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A complicated Lady

Das ungewöhnliche Leben der Anthea Cook (Teil 2: Antheas erste Jahre)
von

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Kapitel 1

Die milde Sonne des angehenden Sommers schickte ihre goldenen Strahlen durch den Garten von Warwicks an der Themse gelegenem Palais. Auf den weiten, grünen Rasenplätzen blühten, kunstvoll angelegt, Rosen, Tulpen und Narzissen, die Insekten summten und Betty, welche die kleine Anthea an ihren Händen vor sich herführte, spürte den trockenen Kies unter ihren dünnen, roten Lederschuhen.
 

Im vergangenen Mai hatte Tabithas Tochter ihr erstes Lebensjahr beendet. Rund einen Monat davor, am neunzehnten April, hatte Betty ihr bei den ersten Schritten geholfen.
 

Mittlerweile konnte die Kleine bereits selbständig gehen, aber auf ihren kurzen, schnellen Beinchen fiel sie häufig hin und weinte, und da Betty wusste, dass John Dudleys Wohngemach zum Schlossgarten gelegen war und Warwick das Kindergeschrei zunehmend unerträglicher fand, hatte sie beschlossen, ihren kleinen Schützling noch eine Weile zu führen, so lange, bis Antheas Gang sicherer geworden war und sie keinen Grund mehr hatte, den Vormund in seiner Ruhe zu stören.
 

Auf halbem Weg durch den blühenden Garten begegneten sie Dudleys jüngstem Sohn. Robert war in Begleitung seines älteren Bruders Ambrose, welcher sich im folgenden Herbst mit Lady Susan, einer Tochter des Hauses Sussex, verloben sollte, und damit recht zufrieden zu sein schien.
 

Als Robert der neugierig um sich blickenden Anthea ansichtig wurde, lächelte er, ging zum Erstaunen seines Bruders in die Hocke und hielt die Arme auf.

"He, kleine Annie", rief er, und als das kleine Mädchen ihn sah, wurden ihre klaren Augen noch größer und sie begann zu strahlen.
 

Betty ließ die Kleine los, und Anthea rannte, ohne ein einziges Mal zu stolpern, hinüber zu Warwicks jüngstem Sohn, der sie lachend auffing und zu sich hinaufhob.
 

Betty betrachtete die Beiden eine Weile lang und musste herzhaft lachen, als das Kind mehrmals Roberts Namen sagte und dabei vergnügt gluckste. Erheitert musste die Erzieherin daran denken, dass "Robert" das erste Wort gewesen war, welches Anthea mit ihrer kindlichen Stimme fehlerlos ausgesprochen hatte, erst danach war sie an die Reihe gekommen und zum Schluss die Zofe Liz.
 

Der fast siebzehnjährige Robert hatte seinerseits unbestritten einen Narren an Thomas' unehelicher Tochter gefressen. Jedes Mal, wenn er das Kind mit den niedlichen, kastanienfarbenen Löckchen, in die Betty liebevoll feilchenblaue Schleifen geflochten hatte, zu Gesicht bekam, hob er es auf seine Arme und lachte und scherzte mit ihm.
 

"Mylord werden einmal einen glänzenden Vater abgeben", bemerkte Betty lächelnd, während Robert ihr die Kleine zurückgab. Bei ihren Worten jedoch verdüsterte sich sein schönes, schmales Gesicht mit einem Mal, und Betty, die sich denken konnte, warum, beschloss auf dem Rückweg zum Schloss, den sie gemeinsam gingen, zu schweigen.
 

Im vergangenen Februar hatte Warwick auch für seinen jüngsten Sohn eine Ehekandidatin gefunden; nach Beendigung seines achtzehnten Lebensjahres sollte Robert mit Amy Robsart, der Tochter eines reichen und begüterten Edelmannes, verheiratet werden. Der scharfsinnigen Betty jedoch, welche Robert besser kannte als all seine übrigen Geschwister, war nicht verborgen geblieben, dass jenes langweilige, farblose Mädchen durchaus nicht den Vorstellungen des jungen Mannes entsprach.
 

Er ist gewiss bereits in eine andere verliebt, ging es ihr durch den Kopf, so gutaussehend, wie er sich entwickelt, laufen ihm die Mädchen ja in Heerscharen nach, mir würde er schließlich auch gefallen...

Und sie betrachtete bewundernd Roberts edles, von der Sonne leicht gebräuntes Profil, die schönen, schlanken Hände und das dichte, glänzende, kurz geschnittene Haar.

Er ist ein Idol, dachte sie, die Frau kann sich glücklich schätzen, in die er sich verliebt...
 

Was die junge Erzieherin nicht wusste war, dass Robert stets nur ein einziges Mädchen vor sich sah, und dieses war groß, schlank, mit langen, schmalen Händen, rötlich-blonden Locken und rehbraunen Augen von ungewöhnlicher Form. Wenn er ihr während der vergangenen Jahre begegnet war, hatte sie ihn immer bezaubernd angelächelt, aber - und das war der dunkle Punkt - er wusste genau, dass Prinzessin Elisabeth Tudor unerreichbar für ihn war. Und obgleich er schon jetzt beschlossen hatte, seiner künftigen Gemahlin ein guter Ehemann zu sein, würde diese doch nie Elisabeths Bild verdrängen können...
 

Mit jeder neuen Woche, die verstrich, lernte Anthea ein wenig mehr dazu, mit der Zeit begriff sie es, einzelne Worte zu kleinen Sätzen zu formen und ihre kurzen, hastigen Schritte wurden so sicher, dass sie eines sonnigen, heißen Tages Ende Juli allein durch die Gartenanlage des dudleyschen Palais tollen konnte, nur in ein dünnes, seidenes Kleidchen gehüllt und die winzigen Löckchen mit Perlen verflochten.
 

Betty und Pauline, eine der älteren Erzieherinnen, saßen in einiger Entfernung unter einem Kastanienbaum, unterhielten sich halblaut und beobachteten zwischendurch das Kind, welches über die Wiesen sprang und fröhlich lachte.
 

Leider fand Antheas ausgelassenes Spiel ein abruptes Ende, als der August in den September überging und es verfrüht bitterkalt im Land wurde.

An einem jener grauen, verregneten Nachmittage saß Antheas kleines Gefolge von Zofen und Erzieherinnen in den Gemächern, die man dem Kind zugewiesen hatte, und man wärmte sich gemeinsam an dem breiten, offenen Kamin.
 

Es herrschte eine beinahe erholsame Stille. Betty saß in einem Lehnstuhl und beugte sich andächtig über die lateinische Schrift eines Buches, unmittelbar neben ihr auf einem hölzernen Schemel hockte, mit einer Näharbeit beschäftigt, die etwa gleichaltrige Liz, die etwas ältere Pauline untersuchte gemeinsam mit ihrer Freundin Maud Antheas größer werdendes Repertoir an Kleidchen, Hauben, Mützen und niedlichen Hemden, und neben dem kleinen, extra für das Kind angefertigten Holzbett saß eine weitere Zofe, welche Anthea mit einem alten, französichen Lied in den Schlaf sang, wobei die leisen, dunklen Klänge ihrer Laute den Raum mit sonderbarer Wärme erfüllten.
 

Die geruhsame Stille wurde durch das Rascheln der vielen Röcke durchbrochen, die beim Knicksen auseinandergebreitet wurden, als Warwicks Gemahlin, Lady Maryan, den leichten Vorhang, welcher Wohn- und Schlafgemach trennte, mit einer raschen Bewegung zurückschob und das breite Zimmer betrat.
 

Die Gräfin Warwick war eine große, schlacksige Dame, deren hoheitsvolles Auftreten in den prunkvollen Gewändern der Dienerschaft die nötige Ehrfurcht einflößte. Und doch war ihr altes, müdes Gesicht gezeichnet von der jahrelangen Beaufsichtigung und Erziehung ihrer sieben Kinder, und als sie nun lächelnd an das Bett ihres erst einjährigen Mündels trat, musste Betty unwillkürlich daran denken, wie gut es war, dass man Antheas Erziehung in die Hände jüngerer Frauen gegeben hatte.
 

"Nun, wie geht es unserer kleinen Lady Cook?" fragte die Gräfin und beugte sich tiefer über das Holzbettchen.

Betty trat zu ihr und betrachtete liebevoll das schlafende Kind.

"Sie entwickelt sich prächtig, Mylady", flüsterte die Erzieherin, dann jedoch verließ ein leiser Seufzer ihre Lippen. "Ich fürchte sogar, ein wenig zu prächtig. Sie ist heute wieder den ganzen Tag herumgetobt, und das in diesen engen Mauern! Wirklich, Mylady, es müsste das ganze Jahr hindurch Sommer sein, ginge es nach diesem anstrengenden Kind!"
 

Lady Dudley stand eine Weile lang in Antheas Anblick versunken da, dann wandte sie sich der jungen Miss Worchester zu.

"Nun, ich denke, dann ist es kaum vorstellbar, wie ein solches Energiebündel so ruhig und friedlich daliegen kann, nicht wahr, Miss Betty?"

"In der Tat, Mylady. Mit Verlaub, ich schätze, nicht eines Eurer zahlreichen Kinder wird so wild und ungestüm gewesen sein wie diese kleine Person."

"Ach, glaubt Ihr?" Lady Dudley zog ihre dünnen Brauen hoch. "Ihr irrt Euch, Miss Worchester. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Jahre meiner kleinen Katharina, guter Gott, was war sie für ein Teufelchen! Kaum vorstellbar, dass dieser Wirbelwind jetzt bald schon selbst Nachkommen haben wird..."

Und sie dachte ein wenig verstimmt an die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Katharina mit dem jungen Lord Giles, dem Neffen Sir Heny Greys, welcher wiederum mit der Nichte König Heinrichs VIII. verheiratet war.
 

Katharina hatte sich, gleich ihrer jüngeren Schwester Maria, zunächst heftig gegen die Heirat gewährt, und die alte Maryan wusste, obgleich sie natürlich den Wünschen ihres Mannes Folge zu leisten hatte, dass ihre Tochter in einen anderen verliebt war.

Wenn nur John nicht immer so sehr auf diese Ehen mit hochwohlgeborenen Persönlichkeiten Wert legte, dachte die Gräfin bei sich, dann wäre alles viel einfacher...Selbst Robert muss sich ja mit einem Mädchen verheiraten, dass er erst ein einziges Mal gesehen hat und überhaupt nicht liebt...und leise seufzend sah sie das junge, hübsche Profil ihres Lieblingssohnes vor Augen.
 

Als Lady Dudley die Gemächer der kleinen Anthea verlassen hatte, bemerkte Betty, dass die Dunkelheit hereingebrochen war. Langsam ging sie zwischen den großen, silbernen Leuchtern umher und zündete die Kerzen an, während Pauline und Maud das Zimmer verließen und nur Liz und die französische Marie-Claude mit Betty bei dem schlafenden Kind verharrten.
 

Gedankenverloren setzte sich die junge Erzieherin erneut ans Feuer und starrte eine ganze Weile lang in stummer Melancholie in die züngelnden Flammen.

Obwohl sich Betty nie sonderlich mit den politischen Problemen des Landes beschäftigt hatte, war es ihrer raschen Auffassungsgabe doch nicht entgangen, dass Warwick, in dessen Haushalt sie lebte, mit der Zeit immer mehr Einfluss und Ansehen im Regentschaftsrat genoss, wohingegen der Lordprotektor zusehends unbeliebter bei den Räten und vor allem bei der Bevölkerung wurde.
 

Kein Wunder, überlegte Betty, es ist unglaublich, wie Eduard Seymour das Volk knechtet und ausbeutet, und seine Vorgehensweise mit den ihm unliebsamen Katholiken ist kaum mehr mit anzusehen...er ist ein religiöser Fanatiker, nun, dachte sie, dies ist wohl eine Tatsache, mit der wir leben müssen, aber, und eine Überlegung, welche der jungen Miss Worchester schon häufiger durch den Kopf gegangen war, meldete sich nun erneut, seit Anfang Juni war es zunehmend zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Warwick und Lord Somerset gekommen.
 

John Dudley, welcher die Mehrheit des Rates meist auf seiner Seite hatte, wurde nach und nach Führer einer Gegenopposition...großer Gott, dachte Betty, wenn das so weitergeht, und wenn sich auch die Aufstände im Inland häufen, muss über kurz oder lang mit einem Sturz des Protektors gerechnet werden, und dann...dann wird Warwick nach dem König der mächtigste Mann im Staat sein, und da König Eduard noch minderjährig ist, wird es ihm nicht schwer fallen, sich als dessen Vormund aller seiner Privilegien zu bemächtigen...
 

Und bei diesem Gedanken wurde Betty von einer unerklärlichen Angst vor dem Herrn ergriffen, dem sie diente, er ist die Nettigkeit in Person, ging es ihr durch den Kopf, aber hinter dieser freundlichen Fassade verbirgt sich eiskalt berechnende Grausamkeit...

Abermals schoss es ihr durch den Kopf, dass Anthea in ihren späteren Jahren nicht eben Gutes von ihrem Vormund zu erwarten haben würde.
 

Doch Antheas Gedanken galten viel eher John Dudleys jüngstem Sohn als dem strengen, traditionsbewussten Grafen selbst.
 

Ihm galt der Blick ihrer großen, runden Kinderaugen, wenn Betty sie an der dudleyschen Tafel in ihren Hochstuhl setzte und mit dem eigens für sie zubereiteten Brei aus Milch und Hafer fütterte, ihm galt ihr ständig währendes, schelmisches Lachen, wenn er sie in den Gängen des Palais' auffing und auf die Arme hob, und ihm galten auch die neuen Worte und Sätze, die sie lernte.
 

Betty und die übrigen Kinderfrauen amüsierten sich jedes Mal köstlich, wenn Robert mit der Kleinen vor dem großen Kamin in der Halle saß und mit Bauklötzen spielte. Und als er ihr in der Advendszeit aus einem großen Buch mit Weihnachtsgeschichten vorlas, wobei es der Kleinen wundersamerweise für mehrere Stunden gelang, ruhig auf seinem Schoß zu sitzen, gluckste Liz in Bettys Ohr:

"Unsere kleine Lady Cook hat sich doch tatsächlich in Lord Robert verliebt!"

Betty, ebenfalls kichernd, tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab.

"Kindereien, Liz, der junge Dudley sollte sich um seine angehende Karriere bei Hofe bemühen, anstatt einem einjährigen Mädchen Geschichten vorzulesen, die es ohnehin noch nicht versteht!"
 

Im Oktober des Jahres 1549 war es in ganz England zu schweren, innenpolitischen Unruhen gekommen, Aufstände gegen die herrschende Klasse waren ausgebrochen und gewaltsam niedergeschlagen worden, wobei John Dudley, Herzog von Warwick, sich besondere Verdienste erworben hatte.
 

Jene Unruhen trugen in den darauffolgenden Monaten entschieden zum Sturz des Lordprotektors bei, und die Ratsmitglieder wechselten nacheinander zu Warwicks Partei über.
 

Noch gegen Ende Oktober wurden der gute Herzog von Somerset, William Cecil und einige Andere im Tower inhaftiert, im Februar 1550 entließ man sie, legte ihnen jedoch Geldbußen auf. Im Frühling wurde der Lordprotektor wieder in den Rat aufgenommen, erhielt einen Teil seiner Besitzungen zurück, und im Sommer schlossen er und Warwick Frieden und besiegelten diesen durch eine Heirat: Am 3. Juni ehelichte Warwicks zweitältester Sohn John des Protektors Tochter Anna.
 

Trotz der Aussöhnung mit Seymour blieb es eine unbestrittene Tatsache, dass Warwick zu Beginn des Sommers 1550 der mächtigste Mann im Staat war, allerdings ohne den Namen des Lordprotektors angenommen zu haben.
 

Im Frühjahr hatten Roberts heitere Vergnügungen mit Thomas Seymours kleiner Tochter ein Ende, denn im März verlobte er sich, auf die strenge Anweisung seines Vaters hin, mit Sir James Robsarts Tochter Amy, welche er im folgenden Juni heiratete. Kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag ernannte ihn der König zum ersten Kammerherrn und übertrug ihm außerdem das Amt des Oberhofjägermeisters, was ihn besonders erfreute, da die Jagd eines seiner liebsten Vergnügungen war.
 

Von diesem Zeitpunkt an verbrachten Robert und seine Brüder ihre meiste Zeit bei Hofe, während Betty in Dudleys Palais an der Themse nach wie vor mit der Erziehung der kleinen Anthea beschäftigt war.
 

Am 13. August des Jahres 1550 saß die junge Miss Worchester mit ihrem kleinen Schützling in der schwarzen Kutsche des Grafen, welche Richtung Enfield Court fuhr. Ihr gegenüber hatte sich die Zofe Liz in die dunklen Polster zurückgelehnt und schlief.
 

Liz hatte die Anweisung, Betty und das Kind nach Enfield Court zu begleiten, da sie lange Zeit in jenem Schloss gearbeitet hatte und sich gut auskannte.
 

Auch ihren Landsitz hatte Tabitha Cook vor ihrem Tod Warwick vermacht, und im vergangenen Herbst hatten Ambrose Dudley und seine Gemahlin dort ihre Flitterwochen verbracht.
 

Sie waren recht früh am Morgen losgefahren, sodass die brennende Mittagssonne hoch am Himmel stand, als das dunkle Gefährt durch den Torbogen in den äußeren Hof des Schlosses rollte. Betty stieß Liz vorsichtig an, und die Zofe, welche einen sehr leichten Schlaf besaß, erwachte sofort.

"Wir sind da, Liz, du musst aussteigen und dich darum kümmern, dass man uns empfängt."

Liz nickte. Sie verließ das Innere der Kutsche unmittelbar hinter Betty, welche die verwirrt um sich blickende Anthea auf dem Arm hielt, und lief hinüber in den inneren Hof, um der draußen beschäftigten Dienerschaft zu signalisieren, dass die kleine Lady Cook angekommen sei.
 

Der kleine, etwas untersetzte Mr. Eke, der seit gut einem halben Jahr neben ein paar anderen in den Stallungen arbeitete (der alte Jeff war wenige Monate nach seiner Herrin gestorben) runzelte die Stirn, als er die in Zofentracht gekleidete junge Frau erblickte.
 

"Lady Anthea Cook?" fragte er verwundert. "Aber Lady Cook...nun ja, Lady Cook ist doch..."

Liz sah ihn überrascht an.

"Wisst Ihr's denn nicht? Die ehemalige Besitzerin dieses Schlosses hat gut ein Jahr vor ihrem Tod einer unehelichen Tochter das Leben geschenkt. Lady Anthea ist das Mündel seiner Gnaden, des Herzogs von Warwick."

Bei der Erwähnung des Grafen schwand Mr. Ekes leicht dümmlicher Blick und ein Ausdruck vollkommener Ehrfurcht trat in sein rundes Gesicht mit der dicken Nase.

"Mylord Dudleys Mündel, sagt Ihr? Nun, dann ist es natürlich etwas anderes. Ich werde mich sofort darum kümmern, dass die Pferde anständig versorgt und Eure Kutsche untergebracht wird, Miss...sagt, wie heißt Ihr überhaupt?"

"Ich bin Miss Elizabeth Thornton, ich habe der seligen Lady Tabitha bis zu ihrem Tod als Kammerzofe gedient."

"Miss Thornton? Ach, dann seid Ihr wohl Liz!" Mr. Eke betrachtete sie interessiert. "Mrs. Simons hat schon so viel von Euch erzählt!"
 

Liz riss vor Verwunderung ihre feilchenblauen Augen auf.

"Mrs. Simons?! Mit Verlaub, ich kenne nur einen Mr. Simons."

Eke kicherte.

"Achso, ja richtig...Ihr werdet sie wahrscheinlich noch als Miss Heather kennen. Der werte Colin hat sie letzten Sommer endlich geheiratet...wurde auch höchste Zeit, schließlich war Eure Freundin damals bereits schwanger."

Es dauerte eine ganze Weile, bis Liz sich gefasst hatte.

"Soll das...soll das etwa heißen, dass Heather...dass Heather ein Kind bekommen hat?"

"Mrs. Simons, mit Verlaub. Ja, sie hat am 28. Dezember ihren kleinen Amyas zur Welt gebracht...ein seltener Name für einen englischen Jungen, findet Ihr nicht auch? Klingt eher nach einem Schotten...nun ja, und mittlerweile erwartet sie schon ihr zweites Kind."
 

"Gütiger Gott...lebt sie denn noch immer hier in Enfield Court?"

"Ja, sie arbeitet nach wie vor hier und kümmert sich mit den anderen Dienern und Mägden um die Instandhaltung der Räume. Sie meint auch, dass dies der beste Platz für ihre Kinder sei, frei und unbeschwert aufzuwachsen...leider hat ihr Mann kaum Zeit für sie, Colin lebt inzwischen fast ausschließlich am Hofe und verrichtet Botendienste für seine Majestät." Und dabei klang ein stolzer Unterton in Ekes nasaler Stimme mit, der Liz signalisierte, dass der Stallbursche mit Tabithas ehemaligem Boten eng befreundet sein musste.

"Nun dann...habt vielen Dank für all Eure Auskünfte.Leider müssen wir Lady Anthea noch heute zurück nach London bringen. Ich hätte so gern einmal wieder eine Nacht im vertrauten Heim verbracht, und es wäre so schön gewesen, Betty alles zu zeigen...sagt mir, ist es möglich, dass ich mit Heather ein paar Worte wechseln kann?"

"Selbstverständlich, Miss Thornton. Um diese Tageszeit kümmert sie sich meistens um ihren Sohn, aber sie wird gewiss später nach unten kommen, und dann werdet Ihr sie ohnehin treffen."
 

Erneut ließ er einen flüchtigen Blick zu dem eisernen Tor schweifen, unter welchem Betty soeben hindurchschritt. Sie wies mit der einen Hand über den großen Innenhof, während ihr anderer Arm Anthea an ihren Oberkörper drückte, und sprach halblaut mit dem vor sich hinplappernden Kind.
 

"Ihr seid wohl gekommen, um Lady Cooks Grab zu besuchen...?" erkundigte er sich rasch bei Liz, welche eben im Begriff war, sich abzuwenden.

"Ja, weshalb auch sonst? Ich nehme an, man hat es mittlerweile bepflanzt?"

Eke nickte.

"Gewiss, Miss Thornton. Lady Tabithas Grabstätte liegt direkt neben denen von Mr. Jeff und Miss Johnes."
 

Während sie Betty über einen Kiesweg in den Schlossgarten führte, war sie kaum fähig, ein Wort zu sprechen. Mr. Ekes letzte Worte hatten wie eine Lähmung auf sie gewirkt.
 

Wenn sie sich auf der Reise nach Enfield Court auf irgend etwas gefreut hatte, dann war es Cathys Reaktion gewesen, wenn diese die hübsche, kleine Anthea auf ihren kurzen Beinen zu Gesicht bekam.
 

Die Erkenntnis, dass Tabithas alte Erzieherin nicht mehr lebte, traf sie wie ein schwerer Schlag, als sie das mit Rosen, vereinzelten Narzissen und weißen und dunklen Lilien bepflanzte Grab sah.

Und dabei ging es ihr doch noch so gut, als ich Enfield Court damals mit Anthea verließ, dachte sie...
 

Es war jetzt eineinhalb Jahre her, dass sie das Kind nach London gebracht hatte. Im vergangenen Januar war Tabithas erster Todestag gewesen...

"Ach, kleine Anthea", sagte sie leise und ging in die Hocke, um mit dem Kind auf gleicher Höhe zu sein. "Wenn du doch nur wüsstest..."

Eine Weile lang standen sie andächtig an den drei Gräbern, betrachteten die Inschriften auf den hölzernen Kreuzen und lauschten dem Gesang der Vögel und dem Summen der Insekten über ihnen.
 

Schließlich hob Betty Anthea auf ihre Arme und sagte zu Liz:

"Komm, lass uns ins Innere des Schlosses gehen. Man wird uns dort sicher bewirten, außerdem vergehe ich hier draußen vor Hitze..."

"Du hast Recht", erwiderte Liz auf dem Rückweg, während sie langsam aus ihrer Lethargie erwachte und wieder einen klaren Kopf bekam. "Es kommt mir so vor, als sei dies der bisher heißeste Tag dieses Jahres."
 

Im Speisesaal des Schlosses brachte man ihnen kaltes Bier, Käse, Brot und Milch für Anthea, während das kleine Mädchen neugierig in dem großen Raum umherlief und schelmisch lachte.
 

"Anthea, Kleines, komm her und lass dich auf den Schoß nehmen, bevor du wieder irgend welchen Unsinn anstellst!" rief Betty und streckte ihre langen Arme in Richtung des Kindes aus.

Anthea war bei einem der wuchtigen Gemälde von ihrem Großvater mütterlicherseits stehen geblieben.

Glucksend drehte sie sich zu ihrer Erzieherin um, legte ihren dunklen Lockenkopf schief und steckte den Daumen in den Mund.

"Nun komm doch, Kind, komm zu mir!"

Die Kleine kicherte und schüttelte den Kopf.

"Nein." sagte sie laut und deutlich. "Nein, nein, nein..." Und lachend hüpfte sie durch den kühlen Saal. "Anthea hier bleiben, Anthea hier bleiben..." wiederholte sie immer wieder, so lange, bis Liz in lautes Lachen ausbrach und Betty resigniert den Kopf schüttelte.

"Der Himmel weiß, wohin das noch führt mit diesem schrecklichen Kobold!" seufzte sie, aber in ihren Augen lag unendliche Zuneigung und sie lächelte nachsichtig.
 

Wenig später betrat Heather langsamen Schrittes den Saal. Man sah noch nicht viel von ihrer Schwangerschaft, ihr schmaler Unterleib war erst leicht gewölbt.

Beim Anblick der niedlichen Anthea brach die Dienerin in Rufe des Entzückens aus.

"Bei meiner Seel', was ist sie für ein liebes, kleines Geschöpf geworden!"

"Wenn du dich mit dem lieben Geschöpf mal nicht täuschst...," sagte Liz, immer noch leise lachend. "Die Kleine ist ein Teufelsbraten par excelence, mir kommt es beinahe vor, als sei sie ein Trollkind!"

"So?" Heather hob die Brauen. "Ach, bei diesen Augen wird man ihr in Warwicks Haushalt mit Sicherheit Vieles vergeben, oder nicht?"

Betty winkte ab.

"Natürlich, natürlich..."
 

"Bei Gott, ihre selige Ladyschaft hätte gewiss ihre wahre Freude an ihrer kleinen Tochter gehabt."

Bei Heathers Worten verdüsterten sich Liz' spitze Gesichtszüge.

"Das arme, kleine Ding...so ganz ohne Mutter und Vater aufwachsen zu müssen...ich weiß nicht, was diese Gewissheit ausmacht, Heather, aber ich glaube, dass jener Umstand dem Kind eines Tages Schwierigkeiten bereiten wird."

Heather runzelte nachdenklich die Stirn, während sich Betty schweigend über ihren Teller beugte und Anthea auf ihrem Schoß fütterte.

"Schwierigkeiten? Nun, es kommt ganz darauf an, wie die Kleine sich entwickelt...bedenke, auch ihre Gnaden, Prinzessin Elisabeth, ist fast gänzlich ohne Eltern aufgewachsen, und meines Wissens nach ist sie ein sehr kluges und beherrschtes Mädchen, bei der Seymour-Affäre hat sie gezeigt, aus welchem Holz sie geschnitzt ist..."
 

"Das mag sein, aber man muss auch bedenken, dass die Prinzessin bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr noch einen Vater hatte, den sie zwar nicht häufig sah, der ihr aber immerhin ein gewisses autoritätsbewusstsein verlieh, sie wusste, dass es da jemanden gab, vor dem sie Ehrfurcht haben musste... außerdem bin ich persönlich der Ansicht, dass, wenn Heinrich VIII. noch länger gelebt hätte, die junge Elisabeth jetzt vielleicht von anderen, schöneren Erinnerungen geprägt wäre als der unglücklichen Romanze mit einem Landesverräter und monatelangen Verhören, bei denen sie um ihr eigenes Leben bangen musste..."
 

"Du meinst, seine Majestät hätte die zweitälteste Tochter besser im Auge gehabt, sodass so etwas nicht passiert wäre?"

"Ja, genau das wollte ich damit sagen. Siehst du, und unserer kleinen Anthea fehlen jetzt schon sowohl Vater als auch Mutter...ich frage mich, zu welchen Tollheiten sie sich wird hinreißen lassen, wenn sie aus dem Kindesalter herauskommt..."

Heather zerkrümelte lachend etwas Brot auf ihrem Holzteller.

"Ach Gott, Liz, du verleihst der Situation eine Tragik, die sie nicht verdient! Anthea ist erst etwas über zwei Jahre, man sollte in Ruhe abwarten, wie die Kleine sich entwickelt. Sollten später tatsächlich Probleme auftauchen, kann immer noch abgewogen werden, was zu tun ist...wir müssen uns schließlich und endlich ins Gedächtnis rufen, dass Anthea nur die illegitime Tochter eines Adligen und einer Bürgerlichen ist, die man geadelt hat, und nicht die Tochter eines Königs, die von machtgierigen Politikern für deren persönliche Interessen missbraucht werden kann."
 

Liz betrachtete eine Weile lang das schmatzende und plappernde Kind auf Bettys Schoß, ließ ihren Blick über den verschmierten Mund und die großen, unschuldigen Augen wandern und konstatierte, dass Heather Recht hatte.

Sie plauderten noch eine lange Zeit über dieses und jenes, Liz fragte die Freundin über ihre erste Geburt aus und erkundigte sich, ob ihr Sohn gesund sei, schließlich mischte sich auch Betty in das Gespräch ein, und so war es bereits spät am Abend, dämmerte schon fast, als die schwarze Kutsche des Grafen den Hof von Enfield Court verließ.
 

Auf der Rückfahrt zum dudleyschen Palais schlief Anthea in den Armen ihrer Kinderfrau ein, und Betty starrte nachdenklich aus dem Kutschenfenster, dachte an das Gespräch, welches Liz und Heather beim Essen geführt hatten und wünschte ihrem kleinen Schützling von ganzem Herzen Glück für die Zukunft.

Kapitel 2

Der Winter des Jahres 1551 wurde streng und kalt. Sämtliche Flüsse Englands waren zugefroren, die ohnehin schwache Sonne verbarg sich hinter einem dicken, weißen Schleier von Wolken und es schneite so heftig, dass man selbst in den Nächten glauben konnte, es sei Tag, so sehr leuchtete die Landschaft.
 

In so einer Nacht, vom 15. auf den 16. Januar, erlag die alte Gräfin Warwick den Folgen ihrer seit langen Monaten währenden Krankheit.
 

Nach dem Tod seiner Frau sah Warwick sich plötzlich genötigt, in sein zweites, größeres Palais überzusiedeln, das noch näher in der Stadt und somit noch näher bei dem St. James-Palace lag, wo der Hof sich die meiste Zeit aufhielt.

Für die kleine Anthea bedeutete diese Umstellung nicht eben viel, einmal davon abgesehen, dass sie noch größere Räume erhielt und von nun an nicht mehr in ihrer kleinen Holzkoje, sondern in einem normalen Bett schlafen konnte. Ansonsten wurde das Kind weiterhin von ihren Zofen und Ammen betreut, während sich der Vormund die meiste Zeit bei Hofe aufhielt.
 

Betty, welche den Grafen zwar unauffällig, aber dennoch genauer als alle anderen aus der Dienerschaft beobachtete, begann, sich über die Tatsache zu wundern, dass John Dudley sich in den ganzen zwei Jahren, welche Seymours uneheliche Tochter nun in seinem Haushalt verbrachte, kein einziges Mal näher mit dem Kind beschäftigt hatte; im Gegenteil, die kleine Lady Cook schien ihn nicht im Mindesten zu interessieren, es genügte ihm, dass Anthea ihre Erzieherinnen hatte, und er schien es nicht für nötig zu halten, sein Mündel auch nur eines Blickes zu würdigen.
 

Es muss am Vater liegen, dachte Betty beunruhigt, Warwick und Thomas Seymour waren erbitterte Feinde, er hat die Kleine nur aufgenommen, weil er Lady Tabithas letzten Willen erfüllen wollte...
 

Und bekümmert ging es ihr durch den Kopf, dass Anthea in wenigen Jahren einen

Hauslehrer benötigen würde, und die Aufgabe, einen solchen aufzutreiben, würde niemand Geringerem als dem Vormund zuteil werden, es sei denn...vielleicht wird seine Lordschaft frühzeitig krank, genau wie die selige Gräfin, überlegte Betty, und dann...dann wird sich einer seiner Söhne um Anthea kümmern müssen...Und in diesem Augenblick wünschte sich die Erzieherin, es möge der junge Robert sein, dem Warwick vor seinem Tod die Aufgabe übertrug, sich Antheas anzunehmen, der junge Lord Dudley liebte Seymours kleine Tochter abgöttisch, er würde ihr gewiss eine hervorragende Erziehung angedeien lassen...
 

Zuweilen jedoch veränderte sich kaum etwas in der Situation des Kindes, sie gewöhnte sich mehr und mehr an die gutherzige Miss Worchester, welche von ihr stets liebevoll "meine Betty" genannt wurde, und sehnte sich nach ihrem großen Spielgefährten Robert, welcher nach wie vor bei seiner Majestät weilte und seine Jugend auslebte, indem er sich heiter und ausgelassen bei der Jagd, bei Ausritten und auf Gesellschaften vergnügte.
 

Seine junge Frau, die siebzehnjährige Amy, führte indes ein recht beschauliches Leben auf dem Lande, wo sie die Güter des Gatten verwaltete und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass Robert sie endlich besuchte, ein Wunsch, den der junge Mann in den kommenden Jahren nur sehr selten erfüllen sollte.

Am Hof war es ein offenes Geheimnis, dass er die ihm angetraute Gemahlin nicht liebte und sie nur widerwillig duldete, weil sein Vater Anstand von ihm erwartete.
 

Ende Februar zog des Königs älteste Halbschwester, die fünfunddreißigjährige Prinzessin Maria, welche bereits seit vielen Jahren ein sehr strenges, zurückgezogenes Leben auf ihren Landsitzen im Norden führte, mit ihrem prunkvollen Gefolge in der Hauptstadt ein.
 

Ein langer, prächtiger Zug schloss sich der Tochter Heinrichs VIII. und seiner ersten Gemahlin, Katharina von Aragonien, an, und Londons Straßen waren gesäumt von Menschen, die die Königstochter teils gar nicht kannten, teils schon einmal gesehen hatten und nun neugierig waren, wie sie sich entwickelt hatte; schließlich war Maria, falls der kränkelnde Eduard früh und ohne Nachkommen starb, die unmittelbare Thronfolgerin.
 

Auch Betty hatte von Warwick die Erlaubnis erhalten, mit Anthea in die Innenstadt zu gehen, um Lady Prinzessin Marias aufwändigen Einzug zu verfolgen.
 

Die junge Miss Worchester, welche seit sie denken konnte in Dudleys Haushalt lebte und auch dort erzogen worden war, hatte König Heinrichs älteste Tochter noch nie gesehen, und als es ihr an jenem kalten, verregneten Februarmorgen gelungen war, sich mit dem quängelnden Kind auf dem Arm einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, war sie enttäuscht über die kleine, verhärmte Erscheinung, welche der langen Equipage auf einer weißen Schimmelstute voranritt, eskortiert von rot- und weiß-livrierten Dienern und Gefolgsleuten, und deren prachtvolles Gewand aus gold und blasslila Seide ihr unvorteilhaftes, altjüngferliches Aussehen kaum verbarg.
 

Auch hatte Maria für das jubelnde und ihr zuwinkende Volk, welches von geharnischten Soldaten an die Straßenränder gedrängt wurde, nur ein schwaches Lächeln übrig, die grauen Augen in dem faltigen Gesicht blickten kalt und unnahbar, und Betty überlegte unwillkürlich, was England unter der eventuellen Regierung dieser unscheinbaren, ältlich-strengen Frau zu erwarten hatte.
 

Sie betrachtete verwundert die schweren, edelsteinbesetzten Kreuze, die man der Königstochter vorraustrug und welche den alten, katholischen Brauch symbolisierten, der seit der Thronbesteigung Eduards VI. mehr oder minder abgeschafft worden war. Eduard Seymour war strenger Protestant, schoss es der Erzieherin durch den Kopf, er war schon fast fanatisch in seiner Überzeugung, schließlich hat er damals Norfolk und den Bischof Gardiner und noch so einige andere Katholiken im Tower inhaftieren lassen...England ist ein protestantisches Land geworden, dachte sie, mit einer protestantischen Regierung, was will Lady Maria mit ihren Kreuzen und Weihrauchbehältnissen erreichen...?!
 

Dann erinnerte sie sich an eine Äußerung Warwicks vor einigen Jahren, dass Heinrichs älteste Tochter trotz aller Mahnungen des Regentschaftsrates nicht gewillt sei, zu konvertieren und stur auf ihrem Glauben beharre. Mein Gott, wenn sie dereinst auf dem Thron sitzt, wird sie versuchen, England zu rekatholisieren, dachte Betty erschrocken, dann wird England wieder unter die Oberhoheit des Papstes gebracht, ein Land, in dem sich mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung entschieden hat, den lutherischen Glauben anzunehmen...
 

Während Betty ganz in ihre Gedanken über Englands zukünftige politische Entwicklung versank, strebte Marias Gefolge, begleitet von Trompeten und Fanfaren, auf Schloss Whitehall zu.
 

Anthea indes hatte vor lauter Neugierde völlig vergessen zu quängeln, und ihre großen, blauen Augen hefteten sich voll kindlichen Interesses an den vorbeiziehenden Zug der Königstochter. An jenem Tag hatte Betty den Kopf des Kindes mit einer weißen, perlenbestickten Haube bedeckt, unter der die kastanienfarbenen Löckchen hervorquollen, und als eine einfach gekleidete Frau zu Bettys Rechten das schelmisch lachende Mädchen auf deren Arm erblickte, stieß sie die Erzieherin unvermittelt an.
 

"Mit Verlaub, Ihr habt ein sehr hübsches, kleines Töchterlein, Miss", sagte sie bewundernd, "wie alt ist denn die Kleine, wenn ich fragen darf?"

Betty, aus ihrer Melancholie aufschreckend, drehte sich zu der Fragerin um und lächelte.

"Anthea zählt zwei Jahre. Aber sie ist leider nicht meine Tochter."

"So?" die Andere hob überrascht die Brauen. "Nun, dann...dann beglückwünsche ich trotzdem ihre Mutter zu solch einem niedlichen Kind."

Bettys Lächeln blieb unverändert.

"Das wird leider nicht mehr möglich sein, denn ihre Mutter ist tot."

"Wie schrecklich!" Eine weitere Frau, die eine Hakennase und ein altes, vernarbtes Gesicht besaß, hatte sich eingemischt. "Sie ist wohl im Kindbett gestorben?"

"Nein, sie...erlag der Schwindsucht."

"Das arme kleine Ding, so ganz ohne Mutter." die Blicke der beiden Frauen richteten sich mitleidig auf Anthea. "Seid Ihr ihre Erzieherin?"

"Ja."

"Nun, dann sorgt nur gut für die Kleine. Sie wird sich gewiss zu einem bildschönen Mädchen entwickeln und dereinst den Londoner Herren die Köpfe verdrehen..."

Betty musste lachen.

"Bis es soweit ist, müssen wohl noch einige Jahre vergehen, denke ich."
 

In diesem Augenblick drang aus der Menge eine vertraute Stimme an Bettys Ohr, sodass diese von dem Gespräch abgelenkt wurde und sich umdrehte.

"Betty, Betty...!" Es war Liz, welche sich mühsam einen Weg durch die vielen Rücken und Ellbogen bahnte. "Pauline schickt mich, du sollst das Kind zurückbringen, da die neuen Kleidchen angepasst werden müssen!"
 

Betty seufzte leise; natürlich, das hatte sie ganz vergessen...! Vor wenigen Tagen hatte sie der Schneiderin, Mrs. Peeks, aufgetragen, neue Sachen zu nähen, um Anthea für das kommende Frühjahr einzukleiden. Der Gedanke an die Prozedur des Anprobierens war jedoch alles andere als verlockend, weil Anthea selbst sich jedes Mal aufs Neue als das größte Hindernis erwies. Die Kleine war einfach nicht fähig, es still über sich ergehen zu lassen, wenn Betty und die Näherin ihr eines der Gewänder anzupassen versuchten.
 

Trotz dieser keineswegs angenehmen Aussichten verabschiedete sie sich schließlich von den beiden Frauen aus der Menge und folgte Liz auf ihrem Weg durch das Gewirr der Gassen, welches zum dudleyschen Stadthaus führte.
 

Unterwegs fragte sie Liz, welche Farben die Schneiderin für die Kleider des Kindes ausgesucht hatte.

Die Zofe überlegte kurz.

"Ich habe sie mir noch nicht alle angeschaut, aber meines Erachtens nach ist ein hübsches Gelbseidenes darunter, mit perlenbestickter Fallkrause, und passend dazu hat Mrs. Peeks eine mattgelbe Haube und seidene Strümpfe genäht", sie lächelte, "ich glaube, sie wird entzückend darin aussehen, gelb liefert gewiss einen anziehenden Kontrast zu den dunklen Löckchen..."
 

"Ich hoffe doch, dass Warwick für alles aufkommen wird, was die Kosten anbelangt..."

"Natürlich wird er das! Er ist schließlich Antheas Vormund, und als dieser hat er die Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Kind angemessen und vor allem standesgemäß gekleidet ist."

Betty nickte, obgleich sie in jenem Augenblick stark bezweifelte, ob der Graf diese seine Pflicht wirklich einzuhalten gedachte.

Tatsächlich jedoch sollte Liz Recht behalten, denn wenige Tage nachdem man die Prozedur des Anpassens und Anprobierens hinter sich gebracht hatte, tauchte Warwick überraschend in den Gemächern seines Mündels auf, um das Kind in den neuen Kleidern zu begutachten, und als er alles zu seiner Zufriedenheit vorfand, erhielt Mrs. Peeks einen hohen Lohn für ihre Dienste.
 


 

"Es ist doch wirklich unerhört!"

Warwicks dunkle Stimme bebte vor Empörung, während er in dem breiten Speisesalon auf- und abging. Sein noch unverheirateter Sohn Henry, welcher gegen Nachmittag überraschend nach Hause gekommen war, saß mit untergeschlagenen Beinen in einem Stuhl an dem langen Esstisch und betrachtete den Vater mit jenem scheuen, erwartungsvollen Blick, mit dem all seine anderen Geschwister ihn von je her anzusehen pflegten. Er fürchtete sich vor dem Zorn des Grafen und wagte nicht, seinen stürmischen Redefluss zu unterbrechen.
 

"Ich kann es nicht fassen, ich kann es wirklich nicht fassen, wie diese Person sich aufspielt!" tobte John Dudley so laut, dass Henry förmlich spüren konnte, wie der holzgetäfelte Raum vibrierte. "Wie ein sturer Bock hat sie auf ihrer Messe bestanden, so als würde Gott die Welt untergehen lassen, wenn sie sich zu Gunsten des Landes entscheidet, den protestantischen Glauben anzunehmen! Schon allein dieser Aufzug! Mit Kreuzen und Rosenkränzen ist sie vor ihren Bruder getreten, wirklich, es war zum Schreien peinlich..! Du warst ja nicht dabei, Henry, aber du hättest sehen müssen, wie den Höflingen und Damen die Augen aus den Köpfen getreten sind!
 

Und was hat seine Majestät zu diesem albernen Auftritt gesagt? Nichts! Nichts, nichts, und wieder nichts!

Im Gegenteil, er lässt seine Schwester weiterhin gewähren, lässt es weiterhin zu, dass sie dort oben im Norden in ihren weihrauchgeschwängerten Palästen residiert und Messen zelebriert! Ich sage dir, hätte ich die Macht gehabt, an diesem Nachmittag für den König zu entscheiden, ich hätte dem Frauenzimmer Beine gemacht, dieser albernen, altjüngferlichen Gluckhenne, die sich nicht mal durch eine geschickte Heirat ins Ausland abschieben lässt, weil sämtliche ausländische Edelmänner immer noch eher ihre jüngere Halbschwester zur Gemahlin wählen würden als sie..."
 

Ein grimmiger und gleichzeitig spöttischer Zug zeichnete sich in den alten und dennoch eigenartig anziehenden Zügen des Grafen ab.

"Hah, und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln! Prinzessin Maria und Prinzessin Elisabeth könnten verschiedener nicht sein, die Tochter der Boleyn ist klug, fast gefährlich klug, und auf eine seltsame Weise anziehend und apart, wenn auch nicht unbedingt hübsch zu nennen, die Tochter der Spanierin hingegen...bah, ein widerlicher alter Drachen!"
 

Henry richtete sich in seinem Stuhl auf, wie er es immer tat, wenn er zu seinem Vater sprechen wollte. Er wusste selbst nicht, warum genau er es machte, aber er hatte den Eindruck, es verleihe ihm die Kraft, über seinen Schatten zu springen und die Angst vor dem strengen Veteranen zu überwinden. Seit dem Tod seiner Mutter waren er und seine Geschwister restlos den Stimmungen des Grafen ausgeliefert, welche immer unberechenbarer wurden.
 

"Lady Prinzessin Maria ist gewiss nicht mehr die Allerjüngste, aber wenn man es genau bedenkt auch noch nicht so alt, als dass sich nicht noch ein Ehekandidat für sie finden ließe...ich möchte damit nur andeuten, dass es Euch, mit Unterstützung seiner Majestät und den übrigen Räten, bestimmt in den folgenden Jahren gelingen wird, sie angemessen zu verheiraten, am besten wohl mit einem Protestanten, damit wäre das leidige Thema der Religion auf einfache Weise gelöst."
 

Der Graf war in dem kleinen Erker an der rechten Seitenfront des Esszimmers stehen geblieben und lauschte nachdenklich auf das Geräusch einer Kutsche, die unten vor dem Fenster über das Kopfsteinpflaster rollte, während Henry atemlos auf seine weiteren Worte wartete.
 

Schließlich gab er ein undefinierbares Brummen von sich, drehte sich zu seinem Sohn um und sagte:

"Vielleicht hast du gar nicht so unrecht mit deiner Vermutung, allerdings...wir müssen damit rechnen, dass der Drachen sich gegen eine Ehe ebenso starrköpfig wehrt wie gegen unsere Aufforderung, sie möge ihren Glauben ändern."
 

"Wehren gegen eines Königs Wort?" Henry blickte ihn skeptisch an. " Ich bitte Euch, Vater, denkt an Heinrich VIII! Ich glaube kaum, dass irgend ein Engländer es gewagt hätte, seine Befehle unausgeführt zu lassen, und Eduard ist sein Sohn, wenn auch noch ein schwacher Knabe, aber bei aller kindlichen Gesinnung doch ein Tudor, der befehlen wird wie ein Tudor. Wenn er also seiner Schwester befiehlt, den Mann zu heiraten, den der Staatsrat für sie aussucht, dann wird sie nach seinem Willen handeln müssen, einfach, weil er der König ist."
 

Warwick schwieg. Es war ihm eingefallen, dass Eduard seit Monaten kränkelte und dass die Ärzte sich Sorgen über seine labile Gesundheit zu machen begannen. Wenn der König frühzeitig stirbt, dachte er, stünde Maria nach dem Testament ihres Vaters an nächster Stelle in der Thronfolge, ob verheiratet oder nicht, sie würde die neue Königin von England werden...mein Gott, welch eine Vorstellung, eine katholische Fanatikerin auf Englands Thron, es wäre mein Untergang...
 

In diesem Augenblick vernahmen Vater und Sohn leise, kurze Tritte auf dem steinernen Fußboden, und Warwick zuckte unwillkürlich zusammen, als er die kleine Anthea im Türrahmen stehen sah.
 

Wie immer hatte sie den Daumen in den Mund gesteckt und lugte in ihrer üblichen, neugierigen Unschuld in den Raum.

"Henry, was macht das Kind hier?" fragte der Graf ungehalten.

Henry, der aufgestanden war, trat langsam auf Anthea zu.

"Ich weiß es nicht, Vater."

"Mein Gott, sie wird doch nicht etwa die ganze Zeit hier gestanden haben?!"

Henry lachte und hob das kleine Mädchen, welches sofort heftig zu strampeln begann, mühelos auf seine Arme.

"Und wenn schon! Sie versteht sowieso kein Wort von dem, was wir sagen, nicht wahr, meine Kleine?"

Anthea grub die winzigen Finger in die Brokatfalten seines Wamses und krauste ihr feines Näschen.

Warwick betrachtete sie eine Weile.

"Wer weiß..." murmelte er schließlich.
 

"Du bist wohl mal wieder ausgerissen, was?" fragte Henry das verwirrte Kind, bevor er sich wieder seinem Vater zuwandte. "Keine Sorge, ich werde sie zu ihrer Erzieherin zurückbringen..." Er lachte erneut. "Die arme Miss Worchester...sie erliegt sicher gerade einer halben Nervenkrise!"
 

Wie zur Bestätigung seiner Worte hörten sie im nächsten Augenblick Bettys aufgeregte Stimme durch die Halle schallen.

"Anthea! Anthea, bei Gott, da bist du ja endlich!"

Keuchend kam die junge Frau herbeigeeilt, mit geröteten Wangen und schief sitzender Seidenhaube auf dem üppigen, goldblonden Haar.

Grinsend gab Henry das Kind in die Arme seiner Gouvernante. Anthea strahlte und breitete ihre kleinen Arme aus.

"Betty!" rief sie, fröhlich glucksend. "Liebe, liebe Betty!"

"Wo habt Ihr sie gefunden, Mylord?" fragte Betty, das lachende Mädchen an ihre linke Seite drückend. "Seit Stunden durchkämme ich das Schloss nach diesem schrecklichen Kind!"
 

In diesem Moment tauchte Warwick wie eine drohende Gewitterwolke hinter seinem Sohn auf.

"Ich rate Euch, in Zukunft besser auf die kleine Lady Cook aufzupassen. Mich dünkt, dies war nicht das erste Mal, dass sie ausgerissen ist...?"

Betty schüttelte den Kopf, während sie ergeben vor ihrem Herrn knickste.

"Nein, Mylord."

"Das habe ich mir gedacht. Ich wünsche, dass Ihr das Kind Gehorsam lehrt. Sorgt dafür, dass sie nicht in einigen Jahren allen auf der Nase herumtanzt, verstanden? James Cooks Enkeltochter soll ein anständiges, junges Mädchen werden."

"Sehr wohl, Mylord." Betty knickste abermals.

"Gut. Dann dürft Ihr jetzt gehen. Und denkt noch einmal über meine Worte nach!"
 

Betty nickte ergeben und verschwand, wobei sie Antheas wirre Locken streichelte.

Seine saubere Lordschaft hat gut Reden, dachte sie verstimmt, ich weiß schon, wie er sich sein zukünftiges Mündel vorstellt, eines dieser sittsamen, braven Mädchen soll sie werden, die den ganzen Tag in ihren Gemächern sitzen, nähen, sticken und sich auf ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten...der liebe Graf scheint zu vergessen, dass Anthea die Tochter ihrer Eltern ist... sowie Liz mir Tabitha Cook geschildert hat, war sie alles andere als sittlich und brav, und der Lordadmiral war ein Ausbund an Temperament...
 

Und seufzend setzte sie Anthea auf das Bärenfell vor dem Kamin in ihrem Schlafzimmer.

"Sowie es aussieht bekommst auch du dein ganz eigenes Köpfchen, meine Liebe." sagte sie leise zu dem Kind. Während sie sich in einen Lehnstuhl niederließ und ihre Näharbeit wieder aufnahm, wobei sie Anthea nicht aus den Augen verlor, begann sie, über die Zukunft nachzudenken und darüber, dass eigensinnige, temperamentvolle Mädchen es in der Gesellschaft jener Zeit schwer hatten, solche Mädchen wurden von ihrer Außenwelt schnell als liederlich und unschicklich abgefertigt, auch Tabitha Cook hatte man seinerzeit diesen Vorwurf gemacht...
 

Und in diesem Augenblick beschloss Betty Worchester, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um Anthea auf ihre künftige Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten, gleichgültig, welche Komplikationen dies mit sich bringen mochte.

Kapitel 3

"Prinzessin Elisabeth ist in Whitehall!"
 

Liz stand aufgeregt in Antheas breitem Wohnzimmer und wedelte mit den Händen, während sie Betty von der Prinzessin erzählte.
 

"Sie ist die interessanteste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen habe, wie schade, dass du ihren Einzug verpasst hast..! Ihr Gefolge war viel bescheidener als das ihrer älteren Halbschwester, und ihr Kleid viel schlichter und eintöniger, aber dieses Haar...ich schwöre dir, die rotblonden Locken haben alles wettgemacht! Du hättest mal sehen sollen, wie ihre Augen gestrahlt haben, und wie verbindlich sie mit dem Volk umgegangen ist...Einige Male hat sie sogar ihr Pferd gezügelt, um einem kleinen Jungen in den Armen seiner Mutter über das Haar zu streicheln oder mit einem der Londoner Handwerker zu sprechen!! Am wundersamsten aber war diese königliche, elegante Haltung im Sattel... Gerade so, als stünde sie nicht an zweiter, sondern bereits an erster Stelle in der Thronfolge!"
 

Betty, welche in dem Regal über dem steinernen Kamin nach etwas kramte, schien der anderen gar nicht richtig zuzuhören, und nach einer Weile bemerkte auch Liz, dass sie nicht bei der Sache war.

"Nun mach dir doch nicht solche Sorgen, Betty, das Kind wird schon gesund werden..." versuchte sie die Gouvernante zu beruhigen.
 

Der Grund, warum Betty nicht mit Anthea nach London hatte gehen können, um Prinzessin Elisabeths Einzug zu verfolgen, war ein plötzliches Fieber, welches das knapp dreijährige Mädchen ergriffen hatte und das Betty seit den frühen Morgenstunden ihren letzten Nerv raubte.
 

"Du verstehst das einfach nicht!" gab sie nun aufgebracht zurück, während sie um den breiten Eichentisch herumging und sich das goldene Haar raufte. "Wenn sie nun ein junges Mädchen oder auch nur ein Kind von vielleicht sieben oder acht wäre...aber Anthea ist noch keine drei Jahre alt, für solch ein kleines, zartes Geschöpf kann die geringste erhöhte Temperatur den...den Tod bedeuten!" Sie schauderte über ihre eigenen Worte.
 

"Himmel, Betty...mal nicht den Teufel an die Wand, Warwick hat doch bereits den Arzt geholt, und du weißt, dass Dr. Bill gesagt hat, Anthea habe eine starke Natur!"

Betty schnaubte.

"Woher will er das wissen, he? So etwas kann man doch in ihrem Alter noch gar nicht feststellen..."

"Anscheinend schon." Liz trat ein paar Schritte auf ihre Freundin zu und nahm sie aufmunternd bei den Schultern. "Kopf hoch, Betty. Unsere kleine Lady wird es überstehen, ich bin ganz sicher. So ein liebreizendes Geschöpf lässt Gott nicht sterben, das wäre doch furchtbar ungerecht..." Und kopfschüttelnd reichte sie Betty ein Taschentuch, damit diese sich die Tränen aus dem Gesicht wischen konnte. "Sind Pauline und Marie-Claude bei ihr?"

Betty nickte.

"Ja, ich habe sie beauftragt, sich an das Bett zu setzen...oh, Liz, ich habe so schreckliche Angst!"

"Na, na, nun warte doch erst einmal ab. Es wendet sich gewiss alles zum Guten."
 

Gegen Abend traf ein schreckensbleicher Robert im Palais seines Vaters ein.

Warwick beauftragte sofort einen Diener, seinen jüngsten Sohn im Speisesalon zu bewirten, aber Robert schien nur eines im Kopf zu haben.

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"Wo ist das Kind?" wollte er wissen, kaum dass sein Diener Philip ihm aus dem regennassen Umhang geholfen hatte.

Sein Vater wies mit dem Kopf auf einen langen Korridor, der neben den Treppenstufen abzweigte, und erwähnte die Tür am Ende jenes Ganges, hinter der die persönlichen Gemächer seines kleinen Mündels lagen. Dann starrte er Robert an, als habe dieser den Verstand verloren.

"Du willst doch nicht allen Ernstes das Kind besuchen? Sei doch vernünftig, Robert, am Ende steckt sie dich noch an und dann kannst du dir die Organisation des Jagdausfluges nach Southampton an den Hut stecken! Außerdem solltest du in den kommenden Wochen deine Gemahlin einmal wieder besuchen, und dafür ist es in jedem Falle erforderlich, dass du..."

Aber da war Robert schon in dem langen, von Pechfackeln erleuchteten Gang verschwunden und Warwicks weitere Worte verhallten ungehört.
 

Amy besuchen, dachte der junge Mann verstimmt, ausgerechnet jetzt, wo Elisabeth angekommen ist, Elisabeth...

Er hatte sie vor mehr als drei Jahren zuletzt gesehen, mittlerweile zählte sie siebzehneinhalb Jahre, und er fand, dass ihre große, schlanke Gestalt in den schlichten und doch eleganten Kleidern und das ernste, nachdenkliche Gesicht noch ein wenig anziehender geworden waren...

Außerdem scheint sie mich zu mögen, überlegte er, weshalb sonst hätte sie mich heute Nachmittag auf dem Ausritt Robin genannt, wie damals bei dem Ball in Hampton Court, als wir beide noch Kinder waren...
 

Es war das Letzte, was er dachte, bevor Liz, welche im Vorzimmer von Antheas Privatgemächern in einem Sessel saß und strickte, ihn in das angrenzende Wohn- und somit auch ins Schlafgemach des kleinen Mädchens ließ.

"Aber seid vorsichtig, Mylord, erschreckt ihre Zofen nicht und tretet nicht zu nah an sie heran, sie hat hohes Fieber und könnte Euch anstecken." flüsterte die Zofe beschwörend.

Robert tat ihren Rat mit einer Handbewegung ab. "Macht Euch keine Sorgen, Miss Thornton, ich habe die stabile Gesundheit meines Vaters geerbt, ein kleines Kind wird mich kaum anstecken können."
 

In Antheas Schlafzimmer angekommen, setzte er sich behutsam an das hohe Himmelbett und betrachtete lange und besorgt das kleine, bleiche Gesichtchen, das in den letzten Monaten seine pausbäckige Rundlichkeit verloren und sich in ein niedliches, schmales Antlitz verwandelt hatte, umbauscht von kleinen, mahagoniefarbenen Löckchen. Anthea hielt ihre Stoffpuppe im Arm und atmete leise und unregelmäßig. Die kleine Stirn glänzte, und Robert konnte nicht umhin, den mit Wasser getränkten Lappen aus der Schale auf Antheas Nachtkästchen zu nehmen und dem Kind vorsichtig den Schweiß vom Geischt zu tupfen.

"Arme, kleine Annie", wisperte er kopfschüttelnd. "Was machst du nur für Geschichten?"
 

Betty hatte das Zimmer betreten und beim Anblick des aufgelösten jungen Mannes am Bett des kranken Kindes ergriff die Erzieherin ein eigenartiges Gefühl, eine Mischung aus Rührung und vagen Zukunftsahnungen.

"Ach, Mylord, wie aufopferungsvoll von Euch, dass Ihr gekommen seid, extra wegen der kleinen Lady... das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen!"

Robert jedoch achtete nicht auf Bettys bescheidene Bemerkung.

"Was hat der Arzt gesagt?" erkundigte er sich, nachdem er aufgestanden war. "Wird sie gesund werden?"

Betty nickte.

"Dr. Bill meinte, sie sei auf dem besten Weg....das Fieber ist auf jeden Fall nicht weiter angestiegen. Wollt Ihr wirklich bleiben, bis sie es überstanden hat?"
 

Robert schüttelte den Kopf.

"Ich würde mich gerne solange hier einquatieren, aber meine Pflichten gegenüber seiner Majestät..."

Betty nickte energisch.

"Ich weiß, Ihr habt ein hohes Amt und eine Menge Arbeit. Nun, dann wünsche ich Euch viel Glück in Southampton...soweit ich weiß bricht der Hof morgen zu einem Jagdausflug dorthin auf...?"

"Ja, es...es ist eine Veranstaltung zu Ehren der Prinzessin." Und in diesem Augenblick war Robert froh, dass in dem dunklen Raum nur eine einzige, schwache Kerze tropfte und die junge Miss Worchester so die Röte nicht bemerkte, welche seine Wangen bei dem Gedanken an Elisabeth überzog.
 

Zur großen Erleichterung aller Zofen und Erzieherinnen sank Antheas Fieber recht rasch, und bereits Anfang April konnte das kleine Mädchen in den Garten des städtischen Palais laufen und jauchzend den hereinbrechenden Frühling begrüßen. Sie war wieder so vollständig gesund, dass Betty recht bald meinte, es habe ihre Krankheit nie gegeben.
 

Ein drückend heißer Sommer kam und verging wie im Fluge und wurde abgelöst durch einen milden Herbst mit nur wenig Regen.
 

Anfang November brach in den Regionen Südenglands das gefürchtete Schweißfieber aus. Die Menschen fielen wie die Fliegen der grauenvollen Seuche zum Opfer, und Antheas Zofen waren, wie alle anderen in Dudleys Haushalt, darauf bedacht, das Kind hinter verschlossenen Kammertüren zu halten.
 

Trotz zahlreicher Vorsichtsmaßnahmen in Form von Räucherkerzen und des stinkenden Essigs, mit dem man die Räume im gräflichen Palais sorgfältig auswischte, erkrankte John Dudley innerhalb eines einzigen Nachmittages an der Infektion, als er in seinem Arbeitszimmer saß und einen Brief an den König schrieb, da er es vermied, selbst in St.James zu erscheinen.
 

Die Dienerschaft rechnete fest damit, dass Warwick noch am folgenden Morgen sterben würde, aber zum Erstaunen aller gelang es ihm mit ärztlicher Hilfe, zu genesen. Der Arzt, der ihn behandelt hatte, war der letzte, welcher gegen Ende November der Seuche zum Opfer fiel, denn überraschend schnell hatten die Bewohner Londons und der Außenbezirke das Grauen überstanden.
 

Teppiche, Laken und auch Tote wurden verbrannt, und die Stadt stank barbarisch nach Rauch und verkokelten Leichen.

Gegen Mitte Dezember rechnete man damit, dass das Fieber die Londoner Bevölkerung um ein Drittel vermindert hatte, und man vermutete, dass noch mehr gestorben wären, wenn nicht viele in der Zeit, in welcher die Seuche um sich griff, zu ihren Verwandten aufs Land gezogen wären.
 

Im folgenden Hochsommer des Jahres 1552, es war kurz nach Antheas viertem Geburtstag, beschloss Warwick, erneut in seinen anderen Palast am Ufer der Themse überzusiedeln, da London zur Sommerzeit einem Kessel glich, und die Hitze es in den zahlreichen Straßen und Gassen noch bestialischer nach Kot, Abfällen und Verwesung stinken ließ, als es dies ohnehin schon tat.
 

Zu jener Zeit weilte Prinzessin Elisabeth längst schon wieder auf ihrem Landsitz in Hatfield, und der junge Robert und sein Bruder Ambrose hatten sich dazu entschlossen, für einige Zeit nach Hause zu kommen und die warmen Tage im vertrauten Blumengarten des väterlichen Palais zu verbringen.
 

Ambrose schrieb regelmäßig an seine inzwischen schwangere Gemahlin, welche, gleich Roberts Gattin Amy, seine Güter verwaltete und ihm monatlich einen Teil des erwirtschafteten Geldes zusenden ließ.
 

"Du kannst so froh sein, dass du Susan liebst", gestand Robert seinem älteren Bruder eines schönen, sonnigen Nachmittages, als sie im Garten unter den Linden und Kastanienbäumen saßen und auf den nie abbrechenden Gesang der Vögel über ihren Köpfen lauschten. "Vater hat einen glücklichen Mann aus dir gemacht, Brose. Aus mir hingegen..." Er ließ den unvollendeten Satz mit einem langgezogenen Seufzer abklingen, der seinen ganzen Kummer über seine unglückliche Ehe zum Ausdruck bringen sollte.
 

Der Ältere runzelte die feine, hohe Stirn, während er gedankenverloren an einer Birne kaute. Ambrose Dudley glich seinem Vater noch ein wenig mehr als Robert, er hatte, im Gegensatz zu seinem Bruder, Warwicks graublaue Augen und dessen kräftige Wangenknochen geerbt.

"Ich weiß nicht, Robin..." murmelte er zwischen den einzelnen Schmatzern. "Du solltest das Ganze nicht unnötig schwer nehmen...ich meine, was hast du gegen Amy einzuwenden? Im Endeffekt mussten wir uns doch alle Vaters Wünschen fügen, was unsere Heirat anbelangte...denk an Katharina und Maria, die haben es noch ein wenig schwerer als wir mit ihren herrischen, prahlerischen Männern, dessen Wünschen gemäß sie handeln müssen...und ich habe mir meine Braut auch nicht selbst aussuchen dürfen."

"Ja, aber du liebst Susan! Weshalb sonst würdest du sie so oft besuchen und ihr regelmäßig Briefe und kleine Aufmerksamkeiten nach Oxford schicken?"
 

Ambrose antwortete nicht sofort. Er hatte Robert nie von seinem kurzweiligen Verhältnis mit der beträchtlich älteren Gräfin von Yorkshire erzählt, welche damals Witwe gewesen war und einen etwa zehnjährigen Sohn besessen hatte. Auch sein Vater wusste nichts von der Affaire, genauso wenig wie er von Katharinas Liebesbeziehung zu einem unbedeutenden Mann namens Richard Norrington wusste, die sie vor ihrer Hochzeit mit dem jungen, adligen Giles gepflegt hatte.
 

"Ja", sagte er schließlich versonnen, den abgekauten Stiel der Frucht gekonnt in die Blumenrabatten werfend, "ja, ich liebe sie. Aber es ist Zufall. Eine glückliche Fügung des Schicksals..."

"Eine glückliche Fügung, mhm? Naja...auch Maria scheint ihrem steifen, strengen Lord Sidney einiges abzugewinnen, was ich zwar nicht recht begreifen kann, aber immerhin hat sie wenigstens einen Funken Gefühl für ihn übrig...weißt du, Brose, was ich dir sagen will, ist ganz einfach, dass ich im Gegensatz zu Euch allen noch nicht einmal so etwas wie Freundschaft für dieses Mädchen aufbringen kann, das Vater mir aufgezwungen hat...Amy lebt da draußen mit sich und ihren Landsitzen und ihren Näharbeiten, sie liest keine Bücher und reitet kaum aus, sie geht nicht auf die Jagd und kann nicht Schach spielen...mit einem Wort, sie ist das farbloseste Geschöpf, das mir je untergekommen ist. Sei ehrlich, Brose,

würdest du auf die Dauer Geschmack an einer solchen Gans finden?"
 

Ambrose lachte leise.

"Offen gestanden - nein."

"Na also!"

"Dennoch scheint sie dich mit aufrichtiger Hingabe zu lieben. Und es ist, mein lieber Robert, nun leider eine unübersehbare Tatsache, dass ihr beide vor Gott und der Welt verheiratet seid."
 

Robert hatte keine Zeit, über seine Antwort nachzudenken, denn den Bruchteil einer Sekunde später kam ihnen die vierjährige Anthea über die weitläufigen Rasenplätze entgegengelaufen.
 

Das kleine Mädchen, welches im Herbst des vergangenen Jahres ein ganzes Stück gewachsen war, hatte inzwischen gelernt, seine seidenen Röcke mit der linken Hand zu raffen und die dünnen Lederschuhe an den Füßen zu behalten und nicht übermütig auszuziehen, wenn es im Sommer zwischen den Blumenbeten umhertobte.
 

Auch ließ sich in Antheas Haaren eine Veränderung erkennen; die kastanienfarbene Haartracht des Kindes war mittlerweile auf Schulterlänge gewachsen, und Betty, welche mit Entzücken sah, wie sich die niedlichen Löckchen zusehens mehr um das zarte Gesichtchen bauschten, erlebte im Laufe des Februars 1552 eine kleine Enttäuschung, als sie bemerkte, dass diese Locken sich nach und nach auflösten und sich in glattes, wenn auch dichtes und üppiges Haar verwandelten. Inzwischen waren von den ehemaligen Ringellöckchen nur einige sanfte Wellen übriggeblieben, die sich allerdings weder glätten noch herauskämmen ließen.
 

Ebenjene glänzenden Wellen lugten nun unter einer lindgrünen Haube mit perlenbestickten Bändern hervor, die entzückend zu Antheas mit sorgfältigen Blumenmustern verziertem Kleidchen aus reiner Seide passte. Sie trug noch keinen Schmuck, da dies für ein kleines Kind unangemessen war, dennoch machten die Perlen an Kleid und Haubenschleife eine Art edles, zartes Engelchen aus ihr.
 

"Robert, Robert!" rief sie dem jungen Mann schon von weitem entgegen, und ihre kleine, pummelige Rechte umklammerte einen üppigen Strauß gelber Blumen.

"Annie, mein Kind", Robert lächelte, stand auf und fing das außer Atem geratene Mädchen lachend auf.
 

Anthea strahlte ihn aus großen, kristallblauen Augen fröhlich an und hielt stolz den gesammelten Blumenstrauß empor.

"Hier, der ist für Euch!" verkündete sie wie bei einem feierlichen Empfang.

Robert nahm den Strauß lächelnd an sich und atmete den süßlichen Duft der Blumen ein.

"Mhm...wie herrlich das riecht! Ich danke dir, meine Kleine."

Ambrose betrachtete lachend die Blumen.

"Ich nehme an, du hast sie unerlaubt aus Vaters Rabatten stibitzt, oder irre ich mich?"

Anthea strahlte auch den Älteren in ihrer schelmischen, koboldhaften Weise an.

"Unerlaubt?" Sie krauste missbilligend die kleine, magnolienweiße Nase, eine Manier ihrer Erzieherin nachahmend. "Aber Milor', Lady Anthea nimmt nie etwas - unerlaubt!"
 

Robert brach in schallendes Gelächter aus ob des plötzlich so unkindlichen, gelehrsamen Tones in Antheas Stimme.

"Hast du gehört," wandte er sich grinsend an Ambrose, "unsere kleine Lady Cook scheint ein ganz untadeliges, ehrliches Persönchen zu sein!"

"Ja, Milor' Robert." fuhr Anthea fröhlich zwinkernd fort. "Und ich werde immer ehrlich zu Milor' Robert sein und ihn gern haben wie meine Betty, wenn Milor' mir verspricht, dass er für den Rest seines Lebens hier bleibt!"
 

Robert, der Anthea wieder behutsam auf dem Rasen zu seinen Füßen abgesetzt hatte, ging nun in die Hocke, um mit dem Kind auf gleicher Höhe zu sein. "Meine kleine Annie..." sagte er, mit den rotbraunen Wellen ihres Haares spielend, und in seiner Stimme lag plötzlich eine Art versonnene Zärtlichkeit, die den älteren Ambrose stutzig werden ließ. "Du tollst und tobst doch so viel herum, bist mal hier, mal dort... ich glaube, du wirst mich kaum vermissen, wenn ich wieder bei Hofe bin."
 

"Oh, ich werde Milor' sehr vermissen! Sagt, ist es dort schön, dort, wo Ihr immer hingeht?"

Robert nickte, die unschönen Seiten des Hofes bewusst verdrängend. Das kleine Mädchen würde sie noch früh genug kennen lernen.

"Weißt du, es ist recht lustig dort. Es gibt viele Pferde und köstliche Süßspeisen, und jeder ist heiter und lacht und tanzt."

Antheas Kulleraugen funkelten.

"Das hört sich alles sehr vergnügt an, Milor'. Und wisst Ihr was, ich werde noch heute Abend meine Betty fragen, ob wir auch einmal gemeinsam an diesen Hof gehen können. Dann werde ich Milor' Robert besuchen kommen, und wir werden alle sehr lustig sein, nicht wahr, Milor'?"

"Gewiss, Anthea..." antwortete er beflissen, auch wenn sich ihm alles zusammenkrampfte bei dem Gedanken daran, wie sehr die heuchlerische, intrigante Aristokratie ein unschuldiges Kind verbiegen und für ihre Zwecke missbrauchen konnte.
 

Glücklicherweise vernahm Anthea nicht mehr seinen leisen Seufzer, als er sich aufrichtete, weil sie in diesem Moment Betty bemerkte und der Gouvernante lachend entgegenrannte.

"Ach, sie ist noch so furchtbar klein..." murmelte er, mehr zu sich selbst, "Sie weiß gar nicht, wie unschätzbar kostbar es ist, dass sie noch nichts von der Welt versteht..."

Ambrose runzelte die Stirn.

"Trotzdem finde ich es nicht richtig, dass du dem Kind alles in einem so glorreichen Licht schilderst, Robert. Bedenke, dass sie, sollte sie wirklich in einigen Jahren zu seiner Majestät kommen, ein vollkommen falsches Bild von der Gesellschaft haben wird!"
 

Robert jedoch schüttelte den Kopf.

"Sie ist erst vier Jahre alt, Brose! Man spricht nicht zu einer Vierjährigen von Heuchlern und Intrigen, wenn sie den Sinn dieser Worte noch nicht begreift. Antheas Herz ist so rein wie der Morgentau, bevor er in der Hitze des Tages verdunstet...und wenn ich ehrlich sein soll, dreht sich mir der Magen um, wenn ich mir vorstelle, wie hart und geqält dieses Herz in zwanzig Jahren sein wird. Für ein junges, ehelich geborenes Mädchen im elterlichen Haus mag das Leben so manche Schönheit und Süße bereithalten...für die uneheliche Tochter des Hochverräters Seymour hingegen ist dieses Leben voll von Hindernissen und Gefahren..." Er sah seinen Bruder eindringlich an. "Ich spüre es, Ambrose."
 

Ambrose schwieg eine Weile.

"Nun ja...deine Bedenken basieren auf Erfahrungen mit anderen von der Gesellschaft schlecht behandelten Bastarden. Unsere kleine Lady Cook hingegen hat gute Erzieherinnen und einen stabilen Ersatz für das fehlende Elternhaus...mit uns hat sie eine große Familie und es wird immer jemanden geben, dem man die Vormundschaft für sie übertragen kann, selbst wenn es am Ende du selbst sein solltest, Robert, dem diese Aufgabe zuteil wird."

"Ich würde alles in meiner Macht stehende tun, um sie zu beschützen, das schwöre ich bei Gott!"

Ambrose lächelte schwach.

"Du hast diesen kleinen Kobold furchtbar gern, nicht wahr?"

Robert nickte.

"Ja, in der Tat...weißt du, ich bilde mir ein, für sie so etwas wie...ein großer Bruder zu sein."
 

"So, ein großer Bruder also..." Ein wenig nachdenklich sah Ambrose dem lachenden und jauchzenden Kind nach, welches seiner erschöpften Erzieherin durch die weitläufige Gartenanlage davonlief. Schließlich zeichnete sich ein kaum erkennbares Lächeln in seine Züge. "Nun ja", meinte er vorsichtig, "besser ein großer Bruder, der wenigstens beizeiten an sie denkt, als ein Vormund, der sie aus den Augen haben will."
 

Robert betrachtete ihn missmutig von der Seite.

"Du beurteilst Vater wie immer zu negativ." verteidigte er den Grafen heftig. "Er hat viel zu tun, mehr als wir, er kann sich nicht mit einem Kind in Antheas Alter beschäftigen."

Ambrose lachte auf.

"Denkst du etwa, ich wüsste nicht, wie viel Vater zu arbeiten hat? Aber du verstehst mich falsch, Robert. Ich meinte ja auch nicht, dass er mit dem Kind spielen und es füttern und in den Schlaf singen soll...das ist Aufgabe ihrer Zofen und der Gouvernante. Aber als Antheas Vormund übernimmt er die Position ihres Vaters, und es ist die Pflicht eines jeden Vaters, seine Kinder beizeiten zu beaufsichtigen und sich vor allem mit ihnen vertraut zu machen - ihnen zu zeigen, wen sie als Autorität anzuerkennen haben. Und diese seine Pflicht, Robert, erfüllt Vater nicht, im Gegenteil! Ich könnte all meine Güter dafür verwetten, dass Anthea sich nicht einmal seiner Gegenwart in diesem Haushalt bewusst ist. Für das Kind gibt es nur dich, "ihre Betty" und die übrigen Frauen, die sie betreuen. Denk nach, Robert, kannman das als festen Halt für ein heranwachsendes Mädchen bezeichnen?"
 

Robert überlegte.

"Nun", entgegnete er dann, "immerhin gibt es in ihrem näheren Umfeld Personen, denen sie sich vertraut fühlen kann, Menschen, an die sie sich wenden kann, wenn sie eines Tages Hilfe benötigen sollte...ich würde ihr immer helfen, und ich glaube auch, dass sie im Zweifelsfall mit Vaters Unterstützung rechnen kann."

"Ja, vielleicht hast du Recht...aber das setzt vorraus, dass die junge Lady Cook ihn als väterlichen Freund im Hinterkopf hat, und nicht als die graue Eminenz, die irgendwo im Hintergrund über ihr Schicksal wacht..."

Robert winkte ab; er hielt die Bedenken des Bruders für übertrieben und unbegründet.

"An deiner Stelle würde ich erst abwarten, wie sich die Situation um unser neues, kleines Schwesterchen entwickelt, bevor du dich in Grübeleien über die Zukunft verlierst...soweit ich weiß hat das noch keinem etwas gebracht."
 

Eine Weile lang war es still, und beide Brüder lauschten dem fröhlichen Kinderlachen, dessen liebliches Echo durch den bunten Garten hallte.

Schließlich brummte Ambrose etwas Undefinierbares und sagte:

"Trotzdem, es ist ein Jammer, dass Mutter so früh versterben musste...in ihr hätte Anthea eine wunderbare Vertraute."

Roberts Miene verfinsterte sich, während er eine Zustimmung murmelte.
 

Der Tod der von ihm so geliebten und verehrten Mutter hatte ihn viel mehr getroffen als all seine anderen Geschwister. Noch jetzt, da das tragische Ableben der Gräfin mehr als ein Jahr zurücklag, stand er manchmal Abends am Fenster seiner Kammer, schaute mit seltsam melancholischem Blick hinaus und durchwanderte im Geiste sämtliche schöne Augenblicke, die er im Schutz der Mutter verbracht hatte. Ambrose und die anderen wussten nichts von diesen tiefen Gefühlen, und Robert war der festen Überzeugung, dass sie es ohnehin nicht verstanden hätten.
 

Im Grunde war er unter den zahlreichen Kindern des Grafen derjenige, welcher seinem Vater am wenigsten glich. Er besaß die sprühende Lebenslust seines Großvaters müttlerlicherseits und dessen heitere, leichtsinnige Ausgelassenheit, und zugleich das tiefsinnige, melancholische Wesen seiner Mutter, welches zuweilen etwas ins Romantische schlug. Die einzige Eigenschaft, die er wohl mit allen aus der dudleyschen Familie gemein zu haben schien, war ein manchmal zu Tage tretender nachdenklicher Realismus, welchem es gelang, in seine jungen, schönen Züge einen beinahe erschreckenden Ernst zu zeichnen.
 

Jener unverkennbare Ernst lag auch jetzt wie eine undurchdringliche Maske auf seinem Gesicht, da seine unruhigen Augen den heiteren Sprüngen eines kleinen Geschöpfes folgten, welches viele Jahre später in seinem Leben eine unendlich große Rolle spielen sollte.

Kapitel 4

"Nein, nein, und nochmals nein!"
 

Bettys helle Stimme überschlug sich fast vor Empörung, während sie in Antheas Ankleidezimmer auf und abging. Wenige Meter entfernt von ihr, hinter dem hohen, ledern gepolsterten Stuhl, in welchem das kleine Mädchen mit baumelnden Beinen saß, stand Liz und beugte sich geduldig über das Kunstwerk von Frisur, das sie auf Antheas Kopf entstehen ließ.
 

"Ich sagte dir doch schon, dass du nichts dagegen tun kannst." erwiderte sie mit der ihr eigenen, stoischen Gelassenheit, welche ihre Freundin nicht selten an den Rand des Wahnsinns trieb. "Es ist nun einmal der ausdrückliche Wunsch seiner Lordschaft des Herzogs, dass Lady Anthea noch in der folgenden Woche an den königlichen Hof gebracht wird."
 

Betty hielt einen Moment lang im Gehen inne. Kopfschüttelnd stemmte sie die Arme in ihre Wespentaille und ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen.

"Der Herzog, pah! Als ob John Dudley ein Recht hätte, sich in Antheas Erziehung einzumischen, so wenig, wie er sich sonst um sie schert! Soweit ich mich erinnern kann hat er noch vor einigen Wochen klar und deutlich betont, dass allein mir und den Zofen die Aufgabe zustünde, das Kind zu umsorgen! Mir allein hat er damals das Sorgerecht für die kleine Lady Cook übertragen, und demnach habe ausschließlich ich als ihre Erzieherin zu entscheiden, was für das Mädchen gut ist und was nicht! Und ich sage, es ist nicht in Ordung, ein Kind ihres Alters in eine verlogene, böswillige und heuchlerische Gesellschaft von affektierten Adligen zu geben! Sie werden der Kleinen nicht mal die Möglichkeit lassen, sich zu einem natürlichen, aufgeschlossenen Menschen zu entwickeln! Es ist einfach zu früh, Liz, verstehst du, viel zu früh... Anthea ist noch keine Fünf, sie ist ebenso leicht zu verwöhnen wie zu verderben und zu verziehen, und man wird bei Hofe keine Gelegenheit ungeschehen lassen, sie zu verderben!"
 

Während Betty sich immer mehr erhitzte und Liz vergeblich versuchte, den wütenden Redeschwall einzudämmen, hatten sich Antheas Gedanken wie kleine Vögel auf und davongemacht und waren in jene bunte, herrliche Traumwelt entschlüpft, die das Einzige war, welches sie mit ihrem kindlichen Verstand begriff.
 

Sie träumte von den Pferden, die Robert ihr geschildert hatte, und von den zahllosen Süßigkeiten und Leckereien, die es bei Hofe in Hülle und Fülle geben sollte...Sie träumte auch von den bunten, blumenreichen Gärten, in denen es sich mit Sicherheit noch um Einiges besser herumtoben ließ als auf den ihr bekannten Rasenflächen rund um Dudleys Palais.
 

Anthea verstand nicht, was die Worte "heuchlerisch" und "affektiert" bedeuteten, welche ihre Erzieherin so zornig gebrauchte, noch weniger verstand sie, warum Betty sich so aufregte. Im Gegensatz zu der entsetzten Gouvernante hatte das kleine Mädchen sich diebisch gefreut, als man ihr eröffnete, dass sie in absehbarer Zeit dem König vorgestellt werden sollte. Obgleich ihr naives Gemüt mit dem Begriff König noch nicht allzu viel anzufangen vermochte, so hatten ihre scharfen Ohren doch bemerkt, dass alle Erwachsenen mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung von diesem seltsamen Menschen sprachen, und seit Robert ihr kürzlich erklärt hatte, dass der König die oberste Macht im Reich besitze, sah sie einen riesigen, furchteinflößenden Mann vor sich, der einen langen, dunklen Mantel trug und einen schwarzen Bart besaß, ähnlich wie die bösen Zauberer in den Geschichten, die John Dudleys jüngster Sohn ihr ständig erzählte.
 

Natürlich hatte Anthea keine Ahnung, dass man in eine Königsfamilie hinein geboren werden musste, und dass man, gleich in welchem Alter, das Königreich durch Erbschaft erlangen konnte. So konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass der englische König kein großer, schwarzbärtiger Riese war, sondern ein dürrer, blasser und schwacher Knabe von vierzehn Jahren, dessen Krone ihm schwer auf dem rotblonden Haupt lastete und der von seinen Ministern für deren persönliche Zwecke und Ziele missbraucht wurde. Sie wusste auch nicht, dass die hochmütige und oberflächliche Hofgesellschaft mit verächtlichem Blick auf sie herabsehen würde, sobald man erfuhr, dass sie Thomas Seymours uneheliche Tochter war.
 

Nein, in jenem Augenblick, da Anthea ihr schmales, fein geschnittenes Gesichtchen mit den großen, hungernden Augen in dem venezianischen Spiegel betrachtete, dachte sie nur an jene romantische Phantasiewelt, welche sie sich in den letzten Tagen erschaffen hatte, und spürte, wie eine Aufregung sondergleichen sie überkam, verbunden mit dem tiefen Wunsch, die Atmosphäre kennen zu lernen, in der Robert Dudley und seine Geschwister lebten.

Dass der Befehl, sie so rasch als möglich nach Whitehall an den Hof zu schicken, von Warwick - oder besser dem Herzog von Northumberland, zu dem er kürzlich ernannt worden war - gekommen war, nahm das kleine Mädchen nur am Rande wahr.
 

Er war ihr fremd, dieser hohe, alles einnehmende Herr, dessen Befehl sich in diesem Hause niemand, nicht einmal ihre geliebte Betty, zu widersetzen wagte. Irgendwo in ihrem Hinterkopf hatte er einen Platz als schemenhaftes, schattengleiches Phantom eingenommen, das ihr in seltenen, grauenerregenden Momenten begegnete, um ihr Angst einzujagen. Und doch gab es da ein Wort, welches Betty und Liz und all die anderen, die Anthea in den letzten Jahren liebgewonnen hatte, immer wieder gebrauchten, und dieses Wort war zu ihrem größten Leidwesen untrennbar mit jenem Dämon tief auf dem Grund ihrer Seele verbunden. "Vormund", so hieß dieses Wort. Er war ihr "Vormund".
 

Anthea hasste dieses Wort. Sie begriff nicht, was es bedeutete, noch hatte sie eine Ahnung, dass ein Vormund durchaus kein unangenehmer Mensch sein musste. Alles was sie verstand war lediglich, dass sämtliche unschöne Regeln, die es einzuhalten galt, sämtliche Schranken, die ihr gesetzt und alle Verbote, die ihr im Hause Dudley bisher gemacht worden waren, stets von ihm gekommen waren. Jedes Mal, wenn ihre Erzieherin sie ermahnte, nicht zu laut in den Fluren und Korridoren zu spielen und Anthea sie in ihrer unschuldig-verklärten Art nach dem Grund fragte, lautete die Antwort: "Weil Euer Vormund es nicht billigt." Und jedes Mal, wenn Anthea einen ganzen, langweiligen Tag lang still und zurückgezogen in ihren engen, dunklen Gemächern verbringen musste, meinte Betty: "Es tut mir leid, aber Euer Vormund wünscht es so."
 

So kam es, dass das kleine Mädchen sich in jenem unglaublichen Augenblick, da sie ihr kindliches Antlitz im Spiegel sah, nicht vorstellen konnte, dass die überaus erfreuliche Tatsache, dass man sie nun an den Hof bringen würde, einer Laune des Herzogs zu verdanken war. Wie hätte es auch möglich sein sollen, dass das "Phantom" gewogen war, ihr eine Freude zu bereiten?
 

Was Northumberland selbst betraf, so bezweckte er mit seinem Befehl, das Kind Anthea seiner Majestät vorzustellen, keines Wegs, der Kleinen eine Freude zu bereiten. Er hatte sich bei diesem verfrühten Wunsch lediglich daran erinnert, dass nur die höchsten und einflussreichsten Familien es wagten, ihre Kinder vor dem siebten Lebensjahr an den Hof zu bringen, und, sich kurzzeitig jener Vaterrolle, die er innehatte, entsinnend, war ihm der Gedanke gekommen, dass er mit der kleinen Lady Anthea seine Macht bei den englischen Herren und Damen des Hofes unterstreichen konnte. Sie würde als sein jüngstes Töchterchen - wenn auch nur ein aufgenommenes - bei Hofe jedermanns Wohlgefallen erregen, war sie doch ein solch reizendes, kleines Geschöpf, das mit seinem lieblichen, puppenhaften Gesichtchen und dem üppigen, glänzenden Haar genau dem Schönheitsideal jener Zeit entsprach.
 

Und so wurden in Windeseile zahlreiche Taschen, riesige Körbe und lederne Koffer gepackt, die das Gepäck der kleinen Lady Anthea und ihrer gesamten Dienerschaft enthielten, und Mrs. Peeks, die nach wie vor die Schneiderin des Kindes war, mühte sich nach Kräften, so bald als möglich mit einem passenden Reisekleid für Anthea fertig zu werden.
 

Alles befand sich in heller Aufregung, als das kleine Mädchen an einem eiskalten, verschneiten Januartag des Jahres 1553 vor einem hohen, in Gold und mit Edelsteinen eingefassten Spiegel stand, und von Liz, Marie-Claude und einer weiteren Zofe names Hariette in eine marineblaue Samtrobe mit - so schien es zumindest Anthea - tausenden von gestärkten Unterröcken gehüllt wurde. Das Kleid war bis hinauf zu ihrem schmalen Hals geschlossen, war mit silberweißen Borten besetzt und besaß einige silberne Zierknöpfe, die sich in einer geraden, schmalen Linie vom Oberteil bis hinunter zu dem weiten, raschelnden Rock zogen. Als man Anthea zu allem Überfluss auch noch das blaue Barett mit der weißen, wallenden Federboah leicht schräg auf ihr hochgestecktes Haar setzte, ertappte sie sich dabei, wie sie die Tatsache bezweifelte, dass sie erst vier Jahre zählte. Befremdet, und mit großen, ängstlichen Augen starrte sie ihre eigene Gestalt im Spiegel an, welche wie ein kleiner Soldat aufrecht und verkrampft und ohne eine Bewegung zu wagen dastand.
 

Betty, welche Lady Cooks kleine, gedrückte Miene zu bemerken schien, ging hinter ihrem Schützling in die Hocke und berührte vorsichtig Antheas schmale, gebrechliche Schultern.
 

"Ihr braucht keine Angst zu haben, meine Kleine", flüsterte sie und warf Anthea im Spiegel einen aufmunternden Blick zu, "das Kleid, das Mrs. Peeks für Euch genäht hat, ist nur die angemessene Tracht, mit der kleine Mädchen Eures Standes reisen. Bei Hofe, das verspreche ich Euch, könnt Ihr wieder Eure luftigen Seidenroben anziehen."
 

Anthea hielt den Atem an. Sie drehte sich zu ihrer Erzieherin um und zupfte diese verschwörerisch am Ärmel.

"Du Betty", gab sie, ebenso leise, zurück, "du darfst mich nicht schelten, weil ich es sage, aber...ich fühle mich, als müsste ich zerplatzen!"

Die junge Frau lachte hell auf, und Liz und Hariette, die in einiger Entfernung standen und aufgeregt miteinander sprachen, drehten sich neugierig zu ihnen um.

"Ich werde Euch nicht ausschelten, mein Kind. Ich kann verstehen, wie Ihr Euch fühlt. Mir wäre es in Eurem Alte sicher nicht anders ergangen, hätte man mich in ein solches Kleid gesteckt!"

"Hat man das denn bei dir nie getan?"

Betty lachte erneut.

"Nein, für mich kam so etwas gar nicht in Frage...aber nun kommt, es wird Zeit für Euch, nach unten zu gehen. Ich bin sicher, Eure Kutsche wartet bereits auf Euch."
 

"Meine Kutsche?" Anthea konnte nicht aufhören, ihrer Erzieherin aufgeregte Fragen zu stellen, während sie durch den langen, dunklen Korridor in die Vorhalle von Dudleys Palais gingen und sich dem Innenhof näherten, der zu dem prächtigen Gebäude gehörte.

"Ja. Ihr werdet mit der Kutsche nach London fahren, zum St. James-Palace. Dort wartet seine Majestät auf Eure Ankunft."

Das Kind klammerte sich noch fester an ihre Hand und sah gespannt zu ihr hinauf.

"Wirst du mit mir fahren - in der Kutsche?"

Betty lächelte sanft zu ihr hinab.

"Aber ja doch, kleine Anthea. Ich werde immer mit Euch kommen, wohin auch immer Ihr geht. Und Liz und die anderen, die auf Euch aufpassen sollen, kommen auch mit."
 

Anthea war verstummt, weil sie nun den schneebedeckten Innenhof betreten hatten, wo tatsächlich eine äußerst prächtige, dunkelblaue Reisekutsche, bespannt mit seiner Lordschaft besten Vollblutpferden, für sie bereit stand, aber Betty spürte trotzdem den warmen Atem des kleinen Mädchens auf ihrer Hand, den dieses erleichtert ausstieß.

Dabei musste sie wie so oft bekümmert daran denken, dass es eine schreckliche Untat war, die kleine Anthea schon so früh ihren ersten Staatsbesuch machen zu lassen.
 

Das edle Gefährt war mit feinem, dunkelblauem Brokat ausgeschlagen und dralle Samtkissen lagen in den Ecken der Sitzpolster aus edlem, teurem Leder, welche es den Insassen der Kutsche ermöglichen sollten, weniger durchgeschüttelt in London anzukommen als dies in einer gewöhnlichen Postkutsche der Fall gewesen wäre.
 

Außer diesem einen Wagen hatte der Herzog noch einen zweiten zur Verfügung gestellt, in welchem Marie-Claude, Pauline und die rundliche Hariette saßen, und in dem man außerdem das restliche Gepäck untergebracht hatte, welches man nicht mehr auf den breiten Kutschendächern hatte festschnallen können.

Es dauerte noch eine Weile, bis die Kutscher vorne auf den Böcken ihre Peitschen knallten und die beiden Gefährte ruckartig den gepflasterten Hof verlassen konnten. Anthea, welche gemeinsam mit Betty, Liz und der jungen, pausbäckigen Maud in der ersten Kutsche saß, lauschte fasziniert auf das knarzende Geräusch der großen Räder, welche über die Pflastersteine rollten. An ihre ersten Kutschfahrten, die sie im Alter von einem Jahr und später, mit zwei Jahren, unternommen hatte, konnte sie sich inzwischen nicht mehr erinnern, da ihr Verstand erst im Laufe der Zeit richtig einzusetzen begonnen hatte.

Später sollte sie sich auch an diese für sie so aufregende und spannende Fahrt entlang der Themse nicht mehr erinnern.
 

Die ganze Zeit, während sie fuhren, drückte sich das Mädchen an der kalten Scheibe des Kutschenfensters die Nase platt, lauschte auf das unentwegte Donnern der Pferdehufe, welche auf der verschneiten Allee dahinjagten, und konnte ihre baumelnden Beine, die noch lange nicht bis auf den Boden reichten, nicht still halten.

"Na, Kleines", wandte Betty irgendwann das Wort an sie, "ist der Fluss denn wirklich so furchtbar spannend, dass du ihn fortwährend anstarren musst?"

Wie aus einem Traum erwacht schreckte die Vierjährige empor und sah Betty einige Augenblicke lang mit glühenden Augen an.

"Oh, es ist alles so groß", wisperte sie, eine Mischung aus Furcht und grenzenloser Freude in der kindlichen Stimme.
 

Betty betrachtete das Kind eine Weile, welches seine Beschäftigung wieder aufnahm, die Themse an sich vorüberziehen zu lassen.

Auch Liz und Maud hatte der eigenartige Ausdruck in Antheas Gesicht stutzig werden lassen; stirnrunzelnd blickten sie einander an.

Wie seltsam sie heute ist, überlegte die Erzieherin, gar nicht so wie sonst...
 

Noch am Abend zuvor hatte Betty mit fester Gewissheit erwartet, dass die Kleine während der gesamten Fahrt nach St. James keine Ruhe geben würde, mit den Beinen gegen die Kutschenpolster trommeln und immerfort fragen würde, wann sie denn endlich da seien. Nun saß neben ihr ein zutiefst in seinen Träumen versunkenes, sinnendes kleines Persönchen, welches weder sprach noch quängelte und in einer Haltung in den samtenen Kissen lehnte, als sei es an einem Tag um mindestens drei Jahre älter geworden.

Was werden sie bei Hofe aus ihr machen, fragte sich Betty bedrückt, ein steifes, fügsames und verschrecktes Püppchen?! Nein, das durfte sie nicht zulassen, wenn jemand dafür sorgen konnte, dass Seymours kleine Tochter sich so frei und unbeschwert entwickelte wie bisher, dann war sie es...
 

"Breitet Eure Röcke aus und macht Eure Reverenz vor dem König, mein Kind."

Es war die sanfte, aufheiternde Stimme Bettys, welche neben Antheas heißer Wange erklang.
 

Der riesige Raum, in welchem sie stand, hatte sie eingeschüchtert und zugleich berauscht, die vielen Bücher, die in den eichenen Regalen an den steinernen Wänden eingeräumt waren, erweckten ihre Neugier, weil sie so etwas noch nie gesehen hatte, und das goldene Licht der Kerzen, die überall im Audienzzimmer des Königs von England brannten, warf einen lockenden Schimmer auf ihre rotbraunen, inzwischen unbedeckten Haare, welcher erahnen ließ, welch verführerische Wirkung eben dieses Haar in späteren Jahren auf die Männer des Hofes haben würde.
 

Im Audienzraum des Monarchen waren mehrere Personen anwesend; Anthea sah der Reihe nach zu den strengen und unendlich ernsten Gesichtern der Männer empor, die um den großen, dunklen Tisch herumstanden und sie mit erstaunten Mienen musterten. Sie kannte nur einen von ihnen, das "Phantom", ihren sogenannten Vormund. Er sah sie mit einer seltsamen Art von Stolz an, von dem Anthea meinte, dass er nicht berechtigt sei. Was hatte sie plötzlich mit diesem Menschen zu schaffen, der zwar ihr Vormund - was auch immer das sein sollte, die Bedeutung des Wortes war ihr nach wie vor unklar - war, jedoch sonst noch nie näheres Interesse an ihr gezeigt hatte?
 

Dann, endlich, nach einer unendlichen Minute der Spannung, sah sie zu demjenigen auf, der in dem breiten, etwas erhöhten Stuhl hinter dem Schreibtisch saß - und von einer Sekunde zur anderen wich ihre aufgeregte Furcht grenzenloser Enttäuschung. Der König, so konnte sie sich an Roberts Worte erinnern, trug eine schwere, edelsteinbesetzte Krone, an der sie ihn leicht erkennen konnte. Der blasse, kränklich und gequält dreinblickende Jüngling, den sie jetzt vor sich sah, trug zwar diese Krone - aber nach Ansicht des kleinen Mädchens war diese das einzig Ehrfurchteinflößende an seiner Erscheinung. Der lange, schwere, purpurfarbene Mantel und das golddurchwirkte Wams schienen seine dürre Gestalt beinahe zu erdrücken, steif und aufrecht wie eine Puppe saß er in seinem Stuhl und es schien ihr, als sei sein Lächeln müde und erschöpft, als sie langsam in einen kleinen Knicks vor ihm versank, wobei sie, wie Betty es sie zuvor gelehrt hatte, die Augen nicht von ihm abwandte.
 

"Euer Majestät", hörte sie nun ihre Erzieherin hinter sich sagen, welche ebenfalls in den zeremoniellen Hofknicks versunken war, "erlaubt mir die Ehre, Euch Lady Anthea Cook vorzustellen, das Mündel seiner Gnaden, des Herzogs von Northumberland."

"Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite, Mrs -"

"Ich bin Miss Worchester, ihre Erzieherin." warf Betty rasch ein.

"Nun, Miss Worchester", langsam erhob sich der vierzehnjährige Eduard VI. aus seinem Stuhl, raffte vorsichtig die Wogen seines purpurnen Umhangs zusammen und kam in mäßigen Schritten auf sie zu.

Seine dürren Beine steckten in hellblauen Seidenstrümpfen und die kurze, dunkelrote Pluderhose darüber verbarg trotz ihrer Zwiebelform nicht die Gebrechlichkeit seines Wuchses.
 

Anthea fühlte all ihre kindlichen Illusionen um sich herum zerbrechen, als sie ihn ansah, und dieses Gefühl löste in ihrem kleinen Körper eine seltsame Leere aus, die sie sich nicht erklären konnte. Und plötzlich, da sie mit all diesen kalten, hohen Männern, dem schwachen König, und nur mit Bettys Schutz in ihrer unmittelbaren Nähe in diesem dunklen, einschüchternden Raum stand, plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher als die Gegenwart des jungen Robert Dudley, den sie bereits zu ihrem ganz persönlichen Helden auserkoren hatte.

Er sollte auf dem Thron sitzen, dachte sie in ihrer spontanen, naiven Art, nicht dieser eigenartige, blasse Mann mit der Stimme, die bei jedem Wort ihre Tonlage verändert...
 

Zu Antheas größtem Erstaunen begann der junge König nun, ihr die Herren vorzustellen, welche inzwischen in einem Pulk um sie herumstanden. Es waren Namen, die Anthea im selben Augenblick, da sie sie vernommen hatte, wieder vergaß. Nur einen einzigen konnte sie sich seltsamerweise merken, sie wusste selbst nicht warum, er war ihren Ohren irgendwie angenehm: Sir William Cecil.
 

Sir William war eine eindruckschindende Erscheinung. Ganz in dunklen Samt mit Goldbrokat gekleidet, vermittelte er Anthea den Eindruck eines das Schwert schwingenden Prinzen. Sein Gesicht mit dem dunklen Bart und den ordentlich gescheitelten Haaren hingegen wirkte eher wie das eines strengen Beamten und ähnelte in erschreckender Weise den übrigen Gesichtern um sie herum.
 

Dann winkte Eduard den Herzog zu sich.

"Tretet zu uns, Mylord. Ihr habt ein bezauberndes Mündel."

Northumberland lächelte wie unter einer Maske.

"So? Sie - äh - erweckt durchaus Euer Wohlgefallen, Majestät?"

"Oh, durchaus, natürlich."
 

Schließlich - Antheas Lider waren bereits so schwer, dass sie drohten, jeden Augenblick zuzufallen - entließ der König sie aus der ersten Audienz und beauftragte eine Dienerin, sie zu den Gemächern zu führen, die man ihnen im St. James-Palace zugewiesen hatte.
 

Während Betty das müde und von der Reise abgekämpfte kleine Mädchen durch die marmornen Korridore führte, fragte sie lächelnd:

"Nun, Kind, wie gefällt Euch der König?"

"Ach ich weiß nicht", Anthea ließ ein Gähnen vernehmen, das Betty unter normalen Umständen zu verzweifelten Ausrufen veranlasst hätte, "ich glaube, der König ist gar kein richtiger König."

"Wie meint Ihr das?"

"Nun, es ist - doch vollkommen unmöglich, dass ein so dünner und kleiner König das Oberhaupt eines Reiches sein soll, wie Milor' Robert es genannt hat. Ein König muss groß und stark sein und alle seine Untertanen müssen Angst vor ihm haben -" sie hielt einen Augenblick inne, überlegte, dann fuhr sie fort, "zumindest glaube ich, dass es so ist. Dieser König könnte sich von all den Männern, die mit ihm im Raum waren, überrumpeln lassen."

Betty musste trotz ihrer Erschöpfung herzhaft lachen.

"Ach, Ihr seid so erfrischend, kleine Anthea...so belebend in Eurer Unerfahrenheit, die doch die Wahrheit spricht..."

"Sage ich denn etwa etwas Falsches?" erkundigte sich Anthea ängstlich.

"Oh, nein, nein...gewiss nicht, meine Kleine. Ich bin mir gewiss, dass Ihr das Richtige gesagt habt..."

"Gut", Anthea atmete auf, "dann ist es fein. Dann wollen wir schlafen gehen, Betty."



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  caligo
2004-04-26T18:08:14+00:00 26.04.2004 20:08
Hab mir grad die story durchgelesen, trotz all deiner Warnungen. Hey und sie ist wirklich gut! Ich verstehe nicht, warum du bisher nur einen Kommentar hast, es erinnert mich tatsächlich an all diese historischen Romane und ist gut recherchiert, außerdem ist deine Ausdrucksweise klasse, wie bei einer richtigen Autorin. Tja, du hast dir ja noch ne ganze Menge vorgenommen, wenn du die gesamte Kindheit von Anthea beschreiben willst. Schön, dann kann ich mir in zwei jahren immer noch die neuen Teile durchlesen. *gg*
bye, caligo
Von: abgemeldet
2004-03-25T15:44:43+00:00 25.03.2004 16:44
*grins* *knuddlz* *grad ma den ganzen zwoten teil nochma gelesen hat* *supitoll findet* *nochma durchknuddlt*
freu mich schon auf morgen!
cya
die (dynamische^^) ente


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