Was damals war von Ixana ================================================================================ Prolog: Ankunft, Verwirrung und erste Schritte ---------------------------------------------- Montagabend, es war fast viertel vor 6 und ich hing gerade in den letzten Zügen meines heutigen Tages, räumte meinen Schreibtisch auf, der ausgesehen hatte wie ein Schlachtfeld, fuhr den PC herunter und räumte mein Wasserglas in die Küche. Es war bereits leicht dunkel geworden und schwere Regenwolken hingen am Himmel, soweit ich das von Drinnen erahnen konnte, aber egal. Ich wollte heute nicht mehr, meine Batterien waren leer und mir schwirrte der Kopf, doch eine Sache galt es noch zu erledigen, bevor ich das Büro für heute hinter mir lassen konnte. Die übliche Feierabend-Runde bei den Kollegen, die noch da waren, stand an und ich steckte gerade den Kopf zum Büro des Junior-Chefs hinein um ihm einen schönen Abend zu wünschen, doch der gute Mann hing am Telefon, also winkte ich bei ihm nur stumm und lächelte verhalten. Im Anschluss machte ich mich, dick eingemummelt in meine blaue Fleece-Jacke und mit weiß-grauer Wollmütze und aufgewickelten Bügel-Kopfhörern in der Hand, bepackt mit einem ebenso blauen Rucksack, auf den Weg zur Tür, den Flur hinunter. „Servus, bis morgen! Schönen Feierabend und komm gut heim!“ Es war abgesehen vom Junior-Chef nur noch ein Kollege da und statt mich ein wenig mit ihm über das was morgen anstand auszutauschen, schob ich meine Brille die Nase hoch, winkte ihm nach meinen Abschiedworten nur nochmal kurz und stempelte dann aus. Endlich, Freiheit! Faul, wie ich nach diesem Tag verdienterweise war, nahm ich den Fahrstuhl nach unten und setzte währenddessen meine rosa Kopfhörer auf, die kurz darauf unter der Wollmütze verschwanden. Dann betätigte ich das kleine Knöpfchen am rosa Kabel und Musik blendete wenig später die Geräusche aus. „Dann wollen wir mal, wie spät ist es überhaupt...?“ murmelte ich mir selbst fragend zu. Ein Blick auf das aus der Jackentasche gezogene und mit den Kopfhörern verbundene Handy zeigte mir, dass es zwischenzeitlich zehn vor 6 war...hatte ich doch mehr getrödelt als angenommen? Nun, wie auch immer. Jetzt konnte ich mir das ja erlauben und mir entwischte ein herzhaftes Gähnen. Es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, die letzte Nacht bis knapp 2 Uhr morgens zu lesen, wenn man um 6 Uhr früh schon wieder aus dem Haus wollte, weil der eigene Schreibtisch überquoll. Kaum unten angekommen, öffnete ich schwungvoll die beiden Türen, die mich von der belebenden Frischluft trennten – und vereinzelten Regentropfen. Den Blick leicht schweifen lassend machte ich mich direkt auf den Weg zur Bushaltestelle und überlegte währenddessen, ob es sich lohnte, für die Busfahrt die Switch aus dem Rucksack zu holen und ein wenig meinem Allzeit-Favoriten Final Fantasy XII zu frönen, das ich mir vor Kurzem erst für mein Handheld zugelegt hatte. Meeh...ne, keine gute Idee, vielleicht am Wochenende. Ein leises Seufzen entwischte mir, ehe ich mich ganz hinten in den wartenden Bus setzte und ein wenig apathisch aus dem Fenster starrte. Wie üblich um diese Uhrzeit in Großstädten, dauerte der Weg bis zum Bahnhof länger als gewöhnlich und als ich endlich im Zug nachhause saß, den Rucksack zwischen meine Füße gestellt und weiterhin der Stimme von Johannes Oerding lauschend, schloss ich für einen kurzen Moment die Augen. Heute war wirklich ein verrückter Tag gewesen, das Telefon hatte kaum stillgestanden und die Post wollte nicht weniger werden. Ganz normaler Bürowahnsinn...so wie immer, nur aufgrund des Pensums zehnmal schlimmer. Vierzig weitere Minuten später schloss ich endlich die Tür zur WG aus der Hölle auf, streifte meine Schuhe im Eingangsflur des Reihenhauses ab und sperrte die Haustür wie üblich zweimal zu. Reine Gewohnheit - manche würden es vermutlich paranoid nennen.   Die Treppe nach oben nehmend öffnete ich wenig später die Tür zu meinem Zimmer, schaltete das Licht an und zog mir erstmal bequemere Klamotten an – wie üblich einen Pyjama, denn es war ja sonst entweder niemand da oder jeder gammelte auf seinem Zimmer. Dann ging es in die Küche und ich nahm mir Vollkorntoast, sowie laktosefreien Käse und Essiggurken aus dem Kühlschrank hinter der Küchentür, stellte es auf die Arbeitsfläche und füllte den Wasserkocher, dann machte ich mir ein paar belegte Brote – eine Seltenheit. Normalerweise hatte ich keinen Appetit nach der Arbeit, aber heute wollte ich mir eine Belohnung gönnen und was gab es da Schöneres, als bei ein paar Broten und Tee ein gutes Buch zu lesen? Richtig, nichts. Draußen schien indes ein Stürmchen zu toben, denn der Wind rüttelte an der Jalousie des Küchenfensters, doch statt mich darüber zu wundern, schenkte ich dem keine weitere Beachtung, räumte das was ich nicht mehr brauchte zurück in den Kühlschrank und marschierte mit einer dampfenden Tasse Blueberry Muffin-Tee, sowie einem Teller mit belegten Broten zurück nach oben. „Ich sollte echt mal wieder aufräumen...hier siehts aus wie im Schweinestall...“ murrte ich mich selbst an und schüttelte den Kopf. Dabei war es gar nicht soo chaotisch, es lagen nur vereinzelte Kleidungsstücke auf dem Boden. Aber nein, heute war nicht Aufräum-, sondern Chillabend. Mein zur Abstellfläche umfunktioniertes Bügelbrett wurde als Tisch-Ersatz missbraucht, während ich mich eingemummelt in meine rote Fleecedecke gegen die Wand lehnte und mein Bett wieder einmal zur Couch umfunktionierte. Platz für so ein klobiges Ding gab es hier drin eh nicht. Das kleine, rote Reclam-Buch mit dem schönen Titel "Brave New World" hatte ich nun schon seit Jahren, aber irgendwie kam ich nie dazu, es fertig zu lesen. Heute aber nahm ich mir vor, zumindest ein paar Seiten mehr zu schaffen als die kläglichen fünf, die ich bisher zusammengebracht hatte. Sollte ich mir Musik dazu anmachen? Nein...das lenkte nur ab – dachte ich mir zumindest, während ich an einem der Käsebrote kaute. Einen Schluck Tee nehmend machte ich mich nur wenig später daran, einem meiner liebsten Hobbies nachzugehen – auch wenn oder gerade weil es in letzter Zeit zu kurz gekommen war. Dieses Mal versprach mehr Lesefortschritt und ich war gerade mitten im viertel Kapitel angekommen, in dem Lenina einen Annäherungsversuch an Bernard unternahm und abgewiesen wurde, da zog es mir tatsächlich die Augen zu. Dass mir das Büchlein aus der Hand rutschte, bekam ich schon gar nicht mehr mit. *** Gefühlt nur ein paar Momente später öffnete ich blinzelnd die Augen...und stellte prompt fest, dass das hier nicht mein Couch-Bett war, sondern ein massiver Holztisch, und das Gefühl von Leder auf der linken Wange. Huh, träume ich...? Es wirkte irgendwie so, doch warum fühlte sich das so echt an, wieso hatte ich den Duft von Papier und Leder in der Nase? Hastig kniff ich die Augen wieder zu und versuchte wieder einzuschlafen, das blieb mir allerdings sehr zu meinem Leidwesen nicht vergönnt. Ein verschlafenes Murren entkam mir daraufhin und einhergehend damit piekte mich jemand von der Seite an, sodass ich ein wenig widerwillig die Augen wieder öffnete...und mich prompt kneifen wollte, um wirklich sicherzugehen, dass das hier ein Traum war. Ein paar brauner Augen blickte mich verärgert an und wenn Blicke töten könnten, wäre ich gerade vermutlich tot umgefallen, doch es kam anders. Ich richtete mich wie von der Tarantel gebissen von meinem Buch-Kissen auf und rieb mir peinlich berührt den Hinterkopf. Dabei bemerkte ich einen Pferdeschwanz. Aber meine Haare waren doch eigentlich kurz...doch mir blieb keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken, da meine Aufmerksamkeit von etwas – oder vielmehr jemand – anderem beansprucht wurde. „Tasker, das Buch. Ich brauche es, Schlafmütze, und zwar sofort.“ Der Blondschopf neben mir deutete auf das, was ich da unverschämterweise als Kissen benutzt hatte, und nahm sich schließlich einfach mit einem verärgerten Schnauben das Buch, um damit zu einem anderen Arbeitstisch zu gehen. Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, auch nur ein Wort der Entschuldigung zu verlieren oder meinen menschlichen Wecker noch einmal genauer zu betrachten. Mal davon abgesehen irritierte mich der Name, den dieser junge Kerl da eben benutzt hatte. Wer ist Tasker? Meinte er mich? Das ist doch kein Name... Vermutlich hatte er meine Wenigkeit gemeint, denn wer sonst hatte hier gerade ein Buch als Kissen benutzt? ...Moment mal, der Reihe nach, irgendwas passte hier gerade überhaupt nicht. Wieso war ich überhaupt hier und nicht mehr zuhause? Ich hatte doch gestern noch gelesen...und nun das hier? Blinzelnd schaute ich mich zuerst auf dem hölzernen Tisch um, der nun leer war – bis auf eine Brille. Ein altmodisches, einfaches Ding mit runden Gläsern und einer Fassung aus Metall lag zu meiner Linken. Das ist doch niemals meine...oder doch? „Ruhig Blut, es gibt sicher eine logische Erklärung...vielleicht hab' ich mir irgendwo den Kopf gestoßen als ich geschlafen habe...“, murmelte ich vor mich hin und setzte die Brille auf. Sie passte wie angegossen. Nun wurde auch die Sicht ein wenig klarer als noch vor wenigen Minuten, da ein gewisser Blondschopf unweit von mir sich des Buchs bemächtigt hatte und nun fleißig darin las, sowie sich Notizen machte. Zumindest konnte man es erahnen, denn er hatte sich konzentriert über den Arbeitstisch gebeugt. Da ich jetzt mehr oder wenig wach war, fing auch mein Gehirn wieder an, vernünftig zu arbeiten und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ich kannte diesen Mann aus Final Fantasy XII, auch wenn er dort meiner Meinung nach ruhig mehr Screentime hätte haben können. Das ist doch Gabranth, aber... Ein wenig skeptisch dreinschauend erhob ich mich von meinem Platz. Der Gabranth, genauer gesagt Noah Gabranth, den ich in Erinnerung hatte, war wesentlich älter und trug vor allem eine schwarze Plattenrüstung samt gehörntem Helm, sodass man sein Gesicht die meiste Zeit nicht sah. Ich kam mir vor, wie im falschen Film. Aber ich konnte jetzt auch schlecht einfach fragen, was hier los war und wo wir uns hier befanden, oder? Ein leiser Seufzer entkam meinen Lippen. Mein Selbstbewusstsein war wirklich nicht das Beste, um es freundlich auszudrücken und das führte meist zu etwas...seltsamen Szenen, wenn ich mich im Alltag mit meinen Mitmenschen herumschlagen musste.   Bei den Kollegen, mit denen ich nun schon fast drei Jahre zusammenarbeitete, ging es seltsamerweise besser. Könnte daran liegen, dass wir innerhalb der Kanzlei einen familiären, freundlichen Umgang miteinander pflegten. Aber gut, das tat gerade nichts zur Sache. Ich musste herauskriegen, was hier los war, wo ich mich befand und vor allem wer ich eigentlich war. Einen Anhaltspunkt hatte ich dank Gabranth bereits und ging in der stillen Hoffnung, er könnte mir vielleicht noch mehr erzählen, zu dessen Arbeitstisch, setzte ein freundliches Lächeln auf und beugte mich leicht nach vorne, ehe ich den Blondschopf mit dem militärisch kurz geschnittenen Haar vorsichtig antippte. „Uhm...Noah? E-Entschuldigung wegen eben...könnt Ihr...kannst du...mir vielleicht helfen?“ kam es etwas piepsig und unsicher über meine Lippen. Der junge Mann sah jedoch nicht wie erhofft von seinem Buch und den Notizen auf, sondern ließ nur ein etwas genervt wirkendes Schnauben hören, ehe er Antwort gab: „Wieso sollte ich das tun? Du hast dieses Buch blockiert und ich brauchte es dringend.“ Autsch, da war jemand wohl wirklich sauer. Sehr gut gemacht meine Liebe...nicht. Gerade als ich zu einer Erklärung ansetzen wollte, blickte er doch kurz auf und die nussbraunen Augen fixierten streng die meinen. Dass seine Lippen zu einem dünnen, missbilligenden Strich verzogen waren...nun. Es wunderte mich irgendwo garnicht, schließlich hatte ich ihn offensichtlich von etwas Wichtigem abgehalten. Wer wäre da nicht schlecht gelaunt, wenn derjenige, der einen aufgehalten hatte, nun ankam und reden wollte? „Wir sind nicht zum Vergnügen hier und ich habe keine Zeit für Plaudereien. Such dir jemand anderen.“ Nicht zum Vergnügen? Was meint er damit? „A-Aber...“ Ich hatte mich mittlerweile wieder aufrecht hingestellt und knetete unsicher meine Finger – wie immer, wenn ich versuchte nicht noch nervöser zu werden, als ich ohnehin schon in Gegenwart der meisten Menschen war. Doch Gabranth schenkte mir keine weitere Beachtung und widmete sich wieder seinem Buch. Meine Wenigkeit blieb zunächst ein wenig verloren neben ihm stehen, knetete weiter die Finger und trat ergeben seufzend schließlich einige Schritte zurück. Was genau trug der junge Mann da eigentlich, wenn nicht seine Richter-Rüstung? Es wirkte nicht so pompös und Respekt einflößend wie die schwarzen Platten im Spiel, sondern...wesentlich schlichter und eher aus einem mir nicht näher bekannten Stoff. Eine schwarze Hose mit schmalem, rotem Streifen an der Seite, der sich von oben nach unten zog. Soweit ich erkennen konnte, steckten die Füße in schwarzen, flachen Stiefeln aus Leder und – was ich schon ungewöhnlich fand – die Hosenbeine verschwanden in der Fußbekleidung. Das war sowas von out...wobei, ich sollte eigentlich still sein. Ein simples, weißes Hemd mit langen Ärmeln war der nächste Teil, zudem fiel mir etwas ins Auge – eine Stickerei auf Höhe der rechten Schulter – und prompt stockte mir einen Moment der Atem. Das archadianische Wappen...aber...wie...was...warum? Einmal mehr kam ich mir vor wie im falschen Film und beschloss, diese Örtlichkeit weiter zu erkunden. Da Noah mir wohl - zu Recht - nicht weiterhelfen wollte, musste ich mir eben irgendwie selbst helfen. Nur...wie? Unsicher glitt mein Blick umher, während ich nervös an meinen eigenen Hemdsärmeln herumzuppelte. Lange und hohe Regalreihen, verteilt auf zwei Etagen, hohe Fensterfronten, viele Lese- und Arbeitstische mit Lampen, hier und da ein paar Leitern, um an höhergelegene Bücher zu kommen...das musste eine Bibliothek sein, aber wofür? Halt, stopp. Prioritäten! Hirn! Ich will wissen was hier los ist verdammt nochmal! Nicht zu wissen, was los war, wer ich hier überhaupt angeblich sein sollte und wie es mich hierhin verschlagen hatte, machte mich wahnsinnig – und vor allem wahnsinnig nervös. Vielleicht könnte ich ja durch einen Blick aus einem der Fenster etwas herausfinden. Gedacht, getan, langsam und vorsichtig spazierte ich zu einem der hohen Fenster. Dort konnte ich schwach mein Spiegelbild erkennen. Allem Anschein nach hatte ich nun dunkelbraune Haare und einen streng zurückgebungenen Pferdeschwanz, die Augenfarbe schien, soweit ich das beurteilen konnte, immer noch das gleiche helle blau zu sein wie sonst. Dann jedoch fokussierte ich meinen Blick nach Draußen...und da hätte mich beinahe wieder der Schlag getroffen. Das war keine Kulisse, die ich aus meiner näheren oder weiteren Umgebung kannte. Prunkvolle, eng aneinandergereihte Bauten, Menschen in seltsamer Kleidung auf den Straßen und der Schatten von etwas Riesigem, der für kurze Zeit die Sonne verschwinden ließ. Was zum Teufel...ist das? Den Blick hebend versuchte ich genauer zu erspähen was da gerade einen solch großen Schatten geworfen hatte, doch alles was ich erkennen konnte, war der Rumpf eines Schiffes...oder zumindest etwas, das so aussah. Ich kannte Schiffsrümpfe nur von Dokumentationen aus dem Fernsehen und selbst da war es schon einige Zeit her, dass ich eins gesehen hatte. „Ein fliegendes Schiff...ein Luftschiff vielleicht? Noch dazu die Häuserfronten da Draußen... Das gibt’s doch jetzt nicht...“ murmelte ich vor mich hin und starrte noch einen Moment ungläubig nach Draußen, ehe ich mich wieder anderen Dingen zuwandte und diese Bibliothek weiter erkundete – auch wenn mich dieses fliegende Schiff irgendwie nicht loslassen wollte. Mir fiel bei meinem Rundgang durch die Bibliothek jedoch eine Sache auf, und das machte mich zusätzlich stutzig: die Männer die hier herumwuselten und alle irgendwie sehr beschäftigt wirkten, trugen allesamt die gleiche Kleidung wie Noah und selten sah man jemanden mit längeren Haaren. Die wenigen Frauen, die ich erspähen konnte, waren in etwa ähnlich gekleidet wie die Herren – nur wurde die Hose hier durch einen knielangen Rock ersetzt. Die Damen wirkten jedoch nicht weniger eifrig als ihre vornehmlich männlichen Kollegen. Bei meinem weiteren Streifzug fiel mir jemand ins Auge, den ich abseits von Gabranth ebenfalls kannte – auch wenn ihre Haare noch etwas länger und zu einem Dutt gebunden waren: Richterin Drace. Doch...was machte sie hier? Sie müsste eigentlich tot sein, immerhin hatte Gabranth sie auf Geheiß von Vayne getötet. Was zum Teufel wird hier gespielt? Erst Gabranth und jetzt sie...? Vorsichtig und mit vor dem Bauch verschränkten Fingern trat ich langsam auf sie zu, die gerade an einem Regal stand und nach etwas suchte. „D-Drace?“ frage ich ein wenig verschüchtert nach und blieb etwa einen Meter entfernt stehen. Die jüngere Version der Richterin schien auch tatsächlich zu hören, dass man mit ihr sprach, und sie schenkte mir zunächst einen überraschten Blick. „Estrid, was ist denn los? Du siehst aus als hättest du einen Yeti gesehen“ meinte sie leicht besorgt und zog ein Buch aus dem Regal, ehe sie sich – gefolgt von mir – zu einem leeren Arbeitstisch begab und den Wälzer aufschlug. Estrid? Hallooo...so heiße ich auch nicht! Momentchen mal...vielleicht...hmm...Estrid Tasker, könnte das mein Name sein? Hmm... Da sonst niemand bei Drace war und dieser Gesellschaft leistete, musste es wohl oder übel 'mein' (Vor-)Name sein, auch wenn ich es für den Moment noch nicht glauben wollte. „Ich uhm...können...wir reden? Ich...glaube, ich habe Noah ein klein wenig...verärgert.“ Nach meinem Gestammele herrschte vorerst Stille, nur das Umblättern von Buchseiten war zu hören. Ich blickte interessiert mit in das Buch hinein und konnte komischerweise die Überschrift entziffern. 'Die taktischen Grundlagen der Kriegsführung'...? So langsam dämmerte es mir, was hier gespielt wurde, auch wenn ich es nach wie vor nicht glauben wollte und eher davon ausging, ich hatte mir den Kopf angestoßen. „Du solltest doch wissen, wie ehrgeizig er ist... Was hast du angestellt?“ wollte die Frau wissen und blickte mich fragend, aber auch ein wenig besorgt an. Offenbar war meine Gesichtsfarbe gerade nicht die Gesündeste. Wie sollte sie das auch sein, wenn man nicht wusste, wo, geschweige denn wer man eigentlich war und was man hier sollte? Nicht zu vergessen meine persönliche Erkenntnis, dass man sich hier wohl wenigstens irgendwo in Archadia befinden musste, zumindest wenn ich an das kaiserliche Wappen auf den...ja, Uniformen dachte, die hier jeder – mich selbst eingeschlossen – zu tragen schien. „Geschlafen...auf einem Buch, das er wohl brauchte...“ kam es beschämt über meine Lippen und ich blickte peinlich berührt weg. „Es war keine Absicht, ehrlich! Ich uhm...weiß auch nicht, was los ist.“ Weiteres Schweigen schlug mir entgegen, sodass ich mir nicht sicher war, ob Drace überhaupt zugehört hatte oder nicht. Vielleicht war sie auch einfach nur zu beschäftigt mir ihrem Buch, doch dann blickte die Gute tatsächlich auf und schien sich das Grinsen kaum verkneifen zu können. „Geschlafen, du? Hier? Estrid, wir sollten uns eigentlich über Kriegstaktiken und Waffenführung belesen und nicht schlafen. Wenn unser Captain das mitbekommt, steckst du in ziemlichen Schwierigkeiten. Und wie siehst du überhaupt aus...dein Hemd ist ganz zerknittert.“ Der Tonfall hatte von vorhin noch leicht besorgt zu streng umgeschlagen und sie war aufgestanden, um mein offenbar zerknittertes Hemd etwas zu richten. Captain? Nein, besser ich frage nicht nach...sonst hält sie mich sicher für durchgeknallt. „T-Tut mir Leid, ich...“ begann ich, ohne die Richterin anzusehen, die – zumindest hier im Moment – keine war. Doch es blieb mir nicht vergönnt, meinen Satz zu beenden. Statt dessen spürte ich ihre Hände auf meinen Schultern und blickte zu ihr auf. Die Gute war nur geringfügig größer als ich und von trainierter Statur, was mir zugegebenermaßen jetzt erst auffiel. Sie lächelte wieder, sehr zu meinem Erstaunen. „Ist schon gut. Sieh nur zu, dass du dich später entschuldigst und wenigstens noch ein wenig versuchst zu arbeiten. Vielleicht kriegst du so auch wieder etwas Farbe in dein Gesicht, meine Liebe. Ich habe leider keine Zeit, weiter mit dir zu plaudern, die Grundausbildung hier wird einem nicht geschenkt. Aber das weißt du sicher selbst.“   Mit diesen letzten Worten hatte sich Drace wieder ihrem Wälzer zugewandt und war in arbeitsames Schweigen verfallen. Ich entfernte mich erneut und stellte mich vor eines der Regale in einer weniger frequentierten Reihe, starrte dort einfach nur die Bücher an, ohne sie wirklich zu lesen. Denn meine Gedanken kreiselten erneut wild durch meinen Kopf und verursachten noch mehr Chaos, das kein Mensch brauchte. Und ich erst recht nicht, gerade im Moment schon gleich dreimal nicht, das waren zu viele Dinge auf einmal. Erst Gabranth, den ich offenbar verärgert hatte, dann das Luftschiff und die Architektur draußen vor der Bibliothek, die Uniformen der hier Anwesenden und jetzt auch noch Draces Äußerung von wegen Grundausbildung und eines ominösen Captains. Ich hatte zwar erfahren, was der Sinn und Zweck des Aufenthalts hier in der Bibliothek war, aber meine Prioritäten lagen gerade ganz woanders. Die Grundausbildung die sie erwähnte...die Uniformen, das Wappen...irgendwie...werde ich das Gefühl nicht los, dass ich...wirklich in Archadis gelandet bin. Aber wie? Wie war so etwas überhaupt möglich? Das widersprach jeglichen logischen Grundsätzen. Menschen wachten nicht einfach so mir nichts, dir nichts in irgendwelchen Bibliotheken auf. „Ganz ruhig...nicht aufregen... Beherrsch dich, Idiot“, schimpfte ich mich leise selbst und atmete einige Male tief durch, knetete wieder einmal meine Finger und versuchte, mich mit den Büchern abzulenken. Klar, ich las gerne, aber egal welches der Bücher ich auch bei meinem weiteren Weg aus dem Regal zog, es hatte entweder etwas mit Waffen, Kriegsführung oder aber Taktik an sich zu tun. Alles Dinge, die man normalerweise auch in einer Armee lernte. Außerdem fiel mir darüber hinaus noch ein Buch in die Hände – über die Geschichte der Luftschiffe und deren Nutzen für das Militär. Da wurden meine Augen hinter der Brille plötzlich größer und für den Moment konnte ich tatsächlich das Chaos in meinem Oberstübchen verdrängen. Lesen half eben doch, um runterzukommen und dem Alltag zu entfleuchen. Also nahm ich kurzerhand das Buch, zusammen mit einem weiteren über taktische Grundlagen mit zu einem freien Arbeitstisch und begann, interessiert darin zu blättern. 'Die Geschichte der Luftfahrt'...huh, interessant. Hier steht, dass die ersten Luftschiffe...von Moogles vor Jahrhunderten erfunden und gebaut wurden. Um Luftschiffe bauen zu können, werden unter anderem leichte, aber robuste Metalle, langlebige Elektronikteile und Maginite benötigt, die das Fliegen erst ermöglichen. 'Maginite werden in den Lhusu-Minen, aber auch den Minen von Henna abgebaut und in alle Teile Ivalices exportiert, In Archadia ist vor allem das Draklor-Laboratorium, aber auch die YPA-Gilde für die Erforschung und Weiterverarbeitung verantwortlich'. Heutzutage sind laut diesem Buch die meisten großen Städte Ivalices über Luftschiffrouten miteinander verbunden. 'Die Jakht-Gebiete können jedoch aufgrund einer hohen Mysth-Konzentration nicht überflogen werden, da diese die verbauten Flugsteine unbrauchbar machen.' Ich konnte nicht verhindern, wieder ins Grübeln zu kommen. Diese Literatur hier schien keine gut gelungene Parodie zu sein, dazu war alles viel zu detailliert geschildert und dokumentiert, als dass man davon ausgehen könnte, dass hier etwas erfunden oder ein Scherz war. Außerdem klingelte es erneut in meinem Hinterkopf, denn die YPA-Gilde sagte mir tatsächlich etwas. Moment mal, YPA? Das kommt mir bekannt vor. War das nicht auch...in der Typenbezeichnung für die Strahl enthalten? Die YPA-GB47... Balthiers Luftschiff, das er gestohlen hatte... Seufzend klappte ich das Buch zu und widmete mich dem zweiten Schinken, den ich mitgeschleppt hatte. Denn jetzt weiter über Luftschiffe nachzudenken, brachte mich nirgendwohin, außer vielleicht in Teufels Küche. Vorausgesetzt natürlich, der ominöse, von Drace erwähnte Captain bekam heraus, dass ich mich nicht mit dem beschäftigte, weswegen man eigentlich in dieser Bibliothek war. Ich war beileibe kein taktisch versierter Mensch, um nicht zu sagen, dass ich absolut keinen Schimmer davon hatte, wie man eine Truppe richtig aufstellte. Was ich jedoch nach Lektüre der ersten Seiten verstand, war zumindest der Unterschied zwischen Elementartaktik und angewandter Taktik. Erstere erlaubte dem Führer der Truppe wesentlich weniger kreative Möglichkeiten, da Elementartaktiken normalerweise schriftlich festgehalten waren und sich über die Jahre in der festgelegten Form bewährt hatten. Ich verstehe immer noch nicht, was das alles soll...ich meine, es ist wohl offensichtlich, dass ich in Archadis gelandet bin und alle hier die gleiche Uniform tragen...Drace lebt noch und Gabranth ist sauer, weil ich ihn vom Arbeiten abgehalten habe.Wir sollen uns hier über Taktik und Waffenführung belesen und stecken offenbar in irgendeiner Grundausbildung...das müsste eigentlich heißen, dass wir hier...vielleicht bei der kaiserlichen Armee sind? Aber wieviele Jahre liegt das bitte zurück? Ich kann mich nicht dran erinnern, dass das archadianische Militärsystem genauer erklärt wurde, oder wie die Ausbildung überhaupt abläuft... Ich weiß zwar, welche Arten von Soldaten es gibt, aber nicht wie diese überhaupt zu dem werden, was sie sind. Das war doch wirklich zum Verrücktwerden...aber vorerst musste ich mich wohl damit abfinden wie es vermutlich war. Denn es sah nicht so aus, als wäre das hier ein Traum. Das zweite Buch zuklappend, nachdem ich die ersten zwanzig eng beschriebenen Seiten gelesen und halbwegs verinnerlicht hatte oder zu haben glaubte, erhob ich mich von meinem Tisch und brachte die Wälzer an ihren Platz zurück. Zeit, um mir weitere Gedanken über meine eigene Situation zu machen, hatte ich aber nicht, denn als ich mich umdrehte um noch eine Weile durch die Bibliothek zu streifen, blickte ich plötzlich Gabranth in die Augen. Der Gute überragte mich mit meinen etwas über 160 Zentimetern um fast einen Kopf und blickte auf meine Gestalt hinunter, als hätte ich ihn tödlich beleidigt. War er etwa immer noch böse wegen des Buches? Vermutlich. Na ganz toll... Ich schluckte schwer, als er mich so anstarrte und brachte im Folgenden auch keinen wirklich geraden Satz heraus. „Ah...! N-Noah... E-Es tut mir Leid...wegen vorhin. Wirklich...!“ Ich könnte mir selbst dafür in den Arsch beißen, so eine graue Maus zu sein, aber es war so – in meinen Augen – nunmal wesentlich einfacher. „Tch... Komm jetzt, Tasker. Wir müssen zurück, es steht noch eine Übungseinheit an.“ Tasker...Estrid...entscheidet euch mal! Entweder das eine oder das andere. Es kostete mich einiges an Überwindung, doch als der Blondschopf sich umdrehte, konnte ich ihm zumindest mit halbwegs gefestigter Stimme so etwas ähnliches wie Paroli bieten. „Nenn mich Estrid, Noah. Bitte...Drace tut es doch auch...und...und es tut nicht weh, jemanden...beim Vornamen zu nennen...m-meinst du nicht?“ Im Anschluss jedoch rutschte mir gleich wieder das Herz in die sprichwörtliche Hose, denn der Jüngling ging nicht wirklich auf meine Widerworte ein wie es aussah. Wenn überhaupt, dann nur zur Hälfte, aber dass er zugehört hatte, war immerhin schonmal etwas. „Hmpf. Das musst du dir erst verdienen. Komm jetzt, ich wiederhole mich kein drittes Mal.“ Dieser barsche Befehlston...nein, nicht weiter darauf eingehen oder in Tränen ausbrechen, aus! Dass Noah mich, die noch immer wie angewurzelt dastand, nun einfach am Handgelenk packte und mit sich zog, war auch nicht gerade meine Vorstellung von toll, aber ich maulte nicht, sondern versuchte mein Schritttempo an das seine anzupassen – zumindest bis der Herr mich wieder gedachte loszulassen. Drace, er und ich befanden uns nun, wenig später, vor der Bibliothek und zum ersten Mal konnte ich einen Blick auf Archadis in seiner ganzen Pracht werfen. All die Menschen, Eindrücke, Gerüche, Gebäude...es fühlte sich alles so echt an, dass ich mich dieses Mal wirklich kniff – und es tat weh, verdammt nochmal. Eindeutiger Beweis dafür, dass das hier kein Traum war. „Und wohin jetzt?“ fragte ich wenig später ein wenig unschlüssig und unsicher. „Der Übungsplatz bei der Kaserne, hast du das wirklich vergessen? Du musst heute ja wirklich einen schlechten Tag erwischt haben.“ konnte ich Drace rechts neben mir vernehmen und nickte etwas beklommen, während ich zu ihr sah. Schlechter Tag traf es wohl noch mit am Besten, denn ich konnte ja wohl kaum damit um die Ecke kommen, dass ich eigentlich aus einer komplett anderen Welt stammte als dieser hier. Sie würden mich sicher für verrückt erklären...also machte ich einfach mit bei der 'schlechter Tag'-Masche. „Ich bin nur froh, dass sie uns heute keine Magietheorie mehr in den Kopf pressen oder diese gar in der Praxis testen wollen. Die Stunden gestern haben mir eindeutig gereicht.“ fuhr die Gute fort und fasste sich an die Schläfen. Magie? Ein wenig stutzig blieb ich stehen, schüttelte den Kopf und folgte weiterhin Drace und Noah zum Übungsplatz nahe der Kaserne, wo immer diese auch sein mochte. Nachdem ich heute für meinen persönlichen Geschmack schon viel zuviel hatte verdauen müssen, wollte ich mich nun wirklich nicht auch noch mit dem Gedanken an Magie und deren Theorie oder gar der Praxis auseinandersetzen – egal in welcher Form. Ich war schon froh, wenn ich den Unterschied zwischen Elementartaktik und angewandter Taktik kannte und diese auseinanderhalten konnte. Wie es den beiden da erst ergehen musste, wollte ich eigentlich gar nicht wissen. Die Ausbildung war, wie Drace vorhin sinngemäß meinte, sicher kein Zuckerschlecken. Der Weg, den wir gingen, führte uns vorbei an wichtig aussehenden Gebäuden, vor denen Soldaten Wache standen und ab und zu sah man tatsächlich jemanden in eines dieser Häuser verschwinden. „Ich bin sicher, Tasker wird dir mit Freuden Nachhilfe bezüglich Magietheorie geben.“ meinte Noah plötzlich unvermittelt und ohne zurückzuschauen, ob Drace und ich überhaupt folgten. „Uhm...sicher...gerne. Aber...eh...h-heute nicht.“ erwiderte ich nur und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass wenn dann ich es war, die Nachhilfe bräuchte und nicht die Braunhaarige neben mir. Frechheit aber auch! Wieso hatte ich nicht einfach nein gesagt, wie jeder andere Mensch auch? Meine Arbeitskollegin würde mir jetzt sicher wieder predigen, dass ich ruhig auch mal nein sagen könnte und mir nicht noch mehr Arbeit aufladen sollte, wenn ich eh schon genug zu tun hatte. Aber das war leider immer leichter gesagt als getan. Wie auch immer. Ich versuchte, mir den Weg zu merken, damit ich ihn notfalls auch alleine wiederfinden konnte. Denn die Straßen, die wir gerade beschritten, kannte ich nicht wirklich. Das Regierungsviertel und der Kaiserpalast war eins der wenigen Dinge, die man im Spiel nicht betreten konnte, ansonsten wäre die Orientierung hier wohl weniger ein Problem als man vielleicht meinen könnte. Also...aus der Bibliothek raus, direkt über die Brücke gegenüber, dann vorbei an einigen wichtig aussehenden Gebäuden, die vermutlich dem Verwaltungsapparat angehörten, dann links über eine weitere Brücke und die nächste Biegung gleich rechts, dann die Straße hinunter...eh? Das Tippen auf meine Schulter irritierte mich dezent. „Da wären wir. Der Eingang zur Kaserne ist direkt da vorne. Dort müssen wir einfach nur geradeaus durch den Hauptflur und kommen direkt in Richtung Übungsplatz.“ Ein erstauntes Blinzeln meinerseits folgte, als ich die riesige Häuserfront betrachtete, auf die wir zuliefen. Auch hier waren Soldaten am Eingang postiert. Dieser glich im Gegensatz zu den bisher passierten Gebäuden jedoch eher einem großen Tor, denn einer normalen Tür und wir waren offenbar nicht die Einzigen, die es in Richtung der Kaserne zog. Dutzende andere, uniformierte Gestalten strömten auf das Tor zu und wundersamerweise gab es kein Gedränge, wie man vielleicht vermuten könnte. Ich meinte, kurz ein weiteres bekanntes Gesicht zu erspähen, doch der- oder diejenige war viel zu rasch wieder aus meinem Sichtfeld verschwunden, als dass ich überhaupt eine Gelegenheit hatte, mich entsprechend bemerkbar zu machen. Statt dessen passierte das Dreiergrüppchen bestehend aus Noah, Drace und mir nun das Tor und man grüßte die Soldaten mit einem kurzen Salut, ehe es weiterging in Richtung Übungsplatz. Mein Salut musste ziemlich verunglückt ausgesehen haben, denn ich wurde zumindest von Noah ein wenig schief angesehen, doch kommentierte er das zum Glück nicht. Es gab darüber hinaus noch einige verschiedene Abzweigungen innerhalb des zweckdienlich wirkenden Gebäudes, jedoch wollte ich im Moment lieber keine weiteren Fragen stellen. Die Zahl derer, die mit uns in Richtung Übungsplatz marschierten, nahm kontinuierlich ab, und am Ende waren wir gerade einmal...höchstens dreißig, vielleicht vierzig Köpfe, die sich nun brav in Reih und Glied aufstellen mussten – ganz wie beim Militär üblich. „Wo...ist eigentlich der Captain, Drace?“ fragte ich die Ältere im Flüsterton, doch diese bedeutete mir nur still zu sein und deutete auf einen Soldaten in der üblichen imperialen Standardrüstung. Sein Gesicht war aufgrund des Helmvisiers nicht wirklich zu erkennen, doch die Stimme donnerte kurz darauf nur so über den Übungsplatz, als er uns noch einmal zur Ordnung rief. „Stillgestanden, Kadetten der kaiserlichen Armee!“ bellte der Herr, sodass ich unwillkürlich zusammenzuckte. Solch einen Ton hatte ich noch nie gehört und wollte es eigentlich auch garnicht. Aber Weglaufen oder kneifen konnte ich ebenso wenig...oder? „Für diejenigen unter Ihnen, die es schon wieder vergessen haben: Mein Name ist Darek Ainsworth, Für Sie jedoch Captain Ainsworth! Sie werden die kommenden Monate Ihre Grundausbildung hier absolvieren und neben täglichem Kampftraining auch Ihr taktisches Wissen verbessern. Zusätzlich werden Ihnen Grundkenntnisse in der Magie vermittelt. Heute widmen wir uns etwas, das Sie schon einmal üben durften. Jeder nimmt sich eins der Übungsschwerter, dann treten Sie paarweise gegeneinander zu einem Übungsduell an! Ich teile die Übungspartner einander zu!“ Wie dieser Mann...Captain Ainsworth, die ganze Zeit über sein lautes Organ so bemühen konnte, war mir ein Rätsel und mir klingelten die Ohren fast noch schlimmer als bei einem Tinnitus, als er kurz darauf begann, die Kadetten in Paare einzuteilen. Doch statt mich vielleicht an einen etwas unerfahrenern Kandidaten in dieser Meute zu 'vermitteln', wurde die Hoffnung auf eine Nicht-Blamage sogleich zerschlagen als er ausgerechnet Noah und mich einander zuteilte. Ich konnte den blonden Jüngling zwar durchaus gut leiden, aber wir hatten eindeutig keinen guten Start erwischt. „Marsch marsch!“ bellte Captain Ainsworth nur wenig später und nachdem sich jeder eins der schmucken Übungsschwerter aus Holz geholt hatte, verteilten sich die Pärchen weit über den weitläufigen Übungsplatz und bald darauf sollte es auch schon losgehen. Unbeholfen, wie ich war, hatte ich natürlich keine Ahnung was ich tat und wie ich mein Schwert nun halten oder schwingen sollte, um überhaupt irgendetwas zu erreichen. Also versuchte ich es mit learning by doing...und flog nach zwei Minuten das erste Mal damit auf die Schnauze. „Streng dich an, Tasker. Du benimmst dich wie ein Frischling, das geht besser.“ kommentierte Noah meine Bemühungen in einem etwas aggressiven Tonfall und holte zu einem kräftigen Seitenhieb aus, unter dem ich mich mit Glück gerade so noch wegducken konnte. Idiot! Ich habe keine Ahnung was ich hier tue! Mach dus doch besser wenn du in meiner Haut steckst!, schoss es mir durch den Kopf, als ich seinen nächsten Hieb gerade so parieren konnte, nur um vom nächsten dann wieder getroffen zu werden. Es glich wahrlich einem Trauerspiel und ich konnte mein learning by doing wirklich in die Tonne treten. Ein wWnder, dass ich meine Brille nicht verlor, das gute Stück hing mir beinahe wie festgewachsen auf der Nase. Aber, und das musste man auch dazu sagen, es wurde zumindest ein wenig besser im Laufe des Trainings. Zwar glich es noch immer großteils einem Trauerspiel, aber es stellte sich bei manchen Bewegungen eine gewisse Routine ein, sodass ich zumindest nicht mehr immer auf dem Rücken oder meinem Hinterteil landete, sondern 'nur' noch in neun von zehn Fällen...ungefähr jedenfalls. So genau konnte und wollte ich das am Ende dann auch nicht mehr wissen, als Captain Ainsworth das Ende der Übung verkündete und uns nach Abgabe der Übungswaffen für heute entließ. Mir tat gefühlt jeder einzelne Knochen im Körper weh, aber soweit ich das beurteilen konnte, war zumindest nichts gebrochen. Ich war schon drauf und dran, mich nach einem vertrauten Gesicht umzusehen, damit ich zumindest jemanden hatte, an den ich mich halten konnte, da kam auch schon ein unbekannter junger Mann auf mich zu. Seine Haar waren wie die der meisten jungen Männer hier militärisch kurz geschoren, jedoch braun statt blond und er war gut einen halben Kopf größer als meineeine. Gesichtsform und -farbe sahen, zumindest soweit ich das beurteilen konnte, relativ standardmäßig aus. Nicht zu schmal, nicht zu breit. Lediglich die etwas abstehenden Ohren und der Ansatz einen Kinnbarts ließen ihn etwas auffallen. Die wachen grauen Augen des Unbekannten musterten mich einen Moment lang, ehe er mich einfach an sich zog und kurz umarmte. „Estrid! Wo warst du denn den ganzen Tag? Ich hab dich überall gesucht“ verkündete er und in seiner Stimme schwang eine gewisse Freude mit. Er stutzte jedoch, als ich ihn irritiert anblickte, und legte grinsend den Kopf schief. „Alles in Ordnung bei dir? Sag bloß du hast mich schon wieder vergessen. Ich bins, Delwyn! Freund und Helfer in der Not!“ Dieser Delwyn hatte eine Energie, selbst jetzt nach diesen Übungen...unglaublich. So viel Elan hätte ich auch gerne, aber gut...nein, kein Grund neidisch zu werden, es war in Ordnung wie es war, zumindest fürs Erste. „Alles in Ordnung...hehehe, keine Sorge“, meinte ich nur erschöpft und nahm das Angebot des bekannten Unbekannten, mich bei ihm unterzuhaken, einfach an, dann gingen wir zurück. „Wir gehen erst einmal in die Kaserne zurück, ich muss mich dringend duschen. Captain Ainsworth hat sie nicht mehr alle...“ murrte der Mann und trieb mir – zumindest was seine Äußerung bezüglich duschen anging – die Peinlichkeitsröte of Doom ins Gesicht. Das konnte er doch nicht einfach so frei heraus sagen, also wirklich! „Was denn? Dir ist das doch sonst nicht peinlich... Irgendwas stimmt mit dir doch nicht, Estrid.“ Die Ernsthaftigkeit, mit der Delwyn nun sprach, verwunderte mich ehrlicherweise ein wenig, vorrangig weil ich damit nicht gerechnet hatte. Ein hastiges Kopfschütteln meinerseits folgte daraufhin. „Nur...ein schlechter Tag heute, sonst nichts. Tut mir Leid, dass...du dir Sorgen machst.“ kam es ein wenig zerknirscht und kleinlaut von mir, und man konnte beobachten wie sich die Miene des Manns neben mir fast sofort wieder ein wenig aufhellte. „Schlechte Tage kann jeder mal haben, sag das doch gleich! Ähm..egal, red einfach nächstes Mal mit mir, ja? Und jetzt Abflug, oder willst du morgen stinken wie ein zehn Wochen alter Kaktor?“ fing er nun an zu sticheln und piekte mir dabei neckisch in die Wange. Erneut trieb es mir die Röte ins Gesicht und ich musste mich immens beherrschen, keine weitere emotionale Regung zuzulassen. „Nein, will ich nicht!“ lautete die trockene, aber unsichere Antwort meinerseits und so neigte sich der Tag in Archadis langsam dem Ende entgegen. Als ich noch einmal gen Übungsplatz blickte, sah ich wie die Sonne in Zusammenspiel mit dem Gebäude lange Schatten auf den Platz warf...war es etwa wirklich schon so spät? So sehr mich dieser Anblick gerade faszinierte und regelrecht in seinen Bann zog, so meldeten sich nun auch meine müden Knochen...und Delwyn, der mich ungeniert mit sich zog. Ob das jetzt jeden Tag so laufen würde, oder würde ich eines Morgens vielleicht doch einfach wieder in meinem Bett aufwachen? Die Zeit würde es hoffentlich zeigen...und vielleicht, aber nur vielleicht, konnte ich Noah Gabranth irgendwann noch beweisen, dass ich seiner würdig war, nachdem wir heute nicht unbedingt den besten Start hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)