widersprach Godva energisch. „Das verstieße gegen die Regeln. Nur innerhalb des Turniers darf gegen ihn gekämpft werden.“

„Aber es haben doch so viele schon versucht, gegen ihn zu kämpfen“, wandte Chocolove ein und Lyserg nickte zustimmend. „Anhänger der X-Laws haben ihr Leben gelassen, bei dem Versuch, Hao seins zu nehmen“, argumentierte er voller Entschlossenheit.

„Sie wären dafür bestraft worden“, sagte Godva leise, dann fügte er lauter hinzu: „Diese Zwischenfälle sind schrecklich und bedauerlich, doch auch sie verstießen gegen die Regeln. Da der Schamanenkönig uns nicht antwortet, bleibt uns nichts Anderes übrig, als das Turnier fortzusetzen.“

„Das könnt ihr nicht machen!“, wandte Lyserg ein, das Gesicht verzerrt vor Fassungslosigkeit und Frustration. „Es werden mehr sterben. Hao hat bereits Jeanne auf dem Gewissen.“

„Und Silva“, murmelte Yoh abwesend.

Godvas Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Glaubt nicht, dass er mir nicht weniger wehtut. Ich habe einen wertvollen, guten Mann verloren und bereits viele andere Männer, die töricht genug waren, den Kampf gegen Hao zu suchen.“

„Wie soll dann überhaupt jemand gegen Hao ankommen?“, stellte Horohoro die entscheidende Frage. „Wenn sie es nicht schaffen, wie sollen es dann andere schaffen?“

„Zweifelst du etwa an uns?“, fragte Ren und Horohoro sah ihn entsetzt an. „Yoh und ich sind noch immer im Turnier. Zweifelst du daran, dass wir Hao besiegen können?“

Horohoro sah zu Boden. „Nein“, gestand er zerknirscht.

Ren lächelte grimmig. „Genau das wollte ich hören. Bevor du an Yoh zweifelst, solltest du lieber erst an mir zweifeln.“

„Heißt das“, begann Chocolove zögernd, „dass du Yoh für den Stärkeren hältst? Sogar stärker als du?“

Ren betrachtete ihn abschätzend. „Das habe ich nicht gesagt. Aber ihr glaubt doch ohnehin alle zuerst an Yoh, darum solltet ihr nicht an ihm zweifeln.“

„Godva, wer war vorgesehen, im Halbfinale gegeneinander zu kämpfen?“, fragte Yoh ruhig und die anderen verstummten. Das Oberhaupt der Schamanen richtete seinen Blick auf Ren und sah ihn fest an. „Ren und Hao.“

Ren musste zugeben, dass er nicht wirklich überrascht war. Im Gegenteil, seine Erwartungen hatten sich bestätigt. Und während Horohoro neben ihm scharf die Luft einzog, breitete sich auf seinen Zügen ein grimmiges Lächeln aus. „Bingo.“
 


 

Nachwort(e): Es tut weh, Charaktere sterben zu lassen. Es ist nicht schön, wer immer etwas anderes behauptet ... denkt eben anders ^ ^ Wer bin ich, dass ich das bewerte? Nein, ehrlich, ich finde es nicht schön, und dabei gehören diese Charaktere nicht einmal mir. Ich hoffe, ihr habt den erhofften Plot gefunden, wenn nicht, stelle ich bei Gelegenheit Warnschilder und Wegweise auf ^ ^ ( ➜ hier entlang bitte, werte Leser)

Bis demnächst!

Gram

Kekse, Kuchen und Bewunderung an:
 

Rici-chan, sweet_mikako, _-Schatten-_, Chirisu, common_angel, babyren, Anymore, Rolly, Driger-Kyuubi-Uke, NaruSasu
 


 

Kapitel 21: Gram
 

Der Kummer, der nicht spricht, nagt am Herzen, bis es bricht.

William Shakespeare
 

„Das kannst du nicht bringen.“

„Red keinen Unsinn.“

„Das ist kein Unsinn, ich meine es todernst!“

„Und ich auch.“

„Verdammt, red nicht so makaber, du könntest wirklich dabei draufgehen.“

„Als ob.“

„Verdammt, ich will das nicht!“

Chocoloves Blick wanderte von Yoh zu Lyserg. Man hörte Horohoro draußen aufgebracht auf und abgehen, Rens Augenverdrehen war beinahe akustisch wahrnehmbar. „Was meint ihr“, setzte Chocolove zögernd an. „Sollten wir ... oder eher nicht?“

„Das geht uns nichts an“, bemerkte Yoh leise. Seine Miene blieb unbewegt. Seit Godva verkündet hatte, dass Ren gegen Hao würde kämpfen müssen, wirkte Yoh angespannter denn je.

„Aber Ren ist auch unser Freund“, warf Ryu ein. Lysergs Mundwinkel zuckten kurz, er schüttelte den Kopf. „Aber nicht auf dieselbe Art, wie bei Horohoro.“

„Ren, bei allen Schutzgeistern, sei doch vernünftig!“

„Ich bin vernünftig. Außerdem habe ich Opacho mein Wort gegeben.“

„Aber dein Wort kann doch nicht mehr wert sein, als dein Leben!“

„Horohoro, krieg dich wieder ein.“

„Wie, Ren?!“

Chocolove zuckte zusammen, als Horohoros Stimme unvermittelt anschwoll. In diesem Moment wollte er ganz weit weg, denn er wusste, dass ihn das Gespräch wenige Meter entfernt spätestens jetzt nichts mehr anging. Das war keine simple Diskussion um Vernunft oder Unvernunft mehr. Das ging tiefer.

„Wie soll ich mich beruhigen, wenn ich weiß, dass du freiwillig gegen einen Wahnsinnigen antreten willst?!“

„Horohoro ...“

„Nein Ren.“ Horohoro schwieg und Chocolove versuchte, sich auf die verschiedenen Farbtöne der Steinwände zu konzentrieren. Beige, Ocker, Hellbraun ...

„Ich hab dir in unserem Kampf beinahe das Rückgrad gebrochen.“

„Wir haben doch schon darüber geredet, dass -“

„Und Hao ist viel Stärker als ich. Wenn ich es beinahe schaffe, dann kann er es doch erst recht.“

Dunkelbraun, Grau-Braun ...

„Ich habe Rücksicht auf dich genommen, Horohoro. Bei Hao werde ich mich nicht zurückhalten. Aber du ... bist etwas Anderes.“

Rot-Braun, Schwarz-Braun ...

„Wirst du etwa sentimental, Ren?“

„Ach halt die Klappe, Schneemann.“

„Braun-Braun“, murmelte Chocolove konzentriert, als das Rascheln von Stoff und abgehackter Atem an seine, wie er fand für diesen Moment viel zu guten Ohren drang. Er ignorierte Lysergs und Ryus verständnislose Blicke.
 

Es war ein Inferno. Anders wusste er es nicht zu beschreiben. Flammen schlugen um ihn herum aus dem Boden, erfüllten die Luft, nahmen ihm den Atem. Der Kragen seines Umhangs schütze ihn kaum, das Atmen brannte, er hustete.

So rot ...

Er stand noch, das war ein gutes Zeichen. Es schenkte ihm keine Hoffnung, aber für den Augenblick Optimismus. Wenn er stand, dann lebte er, wenn er Schmerz spürte, war er noch nicht tot. Er spürte die Kraft seiner Totemgeister flackern, sein Furyoku schwinden.

Wir schaffen es nicht, hörte er die Stimme der Schlange dicht an seinem Ohr.

/Gib nicht so voreilig auf/, ermahnte ihn der Adler auf seiner Schulter und stemmte sich gegen die Macht, die sie nieder zu drücken versuchte, begleitet von den übrigen Geistern, die ihn schützen. Er war ihnen dankbar dafür, dankbar für ihren Aufopferungswillen.

Über all dem Feuer erhob sich Hao in majestätischem Auftreten, der Geist des Feuers nahm seine Aura ein, verschmolz mit dem jungen Menschen, vereinnahmte ihn. Silva sah die Aussichtslosigkeit seiner Situation, dieses Kampfes, einfach alles.

„Wie fühlt es sich an, Silva?“ Haos Stimme war nicht mehr die eines Menschen, sie durchdrang den Lärm des Feuers, die Mauer des Schmerzes, die Silva umgab und klang dennoch klar. Todbringend. Amüsiert. „Zu sterben und gleichzeitig zu wissen, dass du mich nicht aufhalten kannst. Es nie konntest und auch nie wirst.“

Es tat weh.

„Wie ist es, zu sterben?“

Es schmerzte.

„Ich werde es niemals erfahren.“ Hao - der Geist des Feuers - lachte. „Und es auch nicht vermissen.“

Lass es aufhören.

„Aber dir werde ich diese letzte Erfahrung schenken, Silva.“

Mach, dass es endet.

Entschuldige, Silva. Die Stimme dicht neben seinem Gesicht klang schwach und gebrochen. Bitte verzeih uns.

„Zu schade. Es scheint als hättest du -“

Wie sollte er es ihnen nachtragen? Sie hatten für ihn gekämpft, würden mit ihm untergehen und hatten nie ...

„Aufgegeben.“
 

Wenn Sterben so schmerzhaft war, warum war der Tod es dann auch? Es wäre nur gerecht, ihm im Tod wenigstens etwas Ruhe zu gönnen, ihn von dem zu erlösen, was ihn aus der Welt gerissen hatte.

Schmerz.

Schmerz war etwas Lebendiges, Nichts war der Tod. Aber er war dem Nichts so fern, er umarmte den Schmerz, er fühlte, er -
 

Lebte.
 

oOo
 

„Du bist ein selbstsüchtiger Mistkerl, Ren.“

„Ach?“ Ren blieb unbeeindruckt. „Jetzt bin ich also nicht mehr der ‚stoische Bastard, der es verdient, bei der nächsten Mahlzeit an einem Reiskorn - nein, doch nicht oder doch, genau so! Nein, vielleicht doch nicht, ach verdammt Ren, ich weiß doch auch nicht! - zu ersticken’?“

Horohoro knurrte. „Das war nicht der Wortlaut.

„Doch Horohoro. Der genaue Wortlaut.“

„Ich habe dich einen ‚stoischen, idiotischen Bastard’ genannt. Da liegt ein gravierender Unterschied.“

„Tatsächlich? Und wie kommt es zu deiner jetziges Sinneswandlung? Warum jetzt bloß noch der selbstsüchtige Mistkerl?“

„Ich bin immer noch wütend auf dich.“

„Ich weiß, Horohoro.“

„Ich würde dich grün und blau schlagen für deinen Egoismus, aber dann könntest du nicht mehr gegen Hao kämpfen und dich - nebenbei bemerkt - von ihm umbringen lassen!“

„Kein Grund gleich so laut zu werden.“

„Oh Ren, du hast mich noch nicht laut erlebt.“

Ren verschränkte die Arme, sagte jedoch nichts. Horohoro kehrte ihm den Rücken zu. „Ich gehe ins Haus. Es macht keinen Sinn mit einem Lebensmüden zu reden.“

Ren wollte Horohoro aufhalten, doch der Ainu war schneller und ließ ihn zurück. Ren seufzte und legte den Kopf in den Nacken.

„Beziehungen sind kompliziert“, sprach er in das Blau des Nachthimmels.

/Du musst versuchen, ihn zu verstehen, Meister/, bemerkte Bason ruhig. /Versuche, dich in seine Lage zu versetzen. Stell dir vor, du müsstest zusehen, wie er gegen Hao in den Kampf zieht./

„Soweit würde ich es nicht kommen lassen“, gab Ren zurück. „Er ist viel zu rücksichtvoll und würde wahrscheinlich nicht die nötige Kälte besitzen, es zu beenden.“ Er hob die Hand und begann an ihr aufzuzählen. „Er war kürzlich verletzt, hat gegen mich gekämpft und ist mental belastet. Außerdem könnte er ernsthaft verletzt -“ Er brach ab. All das traf auch auf ihn zu. Er zischte, dann fluchte er. „Verdammt.“

/Genau. Das empfindet er gerade./

„Bei allen Schutzgeistern“, knurrte Ren, dann folgte er Horohoro in das Haus. Im Gemeinschaftsraum saßen Yoh und Anna, sie redeten leise miteinander. Anna hatte die Arme um Yoh gelegt und drückte ihn an sich, Amidamaru schwebte vor dem Fenster und blickte abwesend nach draußen.

Ren ging langsam die Treppen nach oben. Es war niemand sonst da, Chocolove und Ryu waren gemeinsam mit Tamao, Manta und Lyserg losgezogen, um sich abzulenken. Die Stimmung war angespannt und bevor mögliche Auseinandersetzungen aufkamen, hatten sie beschlossen, dass Ablenkung die beste Möglichkeit war, Meinungsverschiedenheiten entgegenzuwirken.

„Horohoro.“ Ren schob den Vorhang zu ihrem Zimmer beiseite. Horohoro lag auf seinem Futon, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Zimmerdecke. Er sah Ren nicht an, als dieser eintrat. „Es tut mir leid.“

„Das sollte es“, gab Horohoro abweisend zurück. „Es sollte dir verdammt nochmal leid tun, Tao Ren. Darum, dass du es nicht verstehen wolltest, darum, dass du dir offenbar keine Gedanken um deine Leichtsinnigkeit machst.“ Horohoro atmete zitternd ein, dann richtete sich sein Blick auf Ren. Langsam setzte er sich auf. „Und mir sollte es mindestens genauso leid tun. Ich mache dir Vorwürfe, bin wütend und will dir eins reinwürgen für dein Verhalten, obwohl ich weiß, dass ich an deiner Stelle genauso handeln würde. Selbst wenn du versuchen würdest, mich davon abzuhalten.“

Ren ging vor ihm in die Knie. „Das würde ich.“

Horohoro grinste. „Wir sind eben zwei identische Vollidioten.“

„Ein chinesischer Vollidiot und ein Ainu-Vollidiot.“

„Und noch dazu total verknallt ineinander.“ In Horohoros Gesicht mischten sich Belustigung und Schmerz, als er eine Hand hob und den Chinesen am Kragen seines Hemdes zu sich zog. Er presste sein Gesicht gegen Rens Schulter. „Scheiße Ren, ich hab Angst um dich.“

Ren drückte Horohoro leicht von sich, dann beugte er sich vor. „Es tut mir leid, aber das ist der Preis.“

„Scheiß auf jeden Preis.“ Horohoro zog ihn ganz zu sich und küsste ihn. Verzweiflung und lang zurückgehaltene Leidenschaft vermischten sich in dem Kuss, machten ihn anziehend und abschreckend zugleich. Und absolut berauschend.

Abgehackter Atem, Keuchen und das Rascheln von Stoff erfüllten den Raum. Irgendwo in der Ferne heulte ein Kojote.
 

/Bason, schön, dich zu sehen./ Der Himmel war wolkenlos, die Sterne heute besonders hell. Der Mond beleuchtete matt das Dach.

/Amidamaru, was bringt dich hierher?/

/Der Wunsch nach etwas Ruhe zum Nachdenken. Wie steht es mit dir?/

/Mein Meister ist abgelenkt und ich ziehe es vor, ihn nicht zu stören./

Amidamaru schmunzelte. /Eine weise Entscheidung./

Sie verharrten schweigend nebeneinander, Grillen zirpten, die Nacht hatte ihr Reich in Besitz genommen.

/Es wird nicht leicht werden/, sagte Amidamaru schließlich.

/Nein/, stimmte Bason ihm aufrichtig zu. /Es wird sehr schwer./

/Du bist bereit, gemeinsam mit Ren deine Existenz zu riskieren./ Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung.

/Ich würde es zu jeder Zeit tun./ Bason blickte Amidamaru von der Seite an. /Du tätest dasselbe für Meister Yoh./

/Das ist wahr. Und ich würde niemals zögern./

/Oft schmerz das Wissen darum, dass er sterben kann. Ich bin ein Geist, aber dennoch in der Lage, die Schmerzen meines Meisters wahrzunehmen. Und wenn ich daran zurückdenke, wie oft ich ihn schon am Rande des Todes erlebt habe ... und niemals war die Situation so ernst wie jetzt./ Amidamaru nickte zustimmend. /Und niemals hatte Ren mehr zu verlieren. Ich empfinde es als ungerecht, doch ich kann das Schicksal nicht ändern. Ich kann nur mit ihm kämpfen und alles geben, was ich besitze, in der Hoffnung, dass es reicht./

Eine Präsenz streifte Basons Bewusstsein und er sah auf. Amidamaru hatte eine Hand auf seinen Arm gelegt. /Du bist nicht alleine, Bason. Du und Ren, ihr seid nicht alleine./

Bason lächelte und es fiel ihm entgegen seinen Erwartungen erstaunlich leicht. /Das weiß ich. Und es hilft ungemein, es zu wissen. Danke./

Es war eine klare Nacht. Eine Nacht voller Emotionen.
 

oOo
 

„Ich habe nicht vor, zu trainieren.“

Anna verengte prüfend die Augen. „Bist du dir sicher?“

Ren nahm einen Schluck Milch, sah sie dabei aus den Augenwinkeln abschätzend an. „Natürlich.“

„Du bist ganz schön von dir selbst überzeugt.“

Ren stellte die Flasche ab und lächelte Anna gefährlich an. „Nein, ich weiß nur, dass es nichts bringen würde.“

Anna taxierte ihn lange, dann seufzte sie leise. „Vermutlich hast du recht.“ Allein diese simple Zustimmung verriet mehr über Annas Besorgnis als alles andere an ihr.

„Ren hat schon trainiert“, bemerkte Chocolove glucksend. Ren sah ihn verständnislos an, Horohoro, der bis dahin mit seinem Frühstück geliebäugelt und es nun nicht länger ausgehalten hatte, hielt in der Bewegung inne.

„Hat er?“, fragte er perplex. Aber das hätte er doch mitbekommen ...

Chocolove machte eine bedeutungsschwere Pause, dann beugte er sich vor und sagte in verschwörerischem Tonfall: „Nun ja, als ich gestern Nacht mit den anderen von einer wirklich interessanten Bowlingrunde - und ich hätte, nebenbei bemerkt, nie erwartet, dass dieses Kaff hier eine Bowlingbahn hat, aber glaubt mir, es ist so!“

„Komm zum Punkt“ Ren war an diesem Morgen nicht wirklich geduldig.

Chocolove hob beschwichtigend die Arme. „Mach nicht die Pointe kaputt. Auf jeden Fall komme ich nichtsahnend die Treppe hoch und ...“ Chocolove begann unheilvoll zu grinsen und Horohoro schwante Übles.

„Chocolove“, begann er drohend, doch der Komiker ignorierte ihn.

„Und dann bekomme ich zufällig mit, dass Ren gemeinsam mit Horohoro äußert fleißig am -“

Chocolove!“

„Trainieren war.“

Ren vermittelte den Eindruck, als erwäge er, Chocolove die Milchflasche zur Gänze in den Mund zu schieben, während Horohoro seinem Frühstück einen leidenden Blick zuwarf, als würde er es bedauern, sich nicht darin zu ertränken.

„Und?“, fragte Yoh, der neben Anna saß und lächelte schwach. Das Lächeln war nicht mehr so herzlich wie sonst, aber es war bereits ein Fortschritt, dass er überhaupt wieder dazu imstande war. Seit sie mit Godva gesprochen hatte, war er häufig mit den Gedanken abwesend und wirkte mitgenommen.

„Solange sie nicht zu laut sind, ist es ihre Sache.“ Anna war unbeeindruckt wie eh und je. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper, während Ren und Horohoro am liebsten ganz woanders gewesen wären. Ren dankte allen Göttern dafür, dass Jun momentan nicht anwesend war.

„Och menno, seid doch mal etwas schockierter“, grummelte Chocolove und jaulte dann schmererfüllt auf. Ren und Horohoro hatten ihm unter dem Tisch gleichzeitig einen Tritt verpasst. Sie wechselten einen zufriedenen Blick.
 

Sonnenlicht. Es blendete ihn, holte ihn zurück, riss ihn aus der Umklammerung, die er für den Tod gehalten hatte, sich jedoch nun als Ohnmacht entpuppte. Schmerzen empfingen ihn, hießen ihn willkommen im Leben. Sie verschlangen ihn, verbrannten ihn, hielten ihm am Leben und er öffnete den Mund, war gezwungen, ihnen zu antworten. Und schrie.
 

Sie fanden Silva am Abend als die Sonne den Horizont erreicht hatte. Es waren die Schutzgeister, die eine plötzliche Ansammlung von Energie im Wald bemerkt hatten. Zunächst hatten sie angenommen, es gehörte zu Hao, doch das Flackern des Furyokus hatte ihr Misstrauen geweckt.

Yoh schickte Ryu, Manta und Lyserg zu Godva, die anderen begaben sich in den Wald. Je näher sie der Energiequelle kamen, desto öfter schien sich zu Flackern, verschwand schließlich beinahe gänzlich. Als sie den alten, hohen Baum erreichten, von dem sie ausging, erkannten sie ihren tatsächlichen Ausgangspunkt: Silva.

Verletzt, blutend und zum Zeitpunkt ihres Erscheinens nur noch schwach am Leben, kaum bei Bewusstsein und apathisch. Tamao stolperte aufkeuchend zurück, Silvas Anblick war erschreckend und schmerzhaft, wenn man den einst so stolzen und starken Schamanenrichter kannte. Jun legte beruhigend einen Arm um sie und drückte sie tröstend an sich, versicherte ihr, dass Silva gerettet werden würde.

Faust hatte indessen umgehend mit Elizas Hilfe begonnen, Silva zu untersuchen. Ren, Yoh, Horohoro und Anna standen neben ihm, Yoh rang mit unbändiger Erleichterung und Entsetzen.

„Es ist ein Wunder, dass er noch lebt“, murmelte Faust und gab Eliza ein Zeichen. Sie nickte und legte ihre Hände auf seine. Sie begannen zu glühen. „Er hat schwere, innere Verletzungen. Die Verbrennungen, die er davongezogen hat, wären für jeden Menschen tödlich. Das er überhaupt noch Furyoku in seinem Körper hat ...“ Er schüttelte den Kopf, dann sah er auf. „Ich werde eure Hilfe brauchen, ich habe nicht genügend Furyoku, um seinen Tod zu verhindern. Ich brauche jeden von euch.“ Sie nickten, dann knieten sie sich neben Silva.

Faust hob den Blick, sah Ren an. „Du nicht, Ren. Du brauchst deine Kraft für den Kampf morgen.“

Ren verengte die Augen. „Ich habe genug Furyoku. Es wird mir nicht schaden, wenn ich etwas abgebe.“ Er hatte nicht vor, Silva sterben zu lassen.

„Hör auf ihn, Ren“, murmelte Horohoro neben ihm und sah ihn flehend an. „Bitte. Du brauchst deine ganze Kraft, morgen.“

„Du kannst nicht gegen Hao kämpfen, wenn du nicht bei vollen Kräften bist.“

Ren wusste, dass sie recht hatten, doch er gab nur widerwillig nach und stand langsam auf. „Sobald ich sehe, dass eure Kraft alleine nicht genügt“, bemerkte er sachlich, „werdet ihr mich nicht daran hindern können. Dann gebe ich euch mein Furyoku.“ Niemand zweifelte an dem Ernst seiner Worte.
 

Stimmen. Verzerrt, dumpf, grausam. Sie zogen an ihm, holten ihn zurück aus der schützenden Taubheit, zwangen ihn zurück zu den Schmerzen. Er stemmte sich gegen sie, wollte sie abschütteln, flehte sie an, ihn zurückzulassen.

„... va ....“

Sie sollten ihn gehen lassen, ihn freilassen, ihn endlich erlösen.

„... icht ... fhören ....“

Bitte ...

„... lva, bleib ... uns!“

Lasst mich.

„Gib ... cht auf ...!“

Lasst mich doch ...

„ ...stirbt noch ...“

... sterben?

„Nein ... nicht ...“

Und er begann, sich zu erinnern. An seine Pflichten, seine Ziele, sein Leben.

Leben.

„Silva!“

Und er öffnete die Augen, wurde geblendet von rotem Sonnenlicht, erstickt von Abendluft und ertränkt von Furyoku. Seine Lungen füllten sich mit Leben. Sein Herz blieb stehen, dann schlug es wieder. Kräftiger. Entschlossener. Mit Lebenswillen.
 

oOo
 

„Er schläft.“ Faust schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich. „Dank eures Furyokus war ich in der Lage, die schwerwiegenden Verletzungen zu vermindern. Die Verbrennungen sind weitgehend geheilt, er hat gebrochene Rippen, Prellungen und ein Schädeltrauma.“ Trotz allem lächelte Faust. „Nichts, was die Zeit nicht heilen kann. Er wird durchkommen.“

„Kann ich ... können wir zu ihm?“ Yoh sah Faust nicht an, doch jeder in dem Raum wusste, wie unruhig Yoh in den letzten Stunden gewesen war, in denen sie um Silvas Leben gebangt hatten.

„Er ist nicht bei Bewusstsein“, bemerkte Faust. „Aber nichts spricht dagegen. Gesellschaft hat nie geschadet, nicht wahr?“ Mit diesen Worten trat er beiseite. Yoh nickte, dann öffnete er die Tür, verharrte, als niemand ihm folgte.

„Kommt ihr nicht mit?“

Anna erhob sich von ihrem Stuhl. „Nein.“ Dann verließ sie ohne zurückzublicken die Krankenstation.

„Was Anna damit sagen will“, sagte Horohoro und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Es geht uns nichts an.“

„Aber -“

„Yoh.“ Ren verschränkte die Arme. „Geh schon.“

Yoh blickte verwirrt von einem zum anderen, doch niemand machte Anstalten, mit ihm zu gehen. Dann lächelte er und schloss die Tür hinter sich.

„Es war eine lange Nacht.“ Faust griff nach seinem Koffer, dann ließ er seinen Blick durch den Warteraum schweifen. „Ihr solltet euch auch ausruhen. Besonders du, Ren.“

Der Chinesen gab einen abschätzigen Laut von sich, rührte sich jedoch nicht weiter. Faust schmunzelte, dann verließ er ebenfalls den Raum. Die anderen folgten ihm, warfen kurze Blicke zurück, schließlich waren jedoch nur noch Ren und Horohoro anwesend.

„Faust hat recht“, murmelte Horohoro, rührte sich jedoch auch nicht, rückte stattdessen noch näher an Ren, bis sie Schulter an Schulter nebeneinander saßen. „Du solltest dich für morgen ausruhen.“

„Das tue ich.“ Ren hatte die Augen geschlossen, sein Kopf neigte sich zur Seite, bis er in Horohoros Halsbeuge lag. „Und jetzt nerv nicht.“ Horohoro lächelte, doch lagen darin Schmerz und Bitterkeit. Er war froh, dass Ren es nicht sah.

Einen Raum weiter stand Asakura Yoh unentschlossen vor dem Krankenbett und wusste nicht so recht, ob er stehen bleiben oder sich den Stuhl nehmen sollte, der in einer Ecke des Raumes stand. Er entschied sich für letzteres und musste angesichts seiner Jämmerlichkeit leise lachen. Er nutzte aber auch wirklich jede Chance, um dem unvermeidbaren auszuweichen. Er hatte kurz davor gestanden, Ren oder Horohoro zu bitten, mit ihm zu kommen, bloß um nicht alleine mit dem bewusstlosen Silva in einem Raum zu sein.

Er setzte sich auf den Stuhl, beugte sich vor und musterte zögernd die nicht von Verbänden eingenommenen Züge des Schamanenrichters.

Er wünschte sich, Amirdamaru wäre bei ihm. Sein Schutzgeist hatte sich ebenso wie alle anderen zurückgezogen. Yoh verstand nicht, wieso alle meinten, er müsste alleine mit Silva sein. Er hatte ihm nichts zu sagen und selbst wenn ... war Silva nicht bei Bewusstsein. Er wusste ohnehin nicht, was er Silva hätte sagen -

„Entschuldige.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und so flehend, dass er sie im ersten Moment nicht für seine hielt. Doch es waren seine Lippen, die sich bewegt hatten. Er schreckte auf und bemerkte, dass er zitterte. Und das, obwohl es noch nicht einmal kalt war. Ein humorloses Lachen entwich seiner Kehle, schwoll an, bis es verklang und etwas Anderem wich. Yoh merkte beinahe zuerst gar nicht, dass er weinte.

„Es tut mir so leid.“ Er ließ den Kopf nach vorne sinken und es war, als würde alles, das ihn in den letzten Tagen belastet hatte, alles, was ihn in den letzten Wochen - Monaten - in Albträumen heimgesucht hatte, nun auf ihn einströmen. Ihn verschlingen.

Die Erkenntnis, dass er einen Bruder hatte, dass dieser ein Monster war und seine Mutter getötet hatte. Dass Ren sie verraten hatte, um Horohoro zu beschützen und dass er selbst Ren nicht hatte aufhalten können, ihm nicht im Geringsten hatte helfen können. Dass Hao ungestraft mordete, dass er Chocolove schwer verletzt hatte, Horohoro besessen und ihn beinahe Ren hatte umbringen lassen. Dass er Jeanne getötet hatte und so viele andere und nun beinahe auch Silva.

Silva, der immer ein guter Freund gewesen war, der für sie gekämpft - der sie beschützt - hatte.

Und das alles nur, weil Yoh zu schwach war, weil er seinen Bruder nicht aufhalten konnte.

„Ich will es ja“, sagte er mit erstickter Stimme, Tränen liefen heiß seine Wangen hinunter - die Kopfhörer um seinen Hals würden sich kaum über die Feuchtigkeit freuen ... „Aber ich kann nicht. Er ist mein Bruder. Und ob er nun besessen ist oder nicht ... es ändert nichts an dem, was er getan hat.“ Er fuhr sich über die Augen, schluckte mehrmals, doch es half nichts. „Wenn er wieder zu sich kommt ... wieder er selbst wird, was wird er dann denken? Was wird er fühlen? Will man überhaupt noch leben, wenn einem bewusst wird ... was man getan hat?“ Er wusste die Antwort, brauchte sie nicht aussprechen, denn er wusste, was sein innigster Wunsch an Haos Stelle wäre:

Sterben.

Und er ertrug es nicht. Ertrug es nicht, einen Bruder zu verlieren, den er nie wirklich besessen hatte.
 

Auf der anderen Seite der Tür lag Rens Stirn in Falten. Horohoro presste sich näher an die Trost spendende Wärme neben sich, war dankbar dafür, dass er sie hatte. Er hörte Yohs Schluchzen durch die Tür, hätte seinen besten Freund zu gerne getröstet, doch er wusste ebenso wie Ren, dem es wahrscheinlich nicht unähnlich erging, dass es nichts gab, womit sie Yoh hätten trösten können. Selbst Anna hatten dies erkennen müssen und war darum so abrupt gegangen. Auch ihr tat es weh, Yoh so verlassen und verzweifelt zu wissen.

Und so blieb ihnen nichts, als Yoh sich seinem Schmerz zu überlassen, während Horohoro in der Dunkelheit des unbeleuchteten Raums nach Rens Hand tastete und sie so stark umklammerte, als fürchtete er, Ren könnte jeden Moment verschwinden.
 


 

Nachwort(e): Ich hoffe, niemand ist zu schmerzhaft OOC (das mag ich nämlich selbst nicht), aber Yohs Reaktion scheint mit irgendwie gerechtfertigt oder vielmehr absehbar. Irgendwann hält man es einfach nicht mehr aus - so zumindest habe ich es mir vorgestellt. Und was Ren und Horohroro betrifft, nun ja, die beiden sind zwar erst 15 aber ich habe ja auch nicht explizit geschrieben, was sie denn nun genau "getan" haben ^ ^"

Über Kommentare/Eindrücke würde ich mich natürlich freuen und sie würden mir sehr helfen! Danke fürs Lesen.

Starrsinn

Vorwort(e): Danke für eure Geduld. Ich musste mich wirklich zum Schreiben überwinden, da es mir in den letzten Monaten sehr schwer fiel, aber endlich habe ich etwas fertig gebracht, mit dem ich zufrieden bin. Diese Geschichte wird nicht abgebrochen, ich werde sie definitiv zu einem Ende bringen. Viel Spaß mit diesem Kapitel.
 

Kapitel 22: Starrsinn
 

Kein Lebewesen ist Eigensinniger als der Mensch, keins muss behutsamer, keins schonender behandelt werden. 

Seneca Lucius Annaeus
 

Am Morgen des Halbfinales weigerte Horohoro sich, mit Ren zu sprechen. Er sah den Chinesen häufig von der Seite an, bedachte ihn mit finsteren Blicken, doch kein Wort kam über seine Lippen. Ren reagierte auf dieses Verhalten mit Unverständnis, bis Horohoro nicht nur Frühstück, sondern auch das Mittagessen verweigerte. Erst dann wurde Ren bewusst, dass Horohoro es ernst meinte. Dass er wütend auf Ren war und dies weniger mit Ren selbst, als mit ... schlichtweg allen Umständen zu tun hatte.

Horohoro verfluchte das Turnier. Es zwang Ren einen Gegner auf, den der Ainu als viel zu übermächtig einstufte, um einfach so besiegt zu werden. Es schickte Ren in sein sicheres Verderben und Ren unternahm noch nicht einmal irgendetwas, um es zu verhindern. Das machte Horohoro rasend und er zog es vor, lieber gar nichts zu sagen, bevor die falschen Worte seine Lippen verließen.

Der Kampf war auf den frühen Abend gelegt worden und je näher der Zeitpunkt kam, desto nervöser wurden alle um Ren. Der Chinese selbst schien mit jeder verstreichenden Stunde ruhiger zu werden, bis der Punkt erreicht war, an dem Chocolove, ungläubige und wütende Worte murmelnd, überstürzt den Raum verließ, weil Ren ihm unheimlich wurde. Manta weigerte sich, im selben Zimmer zu bleiben wie Ren und Tamao begann zu zittern, wenn Ren den Blick lediglich in ihre Richtung lenkte.

Yoh wich Ren nicht von der Seite, er saß bei den Mahlzeiten neben ihm und im Gemeinschaftsraum nahm er den Platz Ren gegenüber ein, ließ ihn keinen Moment aus den Augen. Auf die Frage hin, was dies sollte, antwortete er Anna, er versuche, Ren mental zu unterstützen. Tatsächlich schien zwischen Ren und Yoh eine geballte Ansammlung von Furyoku zu zirkulieren. Der Chinese tolerierte diese Versuche, als Ryu jedoch anfing, darüber zu sinnieren, wie loyal und wundervoll Yohs Verhalten sei, verwies er den Schwertkämpfer mit einem scharfen Kommentar des Zimmers.
 

5 Stunden und 2 Minuten
 

Horohoro durchstreifte unterdessen die verlassenen Straßen von Doby Village und vermisste das rege Treiben, das wenige Tage zuvor noch in dem Dorf geherrscht hatte. Fensterläden waren geschlossen, die Wege wie ausgestorben. Kein Café hatte geöffnet, kein Souvenirstand war weit und breit zu sehen. Doby Village verharrte und wartete.

Der Ainu erreichten den Spielplatz, der, wie schon beim letzten Mal, verlassen war. Diese Einsamkeit war ebenso bedrückend wie Nerven zehrend. Er setzte sich auf die Schaukel und blickte in den Himmel. Wolken hatten sich gebildet und hingen schwer über Doby Village. Er empfand sie als Unheil verkündende Vorboten, obwohl Regen in der Wüste als Leben spendendes Phänomen angesehen wurde. Kororo saß auf seiner Schulter, ließ träumerisch die Beine baumeln und versuchte, Horohoro zu beruhigen. Tatsächlich zeigte es Wirkung und Horohoro spürte, wie er langsam entspannte.

„Idyllisch, nicht wahr?!“

Er zuckte zusammen und fiel von der Schaukel. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er schmerzhaft im Sand landete. „W-was -?!“ Er versuchte, sich aufzurappeln, doch seine Beine hatten sich in dem Seil der Schaukel verheddert. „Was zum Teufel tust du hier?!“

Hao lächelte und schwang auf der zweiten Schaukel sanft vor und zurück. „Nur die Ruhe, kleiner Ainu. Ich bin nicht hier, um dir zu schaden.“

Horohoro glaubte ihm kein Wort. „Was fällt dir ein, hier einfach aufzutauchen?!“ Er ignorierte den Umstand, dass Hao der zurzeit gefährlichste Schamane war und ihn mit einem einfachen Wink wohlmöglich hätte töten können. Was ihn in diesem Moment beherrschte war sein Hass und seine zurückgehaltene Wut, die er nun auf Hao fokussierte.

„Mir war nach einem Plausch.“ Haos Lächeln war so lieblich, dass es wehtat.

„Erzähl keinen Scheiß!“ Seine Beine ließen sich nicht lösen und er musste sich mit der halb liegenden, halb hängenden Position zufrieden geben. „Was willst du, Mistkerl?!“

„Es gibt keinen Grund, mich so zu nennen, Horohoro.“

„Ach nein? Ich nenne dich aber so, ob du es willst oder nicht! Ich hätte noch viel schlimmere Bezeichnungen für dich, da kannst du dich drauf verlassen.“ Er senkte die Stimme. „Mörder.“

Hao zuckte nicht einmal. „Sie haben mich alle von sich aus angegriffen, ich habe mich lediglich gewehrt.“

„Die Märchen kannst du deinen verrückten Anhängern erzählen – die glauben dir das vielleicht. Aber jeder mit etwas Restverstand weiß, dass –“ Seine Worte verloren sich, als Hao plötzlich unmittelbar über ihm stand. Etwas Manisches lag in seinem Blick.

„Ich fürchte, du erkennst den Ernst deiner Lage nicht.“ Er ging in die Hocke beraubte Horohoro der Möglichkeit, vor ihm zurückzuweichen. „Der einzige Grund, warum du noch am Leben bist, ist der, dass du mir bis vor kurzem von Nutzen warst. Du warst der Köder, der Ren gefügiger machte.“ Horohoro wurde schlecht bei diesen Worten. „Und als ich deiner überdrüssig wurde, habe ich dich benutzt, um Ren für seinen Ungehorsam zu bestrafen. Du warst eine wirklich ausgezeichnete Marionette.“

Er wich mit Leichtigkeit einem Faustschlag von Horohoro aus. Eiskristalle flogen durch die Luft, zerschnitten sie dort, wo noch vor wenigen Momenten Haos Gesicht gewesen war. Hao packte den Ainu beim Handgelenk und beugte sich vor bis ihre Gesichter sich fast berührten. „Hätte dein Liebster Ren nicht einen äußerst störenden Pakt mit dem Schamanenkönig abgeschlossen, wärst du heute nicht mehr hier. Ren hätte dich in eurem Kampf mit Leichtigkeit getötet. Alles, was dich hat stärker werden lassen, war ich, Horohoro.“ Haos Züge waren gezeichnet von Boshaftigkeit. „Ohne mich warst du schwach und Ren als Gegner nicht würdig.“

„Das hättest du gerne“, zischte Horohoro. „Alles was du kannst, ist Lügen zu verbreiten und mit billigen Tricks Verbündete zu gewinnen.“ Er grinste hämisch, denn er erinnerte sich daran, was Ren ihm über Haos Besessenheit erzählt hatte. „Was wärst du denn, wenn du diesen Körper nicht unter Kontrolle hättest, Geist des Feuers? Du wärst nichts.“

Schmerz durchzuckte seinen Köper, als Hao ihn brutal zu Boden drückte. Er wurde gnadenlos in den Sand gedrückt und der Griff um sein Handgelenk war Knochen brechend. Haos Augen glühten dunkelrot. „Was hindert mich daran, dich hier und jetzt zu töten?“ Seine Stimme hatte nichts Menschliches mehr. „Was hindert mich daran, deinen Schutzgeist in Stücke zu reißen und dir im Anschluss jeden einzelnen Knochen im Leib zu brechen.“ Horohoro unterdrückte einen Schrei, als sein Handgelenk so stark gedrückt wurde, dass er meinte, Knochen brechen zu hören. „Was – sag mir, was soll mich daran hindern?“

„Ich.“ Horohoro sah Hao aus vor Schmerz halb geblendeten Augen herausfordernd an.

Hao verharrte.

„Wenn du denkst, ich würde mich nicht wehren, dann bist du noch dümmer, als ich angenommen habe. Und wenn du annimmst, ich wäre schwach, dann bist du zu hochmütig.“ Er hätte keine Chance gegen Hao, aber Horohoro gab nicht so schnell auf, wie Hao dachte. Wenn etwas dem Ainu ganz und gar widersprach, dann, sich selbst aufzugeben. Dazu hatte er nicht sein Leben lang gearbeitet. „Merk dir meine Worte Hao: Hochmut kommt vor dem Fall.“ Er spürte sein Handgelenk brechen und stöhnte schmerzerfüllt auf.

Hao starrte ihn wutentbrannt an. „Woher nimmst du dir die Frechheit, mir zu drohen?!“ Er lachte. „Wie dumm du doch bist. Jetzt wird dich gar nichts mehr retten.“

„Dein Fehler, Hao.“ Bei diesen Worten traf Horohoro den Schmananen frontal mit der linken Faust im Gesicht. Hao schrie auf und wurde, von Horohoros Furyoku unvorbereitet getroffen, zurück geschleudert. Ein kalter Windzug ließ Horohoro beruhigend frösteln - so vertraut umhüllte er ihn - und eine dünne Eisschicht überzog den Sand. Kororo summte zufrieden und während der Ainu sich langsam aufrichtete, seine Beine aus der Verhedderung löste, schiente er sein gebrochenes Handgelenk mit Eis.

Hao lag einige Meter entfernt im gefrorenen Sand. Eine Hälfte seines Gesichts und seine Schulter waren vereist. Horohoro wusste, dass er Hao nicht besiegt, sondern sich nur einige Sekunden Zeit verschafft hatte. Die Schaukeln neben ihm, von dem Wind erfasst, quietschten und Horohoros Blick schweifte kurz zu ihnen. Als er wieder zu Hao sah, lag dieser nicht mehr am Boden. Horohoro bemerkte seinen Fehler zu spät.

„Nicht so schwach, wie ich annahm.“ Hao stand unmittelbar hinter ihm. „Aber viel zu nachlässig.“ Der Schlag kam zu schnell, als dass er ihn jemals hätte blocken können. Doch als Haos Hand im Begriff war, ihn zu durchbohren, wurde sie von etwas daran gehindert. Ein tiefes Summen ließ die Luft um sie herum erzittern, als hätte Hao auf eine Glocke geschlagen. Seine Hand war von einer Barriere, abgefangen worden.

Keiner von ihnen rührte sich, während der Laut langsam verklang. Haos Züge verfinsterten sich. „Du stehst noch immer unter seinem Schutz.“ Horohoro verstand kein Wort, doch als er sich umdrehte, war Hao verschwunden.

Es verstrichen Minuten, doch Hao blieb verschwunden. Horohoro stieß den angehaltenen Atem aus, dann gaben seine Beine unter ihm nach und er sank zu Boden. Zitternd kauerte er dort, ließ sich von Kororo trösten und versuchte, die Panik, die ihn im Nachhinein befiel, nieder zu drängen.

Als Jun und Pirica ihn eine halbe Stunde später auf dem Spielplatz fanden, zitterte er noch immer.
 

4 Stunden und 13 Minuten
 

„Idiot.“ Ren attackierte ihn mit wütenden Blicken. Horohoro bemühte sich nicht einmal um die Nachsicht des Chinesen. „Lebensmüder Depp!“

Faust nickte Eliza zu und sie legte einen letzten Verband um den Gips. Horohoro hatte den Kopf in den Nacken gelehnt und die Augen geschlossen, ließ die Tirade von Ren und Fausts Behandlung schweigend über sich ergehen. Er machte sich gedanklich die Notiz, Ren später darauf hinzuweisen, dass seine Meditation für die Katz gewesen war, so, wie er sich jetzt aufregte.

„Du vertrottelter Ainu!“ Bei diesen Worten riss Horohroros Geduld. Er richtete sich auf und packte Ren am Arm, zog ihn zu sich.

„Hör mal, du kannst mich einen Idioten nennen, aber lass meine Herkunft da raus!“

Ren schwieg zunächst, dann riss er sich los. „Ich weiß aber nicht, worauf deine Idiotie sonst zurückzuführen ist! Meine Schuld kann es nicht sein, denn ich hab dir oft genug gesagt, du sollst dich von ihm fern halten!“

„Ja Mama“, äffte Horohoro und verschränkte die Arme, registrierte mit Zufriedenheit, dass er keinen Schmerz dabei verspürte. „Und wenn ich über die Straße gehe, sehe ich erst nach links, dann nach rechts. Ich gehe auch nicht mit fremden Männern mit, selbst wenn sie versprechen, mir kleine Katzen und Hunde zu zeigen. Hast du sonst noch so einmalige Lebensweisheiten für mich?!“ Horohoro forderte Ren offen heraus.

Der Chinese ging auf die Herausforderung ein. „Ja und du tätest gut daran, sie zu befolgen: Fordere Hao nicht heraus, wenn du Zukunftspläne hast. Aber ich kann es ja hundertmal wiederholen und du merkst es dir nicht!“

„Ach so, ich bin also zu schwach, um Hao Kontra zu bieten, aber du trittst mal eben im Halbfinale gegen ihn an?! Ich weiß, dass du mich im Kampf besiegt hast, aber das gibt dir nicht das Recht, mich einen Schwächling zu nennen!“

„Das tue ich nicht, aber du verstehst einfach nicht, das Hao zu mächtig ist, als dass man ihn eben mal herausfordern kann. Noch dazu, wenn –“

„Wenn was Ren?! Wenn ich alleine bin? Wenn du nicht da bist? Du bist nicht meine Amme, du hast keine Verpflichtungen mir gegenüber!“

„Doch, die habe ich, wenn du so lebensmüde bist.“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen!“

„Offenbar nicht!“, Ren deutete auf Horohoros Gips. „Du kannst von Glück reden, dass er dir nur die Hand gebrochen hat!“

„Und du kannst froh sein, dass meine rechte Hand gebrochen ist, sonst würde ich vorschlagen, dass wir das hier vor der Tür klären!“

„Mach dich nicht lächerlich.“

„Das reicht!“ Horohoro sprang auf. „Ich hab die Schnauze voll, Ren! Es ist also vollkommen okay, dass du gegen Hao antrittst und dein Leben riskierst, aber wenn ich Hao zeigen möchte, dass ich kein Versager bin, stellst du dich quer und verbietest mir, mich zu behaupten. Er hat sich über uns lustig gemacht und mich einen Köder genannt. Verdammt Ren, er hat sich auch über dich lustig gemacht! Und wenn so jemand wie Hao daherkommt und meint, dass das hier ... das wir ... - was wir haben – nur dazu taugt, es lächerlich zu machen, dann zeige ich demjenigen, dass er falsch liegt! Ich hab keinen Bock, dass das, weswegen du so viel riskiert hast, ins Lächerliche gezogen wird!“

Rens Wut hatte sich bei Horohoros Worten verflüchtigt. Niemand von ihnen hatte bemerkt, dass Faust und Eliza den Raum verlassen hatten. Der Chinesen seufzte und suchte nach Worten. „Ich verstehe ja, dass du wütend bist, aber .... das ist es doch, was er will. Er reizt dich, um dich zu provozieren, damit du nachlässig wirst. Wenn du wütend bist, dann bist du einfach berechenb–“

Horohoro bewegte sich so plötzlich, dass Ren nicht einmal daran denken konnte, zu reagieren. Dann spürte er einen Widerstand im Rücken und Horohoro presste ihn an die Wand. Sein Gips drückte auf Rens Kehlkopf und drohte, ihm die Luftzufuhr abzuschnüren.

„Wenn du wüsstest, wie sauer ich gerade bin“, knurrte Horohoro. „Ich hab so eine Wut auf Hao und auf dich, weil du denkst, alles kontrollieren zu müssen! Das hier ist keine Ein-Mann-Show - wenn du vorhast, dass das zwischen uns hält, dann musst du mir vertrauen und darfst mich nicht vor allem abschirmen, wie eine Mutter ihr Kind. Denn du bist nicht meine Mutter. Du bist mein Freund Ren und das ist der höchste Status, den du bei mir erreichen kannst.“

„Sei nicht albern.“

„Ich bin todernst, Ren.“ Horohoro sah ihn offen an. „Ich bin dir dankbar für alles, was du für mich getan hast, aber verwechsele Dankbarkeit nicht mit Gehorsam und Fügsamkeit. Wenn man dich lächerlich macht, beleidigt oder auch nur etwas in der Art, dann kannst du dich darauf verlassen, dass ich dieser Person eigenhändig zeigen werde, dass nur ich dich beleidigen darf.“ Seine Mundwinkel hoben sich. „Und dass ich mich als einziger über dich lustig machen darf, Spitzkopf.“

Ren kam nicht umhin das Lächeln zu erwidern. Er hatte das Gefühl, die Anspannung, die den ganzen Tag schon auf ihm lastete, hätte für diesen Moment nachlassen. Als Horohoro die eingegipste Hand sinken ließ, hielt er ihn auf. Er betrachtete den Gips lange, dann strich er beinahe andächtig darüber. Horohoro ließ ein Schauer über den Rücken und als Ren den Blick hob, lag etwas Anderes in ihm. Etwas, dass den Schauer durch ein erwartungsvoller Frösteln ersetzte.

„Du weißt, dass du heute noch einen Kampf vor dir hast.“

Ren lachte leise. „Und du weißt hoffentlich, dass ich dank dir die ganze Zeit umsonst meditiert habe.“

„Was kann ich dafür, dass du dich so aufregst.“

„Jetzt brauche ich zumindest einen Meditationsersatz.“

Horohoro legte die Hände auf Rens Hüften. „Ein angemessener Ersatz, wenn du mich fragst.“

„Das würdest du immer sagen.“ Ren überbrückte den letzten Abstand zwischen ihnen und küsste Horohro verlangend. Der Ainu presste sich dichter an Ren und erwiderte den Kuss nicht minder enthusiastisch. Wann immer sie sich voneinander lösten, nur, um den Vorgang zu wiederholen, wurde die Luft erfüllt von abgehacktem Atem und dem atemlosen Lachen Horohoros. In diesem Moment vergaßen sie alles andere um sie herum.
 

3 Stunden und 44 Minuten
 

„Idioten. Alle beide.“ Anna erachtete sie nicht einmal eines strafenden Blickes würdig. „Ren hat gleich einen Kampf vor sich und was tut ihr?“

„Miteinander rummachen“, murmelte Chocolove und verließ wenige Sekunden später überstürzt den Raum, da Horohoro und Ren mit ihren Reisstäbchen nach ihm geworfen hatten. „Wenn’s doch wahr ist!“, rief er und versteckte sich hinter Ryu.

Faust räusperte sich. „Ich möchte euer Verhalten nicht kritisieren, dennoch wäre es unklug gewesen, wenn ihr euer Miteinander bis zum Ende fortgesetzt hättet. Bei Schamanen wird dieser Vorgang von starkem Furyokuaustausch begleitet und es ist nicht selten, dass Furyoku auch verloren geht.“

„Da habt ihr es.“ Annas Augen ruhten auf Horohoro. „Dafür putzt du jetzt die Küche.“

Horohoro knurrte. „Es ist doch unsere Sache, ob wir es tun oder nicht.“

Annas Augenbraue zuckte gefährlich. Ren gab Horohoro mit dem Ellbogen einen Stoß in die Seite. „Nun mach schon.“

„Nur weil du keine Strafe aufgebrummt bekommst, musst du mir nicht in den Rücken fallen!“, zischte Horohoro dem Chinesen zu. „Und außerdem“, fügte er noch leiser hinzu, „bist du ja wohl nicht zu kurz gekommen, immerhin bist du –“ Ein besonders heftiger Stoß ließ ihn zur Seite kippen.

„Klappe, Ainu. Putz die Küche.“

„Das zahl ich dir noch heim, Ren!“

„Faust“, richtete Anna sich an den Arzt, „behandele doch bitte Horohoros Hand. Mit dem Gips kann er die Küche nicht effektiv säubern.“

„Wenn ich das tue, sollte er die Hand nicht zu stark belasten. Normalerweise wäre es ratsamer, diesen Bruch natürlich heilen zu lassen.“

„Bitte Faust“, mischte Horohoro sich ein, „ich brauche sonst eine Ewigkeit für die Küche!“

Der Arzt seufzte und erhob sich. Während er Horohoro aus dem Raum begleitete, erklärte er ihm, wie er seine Hand maximal belasten durfte und welche Tätigkeiten zunächst untersagt waren. Ren konnte beinahe sehen, wie Horohoro errötete.

Anna verschränkte die Arme. „Damit wäre ein Nervenbündel beschäftigt. Nun zum anderen.“ Sie sah zu Yoh, der momentan von Lyserg und Manta abgelenkt wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich wieder an Rens Fersen heften würde.

„Lass ihn.“ Ren nahm einen Schluck Milch. „Es hat ja doch keinen Sinn.“

„Wem sagst du das. Ich bezweifle, dass er heute Nacht auch nur ein Auge zugemacht hat.“

Ren stellte die Milchflasche zurück. Anna hatte Recht, Yoh war bis in die frühen Morgenstunden bei Silva im Zimmer geblieben. Er selbst und Horohoro hatten vor dem Zimmer gewartet. Der Ainu war an seiner Schulter eingenickt und Ren waren bei Horohoros regelmäßigem Atem irgendwann auch die Augen zugefallen, bis Yoh um halb sechs das Zimmer verlassen hatte.

„Er sollte lieber an seinen Kampf denken, doch was macht er stattdessen?“ Annas Stimme war weniger vorwurfsvoll als resignierend. „Dass er noch auf den Beinen steht und nicht bereits kollabiert ist, ist auch schon alles.“

„Bei Horohoro ist es dasselbe“, bemerkte Ren und sein Blick richtete sich abwesend auf die gegenüberliegende Wand. „Er versucht, mich davon abzubringen, zu kämpfen, obwohl er weiß, dass ich niemals das Turnier aufgeben würde. Ich habe ihm gesagt, dass es nichts nützt und er hat das akzeptiert, aber er akzeptiert nicht, dass ich selbst mein Leben riskiere, während ich es ihm verbiete.“

Anna runzelte die Stirn. „Du bist genau wie Yoh.“

„Ach?“

„Darüber streite ich mit ihm schon seit Tagen. Er besteht darauf, dass ich während des Kampfes hierbleibe.“

„Ich würde es besser finden, wenn Horohoro das auch täte. Jun ebenfalls.“ Der Chinese schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass es bei beiden zwecklos ist, sie auch nur darum zu bitten. Sie würden sich zusammentun und mich mit geballter Argumentation – vielleicht sogar ohne jegliches Argument – überstimmen.“

Anna schmunzelte. „Tatsächlich? Vielleicht sollte ich mich ihnen anschließen?“

Ren lief bei dem Gedanken ein kalter Schauer den Rücken hinab. Er wollte es sich lieber nicht ausmalen.
 

2 Stunden und 57 Minuten
 

„Bason, wie fühlst du dich?“

/Das Gleiche wollte ich dich fragen, Meister Ren./

Ren überlegte. Er hatte die Gelassenheit, die er brauchte, denn Yoh war von Anna zu einem Tee „eingeladen“ worden – er hatte keine Wahl und musste das Angebot annehmen – Ren hatte seine Meditation beenden können und verspürte zwar keine Ruhe mehr, da der Kampf zu bald anstand, dafür aber Sicherheit.

„Ich bin bereit für den Kampf.“ Bason nickte und Ren ließ sich langsam nach hinten sinken, bis er rücklings auf dem Dach lag. „Ich habe nachgedacht und ich werde versuchen, dass Versprechen zu halten, das ich Opacho gegeben habe. Vielleicht gib es eine Möglichkeit, Hao von der Besessenheit zu befreien. So oder so habe ich nicht vor, den Kampf zu verlieren.“

/Das sind mächtige Worte, Meister Ren. Wenn du sie dir behältst, wirst du es schaffen./

„Ich habe ja dich als Schutzgeist. Außerdem“, Ren wurde ernst und griff nach dem Donnerschwert, dass neben ihm lag, hielt es gegen das Sonnelicht, „zählt Horohoro darauf, dass ich den Kampf überlebe. Ich will ihn nicht enttäuschen. Das habe ich in den letzten Wochen oft genug getan.“

/Du weißt, dass er dir nichts von dem, was du für ihn getan hast, übel nimmt?/

„Ja, aber ich tue es. Ich mag es für ihn getan haben, aber das entschuldigt nicht, dass ich ihn und die anderen verraten habe.“

/So kannst du nicht argumentieren. Du musst bedenken, was es euch im Endeffekt gebracht hat und das macht es doch wieder wert./

„Da hast du wohl recht.“ Die Silhouette des Donnerschwertes hatte eine beruhigende Ausstrahlung. Ren war sich sicher, dass diese Waffe ihn niemals im Stich lassen würde und dass er mit ihrer Hilfe eine Chance gegen Hao haben würde.

/Horohoro hat das Haus verlassen/, bemerkte Bason plötzlich und blickte über den Rand des Daches nach unten. Ren rührte sich nicht, löste den Blick nicht einmal von der Waffe in seiner Hand. /Du hältst ihn nicht auf?/

„Nur weil er jetzt mein Freund ist, kann ich ihm seinen freien Willen nicht nehmen.“

/Mit Verlaub, Meister Ren, heute Vormittag klang das anders./

„Wenn er wütend ist, wird er leichtsinnig. Er kann sich nicht erlauben, jetzt nachlässig zu werden. Nicht, wenn selbst Außenstehende in derartiger Gefahr sind. Und er hat Hao herausgefordert! Auch wenn es mich in gewisser Weise stolz macht, dass Hao ihn unterschätzt und dafür eine Lektion erteilt bekommen hat.“ Ren lächelte böse. „Hao wird hochmütig und das könnte mir von Nutzen sein. Dennoch hat Horohoro zu leichtsinnig gehandelt. Ich möchte einfach nicht, dass er ...“ Er verstummte. Mit einem Mal war es nicht mehr so leicht, diese Worte auszusprechen, denn sie schnürten seine Kehle zu. Er setzte sich auf und blickte auf seine Hände. Die Hände, mit denen er Horohoro in ihrem Kampf hatte verletzen müssen und die vor wenigen Stunden in einem ganz anderen Kampf, gefangen in einem dominanteren Rausch, an dem Stoff von Horohoros Shirt gerissen hatten, um es aus dem Weg zu räumen. „Ich will ihn nicht verlieren.“

/Du darfst eines dabei nur nicht vergessen, Meister: Er will dich auch nicht verlieren. Und im Gegensatz zu dir hat er keine Möglichkeit, dich zu beschützen, denn er darf nicht eingreifen. Darum muss er befürchten, dich heute zu verlieren./

„Ich weiß.“ Wenn Ren ganz ehrlich war, wusste er es nicht. Und er wollte auch nicht wissen, wie Horohoro sich fühlen musste, denn dann hätte er sich noch schlechter gefühlt. Er war eben noch immer ein Egoist.

Er richtete seinen Blick auf die strahlende Energiesäule am anderen Ende des Dorfes, die Tag und Nacht in Bewegung war und stets von einer solchen Macht durchflutet war, dass nur ein Teil davon ausreichte, einen Schamanen übermächtig werden zu lassen: Die Macht des Schamanenkönigs.

Ren erhob sich. Noch war etwas Zeit. „Komm mit Bason. Ich muss noch etwas erledigen, bevor der Kampf beginnt.“
 

2 Stunden und 21 Minuten
 

Je mehr man sich der Säule aus Energie näherte, desto erdrückender wurde ihre Präsenz und desto majestätischer ragte sie ihn die unendliche Höhe. Ren bemerkte, dass Bason mit jedem Schritt, den sie näher kamen, unruhiger wurde. Als Schutzgeist spürte er die unmenschliche Stärke umso deutlicher und Ren war Bason dankbar, dass er trotz allem nicht von seiner Seite wich.

Die Säule war umgeben von einer weiteren Ansammlung von Bäumen – ein anderer Wald als der, in dem Hao und seine Anhänger weilten. Das Zentrum dieser Ansammlung bildete ein See, in den die Lichtsäule mündete und es war unmöglich zu sagen, wo das Licht endete und wo der See begann. Als Ren und Bason das Seeufer erreichten, verharrten sie – geblendet von der Macht und dem Licht, die auf sie einfluteten.

Als schließlich die Macht des ersten Eindrucks abebbte, kam Ren nicht umhin, sich über das Bild, welches sich ihnen bot, lustig zu machen.

„Etwas dick aufgetragen mit der Idylle. Fehlen nur noch die singenden Tiere.“

/Meister Ren/, entrüstete sich Bason, kam jedoch nicht dazu, dem Chinesen zurechtzuweisen.

„Wie ich sehe, hast du den Weg zu mir gefunden.“

Die Seeoberfläche nahe des Ufers begann zu brodeln, dann wurde das Wasser immer unruhiger, bis sich eine Gestalt aus dem See erhob. Zunächst nur aus Wasser geformt, bildeten sich nach und nach Konturen, bis die Formen eines Menschen deutlich zu erkennen waren. Das Gesicht war leer, lediglich dort, wo die Augen waren, leuchtete es unter der Wasseroberfläche.

Ren nickte. „Ich bin hergekommen, weil ich um Rat fragen wollte.“

„Welchen Rat sollte ich dir geben?“

„Wie ich Hao von seine Besessenheit befreien kann.“

„Wer sagt, dass es möglich ist?“

„Ist es nicht?“

„Das kann ich dir nicht sagen.“

Ren hatte es befürchtet. Also hatte er Zeit verschwendet. „Großartig“, murmelte er, dann fügte er hinzu: „Du hast Horohoro heute beschützt.“

„Das stimmt.“

„Danke.“

„Ich gab dir mein Wort.“

„Es ging darum, ihn vor mir zu beschützen. Du hattest deinen Teil der Abmachung eingelöst.“

„Nein, ich versprach dir, ihn zu beschützen – wenn nötig auch vor dir. Ich habe ihn sowohl vor dir als auch vor Hao beschützt.“

„Damit hast du mehr getan, als ich erwartet habe.“

„Du hast mehr für mich getan, als ich von dir erwarten konnte.“

„Es gibt eine Möglichkeit, Hao zu befreien?“, griff Ren das andere Thema wieder auf.

Der Schamanenkönig zögerte, dann sagte er: „Ja.“

„Und der Weg wird jemanden das Leben kosten.“

„Ja.“

Ren hätte schreien können. „Also mir?“

„Nein, Ren. Sei nicht so theatralisch.“

Er verspannte sich. „Ich bin nicht theatralisch, aber normalerweise würde es mein Leben –“

„Ren, glaubst du, ich würde es dir sagen, wenn es dein Leben kosten würde? Oder einem deiner Freunde? Damit du alles daran setzen könntest, sie zu beschützen, in dem Irrglauben etwas daran ändern zu können?“

„Du klingst wie Hao. Habe ich nicht bewiesen, dass das Schicksal nichts zu bedeuten hat?“

„Eben darum“, sagte der Schamanenkönig leise. Dann schien unvermittelt alle Energie aus dem Wasser zu weichen. Es verlor seine Form und fiel in sich zusammen. „Kämpfe um dein Leben, Ren. Tue nichts anderes als das, dann wirst du vielleicht Erfolg haben.“

Dann war der Schamanenkönig verschwunden und Ren überlegte ernsthaft, ob er sich eher in das Wasser stürzen oder stattdessen lieber große Steine in den See werfen sollte, um dem Schamanenkönig zu zeigen, was er von dieser Art von Ratschlag hielt. Letztendlich tat er nichts von beiden, sondern kehrte zum Dorf zurück.
 

36 Minuten
 

„Ich sage es dir gleich, Ren“, erklärte Chocolove mit gehobenem Zeigefinger, „komm nachher nicht heulend zu mir, weil Hao gemein zu dir war.“

Ren verschränkte die Arme. „So wie ich das sehe, wirst du nach dem Kampf Hao trösten müssen.“

Der Komiker grinste. „Das wollte ich hören.“ Gemeinsam verließen sie das Haus.
 

14 Minuten
 

Sie hatten sich draußen vor der Tür versammelt, wollten Ren Glück wünschen, bevor er den Warteraum betrat, in dem lediglich ein Coach zugelassen war.

„Du schaffst das, Ren!“

Yoh nickte ihm ernst zu, Lyserg lächelte bitter – erhoffte er sich doch so viel von dem Kampf – Ryu klopfte ihm auf die Schulter.

„Es wird sich zeigen, ob du dein Training vernachlässigt hast“, bemerkte Anna trocken.

„Enttäusch mich nicht, Kumpel“, murmelte Chocolove ihm im Vorbeigehen zu, dann war er außer Sichtweite.

Schließlich stand nur noch Jun vor ihm. Sie lächelte doch das Lächeln war nicht echt, vielmehr war es voller Schmerz und Trauer. Ren öffnete den Mund, um sie zu beschwichtigen, doch kein Wort entwich seiner Kehler. Jun trat näher und zog ihn an sich. „Es tut mir alles so leid, Ren. Bitte – ich bitte dich – kämpfe nicht für die Familie. Du bist ihr nichts mehr schuldig. Kämpfe nur für dich.“

„Danke.“ Ren erwiderte den Druck der Umarmung. „Du weißt, wie wichtig du mir bist, Jun?“

„Und du bist mir wichtig, Ren. Mehr als alles andere.“ Sie ließ ihn los, zwinkerte ihm zu. „Viel Glück, Brüderchen.“

Dann waren sie alle weg und Ren stand alleine in dem Warteraum.

„Ich sag es dir, Ren, irgendwann werde ich deinetwegen wahnsinnig und muss eingewiesen werden.“ Der Chinese sah zur Seite und erblickte Horohoro, der neben ihm an der Wand lehnte, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

Er kam nicht umhin zu lächeln. „Wem sagst du das.“

„Sei still“, wies Horohoro ihn scharf zurecht und löste sich von der Wand. Mit wenigen Schritten war er bei ihm und presste ihn an sich.
 

2 Minuten
 

„Drei Dinge, Ren. Halt den Mund und hör mir einfach nur zu!“ Der Chinese widersprach nicht, sein Blick lag aufmerksam auf Horohoro. „Nummer eins: Halte deinen Rücken frei – Hao wird es gnadenlos ausnutzen, wenn du einen Moment nicht auf deinen Rücken achtest. Nummer zwei: Lass dich verdammt noch mal nicht umbringen, Ren! Ich schwöre dir, ich sorge dafür, dass du es bereuen wirst und wenn ich dich als Schutzgeist wieder in diese Welt rufen muss, damit du mir dienen kannst!“

Ren öffnete den Mund, doch Horohoro hatte nach seinem Arm gegriffen und ihn ruckartig zu sich gezogen. Dann bugsierte er ihn zu der Tür, die ihn durch einen Flur nach draußen führen würde. Als er die Tür aufdrückte, waren seine Lippen dich an Rens Ohr, während er sprach: „Nummer drei: Sollte ich während des Kampfes sehen, dass dein Leben auf dem Spiel steht, werde ich eingreifen.“ Sein Stimme wurde einige Oktaven tiefer und bedrohlicher, als Ren ansetzte, ihm zu widersprechen: „Ich schere mich einen Dreck um die Regeln des Turniers und deinen verdammten Stolz, Ren, es geht mir hier verflucht noch mal um dich und das ist hundertmal so viel wert! Wenn Hao droht, dich umzubringen, und du es nicht verhindern kannst, werde ich vor dir stehen, Ren, denn dort gehöre ich hin. Du kannst es mir verbieten, du kannst mich dafür hassen – das ist mir gleichgültig, solange du lebst.“ Er gab Ren einen Schubs. Der Chinese stolperte auf den Flur.
 

0 Minuten
 

„Horohoro“, begann er und wandte sich um, erntete jedoch nur einen in die Höhe gestreckten Daumen und ein Grinsen.

„Ich zähle auf dich, Ren. Du musst Hao fertigmachen, ich hab nämlich keine Lust, das auszubaden, was du nicht schaffst.“

Damit stachelte er Rens Stolz an. „Als ob ich deine Hilfe bräuchte, Schneemann. Ich werde Hao besiegen und dann bist du mir etwas schuldig.“

Horohoro lachte. „Genau das, was ich hören wollte.“ Er gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass es Zeit war, zu gehen. „Geh schon, du Champ“, spöttelte er.

Ren befolgte seine Worte und als er in das Licht der Arena trat und sich Hao gegenübersah, der ein unmenschliches Lächeln auf den Lippen hatte, fühlte er sich dem anderen überlegen. Er hatte einen Grund, für den es sich zu Kämpfen lohnte. Er wollte, dass Horohoro ihm einen Gefallen schuldig war.

„Schamanen, macht euch bereit“, wies Calim sie zurecht und sie traten aufeinander zu. Ren griff nach seiner Waffe, Bason wartete auf den Befehl. Hao änderte nichts an seiner Haltung.

„Ihr kennt die Regeln: Der Kampf endet, wenn einer der beiden Kontrahenten kein Furyoku mehr besitzt oder kampfunfähig ist.“ Haos Lächeln zeigte, welche der beiden Optionen er anstrebte. Ren ließ sich davon nicht einschüchtern. Calim trat zurück. „Bereit? Der Kampf beginnt!“

Ren hatte Haos sofortigen Angriff nicht kommen sehen. Er war zu schnell für jedes menschliche Auge. Flamen umzüngelten ihn, kesselten ihn ein. Ren spürte den grausamen Schmerz, hatte keine Möglichkeit ihm zu entkommen.

/Meister!/

„Ren!“, erklang es von weit weg, doch es war zu spät. Ren wurde vor den Augen seiner Freunde von den Flammen verschlungen.
 

Nachwort(e): Danke fürs Lesen, ich hoffe,e s hat gefallen. Wir sehen uns beim nächsten Kapitel! Schöne sonnige Tage noch X3



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Von:  Hahaoya
2012-07-08T12:12:48+00:00 08.07.2012 14:12
Ich liebe deine FF einfach. Nicht nur ein ausgezeichneter Schreibstil, nein sondern auch noch eine FF wo die Charakter mal nicht OC sind, sondern wirklich genau wie im Anime/Manga :) Ich hoffe wirklich das du bald wieder weiterschreibst und die FF noch lange weitergehen wird :) ich kann dir nur danken, denn die Story geht mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf :D
Von: abgemeldet
2010-11-01T20:20:13+00:00 01.11.2010 21:20
Diese FF ist einfach nur wunderbar!
Außerdem ( finde ich zumindest )hast du einen sehr schönen Schreibstyle.
ich hoffe, dass du irgendwann die Zeit und Lust findest hier dran mal weiter zu schreiben, den es wird grade so richtig spannend...

tja schöne tage noch...

Myuuh


Von:  Renchen
2009-11-30T13:11:50+00:00 30.11.2009 14:11
Moiii x3
Ist das schön.
Der Schluss ist echt süß x33
Das Kapitel ist wahnsinnig toll.
Ich liebe deine Art wie du schreibst einfach.
Richtig richtig toll ^^
Von:  Renchen
2009-11-29T20:57:45+00:00 29.11.2009 21:57
O_O
Oh gott!
Was hat Horo?
Wieso schlägt er Ren?
Waaah
Gott der Arme Q__Q'
*weiterles*
Von:  Renchen
2009-11-29T15:59:57+00:00 29.11.2009 16:59
woah...
Hao ist so ein MistkerlxD
Wahnsinn...
Armer Ren er kann keinem mehr vertrauen TT'
ich liebe diese FF
die ist so fesselnd xD
Von:  Renchen
2009-11-29T14:26:30+00:00 29.11.2009 15:26
Moii~
die Flashbacks sind total niedlich.
Als es dann wieder Gegenwart wurde musste ich fast heulen xD
Horo und Ren tun mir so Leid Q.Q'
Von:  Renchen
2009-11-18T20:05:43+00:00 18.11.2009 21:05
Ist das süüüüß :D
Wie Horo sich am Ende freut x333~
Und der Streit zwischen Horo und Ren ist einfach nur zu geil XDD
ich hab mich nicht mehr eingekriegt |D~
Ich muss gleich weiterlesen ~
<33
Von: abgemeldet
2009-08-20T16:56:24+00:00 20.08.2009 18:56
ich liebe dieses kapi ^^
ich liebe horo und ren und die beiden zusammen sind einfach nur... lustig. xD.
ich kann nichts dafür, weswegen die isch immer streiten ^^
ich bin ja auch ein streitsüchtiges mädel, ich kann das schon verstehen, macht nun mal spaß ^^
und ich fang jeden satz mich ich an, man, bin ich egoistisch. xD.

aber das war sooooooo sweet ^^
und wer hätte gedacht, dass von sex da die furyoku (oder wie auch immer das geschrieben wird) verlieren.
dann müssen die ja bis nach dem tunier warten.
aber wer ist den nun da reingeplatzt???
chocolove???? das wäre einfach nur lustig. da war ich traurig, dass du das nicht geschrieben hast. xD.

schreib bitte einfach nur schnell weiter, ich liebe diese FF und ich glaube das habe ich auch hier deutlich zum ausdruck gebracht, oder????
O.o
sag nichts falsches *droh* xD.

lg angel
Von: abgemeldet
2009-08-18T15:08:54+00:00 18.08.2009 17:08
Uii~, ein neues Kapitel!

Wie gemein ist denn der Cliffhanger?! Also wirklich, da will man doch gleich wissen, wie’s weitergeht. Böse! Ich denke mal nicht, dass Ren dadurch sofort abkratzt, aber wer weiß … Ich hoffe jedenfalls auf das Gegenteil. ;)

Ja, die Stellen mit Horohoro & Ren fand ich schon irgendwie süß. Ich als Nicht-Fan des Pärchen meine damit schon sehr viel. Ich finde aber einfach, dass du es überaus realistisch darstellst und die beiden in ihren Rollen lässt und es nicht zu einem kitschigen Schnulzenzeugs wie in so vielen anderen FFs abdriftet.

Ich frage mich, was die Möglichkeit ist, Hao zu retten. Mir ist das aber eigentlich ziemlich egal, weil ich Hao nicht mag. :D

Hm, Chocolove fand ich wieder genial in deiner FF. Echt, durch deine FF mag ich den irgendwie lieber. (Obwohl ich ihn vorher auch schon gemacht habe. =D)

„Miteinander rummachen“ … Er sagt ja nur die Wahrheit. *coughs*

Die Szene zwischen Hao & Horohoro hat mir auch ganz gut gefallen. Ich denke nämlich nicht, dass Horohoro einfach Däumchen drehend warten würde, besonders wenn er so wütend ist. Auch wenn es ihn fast umgebracht hätte. D:

Zu der Rechtschreibung etc. gibt es nicht viel zu sagen: Kaum Fehler, die wenigen waren auch nicht weiter störend.

Gut, das war’s auch schon (fast) mit meinem Gelaber.

Ich freue mich auf das nächste Kapitel!

Anymore ~

P.S. Ich mag den Titel des Kapitels. :)

Von:  Jeanne-Kamikaze-
2009-08-17T18:45:46+00:00 17.08.2009 20:45
oh man, das ist ja mal wieder der hammer geworden.
*hibbel*
ich kann es kaum erwarten das nächste zu lesen.
ist super gewordne.
ich schreibe selber gerne, verlier mich aber schnell.
deine beschreibungen sind anschaulich, aber da brauchst nur wenige sätze.
dafür beneide ich dich.


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