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Sirenzia

Land der Hoffnung
von

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Ein ganz normales Mädchen

Langsam schritt ich den verdunkelten Gang entlang, der mit jedem Schritt schwärzer zu werden schien. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war der Widerhall meiner eigenen Schritte und das leise Surren des Bogens, in den ich gerade einen Pfeil einspannte. Bald war ich an meinem Ziel angelangt. Die mächtige schwarze Aura war überwältigend. Langsam drückte ich die schweren Flügel des Tores auf, an das ich gelangt war. Sie gaben ein Ohrenbetäubendes Quietschen von sich.
 

"Wenn ihr euch so wenig für die Chemie interessiert, dann geht doch bitte nach oben ins Sekretariat und lasst euch befreien. Ich habe langsam keine Lust mehr, mich für euch zum Deppen zu machen, möchte ich schon fast sagen!", keifte wieder einmal unsere Chemielehrerin, die nach und nach die Geduld mit uns verlor.

Und wieder einmal unterdrückte ich das starke Verlangen auf zu stehen und tatsächlich zu gehen. Diese Frau kam einfach nicht mit uns zurecht, was zuletzt mitunter an unserer Klasse lag. Kein einziger Lehrer kam wirklich mit uns zurecht. Und wenn doch, dann gelang ihm das nur mithilfe von Verweisen. Endlich läutete es zu sechsten Stunden. Doch leider war es ausgerechnet Französisch mit meinem "Lieblingslehrer". Er hatte mich seitdem ich das Klassenzimmer betreten hatte nur gedemütigt. Er hasste mich, das war klar. Überhaupt hasste er unsere ganze Klasse. Unser Ruf war uns bestimmt vorausgeeilt... wie jedes Jahr. Während ich mich lustlos und gelangweilt auf meinen Platz setzte überlegte ich, ob ich heimlich die unvollständige Hausaufgabe anfertigen oder lieber an meinen heutigen Traum denken sollte. Ohne zu zögern entschied ich mich für letzteres. Wie jeden Traum, den ich träumte hatte ich auch ihn fast vollkommen vergessen. Ich erinnerte mich an eine riesige Tür, die mich stark geängstigt hatte. Mürrisch schüttelte ich den Kopf. Langsam wurde ich wirklich noch verrückt. Ich hatte Angst vor Türen! Was würde wohl folgen? Ich könnte in Deckung springen, sobald jemand "Hallo" sagt.

"Oder habe ich etwa nicht recht?", hörte ich die unangenehm kratzige Stimme unseres Lehrers.

Er hatte jemanden erwischt, der nicht aufpasst. Wer es wohl dieses mal war? Neugierig hob ich den Kopf.

"Oups."

"Genau das!", verärgert blickte er in mein Gesicht, "Sie sind doch sicher so freundlich und referieren über die gerade besprochene Lektion, nicht wahr, Penelope."

Meine Gesichtsmuskeln verkrampften sich.

"Aber gerne."

Ja, mein Name ist Penelope und ich habe meine Eltern mein Leben lang dafür verdammt. Ich hasste diesen Namen mehr als alles andere auf dieser Welt. Durch pures Glück und durch eine geflüsterte Seitenzahl meiner Banknachbarin fand ich schnell die gewünschte Lektion. Ich überflog sie schnell und stammelte irgendetwas zusammen, so gut es mir möglich war. Es wäre wohl erwähnenswert, dass ich gerade mal "Parlez vous français?" richtig aussprechen kann. So wurde ich nach jedem Satz von meinem Lehrer unterbrochen, der mich korrigierte. Nach 20 Minuten Demütigungen klingelte es endlich zum Wochenende. Automatisch blieb ich noch im Klassenzimmer. Nicht zuletzt, weil ich für das Klassenbuch eingeteilt worden war. Jetzt darf ich mir wieder sein Gejammer über unsere Klasse und anschließend wegen meinen Noten anhören. Es war schon Gang und Gebe, dass mein Wochenende immer 10 Minuten später begann. Nachdem ich endlich das Schulhaus verlassen hatte begann ich zu rennen. Ich zweifelte, dass ich meinen Zug noch erwischen würde. Ich sah in gerade einfahren, als mich beinahe ein Auto überfuhr. Im Weiterrennen verfluchte ich diese ganzen Idioten. Freundlicherweise hatte der Schaffner auf mich gewartet. Das geschah nicht immer. Meistens fuhren sie aus Bosheit erst dann weg, als ich fast angekommen war. Übermüdet ließ ich mich auf einen sehr unbequemen Sitz fallen. Ich hatte wieder bis halb 2 in der Früh wach gelegen. Diese Schlafstörungen waren fürchterlich! Trotzdem widerstrebt es mir, irgendwelche Schlaftabletten zu schlucken. Von dem lauten Geräusch, der quietschenden Bremsen wurde ich plötzlich wach. Als ich nach draußen sah, hätte ich fast einen Schreianfall bekommen. Ich war eine Stadt zu weit gefahren. Schnell verließ ich den Zug, bevor ich noch eine Station weiterfuhr. Glücklicherweise gab es für solche Notfälle immer meine Tante zu der ich gehen konnte. Ich mochte sie zwar nicht sonderlich, weil sie mir immer von ihren 30 Katzen erzählte, die sie früher besaß. Aber das Essen schmeckte vorzüglich und entsprach der Menge in etwa meinem "Endlosmagen". Die alte Eichentür wurde geöffnet.

"Oh, ist das etwa meine kleine Penny?", rief sie entzückt.

"Hallo, Tante Mimi! Wie geht es Sampson?"

"Er wird von Tag zu Tag schwächer. Er isst auch nicht mehr so viel. Bestimmt wird auch er uns bald verlassen."

Tränen stiegen in ihre Augen. Ich war es gewohnt. Sie redete jedes Mal von ihren Katzen als wären es Menschen. Während wir sprachen traten wir beide in die Wohnung. Wie immer verschlug es mir für einen kurzen Moment den Atem. In Tante Mimis Haus roch es wie immer unerträglich nach Katzenstreu. Trotzdem mochte ich sie sehr gerne. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mehr wusste als wir alle zusammen und deshalb immer nur von ihren Katzen sprach. Wie von Zauberhand brachte sie mir plötzlich die besten Gerichte. Das machte sie jedes Mal. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie zaubern kann. Sie konnte diese ganzen Sachen nämlich unmöglich im Voraus vorbereitet haben, da sie das mehrere Stunden Arbeit gekostet hätte. Genüsslich schob ich mir den ersten Bissen des Hasenbratens in den Mund. Nachdem ich alles verschlungen hatte begann ich mir der Suppe. Das war eine der lästigen Angewohnheiten, die ich besaß. Die Suppe war immer der zweite Gang. Meine Eltern ermahnten mich jedes Mal wenn wir auswärts aßen. Aber um ehrlich zu sein, kam es zum einen Ohr rein und ging zum anderen wieder raus. Als Tante Mimi anfing zu reden, dachte ich, es geht wieder um ihre Katzen. Ich hörte wie gewöhnlich nicht zu. Aber ein Wort ließ mich plötzlich aufhorchen.

"Tante Mimi, hast du gerade tatsächlich ,magischer Zirkel' gesagt?"

"Aber natürlich meine Liebe. Oder hast du etwa nicht zu gehört?"

Mit etwas Schamröte im Gesicht gestand ich:

"Nein."

"Das ist nicht weiter schlimm. Ich verstehe, dass es für dich sehr fast unerträglich gewesen muss einer alten Dame Jahr für Jahr ihrem Gerede über Katzen zu zuhören. Deshalb möchte ich dir ein Geschenk machen, das von großer Wichtigkeit ist. Warte hier bitte auf mich."

Mit diesem Satz stand die ältere Dame auf und ging in ihr Lesezimmer, das drei Wände, die nur mit Büchern bis zur Decke hinauf besetzt waren, besaß. Ich hörte das Kratzen einer Tür. Na so was, da ist doch nicht einmal eine Terrassentür in diesem Zimmer... Kurz darauf kam sie mit einem alten, staubigen Buch zurück.

"Dieses Buch wird von nun an dein wertvollster Begleite sein. Neben diesem Talisman."

Sie nahm ein Amulett von ihrem Hals, legte es in meine Hand.

"Du darfst aber niemals jemandem etwas davon erzählen. Nicht einmal dem Menschen, der dir an Nächsten steht, bis deine Aufgabe vollendet ist.", brachte sie mit schwacher Stimme heraus, bis sie urplötzlich zusammenbrach.

Ich sprang vom Stuhl auf und ein kleiner Schrei entrang sich meiner Kehle. Panisch stürzte ich zu ihrem altmodischen Telefon und rief vor lauter Aufregung anstatt den Notruf die Polizei an. Wenige Minuten später waren sie eingetroffen. Ihr einziger Kommentar war: "Herzstillstand." Ich brach auf der Stelle zusammen und stumme Tränen rannen meine Wangen herunter. Plötzlich fiel mir das Buch ein und das Amulett. Ich lief in das Esszimmer, doch sie waren verschwunden. Eine magische Kraft zog mich aber ins Bücherzimmer. Dort lagen sie auch. Auf dem kleinen Lesetisch neben einem gemütlich aussehenden Ohrenbackensessel. Ich widerstand der Versuchung mich sofort hin zu setzen und das Buch zu lesen. Stattdessen stopfte ich es mit dem Amulett in meine Schultasche, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lief schnell zum Zug, der bald abfahren müsste.

Kurz vor meinem Haus verlangsamten sich meine Schritte. Na toll, die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mutter einmal früher nach Hause kommt liegt bei eins zu zehntausend und ausgerechnet heute musste dieser Tag sein. Sie wird mich bestimmt wieder schimpfen, wo ich so lange gewesen bin. Ich ließ meinen Kopf hängen und hoffte auf ein Wunder. Aber das was eintrat glich viel mehr einem Vulkanausbruch. Sobald die Tür hinter mir ins Schloss fiel, stürmte meine Mutter herbei.

"Was fällt dir denn ein? Denkst du denn bloß an dich? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht (eine glatte Lüge in meinen Augen)! Du hast heute noch nicht einmal deine Pflichten erledigt! Du weißt doch, dass ich heute noch ausgehen will und keine Rücksicht auf dich nehmen kann!", mit diesen Worten drehte sie sich um und stolzierte davon.

Das war es also. Mutter und ihre ominösen Verabredungen und Treffen. Was diese genau dort tat wusste ich nicht und ein Gefühl verriet mir, dass ich es auch nicht näher erfahren wollte.

"Wann kommt denn Papa nach Hause?"

"Das weiß ich nicht. Aber belästige ihn bitte nicht wieder mit deinen kleinen Teenagerproblemen. Er hat wirklich genug zu tun. Und dass du mit 17 Jahren noch davon träumst, dass dich ein Dämon anfällt... Vielleicht solltest du doch mal zum Psychiater gehen."

Das tat weh. Doch eine Frage stellte sich mir unweigerlich: wann hatte ich jemals von einem Dämonen geträumt? Bestimmt hatte sich das meine Mutter bloß wieder ausgedacht um einen Grund zu haben auf mir herum zu hacken. Das scheint ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein. Hat die Frau denn sonst nichts zu tun? Ich ging so schnell ich konnte in mein Zimmer hinauf. Als ich meine Tasche öffnete, um Platz darin zu schaffen entdeckte ich das Buch von Tante Mimi. Sofort stiegen mir erneut die Tränen ins Gesicht. Das Telefon klingelte. Ich würde bestimmt nicht abnehmen. Doch als nach mehrfachem Klingeln immer noch keiner ans Telefon gegangen war stand ich von meinem Schreibtisch auf, auf den ich das Buch gelegt hatte, um dem nervtötenden Lärm ein Ende zu bereiten.

"Ja, hallo? Wer stört?"

Im nächsten Moment bereute ich meinen unfreundlichen Ton. Der Mann am anderen Ende war unser Anwalt. Er rief an, um mit Penelope Satsujinsha über das Testament zu sprechen.

"Ich bin am Apparat. Wäre ihnen morgen Früh um zehn Uhr recht?"

Er willigte ein, obwohl morgen Samstag war. Er wollte dieses Geschäft sicher genau so schnell übe die Bühne bringen wie ich. Ich fragte mich, was mir Tante Mimi bloß vererbt haben könnte? Ich wusste nicht einmal, dass sie überhaupt etwas besaß. Ich trottete wieder zurück in mein Zimmer. Kurz bevor ich mein Zimmer schloss hörte ich die Tür. Papa war also nach Hause gekommen. ich sagte ihm besser nicht "Hallo". Er war sowieso bestimmt viel zu müde, um mir zu antworten. Bei Müdigkeit fiel mir ein, dass es doch nicht schlecht wäre, wenn ich mich jetzt hinlegen und etwas schlafen würde. Doch wie jedes Mal, als ich diese Absicht hatte war ich mit einem Mal hellwach. Ich beschloss auf zu stehen, um etwas in Tante Mimis Buch zu lesen. Jetzt, da ich es näher betrachtete fiel mir auf, dass das Bild, das zwar schon etwas verblasst, jedoch noch gut zu erkennen war, das selbe Symbol aufwies wie das Amulett. Dieses Zeichen war nämlich ein Pentagramm. Etwas machte mich jedoch stutzig. Ich hatte bereits eines mit der Spitze nach oben gesehen und auch eines mit der Spitze nach unten. Diese Spitze jedoch zeigte auf die linke Seite zu meiner Tür. Ich wandte meinen Kopf in deren Richtung und nach dem Bruchteil einer Sekunde ging sie auf. Mein Vater kam mich also besuchen.

"Na, meine Kleine, wie war es denn heute in der Schule?"

Ich ließ die Schultern hängen.

"Ich habe heute Nacht schon wieder nicht schlafen können. Ich war sehr müde."

Er strich mir leicht übers Haar.

"Mein armes Mädchen! Du musst dringend etwas unternehmen. Sonst könnten noch schlimmere Sachen passieren, als dass du während dem Unterricht einschläfst."

Ich wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte. Doch er war bereits aufgestanden und entschuldigte sich, da er noch sehr viel Arbeit zu erledigen hatte. Traurig sah ich vor mich hin. Falls er einmal die Zeit fand mit mir zu reden war es nicht lange. Entweder musste er weiterarbeiten oder aber meine Mutter kam dazwischen. Ich öffnete Tante Mimis Buch.

"Zaubern für echte Hexen - eine kleine Einführung".

Verwundert starrte ich auf den Titel. Dass Tante Mimi so etwas las überraschte mich sehr. Ich blätterte um und fand ein Verzeichnis. Ich las es lustlos durch. Unbewusst wanderte meine Hand zu meiner Schreibtischlampe, da es bereits dunkel geworden war. Das Quietschen fahrender Autoräder verriet mir, dass meine Mutter gerade wegfuhr. Mit einem Ruck blieb mein Blick an einem Titel haften: der Müdigkeitszauber. Das klang ganz nach einem Angebot. Schnell blätterte ich zur Seite dreihundertfünfundvierzig.
 

Bist du müde und verspannt? Kannst du nicht schlafen, obwohl du es mit aller Kraft versuchst? Dann bist du bei diesem Spruch genau richtig. Er wird dich kurz nach Auflösung des magischen Kreises bis zu deiner gewünschten Uhrzeit schlafen lassen.
 

Ich konnte es kaum fassen. Dieser Zauber passte genau auf mich! Schnell las ich weiter. Allerdings war mir der Rest sehr schleierhaft. Ich hatte weder eine Räucherschale noch wusste ich, wie ich einen magischen Kreis erstelle. Doch da ich sehr verbohrt bin, begann ich das Buch bei den entsprechenden Lektionen durch zu lesen. Nach einer knappen viertel Stunde hatte ich alle Handlungen intus und konnte beginnen. Ich mischte alle Zutaten genau nach Rezept zusammen. Unter anderem Enthielten sie Baldrian, den ich besorgt hatte, indem ich einen Teebeutel zerschnitten hatte. Und die Lilie hatte ich aus dem frischen Blumenstrauß meiner Mutter entwendet. Sie würde sie bestimmt nicht vermissen. Während ich alles in die Räucherschale gab und den Zauberspruch aufsagte hatten sich dunkle Wolken zusammengebraut. Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden lauten Donnern. Ich richtete mich auf und löste den magischen Kreis. Genau in diesem Moment ertönte der Donnerschlag zur selben Zeit als ein greller Blitz über den Himmel zuckte. Er schlug in dem Baum unseres Vorgartens ein, der sofort in Flammen aufging. Mein Blick fiel auf eine rote Schrift unter dem Zauberspruch:
 

Bitte beachte jedoch, dass dieser Zauberspruch bei den Zaubersprüchen für bereits erprobte Hexen geschrieben steht. Keine unerfahrene Hexe darf ihn ausführen. Die Konsequenzen wären nicht absehbar.
 

Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment mein Gesicht, das totenbleich geworden war. So schnell ich konnte, versteckte ich das Zauberbuch in meinem Schrank, um nach draußen zu laufen. Regungslos beobachtete ich wie ein Regen aus Blitzen auf unsere Straße niederging. Am liebsten wäre ich panisch schreiend davon gestürzt, doch meine Beine trugen mich genau in das Zentrum des Geschehens.

"Scheiße! Ich habe Angst! Aufhören! Hört sofort auf damit!"

Ich blickte nach oben, als würde ich dadurch jemanden ansprechen können. Genau in diesem Moment sah ich einen Blitz von oben genau auf mich zufahren. Ich schrie aus Leibeskräften. Sobald er in meinen Körper eingeschlagen hatte, wurde ich bewusstlos.

Mit seinem Schreckensschrei, der für mich den Abschluss meines am letzten Abend begonnenen Schreis war, erwachte ich. Besorgt blickte mich mein Vater an. Langsam richtete ich mich auf.

"Wie... wie spät ist es?"

Nach einem Blick auf die Uhr bekam ich zur Antwort:

"Genau neun Uhr und achtzehn Minuten. Warum fragst du denn?"

Meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Eben diese Uhrzeit hatte ich in meinem Spruch genannt. Da fiel mir mit einem Schlag das Treffen mit unserem Anwalt wieder ein. Ich sprang mit einer Geschwindigkeit auf, die selbst Ategev alle Ehre gemacht hätte. Wer Ategev ist? Nein, das hat nichts mit Essen zu tun. Er ist der beste, tollste und stärkste Kämpfer, den ich je erlebt habe. Doch leider handelt es sich hier nicht um irgendeinen Jungen aus der Nachbarschaft. Ategev ist simpel ausgedrückt eine erfundene und erdachte Figur von Arika Amayirot. Trotzdem finde ich ihn toll. Mit Überschallgeschwindigkeit zog ich mich an. In zehn Minuten war ich zur Abfahrt bereit. Doch wir fuhren wie immer auf den letzten Drücker ab, wie das bei uns die Normalität war. Auf die Sekunde genau betraten wir das Zimmer des Juristen. Anscheinend wollte er sich kurz fassen und sah sich unsere Personalausweise nicht einmal an. Schnell leierte er die Vorrede herunter. Doch dann fuhr er in angemessenem Tempo fort:

"Meiner Nichte Penelope Satsujinsha hinterlasse ich mein Grundstück, alles was sich darauf befindet und mein gesamtes Angespartes Vermögen."

Ich bemühte mich, gefasst zu wirken. Ich tat so, als hätte ich von Anfang an darüber Bescheid gewusst. Meine Mutter begann neben mir zu zittern. Der Anwalt sprach noch einpaar tröstende Worte zu ihr, bevor er uns entließ, um nicht zu sagen hinaus warf. Ich war wohl die Einzige, die wusste, warum sie beinahe die Beherrschung verloren hätte. Sie war wütend, sie kochte vor Wut, weil ihre eigene Schwester ihr keinen einzigen Pfennig - oh, Verzeihung, ich meinte Eurocent - vererbt hatte. Ich glaube, meiner Mutter wäre sogar der senile Kater Sampson recht gewesen. Hauptsache sie hätte irgendetwas bekommen. Und mal davon abgesehen würde er sowieso nicht mehr lange leben. Auf der Rückfahrt sprach meine Mutter kein einziges Wort, was mal eine sehr angenehme Abwechslung war. Allerdings sollte dieses Hochgefühl nicht lange anhalten. Und das wusste ich. Sobald die Haustür geschlossen wurde begann sie.

"Meine liebe Penelope. Ich gehe sicherlich richtig von der Annahme aus, dass du deinen achtzehnten Geburtstag noch nicht hattest und das Erbe somit nicht dir, sondern deinem Vormund gehört. Und das bin immer noch ich."

"Vergiss bloß nicht Papa, du herrschsüchtige Ziege!"

"Was hast du da gesagt!? Werd bloß nicht unverschämt, weil du gerade eben ein Haus geerbt hast! Das ist doch nichts Besonderes!"

Volltreffer! Ihre Stimme überschlug sich vor Wut. Ein Gefühl von Zufriedenheit durchströmte mich. Und mein Erbe war etwas Besonderes. Sonst würde sie sich nicht so wegen eines "läppischen Hauses" aufregen. Ich versuchte ein überlegenes Grinsen zu unterdrücken.

"Und, dass du dort einziehen darfst, kannst du dir auch abschreiben. Du wirst dieses Haus nicht verlassen, solange du zur Schule gehst!"

Ich überlegte gerade, ob ich sie fragen sollte, wie ich denn zur Schule gehen kann, wenn ich zu Hause bin. Doch das war wohl nicht gerade der richtige Zeitpunkt. In diesem Moment klingelte das Telefon. Bevor sie aus dem Zimmer lief, keifte sie mir noch zu, ich solle nicht einmal daran denken, das Zimmer zu verlassen. Zuckersüß hob sie ab und ihre Stimme schnellte in die Höhe, als der Anrufer seinen Namen nannte.

"Oh, Stuart! Wie schön, dass du mich anrufst. Mit dir hätte ich jetzt bestimmt nicht gerechnet!"

Trotz ihrer Drohung, den Raum nicht zu verlassen, stapfte ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Das konnte dauern. Und wenn ich mich nach einer halben Stunde unten hinsetzen würde, würde sie nie bemerken, dass ich überhaupt fort gewesen bin. Mein Vater, der gerade wieder in sein Arbeitszimmer ging lächelte mir aufmunternd zu. Ich betrat mein kleines Reich und ging zu meinem Amulett. Mit einem leisen Schrei warf ich es quer durch den Raum. War das möglich? Hatte ich tatsächlich einen Besuch beim Psychiater nötig? Hatte sich die Spitze des Pentagramms gerade wirklich bewegt? Das konnte nicht wahr sein! Ich klappte mein Taschenmesser auf und hielt es kampfbereit in meiner Hand. Nur für den Notfall, versteht sich. Langsam schritt ich zu der Stelle, wo es gelandet war. Mit zitternden Händen hob ich es auf. Als ich mich drehte, drehte ich die Spitze des Pentagramms ebenfalls. Es zeigte fortwährend auf meine Zimmertür. Ich packte die Gelegenheit beim Schopf. Schnell stopfte ich mir einige Sachen in meinen Rucksack, nachdem ich dessen Inhalt auf meinem Bett geleert hatte. Das Amulett steckte ich in meine Jackentasche, um lästige Fragen zu vermeiden. Gerade als ich zur Haustür gehen wollte hielt mich meine Mutter auf:

"Wo gedenkst du hin zu gehen?"

Da mir gerade nichts Besseres einfiel, sagte ich kurzer Hand:

"Aufs Klo."

"Mit deinem Rucksack?"

"Ja, ich habe extreme Angstzustände."

Ihr Mundwinkel zuckte und ich beschloss sie nicht noch mehr zu reizen. "Was wollte dein Geliebter denn?"

"Er ist nicht mein Geliebter, sondern mein Chef, nur, dass du es weißt!"

Ich sah ihr sofort an, dass sie log. Aber etwas an ihrem Auftreten machte mich nervös. Sie lächelte mich so freundlich an und sah gar nicht aus als würde sie mich jeden Moment erwürgen. Denn normalerweise tat sie das.

"Ich habe dir ein Angebot zu unterbreiten, das die Erbschaft deines Hauses für uns beide erträglicher macht."

Sie sprach mit der gleichen zuckersüßen Stimme, die sie auch am Telefon gehabt hatte. Mir wurde schlecht davon.

"Mein Chef hat mir gerade erzählt, dass sein Sohn zu ihm zurückzieht. Dieser hat jedoch keinen Platz in seinem kleinen Apartment. Wohne mit ihm zusammen in deinem Haus und das Geschäft ist geritzt."

Ich hatte keine Lust auf einen neuen Streit und deshalb willigte ich brav ein. Hätte ich damals schon gewusst, wen ich mir da aufhalse, hätte ich von Anfang an abgelehnt. Ich zog meinen Rucksack von den Schultern und begab mich erneut nach oben.

"Meine liebe Penny, wenn du willst, helfe ich dir beim Packen!"

Sie war mir nicht einmal ein Kopfdrehen wert und so sprach ich zur Treppe:

"Kümmere dich doch um deinen eigenen Mist!"

Ich hörte ein Empörtes Schnauben. Doch mein einziges Interesse war, wie ich mein Zimmer vor ihrer Neugier schützen konnte. Hoffentlich würde der Zimmerschlüssel ausreichen. Ich riss meine zwei Koffer aus meinem Wandschrank. Ich wollte so viele Sachen wie möglich mitnehmen, damit ich nicht so oft hier her kommen müsste. Nachdem ich fertig war, wiegten sie zwar sehr viel und ich hatte Mühe sie zu tragen, doch das machte mir nichts. Hauptsache, ich kam hier weg. So gut es ging schleifte ich die Koffer zum Bahnhof. Dort fand dann eine mir sehr vertraute Szene statt: der Zug fuhr gerade ab. Schlecht gelaunt stellte ich meine Koffer mitten auf dem Gehsteig ab und benutzte sie als Stuhl. Ich sah auf den Boden und ärgerte mich über die ganze Menschheit, als plötzlich jemand meine Hand nahm und an seine Lippen führte. Eigentlich hätte ich mich geschmeichelt fühlen müssen, denn der Junge, der meine Hand küsste, sah wirklich super aus. Aber wenn ich ihn näher beschreibe, werden bestimmt einige verstehen, warum ich nicht gerade positiv überrascht war.

"Hallo, Schönheit!"

Wer mich so begrüßt, ist bei mir gleich unten durch.

"Hallo, Blödmann. Wieder einmal auf Brautschau? Wenn ich das Lisa erzähle, wird sie nicht gerade begeistert sein. Du weißt doch, wie eifersüchtig sie ist."

"Aber das könntest du mir doch niemals antun oder?"

"Du weißt gar nicht, wie viel Freude es mir bereiten würde, dir eins rein zu würden."

"Das wirst du nicht schaffen. Dir würde ich nämlich alles vergeben."

Er hob mich ein wenig an, damit er es leichter hatte, mich zu küssen. In diesem Moment erblickte ich Mariana. Sie war meine Rettung. Ich sprang auf und wie zufällig gelang es mir, mein Knie in seinen Magen zu rammen. "Marina! Hallo! Du, ich habe hier ein kleines Problem. Kannst du mir helfen. Ich habe das Haus meiner Tante Mimi geerbt und möchte jetzt dorthin. Leider ist mir aber der Zug vor der Nase weggefahren. Kannst du mich in deinem Auto mitnehmen?"

Etwas überwältigt von der Geschwindigkeit meiner Erzählung starrte sie mich einige Sekunden an, bevor sie antwortete:

"Ja, das mache ich doch gerne. Und nebenbei rette ich dich vor diesem Idioten, stimmt es?"

Sie machte eine Kopfbewegung in Bastis Richtung. Ich lächelte viel sagend und drehte meinen Kopf zu meinen Koffern. Ich sah, dass er sich den Magen hielt und sich auf meinen Koffern stützte. Zufrieden lächelte ich vor mich hin. Mir ging durch den Kopf, ob ich ihn wegschubsen und anschreien sollte, er solle seine Hände wegnehmen. Schnell verwarf ich diese Idee wieder. Ich mochte ihn zwar nicht leiden, aber es war auch nicht gut, ihn zum Feind zu haben. Er war der Mittelpunkt der Geschehnisse in unserem Jahrgang. Das war ihm gehörig zu Kopf gestiegen. Das und die Tatsache, dass er so ziemlich jedes Mädchen haben konnte, das er wollte. Aber dem würde ich Abhilfe schaffen. Ich marschierte zu meinem Gepäck, während Mariana ihr Auto holte. Ich riss ihm geschickt die Koffer unter den Händen weg, stützte ihn aber noch mit einer Hand. "Vorsicht, dass du nicht fällst.", flüsterte ich ihm zu, während er sich aufrichtete. Sobald er stand, ging ich mit meinen Koffern zu Marianas Auto, die bereits auf mich wartete. Mit einigen Mühen waren sie dann im hinteren Teil des Autos verstaut. Ich wollte Basti mit einem bösen Blick zu verstehen geben, dass er uns ruhig hätte helfen können, als ich entdeckte, dass er überhaupt nicht mehr da war. Na ja, der Kniestoß hat ihm für heute wohl genügt.

Während der Autofahrt sprachen Mariana, die wir eigentlich Marina nennen, und ich nicht. Das war nichts Besonderes. Ich rede nicht besonders gerne und sie hat Angst, dass ich schlechte Laune haben könnte. Meine Launen waren nämlich unberechenbar, wie mir viele aus meinen Kursen bestätigt hatten. So konnte ich wenigstens ein wenig über Basti nachdenken. Er sah wirklich überdurchschnittlich gut auf, aber er war ein Charakterschwein. Er suchte sich eine Freundin. Die Anfangsphase dauert circa zwei Wochen. Dann sucht er sich eine neue heraus. Die gräbt er so lange an, bis er sein Ziel erreicht hat. Dann lässt er seine Freundin einfach fallen und geht mit der anderen. Er hat tatsächlich schon ziemlich viele Herzen auf dem Gewissen. Aber ich werde den Spieß umdrehen. Der kriegt noch sein Fett weg. Er wollte mich mit dem Begriff "Schönheit" wohl in Verlegenheit bringen. Das schafft er aber nicht. Ich weiß selbst, dass ich kein Männertyp bin. Ich betrachtete mich im Seitenspiegel. Diese hüftlangen schwarzen Haare, die ich kaum bändigen konnte waren schrecklich. Dazu noch sehr helle blaue Augen, die so gar nicht zu meiner Haarfarbe passten. Ich war nicht sonderlich braun, obwohl das doch genetisch an meine Haare gebunden sein müsste. Die einzige Farbe, die ich annahm, wenn ich mich in der Sonne aufhielt war rot.

"Bist du jetzt eingeschlafen, du Tagträumerin?"

Marinas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich betrachtete sie kurz. Ihre blonden Locken kamen, zusammen mit den grünen Augen, sehr gut bei Jungs an. Aber ich gönnte es ihr. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die ich kannte, machte ich mir nicht viel aus Jungs. Verwirrt schüttelte ich den Kopf.

"Entschuldige bitte."

Ein Blick nach draußen verriet mir, dass wir angekommen waren. Schnell stieg ich aus dem Wagen, um meine Koffer aus zu laden. Marina half mir, sie noch bis nach oben ins Schlafzimmer zu tragen.

"Aber, dass deine Mutter dich zwingt, mit einem Jungen hier zusammen zu wohnen, ist echt ne Wucht. Was verspricht sie sich denn davon?"

Entgeistert starrte ich sie an.

"Was? Woher... weißt du das?"

"Das hast du mir doch die Autofahrt über erzählt. Sag mir bitte nicht, das hättest du nicht mitbekommen. Ich gehe jetzt. Hab noch ein Treffen mit meinem zukünftigen."

Mit diesen Worten drehte sie ich um und ging. Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte ihr tatsächlich davon erzählt, was meine Mutter gemacht hat. Wenigstens war ich nicht im Zug gesessen und habe das irgendeinem Passagier erzählt. Und außerdem konnte ich Marina vertrauen. Sie würde nichts davon weitererzählen. Ich warf den ersten Koffer aufs Bett und wollte ihn gerade auspacken, als ich erschrocken feststellen musste:

"Ach, du Scheiße! Sampson!"

Ich rannte die Treppe hinunter. Bei seinem Katzenklo war er nicht. Während ich weiterlief, zu seinem Katzenbaum, überlegte ich mir, dass ich, sobald ich ihn wieder gefunden hatte alle Fenster aufreißen würde, um diesen Gestank zu vertreiben. Katzenbaum: Fehlanzeige. Dann konnte er nur noch bei seinem Futternapf sein. Während ich auf die Küche zusteuerte rutschte mir erst einmal der kleine Teppich unter den Füßen weg und ich mache eine Bauchlandung. Warum beeilte ich mich eigentlich so, wegen einer Katze? Langsam rappelte ich mich auf. Die letzten Schritte zur Küche ging ich in normaler Geschwindigkeit. Ich fand Sampson tatsächlich. Langsam bewegte ich mich auf ihn zu und berührte ihn mit der Fußspitze. Das hatte ich befürchtet. Er war schon total steif. Aber, dass er nach so kurzer Zeit schon sterben würde? Nun gut. Was ich davon hatte war nur etwas zusätzliche Arbeit. Das Haus war mir sehr bekannt und ich ging in den Keller, um eine Schaufel zu holen. Als ich zurück kam hievte ich den toten Kater darauf. Ich lief ins Wohnzimmer und trat in den Garten hinaus, der direkt an ein Waldstück grenzte. Unter einer Fichte grub ich ein Loch. Ich hob Sampson wieder auf die Schaufel und mit den Worten "Ruhe in Frieden" warf ich ihn hinein. Schnell bedeckte ich ihn mit Erde. Wie ekelhaft. Wehe ich stoße bei der Gartenarbeit auf Katzenskelette. Plötzlich zog etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Duft, der mir sehr bekannt war, löste ein Glücksgefühl aus. Flieder, in allen möglichen Farben. Ich pflückte so viele wie es mir meine Arme zu tragen ermöglichten und trug sie ins Haus. Ich riss die bereits vertrockneten Blumen aus ihren Vasen in jedem Zimmer des Hauses und stellte den Flieder hinein. Ich riss auch alle Fenster auf. Besonders im Gästezimmer, in dem es roch, als hätte man das schon mehrere Jahre nicht mehr gemacht. Ich kehrte in Wohnzimmer zurück und warf erst einmal Sampsons Katzenbaum raus. Danach machte ich mich auf Erkundungstour. Alles, was ich nicht mehr brauchte oder nicht aufheben wollte, nahm ich mit und entsorgte es dementsprechend im Müll. Oder könntet ihr etwa etwas mit geblümten, langen Unterhosen anfangen? Während ich alles Durchsuchte fand ich auch Tante Mimis Sparbuch. Da das Geld darauf jetzt mir gehörte, konnte ich ja ruhig mal einen Blick riskieren. Das was ich da sah verschlug mir den Atem.

"Zwei Millionen! Tante Mimi war mehrfache Millionärin und ich wusste nichts davon!?", rief ich erstaunt aus.

Ich konnte es nicht fassen und ich hätte wohl noch mehr Zeit mit Staunen verbracht, wenn nicht jemand gerufen hätte.

"Hallo, ist jemand zu Hause? Hallo!?"

Ich sprang ruckartig auf und lief der Stimme entgegen, die sogar einen richtig schönen Klang hatte. Ich blieb vor einem äußerst gut aussehenden, ein Meter und dreiundachtzig großen Jungen stehen. Mit seinen dunklen Haaren, die ihm etwas wirr ins Gesicht fielen und den grün-blauen Augen sah er blendend aus. Er lächelte mich an und zeigte dabei eine Reihe vollkommen gerader und perlweißer Zähne. Ich musterte ihn von oben bis unten. Lange, schlanke Beine, kein Gramm zu viel, leicht angedeutete Oberarmmuskeln, die noch besser zur Deutung kamen, da er ein ärmelloses Hemd trug und sein Gesicht, das keinen Makel zu haben schien. Träumte ich? So einen perfekten Mann kann es doch nicht geben. Da muss doch ein Haken dran sein. Er legte den Kopf etwas schief, als wollte er fragen, was mit mir los sei. Ich setzte mein schönstes Lächeln auf und fragte freundlich, ob ich ihm helfen könne. Er erzählte mir, dass er auf der Suche nach Penelope wäre und nicht wüsste, ob das das richtige Haus war. Ich traute meinen Ohren nicht. Dieser Supertyp wollte zu mir. Der Tag kam mir zunehmend sonniger vor und die Lieder der Vögel klangen schöner. Sogar der tote Sampson hatte in diesem Moment etwas Reizendes an sich.

"Ja, du stehst genau vor ihr. Was willst du denn?"

Nervös spielten meine Finger miteinander.

"Mein Name ist Moritz und ich soll hier bei dir einziehen."

Plötzlich legte sich eine dunkle Wolke über diesen wundervollen Tag. Das war also der Haken. Ich dachte wieder an Sampson und wie er da gelegen hatte, als ich ihn fand. Mir wurde ziemlich schlecht. Ich rannte an ihm vorbei, ins Bad und übergab mich. Da ich heute noch nicht viel gegessen hatte, war auch nicht viel da, das meinen Magen verlassen konnte. Nach 5 Minuten trat ich wieder nach draußen und zeigte ihm sein Schlafzimmer. Ich erzählte ihm zwar, dass dieses Zimmer meinem Opa gehört hatte, doch ich hielt es für klüger, ihm zu verschweigen, dass er in dem Bett, in dem er schlafen würde, tot aufgefunden wurde. Es war zwar gerade Mittagszeit aber ich erwartete, dass sein Vater ihm bereits ein Mittagessen spendiert hatte. Umso überraschter war ich, als er mich fragte, was er zu essen machen sollte. Vollkommen perplex überließ ich ihm die Auswahl. Er kann auch noch kochen. Vielleicht wäre es doch besser ihn näher kennen zu lernen und ihn nicht gleich als Idioten ab zu stempeln, nur weil sein Vater einer war. Nach fünfundvierzig Minuten wurde ich zu Tisch gerufen. Es duftete ausgezeichnet. Das Gericht strotzte zwar nicht gerade zu vor Einfallsreichtum, aber der Braten mit den Pommes schmeckte.

"Lob an den Koch. Welcher Service hat das denn gebracht?", fragte ich im Scherz.

Er sah mich verlegen an: " Keiner, das habe ich alleine gekocht."

Ich lächelte ihm aufmunternd zu.

"Das weiß ich doch."

Wir hatten ein sehr interessantes Gespräch. Es war einfach wundervoll ihm zu zusehen. Man war wie verzaubert. Ich hätte fast mein Glas zerbrochen, als das Telefon klingelte. Hoffentlich wollte niemand mit Tante Mimi sprechen. Ich hob ab.

"Ja, hallo?"

"Ähm, hallo, Penelope? Bist du das?"

"Aber natürlich!"

Ein kleiner Freudenschauer durchlief mich. Auch wenn ich gesagt habe, dass mich Jungs nicht interessieren, gibt es eine Ausnahme: Jochen. Er ist der tollste Junge, den ich jemals in meinem Leben getroffen habe. So nett und einfühlsam und ganz anders als die anderen Jungs. Man könnte auch sagen, wir waren praktisch schon zusammen. Außer es geschieht noch eine mittlere Katastrophe.

"Ich wollte mich eigentlich heute ein wenig mit dir unterhalten. Aber deine Mutter hat gemeint, ich solle dich und Moritz nicht stören. Wer ist denn Moritz, frage ich mich gerade."

Die mittlere Katastrophe kam also in Form meiner Mutter. Sie mochte Jochen nicht besonders. Eigentlich hatte sie keinen meiner Kumpels gemocht und ich hätte mittlerweile bestimmt schon einen Freund gehabt, wenn sie ihm nicht irgendwelche Lügen über mich erzählt hätte. Ich versuchte, trotz des dicken Kloßes in meinem Hals, amüsiert zu lachen.

"Moritz ist keine anderer, als der Sohn des Chefs meiner Mutter. Und genau diese hat mich dazu gezwungen mit ihm zusammen zu wohnen. Er gefällt mir ja nicht einmal sonderlich."

Kleine Notlügen ließ der liebe Gott bestimmt durchgehen.

"Ach so, ja, dürfte ich dich heute vielleicht besuchen kommen? Ich möchte da etwas Dringendes mit dir besprechen."

Ich unterdrückte ein Rülpsen, das gerade in mir aufstieg und sagte: "Du kannst zum Kaffeetrinken kommen und danach können wir uns unterhalten. Ich werde versuchen, dafür zu sorgen, dass wir alleine sind, okay?"

Nach kurzem Zögern willigte er ein. Er hat etwas unentschlossen geklungen und ich konnte mir schon denken, was er mich fragen wollte. Es war nicht schwer zu erraten. Tante Mimis Sparbuch deponierte ich sicher in der Schublade mit meinen Socken und verschloss diese. Ihre Anziehsachen deponierte ich anstelle meiner eigenen in den Koffern. Es war kurz vor der Kaffeetrinkenszeit, als mir einfiel, dass ich jetzt unmöglich noch einen Kuchen backen könnte. Dann kam mir das Zauberbuch wieder in den Sinn. Ich holte es zwischen meiner Unterwäsche hervor. Es war so praktisch, dass es Orte gab, an die mein Mitbewohner nicht durfte. Gleich auf einer der ersten Seiten entdeckte ich den "Essensspruch". Das einzige Problem war, dass ich dafür einen Zauberstab benötigte, jedoch keinen besaß. Da fiel mir eine Delle in dem Buch auf, die ich davor nicht gesehen hatte. Ich blätterte dorthin und entdeckte... nichts anderes als Tante Mimis Zauberstab. Das war bestimmt Schicksal. Ich hielt das Buch mit dem Zauberstab fest im Arm, als ich die Treppe herunter schlich, immer darauf bedacht, Moritz nicht über den Weg zu laufen. Unbemerkt hatte ich die Küche erreicht. Dieser Zauberspruch benötigte keine Zutaten. Was für ein Glück! Schnell den Zauberspruch aufsagen. Ich achtete dieses Mal darauf, dass ich nichts falsch machte. Das Abenteuer von letztem Mal hatte mir gereicht. Doch ich traute meinen Augen nicht! Aus der Spitze meines Zauberstabes traten Strahlen. Diese vereinigten sich und bildeten eine lecker aussehende Erdbeertorte, die ich mir gewünscht hatte. Da ich gerade dabei war, ließ ich auch noch komplett den Tisch decken. Ich trug gerade die Torte auf den Tisch, als Moritz ins Zimmer trat. Überrascht blickte er auf den Tisch und dann mich an. Ein bösartiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

"Welcher Lieferservice hat das denn gebracht?"

Ich konnte ihm nichts erwidern, da es gerade an der Tür läutete. Mit einem kleinen Freudenschrei machte ich auf.

"Oh, hi! Schön, dass du doch gekommen bist. Komm doch rein. Wir haben noch nicht angefangen."

Nervös folgte er mir ins Haus. Ich brachte ihn ins Esszimmer und seine Augen weiteten sich etwas.

"Und das gehört alles dir?", fragte er mit etwas Begeisterung in der Stimme.

"Noch nicht ganz. Noch bin ich ja nicht volljährig."

Als er Moritz sah, verdüsterte sich sein Blick. Zugegeben, Moritz sah wirklich besser aus als er, aber das konnte man nicht vergleichen. Moritz spielte in einer anderen Liga, er war beinahe ein Gott! Das Kaffeetrinken verlief sehr ruhig. Man konnte fast Jochens Abneigung gegenüber Moritz spüren. Ich war sehr erleichtert als wir endlich fertig waren. Ich zog Jochen nach draußen und wir machten einen kleinen Spaziergang im Wald. Das bereute ich schnell. Wir liefen mehr als einmal an Dingen vorbei, die seine Aufmerksamkeit erregten. Dazu gehörte auch ein kleiner Tempel. Ich lachte jedes Mal hysterisch. Als wir eine kleine Lichtung mit einem Springbrunnen in der Mitte und mehreren Sitzgelegenheiten erreicht hatten. Wir nahmen Platz und begannen ein unverfängliches Gespräch. Er sah mich jedoch überhaupt nicht an. Er wechselte abrupt das Thema.

"Es fällt mir wirklich schwer das zu sagen, deshalb werde ich es auch nur einmal tun. Bitte mich nicht es zu wiederholen."

Ich blickte ihn erwartungsvoll an, um ihm das Reden zu erleichtern.

"Willst... willst du mit mir gehen?"

Bevor ich antworten konnte fuhr er schnell fort.

"Ich... ich meine, wenn du nicht willst, dann würde ich das vollkommen verstehen. Ich meine, weil du doch mit so einem tollen Typen zusammen wohnst da... könntest du vielleicht..."

Er brach mitten im Satz ab und schaute beschämt auf den Boden. Der Junge war hoffnungslos verloren und hoffnungslos romantisch. Aber genau das liebte ich so an ihm. Es gab nichts, was ich hätte sagen können, das ihn davon überzeugt hätte, dass nichts zwischen mir und Moritz war. Aber es gab etwas, was ich tun konnte. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und gab ihm einen langen Kuss auf seine vollen Lippen. Das dürfte ihn wohl überzeugt haben. Ich schenkte ihm mein verführerischstes Lächeln. Er lächelte zurück. Ich sah auf seine Uhr. Erschrocken schoss ich in die Höhe.

"Oh nein!"

"Was ist los? Was ist passiert?"

"Ich wollte doch die verpasste Zwergen Wall X Folge mit Ategev anschauen! Schnell, lass uns zurück sprinten!"

Mit diesen Worten war der Startschuss gegeben und wir rannten wie vom wilden Affen gebissen durch den Wald. Obwohl ich es hasse zu rennen, sowie jegliche Art von Bewegung, machte mir diese Aktion riesigen Spaß. Atemlos kamen wir an. Meine Wangen waren leicht gerötet und er war auch außer Puste gekommen. Wir sahen uns beide glücklich an. Ich ging ins Fernsehzimmer und stellte erleichtert fest, dass ich bloß den Vorspann verpasst hatte. Von meinem Freund erntete ich ein verständnisvolles Lächeln, bevor er sich verabschiedete. Moritz setzte sich neben mich. Das machte mich irgendwie nervös.

"Ich schaue diese Serie auch sehr gerne. Mein Lieblingscharakter ist Ukog Nos."

Sofort begann eine heiße Diskussion zwischen uns. Ich fand nämlich, Ukog Nos viel zu weichherzig für einen Kämpfer war und er hielt Ategev für einen angeberischen Besserwisser. So vergingen mehrere Stunden und während unseres Gespräches rückte er unbemerkt immer näher. Als mir das auffiel sprang ich auf und sagte, dass es Zeit für das Abendessen war.

"Das mache ich schon."

Ich atmete erleichtert auf. Ich hatte schon befürchtet, er würde mich bitten, sitzen zu bleiben. Doch wahrscheinlich hatte er nicht einmal selbst gemerkt, dass er näher gerückt war. So hatte ich wenigstens noch etwas Zeit, mir Tante Mimis Bibliothek anzusehen. Ich war heute nämlich dem Pentagramm gefolgt und es hatte mich direkt vor dieses Zimmer geführt. Da es mittlerweile dunkel war, schaltete ich das Licht an. Ich nahm das Pentagramm von meinem Hals und folgte seinen Anweisungen. Ich stand nun genau vor einem Buch. Als ich die Hand ausstreckte, um es heraus zu ziehen öffnete sich die Bücherreihe neben mir und ich blickte in einen dunklen Gang. Das war also das Geräusch gewesen, das ich gestern gehört hatte. Schnell schloss ich die geheime Tür. Genau rechtzeitig, bevor Moritz eintrat. Verschreckt sah ich ihn an.

"Nur keine Angst. Ich werde dich schon nicht auffressen. Das Essen ist fertig."

Er lächelte mich an. Ob ihm wohl bewusst war, wie anziehend er auf mich wirkte? Während ich automatisch das Zimmer abschloss, lachte ich in mich hinein. Nein, das wusste er bestimmt nicht. Das Abendessen verlief eher ruhig. Ich hatte bloß das Gefühl, als würde er die ganze Zeit versuchen, mit mir zu füßeln. Also, so was! Ich hatte vielleicht Vorstellungen. So ein Gutaussehender Kerl würde mich doch nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Ich stand auf, ging in die Bibliothek und sperrte von innen zu. Jetzt betrachtete ich die Bücher näher und stellte fest, dass auf keinem einzigen ein Titel geschrieben stand. Nachdem ich die durchgeblättert hatte, wusste ich, worum es sich handelte. "Drachen", "Wie wähle ich den richtigen Besen" und "Gnome beseitigen, leicht gemacht" wiesen zweifellos auf die Hexenwelt hin. Ich verließ den Raum und vergaß nicht, ihn abzuschließen. Ich würde Moritz bitten, dieses Zimmer nicht zu betreten. Das war die einzige Lösung. Das würde ich gleich morgen früh erledigen. Gähnend stieg ich die Treppe hinauf und bemerkte, dass er oben auf mich wartete. Er schien etwas besorgt, doch das ließ ihn noch besser aussehen. Sofort verdrängte ich diese Art von Gedanken. Ich hatte doch jetzt einen Freund. Ich stand vor ihm und als ich ihn fragen wollte, was los sei, hob er mich zu sich hoch und küsste mich. Er wagte es tatsächlich! Reflexartig schnellte meine Faust nach vorne. Ich wusste zwar nicht genau, wo ich ihn getroffen hatte, aber ich drehte mich um und wollte in mein Zimmer laufen. Ich schaute noch einmal über meine Schulter, weil ich fürchtete zu stark zugeschlagen zu haben. Ein Gefühl der Zufriedenheit durchströmte mich, als ich sah, wie er am Boden kniete. Ich hatte seine verdammt perfekte Nase erwischt. Geschah ihm nur recht. Mit einem Schritt war ich im Zimmer und schloss ab. Mit dem Gesicht nach vorne ließ ich mich auf mein Bett fallen. Wie konnte er nur? Wie konnte er nur!? Dieser Idiot! Er ist wie sein Vater! Genau wie er! Tränen liefen über meine Wangen. Er hat mich gedemütigt. Das wird er mir büßen. Meine Faust ballte sich um das Kissen. Ein surrendes Geräusch verriet mir, dass ich es zerrissen hatte.

"SCHEISSE!"

Ich richtete mich auf und warf mein Kissen quer durch den Raum, in dem sich kleine Federn verteilten. Ich riss das Pentagramm von meinem Hals. Gerade rechtzeitig fiel mir ein, was ich da zerstören wollte und ließ den Arm sinken. Warum hat er das getan. Warum hat... Warum...
 

Ich lief durch eine schier undurchdringliche Finsternis. Gelegentlich flatterte etwas an meinem Kopf vorbei, das sich anfühlte, wie eine Fledermaus. Das war ein sehr unangenehmes Gefühl und ich begann zu rennen. Ich steigerte mich immer mehr hinein. Schneller und schneller. Der Wind sauste in meinen Ohren. Plötzlich wurde ich von einem grellen Licht geblendet, das die Dunkelheit durchbrach. Als ich meine Augen öffnen konnte, erblickte ich etwas Wundervolles. Etwas so reines würde ich nie wieder zu Gesicht bekommen. Jedenfalls nicht, wenn ich wach war. Das Einhorn sah mich an. Es schien als würde es nicht einmal atmen.

"Hilf uns. Bitte, beeil dich!"

Die Stimme hallte in meinem Kopf wider. Langsam schritt ich auf es zu. Es machte keine Anstalten zu scheuen. Langsam legte ich meine vor Aufregung zitternde Hand auf den Hals. Ich blickte in die Augen. Sie hatten keine Pupillen, doch sie machten mir keine Angst. Sie hatten eine grün-blaue Farbe. So wie Moritz'. Wie unangenehm. Sogar im Traum verfolgte er mich. Doch die Augen tauchten sich in ein gefährliches rot und begannen zu glühen. Die Stimme verstummte.

"Du musst sterben."

Eine dunkle und bedrohliche Stimme sprach nun zu mir. Dieser Satz wiederholte sich so oft, bis die Worte für mich jegliche Bedeutung verloren hatten. Alles begann, sich zu drehen. Das Einhorn hatte die Farbe schwarz angenommen. Ich drehte mich immer schneller, bis ich nicht mehr wusste, wo oben und wo unten war.
 

Plötzlich schrak ich hoch. Ich hatte geträumt. Mein Mund war trocken. Ich stand auf. Wie zufällig fiel mein Blick auf die Uhr. 9:18. Ich war in meinen Straßensachen eingeschlafen. Igitt! Schnell zog ich mir neue Sachen aus dem Schrank. Ich schleppte mich ins Badezimmer. Mist, verschlossen...

"Komm raus oder ich komm rein!"

Das war eine klare Drohung, die er nicht missachten konnte. Sofort ging sie auf. Er stand vor mir und schloss gerade die letzten Knöpfe seines Hemdes. Er roch nach einem wunderbaren Aftershave. Mir wurde etwas schwindelig.

"Nur keine Panik. Du bist doch ein großes Mädchen."

Er ging so nah an mir vorbei, dass er mich streifte. Sofort sprang ich ins Zimmer und stellte mich unter die Dusche. Was glaubte er, wer er war? Der Dalailama persönlich!? Nach einem flüchtigen Frühstück wollte ich in die Bibliothek. Auf dem Weg traf ich Moritz, der gerade zur Tür raus gehen wollte.

"Ich möchte dir noch etwas sagen. Das Bücherzimmer ist für dich tabu, verstanden?"

Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und ging in besagtes Zimmer. Anstatt mir die vorhandenen Bücher durchzulesen, ging ich zu der Geheimtür. Mit einem kratzenden Geräusch auf dem Teppich öffnete sie sich. Ich konnte nichts erkennen. Es war zu dunkel.

"Flamare!", rief ich und im selben Moment strömten Funken von allen Farben aus meinem Zauberstab.

Ich entdeckte, dass es ein langer Gang war, der ziemlich steil nach unten führte. Wie bei einem Pharaonengrab. Ich schauderte. Langsam trat ich ein. Als ich einige Meter gegangen war, rutschte ich plötzlich auf etwas glattem aus. Jetzt begann eine Rutschpartie. Der Wind schlug mir ins Gesicht. Mein Hintern rutschte über einen herausstehenden Stein. Ich drehte mich dabei und schon wurde ich herum gewirbelt. Ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten war. Ich flog ein kleines Stück und landete unsanft auf meiner bereits schon schmerzenden Seite.

"Verflucht!"

Ich rappelte mich auf. Dieses Geräusch... ich kannte es. Ich hatte es schon in mehreren Computerspielen gehört. Jetzt begann der Boden zu beben. Mit der letzten Kraft, die ich noch aufbringen konnte, rollte ich mich nach links, um nicht von dem vorbeirollenden Felsbrocken zerquetscht zu werden. Mein Atem ging schwer. Ich drehte mich auf den Bauch und bekam einen Hustenanfall, bei dem ich Blut spuckte. Als ich endlich wieder auf den Beinen stand, bemerkte ich, dass der Raum hell erleuchtet war. Jeden halben Meter waren Fackeln an der Wand befestigt. In der Mitte des Raumes stand etwas, das aussah wie ein runder Altar. Ich schritt hin und musste lachen. Der Designer muss ein echter Freak gewesen sein. Auf dem Tisch war ein riesiges Pentagramm eingelassen und in dessen Mitte noch eines. Ich kroch auf den Tisch, um es genauer zu betrachten. Doch dazu kam es nicht. Das Pentagramm an meinem Hals zog wie verrückt und ich landete mit dem Gesicht auf dem Tisch, wobei sich mein Amulett in die Form auf dem Tisch gefügt hatte. Über mir begann etwas zu leuchten. Panisch versuchte ich den Knoten des Lederbands zu lösen. Die Begegnung mit dem Felsbrocken hatte mir gereicht. Als nächstes würde wohl ein Morgenstern mit den Worten "Guten Morgen!" herunterrasen. Endlich, ich sprang vom Tisch runter und versuchte wenigstens einigermaßen graziös zu wirken. Doch was aus dem Licht entstand war weder ein Morgenstern, noch etwas ähnlich Gefährliches. Es war das Hologramm einer Landschaft. Doch ich kannte es nicht. Ich hatte Bilder von so ziemlich jeder Gegend dieser Erde gesehen, wenn ich nicht schon dort gewesen war. Dieses Bild stammte garantiert nicht von hier. Berge, die wie Stalaktiten in die Höhe wuchsen und Bäume mit solchen seltsamen Blättern hatte ich bis jetzt noch nie gesehen. Ich wollte es berühren, doch meine Hand glitt wie durch Wasser hindurch. Auf einmal löste sich dieses Bild auf und ein neues entstand. Ich machte einen Satz zurück und stellte mich kampfbereit hin. Das war das Einhorn von heute Nacht. Ich wurde stutzig. Ich erinnerte mich an jede Einzelheit, des Traumes. Die Finsternis, die rot glühenden Augen und diese Stimme. Es wiederholte seinen Satz von heute Nacht. Wieder und immer wieder. Plötzlich brach es ab. Stille. Das Licht der Fackeln war die einzige existierende Lichtquelle in diesem Raum. Jemand rief mich. Ja, ganz eindeutig, das war mein Name. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Moritz, zusammen mit Jochen, eintrat. Jochen rief mich. Wehe, Moritz hat ihm etwas von seinem Eroberungsversuch erzählt. Dann verprügele ich ihn so, dass er seine Nahrung nur noch über die Schnabeltasse zu sich nehmen kann. Ich stellte mich an das Ende des Ganges und überlegte, wie ich hier wieder heraus kommen könnte. In diesem Moment zog etwas an mir. Ich fühlte mich, wie ein Fisch an der Angel, der aus dem Wasser gezogen wurde. In hohem Bogen flog ich aus dem Tunnel und landete abermals auf meiner schmerzenden Seite. Die Tür schloss sich von selbst. Ich stemmte mich mühsam nach oben. Das war alles zu viel für mich. Ich stöhnte. Alles tat mir weh. Es wurde an die Tür gehämmert. Ich hörte Moritz' Stimme:

"Jetzt versteck dich doch nicht! Oder hast du uns nicht rufen gehört. Ist alles klar?"

Ich riss die Tür auf und sah, dass er gerade Anlauf nehmen wollte, um sie aufzubrechen.

"Mach doch nicht so einen Lärm. Ich war nur im Sessel eingeschlafen."

"Das hat sich nicht danach angehört. Als ich dieses Gepolter gehört habe, habe ich mir Sorgen gemacht. Es hätte doch ein Einbrecher oder Mörder gewesen sein können."

Wütend sah er mich an.

"Ich bin bei deinem Gebrüll aus dem Sessel gefallen. Außerdem hat dieses Zimmer nicht einmal FENSTER! Komm, lass uns gehen."

Ich packte Jochen am Arm und zog ihn weg, in mein Schlafzimmer. Wir setzten uns aufs Bett.

"Na?"

"Na?"

Keiner wagte es, den anderen anzusehen. Er nahm meine Hand. Kurz bevor seine Lippen meine berührten, hörten wir einen ohrenbetäubenden Lärm. Sofort sprang ich auf.

"Was hat er denn jetzt wieder angestellt?"

Ich war wütend. Legte er es denn unbedingt darauf an, mir den Abend mit meinem neuen Freund zu verderben!? Ich wollte gerade nach unten gehen und ihm gehörig die Meinung sagen als Jochen mich am Arm packte. Ich sah ihn an und er schüttelte den Kopf. Ich setzte mich wieder hin. Er nahm mich in die Arme, genau in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen.

"Komm schnell, das musst du dir anschauen!"

Panik lag in seinen Augen. Langsam machte ich mir Sorgen. Was war geschehen? Wir stürmten die Treppe hinunter, Moritz voran. Vor dem Bücherzimmer blieben wir stehen. Meine Augen weiteten sich. Sämtliche Regale waren zerbrochen und die Bücher waren im gesamten Raum verteilt. Doch das war es nicht.

"Was kann das sein."

"Ich... ich glaube das ist ein magisches Portal."

Ich bereute bereits meine Antwort. Beide Jungen starrten mich entgeistert an. Ich legte meine Hand ans Kinn.

"Ich meine, es sieht genau so aus wie das aus einem Spiel."

Jochen schüttelte seinen Kopf und lachte etwas.

"Ich werde jetzt gehen. Ihr wollt doch hier sicher aufräumen."

Ich sah ihn enttäuscht an und er schenkte mir ein trauriges Lächeln. Ich blickte auf den Boden. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten und sich die Tür schloss. Ich ging ins Zimmer.

"Mist, verfluchter!"

Mit Gewalt riss ich eines der größten Bretter aus der Wand. Ich schlug damit auf den steinernen Rand des Tores ein, bis es zerbrach. Ich kniete mich hin und saugte an meiner Hand, in die sich ein Splitter gebohrt hatte. Von hinten legte mir Moritz eine Hand auf die Schulter.

"Mach dir nichts draus. Das wird schon wieder."

Wütend schlug ich sie weg.

"Das ist alles deine Schuld! Ich wünschte, ich hätte dich nie getroffen. Wegen dir ist das doch alles passiert!"

Ich wusste, dass meine Anschuldigungen völlig unberechtigt und übertrieben waren. Aber ich war wütend. Er hat so verletzt ausgesehen. Aus dem Portal traten funken. Dunkle Rauchschwaden umhüllten uns. Verwundert blickte ich auf. Verschreckt ergriff ich Moritz' Hand.

"Was ist hier bloß..."

Das Zimmer um uns herum verschwamm. Was war hier los? Alle Farben vermischten sich. Und als sie sich wieder trennten, konnte ich kaum glauben, wo ich mich befand.

Sirenzia

Ich blickte auf eine große weite Ebene. So viel grünes Gras hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Ich stand auf. Dort hinten grasten Pferde. Ich schlich mich an, so gut ich konnte. Schließlich war ich zu einem achtel Indianer. Etwas sprang knapp an mir vorbei. War das tatsächlich ein Peryton? Und könnten das tatsächlich keine Pferde, sondern Einhörner sein. Ich vergaß alle Vorsicht und rannte los. Sie hoben zwar die Köpfe, machten aber keine Anstalten zu flüchten. Und da sah ich es tatsächlich. Sie hatten Hörner auf ihrer Stirn. Und ihre Augen waren dieselben, wie diejenigen, die ich in meinem Traum gesehen hatte. Mein Traum? Ich konnte mich daran erinnern, was ich geträumt hatte, an jede Einzelheit. Das war das erste Mal, seit ich überhaupt denken konnte. Ich blickte wieder in diese grün-blauen Augen, die mich sehr an jemanden erinnerten. An wen bloß? Ich zermaterte mir das Hirn. Wie hieß er nur? Es war aber eigentlich egal, solange ich nur in diese fantastischen und bezaubernden Augen blicken konnte. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich schrie leise auf und drehte mich schnell um. Ich blickte in ein Paar lilane Augen. Trug diese Frau Kontaktlinsen? Nein, keine Frau, eine Elfin? Darauf wiesen jedenfalls die beiden langen und spitz zulaufenden Ohren hin. Ich sah sie etwas seltsam an. Mit einer kleinen Handbewegung ihrerseits lag ich am Boden und sie hielt mir ihr Messer an den Hals. Aber ich konnte auch solche Tricks. Ich packte ihre Hand, zog sie nach unten, legte meinen Fuß genau in ihre Magengrube und stieß sie nach hinten weg. Nach einer Rolle kniete sie wieder. Das würde hart werden.

"Ak used eamano aw atana?"

Was redete sie da? Wollte sie sich über mich lustig machen? Genügte es ihr nicht, dass ich ihretwegen bereits einen Schock fürs Leben hatte?

"Was soll das? Sag mir wer du bist, oder ich reiß dir den Kopf ab!"

Ich bezweifelte, dass sie mich verstanden hatte. Umso verwunderter war ich, als sie mich bewundernd ansah.

"Du sprechen Göttersprache?"

Sie hatte einen Akzent, gemischt mit einem grammatikalischen Fehler, der aber nicht weiter auffiel.

"Göttersprache?"

Ich legte meinen Kopf schief.

"Das seien Sprache, die nur gesprochen werden perfekt von unser Gott."

"Und euer Gott, sieht er gut aus und ist männlich?"

"Iah."

Ich interpretierte das als ja.

" Bring mich zu ihm."

Sie schrie entsetzt auf. Es folgte ein Schwall auf ihrer Sprache.

"Ich können das tun nicht!"

"Was? Warum nicht?"

Ich verstand ihre Angst nicht, aber ich kannte dieses Gebiet auch nicht.

"Sein Schloss liegen im toten Gebiet jetzt."

"Totes Gebiet? Erzähl mir mehr davon!"

"Das seien gefährlich sehr. Niemand können leben dort. Man brauchen Herz leer."

Leeres Herz? Ja, das hatte ich. Ich konnte mich an gar nichts erinnern.

"Auf geht's. Ich gehe allein. Wie komme ich dort hin?"

Sie sah mich an, also ob ich total verrückt geworden wäre.

"Ich können das nicht lassen zu. Ich begleiten dich."

Da blieb mir aber die Luft weg. Hatte sie nicht gesagt, es wäre gefährlich? Egal, das war ihr Problem. Ich streckte meine Hand aus.

"Ich heiße Penelope. Wie ist dein Name?"

Beschämt verneigte sie sich vor mir.

"Anemone."

Ich wurde etwas neidisch. Ihre roten Haare warenlänger als meine und ihre Augen waren die, einer Kriegerin. So wollte ich auch werden. Ich nahm eine Kampfposition ein und rief:

"Lass uns gehen!"

Ich wollte mich schon in Bewegung setzen, als ich sah, dass sie auf einer kleinen Flöte spielte. Der Himmel verdunkelte sich. Ich glaubte, dass das das Werk einer großen Wolke gewesen war, doch als ich nach oben sah, sollte sich meine Spekulation als falsch herausstellen. Ein riesiger roter Drache segelte zu uns hinunter. Und wenn ein Drache jemanden geringschätzig mustern konnte, dann tat dieser genau das mit mir. Auf seinem Rücken war etwas Sattelähnliches angebracht. Anemone half mir herauf. Mit fürchterlichem Gebrüll erhob sich der Drache in die Höhe. Seine Schuppen glänzten in allen Rottönen. Es war wunderbar anzusehen. Der Flugwind machte mir etwas zu schaffen und da er beim Fliegen Schlangenbewegungen ausführte, wurde mir sehr schnell ziemlich schlecht. Ich lehnte mich zurück und schloss meine Augen. Ich bin auf einer Wiese, auf einer schönen, blumigen Wiese. Dieser Trick half mir beim Zahnarzt immer. Aber warum roch es auf meiner schönen Wiese auf einmal nach Schwefel. Drachengebrüll war auch nie dabei gewesen. Ich hielt mich schnell fest, da wir einen Looping ausführten und öffnete panisch meine Augen.

"Was? Was? Was ist los?"

Wir waren auf einen zweiten Drachen gestoßen. Dieser leuchtete zwar smaragdgrün, doch er stand in seiner Schönheit dem roten in nichts nach. Anemone gab ein paar knappe Befehle. Schon hatte sich der Roten in den Nacken des Grünen verbissen. Anemone sprang auf, einen Sattel in der Hand haltend. Sie schwang sich einmal und die Brust des Grünen und schon war der Sattel befestigt. Sofort wurde er zahm. Anemone winkte mich zu ihr. Vorsichtig kletterte ich zu ihr rüber. Meine Schritte auf dem Rücken des grünen Drachens hörten sich an, als ob ich auf Glas laufen würde. Erleichtert darüber, dass ich nicht gefallen war setzte ich mich in den Sattel. Anemone reichte mir etwas, das aussah wie Zügel. Wann hatte sie die befestigt?

"Dein Drache."

Das überraschte mich jetzt aber. Sie schenkte mir einen Drachen? Na ja, ich wollte nicht unhöflich sein, schließlich besaß sie selbst schon einen.

"Gib ihm Namen."

Ich ging alle Namen durch, die ich kannte aber mir fiel nichts ein. Also stellte ich meinen aus willkürlich gewählten Buchstaben zusammen.

"Onirodim."

Es klang nicht besonders toll, aber besser als gar nichts.

"Gut, ich reiten jetzt weiter auf Iaka."

Ich nahm einfach an, dass das der Name ihres Drachen war. Jetzt fiel mir erst auf, dass diese beiden Dachen grundverschieden gebaut waren. Iaka war sehr robust, um nicht zu sagen hässlich. Aus seinen Nasenlöchern kamen beim Ausatmen kleine Feuerfäden. Seine Augen glühten gelb. Ein typischer Feuerdrache eben. Wenn er wütend wurde, roch sein Atem nach Schwefel. Die Flügel waren kräftig und er benutzte sie tatsächlich zum Fliegen. Onirodim schien zu schweben. Seine Flügel waren zierlich und er benutzte sie kaum. Er glitt dahin. Seine Augen waren grün. Sie schienen mit Glitzer durchtränkt zu sein. Er besaß keine Pupillen. Onirodim schien durchsichtig zu sein und tatsächlich konnte ich durch ihn den Boden unter uns hinweg gleiten sehen. Im Gegensatz zu Iaka wurde mir auf Onirodim überhaupt nicht schlecht. Jetzt war es als ob der Druck zunehmen würde. Mein Körper wurde schwerer.

"Ich warten hier."

Das war Anemone. Ich nahm ihre Stimme kaum wahr, da ein fürchterlicher Sturm begann. Onirodim hielt sich gut. Ich schätzte, dass er ein Winddrache war. Er ließ ein fürchterliches Gebrüll verlauten. Ich klammerte mich an die Zügel und versteckte mich hinter dem hohen Sattel. Wenn wir bloß heil hier raus kämen. Genau in diesem Moment verschwand der Sturm genau so schnell, wie er gekommen war und ich konnte einen ersten Blick auf das "tote Gebiet" werfen. Und tot war es tatsächlich. Außerdem auch noch furchtbar düster. Der Himmel war von dunklen Wolken bedeckt. Wenn er Boden nicht mit schwarzen, undurchsichtigen Nebel bedeckt war, sah man die nackte Erde. Die Bäume waren kahl. Anfangs glaubte ich, es gäbe hier kein einiges Tier. Doch beim genaueren Hinsehen wurde ich eines Besseren belehrt. Die ganzen Tiere waren schwarz mit glühenden, roten Augen, die mir eigentlich schon früher hätten auffallen müssen. Es war gruselig. Ein lautes, Furcht einflößendes Brüllen war zu hören. Ich zuckte zusammen. Was war das? Plötzlich riss mich etwas von Sattel. Ich landete auf dem Rücken und ein erstickter Schmerzensschrei verließ meine Kehle. Hoffentlich hatte ich mir nichts gebrochen. Es waren immerhin mehrere Meter gewesen. Doch als ich sah, was mich vom Drachen geholt hatte, wollte ich nur noch eines: bloß weg hier. Sollte dieser ominöse Gott bleiben wo er wollte. Meine Stimme zitterte vor Angst.

"Lieber Werwolf, netter Werwolf. Willst du ein Leckerli."

Panisch suchte ich in meinen Hosentaschen, obwohl ich genau wusste, dass ich nichts finden würde. Gerade stürzte er nach vorne und wollte seine handlangen Zähne in mein Fleisch bohren. Er wurde am Hals zurückgerissen und ich stellte fest, dass er ein Halsband trug.

"Los, zurück, Hector. Lass das Mädchen in Ruhe."

Brav, wie ein Schoßhund entfernte dieser sich von mir. Ich stemmte mich auf die Beine. Und ich dachte, Anemone hätte mich erschreckt. Der Werwolf näherte sich mir wieder. Er begann an mir zu schnüffeln. Mir wurde speiübel. Dieser Werwolf hatte fürchterlichen Mundgeruch. Ich ging einpaar Schritte nach hinten und hielt mir meine Nase zu. Es ist fürchterlich, empfindliche Geruchsnerven zu besitzen.

"Schon mal was von Mundhygiene gehört?"

"Keine Bewegung!"

Das war ein klarer Befehl. Meine Arme schnellten in die Höhe.

"Ich habe kein Bargeld bei mir. Bitte verschont mich. Ihr könnt den Drachen schlachten, wenn ihr wollt!"

"Ich nehme dich mit zu unserem Herrn."

Er wollte mich gerade mit Handschellen fesseln, die breiter waren als mein Handgelenk und mit einem lilanen Edelstein besetz waren. Ich rammte ihn mit meiner Schulter. Tränen stiegen mir ins Gesicht. Bestimmt war sie verstaucht.

"Onirodim!"

Er ließ sich elegant zur Erde herab. Ich saß noch nicht einmal annäherungsweise drauf als ich bereits den Befehl gab.

"Flieg los! Schnell!"

Ich konnte meinen linken Arm kaum bewegen. Hoffentlich war er nicht gebrochen. Der Drache gewann an Höhe. Immer mehr und immer schneller. Wir durchbrachen die schwarzen Wolken. Die Aussicht war berauschend.

"Flieg zu Anemone. Ich brauche ihre Hilfe."

Ich hatte es geschafft, mich mühsam in den Sattel zu hieven. Ich hörte den Donner unter uns rollen. Die Wolken unter uns wurden lichter. Ich entdeckte Anemone zusammen mit ihrem Drachen auf der Lichtung. Elegant ließ ich Onirodim landen. Ich rutschte herunter und landete auf den Knien.

"Du leben noch!"

Überglücklich rannte sie auf mich zu und umarmte mich kräftig. Ich schrie auf.

"Mei... meine Schulter."

Mein Atem begann schneller zu gehen. Sie sah sie sich an.

"Kein Wunder. Du haben Stock in Schulter."

Mit einem Ruck zog sie ihn raus. Ich biss die Zähne zusammen. Ich sah, dass sie mit Stock nicht übertrieben hatte. Sie legte mir einen zehn Zentimeter langen, blutigen Ast auf die Handfläche. Ich ließ ihn fallen. Die Wunde brannte unheimlich. Tränen liefen meine Wangen runter.

"Komm, ich bringen dich Medizinmann zu."

Das klang ja echt indianisch.

"Malt ihr euch auch die Gesichter an?"

Sie half mir beim Aufstehen.

"Ja."

Ich warf den Kopf nach hinten und lachte.

"Was lustig sein daran?"

Ich schüttelte den Kopf. Diese Bewegungen hatten mich wieder schmerzhaft an das durchaus echte Loch in meiner Schulter erinnert. Sie spielte wieder kurz auf ihrer kleinen Flöte. Doch dieses Mal war es eine hellere und schnellere Melodie. Ich hörte Hufgetrappel. Aus dem nahe gelegenen Wald bracht ein Einhorn, das genau so wie der Drache Sattel und Zügel angelegt hatte. Ein zweites folgte. Dieses war jedoch ohne alles. Die Hörner glänzten golden in der Sonne und blendeten, wenn man zu lange hinein sah. Sie schwang sich auf das ihre, nachdem sie mich auf das andere hinauf geschoben hatte. Wir verfielen in einen langsamen Trab, nachdem sie ihnen einen Befehl gegeben hatte. In meiner Schulter stellte sich ein dauerhafter Schmerz ein. Der Blutverlust machte mir langsam zu schaffen. Mir wurde langsam schwarz vor Augen. Ich blinzelte. Kein Problem, das kannte ich. Ich hatte schon immer Kreislaufprobleme gehabt. Nur kurz die Augen schließen, dann ging es wieder.

Ich öffnete sie langsam wieder. Wir mussten doch bald da sein. Huch, wieso lag ich denn am Boden? Anemone kniete neben mir. Besorgnis stand ihr in den Augen.

"Endlich seien wach du. Ich gemacht Sorgen mir."

Ich setzte mich hin. Jemand hatte meine Schulter verbunden. Ich sah mich um. Das kleine Zimmer, in dem ich mich befand, war stickig. Das Bett war warm. Die Wände waren aus Stein. Ich stand auf und trat und das Fenster. Ich riss es auf. Mein Blick fiel auf ein kleines Dorf, in dem reges Treiben herrschte.

"Wo sind wir hier?"

Ich ging zum Spiegel.

"Das seien mein Dorf. Es heißen Ihcihsara. Wir seien Fremdenfreundlich sehr. Aber du müssen lernen einige Benimmregeln. Sie werden wundern sich weil du sprechen Göttersprache so gut."

Während sie mir sagte, dass ich vor älteren Leuten immer mein Haupt zu senken habe, meine "Göttersprache" nicht zu gut aussprechen und immer in ihrer Nähe bleiben sollte, hatte ich endlich Zeit sie näher zu mustern. Ihre Ohren waren lang und liefen spitz zu. Sie hatte schöne, lange, rote Haare, die orange im einfallenden Licht schimmerten. Obwohl sie vollkommen ruhig mit mir sprach und ich keine Gefahr für sie darstellte, funkelten mich ihre lilanen Augen angriffslustig und furchtlos an. Sie trug ein bauchfreies und ärmelloses, grünes Oberteil. Der Rock, der dieselbe Farbe hatte, reichte ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel. Sie trug braune Lederstiefel, die etwas über ihre Fußknöchel reichten. Sie war schlank und groß. Sie würde bestimmt bei jedem Typen gut ankommen.

"Ich verändern dein Aussehen jetzt. Ich hoffen, ich tuen dir nicht weh."

Sie legte ihre Hände an meine Ohren. Wollte sie sie mir abreißen? Sie Zog sie etwas nach oben.

"Du schließen deine Augen jetzt."

Ich tat wie mir befohlen. Ihre Hand wanderte über mein Gesicht. Als ich mich erneut im Spiegel betrachtete, hatte ich mich verändert. Meine Ohren liefen genau so spitz zu wie die ihren. Ich hatte gelbe Augen, deren Pupillen elipsenförmig nach unten liefen. Ich nahm mehr Geräusche wahr als sonst. Ich drehte meinen Kopf zur Seite. Fünf Sekunden später öffnete sich die Tür und eine alte, dicke Frau mit dunkel gebräunter Haut trat ein. Sie sagte etwas in Anemones Sprache und diese antwortete ihr. Mich an deren Worte erinnernd, senkte ich meinen Kopf. Die Haare fielen nach vorne.

"Du brauchst dich nicht zu verstellen. Ich weiß, wer du bist."

Verdutzt hob ich den Kopf. Woher kannte ich mich? Und wieso beherrschte sie so gut meine Sprache.

"Das seien Dorfälteste. Sie lernen viele Sachen sehr schnell. Sie besonders gut seien in Kunde über unser Gott."

Ich betrachtete sie eindringlicher. Ich hatte schon viele verschiedene Leute in meinem Leben gesehen, doch diese hier sah eindeutig aus, wie eine Zigeunerin. Zigeunerin? Was für einen lustigen Klang das hatte, so ganz anders, als die üblichen Worte dieser Welt. War es etwas aus meiner Welt?

"Wir haben so lange auf dich gewartet und nun bist du endlich da. Jetzt wird sich die Leere seines Herzens füllen. Der Himmel hat uns seine Gemahlin geschickt."

Ich sprang zur Seite.

"Ich soll jemanden heiraten, den ich nicht einmal kenne? Niemals!"

Das war wohl die Höhe! Das würde ich nicht tun. Nicht für alles Geld der Welt.

"Ich werde ihn dir zeigen."

Sie sah mich verschmitzt an. Sie murmelte etwas Unzusammenhängendes vor sich hin. Ein autoreifengroßes Fenster aus Licht öffnete sich vor mir. Ein Junge, der etwa in meinem Alter sein musste, saß auf einem rot besamteten Stuhl. Er hatte blaue Haare und die Strähnen des Ponny, der ihm bis zum Übergang des Halses zum Kopf gingen, hingen ihm wirr ins Gesicht. Seine Augen waren blau-grün. Genau so bezaubernd, wie die der Einhörner, doch sie waren tot. Er blickte starr vor sich hin. Hätten sich seine Schultern beim Atmen nicht gehoben und wieder gesenkt, hätte man meinen können, er wäre tot. Sein Kopf war auf seine Handfläche gestützt, was ihm etwas Philosophisches verlieh. Er blickte auf, als hätte er bemerkt, dass jemand ihn beobachtete. Er blickte mir genau in die Augen. Bestimmt war das nur Zufall. Er erhob sich und streckte die Hand aus. In diesem Moment riss die Verbindung ab.

"Dieser ganze Zaubersmog. Die Netze sind wohl überlastet."

Ich musste unwillkürlich lachen.

"Du sehen aus zwar nicht perfekt, aber wir können gehen aus dem Haus."

Ich sah an mir herab. So konnte ich doch nicht raus gehen. Ich trug ein langes weißes Nachthemd. Obwohl ich mir über die Modebedingungen hier nicht im Klaren war, dachte ich mir, dass das nicht gerade Anklang finden würde.

"Ich holen dir Sachen."

Sah dieses Mädchen nicht nur gut aus, war super sportlich, sondern dachte auch noch mit?

"Und ich bringe ihr nebenbei unsere Sprache bei. Jetzt beeil dich!"

Sie lief aus dem Zimmer, eine Treppe hoch. Ich sah ihr nach, bevor ich der alten Frau sagte:

"Das können sie ganz schnell vergessen. In Sprachen bin ich eine echte Niete."

"Glaubst du, das macht für mich irgendeinen Unterschied?"

Sie legte ihre Zeigefinger an meine Schläfen. Ein Schwall von Wörtern drang in meinen Kopf. Mir wurde schwindelig. Ich hielt mich am Waschbecken fest. In diesem Moment kam Anemone wieder ins Zimmer.

"Ich habe nichts anderes gefunden."

Es war ein langes Abendkleid mit einem Schlitz, der fast bis zur Hüfte reichte, keinen Ärmeln und chinesischem Kragen. Chinesisch... schon wieder so ein Wort! Ich zog es ohne Widerrede an. Es passte wie angegossen. Ohne Widerworte zog ich mir die hohen Stiefel an. Als Zubehör hatte das Kleid ein riesiges Schwert. Es reichte bis zu der Hälfte meines Unterschenkels. Ich band den Gürtel um meine Hüfte und wurde unsanft zur Seite gerissen.

"Das ist ja tonnenschwer. Habt ihr für eine Einsteigerin wie mich kein anderes?"

"Das gehören dazu. Du können tauschen um es nicht."

"Na gut, na gut! Das muss ich dann wohl durch stehen."

Ein Geräusch auf dem Dach ließ uns alle aufhorchen.

"Ich gehen nachsehen."

Anemone ging vorsichtig die Treppe nach oben. Die alte Frau gab mir ein Cape.

"Hier, nimm das. Krieger geben sich in unserem Land für gewöhnlich nicht so leicht zu erkennen."

Ich band es mir um. In was war ich da bloß hineingeraten? Ich lud mir eine Tasche mit Proviant auf die Schulter. In diesem Moment vernahm ich Anemones leise Schritte auf der Treppe. Sie packte mein Handgelenk.

"Sie haben entdeckt uns. Wir müssen fliehen schnell."

Sie riss mich zur Tür hinaus. Ich hatte kaum eine Chance, mich zu wehren. Warmes Licht schlug mir entgegen und die Luft war drückend heiß. Es musste Sommer sein. Erst als wir weit genug vom Haus entfernt waren, ging sie langsamer.

"Du müssen machen Prüfung erst. Dann du werden anerkannt hier. Ich bringen dich zu Hexenmeister."

Wir gingen schneller. Obwohl wir von Wald umgeben waren, waren die Straßen staubig. Zu beiden Seiten priesen Händler ihre Ware an. Das, was mich am meisten erstaunte war jedoch die Tatsache, dass ich jedes einzelne Wort verstand. So hatte mir also die Frau die Sprache beigebracht. Wenn das im Normalfall auch immer so leicht sein würde. Wir hatten die Stadt verlassen und betraten nun den Wald. Unter den Bäumen war es nun auch etwas kühler. Die Vögel zwitscherten.

"Sollen reiten wir?"

Ich nickte. Das hatte ich früher einmal gelernt, es hatte mir jedoch nie besonders großen Spaß bereitet. Ein Einhorn kam angetrabt. Es war jenes mit dem Sattel. Sie schwang sich hinauf und zog mich nach oben.

"Wir müssen fangen eines für dich. Du festhalten dich gut."

Das tat ich. Sie galoppierte los. Sie begann mir in meiner Sprache von ihrer Kindheit zu erzählen. Ich wurde zunehmend schlechter gelaunt.

"Stopp! Jetzt reicht es! Ich werde dir unsere Sprache beibringen."

Sie sah mich verstört an.

"Du denkst, du können beibringen das mir."

"Ich werde mir Mühe geben."

Wir ritten nicht besonders lange. Sie hatte schnell die Grundprinzipien verstanden und ich ließ sie viel erzählen. Jedoch hörte ich ihr nicht zu, weil ich zu müde war. Unsanft wurde ich wach gerüttelt.

"Wir sind da. Komm, wir sollten uns leise verhalten. Die Einhörner können unsere Gedanken lesen. Und sobald sie merken, dass wir eines von ihnen fangen wollen, werden sie flüchten. Such dir eines aus, schnell!"

Sie lernte wirklich schnell. Wir hatten uns im hohen Gras versteckt und mein Blick schweifte durch die Herde. Man konnte kaum das eine vom anderen unterscheiden. Sie waren alle schneeweiß. Doch eines stach heraus. Es hatte einen bläulichen Schimmer und sein Horn war nicht golden, sondern silbern. Anscheinend war es noch ziemlich jung. Ich deutete darauf.

"Dieses will ich."

Sie blickte es lange an und nickte anschließend.

"Eine gute Wahl. Schleich dich auf die gegenüberliegende Seite und scheuche sie in meine Richtung."

Gesagt, getan. Es war nicht schwer, die Herde zu erschrecken. Anemone hatte ihre Gedanken vollkommen geleert und so liefen sie völlig ahnungslos auf ihr Versteck zu. Sie waren noch 5 Meter von ihr entfernt, 3 Meter, 1 Meter. Einen halben Meter, bevor sie ihr Versteck erreicht hätten, sprang sie hervor. Sie kämpfte sich durch die an ihr vorbei rennenden Tiere. Sie hatte das blaue Einhorn erreicht. Sie schwang sich auf dessen Rücken. Das Einhorn bäumte sich auf und wieherte.

"Es spürt, dass ich bereits eines besitze. Los, komm her. Du musst auf seinen Rücken."

Ich löste mich aus meiner Starre und lief zu ihr. Sie glitt herunter und ich zog mich schnell nach oben. Es bäumte sich erneut auf, schlug nach hinten aus und tat mit wildem Gewieher alles, um mich runter zu holen. Ich krallte mich in dessen Mähne fest.

"Lange halte ich das nicht mehr aus! Hilf mir!"

Meine Hände wurden schwitzig und rutschten immer wieder ab.

"Das kann ich nicht tun. Du musst von ihm als ebenbürtiger Besitzer anerkannt werden. Wenn ich dir helfe, wird das nie passieren."

Es wurde immer heftiger. Lange würde ich das nicht mehr aushalten. Es warf seinen Hals hin und her und bäumte sich erneute auf. Mein Kopf wurde ihn alle Richtungen geschleudert. Ich hatte mittlerweile jeglichen Orientierungssinn verloren. Ich presste meine Wange auf die Mähne und legte meine Arme um den Muskulösen Hals. Ich glaubte schon, dass ich runterfallen würde, als es plötzlich still stand. Ich konnte es nicht fassen. Hatte ich es tatsächlich überstanden? Meine Hände lösten ihren verkrampften Griff und ich glitt zu Boden. Aua. Das war eine Rückenlandung. Mein Atem ging schwer.

"Hier."

Anemone reichte mir eine Feldflasche. Hastig trank ich mehrere Schlücke. Ich wischte mir über den Mund.

"Danke. Aber was machen wir jetzt mit dem Einhorn? Wir haben sicher kein zusätzliches Zaumzeug."

"Wir reiten zum nächsten Dorf und suchen einen Schmied auf. Wir können uns auch etwas in einer Gaststätte ausruhen. Es wird bereits dunkel."

Sie rief ihr Einhorn her und nachdem ich es auch auf meines geschafft hatte ritten wir in einem schnellen Galopp in das nächste Dorf. Es war einfach wunderbar. Ich fühlte mich so frei, wie noch nie. Die hohen Holzmauern des Dorfes rückten immer näher. Es wirkte viel mehr wie eine Festung, als wie ein Dorf. Sie wollten gerade die Tore schließen, als sie uns näher kommen sahen. Sobald wir drinnen waren, schwang sich Anemone aus dem Sattel. Viele Soldaten kamen näher und begrüßten sie. Sie war tatsächlich sehr beliebt. Ich rutsche vom Rücken meines Einhorns. Ich erntete anerkennende Blicke. Was hatte ich getan?

"Da habt ihr es aber gerade noch geschafft. Die Angriffe werden immer heftiger. Wenn das so weitergeht, dann müssen wir ihnen unser Dorf überlassen. Ich habe keine Lust, der Finsternis zum Opfer zu fallen."

"Da habt ihr Recht. Vielleicht können wir euch heute Abend helfen."

"Das würdet ihr tun?"

"Nur allzu gerne."

"Wenn ihr sagt, dass ihr zu der Garde gehört, dann werdet ihr umsonst in unserer Gaststätte schlafen können."

"Das wäre nur zu gütig."

Sie verbeugte sich und wir liefen beide davon. Unsere Einhörner brachten wir in die Stallungen und gaben dem Schmied den Befehl, Hufeisen an die Hufe des neuen Einhorns zu schlagen.

"Und lege ihm bitte Sattel und Zaumzeug in der Früh an, damit wir gleich los reiten können."

"Gerne."

Sie drückte ihm einige Goldstücke in die Hand und verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Wir schlenderten durch das Dorf. Die Straßen waren staubig, wie die in Anemones Dorf. Doch hier waren keine Händler auf den Straßen. Leute gingen spazieren, meistens Krieger. Sie machten keinen Hehl aus ihren Waffen. Es war bereits dunkel. Wir brachten unser Gepäck in die Gaststätte. Unsere Waffel ließen wir ebenfalls liegen. Als wir an die Mauern zu den Soldaten traten, war es bereits Nacht. Wir kletterten eine Leiter hinauf, die uns auf einen kleinen Balkon an der Mauer führte, sodass wir drüber weg sehen konnten. Uns wurden Bögen mit vielen Pfeilen in die Hand gedrückt. Kaum war das geschehen, begann schon der Angriff. Mit wildem Geschrei stürzten sie aus dem Wald. Ich spannte einen Pfeil auf den Bogen und schoss ihn ab. Dann noch einen und noch einen. Wenn fast alle aufgebraucht waren, kamen wie von Zauberhand neue hinein. So würde das nichts werden. Sie waren Geschöpfe der Nacht und ihre Wunden heilten von selbst. Ich zündete einen Pfeil an der Fackel neben mir an. Ich schoss ihn ab. Er traf einen Werwolf genau ins Auge. Dieser schrie furchterregend. Ich schoss einen zweiten solchen Pfeil ab und der Arm eines Vampirs ging in Flammen auf. Ich rief den Bauer zu, sie sollen uns viel Kuhmist in einem großen Topf bringen. Sobald diese bei mir oben angelangt waren, kippte ich es auf unsere Angreifer. Wir warfen Fackeln nach unten und der Kot begann sofort zu brennen. Es stank grässlich, doch jeder lachte. Ich wurde nach unten gezogen. Schichtwechsel. Bevor wir uns schlafen legten, tranken wir noch einen Schluck. Wir waren beide vollkommen ruhig. Auf einmal sagte Anemone in die Stille hinein:

"Warum hast du mir das nicht von Anfang an gesagt?"

Ich verstand nicht. Sie deutete auf etwas an meinem Hals. Ich blickte an mir herunter und erblickte ein Pentagramm.

"Was, wie? Davon weiß ich nichts. Was hat das zu bedeuten?"

Sie sah mich misstrauisch an.

"Das bedeutet, dass du zaubern kannst, dass du eine Hexe bist. Du solltest dir einen Zauberstab kaufen. Ich glaube, wir sollten nicht zu meinem ehemaligen Lehrer gehen. Ein Hexenmeister wäre für dich vielleicht von größerem Nutzen. Wir sollten uns jetzt hinlegen, damit wir morgen früh genug weg reiten können."

Mit diesen Schritten ließ sie mich stehen und ging nach oben. War sie jetzt etwa sauer? Hoffentlich nicht. Sie hatte keine Lust auf irgendein Gestänker. Langsam ging auch ich nach oben. Ich legte mich zwar hin, konnte jedoch kein Auge zu tun, was nicht zuletzt an dem Kampf lag, der vor sich ging. Ich beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen. Im Dorf lagerte auch eine Gruppe von Leuten, die herum zogen und ihr Können demonstrierten. Es ging fröhlich und lustig bei ihnen zu, also gesellte ich mich zu ihnen. Eine alte Frau, die schon mindestens hundert Jahre alt sein müsste, setzte sich neben mich.

"Soll ich dir deine Zukunft aus der Hand lesen?"

Ihre Stimme klang zittrig.

"Können sie das denn?"

Sie sah mich mit Katzenaugen an.

"Aber natürlich, mein Kind."

Sie nahm meine Hand.

"Oh, das ist aber ungewöhnlich. Du hast zwei Lebenslinien. Die eine hört genau dort auf, wo die andere anfängt. Das bedeutet Identitätsverlust. Und ich sehe zwei Männer in deinem Leben. Zwei, auf einmal. Sie bedeuten dir beide sehr viel. Du wirst dich dann für einen entscheiden, doch ich bin mir nicht sicher, ob das der Richtige sein wird."

Ich sprang auf. Genug von dem Blödsinn! Diese Frau wollte mich nur ängstigen. Das würde ich nicht zulassen. Es war still geworden. Der Himmel erhellte sich bereits. Wenn ich allein gehen wollte, musste ich schnell handeln. Die Geschäfte öffneten bereits und ich nahm Kurs auf das Kleidergeschäft. Lauter bäuerliche Sachen für Frauen. Aber nichts Kriegerisches. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er nicht etwas anderes für mich hätte, da kam er mit einem knöchellangen Kleid zurück. Es sah prachtvoll aus. Es war bläulich, mit einem roten Rand am Kleidsaum. Nachdem ich es erhalten hatte, legte ich einen braunen Gürtel mit goldener Schnalle an. Die Ärmel waren lang. Ich bekam goldene Handgelenkschoner und eiserne Schulterschoner mit Goldrand. Sie waren ziemlich schwer.

"Dieses Kleid hat früher einmal einer mächtigen Hexe gehört und ist noch voll Magie."

Der Verkäufer hatte Recht. Ich spürte, wie ihre Kraft in mich überging. Ich legte noch Stiefel an und verließ den Laden. Ich hatte ihn bezahlen wollen, doch er meinte, das wäre nicht nötig. Ich ging weiter zum Wirt. Ich zahlte ihn aus und ließ mir Essen einpacken, das ich mitnehmen würde, sobald ich Anemones Sachen vor ihre Tür gelegt hatte. Ich stieg die Treppe hoch, auf der es mittlerweile dunkler war, als draußen. Leise legte ich die Sachen vor ihre Tür. Ich überlegte, ob ich sie nicht doch wecken sollte. Nein, es war besser so. Unten nahm ich mein Essen entgegen und machte mich auf, zum Schmied. Er begrüßte mich. Nachdem er mein Einhorn nach draußen geführt hatte, fragte er mich, ob er mir noch anderweitig helfen solle. Ich bat um eine Waffe. Er nickte du führte mich in die Schmiede. Die Luft war stickig und heiß. Ich konnte kaum atmen. Er führte mich an Schwertern vorbei, die sehr beeindruckend wirkten. Nun hielt er vor einem Zauberstab an und deutete darauf.

"Dieser Stab wurde bereits vor deiner Geburt bereitgestellt. Sie hat eine gute Wahl getroffen. Ich schenke dir noch zusätzlich diesen Bogen mit Breitkopf-, Feuer-, Wasser- und Lärmpfeilen. Du hast unbegrenzten Vorrat. Der Lärmpfeil macht beim Abschießen ein pfeifendes Geräusch."

Wir verließen den Laden und ich stieg auf mein Einhorn. Vor dem Losreiten fragte ich ihn:

"Ich habe von einem Hexenmeister gehört, der mich ausbilden könnte. Könnten sie mir verraten, wo der wohnt."

"Natürlich. Nimm diesen kleinen Anstecker. In die Richtung, in die er dich zieht, musst du reiten. Er kennt das Ziel, denn er kann in dein Herz sehen."

Ich steckte ihn mir an und hielt kurz inne, bevor ich los ritt.

"Bitte, verraten sie Anemone nicht, wohin ich gegangen bin. Ich will das nicht."

Mit diesen Worten gab ich dem Einhorn die Sporen und galoppierte durch das eben geöffnete Tor. Ich ritt den Befehlen des kleinen Sternahnsteckers nach. Ich kam an eine kleine Lichtung, auf der ein kleines Haus stand. Die Schritte des Einhorns wurden langsamer. Es trabte hin. Ein alter Mann trat nach draußen.

"Kann es sein? Bist du doch zurückgekommen? Und, oh! Wie ich sehe, hat es jemand geschafft, dich zu fangen. Komm zu mir."

Das Einhorn gehorchte aufs Wort. Plötzlich kniete es sich neben den Mann.

"Verflucht! Was soll das? Steh auf!"

"Es wird dir nicht gehorchen. Ich habe es kurz nach der Geburt neben seiner toten Mutter aufgelesen und es aufgezogen. Man könnte fast sagen, sie ist mein Kind."

"So so, wenn sie meinen. Ich muss jetzt weiter zu einem Hexenmeister. Der soll mich unterrichten."

"Dann bist du wohl Felicitas' Tochter."

Ich verstand nicht.

"Keine Ahnung. Ich habe meine Erinnerungen verloren. Das einzige, was ich noch weiß ist, dass ich aus einer anderen Welt komme."

Er lachte auf und plötzlich schien sein Gesicht sich zu verjüngen. Er wurde jünger und jünger. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu.

"Wer sind sie?"

"Entschuldige meine Unhöflichkeit. Ich hätte nicht fragen brauchen. Du gleichst ihr aufs Haar."

Er verneigte sich vor mir. Nichts erinnerte jetzt mehr an den alten, faltigen Mann von vorhin. Er war zu einem gut aussehenden jungen Mann geworden. Meine Kinnlade klappe runter. Er hatte rote Haare, die wirr von seinem Kopf in alle Richtungen abstanden und er war die ganze Zeit damit beschäftigt, sie sich aus dem Gesicht zu streichen. Dabei fiel der Blick unweigerlich auf seine Hände. Sie waren sehr schön und er trug einen Ring, der vollkommen aus Silber war. Er lächelte mich charmant an. Er verbeugte sich wieder vor mir.

"Mein Name ist Nivek."

Ich brachte kaum meinen Mund zu. Diese Stimme war wundervoll. So weich, ein kleines Bisschen rau, doch trotzdem sehr weich. Seine Augen, die ebenso blau waren wie meine, funkelten mich angriffslustig an.

"Ich hoffe, ich darf dich mal testen, wie stark du schon bist."

Noch bevor ich etwas erwidern konnte schleuderte er mir zielsuchende Feuerbälle entgegen. Ich konnte ihnen kaum ausweichen und zerstörte mehrere Pflanzen, indem ich die Feuerbälle auf sie lenkte. Ich kam ins Schwitzen. Was sollte das? Wollte er mich umbringen? Auch wenn es wahnwitzig war, den letzten, der übrig geblieben war, würde ich mit meiner bloßen Hand abwehren. Ich spannte meine Muskeln an. Mit einem Schrei riss ich meine Faust nach vorne und traf die Kugel genau in der Mitte. Ich jaulte vor Schmerz.

"Mist, verreckter."

Meine Hand blutete stark. Ich ging in die Hocke. Ich würde nicht anfangen zu weinen. Den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ich biss die Zähne zusammen. Er kam angelaufen.

"Was war los? Warum hast du nicht gezaubert?"

Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, denn es tat fürchterlich weh.

"Weil ich nicht zaubern kann!"

Unbeabsichtigt hatte ich ihn angeschrieen. Er zuckte zusammen. Ich umklammerte mein Handgelenk und senkte den Blick.

"Tut mir leid. Ich wollte nicht schreien. Aber es tut... so weh."

Ich schluckte und hatte den Geschmack von Blut im Mund.

"Warte, das mache ich schon."

Er nahm meine Hand und legte seine darauf. Ich spürte, wie die Wunde heilte. Zärtlich blickte er auf meine Hand. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit, deshalb riss ich mich los. Schnell richtete ich mich auf.

"Wo ist denn jetzt der Hexenmeister?"

Er blickte beschämt zu Boden.

"Wie soll ich es sagen? Ich bin dieser Hexenmeister. Der Alte ist vor einigen Tagen gestorben und er bat mich, seinen Platz ein zu nehmen. Er hat mir erzählt, dass die Tochter von Felicitas in den nächsten Tagen eintreffen würde. Mit ihr sollte ich mich auf meine Trainingsreise machen. Jetzt bist du da. Wir können los, wenn du willst."

Das waren ziemlich viele Informationen auf einmal. Nur eines wusste ich: Ich wollte so schnell wie möglich hier weg. Falls sich Anemone auf die Suche nach mir begeben würde, würde sie als erstes hier her kommen. Er kratzte sich am Kopf. Da gab es also noch ein Problem. Als ich Nivek ansah, verengten sich meine Augen zu Schlitzen.

"Was ist es?"

"Ich habe kein Reittier."

Das hieß, wir würden zusammen auf einem reiten. Prinzipiell hatte ich nichts dagegen.

"Was sollen wir nehmen? Einhorn oder Drache?"

Seine Augen wurden groß.

"Der... der Drache wäre nicht schlecht."

Ich nickte.

"Onirodim! Komm her!"

Meine Stimme hallte wider. Ich dachte schon, es wäre nur Einbildung gewesen, doch dann hörte ich sein Brüllen. Ich begann zu lächeln. Onirodim Landete auf der Lichtung, obwohl er sich etwas einrollen musste, um keinen Baum zu beschädigen. Wir kletterten auf seinen Rücken.

"Ein Winddrache. Gute Wahl. Wo hast du ihn getroffen. Sie sind doch fast verschwunden, seit die Finsternis ihren Lebensraum verschlungen hat."

"Er hat mich wohl eher gefunden. Es war eine Begegnung mit dem Drachen einer Freundin."

Er schwieg. Onirodim erhob sich. Keiner redete ein Wort. Was war jetzt wieder los? Jungs, ein unbegreifliches Phänomen! Ich wollte irgendetwas sagen, nur damit wir uns endlich wieder unterhielten.

"Wie.. wie alt bist du denn?"

Verblüfft sah er mich an.

"Wie kommst du denn jetzt wieder darauf? Ich bin einundzwanzig. Heute erst geworden."

Peinliche Stille trat ein. Ich suchte ihn meinen Taschen. Ich tastete an meinen Ohren rum. Sie waren glühend heiß, dort wo die Silberohrringe steckten. Bestimmt hatte sich etwas entzündet. Ich nahm sie raus und drehte mich um.

"Hier, alles Gute zum Geburtstag!"

Ich reichte ihm meine silbernen runden Ohrringe.

"Danke, ich mag Silber. Es schützt vor Werwölfen. Wenn sie damit in Berührung kommen erleiden sie schwere Verletzungen."

Schnell ordnete ich Haare vor meine Ohrlöcher. Ich wollte nur keinen falschen Verdacht erwecken. Wieder trat Schweigen ein. Er steckte sich die Ohrringe an. Er sah bezaubernd aus. Ich lächelte ihn an. Er lächelte nicht zurück. Onirodim sank ab und landete auf einer Grasfläche. Sie sah so aus wie die Fläche, auf der ich anfangs gelandet war. Doch hier war alles verdorrt. Die Einhornherde stand unverändert da und graste. Jedenfalls einige von ihnen. Der Drache landete und wir stiegen ab. Wir schlichen uns zur Herde. Die schwarzen Einhörner mit den roten, glühenden Augen ignorierten uns. Von der riesigen Herde waren nur noch drei Stück in der Lage sich zu bewegen. Der Rest war versteinert. Ich fragte mich, was besser war. Versteinert zu sein, oder von irgendeiner bösen Macht kontrolliert und unterjocht zu werden. Ich würde ersteres wählen. Eines der Einhörner hob den Kopf. Nivek riss mich zur Seite ins Gestrüpp. Dornen rissen meine Arme auf.

"Spinnst du? Was soll das?"

"Es hätte dich getötet. Ich mache mir nur sorgen um dich."

"Ach ja. Wer glaubst du, wird das wieder..."

Ich brach mitten im Satz am. Hinter uns war ein Schnauben zu hören. Geräuschvoll atmete jemand.

"Das ist aber nicht sehr freundlich."

Also, allen Ernstes. In so einer Gegend war das durchaus kein gelungener Spaß. Ich drehte mich um und sah die lange, graue Schnauze eines riesigen Wolfen. Mit einem Schrei rannte ich aus dem Gebüsch. Was machte Nivek noch so lange dort drinnen. Warum kam er nicht raus? Ich begann, mir Sorgen zu machen. In hohem Bogen flog der Wolf aus dem Gebüsch, genau auf mich zu. Ich schlug ihn zur Seite. Was das auch immer sollte, ich würde kein leichtes Opfer werden. Ich nahm meine Kampfstellung ein. Der Wolf sprang. Ich streckte meine Hand aus, doch anstatt ihn zu schlagen, kam ein Energiestrahl heraus, der nur noch Staub von ihm übrig ließ. Ich lief zu Nivek und sah, wie dieser gerade, blutend, seine Wunden heilte.

"Was ist passiert? Warum hast du nicht geschrieen?"

"Ich bin doch ein Junge."

Was für eine Erklärung.

"Und deshalb darfst du wohl nicht schreien? Das ist doch lächerlich!"

Ich hatte mir richtige Sorgen gemacht. Ich stand auf und ließ ihn stehen.

"Aber wenigstens hast du dadurch deine Fähigkeit entdeckt. Ist doch auch nicht schlecht, oder?"

Ich blieb stehen. Obwohl er Recht hatte, empfand ich es als eine Dreistigkeit, so etwas zu sagen. Ich drehte ihm den Rücken zu und warf den Kopf in den Nacken. Der konnte seine Aktion ruhig alleine durchziehen. Ich blickte zum Himmel. Schwarzer Rauch verdeckte teilweise die Sicht. Doch eines war klar und deutlich zu erkennen: der blutrote Vollmond. Um ehrlich zu sein, waren es sogar drei. Drei an der Zahl, das war schon ziemlich heftig. Mein Herz klopfte schneller. Meine Haut begann zu kribbeln. Überall juckte es. Ich fühlte, wie sich mein Gebiss und meine Nase veränderten. Meine Nase wurde platter und meine Eckzähne wurden zu Reißzähnen. Ich wollte schreien, doch der einzige Laut, der aus meiner Kehle trat, war lautes Gebrüll, gefolgt von einem markerschütternden Heulen.

Langsam öffnete ich meine Augen wieder. Ich lag flach auf dem Rücken. Nivek saß an meiner Seite, den Rücken zu mir gewand. Er unterhielt sich mit irgendwem. Ich war zu müde, um festzustellen, wer das war. Mir tat alles weh. Ich schloss erneut meine Augen und fiel in einen langen, traumlosen Schlaf.

Langsam öffnete ich meine Augen. Marmor? War ich nicht gerade auf einer verdorrten Wiese gelegen? Und was war davor passiert. Ich erinnerte mich nicht mehr daran. Aber wo war Nivek? Ich richtete mich auf. Meine Hände berührten weichen Samt. Ich lag auf einem riesigen Himmelbett. Wo war ich? Diese Frage wurde immer quälender. Ich stand auf und begann herum zu laufen. Ich ging zum Toilettentisch und sah hinein. Meine Ohren und meine Augen hatten wieder ihre normale Form angenommen. Ich fasste an meine entzündeten Ohren. Das brannte. Meine Füße wurden vom kalten Marmor langsam taub. Die riesige, vergoldete Tür meines Zimmers ging auf. Eine Angestellte trat hinein. Sie sah mich an und sagte mit einem italienischen Akzent auf meiner Sprache: "Oh, sie sind also aufgewacht. Der Herr erwartet sie im Esszimmer. Er würde gern mit ihnen dinieren." Sie verbeugte sich höflich. Ich sah an mir herab. Das weite, tief ausgeschnittene Nachthemd war wohl nicht die rechte Kleidung dafür. Mein Blick fiel auf einen Schrank am Ende des Zimmers. Dort würde ich wohl etwas finden. Ich bewegte mich dort hin. Während meine Füße den kalten Marmor berührten, fiel mir auf, dass es trotz der Tatsachen, dass es draußen stockfinster war und dass sich in diesem Zimmer keine einzige Beleuchtung befand, sehr hell war. Ich öffnete die schweren Eichentüren, die genau so prunkvoll verziert waren, wie die Tür. Darin befand sich eine Auswahl der schönsten Kleider, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Ich griff hinein und holte ein tiefblaues Kleid heraus. Etwas vergleichbar Schönes hatte ich noch nie gesehen. Ich zog es an und es fühlte sich an wie Wasser. Ich setzte mich vor den Toilettenspiegel. Das Mädchen kam zu mir und begann meine Haare zu richten. Sie kämmte mir eine hochgesteckte Frisur. Es sah wirklich gut aus. Doch den letzten Schliff erhielt sie, nachdem Blumen aus Kristall darin steckten. Ich atmete tief durch. Sie legte etwas Schminke auf mein Gesicht. Ich sah in den Spiegel und erinnerte mich selbst an eine Dame aus einem Adelsgeschlecht. Ich richtete mich auf. Mittlerweile hatte ich samtblaue Schuhe mit etwas Absatz angezogen. Die Doppeltür schwang auf und ich trat hinaus, in den dunklen Gang.

Was ist schon ein Kuss?

Meine Schritte hallten wider. Ich konnte nur einige Meter weit sehen, doch eine unsichtbare Lichtquelle zog mich magisch an. Ich musste mich zwingen, ruhig weiter zu gehen. Die Anziehungskraft wurde immer stärker. Ich näherte mich einer Doppeltür. Von Schritt zu Schritt wurde ich immer neugieriger. Wen mochte ich wohl auf der anderen Seite antreffen. Mein Herz begann zu klopfen. Es wurde immer schneller und ich befürchtete, dass es mir jeden Moment aus der Brust springe würde. Die ganze Energie entlud sich mit dem Aufschwingen der Tür. Ein Junge, etwa in meinem Alter, saß am Tischende. Ich kannte ihn. Es war der Junge, den mir die alte Frau gezeigt hatte. Sobald ich das Zimmer betreten hatte, schlossen sich die Türen und er stand auf und bewegte sich in meine Richtung. Er hob meine Hand zu seinem Mund und berührte sie leicht mit seinen Lippen. Sie waren angenehm weich und fast fiebrig warm. Ein leichter Schauer von Erregung durchfuhr mich. Er führte mich zu meinem Stuhl. Ich saß ihm genau gegenüber. Einige Diener brachten Braten mit gebackenen Kartoffeln. Zusätzlich wurde uns Wasser eingeschenkt. Während des Essens sprach keiner. Erst nachdem der Tisch abgeräumt worden war und wir roten Wein erhalten hatten, begann er zu reden. Ich dürfte nicht zu viel davon trinken, denn ich vertrug nicht sehr viel. Er hatte eine weiche, erotische Stimme und sprach nur flüsternd. Dabei musterte er mich genau, als wollte er sich jedes Detail meines Äußeren einprägen. Mir wurde unbehaglich zumute.

"Ich freue mich sehr, dich als meinen Gast begrüßen zu dürfen. Zweifellos fragst du dich jetzt, wie du hier her gekommen bist. Meine Männer hatten von einem Mädchen gehört, dass genau so gut wie ich und mein Vater die Göttersprache beherrscht. Sie fanden dich und die Beschreibung traf sehr genau zu. Deshalb brachten sie dich her. Das Mädchen, das dich frisiert hat heißt Rose und ist von nun an deine eigene Zofe. Aber wie unhöflich. Ich rede hier und du kennst nicht einmal meinen Namen."

Er verbeugte sich erneut und als er sich erhob flüsterte er.

"Moritz, sehr angenehm."

Ein warmer Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich hatte noch nie einen Jungen gesehen, der so gut aussah und dabei so eine Anziehung auf mich ausübte. Er führte mich hinüber zum Kaminfeuer und wir setzten uns gemeinsam auf das Sofa, das davor stand. Es war ein sehr gemütlicher Abend und er erzählte mir viel über sich. Seine Mutter war schon lange tot und sein Vater hatte seitdem eine unbefriedigende Beziehung nach der anderen geführt. Im Moment vergnügte er sich mit einer unbedeutenden Blondine. Ohne jeden Grund versetzte mir das einen Stich ins Herz. Was war bloß los? Verwirrte mich seine Anwesenheit so sehr, dass ich mir irgendwelche Sachen einbildete? Langsam wurde ich müde, obwohl ich erst seit kurzem wach gewesen war.

"Ich möchte mich jetzt verabschieden und zu Bett gehen."

Ich erhob mich lächelnd.

"Natürlich. Es war ein wunderschöner Abend. Ich hoffe, das können wir morgen wiederholen."

Doch anstatt dem erwarteten Handkuss nahm er mich zärtlich in seine Arme und küsste mich. Das war schon zu viel für mich. Ich riss mich los und rannte nach draußen und in mein Zimmer. Mein Herz schlug schnell. Warum benahm ich mich so? Er war ein Gutaussehender Typ und es war mir nicht einmal unangenehm gewesen... Ich setzte mich auf mein Bett. Was nun? Ich ging zum Fenster und der Anblick überraschte mich. Er lebte doch im toten Gebiet. Warum erblühte dann der Garten in allen Farben? Ich beschloss, nach unten zu gehen und mich um zu sehen. Ich stieg die Treppen hinunter und trat durch die offene Tür, die in den Garten führte. Da es bereits sehr spät war, war es auch dementsprechend kalt. Sofort bekam ich eine Gänsehaut. Ich trat auf den kleinen Steinweg hinaus. Es duftete nach Rosen. Ich sah Blumen verschiedenster Art. Bergblumen neben tropischen und der große Teich, den ich bereits sehen konnte, schien mit Seerosen übersäht. Ich ging dort hin und fragte mich, wo ich hier hinein geraten war. Ich hielt die Fingerspitzen ins Wasser. Hinter mir hörte ich Schritte. Ich drehte mich um und erblickte Moritz. Meine Wangen wurden rot.

"Ich hoffe, ich habe dich mit dem Kuss nicht überrumpelt. Du schienst sehr verwirrt."

Ich lachte. Er lächelte und das brachte mich nur noch mehr in Verlegenheit. Er war es tatsächlich wert, ein Gott zu sein. Diese Ausstrahlung. Ich stand auf. Plötzlich begann der Boden zu beben. Ich konnte kaum stehen und klammerte mich an Moritz. Dieser schlang seine Arme um mich und ich fühlte mich beschützt. Ein riesiger Drache schnellte nach oben und dicht an unseren Köpfen vorbei und landete nur wenige Meter von uns entfernt. Er ließ ohrenbetäubendes Gebrüll verlauten. Moritz schob mich hinter sich. Doch ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, beschützt zu werden. Ich wollte ausbrechen. Aber warum ausbrechen? Was war das für ein Gefühl? Ein weiterer Drache schnellte her. Er stellte sich zwischen Moritz und dem Drachen. Es war ein smaragdgrüner Drache, Onirodim. Zum Glück! Ich packte Moritz am Arm und zog ihn zur Mauer. Ein harter Kampf zwischen Onirodim und dem anderen Drachen begann. Wir liefen zur "Gartenmauer" und kletterten drüber. Dabei zerriss ich mein Kleid, doch das war nicht so wichtig. Auf der anderen Seite wartete bereits das Einhorn, mit den Hufen scharrend auf mich. Ich nahm es an den Zügeln. Doch sobald Moritz in die Nähe kam, begann es zu scheuen. Was sollte das? Ich hielt die Zügel fester, damit es nicht Reißaus nahm und bot Moritz an, auf zu steigen. Er schüttelte den Kopf und pfiff eine Melodie. Eine Weile später trat ein schwarzes Einhorn zu ihm. Er schwang sich elegant in den Sattel, nachdem er mich in meinen gehievt hatte. Wir ritten so schnell wir konnten. Hinter uns hörten wir gelegentlich noch ein tiefes Grollen vom Schloss her. Hoffentlich würde Onirodim es schaffen, doch ich mache mir keine Sorgen um ihn. Er würde es bestimmt schaffen. Ich erinnerte mich an Niveks Aussage, dass sich die Behausungen der Drachen im toten Gebiet lagen. Doch wo waren sie? Ich hatte also weder Ahnung noch eine Landkarte. Es blieb mir jedoch nichts anderes Übrig, als in die nächste Stadt zu gehen und dort eine zu kaufen... Kaufen? Moment, ich hatte doch gar kein Geld. Mir fiel gerade auf, dass ich bisher nur einmal bezahlt hatte und das mit Anemones Geld. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte ich sie nicht zurückt lassen sollen. Sie ist mit den Bräuchen hier noch mehr vertraut als ich. Und ich um ehrlich zu sein überhaupt nicht. Ich betrachtete Moritz' Rücken, der vor mir ritt. Ich wusste nicht einmal etwas über ihn. Ich wurde Misstrauisch. Bei unserem Gespräch, schien er bereits alles über mich zu wissen. Wieso ritt er auf einem schwarzen Einhorn? Mir wurde etwas unbehaglich. Er schien meine Blicke gespürt zu haben, denn er drehte sich zu mir um und lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Worüber hatte ich noch mal nachgedacht? Ich wusste es nicht mehr. War wohl bestimmt nicht wichtig. Ich musste mir jetzt zu allererst darüber im Klaren werden, wie ich zu Geld kommen könnte. Es wäre optimal, wenn ich jetzt einen Schatz oder so finden würde. Meine Finger tasteten noch einmal nach der entzündeten Stelle an meinem Ohr. Da fiel mir plötzlich etwas ein.

"NIVEK! WO IST ER!?"

Ich ließ das Einhorn halten. Es stampfte ungeduldig auf.

"Wo ist er? Wo - ist - er!?"

"Wer denn?"

Moritz hatte auch angehalten und drehte sein Einhorn.

"Jetzt beruhige dich erst und dann sagst du mir, von wem du da überhaupt sprichst."

Ich atmete ein paar Mal tief durch.

"Kevin. Er war bei mir bevor ich in dein Schloss gekommen bin. Er hatte rote Haare, die in alle Richtungen abstehen."

"Ach, du meinst den mit der Sturmfrisur? Ja, der ist in meinem Kerker. Als wir dich gefunden haben, war er auch dort. Er hat sich gegen die Wachen aufgelehnt, obwohl sie ihm gesagt haben, dass keinem von euch beiden etwas passieren wird. Nun, er wird vermutlich noch im Schloss sein."

Ich erstarrte. Ich kannte Nivek zwar genau so wenig wie Moritz, doch ich konnte ihn nicht zurück lassen. Das Grollen war durch die Entfernung zwar leiser geworden, doch es hatte nicht aufgehört. Die Einhörner wurden nervös. Ich glaube, sie können tatsächlich deine Gedanken lesen. Meines ließ sich nur widerwillig drehen, doch sobald ich ihm die Hacken in die Seite gerammt hatte, schoss es davon wie der geölte Blitz. Dass ich mich dem Schloss näherte, verriet mir das immer laute werdende Geheul. Inzwischen hatte Moritz mich eingeholt.

"Was willst du? Geh weg! Das ist meine Sache!"

"Ja, ne, schon klar. Ich will dir nur helfen oder weißt du etwa, wo sich der Kerker befindet? Warum bist du überhaupt auf einmal so zickig? Was hab ich gemacht?"

"Was du gemacht hast? Was du... gemacht... hast!? Wie konntest du ihn nur einsperren!? Ich akzeptiere ja, dass er sich gewehrt hat und du das nicht durch gehen lassen konntest aber warum hast du mir nicht einmal bescheid gesagt???"

Ich schwieg und schaute mürrisch nach vorne. Die Mauern kamen in Sichtweite. Als wir angekommen waren, riss ich hart an den Zügeln des Einhorns und sprang herunter. Moritz hob mich über die Mauer und kletterte selbst hinterher. Ich drehte mich zu ihm und verpasste ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Er starrte mich verständnislos an. Ich runzelte die Stirn.

"Wehe du guckst mir noch mal unter den Rock!"

Mit diesen Worten sprang ich von der Mauer. Ich lief auf die kämpfenden Drachen zu. Onirodim hatte sich gut gehalten, doch nun war ich dran. Ich krempelte die Ärmel hoch. Ich richtete meine Handflächen in Richtung des angreifenden Drachen. Blauer Strahl strömte auf ihn zu. Für einen Augeblick stand er eingefroren in der Luft und begann dann zu schrumpfen bis er nur noch so groß war wie eine Eidechse. Ich wollte zu Onirodim gehen und ihn untersuchen. Aber Moritz hielt mich fest. Ich sah ihn wütend an. Was oll das? Was glaubt er, wer er ist? Irgendwie hatte ich das Gefühl, als hätte ich das bereits einmal von ihm gedacht. Meine Gedanken wurden unterbrochen von einem tiefen und dunklen Knurren. Es drang aus Onirodims Kehle. Er wandte mir seinen Kopf zu. Er hatte einen riesigen Kratzer auf der Stirn, die ganze Schnauze entlang. Die Wunde blutete sehr stark. Eine schleimige grüne Flüssigkeit trat aus der Wunde. Sein Kopf war überströmt davon. Doch was mir mehr Sorgen bereitete war das rote leuchten seiner Augen. Die Dunkelheit hatte ihn. Nun wandte er mir seinen ganzen Körper zu. Er war übersäht mit Wunden. Er stieß einen Furchterregenden Schrei aus und stieß mir eine Windböe entgegen, die bitterlich kalt war. Mir wurde wärmer. Moritz hatte mich in seine Arme genommen und find die ganze Kälte ab. Er atmete durch den Mund und sein Atem gefror in der Luft. Ich riss uns beide zur Seite. Er keuchte etwas.

"Du musst die große Treppe ganz nach unten laufen, ohne abzubiegen. Sie wird nach unten hin immer schmäler werden. Sobald du an ihrem Fuß angekommen bist musst du zweimal nach rechts laufen und dann am Ende des Ganges ist seine Zelle. Dort muss er sein. Ich bleibe hier und halte die Stellung."

Während er mir alles erklärte, war Onirodim näher gekommen. Langsam wurde es gefährlich. Ich sprang auf und wollte gerade hoch laufen.

"Penelope!"

Ich hielt an und drehte mich Moritz zu. Er stützte sich auf sein Knie. Onirodim kam näher. Der Boden bebte leicht. Moritz richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

"Du kommt doch zurück, oder?"

Ich lächelte und nickte ihm aufmunternd zu. Er grinste.

"Gut!"

Mit einem markerschütternden Schrei stürzte er auf Onirodim zu und schleuderte ihm Feuerbälle entgegen. Ich war sehr überrascht. Moritz schaffte es, mit einem Salto über Onirodims Kopf zu springen und hinter ihm zu landen. Er war wirklich unglaublich. Onirodim drehte sich nach hinten und schnappte nach ihm. Ich drehte mich um und lief los. Die Haupttreppe hinunter. Sie wollte kein Ende nehmen. Nach einer Weile wurde sie aber tatsächlich merklich enger. Zum Schluss war sie so eng, dass ich selber kaum noch durchpasste. Ich zwängte mich voran, bis zu einer Holztür, die mit Eisen beschlagen war. Ich drückte die Klinke nach unten. Mist! Abgesperrt! Ich stemmte mich leicht dagegen. Die Tür gab nicht nach. Also gut, dann eben mit Gewalt. Ich nahm mehrere Schritte Anlauf, rannte los und brach durch die Tür. Das Kleid wurde an der Schulter aufgerissen. Damit war es wohl endgültig kaputt. Ich sprang auf und wollte loslaufen, doch ich fiel wieder auf die Knie. Das Schloss bebte. Der Kampf draußen war wohl ziemlich hart. Ich bezweifelte, dass Moritz noch lange standhalten würde. Ich sprang auf und versuchte trotz des bebenden Bodens zu rennen. Zweimal nach rechts hatte er gesagt. Da war die erste Kurve. Ich lief, so schnell mich meine Füße tragen konnten. Ich wollte gerade die zweite Kurve nach rechts nehmen, da stieß mich jemand um. Ich fiel auf meine Hüfte und der andere Jemand landete auf mir. Ich stieß ihn weg.

"Was soll das?"

"Hey, hey, bloß nicht aufregen! Ich habe dich genau so wenig gesehen wie du mich!"

Das war Nivek. Ich fiel ihm um den Hals.

"Zum Glück! Ich wollte dich gerade da raus holen. Wir müssen hier weg!"

"Das sehe ich genau so. Kennst du den Weg?"

"Na klar! Mir nach!"

Er packte meinen Oberarm und hob mich hoch, als würde ich nichts wiegen. Wir liefen so schnell ich konnte.

"Hier geht's raus!"

Ich deutete auf die Tür, die ich aufgebrochen hatte. Er lachte und meinte:

"Das ist kaum zu übersehen!"

Wir traten über die Holzstücke und betraten die Haupttreppe. Doch wir erlebten eine böse Überraschung. Denn jetzt begannen Felsbrocken von der Decke zu fallen. Wir liefen noch schneller, was bestimmt durch das Adrenalin bedingt war. Wir traten ins Freie. Zwar nicht durch die Tür, durch die ich rein gekommen war. Doch das zwei Meter große Loch in der Wand war auch ganz gut. Mittlerweile kämpfte Onirodim nicht mehr. Er hatte sich daran gemacht, das Schloss zu zerstören. Wo war Moritz bloß? Ich konnte ihn nicht entdecken. Es war so finster. Doch bei jedem Windstoß, den Onirodim durchführte, leuchtete für einen kurzen Moment grünes Licht. Da entdeckte ich ihn. Er lag unter einem Pfirsichbaum und war blutüberströmt. Ich lief besorgt hin und schüttelte ihn.

"Moritz? Moritz!? MORITZ!?"

Ich schüttelte ihn, doch er wachte nicht auf. Nivek stand hinter mir und musterte ihn abwertend.

"Den willst doch nicht etwa mitnehmen?"

Ich sah ihn an und aus irgendeinem Grund standen mir Tränen in den Augen. Er rümpfte über Moritz die Nase.

"Du musst wissen, was du tust."

Mit diesen Worten drehte er sich um und lief auf das Loch zu wo die zwei Einhörner regungslos gewartet hatten. Ich hob Moritz auf meinen Rücken. Er war schwerer, als der Anschein vermuten ließ. Nivek saß bereits auf meinem Einhorn und wurde ungeduldig. Ich legte Moritz auf den hinteren Teil seines Einhorns und schwang mich dann in den Sattel. Onirodim hatte von dem Schloss, von dem beinahe nur noch die Grundmauern übrig waren, abgelassen und steuerte auf uns zu. Wir gaben beide den Einhörnern die Sporen und in wenigen Minuten hatten wir das tote Gebiet verlassen. Ich hatte große Mühe, auf dem Einhorn zu bleiben, denn mit einer Hand hielt ich Moritz fest, damit er nicht runter fiel. Wir ritten erst einmal zurück zu Niveks Haus. Ich hatte große Mühe, Moritz nach drinnen zu bringen, denn die Tür war sehr klein und schmal und Moritz war während dem Ritt nicht leichter geworden. Endlich hatte ich ihn ins Bett gelegt und zugedeckt. Ich lief in die Küche.

"Hast du eine Schüssel?"

"Unter dem Waschbecken", erwiderte Nivek mürrisch und sah wieder zum Fenster raus.

Ich nahm mir eine große Schüssel und füllte Wasser hinein. Ich schwankte zu Moritz' Bett zurück. Die Wasserschüssel stellte ich auf dem Boden ab. Ich riss ein Stück Stoff aus meinem Kleid. So wie es jetzt aussah, hatte ich keine große Mühe dabei. Ich tauschte den Stoff ins Wasser und wusch seine Wunden aus. Mittlerweile war Nivek hinter mich getreten.

"Also jetzt mal ehrlich! Ich hätte niemals gedacht, dass jemals SO EINER in meinem Haus ist!"

Meine Hand verkrampfte sich. Das war nicht fair. Er kannte ihn doch gar nicht. Vorsichtig tupfte ich eine Wunde an seiner Wange ab.

"Und du kümmerst dich auch noch um so jemanden. Du weißt doch gar nicht, wer er ist!"

Ich schleuderte den Waschlappen in die Schüssel, sodass sie umfiel. Das Wasser verteilte sich auf dem gesamten Boden.

"Aha, ich kenne ihn also nicht, meinst du. Ich hatte genügend Zeit ihn kennen zu lernen. Er ist ein sehr netter Mensch! Und wenn du es genau wissen willst, habe ich schon mit ihm in einer Wohnung gelebt, bevor ich diese Welt überhaupt gekannt habe."

Ich brach ab. Was hatte ich da gesagt? Ich... das war ein Stück Erinnerung aus meiner Vergangenheit gewesen. Ich hatte mit ihm zusammen gewohnt? Ja, ich erinnerte mich an eine Szene. Wir saßen auf einem Sofa und haben diskutiert. Nur worüber? Es fiel mir nicht ein. Ich bekam Kopfschmerzen. Nivek blickte auf die Seite. Er murmelte kaum merklich:

"Das weiß ich doch."

Ich riss die Augen auf.

"Was? Du... weißt es? Aber... woher?"

Er griff neben sich auf ein Regal und zog ein Buch heraus. Aus diesem holte er etwas, das in Plastik eingeschweißt war. Er hielt es mir entgegen.

"Kevin O'Brian. Geboren am 17.09. in Plymouth, England."

Mir traten fast die Augen aus den Höhlen. Er kam aus MEINER Welt. Moritz auch. Doch warum hatte mir keinen von ihnen mir das gesagt? Mir wurde langsam bewusst, dass Moritz es mit absichtlich verschwiegen hatte, denn er hatte mich so behandelt, als ob wir uns noch nie zuvor gesehen hätten. Aber wahrscheinlich hatte auch er sein Gedächtnis verloren.

"Nein, es ist nicht so wie du denkst."

Kevin neben mir meldete sich zu Wort.

"Hast du etwa? Kannst du etwa?"

Er lachte etwas belustigt.

"Nein, ich kann deine Gedanken nicht lesen, aber man muss kein Genie sein, um die Unzusammenhängenden Brocken, die du von dir gegeben hast, zu einem Ganzen zusammen zu fügen. Er kann sich an alles erinnern. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Du hast das tote Gebiet selbst gesehen. Alle Tiere dort sind nicht von Anfang an so gewesen. Sie sind erst böse geworden."

Er streckte seinen Arm nach vorn und deutete auf Moritz.

"Und der Schuldige liegt dort. Es hatte genau eine Woche vor seiner Ankunft angefangen. Dieses Schloss in dem er gewohnt hatte, hatte begonnen, sich selbst zu bauen. Der Boden darunter hatte gebebt. Dieser wundervolle Schlossgarten, den du bestimmt zweifellos gesehen hast, ist dadurch entstanden, dass die Pflanzen darin denen außerhalb des Gartens die Energie ausgesaugt hatten Eine Woche nachdem das alles begonnen hatte, war er vom Himmel genau auf den Marktplatz unserer Hauptstadt gefallen. Von Anfang an, hat er nur Ärger gemacht. Er hatte sich bei dem Sturz den Arm verstaucht. Doch niemand konnte ihn verarzten. Jedes Mal als sich ihm jemand näherte schossen Blitze aus seinem Körper und verwundeten den Anderen schwer. Wenige Tage später kam ein Mann an, den jeder als "Gott" verehrte. Seitdem war er in dem Schloss und die Finsternis, wie es die Leute hier nennen, hatte begonnen sich schneller zu verbreiten, als je zuvor. Das was sich hier so unaufhaltsam verbreitet ist keine Finsternis. Nein, ganz sicher nicht. Es ist der pure Verfall und niemand kann etwas dagegen ausrichten."

Er sprach sehr ernst und wurde immer ärgerlicher. Das war erst einmal zu viel für mich. Ich konnte kaum glauben, dass Moritz der Ursprung der ganzen Situation sein sollte.

"Und was ist deine Aufgabe hier? Zweifelsfrei kommst du nämlich aus meiner Welt."

Er lachte wieder. Wagte dieser Typ es tatsächlich, mich aus zu lachen?

"Ich bin sozusagen der lange Arm des Gesetzes der echten Gottheit dieses Planeten. Die Gottheit des Lebens und des Todes, des Erfolgs und Misserfolgs, der Jugend und des Alters. Es ist der Gott Kismu. Er ist schon seit mehreren Jahrhunderten in Vergessenheit geraten. Doch er hat sein Volk nicht vergessen. Er kümmert sich weiter darum. Doch als dieser neue Gott aufgetaucht ist, wurde er sehr wütend. Er sah auch, dass das Land begann zu sterben. Er trug mir auf, den Ursprung dieses Leids entweder fort zu schicken. Falls dies nicht funktionieren sollte, soll ich ihn töten. Weißt du, warum ich eingesperrt gewesen bin?"

Ich zögerte.

"Weil... du dich gegen die Wachen gewehrt hast?"

"Nein. Ich habe ihm gesagt, wer ich bin und dass ich ihn kenne. Er wurde wütend und sagte, er habe nichts damit zu tun und es sei eine gemeinte Lüge. Ich wollte ihn bannen, doch seine Wachen waren bereits angekommen und sperrten mich ein."

Seine Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen und sein Blick verdüsterte sich.

"Dieses Selbstgefällige Grinsen auf seinem Gesicht werde ich wohl nie wieder vergessen!"

Er sah aus, als würde er sich jeden Moment auf Moritz stürzen und ihn erwürgen. Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Und mit einem Mal hatte ich die Idee. Ich klatschte begeistert in die Hände.

"Soll das heißen, dass du beliebig zwischen dieser und meiner Welt hin und her reisen kannst?"

Er nickte, den Blick immer noch auf Moritz geheftet. Ich wollte irgendetwas sagen, ihn irgendwie verteidigen. Doch mir fiel nichts ein. Es sprach alles gegen ihn. Kevin war an sein Bett getreten.

"Ich werde den Auftrag von Kismu hier und jetzt erledigen. Er ließ einen, ungefähr 30 Zentimeter, langen Eiskristall erscheinen. Sein Arm schnellte nach unten und mit ihr der Kristall. Geistesgegenwärtig griff ich nach der Schüssel und hielt sie vor Moritz. Der Kristall bohrte sich durch die Schüssel und blieb nach einem Drittel stecken. Meine Hand begann zu zittern. Glücklicherweise hatten mich meine Reflexe nicht im Stich gelassen. Sonst wäre ich wohl zu langsam gewesen. Ich schleuderte Schüssel, samt Kristall quer durchs Zimmer. Die Schüssel war gänzlich gefroren und zerbrach, sobald sie auf der Wand auftraf. Kleine Eissplitter landeten auf dem Boden.

"Du wirst ihn nicht töten. Das werde ich nicht zulassen! Niemals!"

Ich sprang auf.

"Und wenn du noch ein einziges Mal versuchen solltest, ihm etwas an zu tun, dann denk daran, dass du als aller erstes mich töten müsstest. Und ich werde es dir nicht leicht machen."

Er sah mich an und zog eine Augenbraue hoch.

"Ist das dein letztes Wort?"

Kurzes Schweigen. Mein Blick wanderte durch das Zimmer, streifte Moritz und kehrte dann wieder zu Kevin zurück.

"Ja."

Meine Stimme klang sicherer als ich mich fühlte. Er machte eine kurze angedeutete Verbeugung.

"So sei es. Ich hoffe, du bereitest dich auf unseren Kampf gut vor. Denn es geht um Leben oder tot. Du kannst hier bleiben, mit ihm. Ich werde keinem von euch etwas tun. Doch sobald deine Kraft vollkommen erwacht ist, werde ich angreifen. Glaub bloß nicht, dass ich Skrupel davor habe, dich zu töten. Du bist nämlich nicht die Erste und wirst bestimmt auch nicht die Letzte sein."

Mit diesen Worten ließ er mich stehen, verließ das Zimmer und warf die Tür ins Schloss. Also so was! Jungen! Aus denen werde mal einer schlau! Ich kratzte mich am Hinterkopf. Dabei sieht er gar nicht wie jemand aus, der über Leichen geht. Ich setzte mich auf die Bettkante. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Hintern vollkommen durchnässt war. Ich stand auf. Pfui. Ich hatte den Impuls, mein Amulett nach vorne zu halten und "Zauberbuch" zu rufen. Genau das tat ich auch. Zu meinem Erstaunen schwebte genau vor mir tatsächlich mein Zauberbuch. Ich nahm es in die Hand und blätterte lustlos darin herum. Ich fand einen Zauber, mit dem ich mir neue Anziehsachen zaubern konnte. Dummerweise hatte ich meinen Zauberstab verlegt. Aber ich hatte eine Idee. Ich tat genau das gleiche wie mit dem Zauberbuch vorhin. Mehr als blamieren konnte ich mich ja nicht. Und siehe da, der Zauberstab erschien tatsächlich. Ich lachte hysterisch. Wahrscheinlich träumte ich das jetzt alles bloß! Sofort zauberte ich mir eine Jeans, ein T-Shirt, Socken und Turnschuhe. Sollten doch alle wissen, woher ich komme! Ich nahm die Sachen auf den Arm. Wo sollte ich mich nur umziehen? Moritz war zwar nicht bei Bewusstsein, aber dennoch männlich. Ich sah mich verzweifelt um. Keine Möglichkeit. Es klopfte an der Tür.

"Herein!"

Kevin trat durch die Tür. Er runzelte immer noch die Stirn.

"Wenn du dich waschen willst oder so, ein paar Meter tiefer im Wald gibt es einen Fluss, in dem du dich waschen kannst."

Mein Blick ging automatisch Richtung Moritz. Kevin lachte höhnisch.

"Keine Sorge. Ihm passiert nichts. Wir haben doch eine Abmachung."

Er ging in die Knie und begann, das Wasser vom Boden zu wischen. Ich beschloss einfach, ihm zu vertrauen. Er lügt mich bestimmt nicht an. Ich legte meine Anziehsachen neben Moritz aufs Bett und kniete mich hin. Ich wollte Kevin helfen, doch dieser hob nur abwehrend die Hand.

"Geh du dich lieber waschen."

Ohne Widerworte erhob ich mich, nahm meine Sachen und verließ das Haus. Kevin hatte Recht, es gab tatsächlich einen Fluss, doch Fluss war leicht übertrieben. Es war viel mehr ein "Flüsschen". Ich hob den Rest meines Kleides an und stieg hinein. Kaltes Wasser umspülte meine Füße. Es war sehr erfrischend. Wieso setzte ich mich so für Moritz ein? Ich schloss meine Augen, damit ich das Rauschen des Baches an meinen Füßen spüren konnte. Warum schrecken mich die Sachen, die Kevin mir erzählt hat nicht ab? Warum glaube ich so felsenfest an seine Unschuld? Warum will ich diese denn unbedingt beweisen? Ich frage mich, was für ein Mensch Moritz tatsächlich ist. Wenn ich mich bloß an mein früheres Leben erinnern könnte. Dann wüsste ich es wahrscheinlich. Ich öffnete die Augen wieder und ging zum Ufer zurück. Ich wusch mir das Gesicht, die Hände, die Arme, die Beine. Das Abenteuer in Moritz' Schloss hatte nicht nur das Kleid in Mitleidenschaft gezogen. An Schultern, Beinen und Armen hatte ich viele kleine Wunden. Ich wusch das bereits getrocknete Blut ab. Was ist, wenn Moritz doch schuld ist? Warum hat er mir nicht erzählt, dass er mich schon kennt? War dann der Kuss, den er mir gegeben hatte dann auch nicht ernst gemeint. Abwesend fasste ich an meine Lippen. Wenn ich an den Kuss dachte, kribbelten sie. Meine Wangen röteten sich. Was denke ich da eigentlich? Ich schüttelte meinen Kopf um jegliche Gedanken dieser Art zu vertreiben. Die Sonne neigte sich. Ich nahm meine frischen Sachen und zog sie schnell an. Ich ließ mich auf den Rücken fallen.

"Puh! Ob ich wohl in der anderen Welt einen Freund hatte? Vielleicht sogar Moritz?"

Ich kicherte. Das schien unwahrscheinlich. Hm, und meine Familie? Bestimmt hatte ich einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester. Wir waren bestimmt eine richtige Bilderbuchfamilie. Ich musste wieder lachen. Eine Bilderbuchfamilie, so was gab es doch bestimmt gar nicht mehr. Oder? Ich wusste gar nichts von der Welt, in der ich 17 Jahre lang gelebt hatte. Warum fühle ich mich Moritz so verbunden? Warum bleibt jeder zweite Gedanke an ihm hängen? Hat es vielleicht nur damit etwas zu tun, dass er der Einzige ist, der mir etwas über mein früheres Leben erzählen kann? Nein, es hat schon angefangen, bevor ich es wusste. Ist es wegen dem Kuss? Ich betrachtete mein Spiegelbild im Wasser. Fühle ich mich ihm nur wegen einem Kuss so verbunden? Ich ließ mich erneut auf den Rücken fallen. So viele Fragen und keine einzige Antwort. Ich schloss die Augen. Meine Mama. Ob sie mir ähnlich sah? Vielleicht träume ich ja mal von ihr...

Auf dem Weg zum Schloss

Lange schwarze Haare, die im Sommerwind wehen. Auf einer blühenden Wiese voll mit Mohn, Löwenzahn und vielen anderen wunderbar duftenden Blumen. Sie pflückte mehrere und band sie zu einem riesigen Strauß zusammen. Sie strich sich die Haare nach hinten und flocht sie zusammen. Nun konnte man das Gesicht erkennen. Die hatte helle, blaue Augen.

"Penelope!"

Ihre Stimme war weich. Sie klang sehr vertraut.

"Penelope! Geh nicht zu nah ran! Das ist ein magisches Portal! Du fällst in die andere Welt! Penelope! Ich hab dir gesagt, du sollst... Penelope? Penelope!"

Sie sprang auf und lief zum Portal, doch es hatte sich verschlossen.

"PENELOPE!"

Was ist los? Warum rufst du mich? Ich bin doch hier. Hier. Genau hinter dir. Dreh dich um, dreh dich doch um! Ja, genau! Jetzt siehst du mich! Oder? Oder etwa nicht? Warum weinst du? Es ist auf einmal alles so dunkel. Bleib hier. Geh nicht weg. Ich hatte dich doch endlich gefunden! Bleib bei mir! Ich will dich nicht verlieren. Nicht noch ein zweites Mal! Mutter!
 

Ich riss meine Augen auf. Mutter! Ich lag auf einer Wiese. Es war stock finster. Ich stand auf.

"Bin wohl eingeschlafen."

Ich machte mich auf den Weg. War das wirklich meine Mutter? Sie hat mir ZU ähnlich gesehen. Vielleicht war es pures Wunschdenken gewesen. Die Lichter der Hütte kamen in Sicht. Ob Moritz wohl immer noch bewusstlos war? Ich trat ein. Der Geruch von Hühnersuppe trat mir entgegen.

"Bin wieder da!"

Kevin steckte den Kopf durch die Tür.

"Aha. Komm, es gibt gleich Essen. Du solltest Moritz wecken. Er ist schon einmal aufgewacht, hat sich dann aber wieder hingelegt."

Ich zog eine Augenbraue hoch und stapfte zu "meinem" Zimmer. Ich hämmerte dagegen. Die Tür sah sehr robust aus.

"Ja."

Er klang etwas mürrisch. Ich trat ein.

"Na, geht's dir besser?"

Er holte Luft, doch ich ließ ihn nicht antworten, sondern kniff ihm in die Wangen.

"Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mich kennst? Du hättest mir helfen können, mich wieder zu erinnern."

Ich ließ los und ging zu Tür. Er rieb sich die Wange. Sie war stark gerötet und ich musste schadenfreudiges Gelächter unterdrücken. Ich drückte die Tür ins Schloss, weil ich der Festen Überzeugung war, dass Kevin diese Unterhaltung nichts angehen würde. Er sah schuldbewusst zur Seite.

"Hast du mich nicht gehört? Warum? Sag es mir doch endlich!"

Er runzelte die Stirn. So würde ich wohl nie eine Antwort bekommen. Ich wollte gerade anfangen, auf ihm herum zu hacken, als er begann zu sprechen.

"Es ist nicht so, dass ich es dir aus Bösartigkeit verschwiegen habe. Ich will dich auch nicht von der anderen Welt fernhalten. Bis auf die eine Sache..."

Er presste die Lippen zusammen. Wir schwiegen uns an. Ich wartete ungeduldig. War das schon alles oder kam da noch etwas? Wieder schweigen. Ich seufzte.

"Und was ist mit der Finsternis?"

Er drehte den Kopf so schnell, dass es knackte. Er legte eine Hand an den Nacken und rieb ihn.

"Was meinst du? Was soll damit sein?"

Ich schüttelte den Kopf. War er etwa so begriffsstutzig oder tat er nur so? Ich zwang mich ruhig zu bleiben.

"Kevin - er hat gesagt, dass du - schuld an der Finsternis - bist. Kapiert!?"

"Das stimmt nicht. Ich weiß, dass es schwer ist, mir einfach zu glauben. Und ich weiß auch, dass alles gegen mich spricht. Aber bitte, du musst mir glauben!"

Unwillkürlich runzelte ich die Stirn. Was sollte ich jetzt tun?

"Eigentlich sollte ich dir auf ewig böse sein und dir nie wieder ein Wort glauben. Ehrlich gesagt weiß ich nicht wieso, aber ich glaube dir."

Ich sah aus dem Fenster. Die Tür öffnete sich und Kevin stand da.

"Wenn ihr euch eventuell vielleicht mal dazu herablassen würdet, zum Essen zu kommen."

Schon war er wieder verschwunden. Ich ließ den Kopf hängen.

"Wie auch immer. Lass uns gehen."

Er stand umständlich auf und schien dabei große Schmerzen zu haben. Ich wollte ihm schon meine Hilfe anbieten, doch da fiel mir wieder ein, dass er mich belogen hatte. Ich wartete darauf, dass er bei mir in der Tür stand. Er legte mir die Hand auf die Schulter.

"Sorry, das Bein tut ziemlich weh. Und die Seite hat's auch in sich."

Bedrückendes Schweigen.

"Kann ich mich auf dich stützen?"

Das hatte ich nicht erwartet. Ich wurde ein bisschen rot.

"Ja, kein Problem."

Wie ärgerlich! Warum werde ich jetzt rot? Mist! Er stützte sich tatsächlich auf mich und ich fiel erst einmal gegen die Tür. Es war wohl etwas anderes, jemanden auf dem Rücken zu tragen oder jemanden zu stützen. So humpelten wir beide mehr oder weniger in die Küche. Kevins Lippen wurden schmal. Moritz ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ich setzte mich ebenfalls hin. Die Hühnchensuppe schmeckte sehr gut und der Braten war auch ganz annehmbar. Aber ich war mit den Gedanken bei anderen Dingen. Wenn Moritz nicht der Schuldige war, wer dann? Und wieso dieser Verfall? Wer war verantwortlich dafür und wieso tat er so etwas? Lachen. Ich blickte verdutzt auf.

"Sie macht es schon wieder."

"Was? Was? Was?"

Was war los? Was hatte ich verpasst?

"Immer wenn sie nachdenkt, redet sie etwas vor sich hin und merkt das nicht einmal."

Ich ärgerte mich. Das war durchaus nicht komisch. Ich machte mich doch auch nicht über SEINE Schwächen lustig.

"Na, herzlichen Dank auch."

Ich stand auf und ging. Ich warf die schwere Tür so gut es ging zu und versuchte dabei möglichst viel Lärm zu machen. Der braucht gar nicht lachen! GRRRRRR! Da klopfte jemand an die Tür.

"Was?"

Langsam ging die Tür auf.

"WAS IST!?"

Moritz stand stramm.

"Bist du jetzt böse?"

Er sah mich an wie ein Hund, den man in den strömenden Regen hinaus geschickt hatte. Ich drehte meinen Kopf zur Seite.

"Sieh mich nicht so an."

Es entstand ein peinliches Schweigen. Wie peinlich! Als wären wir erst dreizehn Jahre alt. In diesem Fall werde ich einfach meine übliche Taktik anwenden. Ich begann hysterisch zu lachen. Er sah mich an, als hätte er einen Geist gesehen.

"Ich schätze mal, das heißt, du bist mir nicht mehr böse."

Ich wollte ihm eine gehörige Standpauke halten, dass echt nicht toll gewesen war, was er gemacht hat. Denn wenn jeder das machen würde was er will und niemand auf die Anderen Rücksicht nehmen würde, würde die ganze Welt in Chaos versinken. Die alte Leier. Aber, wie sollte es auch anders sein, ich kam nicht mehr dazu. Die Seitenwand, die nach draußen führte, stürzte ein. Draußen stand Anemone. Ich war leicht verstört. Sie spannte einen Pfeil in ihren Bogen ein und zielte auf Moritz. Sie hielt ihren Blick immer auf ihn geheftet.

"Geh weg von ihm! Er ist gefährlich!"

"Was!?"

Meine Stimme überschlug ich. Das konnte doch nicht wahr sein. Waren jetzt alle verrückt geworden?

"Ich sage es nicht noch einmal. Geh weg. Ich soll ihn beseitigen."

Ich ging langsam zu Moritz und stellte mich vor ihn. Das wollten wir ja erst einmal sehen.

"Ich denke doch nicht mal dran. Bevor du ihn tötest musst du mich erst töten. Was soll das alles? Ich dachte, er ist euer Gott!"

Moritz blieb die Sprache weg.

"Also, hallo? Hört mir mal einer zu? Was tut ihr da eigentlich? Geht es hier nicht um mich? Penelope, jetzt mal im ernst: Ich bin alt genug und kann auf mich selbst aufpassen?"

Verblüfft sah ich ihn an. Er hatte Recht! Er hatte Recht! Nun gut! Ich hatte bestimmt übertrieben. Ich entspannte meine Haltung und trat einen Schritt zur Seite.

"Anemone, jetzt sei doch vernünftig! Das lässt sich doch sicher..."

"Sei still! Wenn du irgendetwas erklärt haben willst, dann frag doch ihn!"

Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür. Dort stand Kevin, der bösartig grinste.

"Was? Hast du etwa unsere Abmachung vergessen? Du hast..."

"...versprochen ihm nichts zu tun. Das stimmt. Aber ich habe nicht versprochen, dass jemand anderes ihm etwas tut. Ich will dich nicht verletzen und ich habe nichts gegen dich persönlich, aber ich will ihn fort haben."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und sein Grinsen wich dem Blick eines Mörders.

"Und das um jeden Preis."

Anemone schoss ihren Pfeil ab. Er traf Moritz' linke Seite, dort wo das Herz lag.

"Nein!"

Ich stürzte nach vorne. Kevin sprang in meine Richtung, drehte mir den Arm nach hinten und bedeutete Anemone mit einer Kopfbewegung, sie solle gehen. Sie hob Moritz mühelos auf ihre Schulter, nachdem sie den Pfeil heraus gezogen hatte und drehte sich zu weggehen um.

"Ich dachte, wir wären befreundet!"

Dieser Satz schien von den Wänden widerzuhallen. Anemone blieb stehen und blickte einen Moment lang ins Nichts. Dann drehte sie langsam ihren Kopf in meine Richtung, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.

"Ich will dir nur helfen. Glaub mir, es ist nur zu deinem Besten."

Moritz stöhnte leise. Er war also noch am Leben. Es trat sehr viel Blut aus der Wunde, die Anemones Pfeil verursacht hatte. Mit einem leisen, tropfenden Geräusch landete es auf dem Boden. Er bewegte sich nicht und seine Lippen sahen sehr blass aus. Anemones Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit einem Mal. Sie drehte sich um und ging davon. Ich hörte noch lange Zeit auf ihre immer leiser werdenden Schritte. Auch als sie nicht mehr zu hören waren, bewegte ich mich nicht. Langsam lockerte Kevin seinen Griff. Ich stand da und starrte blicklos in die Finsternis. Kurz kam mir der Gedanke, wer wohl die Wand reparieren würde. Doch ich verfiel wieder in diese unheimliche Gedankenlosigkeit.

"Ist alles in Ordnung?"

Kevins Stimme holte mich in die Realität zurück. Erst jetzt begriff sie langsam, was geschehen war. Anemone hatte Moritz mitgenommen. Sie hatte gesagt, sie soll ihn beseitigen. Was sie damit meinte war klar. Ich musste ihn dort raus holen, bevor sie ihn umbrachten. Aber wenn sie ihn töteten, starb er dann wirklich? Man durfte nicht vergessen, sie war hier nicht in ihrer Welt. Wäre es vielleicht sogar so, dass Moritz einfach in unsere Welt zurück befördert werden würde, wenn sie ihn töteten? Hatte ich dafür eine Garantie? Langsam drehte ich mich um. Gewohnheitsmäßig verließ ich das Haus durch die Eingangstür, obwohl das ja nicht mehr nötig gewesen wäre. Warum passierte so etwas und was verband mich so sehr mit Moritz. Ich lief zum Fluss. Ich setzte mich ins Gras und streckte die Füße ins Wasser nachdem ich Schuhe und Socken ausgezogen hatte. Ich war in Gedanken versunken. Ich war bestimmt schon eine Stunde dagesessen und hatte nur vor mich hingestarrt. Meine Füße waren mittlerweile taub und ich spürte sie nicht mehr. Das Knacken eines zerbrechenden Astes aus dem Wald mir gegenüber ließ mich hochschrecken. Was war los? Lachte da etwa jemand? Ich vernahm Schritte, die immer näher kamen. Das waren zweifelsfrei die Schritte eines Mannes. Ich richtete mich auf.

"Wer ist da?"

Stille. Ich wiederholte mich. Dieses Mal jedoch lauter, doch es war nichts zu hören, außer meinem eigenen Atem. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Dort war eindeutig jemand. Wenn er wieder gegangen wäre, hätte ich es gehört. Ich ließ die Stelle, von der die Geräusche gekommen waren nicht aus den Augen. Langsam setzte ich mich hin und zog Schuhe und Socken wieder an. Wer da auch immer sein mochte, wollte nicht, dass ich ihn entdecke. Ein kurzes Rascheln verriet mir, dass sich die Person bewegte. Mit einem Satz war ich über dem Fluss und nur noch wenige Schritte trennten mich vom Waldstück. Warum hatte ich keine Waffe mitgenommen? Ich ärgerte mich. Nicht einmal meinen Zauberstab hatte ich dabei. Ich musste wohl mit meiner Muskelkraft vorlieb nehmen. Hoffentlich würde diese ausreichen. Ich hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, wer oder was im Dunkeln auf mich warten würde. Langsam trat ich näher an den Wald heran. Es war ein Wunder, dass mich meine Beine überhaupt trugen, solche Angst empfand ich. Ein erneutes Rascheln. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung aus der es gekommen war. Ich lief jetzt schräg nach links. Mein Herz pochte so sehr, dass ich Angst hatte, es würde mir aus dem Körper springen. Ich blieb kurz vor dem Waldstück stehen. Ich glaubte etwas darin ausmachen zu können. Noch ein kurzes Rascheln, genau vor mir. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ich erkennte etwas, doch ich konnte es noch nicht identifizieren. Ich strengte meine Phantasie an. Jetzt erkannte ich plötzlich die Gesichtszüge. Sie waren sehr männlich. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis und ich konnte nun seine ganze Gestalt zu erkennen. Fast schulterlange, schwarze Haare, zwischen einen Meter achtzig und einen Meter fünfundachtzig und grünblaue Augen zum Verlieben. Moritz? Meine Augen leuchteten auf und mein Herz tat einen Sprung. Er trug einen schwarzen Umhang, sodass ich nicht sehen konnte, was er trug. Ich streckte meine Hand aus, um ganz sicher zu gehen, dass er es war. Er wich ein Stück zurück.

"Mo- Moritz?"

Verblüfft riss er seine Augen auf. Hatte er etwa geglaubt, ich würde ihn nicht erkennten? Ich tat einen Schritt in den Wald. Er drehte sich um und lief los. Was? Warum lief er vor mir weg. War ich zu aufdringlich gewesen, als ich ihn vor Anemone beschützen wollte? Ich nahm sofort die Verfolgung auf. Ich lief so schnell ich konnte, doch er schien sich immer weiter von mir zu entfernen. Die Äste fügten meinen Armen kleine Schnittwunden zu und ich musste aufpassen, dass ich mir kein Auge ausstach. Ich sprang über einen umgefallenen Baumstamm. Ich verschnellerte mein Tempo. Ich sah seinen Umhang wehen. Ich blieb an einer Baumwurzel hängen und fiel nach hinten. Der Boden unter mir war locker geworden. Zuerst rutschte nur ein Bisschen Erde nach unten und ich entdeckte, dass ich am Rand einer kleinen Schlucht lag. Jetzt nur keine falsche Bewegung, sonst würde ich hinunterfallen. Doch es war vergebens. Ich versuchte mich noch zur Seite zu rollen, doch die Rutschpartie hatte bereits begonnen. Der Baum neben mir fiel ebenfalls hinunter. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb hielt ich mir den Kopf, in der Hoffnung, dass der Baum mich nicht treffen würde. Hart schlug ich auf dem Boden auf. Der Baum landete mehrere Meter von mir entfernt mit einem dumpfen Geräusch. Die Erde zitterte leicht. Danach war alles still. Ich blieb liegen. Der Schmerz, der durch meinen Arm fuhr war so schrecklich, dass mir die Augen tränten. Wahrscheinlich war er gebrochen.

"Moritz, du Arsch!"

Meine Stimme war kaum mehr als ein flüstern und hin und wieder entrang sich ein Schluchzer meiner Kehle. Warum ließ er mich hier einfach liegen? Wieso war er vor mir weggelaufen? Ich wurde wütend. Ich rollte mich auf die Seite und stemmte mich mit dem gesunden Arm nach oben. Ich fasste mir an den linken Arm. Er schmerzte genau so schlimm wie zuvor. Ich bekam Kopfschmerzen. Wieso tat er so etwas? Ich sah mich um, doch ich konnte nicht viel erkennen. Ich wünschte mir, dass ich heil aus dieser Grube heraus käme. Wieder fühlte ich eine fremde Macht in meinem Körper. Sie versuchte, die Gewalt über meine Gedanken zu erlangen. Anfangs wehrte ich mich, doch meine Kopfschmerzen wurden unerträglich und der Arm schmerzte ebenfalls. Ein leises Heulen drang aus meiner Kehle, das immer lauter wurde.

Dieses warme Gefühl auf meiner Haut muss wohl die Sonne sein. Die Vögel sangen. Langsam öffnete ich die Augen. Ich lag im Zimmer in Kevins Hütte. Die Wand war repariert. Hatte ich das etwa alles nur geträumt? Kevin betrat fast wie auf Befehl das Zimmer. Er lächelte mich an.

"Und, wie fühlst du dich?"

Ich bewegte meinen linken Arm, der vollkommen gesund war.

"Was ist passiert?"

Ich war verwirrt. Wie war ich hierher gekommen? Ich schloss die Augen und legte den Arm darauf.

"Das hätte ich gerne von dir gewusst."

Kevins Stimme klang in meinen Ohren nach.

"Ich habe Moritz gesehen."

Er schwieg.

"Das kann wohl kaum sein. Er ist im Gefängnis der nächsten Stadt und soll heute hingerichtet werden."

Ich richtete mich ruckartig auf und starrte ihm ungläubig ins Gesicht.

"Was? Wieso?"

"Die Leute wollen den Verantwortlichen für die Finsternis tot sehen. Sie glauben, dass alles so wie früher wird, sobald er tot ist."

"Töten? Das wird niemals geschehen!"

Ich war aus dem Bett aufgesprungen und in meine Turnschuhe geschlüpft.

"Warum bist du auf seiner Seite? Wieso verteidigst du ihn so sehr? Was liegt dir an seinem Leben? Er hat dich doch bisher nur belogen."

Ich lächelte schwach.

"Das weiß ich selbst nicht. Ich weiß nur, dass ich ihm helfen muss und helfen will. Ich möchte ihn nicht verlieren."

Mit diesen Worten verließ ich das Haus. Ich rief mein Einhorn und ritt sofort in halsbrecherischem Tempo zur nächsten Stadt. Sobald ich sie betrat, sah ich den großen Scheiterhaufen. Meine Angst wurde größer. Doch ich beruhigte mich mit der Tatsache, dass der Scheiterhaufen nicht verbannt aussah. Er muss also noch am Leben sein. Ich packte einen Stadtbewohner, der gerade an mir vorbei lief und schüttelte ihn kräftig durch.

"Wo ist euer Gefängnis? Sag es mir auf der Stelle, oder ich bring dich um!"

Er sah mich verstört und verängstigt an.

"Sie stehen direkt daneben."

Ich blickte zur Seite. Mit hysterischem Lachen ließ ich ihn los. Er fiel auf die Knie, stand aber sofort auf und lief panisch davon.

"Hey! Kssssssssssss!"

Ich folgte dem Zischen und entdeckte Moritz an einem vergitterten Fenster.

"Na, endlich! Ich dachte schon, du lässt mich im Stich. Kannst du mich hier raus holen?"

"Ich werde dir nicht beim Ausbrechen helfen, falls du das meinst. Aber dafür habe ich einen anderen Plan. Wer hat hier das Sagen?"

Wir sprachen nur im Flüsterton.

"Na, wer wohl, Anemone!"

"Und wo ist sie jetzt?"

"Vor meiner Zelle. Sie passt auf, dass ich nicht verschwinde. Sie ahnt wohl, dass ich Schlösser knacken kann."

Ich hob die Brauen.

"Was hast du vor?"

"Das wirst du gleich sehen."

Ich ging nach vorne zum Eingang und betrat das Gefängnis. Mir schlug ein modriger Geruch entgegen, der gemischt war mit einem leichten Geruch von Urin. Mir wurde etwas übel, doch ich ging zu Anemone. Sie würdigte mich kaum eines Blickes.

"Na, wie geht's?"

Ich startete einen Annäherungsversuch, doch es gab keine Reaktion.

"Weißt du, ich habe einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn du Moritz frei lässt und ich mit ihm seine Unschuld beweise?"

Sie sah mich herablassend von oben an.

"Ich weiß doch, was du vorhast. Du willst mit ihm in deine Welt verschwinden und uns mit der Finsternis alleine lassen. Dir kann es ja egal sein, was mit unserer Welt passiert."

"Das stimmt nicht! Ich will den wahren Schuldigen finden. Moritz hat damit nichts zu tun!"

"Nun gut. Lass uns eine Vereinbarung treffen. Du gehst jetzt raus und falls du es fertig bringst, die Menge dort zu überzeugen, Moritz' Hinrichtung zu verschieben, werde ich mit euch kommen und euch beaufsichtigen, dass ihr nicht einfach verschwindet."

Das war ein Kompromiss, doch ich traute keiner Vereinbarung mehr. Ich machte mich bereit, mit Moritz einfach weg zu laufen, falls sie ihr Versprechen nicht halten würde. Ich trat nach draußen und stellte mir eine Kiste als Rednerbühne hin. Ich stieg darauf. Einige Leute blickten mich interessiert an. Ich räusperte mich, bevor ich zu reden begann.

"Bitte, hört mir jetzt alle zu! Es geht um die Hinrichtung von Moritz!"

Sofort ging ein Raunen durch die Menge.

"Ich möchte um seine Freilassung bitten. Ich bin mir sicher, dass er unschuldig ist."

Das Ende des Satzes war nicht mehr zu hören, denn die Menschen hatten begonnen, empört zu rufen und zu buhen. Ich erhob meine Stimme und versuchte, so laut wie möglich zu sprechen.

"Ich bin mir sicher, dass er unschuldig ist!"

Aus der Masse rief jemand:

"Und was macht dich da so sicher!"

Ich überlegte. Schon wieder diese Frage, die ich nicht beantworten konnte. Ich blickte mich um, sah die grünen Bäume an, die Einhörner, die mit ihren Hufen scharrten. Die Natur war einfach wundervoll. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war mir zwar nicht sicher, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, doch wenn ich sicher genug klang, würden sie mir vielleicht glauben.

"Seitdem ihr ihn festgenommen habt, ist das tote Gebiet noch größer geworden?"

Zustimmendes Flüstern.

"Hat es begonnen, sich hier auszubreiten?"

Einige schüttelten den Kopf. Der Rest blickte mich skeptisch an.

"Wenn Moritz der Schuldige sein soll, wieso hat sich die Finsternis nicht hier begonnen auszudehnen? Und wieso breitet sie sich vom Schloss aus weiterhin aus? Wenn ihr Moritz mit mir gehen lasst, verspreche ich euch, dass wir in sieben Tagen den Schuldigen gefunden haben. Wenn nicht, werde ich Moritz zurück bringen und ihr könnt ihn hinrichten."

Einige klatschten. Ich kam mir vor wie bei der Bundestagswahl. Moritz, den man aus seiner Zelle geholt und neben mich gestellt hatte, sah mich entsetzt an.

"Außerdem wird Anemone uns begleiten und darauf achten, dass wir nicht einfach verschwinden."

Ich hörte zustimmendes Gemurmel.

"Wer jetzt die Erlaubnis gibt, dass wir den wahren Schuldigen innerhalb von sieben Tagen finden, soll bitte die Hand heben!"

Ich wartete und wollte schon aufgeben, als sich keiner meldete. Dennoch begannen Leute langsam, aber trotzdem zögernd die Hand zu heben. Letztendlich hatte jeder die Hand gehoben. Ich atmete erleichtert auf und schenkte Anemone ein Siegerlächeln, doch sie blickte nur mürrisch zurück. Die Leute begannen, mir zu applaudieren. Mit stolz geschwellter Brust verlangte ich, dass sie Moritz' Fesseln lösten. Dieser rieb sich die Handgelenke, die rote Striemen hatten.

"Ich kann nur hoffen, dass wir den Schuldigen auch tatsächlich finden werden. Sonst bin ich mal gewesen", raunte mir Moritz zu.

Wir stiegen von der Kiste und machten uns auf den Weg zu den Stallungen. Bis ich und Anemone auf unseren Einhörnern saßen, war auch schon Moritz' schwarzes angekommen und er schwang sich auf.

"Lasst uns Losreiten."

Ich drehte mich um und sah Kevin, der ebenfalls auf einem Einhorn saß. Dann waren wir wohl komplett. Wir gaben den Einhörnern die Sporen und ritten so schnell wie der Wind auf das tote Gebiet zu. Die Einhörner wurden niemals müde, oder verlangsamten ihr Tempo. Keiner von uns wollte unnötig Zeit verlieren. Ich bekam feuchte Hände. Ich hatte zwar mit zwölf Jahren einmal eine Reitschule besucht, hatte jedoch nicht viel davon behalten und so fürchtete ich, dass ich abstürzen würde. Ich begann schon zur Seite zu rutschen. Auf einmal spürte ich eine Hand auf meinem Rücken, die mich stützte und mich wieder richtig hinsetzte. Ich blickte zu Moritz. Einmal mehr nahmen mich seine wunderschönen grün-blauen Augen gefangen. Er lächelte mich an. Mit geröteten Wangen zwang ich mich, meinen Blick nach vorne zu richten. Das tote Gebiet kam in Sichtweite. Mich verwunderte, dass man den Sturm nicht schon mehrere Kilometer davor bereits wüten hörte. Wir ritten über blanke, vertrocknete Erde, unter den dunklen schwarzen Wolken durch und über vertrocknetes, gelb gewordenes Gras. Wir verlangsamten unsere Geschwindigkeit. Ich lockerte den verkrampften Griff meiner fiebrigen Hände. Ich nahm eine entspannte Haltung ein. Anemone ritt uns voraus. Moritz holte mich ein und unsere Einhörner ritten nebeneinander her.

"Bist du in Ordnung?"

Ich nickte, vermied es aber ihn anzusehen. Anemone hielt an und stieg ab.

"Hier werden wir schlafen. Na los! Worauf wartet ihr?"

Moritz stieg ab, nahm mich an den Hüften und hob mich aus dem Sattel. Ich sah ihn verwirrt an.

"Das wäre nicht nötig gewesen." Ich drehte mich um und lief zu Kevin, der jetzt neben Anemone stand. Er war ebenfalls mitgekommen. Kevin hatte vier Schlafsäcke bei sich, die er in diesem Moment ausrollte. Ich hoffte nur, dass Moritz mein krebsrotes Gesicht nicht gesehen hatte. Ich schlüpfte gleich in einen Poofbeutel und tat so als würde ich bereits schlafen. Die anderen Drei unterhielten sich noch eine Weile, bis sie beschlossen auch schlafen zu gegen. Anemone und Kevin hatten Moritz bestimmt schon über zwanzig Mal gefragt, ob er wirklich nichts mit dem Verfall zu tun hatte. Er hatte jedes Mal verneint. Ich an seiner Stelle hätte genau das Selbe getan. Endlich beschlossen sie, schlafen zu gehen. Ich hörte die Schlafsäcke rascheln. Eine Weile war es still. Ich konnte nicht einschlafen, doch ich ließ meine Augen geschlossen, denn ich hoffte, damit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, endlich weg zu nicken. Ich hörte erneut einen Schlafsack rascheln. Es kam jemand von den Drei auf mich zu. Ich hielt mich kampfbereit. Die Person kniete sich hin und küsste meinen Mund. Ich hörte Moritz' Stimme ganz sicht an meinem Ohr.

"Gute Nacht und träum was schönes, mein Liebling."

Danach stand er auf und legte sich zurück. Ich wagte es kaum mich zu bewegen. Ich öffnete die Augen und blickte gerade aus auf die vertrockneten, kahlen Büsche und die restlichen kleinen Hälmchen Gras an, die noch übrig geblieben waren. Ich schlief anscheinend außen. Ich kuschelte mich tiefer in meinen Schlafsack hinein, denn der Wind, der hier wehte war so kalt, dass einem die Knochen im Leib gefroren. Ich blickte mich nach hinten um. Dort lag Anemone, die im Schlaf die Lippen bewegte. Kevin lag schnarchend da. Moritz konnte ich nicht sehen, denn er schlief ganz außen. Ich drehte meinen Kopf nach vorne und blickte ein Paar Stiefel an. Ich sah nach oben. Dort stand er wieder. Doch das war tatsächlich nicht Moritz. Einerseits schleif dieser und andererseits hatte dieser Mann längere Haare. Ich krabbelte aus dem Schlafsack und richtete mich auf. Ich drehte mich um und sah, dass in Moritz' Schlafsack niemand lag. Ich blickte zu dem Mann auf.

"Wer sind sie?"

Der sah mich jedoch nur mit einem Ausdruck in den Augen an, der mich beunruhigte. Plötzlich drehte er sich um und ging. Dieses Mal werde ich ihm nicht folgen. Ich legte mich wieder hin. Wer war dieser Mensch und wo war Moritz? Über diesen Fragen schlief ich letztendlich ein.

Jemand schüttelte mich heftig. Widerwillig öffnete ich die Augen. Kevin sah mich von oben herab an.

"Na, endlich! Ich schüttele dich schon seit zehn Minuten. Ich hatte schon Angst, du hättest eine Gehirnerschütterung vor lauter rütteln."

Ich runzelte die Stirn.

"Du siehst blass aus. Anemone gibt dir etwas zu trinken."

Ich stand auf und ging zu Anemone, die sich gerade mit Moritz unterhielt. Ich tippte ihr auf die Schulter. Sie drehte sich um und sah mich fragend an.

"Ich möchte gerne etwas trinken."

Sie nickte verständnisvoll und reichte mir ihre Feldflasche. Sie drehte sich sofort wieder zu Moritz und redete weiter auf ihn ein.

"Nur damit wir uns richtig verstehen, ich verbiete dir, dich jemals wieder vom Lager zu entfernen während wir schlafen. Falls du das jemals wieder tun solltest, werde ich die töten. Hast du verstanden?"

"Ich habe es dir erklärt, aber wenn du meine Erklärung nicht annimmst, dann kann ich nichts machen. Ich beuge mich deiner Entscheidung."

Moritz funkelte Anemone böse an. Sie drehte sich um und rief mir ins Ohr:

"Wir reiten weiter!"

Ich war froh, dass ich danach noch etwas hören konnte. Wir ritten diesmal etwas gemütlicher als vor unserer Pause. Als wir uns dem Schloss näherten, hörten wir ein tiefes raunen. Als wir an den Mauern angekommen waren, erkannten wir, was so einen großen Lärm machte: Onirodim. Wir stiegen ab, um ihn zu betrachten. Ich erinnerte mich an unsere letzte Begegnung und verzichtete darauf, ihn zu rufen. Die Erde zitterte leicht unter seinem Schnarchen. Er legte seinen Kopf auf die andere Seite. Da erkannte ich an seinem Hals ein Halsband, das mit großen Diamanten besetzt war. Kevin stieß mich so heftig in die Seite, dass ich beinahe umfiel. Ich wollte ihn gerade anschreien, als ich bemerkte, dass er fasziniert nach vorne sah. Moritz tat das Selbe. Ich richtete meine Aufmerksamkeit ebenfalls nach vorne und da sah ich etwas Unglaubliches. Das Schloss war wieder komplett aufgebaut und hatte nicht den geringsten Schaden. Das war mir unbegreiflich. Meine Kinnlade klappte runter. Ein verärgertes Schnauben verriet mir, dass Onirodim aufgewacht sein musste. Ich zwang mich, mich langsam zu ihm umzudrehen, obwohl ich am liebsten panisch schreiend davon gelaufen wäre. Er sah uns mit funkelnden, roten Augen an. Und als er sich langsam und elegant zu seiner vollen Größe aufrichtete, rutschte mir das Herz in die Hose. Das musste ein Alptraum sein!

Der wahre Schuldige?

Jemand, der Moritz wie aus dem Gesicht geschnitten schien, trat aus dem Dunkeln. Er ging auf uns zu. Alle hielten den Atem an. Man hörte nur noch das gelegentliche Knistern einer Fackel und seine Schritte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Er sah erwachsener aus als Moritz. Auch der unverdorbene Ausdruck fehlte auf dem Gesicht des Mannes. Er blieb direkt vor mir stehen. Ich roch sein Aftershave. Es roch fast genau so wie Moritz'. Der Mann nahm mein Gesicht in seine Hand und hob es etwas an.

"So sieht man sich wieder. Ich habe schon auf dich gewartet."

Ich zitterte. Er blickte mir tief in die Augen. Seine Hand wurde weggerissen. Neben ihm stand nun Moritz, der fest sein Handgelenk umklammert hielt.

"Lass sie bloß in Ruhe."

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Moritz' Stimme hatte einen ruhigen, fast monotonen Klang.

"Ich habe kein Problem damit, dich zu töten."

Der Mann riss sein Handgelenk los und rieb es.

"Das habe ich ja bereits gemerkt."

Sein bösartiges Grinsen stand dem Moritz' in nichts nach. Er wirkte fast wie ein Dämon. Anemone hatte Kampfposition eingenommen. Ihre Stimme zitterte.

"Würdest du bitte so freundlich sein, uns aufzuklären, wer das ist? Ihr scheint euch anscheinend so weit zu kennen, dass du ihn umbringen wolltest!"

Moritz hob sein Schert an.

"Das ist mein Vater und bald... ist er nur noch tot! Jegliche weitere Erklärung würde uns unnötig Zeit kosten."

Er stürzte sich mit einem Kampfschrei auf seinen Vater. Anemone und Kevin waren so überrumpelt, dass sie erschrocken zurückwichen. Ruckartig drehte Anemone sich zu mir um und packte mich an den Schultern.

"Du musst uns jetzt unbedingt helfen!"

Bei jeder Silbe schüttelte sie mich kräftig durch. Ich ging einen Schritt zurück.

"Wie meinst du das? Ich bin nicht einmal halb so stark wie einer von euch. Sieht dir doch mal Moritz an!"

Ich blickte in seine Richtung. Er lieferte sich einen erstklassigen Kampf. Was sollte ich überhaupt hier? Warum war ich ausgesucht worden. Oder war es einfach nur Zufall?

"Jetzt reiß dich doch endlich von diesem Anblick los. Ich weiß, dass er adonisgleich aussieht. Aber wenn wir ihm nicht halfen, lässt sein Vater von ihm nur Schaschlik übrig."

Ich blickte Anemone an. Sie ging mir auf die Nerven.

"Und was bitte soll ich tun?" Ein Kerzenhalter fiel klirrend zu Boden.

"Du bist eine Hexe. Also gleichzeitig auch ein Medium. Du kannst gewaltige Kräfte rufen und sie freisetzen."

Kevin trat zu uns.

"Aber woher nehme ich diese Kraft?"

"Von Kismu. Er stellt dir seine Kraft zur Verfügung."

"Was das kannst du nicht machen! Sie könnte..."

Anemone schrie beinah. Kevin legte einen Finger auf Anemones Mund.

"Pssssst. Das weiß ich doch. Aber meinst du nicht, sie würde für ihre Mutter ihr Leben geben?"

Alle schwiegen. Wie meinte er das? Ein lautes Krachen unterbrach das Schweigen. Wir sahen uns um. Moritz' Vater stand mit dem Rücken zum Thron. Moritz holte aus und schlug nach ihm. Er zertrümmerte einen Teil des Herrschersitzes, der bereits sehr lädiert war. Dabei brach sein Schwert bei der Hälfte ab. Er hob den Griff auf Augenhöhe und runzelte die Stirn.

"Scheiße!"

Mit diesem Ausruf schleudert er den Rest des Schwertes quer durch den Raum. Sein Vater fasste sich an die Seite und zog einen großen Spieß raus. In diesem Moment stürzte Moritz sich auf ihn und riss ihn zu Boden. Sie prügelten sich wie zwei Schuljungs. Ich schloss meine Augen. Ich soll Moritz' Vater mit der Energie eines Gottes töten. Aber es ist doch sein Vater. Könnte er es mir jemals verzeihen? Ich würde es nicht aushalten, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben wollen würde. Ich spürte, wie sich bereits Energie in mir ansammelte. Das Geräusch von Faustschlägen ließ mich die Augen aufreißen. Moritz schlug fortwährend auf das Gesicht seines Vaters ein. Er machte eine kurze Pause, um sich seine blutige Lippe zu wischen. Das nützte sein Vater aus und rammte ihm den Spieß, den er immer noch in der Hand hielt, genau ins Herz. Er zuckte unmerklich zusammen. Moritz stand auf und zog ihn langsam raus. Ein grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Die tiefe Wunde glühte kurz und heilte sich anschließend von selbst. Sein Vater richtete sich ruhig auf und klopfte sich den Staub von seinem dunklen Anzug. Er lockerte den Krawattenknoten.

"Natürlich! Ich war dumm, anzunehmen, ich könnte dich so ausschalten."

Ich spürte weiterhin die Kraft. Sie wurde ständig stärker. Moritz lachte verächtlich auf.

"Was dachtest du denn. Du bist ein Monster und ich bin auch eines!"

Moritz schlug nach ihm aus, doch sein Vater wich aus und startete sofort einen Gegenangriff. Die Kraft in mir war mittlerweile so groß geworden, dass ich begann zu zittern. Anemone hielt mich fest. Ich war nahe dran zusammen zu brechen. Das konnte es doch nicht sein. Warum brach ich bei der kleinsten Anstrengung zusammen? Ich riss mich zusammen und versuchte mich auf den Kampf zu konzentrieren. Alles verschwamm vor meinen Augen. Meine Knie wurden weich. Doch es war der Raum, der bebte. Kaum einer konnte sich mehr aufrecht halten. Keiner bis auf Moritz' Vater. Dieser grinste hämisch. Das Beben hatte aufgehört. Ich richtete mich auf und wollte damit fortfahren, Energie zu sammeln. Doch es war nichts mehr vorhanden. Nun gut. Das machte nicht wirklich was aus. Ich werde einfach von vorne beginnen. Leider war das einfacher gedacht als getan. Ich hatte eine Blockade. Warum ausgerechnet jetzt eine Blockade? Moritz wurde quer durch den Raum geschleudert.

"Verdammt! Jetzt tut doch etwas! Er bringt ihn noch um!"

Anemone und Kevin sahen mich verdutzt an. Doch dann schienen sie zu begreifen, dass ich nicht in der Lage war, die Energie dieses Gottes zu sammeln. Kevin warf Energiekugeln auf Moritz' Vater, der wegen dem Überraschungseffekt davon getroffen wurde. Er stürzte. Anemone wollte mit ihrem Schwert auf ihn einschlagen, doch er rollte zu Seite und richtete sich sofort wieder auf.

"Drei gegen einen. Das ist aber nicht sehr fair!"

Der Kampf ging weiter. Ich war zu Moritz gelaufen und half ihm beim Aufstehen. Als er mich bemerkte, stieß er mich weg und rief:

"Hau ab! Ich brauche deine Hilfe nicht!"

Meine Hand schnellte nach oben und im nächsten Augenblick hatte ich ihn geohrfeigt. Er legte eine Hand auf seine Wange und rieb sie.

"Sag so was nie wieder. Wir wollen dir nur helfen. Sei nicht so eingebildet. Oder willst du etwa, dass dich dein Vater tötet?"

Er blickte zu Boden.

"Nein. Aber willst du, dass mein Vater deine Freunde tötet?"

Diese Frage überraschte mich. Was wollte er damit bezwecken?

"N - nein."

"Wieso hast du sie dann gehen lassen? Sie haben nicht die geringste Chance."

"Aber..."

"Wenn sie sich nicht eingemischt hätten, hätte ich meinen Vater besiegt. Und nur, weil keiner von euch Vertrauen zu mir hat, muss ich meinen letzten Trumpf ausspielen. Ich werde euch alle fort bringen, damit keinem von euch etwas geschieht."

Er schloss seine Augen. Kevin, Anemone und ich begannen zu glühen. Er wollte auch mich fortbringen? Das durfte er nicht. Ich hielt mir vor Augen, was sein letzter Trumpf sein könnte. Was mich sehr stark beunruhigte, war das Wort "letzter". Ich würde hier nicht weggehen. Nicht ohne ihn. Ich klammerte mich an ihn. Anemone und Kevin bestanden nur noch aus Licht und waren kurz darauf verschwunden. Nur ich war noch da. Zusammen mit Moritz. Er sah mich entgeistert an.

"Was? Wieso bist du nicht?"

Ich grinste ihn böse an.

"Du glaubst doch wohl nicht, dass ich hier ohne dich weggehe. So schnell wirst du mich nicht los. Also, entweder weihst du mich in deine Pläne ein, oder ich lasse dich nicht los."

Genervt riss er sich los.

"Jetzt ist nicht die Zeit für deine Spielchen. Stell dich neben den Ausgang und sobald ich loslaufe, läufst raus. Hast du verstanden?"

Ich nickte brav. Ich wusste selbst, dass ich keine große Hilfe für ihn war. Aber ich wollte ihn wenigstens nicht alleine lassen. Ich lief zum Ausgang. Wegen des vielen Schutts, der herum lag, war es ein Slalom. Ich blieb vor dem offenen Tor stehen, bereit loszulaufen. Moritz senkte den Blick und ballte die Hände zu Fäusten. Eine starke Aura ging nun von ihm aus. Sein Vater konnte sich nicht bewegen. Moritz hob seine Brust an. Ein kleiner roter Stein drang aus seiner Brust. Er pulsierte wie ein Herzschlag und schwebte in die Mitte des Raumes. Die Wände zerfielen zu Staub, wie viele andere Sachen in diesem Raum. Genau mir gegenüber lenkte etwas Glitzerndes meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein riesiger Kristall. Und in diesem Kristall befand sich jemand. Selbst wenn ich es nicht durch eine tiefe Verbundenheit gewusst hätte, hätte ihr Äußeres keinen Zweifel daran gelassen: das war meine Mutter.

"Mama!"

Ich stürzte auf den Kristall zu. Moritz, der bereits losgelaufen war, lief in meine Richtung. Er packte mein Handgelenk und zerrte mich zum Ausgang.

"Bist du verrückt geworden? Willst du sterben? Jetzt komm doch endlich!"

"Aber da ist meine Mama! Ich kann sie doch nicht einfach hier lassen! Jetzt, wo ich sie endlich gefunden habe!"

"So! Und glaubst du, es wäre ihr recht, dass du wegen ihr stirbst? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Und ich werde auch nicht ohne dich gehen. Nur um dich zu zitieren. Jetzt komm endlich!"

Moritz zog mich in seine Arme. Der rote Stein wurde größer und stieß ein gleißendes Licht aus. Moritz drehte sich zwischen mich und dem Stein. Im nächsten Moment wurden wir von weißem Licht umhüllt. Ich fühlte mich so, als würde ich schweben.
 

6. Kapitel: Wieder zuhause...
 

Ich fasste mir an den Kopf und spürte eine harte Kruste. Langsam öffnete ich die Augen. Das Licht war zu grell und tat meinen Augen weh. Ich betrachtete die Fingerspitzen meiner rechten Hand, auf denen etwas von der schwarzen Kruste auf meinem Kopf war. Als ich es zwischen den Fingern verrieb, stellte ich fest, dass es getrocknetes Blut war. Ich fragte mich, wie lange ich schon hier gelegen war. Wo war ich überhaupt. Ich richtete meinen Blick in die Ferne. Besonders weit konnte ich trotzdem nicht schauen. Was mir die Sicht versperrte, war das Sofa in dem Wohnzimmer meiner Tante. Aber wie kam ich hier her? Ich war doch gerade noch... oder war das alles nur ein Traum gewesen? Das musste es gewesen sein. Ich bin ausgerutscht, gefallen und habe mit irgendwo den Kopf gestoßen. Jetzt bemerkte ich, dass sich mein linker Arm völlig selbstständig hob und senkte. Ich drehte meinen Kopf nach links. Moritz! Er lag auf dem Bauch und atmete schwer. Dann war es doch kein Traum gewesen! Ich stützte mich auf meinem rechten Ellenbogen auf. Mir tat alles weh, aber ich wollte ihm helfen. Tragen konnte ich ihn nicht, jedenfalls nicht in diesem Zustand. Ich musste jemanden anrufen. Zum ersten Mal sah ich mich richtig im Wohnzimmer um und was ich sah schockierte mich sehr. Zwei Fensterscheiben waren eingeworfen und auf Boden und Möbeln lag eine Zentimeter dicke Staubschicht.

"Verdammt, was ist hier bloß los?"

Ich ging aus dem Wohnzimmer auf den Gang, nahm das Telefon ab und wollte den Notarzt anrufen, als ich feststellte, dass die Leitung tot war. Ich warf den Hörer auf die Telefongabel. Das gab es doch nicht! Ich ging zur Tür und wollte sie öffnen, aber es ging nicht. Einige Regale waren umgestürzt und ich musste aufpassen, dass ich nicht ausrutschte. Mir wurde schwarz vor Augen. Konnte es sein, dass ich in meinem eigenen Haus gefangen war? Das gab es nicht! Ich warf mich gegen die Tür. Und das mehr als ein Mal. Meine Schulter begann zu schmerzen. Ich nahm ein letztes Mal Anlauf, rutschte jedoch aus und fiel der Länge nach hin. Wenige Zentimeter neben meinem Kopf ragte ein großer Nagel aus einem Brett. Mir schoss das Blut in den Kopf. Da hatte ich wohl noch mal Glück gehabt. Mühsam richtete ich mich auf. Mein gesamter Körper fühlte sich wie ein einziger Muskelkater an. Ich blickte mich müde um. Das matte Licht, das durch die länglichen Fensterscheiben fiel, brachte mich auf eine Idee. Ich hob eines der auf dem Boden liegenden Bretter auf und schlug auf die Fensterscheibe ein. Auf eine mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an. Ich warf das Brett weg. Mein Blick fiel dabei auf einen Spiegel, der vom Haken gefallen war und jetzt zerbrochen auf dem Boden lag. Ich sah mein Spiegelbild an. Ich sah zum Fürchten aus. Meine Haare standen fast genau so senkrecht wie ich. Automatisch versuchte ich, sie nach unten zu drücken. Das gelang aber nicht ganz so, wie ich es wollte. Ich sah an mir herab und bemerkte, dass sowohl Jeans als auch T-Shirt vor Dreck nur so standen. Ich schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit sich über das Aussehen Gedanken zu machen. Ich musste für Moritz Hilfe holen. Ich stieg vorsichtig aus dem Fenster, um mich nicht zu schneiden. Doch wie vorprogrammiert, hängte sich der untere Teil meines Hosenbeins an einer spitzen Scherbe fest und ich fiel, mit dem Gesicht zuerst in den Matsch. Wütend riss Ich mein Bein los und stand auf. Ich wischte mir mit meinem T-Shirt den Schlamm aus dem Gesicht, so gut es ging. Da war eine Telefonzelle. Ich stürzte hinein und rief den Notarzt an. So schnell ich konnte, lief ich zu meinem Haus zurück, um dort zu warten. Als der Notarzt ankam, wollte er mir gar nicht glauben. Doch als ich sie beinahe zwang, die Tür aufzubrechen, die mit Balken vernagelt war, aufzubrechen, entdeckten sie Moritz. Sie legten ihn auf eine Trage und sagten, dass er mehrere Prellungen und zwei gebrochene Rippen hatte. Wegen der Blutschicht auf meinem Kopf, nahmen sie mich auch mit und wollten mich untersuchen. Im Krankenhaus angekommen, wurde ich nach meinen Personalien gefragt.

"Penelope Satsujinsha."

Der Arzt sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

"Meine junge Dame, über so etwas macht man keine Witze."

"Das ist kein Witz! Wieso sollte ich über mich selbst scherzen?"

"Penelope Satsujinsha ist seit über fünf Jahren verschwunden."

Ich sprang auf.

"FÜNF JAHRE!? DAS IST NICHT IHR ERNST! ICH WILL TELEFONIEREN! SOFORT! JOCHEN, MARINA, MEINEN VATER, MEINEN SCHULLEITER! SOGAR MEINE MUTTER WENN ES UNBEDINGT NÖTIG IST! EGAL WEN! DAS IST DOCH NICHT WAHR!"

"BERUHIGEN SIE SICH DOCH!"

Der Arzt hatte auch begonnen zu schreien. Verängstigt blickte ich im Raum hin und her. Fünf Jahre! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ich strich mir nervös doch die zerzausten Haare und zwang mich zur Ruhe.

"Also gut, ich möchte telefonieren. Mit Marina. JETZT!"

Meine Stimme war immer eindringlicher geworden. Der Arzt deutete auf sein Telefon.

"Tun sie sich keinen Zwang an. Aber ich möchte gerne hören, was sie besprechen."

Ich nickte, nahm den Hörer in die Hand und wählte Marinas Nummer. Es klingelte ein paar Mal.

"Hallihallo! Wer da, wer da?", rief sie fröhlich

Sie hatte ihren Namen nicht genannt, aber ich erkannte ihre Stimme.

"Hallo Marina. Hier ist Penelope."

Schweigen. Ich befürchtete schon, dass die Verbindung unterbrochen worden war. Ich hörte sie atmen.

"Das glaube ich nicht..."

"Aber! Erkennst du etwa meine Sti..."

"FÜNF JAHRE! WO WARST DU!"

Sie hatte mir ins Ohr gebrüllt und ich war kurzzeitig etwas taub.

"ANTWORTE MIR GEFÄLLIGST! WO BIST DU GEWESEN!"

"Ich... Es tut mir leid. Das wollte ich nicht."

Ich stotterte. Ich hatte meine Freundin noch nie so außer sich erlebt.

"Gut, wo bist du?"

"Im Krankenhaus."

"KRANKENHAUS!? WAS IST PASSIERT!? HAT MAN DICH MISSHANDELT, VERPRÜGELT, GESCHLAGEN!?"

Ich lachte.

"Jetzt beruhige dich doch einfach. Es ist nichts Schlimmes. Nur eine kleine Wunde am Kopf. Komm doch einfach her."

"Das tu ich auch! Darauf kannst du dich verlassen!"

"Marina! WARTE! Bist du noch dran?"

"Ja, was gibt's?"

"Ich habe keinerlei Papiere. Kannst du mir vielleicht meinen Ausweis mitbringen?"

"Ja. Klar."

Klick. Sie hatte aufgelegt. Ich tat das Gleiche und sah den Arzt an, der nur noch verstört dasaß.

"Sie sind es anscheinend tatsächlich. Wo waren sie die ganze Zeit?"

"Ich kann mich nicht erinnern."

Ich drehte meinen Kopf weg. Was hätte ich sagen sollen?

,Oh, wissen sie! Ich bin durch ein magisches Portal in eine andere Welt gekommen. Dort haben wir Moritz' Vater umgebracht. Eigentlich sind dort bloß fünf Tage vergangen. Aber hier anscheinend fünf Jahre.'

,Ach so. Natürlich. Dafür habe ich vollstes Verständnis! Das passiert doch andauernd!', würde er dann wohl antworten.

Na klar! Es ist wohl besser, ich erzähle niemandem von dem, was ich erlebt habe. Es würde mir sowieso keiner glauben.

"Und der Junge, der bei ihnen war, das war dann wohl Moritz Mariniack."

Ich nickte. Er führte mich in eine Wartehalle, in der ich auf Marina warten sollte. Die Zeit, in der ich wartete, vegetierte ich nur so vor mich hin. Ich dachte daran, als Moritz seinen Arm weggerissen hatte und als er mich so kalt angesehen hatte. Ohne jedes Gefühl. Ich hörte hastige Schritte und blickte auf. Marina lief mir entgegen. Ich stand auf und zwang mich zu einem Lächeln. Sie nahm mich in die Arme und drückte mich so fest, dass ich kaum noch Luft bekam. Als sie mich losließ, sah sie mich von Kopf bis fuß an.

"Wo kommst du denn her? Wann hast du das letzte Mal gebadet?"

Ich runzelte die Stirn. Zu freundlich. Wenn man einen Planeten retten muss, hat man doch keine Zeit, auch noch zu baden. Sie lachte auf.

"Du verstehst wohl gar keinen Spaß mehr. Los, lass uns zu mir gehen. Dort kannst du dich dann neu einkleiden und duschen. Deine Personalien hab ich dem Arzt schon mitgeteilt. Jetzt komm endlich."

Sie schob mich aus dem Krankenhaus raus, bevor ich irgendetwas einwenden konnte. Wir setzten uns in ihr Auto und fuhren los.

"Der Arzt hat mir gesagt, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wo du gewesen bis. Stimmt das?"

"Ich liebe ihn."

Meine Stimme hatte leicht gezittert. Marina sah mich ziemlich verdutzt an.

"Ich glaube, wir reden gerade ziemlich aneinander vorbei. Wen meinst du? Jochen?"

"Nein. Moritz."

Sie trat so fest auf die Bremse, dass die Reifen quietschten und eine riesige Bremsspur hinterließen.

"BITTE WEN!? DAS IST DOCH NICHT DEIN ERNST! AUSGERECHNET DEN!?"

Ich blickte starr vor mich hin. Ich glaubte es doch selbst kaum.

"Wie soll ich es Jochen sagen? Wie soll ich ihm noch in die Augen schauen können?"

Sie betrachtete mich von der Seite und hatte einen bedrückten Gesichtsausdruck. Sie hielt mir ihre rechte Hand hin, an der ein goldener Ring steckte.

"Siehst du den? Ich bin vor einigen Tagen aus meinen Flitterwochen zurückgekommen. Bitte, sieh mich nicht so froh an. Ich kriege sonst ein schlechtes Gewissen. Wie du es Jochen beibringst, wird wohl nicht die Schwierigkeit sein. Wir sind nämlich verheiratet."

Oha! Kaum bin ich mal nicht da, macht er schon so was. Ganz toll. Abwesend startete Marina das Auto und fuhr weiter, denn hinter uns hatte schon ein regelrechtes Hupkonzert begonnen. Wir fuhren schweigend weiter. Meine Wut verrauchte und ich fragte mich, warum mich das so aufgeregt hatte. Bei ihnen waren schon fünf Jahre vergangen. Sollte er etwa in Abstinenz leben, nur weil ich nicht da war? Natürlich nicht. Ich sammelte mich und zauberte ein wunderschönes Lächeln auf meine Lippen.

"Ich freue mich für dich!"

Verwundert sah Marina mich an.

"Bist du nicht sauer?"

"Natürlich nicht. Wieso sollte ich? Ihr liebt euch doch."

Bei ihr zu Hause angekommen, machte ich mich frisch. Danach kam Jochen auf Besuch, der sich sichtlich zu freuen schien, dass ich wieder da war. Doch man merkte auch, dass ihn, zumindest Anfangs, das schlechte Gewissen plagte.

Am Abend zeigte mir Marina dann einen Zeitungsartikel über mein Verschwinden. Dort war auch ein Foto von mir. Ein besonders hässliches, wenn ich das mal so sagen darf. Höchstwahrscheinlich hatte das meine Mutter ausgewählt. Ich stutzte. War sie etwa tatsächlich nicht meine richtige Mutter? Es wäre zu schön um wahr zu sein.

"Willst du heute Nacht hier schlafen?"

"Ich denke, ich werde zu meinen Eltern gehen und ihnen sagen, dass ich wieder da bin."

"Das ist wohl nicht nötig. Sie sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben ums Leben gekommen."

Alle schwiegen andächtig. Ich versuchte zu lachen.

"Dann werde ich wohl wieder ins Krankenhaus zu Moritz gehen. Ich will ja niemanden stören."

Jochen sah mich eindringlich an.

"Bist du damals mit ihm weggelaufen?"

Ich lachte amüsiert auf.

"Nein. Damals ging er mir gewaltig auf die Nerven. Und mal angenommen, ich wäre tatsächlich mit ihm abgehauen, dann würde ich mich doch an irgendetwas erinnern, oder?"

Mit diesen Worten verließ ich die Wohnung und spazierte zum Krankenhaus zurück. Dort wurde dann ein zweites Bett in Moritz' Zimmer gestellt, in dem ich schlief.

An einem Tag ging ich nach unten, in die Eingangshalle, um mir eine Zeitschrift zu kaufen. Als ich wieder ins Zimmer kam, war Moritz' Bett leer. Eine Tür neben mir ging auf und Moritz kam aus dem Bad, in einen Morgenmantel gehüllt. Die Zeitschrift landete am Boden und ich umarmte ihn stürmisch. Er bewegte sich nicht und machte auch sonst keine Anstalten mich zu umarmen.

"Bist du jetzt fertig?"

Erschrocken ließ ich ihn los. Es tat gut seine Stimme wieder zu hören. Doch dieser Unterton beunruhigte mich. Ich senkte meinen Blick.

"Entschuldige."

Ich hob meine Zeitschrift auf. Langsam ging ich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mich. Ich lehnte mich dagegen und rutschte daran runter. Das war nicht wahr. Ich war die ganze Zeit bei ihm gewesen. Habe alle Phasen mitgemacht. Als sich sein Zustand verschlechterte habe ich zu Gott gebetet. Und jetzt tut er so etwas. Ach was! Er ist doch nur ein Kerl! Warum mache ich mir solche Gedanken? Ein Kerl. Nur ein Kerl!

An demselben Abend packte ich meine Sachen und ging in das Haus meiner Tante. Es war zwar etwas zugig und sehr kalt, da es bereits Herbst war, aber eine Nacht würde ich das schon überleben. Danach wird aufgeräumt. Wenn man nach unserer Welt geht, bin ich jetzt schon 22 und somit gehört das Haus rechtmäßig mir. Als ich vor der Tür stand, entfuhr mir ein leiser Seufzer. Mit großer Kraftanstrengung öffnete ich sie. Ich nahm meine Tasche, trat ein und schloss die Tür. Sie quietschte ohrenbetäubend. Ich trug meine Tasche in mein Zimmer und stellte fest, dass es noch genau so aussah, wie als ich es verlassen hatte. Ich ließ sie auf den Boden plumpsen und wirbelte dabei sehr viel Staub auf. Ich zog die Tagesdecke von meinem Bett. Ich fühlte mich träge und leer. Ich ging wieder nach unten in die Küche und holte mir einen Besen. Als allererstes würde ich mein Zimmer ausfegen. Danach lege ich mich schlafen. Und morgen früh geht das große Putzen los! Ich blieb am Fuß der Treppe stehen und sah hinauf. Es kommt mir fast so vor, als wäre es gestern gewesen, als Moritz dort oben gestanden hatte. Abwesend fasste ich an meine Lippen. Es war benahe so, als könnte ich seinen Kuss noch spüren. Ich riss meine Hand nach unten. Was tat ich da eigentlich? Also ernsthaft! Ich würde ihm garantiert nicht nachtrauern! Ich stapfte die Treppe nach oben und wirbelte viel Staub auf. Ich kehrte so gut es ging, aber ich konnte kaum noch etwas sehen. Und Strom hatte ich keinen. Nach einer Weile gab ich es auf. Ich warf mich auf mein Bett, das markerschütternd quietschte. Ich blickte vor mich hin und versuchte zu schlafen. Doch daran war nicht denken. Ich drehte mich auf den Bauch. Ich atmete den Geruch meines Kissens ein. Ohne zu wissen, was ich tat, stemmte ich mich hoch und ging in Moritz' ehemaliges Zimmer. Ich legte mich auf sein Bett und schlief prompt ein.

Sonnenstrahlen, die durch das matte Glas fielen, weckten mich auf. Ich blinzelte verschlafen. Mist. Ich war ausgerechnet auf seinem Bett eingeschlafen. Ich richtete mich auf. Mein ganzer Rücken war voll mit Staub. Aber das war mich egal. Ich krempelte meine Ärmel hoch! Aufräumaktion gestartet! Als erstes riss ich alles Fenster auf, besser gesagt die, die noch nicht eingeschlagen worden waren. Bei dem Durchsehen der Gegenstände bemerkte ich, dass der Fernseher und unsere Stereoanlage fehlten. Ich machte mir nichts draus. Das Sparbuch hatte ich bereits gestern Abend in Sicherheit gebracht. Ich kehrte alle Räume durch. Nach drei Stunden war ich fertig und hatte einen Krampf in den Armen. An diesem Vormittag hatte ich auch bereits mehrere Morde begangen. Genau neununddreißig Spinnen hatten die längste Zeit ihres Lebens ihn diesem Haus verbracht. Mein Mittagessen ließ ich mir von einem Lieferservice bringen. Danach arbeitete ich jedes Zimmer einzeln durch. Ich musste sogar mit meinem Baseballschläger einen Penner vertreiben, der sich in meinem Keller eingenistet hatte. Gegen Abend hatte ich alles Fertig. Ich hatte sogar bei der Stromfirma erreicht, dass sie meine Stromzufuhr sofort wieder einschalten. Als nächstes würde ich morgen zur Telekom gehen und mein Telefon wieder frei schalten lassen. Müde stieg ich die Treppe hoch und ging wieder in Moritz' Zimmer. Das war der einzige Raum im ganzen Haus, den ich nicht aufgeräumt hatte. Denn falls er nicht mehr hierher ziehen wollen würde, würde mir wenigstens eine Sache nicht genommen werden. Ich ging an seinen Wäscheschrank. Ich wusste, dass sich das nicht gehörte, aber meine Beine taten etwas anderes als mein Verstand ihnen Befahl. Ich öffnete den Schrank und nahm seinen obersten Pyjama raus. Ich zog ihn an. Er war sehr bequem und sein Duft machte mich etwas melancholisch, weil er mich an Moritz erinnerte. Ich setzte mich auf sein Bett und schlief wieder darauf ein.

Ich wurde durch heftiges Schütteln geweckt. Ich öffnete die Augen. Langsam erkannte ich Marinas Gesicht.

"Au Mann! Ich dachte, du wärst tot oder so was! Du hast ja geschlafen wie ein Stein!"

Sie sah schweigend auf meinen Pyjama. Ich zog meine Beine an.

"Er fehlt dir, was?"

Ich nickte und zeichnete irgendetwas mit meinem Zeigefinger auf die Bettdecke. Sie strich mir über die Haare.

"Mach dir nichts draus. Bald ist er wieder da. Wahrscheinlich früher, als dir lieb ist. Und dann geht ihr euch wieder gegenseitig auf die Nerven. Ja?"

Ich nickte und lächelte unter Tränen.

"Das Haus sieht ja schon ganz ordentlich aus."

"Ich muss noch jemanden anrufen, der mir die Fensterscheibe repariert. Und meine Telefonnummer will ich mir frei schalten lassen."

"Wegen den Fenstern, da kenne ich jemand, der würde das noch heute erledigen."

"Ernsthaft? Dann regelst du das jetzt und ich gehe schnell zur Telekom."

Ich sprang auf und wollte sofort aufbrechen, als mich Marina am Arm festhielt.

"Willst du ernsthaft im Pyjama zur Telefongesellschaft."

Ich sah an mir runter und lachte so plötzlich und unvermittelt, dass Marina ängstlich zurückwich. Schnell zog ich mich an und lief dann sofort zur Telekom. Sie erklärten mir, dass die Freischaltung kein Problem sei und meine Telefonleitung spätestens heute Abend wieder funktionieren würde. Überglücklich lief ich nachhause und sah, wie gerade die Fenster neu eingesetzt wurden. Das war ein echtes Hochgefühl. Aber jemand fehlte da einfach. Jemand der sagt: ,Da ist Schmutz auf dem Glas.' ,Was? Das ist doch viel zu teuer!' ,Wehe die betreten mein Zimmer! Dann gibt's was!' Ich senkte den Blick und sah zur Seite. Auf meinem Telefontisch hatte ich den zerbrochenen Spiegel gelegt. Ich nahm einige der Scherben in die Hand und versuchte sie wie ein Puzzle zu ordnen. Dabei schnitt ich mir in den Finger. Dunkles Blut tropfte auf das Glas. Abwesend betrachtete ich mich in einer Scherbe. Mein Spiegelbild wurde rot, bis es fast ganz verschwand.

"GA! Du blutest ja!"

Marina packte meinen Finger und wickelte ein Taschentuch darum.

"Ich muss wohl eine Arterie erwischt haben."

Ich drehte mich um und ging weg. Ich würde einen kleinen Spaziergang machen. Dann werde ich mich sammeln können. Nach ungefähr fünf Minuten Weg, bereute ich es, dass ich keine Jacke mitgenommen hatte. Es war äußerst kalt. Ich begann zu zittern. Ich lief vorbei an kleinen Statuen und einem Mondtempel. Aber ich nahm sie kaum wahr. Jeder meiner Gedanken blieb an Moritz hängen. Ich trat auf eine kleine Lichtung mit einer Bank. Ich setzte mich darauf und blickte meine Füße an. Diese Turnschuhe waren schon ziemlich ausgetreten. Ich sollte mir neue kaufen... Was Moritz jetzt wohl gerade tat? Bestimmt war er froh, dass ich nicht bei ihm war. Aber wieso benahm er sich so? Damals, in Sirenzia, hatte er mich geküsst, mir Komplimente gemacht. Ich blickte mich um. Auf dieser Bank waren Jochen und ich zusammen gekommen. Anscheinend hatte ich eine Gabe, die Menschen, die ich liebe, zu verlieren. Ich hatte Marina gesagt, dass ich mich für sie freue. Was hätte ich denn sonst sagen sollen? Für sie sind fünf Jahre vergangen. Für mich bloß fünf Tage. Es hatte ziemlich wehgetan. Und das tut es immer noch. Am liebsten würde ich jetzt hier für immer sitzen bleiben. Vielleicht würde ich ja erfrieren. Ob psychisch oder physisch tot, was gäbe es denn da für einen Unterschied? Ich hörte Schritte hinter mir und fuhr herum. Ich sah Marina kommen.

"Was tust du denn hier?"

Sie rieb sich die Hände.

"Das ist ja echt kalt hier. Frierst du etwa nicht? Komm, wir gehen wieder rein, ja?"

Ich zog mich langsam hoch. Ich folgte ihr schweigend. Sie drehte sich zu mir um.

"Die Handwerker machen jetzt Mittagspause, aber bis Feierabend dürften sie wohl fertig sein. Wollen wir auch was essen? Hast du Hunger?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, nicht wirklich."

"Na gut. Aber ich werde schnell zu Hause was essen. Ist das in Ordnung?"

Ich nickte. Mittlerweile hatten wir das Haus betreten. Sie verabschiedete sich und ging zu ihrem Auto. Ich hörte sie wegfahren. Jetzt war ich also wieder ganz allein in diesem großen Haus. Hunger hatte ich tatsächlich keinen, obwohl ich heute nicht einmal gefrühstückt hatte. Ich beschloss, in Moritz' Zimmer zu fegen, das Fenster zu putzen und staub zu wischen. Es soll ja nicht total verwahrlost aussehen, wenn er wieder da ist. Falls er wiederkommt. Ich würde es verstehen, wenn nicht. Ich betrat sein Schlafzimmer. Viel Arbeit würde es nicht machen, da dieses Zimmer auch dementsprechend klein war. Nach ungefähr einer Stunde war ich fertig gewesen. Ich hatte mich gerade auf den Boden gelegt, um mich auszuruhen, als es klingelte. Wie von der Tarantel gestochen, sprintete ich nach unten, in der Hoffnung, es wäre Moritz. Es waren aber bloß die Handwerker. Sie machten sich sofort an die Arbeit. Das überraschte mich. Das war das erste Mal, dass Arbeiter so fleißig bei der Sache waren. Ich ging in das Bücherzimmer. Dieses Zimmer hatte am Meisten Arbeit beansprucht. Hauptsächlich wegen dem magischen Portal, das in sich zusammengestürzt war. Glücklicherweise war keines der Bücher ganz kaputt gegangen. Allerdings gab es einige, die ich binden musste. Ich hatte diese Bücher zu einem Stapel aufgetürmt. Nun nahm ich das oberste und begann darin zu lesen. Es war ein Buch über Dämonen. Ein weißes Licht ließ mich aufsehen. Meine Augen weiteten sich. Vor mir stand meine verstorbene Tante.

"Meine liebe Penny! Du hast sehr viel durch gemacht und jetzt muss ich mit ansehen, wie du leidest."

Ich öffnete den Mund, um etwas zu fragen.

"Nein, sag jetzt nichts. Ich würde dir gern helfen. Er ist ein sehr netter, junger Mann. Aber leider darf ich dir nur eines sagen: steh zu deinen Gefühlen, dann wir alles gut ausgehen."

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war sie schon wieder verschwunden. Hatte ich mir das nur eingebildet? Ich legte das Buch wieder zurück und stand auf. Das ging mir jetzt eindeutig zu durcheinander. Als ob ich nicht verwirrt genug wäre. Ich war gegangen, ohne nach vorne zu schauen. Ich war gegen jemanden gelaufen. Ich rieb mir die Nase.

"Oh, Entschuldigung."

Ich hörte nur Gemurmel und jetzt bemerkte ich erst, wen ich angerempelt hatte: Moritz. Ich wollte ihn fragen, wie es ihm ging, da war er schon die Treppe nach oben gegangen. Ich blickte zu Boden. Zu meinen Gefühlen stehen... leichter gesagt, als getan, wenn er sich so benimmt. Ich muss es ihm sagen. Sofort.

"Moritz! Ich..."

"Ja, was gibt's denn?"

"Ich bin in..."

Ich drehte den Kopf dach oben.

"Ich glaube, ich habe in meinem Zimmer etwas gehört. Ich geh nachsehen."

Schon war er verschwunden. Wenn er die Sache so angehen will, dann kann er das ruhig haben. Ich laufe ihm doch nicht hinterher. Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich schrie auf. Wer war das? Wer hat mich so erschreckt?

"Was - Was gibt's denn?"

Mein Herz klopfte wie wild. Wegen diesem Handwerker hatte ich fast einen Infarkt.

"Wir sind fertig. Aber die Fenster dürfen 24 Stunden lang nicht geöffnet werden."

"Ja, ja, schon gut. Und die Rechnung kriege ich ja dann auch."

Ich drehte mich um und ging ins Wohnzimmer. Etwas Fernsehen würde mich ablenken. Ich schaltete den neu gekauften Fernseher an. Doch ich war so müde und das Fernsehprogramm so langweilig, das ich einschlief.

Langsam öffnete ich wieder die Augen. Moritz saß mir auf einem Sessel gegenüber. Ich richtete mich verärgert auf.

"Was tust du da eigentlich?"

"Ich beobachte dich beim Schlafen."

Ich runzelte die Stirn und stand auf.

"Das kann ich gut, nicht wahr?"

Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer. Es fiel mir sehr schwer, sein Spielchen mit zu machen, aber ich wollte nicht, dass es so aussah, als würde ich ihm hinterher rennen. Das würde ich keineswegs tun. Selbst wenn ich ihn dafür verlieren würde! Kaum hatte ich diese Worte gedacht, lachte ich über mich selbst. Ich würde ihn niemals verlieren können. Bevor ich ihn in den Armen einer anderen Frau sah, würde ich ihn umbringen. Ich fuhr mir durchs Haar, stieg die Treppe hinauf und ging ins Badezimmer. Skeptisch betrachtete ich mein Spiegelbild. Was ihm wohl an mir nicht gefiel? Ich überlegte einige Zeit, bis ich zu dem Schluss kam, dass es meine Haare sein mussten. Ohne, dass mir richtig bewusst war, was ich tat, griff ich nach der Schere, die zufälligerweise auf dem Waschbeckenrand lag und schnitt mir die Haare etwas länger als schulterlang ab. Die letzte Strähne fiel zu Boden. Ich betrachtete mein Spiegelbild mit leeren Augen. Die Schere glitt aus meiner Hand und landete auf meinen Haaren. Ich versuchte die Tränen, die in mir aufstiegen zu unterdrücken. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Warum hatte ich das getan? War ich denn total verrückt geworden? Verbittert schlug ich die Hände vors Gesicht und lief weinend aus dem Badezimmer in mein Zimmer. Dort warf ich die Tür zu und sperrte ab. Tränen rannen meine Wangen runter. Ich glitt an der Tür nach unten und blieb an Ort und Stelle sitzen. Langsam verlor ich die Kontrolle. Ich schluchzte bitterlich. Nach mehreren Minuten klopfte es plötzlich an meiner Tür. Ich hörte Moritz Stimme.

"Penelope, ist alles in Ordnung?"

"Geh weg! ... Verschwinde!"

"Ich habe die Haare im Badezimmer gesehen und..."

"HAU AB!"

Ich schrie die Worte beinahe. Vor der Tür wurde es still. Kurz darauf hörte ich Schritte, die sich entfernten. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Armen und weinte so lange, bis ich keine einzige Träne mehr hatte. Meine Augen begannen zu brennen. Ich wischte immer wieder darüber, doch es brachte nichts. Es klopfte zaghaft an der Tür. Nun war es Marinas Stimme, die ich hörte.

"Hey! Ist alles in Ordnung? Ich... Moritz hat mich angerufen... Darf ich rein kommen?"

Ich blieb sitzen und machte nicht die geringsten Anstrengungen, die Tür zu öffnen.

"Na gut. Ich habe verstanden. Aber wenn du mit jemanden reden möchtest, stehe ich dir jeder Zeit zur Verfügung... wie früher."

Mit zitternden Fingern drehte ich den Schlüssel um. Ich drückte die Klinke soweit herunter, dass sich die Tür einen Spalt breit öffnete. Ich rutschte etwas zur Seite. Marina trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie strich mir über die Haare.

"Oh je! Da war wohl die Heckenschere am Werk. Soll ich sie dir zu recht schneiden?"

Ich nickte stumm. Marina hielt die Schere, mit der ich auch schon an meinen Haaren gewesen war in der Hand und begann, die Haare auf gleiche Länge zu schneiden.

"Ich mache mir Sorgen um dich. Du wolltest dir deine Haare doch noch viel länger wachsen lassen. Warum hast du sie dir abgeschnitten?"

Ihre Stimme klang weich und es lag kein Ausdruck von Vorwürfen darin. Marina strich mir ein paar Haare von der Schulter.

"So, ich glaube, jetzt kannst du dich wieder unter Leute trauen. Ist alles klar?"

Ich nickte und zog mir den Pulli über den Kopf. Unachtsam ließ ich ihn auf den Boden fallen. Ich griff mir einen neuen aus meinem Schrank und ging ins Badezimmer. Marina kam mir nach.

"Kann ich noch etwas für dich tun?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, geh ruhig nachhause. Ich komme schon klar."

Sie sah mich etwas zweifelnd an, doch auf ein ermunterndes Nicken meinerseits, ging sie. Sie drehte sich noch einmal zu mir um und verabschiedete sich.

"Du kannst mich jederzeit anrufen."

Ich nickte, doch gleichzeitig wusste ich, dass es nie wieder so werden würde wie früher. Nicht nachdem ich in Sirenzia gewesen bin. Ich ließ Wasser in die Badewanne und stieg, nachdem sie ausreichend gefüllt war hinein. Ich zog die Beine an meinen Körper. Warum sind Jungs nur so kompliziert? Wahrscheinlich war Moritz nur so nett zu mir gewesen, weil er so etwas wie Mitleid für mich empfunden hatte. Ich wollte ihn zwar nicht verlieren, doch andererseits hatte ich keine Lust, mich von ihm wie den letzten Dreck behandeln zu lassen. Ich schüttelte den Kopf. Ach was! Warum sich noch Gedanken machen? Es wird alles so kommen, wie es kommen soll. Ich wusch mich und hüllte mich sofort, nachdem ich aus der Wanne gestiegen war, in meinen Bademantel. Ich ging in mein Zimmer, dort trocknete ich meine Haare und zog mir frische Sachen an. Ich brauchte etwas Ablenkung und so beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. Gedankenverloren stieg ich die Treppe hinunter und tat so, als würde ich nicht bemerken, dass Moritz mich beobachtet. Ich zog mir die Schuhe an und nahm meine Jacke. Ich hörte, dass Moritz wegging und atmete tief durch. Während ich nach draußen trat, versuchte ich jegliche Gedanken an ihn zu verscheuchen. Ich setzte gerade einen Fuß auf die Straße, als er hinter mir meinen Namen rief. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und drehte mich um. Moritz hatte seinen Satz begonnen, im diesem Moment schoss ein Auto mit mörderischem Tempo um die Kurve und genau auf mich zu. Ich wollte zur Seite springen, wenigstens reagieren, doch es gelang mir nicht. Ich stand da wie fest gewachsen. Der Autofahrer trat auf die Bremsen und die Autoreifen quietschten laut. Ein Krachen, ich flog zur Seite und landete auf dem Asphalt. Mir war für einen Augenblick schwarz vor Augen geworden, doch jetzt konnte ich klar sehen. Es kam mir vor, als hätte ich mir die Sache mit dem Auto nur eingebildet, denn mir tat nichts weh. Ich sah in die Richtung des Autos. Was ich dann sah, nahm mir den Atem. Kevin stand breitbeinig da, die Hände auf die Kühlerhaube gestemmt. Das Auto stand nun auf den beiden Vorderreifen. Die Windschutzscheibe war fast vollständig zerbrochen. Langsam ließ Kevin die Kühlerhaube los, so dass die hinteren Reifen des nun stehenden Autos wieder auf dem Asphalt standen. Ich drehte meinen Kopf in Moritz' Richtung, doch ich wurde bereits von ihm umarmt. Mein ganzer Körper zitterte.

"Was bin ich froh, dass dir nichts passiert ist", flüsterte er mir ins Ohr.

Verwirrt schüttelte ich den Kopf.

"Natürlich ist mir nichts passiert. Kevin hat mich doch weggestoßen."

"Was? Wieso Kevin?"

"Da steht er doch!"

Ich deutete in Richtung des Wagens. Der Fahrer war gerade dabei, auszusteigen. Doch nirgends war eine Spur von Kevin. Der Autofahrer kniete sich neben mich.

"Sind sie in Ordnung?"

Moritz zog mich nach oben. Ich nickte eifrig.

"Ja, ja, das bin ich. Wissen sie, wo der Mann hingegangen ist, der mich zur Seite gestoßen hat."

"Mann? Da war weit und breit niemand."

Ich drehte meinen Kopf in Moritz' Richtung.

"Aber ich habe ihn gesehen! Ganz sicher!"

Moritz schob mich in die Richtung unseres Hauses.

"Du solltest dich erst einmal hinlegen."

Er wandte seinen Kopf dem Autofahrer zu.

"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich kümmere mich schon um sie. Sie können ruhig weiterfahren."

Ich betrat unser Haus, ging ins Wohnzimmer und ließ mich in einen Sessel fallen. Moritz betrat den Raum.

"Willst du eine Tasse Tee?"

Ich antwortete ihm nicht. Er legte den Kopf etwas schief. Ich starrte geradeaus.

"Was ist los?"

Verwundert blickte er mich an.

"Wie meinst du das? Was soll los sein?"

Ich richtete mich auf.

"Das weißt du ganz genau! Hör auf mit mir zu spielen!"

"Ich spiele nicht mit dir? Wie kommst du überhaupt darauf?"

"Wie ich - WIE ICH DARAUF KOMME?!"

Meine Stimme schien von den Wänden widerzuhallen. Moritz sah mich schweigend an.

"In Sirenzia hätten wir uns fast geküsst. Und dann auf einmal hast du mich so abweisend behandelt. Und vorhin hast du gesagt, du wüsstest nicht, was du ohne mich hättest tun sollen? Ich glaube, du hast ein Persönlichkeitsproblem!"

Ich drehte mich um und wollte wütend den Raum verlassen. In meinem Kopf hämmerte es. Ich musste mich sofort schlafen legen.

"Du hast doch gar keine Ahnung!"

Ich blieb stehen.

"So? Habe ich also nicht? Dann erklär mir bitte, was los ist, damit ich es auch verstehe."

Ich drehte mich in seine Richtung und verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich hatte ich wie immer von nichts eine Ahnung. Das unwissende dumme Mädchen. Mal sehen, was für eine Lüge er mir dieses Mal auftischen würde?

"Ich wollte dich nicht verletzen."

Das war klar! Wie oft hatte ich diesen Satz schon gehört? Mich nicht verletzen. Ha! Dass ich nicht lache. Ich bin doch nicht aus Zucker. Immer hatten mir Leute etwas verschwiegen, nur weil sie mich "nicht verletzen wollten". Mit anderen Worten: sie hielten es nicht für nötig, mich darüber zu informieren. Ich bin doch kein Idiot.

"Ich hatte Angst, dich unglücklich zu machen. Ich wollte dich schützen."

"Schützen. So, so. Mit welchem Hintergrund? Ich werde nicht bedroht. Wovor solltest du mich schützen wollen?"

Ich musste abweisend bleiben. Sonst würde er mitbekommen, dass er mich weich gekocht hat.

"Ich wollte dich vor mir selbst schützen. Ich hatte Angst, dass ich so werde, wie mein Vater. Gefühllos und kaltherzig. Ich wollte nicht, dass du wegen mir verletzt wirst."

Ich senkte den Kopf. Mir standen Tränen in den Augen.

"Außerdem dachte ich, dass ich eine Gefahr für dich darstelle, da ich auch schon meinen Vater umgebracht hatte. Ich habe dich wirklich sehr gern. Jetzt habe ich es wohl geschafft."

Er strich mir eine Träne von der Wange.

"Ich will nicht, dass du weinst. Vor allem nicht wegen mir. Ich werde meine Sachen packen und dann wo anders hingehen. Ich mache dich nur unglücklich."

Er nahm die Hand von meiner Wange und ging an mir vorbei. Ich fühlte mich, als hätte man mich gerade in ein bodenloses Loch gestoßen. Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde ich ihn verlieren - und dieses Mal für immer. Ich drehte mich um und lief im nach. Sobald ich ihn erreicht hatte, warf ich mich in seine Arme.

"Geh nicht weg! Du darfst mich nicht alleine lassen!"

Langsam und zögernd legte er seine Arme um mich. Tränen liefen meine Wangen hinunter. Er sollte nicht weg gehen. Niemals. Und allein lassen sollte er mich auch niemals wieder. Ich schmiegte mich an ihn. Langsam wurde seine Umarmung fester. Er drückte seine Wange gegen meine.

"Ich lasse dich nicht mehr allein. Nie wieder."

Er nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich lange. Er hob mich hoch und trug mich in sein Zimmer. Nie wieder würde er mich allein lassen.

Langsam öffnete ich meine Augen. Das Klingeln des Telefons hatte mich geweckt. Warum hatte ich geschlafen? Es war doch Nachmittag. Ich blickte auf die Seite. Neben mir lag Moritz. Ich erinnerte mich wieder. Langsam stieg ich aus dem Bett. Ich hatte Angst, dass er verschwindet sobald ich den Raum verlasse. Ich stieg die Treppe hinunter, sobald ich mir einen Morgenmantel übergezogen hatte. Ich war noch ganz benommen und in meinem Kopf war alles neblig. Ich wollte gerade den Hörer abnehmen, als es aufhörte zu klingeln. Ich runzelte die Stirn und blickte zu dem Spiegel vor mir auf. Ich machte einen Erschreckten Satz nach hinten. Aus dem Spiegel blickte mich Anemones Gesicht an.

"Was - Was - Was - Was soll das?"

"Penelope, du und Moritz müsst sofort nach Sirenzia kommen. Es ist etwas Fürchterliches geschehen!"

Ich wollte noch fragen, was denn passiert sei, doch Anemone war schon wieder verschwunden und ich blickte mein eigenes Gesicht an. Was wohl passiert sei? Ich ging sofort zurück zu Moritz' Zimmer, weckte ihn auf und erzählte ihm davon. Er meinte, wir dürften keine Zeit verlieren. Und so standen wir kurze Zeit später fertig angezogen vor einem magischen Portal. Moritz nahm meine Hand und wir traten beide durch das Tor.

Unser Gott, Kismu!

Langsam nahm meine Umgebung Form an. Wir, Moritz und ich standen in Kevins Hütte. Besorgt sahen uns Anemone und Kevin an. Mir kam es so vor, als hätte Anemone ein kleines Bisschen zugenommen. Ein Kind lief aus der Küche und hängte sich an Anemone. Dieses Mädchen hatte genau rote Haare und genau dieselbe Sturmfrisur wie Kevin. Sie sah Anemone aus ihren lilanen Augen an und riss an ihrem Kleid.

"Mama! Mama! Julius hat seinen Brei auf dem ganzen Küchentisch verteilt. Mama! Jetzt komm doch und schau!"

"Ja doch, gleich mein Liebes! Mama muss hier noch etwas besprechen!"

Ich war sprachlos.

"Mama? Anemone, heißt das etwa, du bist ihre - das ist nicht wahr, oder!?"

Das Mädchen schrie immer lauter und wurde fast hysterisch. Moritz räusperte sich laut. Das Kind wandte ihm den Kopf zu. Sofort versteckte sie sich hinter Anemone und sah uns misstrauisch an. Also, wenn dieses Kind nicht von Kevin und Anemone war, dann wusste ich auch nicht. Anemone legte die Hand auf den Hinterkopf des Kindes.

"Ob du's glaubst, oder nicht. Das ist meine Tochter. Und Kevins."

"Ihr habt euch aber ziemlich beeilt. Es sind doch nur vier Tage vergangen."

"Vier Tage? Wovon Träumst du? Das waren über vier JAHRE."

Das gab es doch nicht. Schon wieder war die Zeit schneller vergangen. Ich versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, doch ich fand keine.

"Es wäre nett, wenn ihr beide uns erklären würdet, warum ihr uns her gerufen habt. Diese Weltenreisen machen wir nämlich nicht zum Spaß."

Moritz klang ziemlich entnervt. Man sah ihm auch an, dass es ihm keinerlei Freude bereitete, hier herum zu stehen und fremde Kinder zu begutachten.

"Ja, natürlich. Kommt doch in die Küche, damit der Kleine nicht allein ist."

Der Vorschlag hätte an sich ganz verlockend geklungen, hätte Kevin Moritz dabei nicht mit einem mörderischen Blick gestraft. Doch dieser zeigte keine Reaktion und ging hocherhobenen Hauptes in die Küche. Ich folgte ihm zögernd. In der Küche fand ich einen kleinen Jungen vor, der in einem Hochstuhl saß. Der Brei, den er verschüttet hatte, tropfte langsam auf den Boden und landete mit einem ekligen "pflop". Anemone nahm einen etwas lädierten Lappen und wischte es schnell auf. Sie schleuderte ihn in einen Eimer und setzte sich zu uns an den Tisch. Kevin räusperte sich kurz und begann zu erzählen.

"Seitdem wir Moritz' Vater umgebracht haben, hat sich die Finsternis nicht weiter ausgebreitet. Es hat zwar lange gedauert, aber wir haben die gesamten Tiere wieder zurück verwandelt. Die einzige beunruhigende Sache ist, dass sich die Finsternis nicht von selbst zurückgezogen hat, obwohl sie das sollte. Die Menschen dieser Welt haben verschiedene Leute damit beauftragt, die Ursache heraus zu finden. Unter anderem uns beide. Und da wir vor vier Jahren - "

"Tagen."

"Wie auch immer. Ein gutes Team gewesen sind, wollte ich euch fragen, ob ihr uns helfen wollt."

"Kommt nicht in Frage."

Bevor ich überhaupt etwas sagen konnte, hatte sich Moritz bereits eingemischt.

"Ich habe keine Lust, noch einmal mein Leben zu riskieren. Und dieses Mal betrifft es mich nicht einmal direkt. Vergesst es."

Ich berührte Moritz' Arm.

"Jetzt sei doch nicht so. Sie haben uns damals geholfen, deine Unschuld zu beweisen. Hier ist jetzt die Gelegenheit, sich zu revanchieren."

Bevor Moritz etwas einwenden konnte, sprach ich weiter.

"Wir können auch gerne abstimmen, aber ich glaube, 3 gegen einen ist eindeutig, oder?"

Moritz murmelte etwas vor sich hin und ich fasste das als ja auf. Begeistert klatschte ich in die Hände.

"Gut, worum geht es denn?"

"Du hast uns wohl nicht zu gehört..."

Penelope schmunzelte vor sich hin. Ich dachte kurz nach.

"Ach ja, klar! Die Finsternis! Wisst ihr, wer dahinter steckt?"

Kevin rückte seinen Stuhl zurecht und es quietschte ohrenbetäubend.

"Nun, wir haben die Vermutung, dass Moritz' Vater noch am Leben ist und sich die Finsternis deshalb nicht zurückzieht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er sich tief unter seinem Schloss aufhält und sich regeneriert."

Kevin blickte Moritz von der Seite an. Moritz' Gesicht hatte keinen Ausdruck. Er blickte nur starr vor sich hin. Kevin zögerte kurz, bevor er weiter redete.

"Wir müssen ihn finden und dann töten. Und wir müssen uns beeilen, bevor er wieder seine vollkommene Kraft erreicht hat. Denn dann wird er um ein Vielfaches stärker sein, als bei unserer letzten Begegnung."

Es entstand ein bedrückendes Schweigen. Penelope fuhr fort.

"Ich und Kevin haben bereits trainiert. Als nächstes müsst ihr das tun. Denn die Kraft, die sich unter dem Schloss befindet, ist die mächtigste, die ich jemals in diesem Land verspürt habe."

Wir schwiegen erneut. Nach einer Weile begann Moritz zu sprechen.

"Und was ist mit diesem Gott? Wie hieß der doch gleich? Kismu, oder? Hat der etwas dazu gesagt?"

Kevin sah zur Seite. Der kleine Junge begann zu lallen und warf seinen Löffel, den er immer noch in der Hand hielt, quer durch die Küche. Geistesgegenwärtig duckte Anemone sich und der Löffel landete scheppernd in der Spüle.

"Wir hatten ehrlich gesagt, noch gar keine Zeit, mit ihm zu sprechen."

"Das hättet ihr aber noch gemacht."

Ich musterte ihn misstrauisch aus zusammengekniffenen Augen.

"Ja, natürlich!!!"

Kevin schmunzelte. Sie hatten es vergessen. Nun, was sollte man sagen? Vier Köpfe dachten eben doch besser als zwei. Plötzlich drückten mich zwei kleine Händchen zur Seite. Ich blickte in diese Richtung. Das kleine Mädchen setzte sich neben mich und zeigte mir vier ihrer Puppen.

"Schau mal! Die hat mir meine Mama geschenkt! Die sind toll, oder?"

Ich nahm die Puppen in die Hand und betrachtete sie lächelnd. Das waren ganz eindeutig Kevin, Penelope, Moritz und ich.

"Soll ich dir mal zeigen, wie ich mit ihnen spiele?"

Ich blickte lächelnd zu Moritz, doch dieser starrte nur abwesend vor sich hin. Das kleine Mädchen nahm meine Hand und zog heftig daran. Ich sah Penelope an.

"Es ist doch in Ordnung, wenn ich..."

Sie nickte und machte eine kleine Handbewegung.

"Klar doch, geh nur."

Ich folgte dem Mädchen die Treppe nach oben in ihr kleines Zimmer.

"Schau, der hier soll immer der böse sein, hat Mama gesagt."

Sie zeigte mir eine Puppe, die Moritz' Vater darstellte. Ich nickte.

"Aber ich mache lieber ihn als Bösen."

Sie steckte mir eine weitere Figur entgegen. Diese Person kannte ich nicht. Es war ebenfalls ein Mann, hoch gewachsen, weiße Haare, die silbern glänzten und bestimmt nicht älter als dreißig.

"Wer ist das denn?"

"Ich weiß nicht. Papa nennt ihn immer Kismu. Aber mehr weiß ich auch nicht."

Ich drehte die Figur in meiner Hand. Kismu also. Sah er wirklich so aus. Ein Knarren hinter mir, ließ mich herumfahren. Moritz stand in der Tür und blickte mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Ich bekam eine Gänsehaut.

"Was - was hast du denn?"

Er schüttelte den Kopf.

"Ach, nichts. Ich habe nur... ach, nichts, vergiss es..."

"Ich spiele gerade mit der Kleinen."

"Ich heiße Isabella."

"Ja, ich spiele mit Isabella."

Er schüttelte ungeduldig den Kopf.

"Ja, ja. Das ist toll. Kommst du jetzt runter?"

Er zog mich mühelos mit einem Arm vom Boden hoch auf die Füße. Ich streckte mich. Moritz' Hand glitt von meinem Arm runter um meine Hüfte und er schob mich nach draußen. Wir stiegen die Holztreppe nach unten. Am Fuß der Treppe warteten Penelope und Kevin bereits. Penelope holte tief Luft.

"Isabella! Komm nach unten!!!"

Man hörte aufgeregtes Füßchengetrappel. Isabella erschien und rutschte an Treppengeländer hinunter.

"ja, hier bin ich! Ist es wieder so weit, Mutter?"

Penelope nickte stumm. Sie holte etwas Staub aus ihrer Tasche und warf es über ihre kleine Tochter. Es tat einen Knall und statt des kleinen Mädchens stand dort eine junge Frau, die Anemone ziemlich glich.

"Willst du nicht auch mal Julius groß machen. Du weißt, das zieht immer so fürchterlich."

Penelope fuhr sich durch die Haare.

"Du weißt, dass ich das nicht will."

Isabella drehte sich weg.

"Ja, natürlich."

Sie ging in die Küche. Dieser Zauber war wirklich beeindruckend. Anemone fuhr sich erneut durchs Haar.

"Wie auch immer. Lasst uns aufbrechen. Je weniger Zeit wir vergeuden, desto besser..."

Ohne ein weiteres Wort traten wir aus der Tür, hinaus ins Freie. Wir betraten den Wald, in dem ich zum ersten Mal Moritz' Vater begegnet bin. Doch dieses mal liefen wir einen stark bewaldeten Weg entlang. Man sah, dass dieser Weg lange nicht mehr benutzt worden war, denn auf dem Weg lagen Ranken herum und bewegten sich manchmal, sodass sie aussahen, wie Schlangen. Dieser Anblick ließ mich übermütig werden und ich sprang fröhlich herum. In einem Sprung drehte ich mich um und fragte Anemone fröhlich:

"Wohin gehen wir eigentlich?"

Sie kratzte sich kurz am Nacken, bevor sie antwortete.

"Nun, es gibt eine Ruine, ganz in der Nähe. Dort hausen Monster und Dämonen. Bisher hat noch nie jemand die Spitze des Turms erreicht. Von Außen sieht er fast gänzlich zerstört aus. Doch wenn man im Inneren ist, sieht alles vollkommen ganz. Das liegt daran, dass man, sobald man den Turm betritt, in eine andere Dimension gebracht wird, eine Dimension, in der der Turm noch vollständig ist."

Ich war stehengeblieben.

"Wa - wa - was? Dämonen?"

Anemone machte eine kleine Handbewegung.

"Keine Sorge. Die auf der untersten Ebene sind so schwach, dass sogar du sie besiegen kannst."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und machte einen Schmollmund.

"Na, herzlichen dank."

Ich drehte mich um und lief nach vorne. Auf einmal gab der Boden unter mir nach und ich fiel mit einem Lauten Schrei ins Dunkel. Ich landete auf etwas hartem, das sofort unter mir zerbrach. Ich landete auf dem Bauch. Ein Bruchteil einer Sekunde hörte man nur ein leises Knarren. Auf einmal fiel etwas Hartes auf mich drauf. Es fühlte sich nach Büchern an. Und nach einem Quietschen fiel das gesamte Regal auf mich drauf und zerfiel sofort. Es roch morsch und verschimmelt. Ich blieb liegen, bis ich jemanden hörte, der über mir meinen Namen rief. So laut ich es mit meiner zittrigen Stimme konnte rief ich zurück. Es war Kevins stimme, die beruhigend nach unten rief.

"Bist du verletzt?"

"Nein."

"Bleib dort, wo du bist. Ich kenne einen normalen Eingang."

"Gut! Beeil dich aber!"

Etwas anderes, als bleiben, wo ich war, konnte ich sowieso nicht, weil es stockfinster war. Ich kniete mich langsam hin.

"Ich bräuchte Licht. Wieso gibt es hier kein Licht?"

Kurz hatten Flammen aufgeleuchtet, waren aber sofort wieder erloschen. Ich dachte kurz nach.

"Licht."

Die Fackeln an den Wänden begannen zu leuchten.

"Kein Licht."

Sofort erloschen sie wieder. Dieses Spielchen wiederholte ich noch so oft, bis ich es müde geworden war. Ich ließ die Fackeln brennen, da mir die Spinnen aufgefallen waren, die so groß waren wie eine Ananas. Ich besah mir die Bücher, die auf dem Boden lagen. Ich hob ein schweres, grünes, gebundenes Buch auf. Ich begann auf der Seite zu lesen, die aufgeschlagen gewesen war. Während dem Lesen weiteten sich meine Augen. Ich hörte Schritte. Die Anderen kamen gerade eben an. Kevin atmete ein paar Mal durch, bevor er zu sprechen begann.

"Wow! Du hast die alte Bibliothek gefunden. Wir haben se schon seit Jahren gesucht."

Ich starrte ihn aus leeren Augen an.

"So, und woher wusstest du dann, wo der Eingang ist.

"Das ist..."

Ich ließ ihn nicht ausreden.

"Dann wusstet ihr DAS also auch!"

Ich hielt ihnen die offenen Buchseiten hin. Meine Hand zitterte leicht von dem Gewicht. Anemone startete einen Versuch, mich zu beschwichtigen.

"Es ist nicht so, wie es aussieht!"

"SPART EUCH DAS!"

Ich warf das Buch auf Kevin zu. Dieser drehte sich zur Seite und der Buchrücken traf ihn am Oberarm.

"Wieso! Wieso habt ihr mir das nicht gesagt?"

"Weil wir dachten..."

"Nein! Nein, ich will es gar nicht wissen! Hört auf damit! Ich will zurück in meine Welt. S-O-F-O-R-T!"

Moritz stand da wie festgewachsen.

"Was, was ist denn hier los?"

Ich war an ihm vorbei gestürmt und lief nach draußen. Ich lief Quer durch den Wald. Ich lief, bis es begann, dunkel zu werden. Erst dann merkte ich, dass ich mich mitten in der Pampa befand, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wo ich mich befand, oder wie ich die Anderen wieder finden könnte. Ich schrie auf einmal unartikuliert los. Einige Vögel flatterten erschreckt auf. Mein Herz raste. Scheiße. Ich kniete mich auf den Boden und tastete nach Stöcken, die ich für ein Feuer verwenden konnte. Ich schlichtete alles unordentlich auf einen Haufen und begann, zwei Stücke aneinander zu reiben. Nach einiger Zeit flammte ein kleines Licht auf. Ich stocherte damit vorsichtig in dem Haufen herum, bis er, zunächst zögerlich und dann immer besser, Feuer fing. Ich legte den Ast hin, zog meine Beine an meinen Körper und rutschte etwa näher an das Feuer heran. Es war mittlerweile so dunkel geworden, so dass ich nur mit Mühe einen Strauch ausmachen konnte, der zwei Baumreihen von mir entfernt, stand. Mich fröstelte es und um mich herum hörte ich lauter unheimliche Geräusche. Ich zog die Beine noch näher an mich heran. Die Stunden vergingen, ohne dass etwas passierte. Ich wurde immer müder und war bereits zwei Mal kurz weggenickt, aber sofort wieder hoch geschreckt, weil ich Angst hatte, dass das Feuer ausgehen konnte. Ich musste mich wieder zwingen, nicht ein zu schlafen, doch meine Augenlieder wurden schwer wie Blei. Mein Kopf fiel nach vorne.

Ich streckte mich. Ich war tatsächlich eingeschlafen und nichts hatte mich aufgegessen. Das Feuer war mittlerweile erloschen. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich damit keinen Waldbrand verursacht hatte, zumal ich als erste gestorben wäre. Ich stand auf und klopfte mir das Laub von der Hose. Es wäre vielleicht gar nicht so schlecht gewesen, wenn ich jetzt tot wäre. Ich bezweifelte, dass Moritz, Anemone und Kevin noch an der Bibliothek waren und deshalb lief ich nicht zurück, sondern geradeaus weiter. Gegen Mittag begann mein Magen laut zu knurren, doch das einzige, was ich fand, war ein kleiner Bach. Nicht einmal ein Strauch mit Beeren. Der halbe Nachmittag war bereits herum, als ich aus dem Wald trat. Ich stand auf einer großen Wiese, die aber auf der linken Seite von einer tiefen Schlucht unterbrochen wurde. Die Ironie des Schicksals. Alles, was hier geschah, schien zu einer großen Wiese zu führen. Ich starrte blicklos auf die Schlucht. Plötzlich wusste ich, wie ich die Probleme von Anemone und Kevin lösen konnte, ohne irgendjemanden zu gefährden. Egal, wie viel wir in diesem Geisterturm üben würden. Wegen mir würde Kismu immer stärker sein, als irgendjemand. Ich ging bereits auf den Rand der Felsspalte zu. Am Rand angekommen, blickte ich nach unten. Der Boden war nicht zu sehen. Allein der Aufprall dürfte mich töten. Ich lehnte mich nach vorne. Ich hörte Schrei hinter mir. Schritte. Jemand rannte auf mich zu. Ich falle nach vorne. Jemand packt mich, drückt mich an sich. Ich falle nicht. Ich öffne die Augen, doch ich sehe nichts. (Anmerkung: Sie ist nicht blind. Ich wollte nur dieses "blicklos" etwas umschreiben.) Wir werden hochgezogen. Auf einmal liege ich auf der Erde. Moritz neben mir. Ich stütze mich auf. Schritte, die sich entfernen. Mein Blick ist starr auf das Gras vor mir gerichtet. Ich drehe mich um und sehe Moritz an.

"Was ist passiert?"

Moritz lachte etwas gepresst.

"Nun ja, ich habe dich gerade vom Selbstmord abgehalten. Kannst du mir bitte erklären, was du damit bezwecken wolltest?"

Er strich sich durch die etwas verwuschelten Haare. Ich schnaubte empört auf.

"Ich bitte dich! Halte mich nicht zum Narren! Die Beiden haben dir doch sicherlich schon alles erzählt."

Er konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Was war denn nun wieder so lustig?

"Wenn es dich interessiert: "die Beiden" haben sich über den Grund für euren kleinen Disput ausgeschwiegen. Und das Buch habe ich auch nicht in die Hände bekommen. Ich fände es sehr nett von dir, wenn du mich aufklären würdest, worum gerade ein so großes Geheimnis gemacht wird."

Er legte den Kopf etwas schief und wartete auf meine Antwort. Er sah ziemlich zum Anbeißen aus.

"Nun, ich bin Kismus Gegenstück."

Er hob eine Augenbraue an und signalisierte damit, dass er nicht verstand, was ich damit sagen wollte.

"Also, das ist so. Seit jeher gibt es auf diesem Planeten einen Gott, der ihn beschützt. Doch es ist auch schon sehr oft vorgekommen, dass dieser Gott beispielsweise verrückt geworden, oder dass er die Bevölkerung geknechtet hat. Deshalb wird durch das Zufallsprinzip ein Gegenstück aus unserer Welt ausgewählt. Diese Person ist der Mittelpunkt der Zeit. Sprich, wenn ich einen Tag hier bin, vergeht in unserer Welt ein Jahr und umgekehrt. Dieses Gegenstück bin ich."

Ich schwieg.

"Aber wieso wolltest du dich dann umbringen? Was hat das alles damit zu tun?"

"Falls ich sterben sollte, stirbt Kismu ebenfalls und ein neuer Gott wird bestimmt."

Es trat ein kurzes Schweigen ein.

"Und wenn er stirbt... stirbst du dann auch?"

Ich lächelte ihn an und strich über seine Wange. Sie kratzte etwas.

"Nein. Er ist ja schließlich nicht mein Gegenstück, sondern ich seines."

"Gibt es denn da einen Unterschied?"

Ich lachte belustigt auf.

"Ich weiß es nicht."

Moritz zog mich zu sich in seine Arme.

"Versprich mir, dass du nie wieder solche Dummheiten zu machen. Dein Tod löst keine Probleme. Für mich schafft er nur welche."

Sein Atem hatte an meinem Ohr gekitzelt. Ich blickte zu ihm hoch. Er wuschelte mir mit seiner Hand durchs Haar.

"Welches Mädchen würde es sonst fertig bringen, mir mit der Faust mitten ins Gesicht zu schlagen und mir dabei fast die Nase zu brechen."

"WAAAAAAAAAAAAAAS!? Das war ja wohl deine eigene Schuld!"

Er begann zu lachen. Es war ein wunderschönes, melodisches Lachen. Er schien sich ja sehr über meine Erzürnung zu amüsieren. Doch mit einem Mal wurde er wieder ernst und zog mich noch fester an sich.

"Du hast es mir noch nicht versprochen. Bitte! Versprich es mir. Versprich mir, dass du niemals wieder an Selbstmord denkst, geschweige denn, dich tatsächlich umbringst!"

Er hatte mit solchem Ernst gesprochen, dass ich wie versteinert dasaß. So kannte ich ihn gar nicht. Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als ich ihn antwortete.

"Ich gebe dir dieses Versprechen nur gegen ein Versprechen von deiner Seite."

"Und das wäre?"

"Du musst mir versprechen, dass du mich nie wieder alleine lässt. Nie mehr! Versprichst du es?"

Er nickte ernsthaft.

"Ja. Ich verspreche es dir."

"Gut. Dann verspreche ich dir auch das, was du wolltest."

Ich sah über Moritz' Schulter, dass Kevin auf uns zugelaufen kam. Er blieb bei uns stehen.

"Kommt! Anemone hat einen Karren angehalten, der zum Schloss fährt und uns mitnimmt."

"Aber was ist mit unserem Training. Wir wollten doch in diesen Turm!"

Moritz hatte mich losgelassen, weil ich aufgesprungen war. Nun richtete auch er sich auf.

"Wisst ihr, das ist so. Allein das Durchqueren dieses Waldes macht einen um ein Vielfaches stärker."

Ich deutete energisch auf Kevin.

"Siehst du!? Siehst du das!? Sie haben es schon wieder getan! Du Scheißkerl! Wenn ich einen Stein hätte, würde ich ihn dir an den Kopf werfen. Ich bereue es, dass das Buch, mit dem ich dich beworfen habe, dir den Schädel nicht zertrümmert hat."

Ich stapfte wütend an ihm vorbei und erreichte Anemone nach einem kurzen Waldmarsch. Sie wollte mir auf den hinteren Teil des Wagens helfen, doch ich stieß nur wütend ihre Hand weg. Auch Moritz und Kevin kamen an. Als auch sie saßen, fuhr der Wagen an. Ich lauschte stumm der Besprechung. Wir wollten vortäuschen, eine Audienz bei Kismu haben zu wollen. Sobald wir ihm gegenüberstanden, würden wir versuchen, ihn so schnell wie möglich zu töten. Das war einleuchtend. Wobei mir eine zweifelhafte Ehre zuteil werden sollte, ihn zu töten, da ich, als sein Gegenstück als einzige dazu fähig war. Während der restlichen Fahrt schwiegen wir uns gegenseitig an. Anemone und Kevin hatten sich nach vorne gesetzt. So saßen Moritz und ich alleine hinten. Er nahm meine Hand.

"Weißt du, eigentlich wollte ich dir das erst nach diesem Kampf sagen, aber ich habe so ein mulmiges Gefühl, deshalb tue ich es jetzt. Ich möchte, zusammen mit dir eine Familie gründen, sobald wir wieder in unserer Welt sind. Ich möchte auch mein ganzes restliches Leben mit niemand anderem verbringen, als mit dir."

Dieses Geständnis hatte mir die Sprache verschlagen. Er zog mich zu sich hin und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter.

"Du brauchst jetzt nichts zu sagen. Ich spüre, was du denkst."

Der Karren tat einen Ruck. Wir waren bereits im Innenhof der Burg angekommen. Wir wurden ohne Probleme zu Kismu gelassen. Wir stiegen eine Treppe hinauf. Als wir kurz vor einer großen Tür warteten, fiel mir eine Wendeltreppe zu meiner Rechten auf. Dort musste es wohl zu einem Turm hinauf gehen. Die Tür wurde geöffnet und wir betraten einen Raum. Vor uns saß Kismu auf einem Stuhl. Er richtete sich langsam auf und grinste uns dämonisch an.

"Ich habe bereits auf euch gewartet."

Die Türen fielen hinter uns ins Schloss. Wir waren gefangen. Kismu betrachtete uns vier. Sein Blick blieb an mir hängen. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass er wusste, wer ich war. Er streckte die Hand nach vorne, mit der Handfläche nach oben. Ich schwankte kurz, dann war es schon vorbei. Erst nach einem Kurzen Moment begriff ich, was passiert war. Es hatte uns unsere Kräfte genommen. Und da wir keine Waffen hatten, waren wir ihm vollkommen hilflos ausgeliefert. Kevin stürzte auf ihn zu. Doch mit einer kleinen Handbewegung hatte er ihm einen Speer durchs Herz gestoßen. Kevin blieb reglos am Boden liegen. Ein zweiter Speer kam auf ihn zugerast. Anemone warf sich schützend auf seinen Leichnam und wurde ebenfalls durchbohrt. Nun wurde ich Zielscheibe von verschiedenen Attacken und ich konnte nichts anderes tun, als auszuweichen. Moritz hatte zwar den Speer aus Anemones Körper gezogen und ihn auf Kismu geworfen. Doch da um diesen Schutzschilder gespannt waren, zersplitterte dieser in tausend Stücke. Ich war kurz stehen geblieben, um zu verschnaufen. Diesen Augenblick nutzte Kismu, um mich erneut anzugreifen. Ich sprang erneut zur Seite. Damit waren meine Kraftreserven erschöpft. Das hatte Kismu auch gemerkt und deshalb eine Energiekugel auf mich abgefeuert. Jetzt hätte ich Moritz' Hilfe gut brauchen können. Die Energiekugel kam direkt auf mich zu. Ich stolperte nach rückwärts und fiel um. Ich schob mich ein Stück nach hinten, doch ich kam nicht aus der Schussbahn. Die Energiekugel kam immer näher. Ich hob die Hand vor das Gesicht. Jetzt war wohl alles vorbei. Ich hörte den Aufprall, doch ich spürte keinen Schmerz. Ich blickte auf. Ein Schatten. Ein Lächeln. Traurige, blaugrüne Augen, die sich langsam schlossen. Moritz fiel nach hinten um. Ich stürzte nach vorne und fing ihn auf. Seine Brust war vollkommen aufgerissen und warmes Blut quoll aus seiner Brust auf meine Arme. Ich schlang sie um seine Schultern und ließ meinen Kopf sinken. Tränen liefen meine Wagen hinunter. Das ist nicht wahr. Das konnte nicht wahr sein. DAS DURFTE NICHT WAHR SEIN! Ich wischte meine Augen an seiner Schulter ab und drehte den Kopf zur Seite. Ich sah Anemone, die reglos auf Kevin lag. So viel Leid. So viel Tod. Erzeugt durch eine einzige Person. Langsam drehte ich meinen Kopf in Kismus Richtung. Ich kann ihn nicht am Leben lassen. Er muss sterben. Traumatisiert stand ich auf. Ich griff nach einem riesigen Knüppel, der neben mir lag. In meiner Hand verwandelte er sich in ein riesiges Schwert. Ich stürzte auf Kismu zu und durchbrach mühelos die verschiedenen Schutzschilder und hieb ihm mit einem Schlag den kopf ab. Sein Körper fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. Zitternd hielt ich das Schwert in meiner rechten Hand, die an meiner Seite hing. Langsam glitt es aus meiner Hand. Wie in Trance lief ich an Moritz vorbei, aus dem Raum hinaus, die Treppe zum Turm nach oben. Ich begann, in Gedanken mit Moritz zu reden.

Natürlich habe ich es nicht vergessen. Wie hätte ich es vergessen können. Ich habe auch nicht vergessen, dass ich dir versprochen habe, mich nicht umzubringen.

Ich hatte mittlerweile das oberste Turmzimmer erreicht. Ich stieg auf den Fenstersims und schob mich an dessen Äußeren Rand.

"Doch da du dein Versprechen gebrochen hast, ich meines wohl ebenfalls hinfällig."



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