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Mission Erholung

von

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MISSION ERHOLUNG
 


 

Danksagung:
 

Ein riesiger Dank geht an Sandra, Holger, KojiTaku und Michael für ihr intensives Korrekturlesen und die zahlreiche Kritik! Ihr habt mir sehr geholfen!

Danke auch an Ibrahim für die Informationen über Flugverbindungen von Europa nach Asien.

Und natürlich danke an Herrn C. für die kleine Geschichte über einen Ausflug an die Nordsee. Damit wurde der Grundstein für die "Mission - Erholung" gelegt.
 

Ein paar Worte vorweg:
 

Die - meisten - Charaktere gehören natürlich nicht mir, sondern Koyasu-San und Ozaki-San. Ich verdiene auch kein Geld mit ihnen, ich leih sie mir nur aus.
 

Schuldig hat bei mir grüne Augen, aber natürlich kenne ich die Debatte mit grün oder blau. Ich mag einfach grün lieber.

Die blonden Haare kommen daher, dass ich das Grün aus dem Manga gerne dabei habe (hab wohl eine Schwäche für grün...), und da sich rote Haare schlecht färben lassen, blonde dafür umso besser, hat er also blonde.

Belga, weiß ich, heißt eigentlich Berger und ist irgendwie geklont oder so. Bei mir aber nicht.

Das waren, glaub ich, die einzigen Sachen, die ich geändert habe.
 

Die Handlung spielt vor Schwarz, also zeitlich vor der TV-Serie und vor dem Manga. Das Drama "The holy children", in dem Crawford Nagi nach Europa holt, kann ich zeitlich nicht richtig einordnen, hab ich jetzt einfach ein paar Jahre vorgezogen. Dann passt da nur Weiß nicht mit rein. Aber die kommen ja eh in meiner Geschichte nicht vor...
 

Ach so: Bei den Altersangaben war ich mir auch nicht so sicher. Dachte immer, dass sie in der Serie Nagi 15, Schu 21, Farf 19, Brad Ende zwanzig sind. Aber ich weiß nicht mehr, wo ich das her habe. Also nehmt's bitte mit dem Alter nicht so genau...
 

Na denn, viel Spaß beim Lesen!!
 


 

Kapitel 1
 

Die schwere Stahltür mit Betoneinfassung schwang auf und ein schmaler Lichtstrahl fiel in den fensterlosen Raum.

An der rechten Seite stand ein Bett, in dem sich unter der weißen Bettdecke eine kleine Gestalt abzeichnete. Auf der anderen Seite befanden sich zwei Schiebetüren in der Wand, ein Wandschrank; ansonsten war das Zimmer leer. Für mehr Möbel wäre auch kein Platz, denn neben dem Bett blieb gerade mal so viel Raum, dass man daran vorbei gehen konnte. Nichts für Menschen mit Platzangst. Im fünften Untergeschoss sahen alle Schlafquartiere so aus. Erst weiter oben wurde es etwas komfortabler. Hier unten bestanden die Wände aus dickem Stahl und Beton und waren so konstruiert, dass sie selbst heftigsten psychokinetischen Wellen standhielten. Ein elektronisches Feld, aufrechterhalten durch eine Vielzahl von Kabeln, die die Wände wie ein Aderngeflecht durchzogen, sorgte dafür, dass jegliche paranormale Tätigkeit gedämpft wurde. Selbst mit Telepathie drang man nicht hindurch.

An der Zimmerdecke erstreckte sich eine lange Neonröhre, die dem Raum als einzige Lichtquelle zur Verfügung stand. Die große, schlanke Frau, die noch etwas unschlüssig in der Tür stand, verzichtete jedoch auf die Betätigung des Schalters.

Sie wollte nichts unternehmen, was den Jungen, der vor ihr in dem Bett lag, erschrecken könnte. Doch wie sollte sie ihn dann wecken?

"Nagi?" flüsterte sie.

Keine Reaktion.

Mit Sicherheit hatte sie sich nicht freiwillig gemeldet, ihn zu holen. Viel zu viel Angst hatte sie vor seinen unkontrollierten Fähigkeiten. Wenn man nur sein Äußeres betrachtete, käme einem ihre Furcht lächerlich vor, denn Nagi Naoe war ein ruhiger und schüchterner Junge. Er sah süß und unglaublich harmlos aus. Dazu kam, dass er für seine dreizehn Jahre sehr klein und zart war, sodass man ihn durchaus für zwei Jahre jünger halten konnte.

Aber gleichzeitig schlummerte in ihm so viel telekinetische Energie, dass er zu den besten Schülern bei Rosenkreuz zählte, und dass er sein Talent so wenig unter Kontrolle hatte, machte ihn gefährlich, trotz seiner höflichen Art.

Sie selbst konnte nur ein wenig Pyrokinese, nichts wirklich großartiges, kaum mehr als Kerzen an und aus machen, nichts, was ihr jetzt weiter helfen konnte.

"Nagi?" flüsterte sie diesmal etwas lauter, dafür mit einem leichten Beben in der Stimme. Selbstverständlich rechnete sie nicht damit, dass er sie angreifen würde, das Problem war nur, dass der zierliche Japaner gerade erst lernte, seine ungeheure Kraft zu kontrollieren, und ein plötzliches Hochschrecken aus dem Tiefschlaf (und womöglich noch aus einem unangenehmen Traum, und sie alle hier träumten schlecht) konnte leicht einige gebrochene Knochen für sie zur Folge haben. Sie hatte da schon Geschichten gehört...

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen.

//Ah, Lilli, hast du ein Problem?//

Schuldigs amüsierte Stimme, in einer ohrenbetäubenden Lautstärke, ließ sie zusammenzucken und einen ängstlichen Blick zu der kleinen Wölbung unter der Bettdecke werfen. Gleichzeitig duckte sie sich in Erwartung einer Gliedmaßen verrenkenden Energiewelle.

Doch nichts dergleichen geschah. Nur Schuldigs schadenfrohes Lachen dröhnte in ihrem Kopf und ließ sie erkennen, dass er gar nicht laut gesprochen hatte.

//Verdammte Telepathen!// Sie fuhr zu ihm herum, doch wie er da so grinsend vor ihr stand, konnte sie ihm doch nicht böse sein. Das lag wohl auch daran, dass sie ihn so unglaublich attraktiv fand: seine leuchtenden, grünen Augen, die einem immer direkt in die Seele zu blicken schienen und dazu diese verführerischen Lippen, die immer ein Lächeln für sie bereit hielten, und das tat so gut in diesen kalten neonbeleuchteten Räumen mit den vielen Wissenschaftlern und Ärzten und ihren ernsten, konzentrierten Gesichtern. Sie könnte ihn stundenlang ansehen, so hübsch fand sie den jungen Mann mit den langen, goldblonden Haaren. Sie mochte besonders im Kontrast dazu seine dunklen Augenbrauen und Wimpern. Sie selbst führte diesen Effekt bei sich mit Maskara und einem Konturenstift herbei. Mit seinen achtzehn Jahren fand Schuldig sie wahrscheinlich viel zu alt, sie war Ende dreißig, aber trotzdem dachte sie manchmal daran, diesen süßen, knackigen Hintern...

Sein Grinsen wurde breiter und machte ihr bewusst, dass ihre mentale Blockade wahrscheinlich momentan arg zu wünschen übrig ließ. Sie spürte, wie sie rot wurde.

Er trat auf sie zu, mit den geschmeidigen Bewegungen einer Katze, die für ihn so typisch waren, immer noch das verspielte Lächeln auf den Lippen, schob sie sanft aus der Türöffnung und drückte sie gegen die Wand. Dann neigte er sich ihr langsam entgegen, dass sie einen atemberaubenden Moment dachte, er würde sie jetzt küssen, doch sein Mund glitt an dem ihrem vorbei und zu ihrem Ohr.

"Soll ich dir helfen?" fragte er leise, jetzt mit normaler Stimme, und sein warmer Atem auf der empfindlichen Haut ihres Halses war fast genauso gut wie ein Kuss.

Sie nickte schwach.

"Bring immer genügend Abstand zwischen dich und die Bombe. Oder eine dicke Wand."

Er löste sich von ihr und schloss vorsichtig die Tür zu Nagis Schlafquartier. Dann schlug er mit einer raschen Bewegung dreimal laut gegen die Tür, so dass Lilli schon wieder vor Schreck zusammenzuckte.

Ein leises, dumpfes Dröhnen aus dem Inneren des Zimmers zeigte an, dass der Junge sich ebenfalls erschrocken hatte.

Schuldig riss die Tür auf und knipste sofort das Licht an, weswegen sein Gegenüber damit beschäftigt war, seine verschlafenen Augen vor der Helligkeit zu schützen.

"Naoe, sofort aufstehen, Telefon! Jemand aus der Schweiz wünscht dich zu sprechen."

Täuschte sich Lilli oder erhellte sich tatsächlich das Gesicht des kleinen Japaners bei den letzten Worten? Zumindest sprang er sofort aus dem Bett, ohne Schuldig zu verletzen und zog sich schnell an.

//Bombe entschärft.// Schuldig zwinkerte ihr grinsend zu und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.

"Woher..." setzte sie noch an, dann schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich wusste er, warum sie Nagi Naoe wecken sollte!

Verdammte Telepathen!

MISSION ERHOLUNG - Kapitel 2
 

Mit einem leisen Fluchen legte Brad Crawford auf. Das Telefonat hatte seine Sorgen nicht zerstreut, sondern vergrößert. Mit einer nervösen Geste fuhr er sich durch das kurze, dunkelbraune Haar.

Der Junge hatte zwar versichert, dass es ihm gut ging, aber da war dieses leichte Zögern... Und dann seine Stimme! Gut, Nagi hatte immer schon leise und ohne große Emotionen gesprochen. Doch diesmal klang die Stimme irgendwie anders, dünner und unendlich müde.

Der Amerikaner fühlte sich für den Jungen verantwortlich. Immerhin war er es gewesen, der Nagi an Rosenkreuz ausgeliefert hatte. Er hatte ihn nicht nur von Japan nach Österreich in das Labor gebracht, er war auch derjenige, der den Telekineten damals in Tokyo ausfindig gemacht hatte. Halb erfroren war das Kind, als er es unter einer Brücke gefunden und zu Schwester Amamiya gebracht hatte, die in Japans Hauptstadt für SZ diverse Aufträge zu erledigen hatte.

Wie so oft fragte er sich, ob er wirklich das Richtige getan hatte, doch die Antwort war jedes Mal die gleiche: Anders hätte er in dem Moment nicht handeln können, denn Rosenkreuz hatte zu dem Zeitpunkt schon von Nagis Existenz gewusst. Das Leben kann eben nicht normal verlaufen für Menschen mit solch ausgeprägtem Psi-Faktor - und ohne Hilfe hätte Nagi nie die Chance gehabt, jemals Kontrolle über seine telekinetischen Fähigkeiten zu erlangen.

Crawford hatte keine Wahl gehabt. Und trotzdem... fühlte er sich verantwortlich.

Mit einer für ihn charakteristischen Handbewegung schob er seine Brille wieder an ihren Platz. Sein Entschluss stand fest.

Er würde nach Österreich fliegen, um Nagi zu sehen. Er musste einfach.
 

Es vergingen noch einige Tage, bis Crawford die obersten SZ-Funktionäre so weit gebracht hatte, ihn zu einem Routinebesuch des Rosenkreuz-Labors in den österreichischen Alpen zu senden. Geschickt hatte er zur rechten Zeit einige Bemerkungen in die Gespräche eingebracht, dass es an der Zeit sei, dort wieder einmal nach dem Rechten zu sehen. Er war schließlich Experte für den richtigen Zeitpunkt.

Und er war es gewohnt, seine Ziele zu erreichen. Er hatte noch einiges vor. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er schon weit gekommen, hatte vieles geopfert, aber er war noch lange nicht am Ende seiner Pläne angekommen. Seine Lebensaufgabe sah er keinesfalls darin, lediglich die Anweisungen anderer auszuführen.

Natürlich musste er äußerst vorsichtig sein, denn die SZ-Führer waren nicht zu unterschätzen. Auf keinen Fall durften sie an seiner Loyalität zweifeln, geschweige denn herausfinden, dass sie von Crawford eigentlich nur für seine eigenen Zwecke benutzt wurden. Er hatte schon seine Pläne, wie er SZ wieder los wurde.

Bis dahin würde er hart arbeiten. Und jeden Schritt gut überlegen.

Dazu gehörte auch, dass niemand erfuhr, was dieser japanische Junge ihm bedeutete. Brad Crawford hatte keine Schwachstellen.

SZ vertraute ihm blind.

Und das würde auch so bleiben.
 

So wurde er mit dem Helikopter über die Alpen nach Österreich geflogen und ließ das Schweizer Hauptquartier in dem Glauben zurück, sie selbst wären auf die Idee gekommen, ihn auf diese Reise zu schicken.

Er war nachts losgeflogen, so dass er das abseits in den Bergen gelegene, einstöckige Laborgebäude wie geplant im Morgengrauen erreichte. Im Gegensatz zum SZ-Hauptquartier in der Schweiz war es jedoch noch über eine enge Zufahrtsstraße zu erreichen. Die Straße endete auf einem Parkplatz vor dem Haupteingang, nachdem sie sich in endlosen Kurven den Berg hinauf geschlängelt hatte.

Der Hubschrauberlandeplatz befand sich auf der Rückseite des unscheinbaren Hauses, dem von außen nicht anzusehen war, dass es nur als Eingang für das tief in dem Berg verborgene Laboratorium diente.

Wie alle Rosenkreuzer hatte auch Crawford einige Zeit dort unten verbringen müssen. Unzählige Blutbilder, Röntgenaufnahmen, Kernspintomographien, EEGs, EKGs, psychologische Tests und Einschätzungsprüfungen der Psi-Fähigkeiten, all das war Pflichtprogramm für jeden Neuankömmling.

Zurück an die Oberfläche kam nur, wer seine Fähigkeiten beherrschen gelernt und seine Loyalität und bedingungslosen Gehorsam bewiesen hatte. Alle anderen blieben für den Rest ihres Lebens Versuchs- und Studienobjekte und sahen das Tageslicht nie wieder.

Unbewusst presste der Amerikaner seine Lippen zu einem schmalen Strich. Verdammt, er würde nicht zulassen, dass Nagi Naoe so endete! Außerdem brauchte er ihn, um sein Ziel zu erreichen, um SZ zu verlassen.
 

Natürlich hatte Crawford seinen Besuch nicht angekündigt, das tat er nie. So war es nicht verwunderlich, dass er lediglich von dem Wachpersonal in Empfang genommen wurde. Nach den üblichen Ankunftsformalitäten wartete er im komfortablen VIP-Empfangszimmer auf den Direktor des Instituts, Marcel Belga.

Nach einigen Minuten betrat statt dessen eine elegant gekleidete Blondine, die ungefähr Anfang dreißig sein mochte, den Raum. Ihre Finger nestelten nervös an ihrer Bluse.

"Guten Morgen, Mr Crawford. Es tut mir sehr leid, aber Herr Belga lässt sich entschuldigen, er ist zur Zeit noch beschäftigt. Sobald es ihm möglich ist, wird er Sie empfangen."

"Ja. Und Sie sind...?" Der große Amerikaner verzog keine Miene und blickte sie durch die Brillengläser kalt an, obwohl er sich innerlich über ihre sichtbare Nervosität und Verlegenheit amüsierte.

"Ich? Oh - äh, Verzeihung! Ich bin Lilli Schäfer. Die - äh - neue Sekretärin des Herrn Direktors." Ihre Wangen färbten sich rot.

"Gut, Frau Schäfer, dann sagen Sie bitte den leitenden Wissenschaftlern, dass ich sie zum Statusbericht um neun Uhr im Konferenzsaal erwarte. Wenn Monsieur Belga daran teilnehmen möchte, sollte er seine dringenden Angelegenheiten bis dahin beendet haben." Ihn interessierte, was Belga zu so früher Stunde zu erledigen hatte, doch diese Frage würde Lilli nicht beantworten.

"Bis dahin hätte ich gerne die Akten sämtlicher hier befindlicher Schüler. Sie können sie mir hierher bringen. - Ach, und: bitte dazu eine Kanne Kaffee."

Sie schluckte, nickte und stöckelte dann mit elegantem Hüftschwung davon.

Crawford war nicht überrascht, dass der Franzose ihn warten ließ. Er kannte seine kleinen Machtspielchen. Beide empfanden keinerlei Sympathie füreinander, obwohl sie ungefähr zur gleichen Zeit zu Rosenkreuz gekommen waren. Dabei hatten sie viele Gemeinsamkeiten: sie waren beide freiwillig da, hatten beide einen ungewöhnlich hohen Psi-Faktor, und beide wussten, was sie wollten: so schnell wie möglich nach ganz oben. Beide waren ehrgeizig und skrupellos genug, diesen Weg zu gehen und störende Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Crawford hatte inzwischen als Kontaktmann enge Verbindung zur SZ-Führung, und die alten Funktionäre fraßen ihm quasi aus der Hand. Sein hellseherisches Talent in dieser hohen Potenz war äußerst selten - und äußerst nützlich.

Belga dagegen war Telepath, niemand sonst hatte so viel Mentalkraft wie er, aber dennoch war Telepathie eher ein gewöhnliches Talent im Vergleich zu Crawfords präzisen Zukunftsvorhersagen. Marcel Belga war erst kürzlich zum Leiter von Rosenkreuz aufgestiegen, und es gingen Gerüchte um, dass er selber dafür gesorgt hatte, dass der Posten des Direktors frei geworden war. Selbstverständlich konnte man ihm nichts nachweisen.

Trotz ihrer vielen Gemeinsamkeiten waren sie doch aus unterschiedlichem Holz geschnitzt. Crawford fühlte sich von Belgas grausamer, sadistischer Art abgestoßen. Natürlich hatten sie beide im Auftrag von Rosenkreuz die gleichen Verbrechen begangen. Aber Marcel hatte sichtliches Vergnügen daran, Menschen zu beseitigen, während Brad nur tötete, wenn es unvermeidbar war.

Der Amerikaner wusste mit Sicherheit, dass es dieser Wechsel in der Führungsschicht war, der Nagi Naoe wieder in das fünfte Untergeschoss gebracht hatte.

Eigentlich sollte der Junge im Rosenkreuz-Institut in München sein, wo die eigentliche Ausbildung stattfand. Dort gab es Unterricht für die Jüngeren wie in einer richtigen Schule, allerdings neben Lesen, Schreiben, Rechnen auch Fächer wie Parapsychologie, Waffenkunde, Kampftechniken und Tötungsmethoden. Die allgegenwärtige Gehirnwäsche gab es gratis dazu.

Zurück nach Österreich kamen nur Schüler, die krank wurden, Probleme mit Ihren Psi-Fähigkeiten bekamen oder zur Bestrafung.

Sobald Crawford die Akte hatte, würde er mehr wissen.

Als wäre das ihr Stichwort, kam in diesem Augenblick Lilli mit einem Stapel Akten wieder herein und legte sie vor ihm auf den Tisch.

Es waren sieben, und eine davon fiel sofort auf, sie war so dick wie drei von den anderen.

"Was ist das denn?" fragte Crawford und deutete auf die Akte.

Er wusste die Antwort schon, bevor sie kam: "Schuldig."

Lilli klappte ihren Mund wieder zu, ohne ihre Antwort formuliert zu haben.

Crawford griff nach der Akte. Er hatte natürlich schon von diesem Schuldig gehört, doch persönlich getroffen hatte er ihn nie. Schuldig war in das Labor gekommen, als Crawford schon draußen war, und im Gegensatz zu ihm blieb der deutsche Junge eine lange Zeit dort. Inzwischen war er achtzehn und bekannt für sein undiszipliniertes, freches Auftreten. Außerdem bekam er seine Fähigkeiten nicht zuverlässig in den Griff und tat häufig merkwürdige Dinge. Dennoch beinhaltete seine Akte genau so viele Belobigungen wie Tadel. Crawford nahm sich vor, sich bei Gelegenheit ausführlicher mit Schuldig zu beschäftigen und legte die Papiere beiseite.

Dann überflog er schnell die anderen: vier Neuzugänge waren dabei, alle nichts besonderes. Einer davon mit diagnostizierter Schizophrenie, Verdacht auf Telepathie. Doch Pech für ihn, die Diagnose schien zu stimmen. Der wäre in der Psychiatrie besser aufgehoben gewesen.

Als Lilli ihm seinen Kaffee gebracht hatte und er sicher war, jetzt eine Zeitlang ungestört zu sein, nahm er Nagis Akte wieder zur Hand.

Nachdenklich betrachtete er sie. Menschliche Schicksale, reduziert auf ein paar Blatt Papier. Langsam blätterte er Seite für Seite um. Nicht wenige Berichte waren von ihm selbst verfasst, kurz vor und nachdem er ihn in Tokyo gefunden hatte. Vor drei Jahren. Unter einer Brücke, mitten im Winter. Neben der Leiche seines Bruders. Halb erfroren.

Nur dass er halb tot war, hatte es Crawford ermöglicht, ihn an diesem Morgen mit sich zu nehmen.

"Hau ab, lass mich in Ruhe", waren die ersten Worte, die Nagi an ihn gerichtet hatte, gefolgt von einem telekinetischen Stoß, der jedoch so schwach gewesen war, dass Crawford nur einen sachten Druck verspürt hatte und den er mühelos hatte überwinden können.

Welches Potential in diesem zarten Körper steckte, zeigte sich erst später, als er nach Amamiyas Tod die gesamte Kirche in Tokyo in Schutt und Asche gelegt hatte.

Crawford konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Er ging die medizinischen Berichte der letzten Tage durch und verglich sie mit älteren Daten. Langsam spürte er kalte Wut in sich aufsteigen. Systematische Überforderung: fünf mal Kreislaufversagen währen der praktischen Tests, allein in der letzten Woche. Anscheinend nahm Nagi auch nicht genügend Nahrung zu sich, denn er wog jetzt sieben Kilo weniger als vor wenigen Wochen. Dabei sollte ein Kind in seinem Alter, das sich noch im Wachstum befand, an Gewicht zu- und nicht abnehmen. Durch den hohen Energieverbrauch der Telekinese war er schon vorher fast nur Haut und Knochen gewesen.
 

Wenige Minuten, nachdem Crawford nach Nagi geschickt hatte, schob Lilli den kleinen Japaner durch die Tür und verschwand sogleich wieder. Der Dreizehnjährige blieb mit gesenkten Kopf einfach stehen, wo sie ihn abgestellt hatte.

"Konnichi wa, Nagi. Schön, dich zu sehen." Wie immer sprach der Amerikaner Japanisch mit ihm.

"Konnichi wa, Mr Crawford-o", kam die kaum verständlich gehauchte Antwort.

Crawford fragte sich zum wiederholten Mal, was er nur getan hatte, dass Nagi so eine Angst vor ihm hatte. Er seufzte leise.

"Na, komm. Setz dich hier zu mir ans Fenster."

Wie eine Marionette gehorchte der Junge, den Blick immer noch gesenkt. Durch die niedergeschlagene Haltung wirkte er noch kleiner.

Crawford betrachtete ihn eine Weile schweigend. Dann fasste er unter sein Kinn und zwang mit sanfter Gewalt seinen Kopf nach oben. Er erschrak über das blasse Gesicht mit den dunklen Augenringen und dem ausdruckslosen Blick. Selbst die dunkelbraunen seidigen Haare, die ständig über die Augen in Nagis Gesicht fielen, wirkten stumpf und müde.

Crawford ließ wieder los und der Kopf sank sogleich wieder nach unten. Der Kleine sah noch nicht einmal aus dem Fenster, obwohl er bestimmt seit fünf Wochen das Tageslicht nicht mehr gesehen hatte. Wenn das so weiter ging, würde Nagi regelrecht eingehen. Und er wäre nicht der erste. Gerade Kinder wurden im Labor oft krank oder überlebten einen längeren Aufenthalt gar nicht. Der Amerikaner wusste nur zu gut, dass dies billigend in Kauf genommen wurde, um die Starken von den Schwachen zu trennen.

"Ich will offen mit dir sprechen, Nagi. Ich bin wegen dir hier."

"Ich war's nicht", kam tonlos die leise Antwort.

"Was warst du nicht?"

"Ich wollte die Fenster in München nicht kaputt machen."

Crawford musste sich etwas nach vorne beugen, um den Jungen überhaupt zu verstehen.

"Und das mit der Wand... ist einfach... so... passiert..."

"Ich weiß, Nagi. Wände kann man wieder aufbauen. Das meinte ich auch nicht. Ich wollte sehen, wie es dir geht."

Keine Antwort. Crawford zauberte eine Tafel Schokolade aus seiner Aktentasche.

"Echte Schweizer Schokolade. Das ist die beste. Magst du ein Stück?"

Kopfschütteln.

"Hast du denn heute schon etwas gegessen?"

Kopfschütteln.

"Gestern?"

Kopfschütteln.

"Und warum nicht?"

"Kein Hunger."

"Wie bitte?"

"Ich habe keinen Hunger."

"Okay, es reicht." Crawford rückte seine Brille wieder zurecht, er hatte genug gehört und gesehen. "Wo möchtest du hin?"

"Nani?"

"Wohin."

"Ich... verstehe nicht..."

"Du bleibst nicht hier. Ich möchte, dass du gesund wirst und dich erholst. Also: Wo möchtest du hin?"

Jetzt sah der Junge ihn endlich an, die ungewöhnlichen tiefblauen Augen weit aufgerissen.

"Oh - nein, nicht Japan", kam Crawford der Antwort zuvor. "Es muss schon noch in Europa sein. Möchtest du Wald, Meer, Moor, Berge... no, vergiss die Berge..." Er warf einen Blick auf die malerische Gebirgskulisse draußen.

Nagi starrte ihn eine Weile einfach nur an. Schließlich flüsterte er: "An's Meer."

"Sehr schön. Gut gewählt. Du wirst sehen, wie hungrig die Seeluft macht. Dann geht es dir bald wieder richtig gut."

Crawford erwiderte den Blick nachdenklich. Freute er sich gar nicht? Crawford würde ihn gern einmal lächeln sehen. Er schüttelte innerlich den Kopf bei diesem Gedanken. Er war ein eiskalter Killer, was kümmerte ihn dieses Kind!

Was faszinierte ihn nur so an Naoe Nagi? Doch er wusste nur zu gut, er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um Nagi jetzt schon, trotz seiner erst dreizehn Jahre, in sein Team zu holen. Dann konnte Crawford selbst bestimmen, was mit dem Jungen geschah. Und das bedeutete, er konnte ihn aus dem Gröbsten heraus halten.

"So. Dann werde ich mich um alles weitere kümmern", dachte der Amerikaner jetzt einfach laut weiter, weil der Junge erfahrungsgemäß von alleine nichts zu ihm sagte. "Wir fliegen heute noch zusammen nach München."

Keinen Augenblick länger würde er ihn hier im Labor lassen!

"Ich kann wohl kaum Urlaub nehmen..." Er gestattete sich ein Lächeln bei dem Gedanken und bildete sich ein, in Nagis Gesicht leise Enttäuschung zu sehen. Vielleicht fand der Junge ihn ja doch nicht so schrecklich. "Wer also könnte dich begleiten?"

Eine kleine Vision sickerte in sein Bewusstsein. Überrascht sah er den Japaner an.

"Du willst Schuldig dabei haben??"

Dann nickte Nagi auch noch!

"Wieso das? Warum gerade Schuldig?"

Weshalb wusste er nichts davon! Gerade noch hatte er daran gedacht, Nagi aus dem Schlimmsten heraus zu halten, und der Knirps freundete sich hinter seinem Rücken mit einem durchgeknallten Telepathen an, der Schwierigkeiten anzog, wie Scheiße die Fliegen! Es wurde wirklich Zeit, dass er sich mehr um Nagi kümmerte!

"Wir lernen zusammen kanji."

"Er kann Japanisch?"

"Ja. Habe ich ihm beigebracht. Dafür hilft er mir bei Deutsch und Englisch."

"Nun. Ja. Nagi, ich... ich werde darüber nachdenken."

Crawford bemerkte gar nicht, dass man in Japan diese Wortwahl für ein Nein verwendete. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Die Besprechung!

"Du wartest hier. Frau Schäfer wird dir Frühstück bringen und du isst bitte etwas, wenigstens ein bisschen, okay?"

Die Vision eines unangetasteten Frühstücks.

"Oder trink zumindest einen Kakao."

"Hai, Mr Crawford-o."

MISSION ERHOLUNG - Kapitel 3
 

"Aaah!" Schuldig streckte sich ausgiebig. Endlich waren sie da!

Erst von München nach Hamburg, dann nach Cuxhaven, in einem Bummelzug - dafür erste Klasse! - und von dort aus mit dem Taxi nach Sahlenburg. Jetzt standen Nagi und er vor dem Apartmenthaus Frische Brise, wo eine von Crawford gemietete Wohnung im dreizehnten Stock auf sie wartete - mit großen Fenstern (ganz wichtig) und Blick auf die Nordsee. Im Keller Swimmingpool, Sauna und Solarium, was für ein herrlicher Luxus.

"Schu, der Fahrer wartet noch auf sein Geld." Nagi zupfte an seinem Ärmel.

"Wieso? Ich hab ihn doch schon bezahlt." Er drehte sich mit einem Grinsen zu dem Taxi um und wollte sich konzentrieren -

"Schuldig!" Nagi stupste warnend mit seinem Fuß gegen das Schienbein des jungen Telepathen.

"Was?! Wir sollen doch üben!" Das war sein Lieblingssatz seit der ersten Unterredung mit Crawford.

"Crawford-o hat gesagt, wir sollen uns ausruhen."

"Dein Crawford-o", machte Schuldig seine japanische Aussprache gutgelaunt nach, "ist weit weg."

Trotzdem gab er nach und bezahlte den Taxi-Fahrer ordnungsgemäß. Das war natürlich viel langweiliger, aber er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Geld zur Verfügung gehabt. Er war auch noch nie im Urlaub gewesen. Dank Crawford ging das alles auf Kosten von SZ. Er wusste zwar noch nicht, was dieser mit dem Ganzen bezweckte, aber darüber machte sich Schuldig keine großen Gedanken. Nehmen, was man kriegen kann. Endlich begann das Leben wieder Spaß zu machen! Und eigentlich war sowieso alles besser als das unterirdische Forschungsinstitut und Marcel Belga als Ausbilder.

"Wo ist denn das Meer?" fragte Nagi, der es kaum abwarten konnte.

"Erstmal Sachen hochbringen. Oder willst du sie die ganze Zeit vor uns her schweben lassen?" Schuldig lachte bei der Vorstellung.

"Ha. Ha."

Sie klingelten beim Hausmeisterbüro, die Tür öffnete sich, und dann standen sie vor einem Fahrstuhl.

Er kam, die Tür ging auf...

...und wieder zu...

...und die beiden Rosenkreuzer standen immer noch davor. Schuldig drückte ein weiteres Mal auf den Knopf und die Tür glitt erneut auf. Die Kabine war klein und hatte keine Fenster. Die Tür schloss sich wieder.

"Okay, wir nehmen die Treppe."

Nagi nickte erleichtert. "Ist ja nur im ersten Stock."
 

Der Hausmeister entpuppte sich als schwarzgelockte, exotische Schönheit, mit der Schuldig sofort auf Spanisch, ihrer Muttersprache, zu plänkeln begann.

Nagi verstand sozusagen nur noch Spanisch, verdrehte genervt die Augen und trat an das Fenster, um einen Blick auf das Meer zu erhaschen. Doch außer weiteren Häusern war nichts zu sehen. Dafür hatte er einen tollen Blick auf den Parkplatz.

In dem Moment stieg eine Familie aus einem roten Golf. Das Ehepaar schien zu streiten, ihr Sohn, der ungefähr in Nagis Alter war, trödelte hinter ihnen her.

//Eh?// Nagi ging näher an das Fenster, um besser sehen zu können. War der Junge etwa Asiat? Die Eltern sahen absolut europäisch aus.

//He, guck doch mal hoch!// versuchte sich Nagi in mentaler Beeinflussung, funktionierte jedoch leider nicht. Vielleicht war der andere aber auch nur abgelenkt, denn in diesem Moment drehte sich die Frau um und rief ihm irgendwas zu, woraufhin er zu den beiden aufschloss.

Was war das? Hatte sie ihm da gerade eine Kopfnuss verpasst? Nagi verrenkte sich beinahe den Hals, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und - PONG - knallte dabei mit der Stirn gegen die Scheibe.

Das Gespräch zwischen Schuldig und der Spanierin verstummte und beide sahen ihn verdutzt an.

"Alles klar?" fragte Schuldig besorgt.

"Jaja. Bist du bald fertig? Ich will endlich ans Meer."

"Yepp!" Schuldig wedelte mit dem Schlüsselbund. "Das Geld ist sogar schon überwiesen worden. Dreizehnter Stock, Zimmer sieben. Der Mann hat echt Sinn für Humor!"
 

Wenige Augenblicke später standen sie wieder vor dem Fahrstuhl.

"Dreizehnter Stock?" fragte Nagi nochmal, sicherheitshalber.

"Hm-m. Also - wenn du laufen willst... aber ich schlepp den Koffer nicht zwölf Stockwerke! Es sei denn, du mit deiner Wunderkraft..."

"Vergiss es. Fahren wir halt. Oder hast du Angst?"

"Ich doch nicht."

"Ich auch nicht."

"Na, dann..." Der Deutsche drückte auf den Knopf.
 

Obwohl beide keine Angst hatten, herrschte im Fahrstuhl beklemmendes Schweigen. Wenigstens fuhr der Kasten eindeutig nach oben und nicht etwa runter...

... sieben ... neun ... elf ... dreizehn!

Die Tür glitt auf und sie blieben erstmal im Ausgang stecken, weil beide gleichzeitig als erster raus wollten.

Schließlich standen sie im Flur des dreizehnten Stocks. Es gab nicht ein einziges Fenster. Die Wohnungstüren waren aus Metall und einige quadratische Wandlampen tauchten alles in ein diffuses, gelbes Licht.

Schuldig brauchte Nagis Gedanken nicht zu lesen, um zu bemerken, dass der Jüngere sich genauso unbehaglich fühlte wie er selbst. Das alles weckte unangenehme Erinnerungen an ein bestimmtes fünftes Untergeschoss.

"Aaalso," sagte er langgezogen, "da ist Wohnung zwölf und Wohnung eins. Mal sehen..." Er ging den Gang weiter, der auf zwei Seiten um den Fahrstuhlschacht herum führte. Nagi klebte wie ein junger, anhänglicher Hund dicht an seiner Seite.

"Wohnung elf, Wohnung zehn, Wohnung drei..."

Der Gang endete an einer weiteren, mächtigen Metalltür.

"Tja, Nummer sieben ist wohl dahinter. Schätze, Mr Cool hat sich das hier vorher nicht angesehen, was? Oder ist das auch so eine humorvolle Seite an ihm?"

Mit Mr Cool meinte er natürlich Crawford. Nagi sparte sich einen Kommentar.

"Mach schon auf!" drängte er statt dessen. Er wollte so schnell wie möglich wieder Blick nach draußen haben.

"Is ja nur ne blöde Brandschutztür", erklärte Schuldig mutig und drückte die Klinke. Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen.

"Und da is auch schon unsre sieben. Wer sagt's denn!"

Aber immer noch kein Fenster, der Gang endete einfach an zwei Wohnungstüren.

Schuldig nestelte nervös an dem Schlüsselbund herum und ließ es vor Schreck fallen, als hinter ihnen die Brandschutztür mit einem lauten Krachen zufiel. Er starrte auf die graue, schwere Tür, und das Gefühl, wieder eingesperrt zu sein, wurde übermächtig.

Nagi sah, dass mit Schuldig etwas passierte. Er schnappte sich die Schlüssel und schloss auf. In achtloser Eile schmiss er ihr Gepäck in das Apartment, natürlich sein Laptop ausgenommen, der wurde sanft abgestellt, knallte die Wohnungstür zu und stieß die Brandschutztür auf.

"Jetzt las uns endlich zum Meer gehen, Schuldig."
 

Im Moment war keine Feriensaison, weswegen in der Wohnanlage Frische Brise nicht viel los war. Da es aber gleichzeitig der erste sonnigwarme Sonntagnachmittag in diesem Frühjahr war, herrschte dennoch reger Betrieb auf der Promenade, am Strand und auch im Watt. Die Menschen saßen im Sand und ließen sich die Sonne in das Gesicht scheinen, Kinder liefen mit Eimern und Schaufeln durch den Schlick und selbst noch weit draußen sah man winzige Gestalten durch die Wattlandschaft spazieren.

Schuldig schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Er spürte die Wärme der Sonne, das kühle Streicheln des Windes auf seiner Haut und wie sich seine langen Haare leicht bewegten. Tat das gut nach diesem schrecklichen Flur!

Er öffnete ein wenig sein drittes Auge, um die Gefühle und Gedanken der Menschen wahrzunehmen. Alle waren entspannt und gut gelaunt.

Alle?

Nein, nicht alle. Eine einzelne Person störte mit ihren negativen Empfindungen das harmonische Ganze.

Er drehte sich zu Nagi um, zu der Quelle der Disharmonie, und fand ihn mit fassungslos aufgerissenen Augen in die Weiten des Watts starren.

"Schuldig...! Wo. Ist. Das. MEER??!!"

//Oh, wie süß! Er kennt das Watt nicht!// Er grinste.

Schuldig wäre nicht Schuldig, wenn er dem Kleinen jetzt einfach Ebbe und Flut erklärt hätte.

"Hm. Hat wohl jemand den Stöpsel gezogen", flachste er statt dessen.

"Das... ist doch unmöglich." Der junge Japaner konnte einfach nicht begreifen, was er da sah. Oder vielmehr: nicht sah.

"Nichts ist unmöglich, wie du siehst. Vielleicht hat ja Toyota was damit zu tun. Kennst du diesen Werbespot?"

"Das ist nicht lustig, Schuldig. Wie kann das nur sein?"

"Ja, hm. Lass mich überlegen. Das ist eine sehr seltene Naturkatastrophe in Europa. Das Gegenteil von Überschwemmung. Das Wasser... verschwindet einfach. So ist Großbritannien entstanden."

"Ich will aber das Meer sehen und nicht diese...", Nagi rang kurz nach einer Bezeichnung, "...Wasserwüste!"

Schuldig amüsierte sich prächtig. "Tja, anscheinend will das Meer dich nicht sehen..."

"Entschuldigung", wurde er von einer kleinen Stimme unterbrochen. "Aber das Meer ist nicht weg."

Schuldig hatte nicht damit gerechnet, dass jemand die in Japanisch geführte Unterhaltung verstehen würde. Hinter ihnen stand der Junge, den Nagi schon auf dem Parkplatz gesehen hatte.

//Habe ich richtig gesehen: Japaner!// dachte Nagi zufrieden.

Der andere machte eine unbestimmte Geste Richtung Horizont. Er mochte etwas jünger sein als Nagi, war jedoch fast genauso groß, nur kräftiger von Gestalt.

"Das Meer ist irgendwo da hinten. Das ist Ebbe."

Nagi starrte mit funkelnden Augen in die Ferne. //Ich will keine Ebbe. Ich will Meer! ...ist schließlich nur Wasser...// Er konzentrierte sich und bündelte innerlich seine Kräfte, wie er es im Training gelernt hatte. Nach einer Woche mit Crawford und Schuldig in München fühlte er sich schon wieder relativ fit.

"Und wer bist du?" fragte Schuldig mürrisch den fremden Jungen.

"Tatsuomi. Ich wohne da hinten", erteilte er bereitwillig Auskunft und deutete auf die Frische Brise.

Schuldig stufte ihn als harmlos ein und wurde etwas freundlicher: "Na. Dann sind wir ja Nachbarn." Er grinste schief.

"Wirklich?" Tatsuomi erwiderte das Grinsen sofort mit einem strahlenden Lächeln. Er blickte von Schuldig zu Nagi und seine nussbraunen Augen weiteten sich überrascht. Schuldig folgte seinem Blick und sein Grinsen erstarb ebenfalls.

Nagi stand mit geschlossenen Augen, die Hände nach vorne auf das Watt ausgestreckt. Um ihn herum bildeten sich kleine Luftwirbel, die sacht durch seine Haare wehten.

"Was, zum..."

Schuldig sah in die Richtung, in die Nagis Handflächen zeigten. Jetzt spürte er auch dieses leise, elektrische Prickeln in der Luft, das entstand, wenn sich Energie verdichtete.

Ein gelber Hut wehte über den Schlick auf den Strand zu. Mit ihm kam ein Wind auf, oder vielmehr war es wie ein kräftiger Sog vom Meer zum Festland hin. In der Ferne hörte man Menschen rufen, und die winzigen Gestalten im Watt rannten wie in Panik zur Küste zurück.

Jetzt wurden auch die anderen Strandgäste aufmerksam und alle Blicke waren auf den Horizont gerichtet.

Ein paar Möwen sausten, nur mit Mühe Gleichgewicht haltend, über die Köpfe der Menschen hinweg und plumpsten irritiert auf die Dünen.

Danach wehte eine Lawine Richtung Strand, bestehend aus Brillen, Schaufeln, Hüten, Flaschen, Kindern, Booten und einer großen gelben Plastikente.

Am Horizont erhob sich etwas Glitzerndes, das aussah wie eine große Welle.
 

Schuldig pfiff durch die Zähne.

"Wow! Ein Tsunami in der Nordsee!"

Dieses Szenario war genau nach seinem Geschmack. Er liebte es, mitten im Leben zu sein, Menschen in Extremsituationen zu beobachten. Dann war alles sehr intensiv, aufgeputscht durch Adrenalin wirkten die Gefühle viel stärker.

Die Welle bewegte sich inzwischen in ungeheurer Geschwindigkeit auf sie zu, überholte die flüchtenden Menschen, riss sie mit sich und schwemmte sie wie Treibgut an den Strand. Dann jedoch verloren die Wassermassen ihre Kraft, die Welle brach in sich zusammen und hinterließ eine klatschnasse, völlig verwirrte Menge, die fassungslos vor der sich jetzt schnell beruhigenden Nordsee lagen.

Die Flut war sozusagen vier Stunden zu früh und hundert Kilometer pro Stunde zu schnell.

"Na also", bemerkte Nagi befriedigt, dann kippte er um.

"Scheiße!" Schuldig wollte sofort zu ihm stürzen, aber etwas hing an seinem Bein und so kippte er bäuchlings in den nassen Sand.

Das Gewicht an seinem Bein war Tatsuomi, der sich an ihn geklammert hatte.

"Hey!" Etwas unsanft schüttelte er ihn ab.

"Sumi-masen."

Schuldig drehte Nagi vorsichtig auf die Seite und deckte ihn mit seiner Jacke zu. Sanft strich er ihm das nasse Haar aus dem blassen Gesicht. Wie immer nach einer telekinetischen Überanstrengung fühlte sich der Junge eiskalt an.

"Was hat er denn?" fragte Tatsuomi mit Besorgnis in der Stimme.

"Hier!" Statt einer Antwort drückte der Deutsche ihm einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. "Du kannst dich nützlich machen. Hol was zu trinken, was mit viel Zucker - Fanta oder Saft oder so. Und ´ne Banane. Oder Schokolade, irgendwas. - Na los, beeil dich!"

Tatsuomi rannte los und verschwand in der aufgeregten Menge.

Soweit Schuldig sehen konnte, war niemand ernsthaft verletzt worden.
 

Als Tatsuomi zurück kehrte, war Nagi bereits wieder bei Bewusstsein und saß vor Kälte und Erschöpfung zitternd im Sand.

Er überreichte Nagi eine Flasche Bananensaft und einen Schokoriegel. Die Hände zitterten jedoch so stark, dass Schuldig ihm beim Öffnen und Trinken helfen musste. Tatsuomi wartete, bis er mit dem Schokoriegel anfing, dann reichte er Schuldig das Wechselgeld.

Der winkte ab. "Bist du immer so ehrlich? Mensch, behalt das doch!"

"Wirklich?" Wieder strahlte der Kleine ihn an. "Vielen Dank!"

"Bitte bitte. So, und jetzt zieh Leine. Deine Eltern suchen dich bestimmt schon!" Schuldig wandte sich an Nagi: "Und wir beide geh'n jetzt zurück. Für deine kleine Duscheinlage ist es nämlich noch etwas zu kalt. Dein Crawford reißt mir den Kopf ab, wenn du krank wirst."
 

Erst als sie das Menschengetümmel hinter sich gelassen hatten, bemerkte Schuldig, dass Tatsuomi hinter ihnen her trippelte.

"Warum läufst du uns nach?"

"Ich wohne doch auch da." Er schloss zu den Rosenkreuzern auf. "Wie hast du das gemacht?" fragte er Nagi neugierig. "Hast du das Wasser geholt?"

"Ich..."

"Er hat gar nichts gemacht!" ließ Schuldig Nagi nicht zu Wort kommen. "Wie kommst du auf so einen Blödsinn?" Schuldig funkelte ihn böse an. //Das hat mir gerade noch gefehlt, dass uns einer hinterher schnüffelt.//

//Ich hab's doch gesehen...// dachte Tatsuomi, hielt aber lieber den Mund.

//Über manche Dinge spricht man nicht.// konnte Schuldig sich nicht zurück halten. Der Junge erschrak, als er die Stimme des Telepathen plötzlich leise in seinem Kopf hörte. Aber als er zu ihm sah, tat dieser ganz unschuldig. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er hielt sich jetzt lieber an Nagi: "Bist du zum ersten Mal an der Nordsee? Normalerweise kommt die Flut viel langsamer. Du musst auch mal ins Watt gehen, das ist toll!"

Da keiner was sagte, plapperte er einfach weiter. Das schroffe Verhalten des blonden Mannes beachtete er nicht weiter, hatte er doch gesehen, wie liebevoll und besorgt er sich um den anderen Jungen kümmerte. Wahrscheinlich war er nur gestresst.

"Bei Ebbe kann man bis zu der Insel gehen. Aber das ist gefährlich. Wenn die Flut kommt, und man hat noch einen Priel vor sich, dann wird man vom Wasser überholt und ertrinkt!"

"Was ist denn ein Priel?" fragte Nagi interessiert.

"Da fließt das Wasser drin. Ist wie ein Fluss im Meer. Wir können ja morgen zusammen ins Watt gehen, dann zeige ich dir einen. Wie heißt du?"

"Naoe Nagi. Und du?"

Die Antwort kam zögernd: "Mauritz Tatsuomi."

Schuldig lachte auf. "Na, das ist ja mal ein multikultureller Name!"

Tatsuomi ignorierte ihn würdevoll. Trotzdem setzte er noch stolz hinzu: "Eigentlich heiße ich Nanjo."

Schuldig empfing kurz ein Bild von einem japanischen Ehepaar. Die Mutter war traditionell mit einem buntgemusterten Kimono bekleidet, die Haare kunstvoll hochgesteckt. Der Vater sah in Anzug und Brille aus wie eine japanische Version von Brad Crawford.

"Aber seit ich adoptiert bin, eben Mauritz." Darauf schien er weniger stolz zu sein. "Sie wollten auch meinen Vornamen ändern, haben sie dann aber doch nicht gemacht. Zum Glück!"

Den Vornamen ändern? Seltsame Geschichte, fand Schuldig. Der Junge hatte auch im Gegensatz zu seinen leiblichen Eltern keine vornehme, teure Kleidung an. Im Gegenteil: Die Sachen, die er trug, sahen abgetragen aus, und die Ärmel und Hosenbeine waren schon etwas zu kurz geworden. Schaudernd erinnerte das den Telepathen an einige unerfreuliche Begebenheiten aus seiner eigenen Kindheit. Darum wollte er sich auch gar nicht näher mit diesem Kind beschäftigen.

"Ich darf auch eigentlich gar nicht Japanisch reden", erzählte Tatsuomi flüsternd weiter. "Sie sagen, ich bin jetzt Deutscher."

"So ein Quatsch!" entrüstete sich Nagi. "Du bleibst immer Japaner, egal, wo du lebst."

Tatsuomi nickte eifrig. "Ich rede mit mir selbst auf Japanisch, damit ich nichts vergesse. Und wenn ich erwachsen bin, will ich wieder zurück."

Inzwischen waren sie an dem Apartmenthaus angekommen und standen vor dem Fahrstuhl.

"Wo wohnst du denn?" fragte Schuldig.

"Fünf/zwölf. Und ihr?"

"Weiter oben." Schuldig drückte auf die Fünf.

Als die Tür aufging, schob er Tatsuomi nach draußen.

"Sehen wir uns morgen?" Die Frage war an Nagi gerichtet.

"Mal sehen." antwortete Schuldig statt dessen.

Die Tür glitt zu.

"Warum bist du denn so unfreundlich zu ihm?" fragte Nagi, als sie in ihrem Stockwerk angekommen waren.

"Den werden wir doch nie wieder los! Außerdem reicht mir schon ein Kind, auf das ich aufpassen soll."

"Jetzt tu mal nicht so. Ich finde ihn nett. Und übrigens..." Er schob die Brandschutztür mit Gedankenkraft auf, und verbog die Scharniere so, dass sie offen blieb. "...wer passt hier auf wen auf? Besser so?"

"Hm. Danke. Du hättest seine Eltern sehen sollen: Japanisches Spießbürgertum, zum Kotzen! Glaub mir, hätte er dich in Japan kennen gelernt, hätte er dich nich' mal mit'm Arsch angesehen!"

Nagi öffnete schweigend die Tür zu ihrem Apartment. Er wusste, dass Schuldig recht hatte.
 

Die Wohnung bestand aus drei Zimmern und einem Bad. In dem Wohnraum gab es eine Kochzeile und riesige Fenster mit Meeresblick. Die anderen beiden waren zwei kleine Schlafräume.

"Ich nehme das Zimmer mit Telefonanschluß, bitte." bestimmte Nagi. "Und gehe jetzt baden. Du kannst uns ja in der Zwischenzeit etwas zu essen besorgen. Schließlich hast du selbst gesagt, dass du dich um mich kümmern musst." Damit verschwand er im Bad.
 

Schuldig pellte sich aus seinen nassen Klamotten. Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Noch vor einer Woche hätte er jeden ausgelacht, der ihm gesagt hätte, dass er jetzt hier stehen würde, vor einem großen Panoramafenster, um auf die endlosen Weiten der Nordsee zu blicken.

Er konnte sich kaum vorstellen, dass Crawford all die Dinge einhalten würde, die er bei ihren Gesprächen in München angedeutet hatte. Schuldig war schon zu oft in seinem jungen Leben vom Regen in die Traufe gekommen, und die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben hatte er schon fast aufgegeben. Bis Crawford auftauchte. Nicht, dass Schuldig ihm auch nur für zwei Cent über den Weg traute. Aber das machte nichts, denn Schuldig vertraute sowieso niemandem. Außerdem wurde dadurch die Arbeit mit dem Amerikaner auch angenehm spannend. Denn Schuldig hasste neben Eingesperrtsein nichts so sehr wie Langeweile. Und immerhin hatte ihn dieser arrogante Bastard aus dem Gefängnis von Laboratorium befreit. In München dann hatte er ihn und Nagi in neue Mental-Techniken eingewiesen, die ihnen helfen sollten, ihre Fähigkeiten besser zu kontrollieren. Warum auch immer er ihnen dieses Wissen preisgab, das Rosenkreuz ihnen verheimlicht hatte. Vielleicht waren Rosenkreuz diese Techniken auch gar nicht bekannt? Vielleicht hatte der Amerikaner Geheimnisse vor Rosenkreuz? Womöglich sogar vor SZ, dem Geheimbund, der hinter und über allem stand? War das möglich? Schuldig dachte an die neu gelernte Methode, Gedanken vor Telepathie abzuschirmen. Natürlich war ihm klar, dass das nicht nur ein Geschenk von Crawford sein konnte. Niemand würde so etwas aus reiner Nächstenliebe tun. Schuldig wusste, dafür würde er eine Gegenleistung erbringen müssen. Crawford war dafür bekannt, in erster Linie an sich selbst zu denken. Nur so hatte er es in wenigen Jahren geschafft, sich bis an die SZ-Spitze heran zu arbeiten. Dennoch verspürte Schuldig schon jetzt mehr Sympathie ihm gegenüber als irgendeinem anderen Vorgesetzten bei Rosenkreuz. Er hoffte nur, dass es nicht nur hohles Gerede gewesen war, was der Amerikaner Ende der Woche in seiner Privatwohnung am Münchener Stadtrand zu ihm gesagt hatte. Schuldig erinnerte sich an jedes einzelne Wort: "Hör zu, Schuldig. Ich kann mit Anarchie leben. Ich weiß, mein Leben hat nicht mehr Wert als deins. But - ich werde dir immer einen Schritt voraus sein. Also hat mein Wort, was Missionen anbelangt, absolute Priorität. Wenn du in mein Team willst, halte dich daran. Privat mische ich mich in dein Leben nicht ein, I promise."

//Welches Privatleben?// hatte Schuldig bitter gedacht und sich gefragt, warum Crawford so tat, als hätte er die Wahl.

Immer einen Schritt voraus... Was für eine interessante Fähigkeit. Und was für ein interessanter Mensch! Um so mehr, da er zu den wenigen Personen gehörte, deren Gedankengänge Schuldig nahezu verborgen blieben - zu gut war seine Abschirmung. Wie schön war die Vorstellung, mit dem neu erworbenen Wissen um diese spezielle Technik irgendwann hindurchdringen zu können... und wie unschön die Vorstellung, dass Nagi vielleicht so gut wie Crawford darin werden würde und Schuldig dann seine Gedanken gar nicht mehr so mühelos lesen könnte...

A propos Nagi, er sollte sich ja um den Jungen kümmern. Und zum Kümmern gehörte ausdrücklich das Essen. Seltsamer Auftrag, aber seltsam angenehm.

Er riss sich vom Fenster los und griff nach seinem Handy. //O-oh!//

Vier Anrufe in Abwesenheit.

//Ich kann auch in die Zukunft sehen.// dachte Schuldig. Die Anrufe waren garantiert von -

Er hatte kaum zehn Sekunden das Handy in der Hand, da klingelte es. Die Nummer von Brad Crawford erschien im Display.

"Schuldig", meldete sich Schuldig.

"Mehr wollte ich gar nicht wissen", antwortete die ruhige und tiefe Stimme des Hellsehers.

//War das etwa ein Scherz?// Schuldig war nervös, wie immer, wenn etwas schief gelaufen war.

"Wie geht es dem Jungen?"

"Danke, mir geht es gut", witzelte der 18jährige, um seine Unsicherheit zu überspielen. "Ach, und dem Chibi auch."

"Ihr seid nicht mal einen Tag da, und schon ist Sahlenburg in allen Nachrichten." Crawford klang jetzt leicht ärgerlich. "Ich hatte mich doch klar ausgedrückt, dass Naoe sich ausruhen soll. Ich möchte, dass ihr euch unauffällig benehmt. Gut. Dann möchte ich jetzt Naoe sprechen."

Schuldig setzte ein paar mal an, etwas zu sagen, aber Crawford hatte die nervige Angewohnheit, die Antworten voraus zu sehen, und seinem Gesprächspartner das auch deutlich spüren zu lassen. Schuldig grinste leise. //Angeber.//

"Okay, er soll mich zurückrufen. Nach dem Essen. Regelmäßige und ordentliche Mahlzeiten sind genauso wichtig wie die Übungen, die ich euch gezeigt habe. Right?"

"Schon verstanden. Ich werde dafür sorgen, dass er sich in drei Wochen als Sumo-Ringer bewerben kann."

Kurze Stille am anderen Ende der Leitung.

"Warum geht ihr nicht an's Handy?" fragte Crawford eisig. Er war nicht daran gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden, und genau dieses Gefühl vermittelte ihm der Jüngere. "Ihr müsst jederzeit erreichbar sein! Das ist wichtig, Schuldig! Wenn du dich nicht an die Regeln halten kannst, übergebe ich dich wieder Monsieur Belga - du weißt, was das heißt: fünftes Untergeschoss."

"Schon verstanden." sagte Schuldig besänftigend. "Wird auch nicht wieder vorkommen, Sir. Sie können sich ganz auf mich verlassen, Sir. Nur - fällt das vielleicht in den Bereich Privat?"

"Das ist mir egal. Aber halte dich an meine Anweisungen."

Er legte auf und Schuldig starrte noch einen Augenblick das Handy an. Puh, dieser Mensch nahm das Leben wirklich viel zu ernst. - Oder... war er etwa selber auch nervös? Was führte er nur im Schilde?

Nun, um das heraus zu finden, musste der blonde Telepath sich erstmal um Nagi Naoe kümmern - und der nahm das Leben für Schuldigs Geschmack ebenfalls viel zu ernst! Er hatte den Jungen noch nicht einmal lächeln sehen.

Er wählte die Nummer der Auskunft und ließ sich sämtliche Bringdienste der Gegend durchgeben.

MISSION ERHOLUNG - Kapitel 4
 

Nach dem Essen lümmelte Nagi auf dem Sofa herum und zappte gelangweilt durch das Fernsehprogramm. Die Fernbedienung blieb dabei unangetastet.

//Schuldig?// rief er seinen Begleiter mental, zu träge, um aufzustehen.

Schuldig sortierte in seinem Zimmer seine wenigen Sachen in die Schränke.

//Was wünschen Seine Hoheit?// antwortete er prompt.

Nagi zuckte leicht zusammen und schaltete dabei auf Pro 7. Zwei Männer packten da gerade eine Frauenleiche in ihren Kofferraum.

//Du bist aber schreckhaft heute. Du hast mich doch gerufen! Vielleicht solltest du dir dann besser nicht solche grausamen Sachen ansehen.//

//Hmpft! Sonst rufe ich dich eine Ewigkeit, bis du antwortest.//

//Tja, hier sind halt weniger Menschen als in München. Also - was willst du?//

//Diese Sache mit Tatsuomi. Ist das nicht seltsam?//

//Vergiss den.//

//Aber wieso wird ein japanisches Kind von Deutschen adoptiert?// ignorierte Nagi die Antwort.

//Woher soll ich das wissen? Ist doch egal.// Damit war das Thema für Schuldig beendet.

Bis er in den Wohnraum trat. Nagi hatte den Fernseher ausgeschaltet und sah ihn erwartungsvoll an.

"Dôzô! Sieh mal nach, was er grade denkt!" forderte er den Telepathen auf.

Schuldig seufzte und ließ sich in den Sessel gleiten.

"Okay. Aber nur, weil hier sonst nix los is." Er schloss die Augen und begab sich gedanklich in den fünften Stock der Frischen Brise.

"Er heult." teilte er Nagi mit. "Kommt nichts im Fernsehen?"

"Was?"

"Kommt nichts im Fernsehen?"

"Warum heult er?"

"Ihm ist kalt, er hat Hunger und fühlt sich allein."

"Wo sind denn seine Eltern?" Nagi saß jetzt kerzengerade und sah ihn eindringlich an.

"Nagi! Das geht uns nichts an. Außerdem weißt du doch: Keine Kontakte außerhalb Rosenkreuz."

"Pah!" machte der Jüngere verächtlich. "Seit wann hältst du dich denn an Regeln? - Also sag schon!"

Schuldig bemerkte besorgt, dass das Siebziger-Jahre-Mobiliar leicht zu vibrieren begann. Anscheinend hatte das Essen Nagis Kraftreserven schon wieder gefüllt.

"Schon gut, schon gut!" Beschwichtigend hob er eine Hand. Schließlich hatte Crawford ja befohlen, dass der Junge seine Kräfte schonen sollte. "Seine Eltern sind nicht da."

Mehr wollte Nagi nicht wissen. Er sprang auf und weg war er. Schuldig merkte erst, als er von einer unsichtbaren Kraft in den Sessel gedrückt wurde, dass er versucht hatte, den Telekineten aufzuhalten. Ein wenig benommen blieb er einfach sitzen. Es hatte ihn nicht nur Nagis Mentalkraft, sondern auch eine Welle heftiger Gefühle und Bilder getroffen.

Eine Eiseskälte war in sein Innerstes gefahren, Hunger, Schwäche, Verzweiflung. Hochhäuser, Neonreklame, Menschen in Winterkleidung - KÄLTE - die Hände in den Taschen, die Gesichter hinter hochgestellten Mantelkragen vergraben - VERACHTUNG - kurze Blicke, dann wurden die Augen abgewandt. - WUT -

Ein Junge lag unter einer Brücke, die Augen geschlossen. Raureif ließ seine Haare, seine Wimpern und Augenbrauen weiß erscheinen. - Tod -

Das mussten Erinnerungen sein.

//Soso//, dachte Schuldig. //Du hattest also einen Bruder, Naoe-Chan.//
 

Der Telepath lehnte lässig mit verschränkten Armen an dem Türrahmen, als Nagi mit dem verheulten und vor Kälte schlotternden Tatsuomi zurückkehrte. Er trug noch immer die nassen Sachen vom Strand.

Schuldig nickte Richtung Badezimmer: "Das Wasser läuft schon."

Nagi warf ihm einen dankbaren Blick zu, doch bevor er etwas erwidern konnte, tauchte der Deutsche ab in sein Zimmer.

Er schmiss sich auf sein Bett und schloss die Augen, lauschte mental zu den beiden Jungen hinüber. Gefühlskino nannte er das. War auch immer wieder interessant: Diesmal entdeckte er eine Seite an Nagi, die ihm bisher unbekannt war. Er war richtig fürsorglich zu dem anderen Teenager: //Ist das Wasser auch nicht zu heiß? Was willst du denn essen?//

Schuldig hatte noch nie gesehen, dass Nagi sich um irgendwas kümmerte, was nicht elektronisch war. Und jetzt benahm er sich fast mütterlich. Rief einen asiatischen Bringdienst an. Suchte Klamotten aus seinem Kleiderschrank und überlegte dabei, was Tatsuomi gefallen könnte!

Und der? War erleichtert, dass ihm endlich warm wurde. Und er genoss es, dass sich jemand um ihn kümmerte. Der war eh so freundlich und aufrichtig, dass es Schuldig schon fast auf die Nerven ging.

Der Telepath empfing tiefe Dankbarkeit. Er spürte, dass schon lange niemand mehr so nett zu dem Jungen gewesen war, seine Adoptiveltern jedenfalls noch nie. Und trotzdem antwortete er auf Nagis Frage, wo die denn wären: //Im Theater in Bremen. Ich hab den Schlüssel vorhin nicht mitgenommen.//

Warum hätte er auch daran denken sollen, wie hätte er wissen sollen, dass die keifende Frau Mauritz ihn im Ortskern von Sahlenburg aus dem Auto werfen würde, weil er sich Ketchup auf den Pulli gekleckst hatte. //So nehme ich dich nicht mit ins Theater! Kannst du immer noch nicht ordentlich essen?!// hatte sie gefaucht.

Und das einzige, was Herr Mauritz dazu zu sagen gehabt hatte, war: //Den Weg zurück kennst du ja. Wir sind heute Abend wieder da.//

Und weg waren sie und ließen ihn mit hängendem Kopf am Straßenrand zurück wie einen ausgesetzten Hund, den keiner will. Widerworte? Nein.

Und zu Nagi, einem nahezu Fremden, schlecht über sie reden? Niemals!

Man kann's auch übertreiben mit dem Nettsein, fand Schuldig.

Tatsuomi räkelte sich in dem heißen Wasser und er genoss mit ihm die angenehme Wärme. Das war doch besser als Nagis Erinnerung an das eiskalte Tokyo!

Als hätte Schuldig ihn an Japan erinnert, dachte Tatsuomi plötzlich an zuhause. Nagendes Heimweh empfand er mit ihm, tiefe Trauer zerrte an seinem Herz. Erinnerungsbilder.

Das tägliche Bad vor dem Abendessen, nach einem harten Training - Schwerter? - ein palastähnliches Haus. Tatami-Matten, Wände und Türen aus Papier. Jede Menge Dienstboten. Seine Familie musste sehr wohlhabend gewesen sein. Schuldig dachte an das Bild seiner Eltern, das er schon vorhin am Strand in Tatsuomis Gedanken hatte aufblitzen sehen.

Und da waren sie auch schon wieder, Telepathie funktionierte nicht nur in eine Richtung: Tatsuomis Vater strich ihm durch das Haar, lächelte: //Immerhin bist du unser wertvoller Familienerbe.// Die erinnerten Gefühle absoluter Freude, Stolz und Sicherheit, die Tatsuomi bei diesen Worten empfunden hatte, kippten plötzlich mit der Erkenntnis, dass sein Vater ja tot war, o-kâ-sama auch, und in Deutschland war alles schrecklich. Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem wurde unerträglich und ließ Tränen fließen.

Eine andere, drängende, Empfindung: Große Besorgnis. Von Nagi.

"Warum weinst du?"

Seit wann hatte Tatsuomi blonde Haare, und er lag nicht auf dem Bett, sondern in der Badewanne. //Häh?//

Erst eine Berührung an seinem Arm machte ihm bewusst, dass Nagi mit ihm redete. Eine kühle Hand legte sich über sein Stirn-Chakra, wie Crawford es ihnen gezeigt hatte. Die fremden Gefühle verebbten langsam und Schuldig versuchte ein Grinsen, das jedoch missglückte.

"Is' nichts mit dem Erbe..."

"Das kommt davon", antwortete Nagi reserviert und meinte damit das Belauschen fremder Gedanken. Er kannte das schon, dass Schuldig manchmal wirr redete. "Sagst du mir Bescheid, wenn Tatsuomis Adoptiveltern...", er sprach das Wort so aus, dass es seine Verachtung ausdrückte, "...zurückkommen?"

"Wenn ich's mitkriege..."

"Das lässt du dir doch bestimmt nicht entgehen."

"Könntest du recht haben."

Schuldig grinste, diesmal wieder richtig.

MISSION ERHOLUNG - Kapitel 5
 

"Wie weit seid ihr?" fragte Crawfords tiefe Stimme, als Schuldig sich meldete.

Sie waren jetzt seit einer Woche an der Nordsee.

"Es geht voran", gab der Telepath bereitwillig Auskunft. Die Gespräche mit dem Amerikaner wurden langsam zur Gewohnheit und er ertappte sich dabei, sich sogar auf sie zu freuen. "Nagis mentale Blockade macht gute Fortschritte." //Leider.// setzte er grinsend für sich in Gedanken hinzu. "Es geht ihm auch physisch immer besser. Frisst wie'n Scheunendrescher."

"Wie ein was?" Crawford kannte das deutsche Wort nicht, das Schuldig in die in Japanisch geführte Unterhaltung einbrachte.

"Sagt man so."

"Aha. Und selbst?"

Schuldig stutzte überrascht. Das war das erste Mal, dass Crawford sich nach ihm erkundigte.

"Tja. Meine Blockade wird dann wohl Belga testen, wenn ich wieder in München bin." Sein Tonfall ließ keinen Zweifel, wie wenig begeistert er davon war.

"Dazu wird er keine Gelegenheit haben", sagte Brad schnell. "Sie haben meiner Teamaufstellung zugestimmt. Ihr beide werdet von Sahlenburg direkt nach Hannover kommen."

"Hannover?"

"Yes. Wir sind Takatori zugeteilt, einer großen japanischen Firma. Mischen auch in der Politik kräftig mit. In Hannover ist eine Zweigstelle, wo wir eine Weile arbeiten werden. Außerdem soll Mr Takatori Vertrauen zu mir fassen. Er spielt eine wichtige Rolle in unseren Angelegenheiten. In spätestens einem Jahr werden wir in Japan sein. Bisher läuft alles nach Plan."

Schuldig jubelte innerlich. Er fühlte sich jetzt schon frei, endlich raus aus dem Rosenkreuz-Knast mit seiner strengen Disziplin! Dafür würde er Crawford ewig dankbar sein. Allerdings nur, wenn dieser sich an sein Wort hielt und keine Chefallüren entwickelte.

Schuldig hatte Crawford einige schlaflose Nächte bereitet. Ihn mit Nagi zur Erholung zu schicken war eine Sache, immerhin schien sich Nagi absurderweise in seiner Gegenwart zu entspannen. Eine ganz andere Sache war jedoch, ihn in das Team und mit nach Tokyo zu nehmen. Bis vor kurzem wäre er nie auf diese Idee gekommen. Zu widersprüchlich und unzuverlässlich ging der Telepath aus den Akten hervor. Zudem stand er in dem Ruf, mit Belga sehr vertraulich zu sein. Nagi hatte dazu nur gesagt: "Er hat Angst vor Belga, er mag ihn nicht. Das weiß ich." Crawford hatte den Jungen nachdenklich angesehen, und begonnen sich mit der Idee zu beschäftigen, Schuldig in das Team zu nehmen. Schließlich brauchte er doch gerade andere, die SZ nicht treu ergeben und die wenigstens ansatzweise immun gegen die ausgeklüngelte Bewusstseinsmanipulation der Rosenkreuzer waren. Dass der überdurchschnittlich begabte Telepath in diesem System nicht funktionierte, hieß nicht, dass er für Crawford nicht zu gebrauchen war. Crawford hatte andere Methoden, um sich Loyalität zu sichern.

"Lass ihn laufen. Wenn er aus freien Stücken zurückkommt, ist die Freundschaft viel mehr wert. Vorher ist es eigentlich keine Freundschaft." Diese Worte hatte sein Großvater einmal an ihn gerichtet, als er noch ein Kind war und einen verletzten Fuchs gesund gepflegt hatte. Crawford gestattete es sich nicht oft, an seine Vergangenheit zu denken, doch Schuldig erinnerte ihn an diesen Fuchs. Er ließ sich helfen, aber er wahrte die ganze Zeit misstrauisch Abstand. Als er das Tier damals hatte laufen lassen, hatte er es nie wieder gesehen.

Schuldig jedoch würde nicht vor ihm davon laufen. Crawford verstand, was in der Akte stand. Und er verstand, mit dem Telepathen umzugehen. Auch wenn es der Achtzehnjährige bei ihren Konversationen an dem nötigen Respekt mangeln ließ. Crawford wusste, daß er auf die Probe gestellt wurde, und er ließ es geschehen.

Nun, warum auch nicht. Eigentlich missfiel dem Fünfundzwanzigjährigen der lockere Umgangston gar nicht so sehr. Auch weil es ihn an früher erinnerte, an Zeiten, als er noch Freunde gehabt hatte.

Nachdem Crawford nichts antwortete, plauderte Schuldig munter weiter: "Heute fahren wir nach Cuxhaven. Der Chibi braucht irgendso'n Kabel für den Computer und das Handy." Er lachte. "Wieviel hast du dem Hausmeister bezahlt, dass er den Telefonanschluss aus dem Apartment entfernt?"

Crawford grinste. "War garantiert auch so schwer genug, Nagi von seinem Laptop zu trennen."

"Ging so", sagte Schuldig ausweichend, er wollte nichts von Tatsuomi erzählen. Er wechselte das Thema: "Ich wollt' mir bei der Gelegenheit 'n Leihwagen besorgen."

"Aber übertreib's nicht... - was war denn das?"

Im Hintergrund hatte Tatsuomi laut gekichert.

//Oh, Shit!// Schuldig sah vom Balkon aus zu den beiden Jungen, die vor dem Fernseher saßen und ihre Lieblingszeichentrickserie ansahen, X oder so. Er hatte vergessen, die Balkontür zu schließen. Tatsuomi prustete schon wieder los.

Schuldig ging in sein Zimmer und schloss die Tür, während Crawford schweigend auf eine Antwort wartete.

Schuldig seufzte innerlich. Jetzt musste er von Nagis "Geheimnis" erzählen. Er konnte schließlich nicht einfach behaupten, dass Nagi in der kurzen Zeit zum Lachsack mutiert sei. Er könnte allerdings sagen, es sei aus dem Fernseher gekommen. Aber ein unbestimmtes Gefühl hielt ihn davon ab, Crawford anzulügen. Eigentlich gehörten ja Treffen mit Gleichaltrigen auch in den Bereich Erholung, fand Schuldig. Ob der Amerikaner diese Meinung aber teilte?

Also holte Schuldig tief Luft und begann zu erzählen.

Wie sie Tatsuomi am ersten Tag am Strand getroffen hatten.

Dass Nagi ungewöhnliches Interesse an dem Jungen entwickelt hatte... und sie seitdem jeden Tag zusammen waren... und Tatsuomi mehr Zeit mit ihnen als mit seinen seltsamen Adoptiv-Eltern verbrachte. Soweit Schuldig feststellen konnte, mochten diese Leute überhaupt keine Kinder - weder im allgemeinen, noch ihren Adoptivsohn. Wenn sie ihn nicht gerade ignorierten oder vernachlässigten, waren sie unerträglich streng zu ihm. In Schuldig erweckte dies schwer auszuhaltende Erinnerungen, also hielt er sich aus ihren Köpfen und Angelegenheiten möglichst heraus.

Nagi hingegen hatte einen richtigen Narren an Tatsuomi gefressen. Und Schuldig ließ ihn gewähren. Warum auch nicht? Nagi sollte die gleiche Freiheit haben, die Schuldig sich für sich wünschte.

"Schließlich ist er nur ein stinknormaler Junge", schloss der Telepath seine Ausführungen und lauschte auf das Schweigen, das diesem Monolog folgte.

Auch Crawford kam die Geschichte seltsam vor. Durch seine Arbeit für Rosenkreuz wusste er nur zu gut, wie schwer es war, ein japanisches Kind mit nach Europa zu nehmen. Auf legalem Weg schlicht unmöglich.

"Wie hießen seine Eltern?" fragte er schließlich.

"Mauritz."

"Nein, die japanischen."

"Nanjo."

"Aus Tokyo, ja? Sieh doch mal in ihren Erinnerungen nach..."

"Natürlich hab' ich das schon", unterbrach der Telepath. "Zwei Polizisten sind in die Schule gekommen. Wirkte alles ganz offiziell. Haben ihm erzählt, seine Eltern wären bei ´nem Autounfall gestorben. Dann sind sie direkt zum Flughafen mit ihm und quatschten ihn voll, von wegen keine Sorge, wir haben schon eine neue Familie für dich, und schon war er in Deutschland. Diese Mauritz-Leute haben ihn gleich am Flughafen abgeholt. Das war vor zwei Jahren. Er hat anfangs ständig versucht, seine Tante anzurufen...", der Telepath lachte kurz, "...aber die Vorwahl für Japan nicht vorweg gewählt. Und jetzt traut er sich nicht mehr, weil er denkt, sie will ihn nicht. Wahrscheinlich hat sie sich das Erbe unter den Nagel gerissen, und wollte ihn los sein. Hatten viel Kohle seine Eltern, und ´ne Riesen-Firma und irgendso'ne berühmte Schule für japanischen Kram mit Schwertern und Stöcken."

"Und die Mauritz'?"

"Ach, die! Furchtbare Leute! Denken wirklich nicht viel, macht keinen Spaß, die zu lesen. Die wissen auch nicht viel, kriegen von irgendwem Geld, dass sie den Jungen haben." Schuldig mochte nicht zugeben, dass er eigentlich nicht tief nachgesehen hatte. "Sie haben tausend Regeln, was er alles nicht darf. Vor allem, was Japan betrifft. Darum hat Nagi ihnen auch erzählt, er käme aus Vietnam. Mann, der Kleine kann ja lügen wie gedruckt! Mir sind selbst fast die Tränen gekommen, bei der Geschichte, die er denen aufgetischt hat! Na, ich bin jetzt jedenfalls sein Adoptivbruder und heiße Pitt...

Tatsuomi glaubt die Geschichte, natürlich außer das mit Vietnam. Er lernt mit uns kanji. Mach dir keine Sorgen, der ist sowas von naiv, der ist keine Gefahr."

"Ja. Pass trotzdem auf. - Ich muss jetzt Schluss machen."
 

Als Schuldig zurück zu den Jungen kam, sah Nagi ihn fragend an. Der Telepath grinste.

//Dein Tatsuomi ist genehmigt.//

MISSION ERHOLUNG - Kapitel 6
 

Die beiden japanischen Jungen lagen im Halbschatten unter einer großen Birke ausgestreckt auf dem Rücken und hingen jeder seinen Gedanken nach. Die Stimmung war bedrückt.

Tatsuomi betrachtete das Spiel von Licht und Schatten, dass die Blätter auf Baumstamm und Äste warfen.

"Siehst du die Lichtflecken? Wie schön." sagte er leise.

Nagi schloss kurz die Augen und bewegte sacht die Blätter wie in einem leichten Wind und erzeugte so den Eindruck, als würden Wellen aus Licht den Baum entlang gleiten, nur um Tatsuomi eine Freude zu machen. Schweigend beobachteten sie das Lichtspiel.

Nagi hörte, wie Tatsuomi zitternd einatmete und sah ihn an. Tatsuomi weinte.

Ohne nachzudenken zog Nagi den warmen Körper in seine Arme. Er spürte heiße Tränen an seinem Hals entlang laufen.

Tatsuomi erwiderte die Umarmung sofort und klammerte sich wie ein Ertrinkender an den Älteren. Auch als er sich schon wieder beruhigt hatte, löste er sich nicht von Nagi. Wie dünn er war! Und immer fühlte er sich so kalt an.

"Frierst du?" schniefte Tatsuomi schließlich, als ihm wieder nach Reden zumute war.

"Nein."

Nagi rückte gerade so weit ab, dass er ihn ansehen konnte. Seine nachtblauen Augen trafen auf warmes, helles Braun.

Nicht nur ihre Augenfarbe, auch in ihrem Wesen waren sie so unterschiedlich wie sie nur sein konnten. Doch genau das machte ihnen die Gegenwart des anderen so angenehm. Tatsuomi fühlte sich von Nagis ruhiger und ernster Art angezogen. Eine geheimnisvolle Aura schien ihn zu umgeben.

Nagi mochte Tatsuomis Unschuld, den Ausdruck von Vertrauen, mit dem der Jüngere ihn manchmal ansah, und wie seine Augen leuchten konnten, wenn er sich freute. Tatsuomi hatte ja keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte! Er wirkte wie Licht in dem Schatten, von dem Nagi umgeben war.

"Gomen", nuschelte Tatsuomi und Nagi strich ihm durch das schwarze kurzgeschnittene Haar, wie sein Bruder es bei ihm immer getan hatte, wenn er traurig gewesen war. Tatsuomi lächelte verlegen.

"Ich bin ganz schön durcheinander."

Nagi nickte. Das war auch kein Wunder. Es war erst ein oder zwei Stunden her, dass Nagi herausgefunden hatte, wer im Moment die Spitze der Joto-Konzern-Gruppe bildete, die den Nanjos gehörte.
 

Sie waren mit Schuldig in der Stadt gewesen. Während der Telepath sich bei einem Frisör hatte verunstalten lassen (Nagi verstand das Grün in den Haaren nicht, von dem Schuldig nur gesagt hatte, es sei für Crawford), hatte der kleine Computerfreak das ersehnte Kabel gekauft, mit dem er über Handy endlich wieder ins World Wide Web eintauchen konnte!

Kaum in der Frischen Brise angekommen, waren die Jungs sofort in Nagis Zimmer verschwunden. Nagi stellte die Verbindung her und seine dünnen Finger huschten über die Tastatur.

Tatsuomi zappelte nervös auf seinem Stuhl hin und her und bestaunte einmal mehr Nagis professionellen Umgang mit dem Computer. Wie gut, dass er von diesen Dingen so wenig Ahnung hatte, sonst wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass das, was sich auf dem Bildschirm abspielte nicht unbedingt zu den betätigten Tasten passte.

Nagi vermied zwar in seiner Gegenwart sorgsam, Telekinese anzuwenden, was ihm nicht sonderlich schwer fiel, solange er sich nicht ängstigte oder aufregte; zu gut hatte sich in seinem Gedächtnis eingebrannt, wie "normale" Menschen auf paranormale Fähigkeiten reagierten. Und er wollte auf keinen Fall, dass sich Tatsuomis Verhalten ihm gegenüber änderte. An seinem Rechner jedoch hatte er einige Änderungen vorgenommen, die den Einsatz von Telekinese voraussetzten. Zum einen, weil es sich so wesentlich schneller arbeiten ließ, zum anderen, um Unbefugten (und das waren alle außer ihm selbst) den Umgang mit seiner Software unmöglich zu machen.

"Wie hieß die Firma deines Vaters?" hatte er gefragt.

Tatsuomi sah ihn groß an. "Woher weißt du, dass er eine Firma hatte?"

//Von Schuldig natürlich.// Nach außen tat er unwissend: "Hat er? Ich meinte eigentlich, wo er gearbeitet hat. Irgendwo müssen wir mit der Recherche anfangen."

"Ach..." machte Tatsuomi verlegen und wurde rot. "Joto-Konzern-Gruppe. Er ist... er war der Direktor." Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Was erwartete ihn? Wer aus seiner Verwandtschaft würde die Firma jetzt leiten nach Vaters Tod, die Firma, deren rechtmäßiger Erbe doch er, Tatsuomi, war! Wer hatte ihm das angetan?

Und das Dôjô? Ihm wurde ganz schlecht, als er den Gedanken weiter spann. Tante Nadeshiko leitete die Schule, solange, bis er alt genug sein würde... was war jetzt mit ihr? Ob sie auch...?

Nagi sog scharf die Luft ein und lenkte so seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm:

FIRMENLEITUNG: NANJO HIROSE stand da in japanischer Schrift.

Oh nein! Das konnte doch nicht wahr sein...! Tatsuomi fühlte sich, als ob der Boden unter ihm zu schwanken begann oder seine Beine zu Pudding wurden oder beides. Ihm wurde schwarz vor Augen.

"Das ist doch dein Vater..." sagte Nagi und sah, wie Tatsuomi schneeweiß im Gesicht wurde. Seine Lippen formten ein fassungsloses "Iie", doch heraus kam kein Ton. Dann drehte er sich um und rannte davon.

Nagi war einen Moment hin und her gerissen zwischen dem Drang, weiter zu recherchieren oder dem Jungen zu folgen. Bei jeder anderen Person wäre es keine Frage gewesen, aber hier lagen die Prioritäten anders. Irgendwie mochte er Tatsuomi und hatte den seltsamen Drang, ihn beschützen zu wollen. Seufzend ließ er den PC herunterfahren und lief aus dem Zimmer.

Dank Schuldigs Hinweis fand er ihn auch gleich, vor der kleinen Heidelandschaft östlich der Wohnanlage, unter einer Birke sitzend und ins Leere starrend. Schweigend ließ er sich neben Tatsuomi im Sand nieder.

Da die Stille zwischen ihnen anhielt, ließ sich Nagi wortlos nach hinten sinken und streckte sich auf dem sandigen Boden aus. Tatsuomi tat es ihm irgendwann nach.

Erst nach einer Stunde hatte Tatsuomi das Schweigen gebrochen mit der Bemerkung über das Spiel von Licht und Schatten.
 

"Und was jetzt?" fragte Nagi schließlich.

Tatsuomi löste sich aus der Umarmung, was bei Nagi ein Gefühl des Bedauerns auslöste. Natürlich ließ er sich nichts anmerken und stand auf.

Ratlos sahen sie sich an.

"Naja... Ich werd ihn anrufen." Tatsuomis Stimme begann wieder ein wenig zu zittern.

Nagi schüttelte leicht den Kopf: "Und was, wenn er dahinter steckt? Wenn er dich irgendwie... los werden wollte?"

Dafür erntete er einen fassungslosen Blick. "Unmöglich! So etwas würde er niemals tun!! Er war immer so stolz auf mich... Wie kannst du so was sagen?!"

"Vielleicht aus eigener Erfahrung?" sagte Nagi mit seiner ruhigen Stimme Er sah, dass Tatsuomi die Bemerkung sofort leid tat:

"Haben deine Eltern dich etwa..."

"Du bist echt naiv!" unterbrach Nagi ihn schnell. Er hatte überhaupt keine Lust, Erinnerungen herauf zu beschwören. "Ich an deiner Stelle würde erst mal versuchen, mehr Informationen zu bekommen. Ich war ja grad dabei, da bist du rausgerannt."

"Ja. Entschuldige. Ich dachte nur... ich hatte gedacht, wenn ich sehe, wer jetzt die Firma leitet, dann weiß ich, wer mich fort gebracht hat. Aber mein Vater...? Das kann nicht sein... er... er liebt mich doch!" Seine Augen füllten sich schon wieder mit Tränen.

"Wie du meinst." bemerkte Nagi kühl. "Ich kann ja trotzdem nochmal...", er unterbrach sich schnell, denn beinahe hätte er dem anderen erzählt, dass er sich bei der japanischen Polizei einhacken wollte. "... Du kannst ihn ja anrufen. Wenn du unbedingt willst."

"Natürlich will ich!" Tatsuomi nickte eifrig. "Das hätte ich gleich machen sollen! Er wird mich bestimmt sofort abholen! Und dann klärt sich alles. Oder, Nagi-Kun? Oder?" Hilfesuchend sah er den Älteren an. Der zuckte nur leicht die Schultern.

"Oder... meinst du, er ist böse mit mir, weil ich geglaubt habe, was die mir erzählt haben, Nagi? Ich hätte das nicht glauben sollen, oder? Ich hätte weg laufen sollen..."

"Komm. Ruf ihn an", murmelte Nagi und nahm Tatsuomis warme Hand. Sollte Tatsuomi doch seine eigenen Erfahrungen machen. Nagi traute allen Vätern dieser Welt alles mögliche zu. Aber er würde Tatsuomi helfen. Egal, was geschehen würde. Er konnte die Verzweiflung in diesen goldbraunen Augen nicht ertragen.

"Nach zwei Jahren ist er dir bestimmt nicht mehr böse, baka." sagte er sanft. Und hoffte nur, dass Tatsuomi Recht, und sein Vater mit der ganzen Lügengeschichte nichts zu tun hatte.
 

Nagi streckte gerade die Hand aus, um den Schlüssel in das Schloss zu stecken, als die Tür des Apartments von innen geöffnet wurde.

//Komisch.// dachte Tatsuomi. //Als hätte er gewusst, dass wir kommen...//

Schuldig hielt einen kleinen viereckigen Kasten in der Hand.

"Du hast dein Handy nicht dabei gehabt", sagte er zu Nagi. //Crawford möchte, dass du ihn SOFORT zurückrufst.//

Er zog Nagi in die Wohnung, und gleichzeitig schob er mit der anderen Hand Tatsuomi, der automatisch folgen wollte, auf den Flur zurück.

"Du nicht."

Und damit fiel die Tür zu. Tatsuomi starrte perplex auf die glatte Fläche, wo er gerade noch in Schuldigs eiskalte Augen geblickt hatte. Eigentlich mochte er den Deutschen richtig gerne, obwohl er so schroff zu ihm war. Wohl weil er Nagi so gut behandelte. Aber manchmal sah er aus..., so wie gerade eben, dass es ihm fast eine Gänsehaut machte.

Er wartete noch eine Weile in der Hoffnung, dass Nagi ihn doch noch hinein holen würde, aber nichts geschah. Sollte er einfach klingeln? Nein, das traute er sich nicht. Nicht nach diesem Blick von Schuldig. Was war bloß los? Warum schickte er ihn weg? Vorhin in Cuxhaven war doch noch alles in Ordnung gewesen. Was hatte ihn so verärgert?

Er fühlte sich klein und verlassen... Wie schon die ganze Zeit, seit er in Deutschland war. Er schluckte die Tränen hinunter und ging langsam zu den Fahrstühlen zurück. Er hatte grenzenloses Heimweh nach Japan, nach zuhause, nach der Zeit, wo er sich geliebt gefühlt hatte, wo er wichtig war und etwas Besonderes.

Die ganze Zeit hatte er gedacht, daß seine Eltern tot waren. Doch jetzt... Sein Vater war am Leben! Alles war Lüge gewesen. Vielleicht genügte ein einziges Telefonat, um wieder nach Hause zu kommen. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger verstand er, warum er seinen Vater nicht gleich angerufen hatte! Wie konnte er nur einen Augenblick zögern? Und er konnte ihn auch allein anrufen, dazu brauchte er Nagi schließlich nicht!

Die letzten Meter rannte er.
 

Mit klopfendem Herzen betrat er die Wohnung. Erleichtert stellte er fest, dass seine Adoptiveltern nicht da waren.

Er nahm mit zittrigen Händen das Telefonbuch und wählte dann die Nummer der Auskunft.

"Ich bräuchte eine Nummer in Japan, Tokyo..." Seine Stimme klang so dünn und leise, dass er sein Anliegen zweimal vortragen musste, bis die Dame am anderen Ende der Leitung ihn verstand.

"Die Nummer wird durchgegeben. Soll ich Sie gleich verbinden?"

"Oh ja..."

Tatsuomi stieß einen erschreckten Schrei aus, als ihm der Hörer aus der Hand genommen wurde. Sein Adoptivvater baute sich vor ihm auf.

"Mit wem telefonierst du denn?"

"M-mit N-Nagi", stotterte er und beobachtete in Panik, wie Herr Mauritz den Hörer an sein Ohr hob.

"Ihr seid doch sowieso den ganzen Tag zus-" Er verstummte plötzlich und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er knallte das Telefon auf den Tisch und holte aus, um Tatsuomi zu schlagen. Der konnte sich jedoch rechtzeitig ducken, schließlich war er seit seinem dritten Lebensjahr in Kampfsport geübt, sodass die Faust nur auf Luft traf und sein Adoptivvater fast aus dem Gleichgewicht kam.

"Geh sofort in dein Zimmer!" donnerte er also stattdessen. Zu gut wusste er, dass er den flinken Jungen jetzt sowieso nicht zu fassen bekommen würde. Aber das würde - das KONNTE - nicht ohne Folgen bleiben. Der Elfjährige gehorchte stumm, ohne nachzudenken. Schließlich war er von klein auf gewohnt, keinen Widerspruch zu leisten.

"Wir haben dir verboten, nach Japan zu telefonieren! Und dann lügst du mich auch noch an! Du bleibst von jetzt an in deinem Zimmer!"

Tatsuomi kauerte sich zitternd auf seinem Bett zusammen und hörte, wie die Tür hinter ihm abgeschlossen wurde. Er presste eine Faust vor seinen Mund, um sein Schluchzen zu unterdrücken. Er wusste, was Stubenarrest bedeutete: Kein Essen, kein Trinken auf unbestimmte Zeit - und auf Toilette frühestens, wenn die Wut seiner Eltern verraucht war. Und das konnte diesmal lange dauern!

Eine Flut von Tränen rollte über seine Wangen.

MISSION ERHOLUNG - Kapitel 7
 

Der Ärger fiel dann doch sehr mild aus, beziehungsweise er blieb eigentlich ganz weg. Das war so ungewöhnlich für das cholerische Ehepaar, dass Tatsuomi das ungute Gefühl nicht los wurde, dass diese Ruhe etwas Schlimmeres zu bedeuteten hatte als das übliche Gebrülle.

Am nächsten Morgen öffnete die Frau, zu der er "Mama" sagen musste, die Zimmertür und ließ ihn auf Toilette. Sie fragte nur, wen er hatte anrufen wollen. Sicherheitshalber verschwieg er, was er über Nanjo Hirose herausgefunden hatte und behauptete: "Tante Nadeshiko." Das war schließlich nichts Neues.

Obwohl sie ihm mehrmals ausdrücklich verboten hatten, mit jemandem aus Japan zu telefonieren, schimpfte sie noch immer nicht. Sie sagte nur: "Pack deine Sachen und zieh dich um. Wir reisen ab."

Damit ließ sie ihn wieder allein und er hörte, wie sich das Ehepaar im Wohnzimmer leise unterhielt. Kein Wort von Frühstück, aber er traute sich auch nicht, nach etwas zu Essen zu fragen, obwohl sich sein Magen schon unangenehm bemerkbar machte. Das letzte mal gegessen hatte er mit Pitt und Nagi in Cuxhaven und das war schon einen ganzen Tag her!

(Er hatte keine Ahnung davon, dass Schuldig einige erfolglose Diskussionen mit Nagi geführt hatte wegen dieses Namen. Aber Pitt blieb Pitt, und ohne Gedächtnismanipulation war da nichts mehr zu machen. Und das war es dann doch nicht wert. Dann eben Pitt!)

Der Hunger verging auch schnell wieder, als ihm bewusst wurde, was jetzt geschehen würde. Abreise, das bedeutete Abschied von Nagi. In Bielefeld hatte er keinen einzigen Freund. Und bestimmt konnte er sich nicht einmal verabschieden... er hatte weder Telefonnummer, noch E-Mail-Adresse... er wusste nicht mal, aus welcher Stadt Nagi kam... eigentlich wusste er so gut wie gar nichts über ihn, stellte er erschreckt fest. Mysteriöser Nagi...

"Na, bist du fertig?" Frau Mauritz erschien wieder in seinem Zimmer. Sie lächelte jetzt sogar, das war ja schon fast unheimlich. Aber eigentlich war die Abfahrt auch schon Strafe genug. Tatsuomi nickte stumm und sah sie mit großen Augen an.

"Papa packt das Auto. Bevor wir fahren, wollen wir noch einen Spaziergang zu dem kleinen Weiher machen. Da hinten im Wald, weißt du, wo wir schon mal waren", flötete sie harmlos. "Wir gehen durch die Strandpromenade. Ich kaufe dir ein Eis oder Schokolade, wenn du willst. Papa wartet dann am Waldrand."

Tatsuomi glotzte sie nur sprachlos an. Eis oder Schokolade zum Frühstück? Was war denn mit der los?

Wenig später lief Tatsuomi tatsächlich neben seiner Adoptivmutter an der Ladenzeile entlang, die parallel zum Strand verlief, in einer Hand einen Schokoriegel, in der anderen ein Eis. Unglaublich, aber wahr! Schließlich war er schon oft für viel weniger viel schlimmer bestraft worden. Allerdings wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass sich hinter diesem ruhigen Verhalten des Ehepaares etwas Furchtbares, etwas, das noch nie dagewesen war, verbarg. Dieses Gefühl verdarb ihm sogar den Appetit auf sein Eis, aber um Frau Mauritz nicht zu verärgern, leckte er dennoch langsam daran herum. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit würde er seinen Vater noch einmal anrufen. Und dann würde alles gut werden.

//FALLS ich noch eine Gelegenheit dazu bekomme...// meldete sich seine Vorahnung wieder. Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit diesen beunruhigenden Gedanken vertreiben und wartete darauf, dass Mauritz-San endlich abgelenkt wäre, damit er das Eis entsorgen konnte.

Als hätten die Götter ihn erhört, steuerte sie genau in dem Moment einen der vielen Souvenirläden an: "Ich hole nur schnell dieses Teeservice mit den Muscheln. Das MUSS ich einfach mitnehmen. - Komm!"

Tatsuomi schlängelte sich hinter ihr durch die Ständer mit Muscheln, Tassen, Hüten, Gummistiefeln und kitschigem Porzellan bis zur Ladentür. Als er ihr in das Innere des Geschäftes folgen wollte, wurde er plötzlich zur Seite gezogen. Vor Schreck fiel ihm das Eis aus der Hand.

"Hey, was..." setzte er an, doch dann sah er, wer ihn am Ärmel gepackt hatte: Nagi.

"Tut mir leid", sagte der mit seiner sanften Stimme. "Wegen gestern."

"Schon gut." Tatsuomi freute sich, ihn zu sehen und lächelte ihn an. Jetzt konnte er sich wenigstens noch verabschieden. Allerdings hatte man ihm verboten, Nagi noch einmal zu sehen, darum linste er zur Sicherheit zwischen den Tassen hindurch zu Mauritz-San. Doch die stand mit dem Rücken zu ihm vor der Wand mit den Teekannen und schien in ein Gespräch mit dem Verkäufer vertieft zu sein. Die benahm sich wirklich seltsam heute. Tatsuomi hatte noch nie gesehen, dass sie Tee getrunken hatte.

"Ich muss mit dir reden", sagte Nagi, ohne sein Lächeln zu erwidern. Natürlich. Nagi lächelte nie.

"Ich hab' aber nicht viel Zeit, gomen-nasai." Tatsuomi flüsterte nervös und wagte kaum, seinen Freund anzusehen, weil er seine "Mutter" nicht aus den Augen lassen wollte.

Nagi folgte seinem Blick. Frau Mauritz stand noch immer vor den Teekannen und konnte sich anscheinend nicht zwischen einem Service mit blauen und einem mit bräunlichen Muscheln entscheiden. "Die ist beschäftigt. Pitt und ich müssen fort. Wir reisen ab."

// Schu, irgendwas stimmt nicht mit Tatsuomi. Sieh mal nach!//

// Du hörst dich schon an wie Crawford.//

Tatsuomis Augen weiteten sich überrascht und jetzt vergaß er seine Adoptivmutter. "Ihr reist ab?"

Nagi erwiderte seinen Blick nicht, genauer gesagt blickte er nirgendwo hin. Tatsuomi war aufgefallen, dass er oft so abwesend aussah, als lausche er auf irgend etwas, das niemand sonst hören konnte.

"Ist es wegen gestern? Ist Pitt wütend? Ich... hat dich das gestern zu sehr angestrengt?" Er dachte an ihre erste Begegnung am Strand, wo Nagi auch so weggetreten und schließlich bewusstlos zusammengebrochen war. Augenblicklich bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er Nagi mit seinen Problemen belastet hatte. Hatte nicht sein Bruder, Pitt, auch mal gesagt, dass sie hier waren, damit der junge Japaner sich erholte? Nagi war auch immer so blass und lachte nie. Er war so dünn, dass Tatsuomi dachte, ein Aikido-Wurf könnte ihn zerbrechen. Zum Glück dauerte es diesmal nur einen kurzen Moment.

"Hast du deinen Vater angerufen?" überging Nagi die Fragen.

"Nein..."

"Aber ich."

Tatsuomis Augen wurden noch größer. "Was hat er gesagt?"

"Er hat mir nicht geglaubt. Ist er..." Nagi unterbrach sich plötzlich und machte Tatsuomi ein Handzeichen zu schweigen. Sein Blick ging wieder nach innen.

Tatsuomi beobachtete ihn besorgt, und sah fasziniert, wie Nagis dünnes glattes Haar anfing zu schweben, als wäre es elektrisch aufgeladen.

//Scheiße! Die wollen ihn heute umbringen...// meldete sich Schuldig.

//WAS?//

//...oben am See... sie denkt grad dran... das Seil... ob er unter Wasser bleibt...// Der Kontakt brach ab.

Nagi starrte auf die Frau und versuchte, seine Gefühle zu kontrollieren... //Einatmen. Ausatmen. Ein-//

...um nicht den ganzen Laden über ihr zusammenbrechen zu lassen...

//-atmen. Ausatmen.//

...um zu entscheiden, was jetzt zu tun war.

Tatsuomi fragte sich gerade, ob er es sich einbildete, dass Nagis Augen nicht mehr tiefblau sondern rötlich schimmerten, als er ein seltsames Geräusch hörte. Wie das Verbiegen von Porzellan.

//Das Verbiegen von...???// Er blickte entsetzt zur Seite, wo sich die Souvenir-Tassen langsam zur Seite verbogen.

"Nagi?" Tatsuomi streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu fassen, doch kurz bevor er ihn berührte, stieß er gegen eine unsichtbare Barriere. Als wären sie zwei Magneten, die sich abstießen. Überrascht sog er die Luft ein. Inzwischen vibrierte mit leisem Klingen das ganze Gestell mit den Tassen.

//-men. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.// Der Telekinet wurde aus seiner mühsam aufrechterhaltenen Konzentration gerissen, als Tatsuomi plötzlich einen leisen Schrei ausstieß. Nagi drehte sich zu ihm um und sah, dass Herr Mauritz ihn an der Schulter gepackt und auf den Fußweg gezerrt hatte. Seine freie Hand hob sich zu einer kräftigen Ohrfeige, doch sie erreichte den Kopf des Jungen nicht. Mit hörbarem Knacken verbogen sich Finger und Handgelenk wie von selbst in einem unnatürlichen Winkel nach hinten. Der Mann schrie vor Schreck und Schmerz auf und ließ den kleinen Japaner los, um seine Hand zu umklammern.

Tatsuomi stand wie erstarrt, bis Nagi ihn am Arm zog und schrie: "LAUF!!"

Die beiden Jungen rannten die Gasse entlang. Die Menschen, die ihnen entgegen kamen, stolperten, wie von unsichtbaren Händen gestoßen, aus dem Weg.

//NAGI! Sie schießt!//

Nagi wirbelte herum und sah Frau Mauritz mit einer Pistole in der Hand vor dem Souvenirgeschäft neben ihrem Mann stehen. Da Schuldig ihn schon gewarnt hatte, als sie erst den Gedanken gefasst hatte, gelang es dem Telekineten rechtzeitig, ihr die Waffe aus der Hand zu schleudern, bevor sie abdrücken konnte. Die Pistole fiel auf den Asphalt, und dabei löste sich mit lautem Knall ein Schuss. Unter den Passanten brach Panik aus, und die Leute liefen kopflos durcheinander.

So achtete niemand auf die schlanke Gestalt, die langsam und konzentriert die Arme nach vorne streckte, die Handflächen auf die fassungslose Frau gerichtet, die auf ihre nun unbewaffnete Hand starrte.

Schuldig hob mit einem eleganten Sprung die Pistole auf. In einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte er herum und zielte auf Herrn Mauritz.

Der Mann starrte Nagi an. Und der Mann verstand, was er sah. Sein Herz schlug rasend schnell vor Angst, er hatte Angst vor Menschen mit Psi-Fähigkeiten. Er kannte Menschen mit Psi-Fähigkeiten!

Schuldig verstand endlich! Er hatte es schon in den Gedanken der Frau gesehen: Die beiden arbeiteten für SZ! Von SZ bekamen sie Geld dafür, Tatsuomi in Deutschland festzuhalten. Jetzt wusste Schuldig auch, warum Crawford Nagi gestern verboten hatte, sich einzumischen. Ob er auch schon gewusst hatte, dass das Ehepaar den Jungen töten sollte? Und warum wollte SZ den Jungen von Japan fern halten?

Eigentlich war das egal. Die Anweisung war klar gewesen: keine Einmischung und kein Kontakt mehr vor der Abreise.

Verdammte Scheiße! Jetzt war es sowieso zu spät! Nagi würde nicht zulassen, dass jemand Nanjo Tatsuomi tötete. Und sollte das Ehepaar den Vorfall an SZ melden... Dann könnte selbst Brad Crawford ihn und Nagi nicht mehr aus der unterirdischen Horroranstalt heraus holen. Oder Schlimmeres...

Er zielte Herrn Mauritz seitlich in den Kopf, bevor der Mann mit der unverletzten Hand seine Waffe ziehen und auf Nagi schießen konnte, und drückte den Abzug durch.

Während ihr Mann auf den Boden stürzte, wurde Frau Mauritz von einer unsichtbaren Kraft nach hinten geschleudert und krachte gegen die Fassade der Pizzeria. Unfähig, sich auch nur für einen kleinen Atemzug zu rühren, wurde sie schmerzhaft gegen die steinerne Wand gedrückt.

//Lass sie los! Bring den Nanjo hier weg!// rief Schuldig mental. Doch erst als er dem jungen Telekineten ein Bild von dem schreckensbleichen Tatsuomi schickte, ließ er von der Frau ab. //Zum Auto!//

Nagi nickte knapp und gehorchte. Er drehte sich nicht um, als hinter den Jungen ein dritter Schuss die Luft zerriss...
 

Schuldig lehnte keuchend an der Nordwand der Frischen Brise. Er hob seine rechte Hand prüfend hoch und sah, wie sie zitterte. Er ballte die Faust.

//So soll ich Auto fahren?//

Er versuchte, sich zu konzentrieren, um sein Stirn-Chakra, sein drittes Auge, zu schließen. Das Ergebnis war miserabel, aber es musste reichen. In wenigen Minuten würde es hier vor Polizei nur so wimmeln. Er stieß sich von der Wand ab und lief zum Parkplatz, wo der Leihwagen stand.

Die beiden Japaner saßen schweigend auf der Rückbank, Schuldig hätte nicht sagen können, wer von beiden blasser aussah: Wie zwei Vampire aus Porzellan, so unbeweglich und gleichzeitig zerbrechlich wirkten sie. Tatsuomi stand sichtlich unter Schock. Und Nagi war noch zu geschwächt, um so viel freigesetzte, telekinetische Kraft unbeschadet zu überstehen.

//Dein Kreislauf?// fragte der junge Telepath ihn besorgt, während er hinter das Steuer glitt.

Als Antwort kam nur eine Art mentales Kopfnicken und ein Schwall Übelkeit.

"Scheiße", knurrte Schuldig und ließ den Wagen dreimal absaufen, bevor der Motor endlich lief.

Nagis Übelkeit und Tatsuomis dumpfes Entsetzen mischten sich mit den Unmengen von Adrenalin in seinen Adern. Er spürte noch den Blick von Frau Mauritz, als sie begriff, dass sie sterben würde. Er wusste genau, was sie in diesem Augenblick empfand, er fühlte das selbe wie sie. Durch die telepathische Verbindung sah er sich mit ihren Augen...

//...links.//

Schuldig fuhr nach links. Der Wagen flog ein kurzes Stück durch die Luft, dann rumpelte er über den Acker.

Tatsuomi schrie auf.

"WAS MACHST DU??!" brüllte Nagi ihn an.

"ICH BIEGE AB!" brüllte Schuldig zurück und brachte den Wagen zum Stehen.

"Die Kreuzung ist aber erst da hinten..." Nagi kletterte aus dem Auto und erbrach sich. Sofort war Tatsuomi neben ihm und stützte ihn. Dann half er ihm, sich auf die Rückbank zu legen und beobachtete Schuldig, der auf und ab stapfte, eine Hand in den grünen Haaren vergraben, mit der anderen telefonierend. Er kickte kräftig gegen einen Erdklumpen und trat zu den Jungen.

Er wuschelte Nagi aufmunternd durch die Haare: "Ich hab' ein Taxi gerufen. Wer weiss, wo ich uns noch hinfahren würde! Gleich geht's weiter."

"Wohin?" fragte Tatsuomi.

"Nach Bremen. Zum Flughafen. Halt mal Nagis Beine hoch. Und jetzt esst ihr beide erst mal was..." Er verteilte Traubenzucker an die beiden. Seit Nagi sich an ihrem ersten Tag am Strand so überanstrengt hatte, befand sich immer etwas gegen Unterzuckerung in Schuldigs Hosentasche.

Tatsuomi sah ihn mit großen Augen an und gehorchte. So war Nagi versorgt und der kleine Nanjo beschäftigt und von den traumatischen Erlebnissen ein wenig abgelenkt. Trotzdem huschten noch Erinnerungsfetzen vor seinem inneren Auge vorbei. Schuldig sah sich ein paar dieser Schnappschüsse an und stellte beruhigt fest, dass der Junge zwar jede Menge gesehen hatte, aber nichts davon kapierte. Trotzdem, trotzdem...! SZ wollte dieses Kind anscheinend beseitigen. Nagi verhinderte dies gerade. Schuldig wurde ganz kalt bei dem Gedanken an SZ's Reaktion, sollten sie davon erfahren.

Und warum zum Teufel dachte er ständig an verbogene Teetassen?

"Ich brauch dringend ´n Kaffee." begrüßte Schuldig schließlich den ankommenden Taxifahrer.
 

Am Flughafen angekommen, steuerte der junge Telepath sofort einen Ticketschalter an. Er beglückwünschte sich selbst zu der neuen Haarfarbe. Seine mentale Abschirmung war noch immer nicht hundertprozentig, und die Gedanken der vielen Menschen um ihn herum sickerten in sein Bewusstsein. Und so, wie seine langen, leuchtend grünen Haare die Aufmerksamkeit der Menschen in seiner Nähe erregten, konnte er sich wenigstens hier nicht selbst verlieren. Er grinste schief bei diesem Gedanken. Er war wirklich gespannt, was sein neuer amerikanischer Teamleiter zu der veränderten Frisur sagen würde. Würde er Wort halten? //Alle Freiheit, solange unser gemeinsames Ziel nicht gefährdet wird.// Haarfarbe war ja wohl eindeutig privat...

"Was machen wir jetzt?" fragte Tatsuomi, als sie sich in die Warteschlange eingereiht hatten.

"Ihr beide könnt euch da hinten hinsetzen." Schuldig deutete auf eine aus gelben Plastiksitzschalen bestehende Sitzgruppe. Er musterte Nagi kurz in Sorge, aber der Telekinet sah schon wieder einigermaßen erholt aus. Sie hatten unterwegs reichlich gegessen und den Rest der Fahrt hatte er geschlafen, sodass seine Kräfte langsam zurückkehren konnten. "Und dir", antwortete er Tatsuomi, "besorg ich jetzt einen Flug nach Tokyo."

Nagi nickte mechanisch und wandte sich um, doch Tatsuomi rührte sich nicht von der Stelle, sondern sah den Deutschen eindringlich an. Sein Kinn zuckte leicht und seine Augen bekamen einen verdächtigen Glanz. Dennoch versuchte er, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Was auch einigermaßen gelang, zumindest zitterte sie nicht, auch wenn die Worte etwas dünn klangen.

"Und was ist mit euch? Bleibt ihr hier? Ich will nicht alleine fliegen."

"Es geht hier nicht um das, was du willst, Nanjo-Sama", sagte Schuldig schroff und hoffte, dass der Kleine jetzt nicht auch noch anfangen würde zu heulen. Leider waren weder Schuldigs Aussage noch sein Tonfall dazu geeignet, ihn zu beruhigen.

"Ich will aber nicht alleine bleiben! Kann ich nicht bei euch bleiben?" Hilfesuchend ging Tatsuomis Blick kurz zu Nagi. "Wenigstens... noch ein bisschen? Bitte?"

Schuldig rollte genervt die Augen und drehte sich kommentarlos weg.

//Das ist jetzt dein Part//, teilte er Nagi mit. Danach beschäftigte er sich damit, nicht geschäftlich nach Stuttgart und nicht Last-Minute Richtung Mallorca abzufliegen, wie die Leute vor ihm in der Warteschlange. Er versuchte, sich auf //Frankfurt - Tokyo// zu konzentrieren.

Derweil schob Nagi seinen Freund sanft zu der Plastiksitzgruppe, wo sie ungestört reden konnten. Tatsuomi kämpfte jetzt sichtbar mit den Tränen. "Könnt ihr nicht mit kommen? Oder kann ich nicht bei euch bleiben, bis mein Vater kommt?" flehte er.

"Das geht leider nicht, Tatsuomi" sagte Nagi traurig. "Wir können nicht nach Japan, und mitnehmen können wir dich auch nicht... Wir haben dir schon viel zu viel geholfen..." Er wurde immer leiser und verstummte schließlich.

"Wie meinst du das?"

"Hör mir zu!" sagte Nagi eindringlich. "Du musst mir versprechen, niemandem von uns zu erzählen. Bitte! Das ist wichtig! Als hättest du uns nie getroffen." Er konnte Tatsuomi nicht mehr ansehen und senkte den Blick. "Wir könnten sonst jede Menge Schwierigkeiten bekommen." setzte er leise hinzu.

"Was ist denn los? Was für Schwierigkeiten?" In Tatsuomis Stimme schwang echte Sorge mit, seine eigenen Probleme hatte er kurz vergessen.

Nagi zog die Schultern hoch und antwortete nicht auf die Fragen. "Und dein Vater... solltest du Recht haben... also, ich meine, ihr solltet das besser nicht so bekannt machen, wenn du wieder zurück bist, bitte. Verstehst du, was ich meine?" Er dachte daran, dass Tatsuomi noch immer in Gefahr war. Außerdem hatte er noch immer Zweifel, was Tatsuomis Vater betraf. Daher fasste er den Entschluss, Tatsuomi erst fliegen zu lassen, wenn er wusste, ob Nanjo Hirose in die Machenschaften von SZ verwickelt war.

//Spinnst du?! Und wie willst du das so schnell heraus finden?// tönte plötzlich Schuldigs Stimme in seinem Kopf.

//Hör auf, meine Gedanken zu belauschen!//

//Dann lass sie mich nicht lesen.//

//...ich könnte mich bei SZ einhacken, und...//

//Bist du wahnsinnig???// unterbrach ihn Schuldig entgeistert.

//Wir sollen doch unsere Fähigkeiten üben, hat Crawford gesagt.// Nagi benutzte Schuldigs Lieblingszitat und bemerkte gleichzeitig erleichtert, dass der Telepath abgelenkt wurde, weil das Paar vor ihm fertig und nun er an der Reihe war, den Flug zu buchen.

Schuldig musste seine ganze Konzentration aufbringen, um trotz des mentalen Lärms in seinem Kopf den Ausführungen der Schalterbeamtin zu folgen, die ihn freundlich über die Flugverbindungen von Bremen über Hamburg nach Tokyo aufklärte. So achtete er überhaupt nicht mehr auf die beiden Jungen, bis ihn ein erschrockener Aufschrei von Nagi zusammenzucken ließ.

//SCHU-!!//

Er wirbelte herum und sah zwei Männer bei den Jungen stehen. Beide hochgewachsene Asiaten in dunklen Anzügen. Der ältere von den beiden, in mittleren Jahren, trug sein Haar streng zurück gekämmt und hatte eine Hand auf Nagis Schulter liegen, während er gleichzeitig wachsam die nähere Umgebung im Auge behielt.

Der Andere stand schräg vor Tatsuomi, und ein paar Haarsträhnen fielen ihm über die Brille in das Gesicht, als er sich zu dem Elfjährigen nach unten beugte. So konnte Schuldig ihn nicht erkennen.

Schuldigs erster Gedanke war natürlich //SZ-Agenten!//, und seine Hand glitt automatisch in die Tasche, wo er noch immer die Pistole von Frau Mauritz trug.

Diese kleine Bewegung lenkte jedoch sofort die Aufmerksamkeit des älteren Mannes auf ihn, und Schuldig ließ seine Hand bewegungslos in der Tasche ruhen, die Finger allerdings fest um den Griff der Waffe geschlossen. Er lächelte den Mann frech und unschuldig an.

Ein kurzer Blick in seine Gedanken bestätigte dem Telepathen, dass sein Gegenüber zumindest den Verdacht hegte, dass Schuldig bewaffnet war. Was auf eine sehr gute Ausbildung schließen ließ. Gleichzeitig erfuhr er, dass der andere ebenfalls unter seinem Jackett eine Pistole trug. Und dass er Japaner war.

Nagi stand, ohne sich zu rühren, neben ihm, den Blick in Richtung Tatsuomi gewandt und machte zu Schuldigs Erleichterung keine Anstalten, schon wieder in aller Öffentlichkeit seine Telekinese anzuwenden. Aber vielleicht war es doch noch einmal nötig.

//Nagi, der Typ neben dir hat 'ne Knarre!// warnte ihn Schuldig.

Der Dreizehnjährige antwortete, wie er es gelernt hatte, ohne den Blick zu drehen, um keine sichtbare Verbindung zu dem Telepathen herzustellen.

//Schon okay, erstmal. Das ist Tatsuomis Vater.//

Damit meinte er den Mann mit der Brille, der bei Tatsuomi stand.

//Und warum hat er bewaffnete Begleitung? Gehört wohl doch zu SZ?//

//Keine Ahnung, müsstest du doch besser wissen als ich.// bemerkte Nagi trocken.

//Sieh zu, dass du aus der Schusslinie kommst!// knurrte Schuldig, der keine Lust verspürte, heute noch einmal jemanden zu erschießen, zu dem er telepathischen Kontakt hatte. Das fand er nämlich sehr unangenehm. Die ganze Situation fand er beschissen! Noch bevor sie richtig anfingen, für SZ zu arbeiten, arbeiteten sie schon gegen sie!

Er glitt sacht in das Bewusstsein des Mannes, der noch immer misstrauisch zu ihm herüber sah. Er spürte Besorgnis, Anspannung... Der Typ fühlte sich für die Sicherheit von Nanjo Hirose-Sama verantwortlich. Er war Bodyguard. Und dann war da noch mehr... Aber keine Spur von SZ. Sie waren nur hier, um dem mysteriösen, anonymen Anruf vom Vortag auf den Grund zu gehen und um Tatsuomi-Sama zu suchen. Keinerlei Erfahrung mit Psi-Fähigkeiten; es war für Schuldig ein Leichtes, ihn abzulenken.

//Jetzt!//

Doch statt fortzulaufen, blieb Nagi einfach stehen!

//Erst, wenn ich sicher bin, Schuldig. Was denkt sein Vater?//

Schuldig seufzte innerlich. Ob Crawford eine Ahnung davon hatte, wie Naoe Nagi sein konnte? Schuldig wusste nur zu gut, wie sich der junge Japaner benahm, wenn Crawford anwesend war. Der Amerikaner kannte nur einen einsilbigen, schüchternen Nagi, der alle Anordnungen widerspruchslos befolgte. Diesen Nagi kannte er bestimmt nicht! Nun, Schuldig freute sich auf den Tag, an dem Crawford seine Bekanntschaft machen würde und hoffte, dass er das dann nicht vorhersehen würde!

Er konzentrierte sich auf Hirose Nanjo, der inzwischen auf einem Bein kniend, seinen Sohn im Arm hielt.

//Liebe... Liebe... Liebe... Meine Güte! Der ist einfach nur froh, diese Nervensäge wieder zu haben//, informierte er seinen zukünftigen Teamkollegen. //Hat deinen Anruf nicht geglaubt... ist trotzdem geflogen, weil er sich's nie verziehen hätte, falls es doch stimmt... ist unendlich erleichtert, dass sein Sohn noch lebt... keine Spur von SZ.... Von dem hat dein Schatz nichts zu befürchten. ...jetzt lass uns verschwinden, sonst wird mir schlecht von so viel Familienglück!//

Nagi nickte leicht. Laut sagte er: "Ich muss jetzt los, meine Eltern warten sicher schon auf mich."

Der Druck der Finger auf seiner Schulter verstärkte sich, als der Mann sich auf einen Fluchtversuch einstellte.

"Nanjo-Sama?" Er warf seinem Auftraggeber einen fragenden Blick zu.

"Sie können ihn gehen lassen, Kurauchi-San", antwortete Tatsuomi statt dessen, indem er sich von seinem Vater löste und Nagi einen warmen, intensiven Blick schenkte. "Ich habe ihn erst vor ein paar Minuten hier auf dem Flughafen kennengelernt."

Nagi erwiderte den Augenkontakt. "Viel Glück. Pass auf dich auf." sagte er auf Deutsch, damit die Erwachsenen ihn nicht verstehen konnten.

"Und du auf dich! Meldest du dich bei mir?" bat Tatsuomi, ebenfalls in deutscher Sprache.

"Wenn die Zeit gekommen ist... vielleicht." antwortete Nagi zögernd. Er verneigte sich kurz: "Sayonara."
 


 


 

- Ende -

MISSION ERHOLUNG - Epilog
 

Bei der ersten Tasse dachte sich Hinnerken Svenson noch nichts.

Bei der zweiten Tasse wurde er schon stutzig.

Nach der dritten Tasse verließ er seinen Laden und begutachtete das Regal mit den Leuchtturmtassen.

"Was zum..."

Mit aufgerissenen Augen starrte er die seitlich verbogenen Tassen an. Wieso war ihm nicht vorher aufgefallen, dass die gesamte Lieferung schadhaft war? Er kratzte sich am Hinterkopf.

Dann musste er zur Kasse zurück, weil zwei Touristen jeweils eine verbogene Tasse kaufen wollten.

Nach zwei weiteren verkauften Exemplaren veränderte er das Preisschild von drei auf sechs Euro.

Abends waren die Bestände der "Sturmtassen", wie er sie getauft hatte, leer gekauft, bis auf ein Exemplar, dass er behalten hatte.

Gleich am nächsten Tag führte er ein langes Gespräch mit dem Lieferanten der Tassen.

Und kam mit der Firma ins Geschäft.
 

Und heute kann man in jedem gut geführten Souvenirladen an Deutschlands Nordseeküste Sturmtassen erwerben.
 

Wer's nicht glaubt, kann sich selbst davon überzeugen. Am besten in Sahlenburg.
 

Und wenn man Glück hat, ist das Meer schon da, wenn man ankommt.



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Kommentare zu dieser Fanfic (25)
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Von: abgemeldet
2007-07-25T19:51:27+00:00 25.07.2007 21:51
Moin moin,

und noch mal möchte ich dir sage, dass dein Schuldig mir wirklich gefällt. Nicht so ein Übertelepath von Geburt an, sondern ein junger Mensch mit besonderen Fähigkeiten, die ihn auch in sich verlieren lassen können, wenn es zum Schlimmsten kommt.
Das Ende, so überhaupt nicht japanisch *grins*, und wie gut, ich mag Happy-Ends. Sehr realistisch geschrieben, im Gesamten eine Geschichte, die unheimlich gut von einem Kapitel zum nächsten leitet.
Obwohl ich sie früher schon mal gelesen hatte, bin ich wirklich von deinem Spannungsaufbau mitgerissen worden. Sehr gut.
Ach ja ...
und mein Großer hat auch so eine Tasse bekommen! Eine echte Nagi-Sturmtasse! *freu*
Alles Gute für dich,
dein Tier.
Von: abgemeldet
2007-07-25T19:34:24+00:00 25.07.2007 21:34
Moin moin,
erst Mal: hach, da sind die grünen Haare wieder *freu* ... obwohl es hier einen gibt, der meint, es beißt sich (Schu, dein Haar beißt sich mit deinen Augen! Happ ... *grins*).
Und dann, dieses sensible Thema 'Mißbrauch' so ehrlich aufzugreifen, ist eine Kunst, die du wirklich beherrschst.
Dein Tier.
Von: abgemeldet
2007-07-25T19:25:31+00:00 25.07.2007 21:25
Moin moin,

der Anfang von Allem und als Hauptsache das Kümmern umeinander, verborgene Wünsche erfüllen. Hast du wunderschön beschrieben. Mr. Cool und Schuldig sind ja jetzt schon ein tolles Team.
Dein Tier.
Von: abgemeldet
2007-07-25T19:17:35+00:00 25.07.2007 21:17
Moin moin,

die drei verlorenen Jungs, die zueinander gefunden haben, oder, wie in dem Fall, gefunden worden ... jedesmal triffst du bei solchen Szenen einen echten Nerv bei mir.
So fühlbar sorgsam zu schreiben gelingt dir immer und immer wieder.
Danke.
Dein Tier.
Von: abgemeldet
2007-07-25T19:11:50+00:00 25.07.2007 21:11
Moin moin,

'Apartementhaus Frische Brise' - herrlich!
Man spürt die Ausgelassenheit förmlich und plötzlich schreibst du eine dunkle Wolke, den Fahrstuhl, hinein. Unberechenbar ... mag ich *grins*.

<< Das Wasser... verschwindet einfach. So ist Großbritannien entstanden.<<
Ich habs gewusst, und Engländer sind Quallen mit Beinen *hrhr* ...

<<"Schuldig", meldete sich Schuldig.
"Mehr wollte ich gar nicht wissen", antwortete die ruhige und tiefe Stimme des Hellsehers.<<
*lach* Ja, so kanns gehen ...
Auf zum nächsten Kapitel!
Dein Tier.
Von: abgemeldet
2007-07-23T22:00:09+00:00 24.07.2007 00:00
Moin moin auch,
ich hatte ganz vergessen, wie gekonnt du die verschiedenen Facetten von Crawford beschreiben kannst. (Oh ja, das kannst du!!! *grins*)
Und ich hab bei deinem letzten Absatz so lachen müssen ... kaum hat man Kinder, machen sie einem Sorgen (die Frühstück- und Kakaosache ...).
Dein Tier.
Von: abgemeldet
2007-07-23T21:46:49+00:00 23.07.2007 23:46
Moin, moin auch!
Und ich hab noch gar nichts dagelassen? *öhem*
Bei deiner Geschichte weiß ich wieder ganz genau, warum ich deinen Schuldig so mag. So eine kribbelige Spannung, nur weil dieser 'verdammte' Telepath auftaucht, die kleinen Spitzen, dass er sein mögliches Potential als 18jähriger noch nicht erreicht hat und dann ... ach ja ... dieser kleine, knackige ... *hrhrhr*.
Und das alles hast du in diesem kurzen Kapitel erschaffen.
Wunderbar.
Und jetzt auf zum zweiten Kapitel!
Dein Tier.
Von:  tough
2006-04-17T11:54:08+00:00 17.04.2006 13:54
Netter Epilog ohne WK-Bezug.
Damit eine runde Sache geschrieben.
Solltest mal war 'Ureigenes' versuchen.
tough
Von:  tough
2006-04-17T11:51:42+00:00 17.04.2006 13:51
Selbst mir, als altem WK-Kenner, fallen noch Dutzende
von Fragen ein, obwohl ich Deine FF oft gelesen habe.

Wie Xell schon schreibt, hast Du eine tolle Basis für
die nächste FF gelegt.
In zeitlichen Abständen die Entwicklung von Schwarz bis hin zur Killerelite zu lesen, würde mir sicher genau so viel Freude bereiten, wie die bisherige Story es getan hat.

In diesem Sinne Kollegin, schaff Dir den Freiraum, den Du brauchst, um weiter schreiben zu können.
Du gehörst zu den Wenigen, die ihr Talent nutzen müssen.

tough
Von:  tough
2006-04-17T11:45:22+00:00 17.04.2006 13:45
Haarfarbe? Wichtig? - Egal...
Mich stört im Moment die Heulsuse.
Habe keine Geduld mit dem weinerlichen Jungen.
Ein Elfjähriger, der dauernd flennt - ekelhaft.*g*

Hatte Deine FF angefangen, ohne Deinen Steckbrief zu lesen,
also, ohne zu wis´sen, wie 'alt' Du bist.
Jetzt lehn ich mich mal weit aus dem Fenster:
Man kann Deine Reife lesen - wohltuenderweise!

tough


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