Fading Light von Crimson_Butterfly (Jenseits aller Grenzen) ================================================================================ Prolog: -------- Noah konnte lächeln. Er wusste nicht genau wie, aber es gelang ihm. Möglich, dass es an dem Mann lag, der mit leicht geneigtem Kopf vor ihm stand. Noah versuchte, zu atmen. Passierte das wirklich oder schlief er noch? Er hatte nicht geglaubt, dass er diese Person jemals kennenlernen würde. Den Protagonisten in den vielen Geschichten seiner Mutter. Wenn sie von diesem Menschen erzählte, klang sie wie ein großer Fan. Und es wirkte immer ein bisschen übertrieben. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte er an die Märchen geglaubt. Heute nicht mehr. Aber er hörte gerne zu. Weil ihre Geschichten so lebendig waren, riss sie ihren Sohn mit sich - in eine Welt voller Abenteuer. Zögernd hob Noah den Kopf, sein Blick suchte den seines Gesprächspartners. Natürlich hatte sie übertrieben. Das nahm er jedenfalls an. Denn dieser Mensch wirkte auf den ersten Blick ganz normal. Beim zweiten entdeckte er weiße Hörner, die zwischen silbernen Haaren saßen. Er schluckte. Flügel glitzernd wie Obsidian mischten sich mit der Farbe von Lapislazuli. Durch ihre Größe streiften sie beim Laufen über den Boden. Noah hämmerte das Herz gegen die Rippen. Der Hals trocknete ihm aus. Vor allem waren es diese Augen, die ihn faszinierten. Sie brachen sich wie eine Seifenblase im Licht. Das war für ihn nicht so ungewöhnlich. Jedenfalls nicht in dieser Welt - nicht bei einem himmlischen Wesen. Doch an diesem Mann war irgendwas anders. „Noah, ich möchte dir Nathaniel vorstellen.“, sagte Hailey erfreut. „Nathaniel, das ist mein Sohn.“ Der Mann deutete ein Nicken an. „Freut mich“, erwiderte er eintönig. Er war groß und schlank und der weiße Stoff des Hemdes spannte sich über einen sehnigen Oberkörper. Das einseitige, etwas schiefe Lächeln, betonte seine aparten Züge. Noah nahm die Geste an, auch wenn er nicht wusste, wie er mit Nathaniel umgehen sollte. Die Person, von der seine Mutter immer erzählte, wirkte lebensfroh, ehrlich und gefühlvoll. Nicht wie dieser Mann. „Ganz meinerseits“, erwiderte Noah höflich. Nathaniel nickte. Dann drehte er sich um und steuerte das Klavier an. Hailey sah ihm mit einem Gesichtsausdruck nach, den Noah schwer deuten konnte. Ihre Augen waren umwölkt. Sie schüttelte den Kopf. „Himmel, Naddy. Was ist mit dir los?“ Mit den Händen in den Taschen wippte Noah auf den Füßen. Warum nannte sie diesen Mann Naddy? Er stutzte. Seit sie sich hier aufhielten, benutzte sie den Namen. War das so etwas wie eine Abkürzung? Noah hatte dabei ein anderes Bild vor Augen. Ungewollt musste er bei der Vorstellung grinsen. Naddy, ein kleiner, zierlicher Junge, dem die viel zu große Brille ständig von der Nase rutschte. „Mom, ist das der Mann, von dem du mir so oft erzählt hast? Kann es sein, dass du ein bisschen übertreibst?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber irgendwas scheint ihn zu beschäftigen.“ Hailey rang die Hände ineinander. „Er ist ... nun ... normalerweise redet er mehr.“ Noah drehte sich um. Seine Augen glitten über die Köpfe der Anwesenden, bis er das Klavier erreichte. Nathaniel hatte sich gegen den Flügel gelehnt, sah sich um und hielt in der Hand eine Sektflöte. Tief seufzend, ließ sich Noah auf einen Stuhl fallen. In diesem Moment saß er seine Zeit auf einer Hochzeit ab - wenn das so genannt werden konnte. Luzifer und Mammon hatten geheiratet. Sie waren zwei von den sieben Todsünden. Sie feierten in einem Gebäude, das an eine Kirche erinnerte und sich im Jenseits befand. Die Luft aus den Lungen stoßend, trat Noah zum Buffet. Weil die angebotenen Gerichte sein Misstrauen weckten, hatte er bis jetzt noch nichts gegessen. Doch zu seinem Leidwesen schien sein Magen andere Pläne zu haben. Die Zutaten stammten alle aus dem Jenseits. Er kannte nichts davon. Skeptisch ließ er seine Augen über die Speisen fliegen. Dann fasste er mutig nach einer Frucht, die ihn an eine Birne erinnerte. Sie verströmte einen süßlichen Duft. „Du warst noch nie im Jenseits, oder?“, erklang eine amüsierte Stimme, eine Hand fasste nach der Frucht. „In dem Fall solltest du vorsichtig sein.“ Noah drehte sich um. Direkt hinter ihm stand Nathaniel. In seinen Augen lag ein verschlagenes Funkeln. Um seine Mundwinkel spielte ein nicht mehr ganz so emotionsloses Lächeln. Was hatte die Persönlichkeit dieses Mannes ins Gegenteil verkehrt? „Ich ... bin in der Welt der Menschen aufgewachsen“, beantwortete Noah die Frage, seine Hände begannen zu kribbeln. „Ich bin das erste Mal hier.“ „In dem Fall solltest du niemandem trauen.“ Nathaniel biss in die Frucht - seine Eckzähne waren seltsam spitz - und daraufhin wurde der lockende Duft noch intensiver. „Wie alt bist du jetzt?“ Noah schien das Herz aus der Brust zu springen. Seine Knie zitterten. Dieser Engel hatte eine unglaublich weiche, melodiöse Stimme, seine Ausstrahlung glich plötzlich dem Mann aus den vielen Geschichten. Sein Geruch stellte den der Frucht in den Schatten. „Ich wurde im letzten Monat 15“, erwiderte Noah, tastete hinter sich und hielt sich fast hilfesuchend an der Kante des Tisches fest. Er brauchte irgendeine Stütze. „Und wie alt bist du?“ Auf die Frage folgte leises Lachen. Nathaniel streckte die Hand aus, dann zog er sie zurück. Er wirkte unschlüssig. Innerlich wurde Noah wieder zu einem Kind. Ein Kind, das begeistert den Geschichten seiner Mutter lauschte. Und auf einmal wusste er, dass er sich voller Inbrunst danach gesehnt hatte, diesen Engel endlich zu treffen. „Viel zu alt, um darauf zu antworten … und zu alt für Groupies.“ „Du weißt nicht, was du verpasst.“ Nathaniel wirkte verwirrt, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Willst du mein Ehrgefühl auf die Probe stellen?“, fragte er mit einem Lächeln. „Vielleicht.“ Hastig drehte sich Noah um. Er fasste nach einem Glas und wollte im überfüllten Ballsaal verschwinden, als er diesen Engel etwas murmeln hörte, was sein Herz ins Stocken brachte. „Naja, wenn sie wie du die richtige Größe haben…“ Noah atmete tief durch und drehte sich wieder um, nur um festzustellen, dass dieser Engel viel zu dicht vor ihm stand. Diese Nähe war ein Angriff auf seine Selbstbeherrschung. „Gut zu wissen“, deutete er mit belegter Stimme an und senkte aus einer nicht erklärbaren Verlegenheit heraus den Kopf. „Ich werde mich bemühen, nicht mehr zu wachsen.“ Noah stieg die Hitze in die Wangen. Das war sein erster, richtiger Flirt. Er war so unglaublich nervös. Seine Hände schwitzten. Wenn er zuvor nicht gewusst hatte, wie er mit Nathaniel umgehen sollte, stellte er sich jetzt die Frage: Wohin mit all den Gefühlen, die in ihm brodelten? „Sieh‘ mich an“, drang es geflüstert bis zu ihm vor. Er hob zögernd den Kopf. „Du bist heiß“, sprudelte es aus Noah heraus, bevor er die Worte zurückhalten konnte. Die Hitze in seinem Gesicht breitete sich bis zu seinen Ohren aus. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, wünschte er sich, im Erdboden zu versinken. Dieser Mann brachte ihn vollkommen durcheinander. Nathaniel verzog die Lippen. „Danke. Ich gebe das Kompliment zurück“, hauchte er belustigt. Sein Mund war nur Zentimeter weit entfernt. „Wenn du erwachsen bist, wirst du viele Herzen brechen.“ Das war der Moment, als etwas zwischen ihnen erblühte. Noch zu flüchtig, um ein Wort dafür zu finden. Zu klein, um es zu erfassen. Aber das spielte keine Rolle. Zumindest nicht jetzt. Noah hatte das Gefühl, wie eine Sternschnuppe zu verglühen. „Vielleicht will ich dein Herz brechen.“ „Du hast Selbstvertrauen.“ Nathaniel ließ seinen Blick über das Gesicht des Jüngeren schweifen. „Das ist gut und gesund für dein Alter.“ „Ich wirke nur so. Eigentlich bin ich total unsicher.“ „Dafür hast du keinen Grund“, erklärte der Engel, richtete sich auf und biss abermals in die birnenähnliche Frucht. „Du darfst ruhig ein bisschen stolz sein. Hailey ist der schönste Engel des Jenseits und dein Vater ein Höllenprinz. Du hast von beiden Seiten nur das Beste bekommen.“ Dem Jüngeren schnürte sich die Kehle zu. Er war dabei sich zu verlieben. Oder vielleicht schwärmte er auch nur für den Mann, in dessen Armen er sich zu liegen wünschte. In seinem Inneren herrschte reinste Anarchie. Noah konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er streckte die Hand aus, berührte etwas Weiches und hörte ein Stöhnen, das ihm den Boden unter den Füßen wegzog. „Ver ... Verzeihung“, stammelte er, nachdem ihm bewusst wurde, dass Federn zwischen seinen Fingern lagen. „Tut ... tut das weh?“ Darauf ging Nathaniel nicht ein. „Jake und Hailey“, sagte er und in seiner Stimme lag ein ebenmäßiges Lachen. „Das hatte ich wirklich nicht erwartet.“ Noah stieß die Luft aus seinen Lungen. „Ich glaube, damit hat kaum jemand gerechnet“, erwiderte er, mit den Gedanken bei seiner Mutter. Sie hatte ihrem Sohn einmal erzählt, wie viele gegen die Hochzeit waren. Hailey hatte alles aufs Spiel gesetzt, um mit der Liebe ihres Lebens zusammen zu sein. „Ich wollte, dass sie glücklich ist. Mit wem interessiert mich nicht“, sagte Nathaniel und sein Blick streifte Hailey, die mit gerafften Röcken den Rand der Tanzfläche umrundete. „Was soll daran falsch sein? Warum muss die Vernunft über den Gefühlen stehen?“ Noah sah überrascht auf. „In der Liebe gibt es kein richtig und falsch.“ Ihre Blicke trafen sich. „Stimmt“, erwiderte Nathaniel. „Vergiss‘ das nie.“ „Werde ich nicht.“ Zitternd wich Noah einen Schritt zurück. Ihm flatterte das Herz und er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er Nathaniel wiedersehen wollte. In der Welt der Menschen, seiner Realität. Doch ein Wesen des Jenseits nach der Schein-Identität zu fragen war ein absolutes No-Go. Es gehörte zu den Verboten, über die niemand redete. Noah rutschte in eine Zwickmühle. Sollte er gegen die Regel verstoßen, brachte er sich und seine Eltern in Verruf. Er biss sich auf die Lippe. Zudem bestand die Möglichkeit, dass er Nathaniel damit vor den Kopf stieß. Wenn er sich an die Regel hielt, sah er diesen Engel vermutlich nie wieder. „Bis später“, erklang die Stimme des Größeren. „Ein paar Freunde sind gerade eingetroffen.“ Das Kerngehäuse der birnenähnlichen Frucht lag auf einem Teller. Nathaniel ging zu einer Frau, die nicht sehr freundlich wirkte. Noah seufzte auf und scharte mit dem rechten Fuß. Er kannte sie gut. Sie war auch ein Engel. Ein besonderer. Denn im Gegensatz zum Rest der Gäste konnte sie ihr wahres Naturell verstecken. Hailey hatte ihm erzählt, dass es sich bei dieser Frau um seine Tante handelte, die ihn Korea geboren wurde. Ihr Name lautete Seo Yong Kim. Noah sank wieder auf einen Stuhl und begann zu kippeln. Das Jenseits existierte außerhalb von Zeit und Raum. Und doch bewegten sich die Zeiger auf der Wanduhr über das Ziffernblatt. Das Fest neigte sich langsam dem Ende zu - für diesen Tag. Das Brautpaar hatte zu Beginn angekündigt, dass sich die Feierlichkeiten über eine ganze Woche erstreckten. Eine Hand klopfte ihm auf die Schulter und weil er sich erschreckte, verlor er die Balance. Die Stuhlbeine rutschten. Bevor er auf unliebsame Weise nähere Bekanntschaft mit dem Boden schloss, hielt ihn sein Vater am Ellenbogen fest und half ihm auf die Füße. „Wir gehen jetzt nach Hause“, sagte Jake amüsiert. Noah hielt die Augen abgewandt. „Ich hole nur meine Jacke.“ Ein Rascheln erklang. „In der Zwischenzeit versuche ich, deine Mutter zu finden. Sie ist verschwunden.“ Schritte, die sich entfernten, dann mischte sich die Aura seines Vaters mit denen anderer Dämonen. Noah verkrampfte die Hände in seiner Hose, atmete tief durch und hob den Kopf. Er konnte seinem Vater nicht ins Gesicht sehen. Nur dann, wenn sich Jake hinter einer menschlichen Fassade verbarg. „So furchtbar?“, fragte eine Stimme neben ihm. Noah drehte sich um. „Nein. Nein, es ist nicht furchtbar, es ist mehr, ich …“, wollte er seine Gefühle erklären, bevor er hilflos die Schultern zuckte. „Gehst du jetzt?“ Nathaniel schien der unerwartete Themenwechsel nicht zu stören. „Ich bin nur hier, weil ich dich treffen wollte“, grinste er mit zuckenden Mundwinkeln. „Du hast meine Erwartungen nicht enttäuscht.“ „Letzte Chance“, flüsterte Noah, ohne sich dessen bewusst zu sein. Lächelnd wandte sich ihm der Engel zu, seine Augen schimmerten im Licht der Kerzen. „Über dein Angebot unterhalten wir uns, wenn du etwas älter bist“, gab Nathaniel zurück und streckte die Hand aus, um Noah im Nacken näher zu ziehen. „Und … bis dahin …“ Er ließ den Satz offen, lehnte sich vor und schloss die Augen. Noah hämmerte das Herz so hart in der Brust, dass er befürchtete, es könnte ihm herausspringen. Seine innere Stimme schrie. Er war verliebt. Er war definitiv verliebt. Doch bevor ihm Nathaniel seinen ersten Kuss stehlen konnte, tauchte Hailey auf. Und sie war betrunken. In einer Wolke aus rosa Spitze warf sie sich ihrem Sohn in die Arme. „Noah, es geht mir gar nicht gut“, lallte sie und ließ sich schwer auf ihn fallen. „Bring‘ mich nach Hause.“ Nathaniel schmunzelte bei dem Anblick. „Kümmere dich um deine Mutter.“ Noah blieb der Mund offen stehen. „Aber …“ „Gute Nacht.“ Wie ein Schatten schien Nathaniel mit den Lichtern im Ballsaal zu verschmelzen. Noah zitterte. Seine Lippen kribbelten. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an das Versprechen. Er schwor sich, dass er diesen Engel wiedersehen würde, selbst wenn es eine Ewigkeit dauern sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)