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Die Leute von Millers Landing

von

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Prolog

Vorwort:
 

Dies ist mein erster eigener Roman. Ich habe ihn schon vor einigen Jahren geschrieben und seitdem setzt er auf meiner Festplatte Staub an. Ich habe beschlossen, dass damit nun Schluss sein muss. Ich will die Geschichte mit euch teilen und bin wahnsinnig gespannt, wie sie euch gefällt, insofern würde es mich sehr freuen, wenn ihr es mich in kurzen Rückmeldungen wissen lassen würdet.

Die Idee und die Story selbst stammen von mir. Ich werde sie nun Kapitel für Kapitel noch einmal überarbeiten und dann nach und nach für euch hochladen. Heute geht es los mit dem Prolog.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
 

Liebe Grüße,

Eure Ginger
 

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Es war der Sommer des Jahres 1903; einer der heißesten und trockensten, die das kleine Städtchen Millers Landing im Staat Pennsylvania seit seiner Gründung vor 87 Jahren durch ein Grüppchen deutscher Siedler je erlebt hatte.

Heißer Wind blies Staub vor sich her, die Ernte drohte auf den Feldern zu vertrocknen, das Vieh begann bereits zu dürsten und die Wasserstände der Brunnen in der Umgebung waren bereits bedenklich gefallen.

Dennoch würde dieser momentane Ausnahmezustand die kleine Gemeinde nicht ruinieren, denn neben der Land- und Viehwirtschaft lebte dieser Ort in erster Linie von dem Abbau von Eisenerz. Dies war sicherlich nicht so attraktiv und einträglich wie der Goldrausch, der andere Teile des Landes seit einiger Zeit befallen hatte; nein es war vielmehr ein solides Geschäft für die Claiminhaber und harte, ehrliche Arbeit für viele junge Männer, welche ihre Familien ernährte und es hatte Millers Landing im vergangenen Jahr sogar den Anschluss an das Eisenbahnnetz beschert.
 

Durch Zuwanderung von außerhalb wuchs die kleine Gemeinde stetig, denn neben den deutschstämmigen Gründern hatten sich hier mittlerweile auch eine Reihe anderer Menschen angesiedelt, insbesondere Einwanderer aus Polen und Irland, aber auch solche aus anderen Teilen der alten Welt.
 

Millers Landing war eine Kleinstadt, wie viele andere auch, mit unterschiedlichen Geschäften, dem Rathaus, dem Sheriffsdepartment im Stadtkern und der lutheranischen Kirche am Nordrand der Siedlung.
 

Und dann gab es da noch ein Haus mit einem gewissen Ruf, welches sich am südlichen Stadtrand befand, über welches man schon viel gehört hatte und über das reichlich spekuliert und hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, über welches die wenigsten jedoch etwas Genaues wussten. Die Existenz dieses Ortes wurde von den braven Bürgern der Stadt lediglich widerwillig geduldet, weil man eben nicht wirklich etwas dagegen unternehmen konnte.

1. Hitze

Teil eins: Jungfrauen und Huren
 

Sheriff Hubert Snyder saß am Schreibtisch seines Departments und starrte finster auf den jungen Burschen ihm gegenüber. Er wischte sich mit einem großen, nicht mehr ganz sauberen Taschentuch über die Stirnglatze, während er die üppigen schwarzen Locken des Jungen betrachtete, die diesem allmählich bis über die Augen wuchsen. `Da wäre wohl mal wieder ein Besuch beim Friseur fällig´ dachte er verdrießlich.
 

Jimmy Chester war seit einer Woche sein neuer Deputy. Snyders ehemaliger Mitarbeiter Larson hatte ihn zu seinem Bedauern im vergangenen Jahr verlassen, um sich mit seiner jungen Frau an einem anderen Ort niederzulassen.

Larson war ein Typ nach Snyders Geschmack gewesen; ein rauer, beeindruckender Kerl mit traditionellen Werten, wie er selbst. Aber nun saß dieser Chester vor ihm, mit seinen siebenundzwanzig Jahren immer noch grün hinter den Ohren und von nichts eine Ahnung. Wenn es nach Snyder gegangen wäre, hätte dieses hübsche, junge Bengelchen diesen Posten niemals erhalten, doch Jimmy war nun einmal der Sohn des Bürgermeisters der Nachbargemeinde Taylorsville. William Chester, der ein wohlhabender, einflussreicher Mann war, hatte das ganze Gewicht seiner Position dafür eingesetzt, seinem Spross diese Position zu verschaffen. Die Entscheidung war an höherer Stelle getroffen worden und der Sheriff hatte sich eben einfach fügen müssen.

Daddy hoffte wohl, dass ein Posten wie dieser aus seinem Jungen einen Mann machen würde. Snyder bezweifelte jedoch, dass dieser Jimmy dafür lange genug durchhalten würde. Vielmehr fürchtete er, dass dieser ihm selbst noch bei mehr als einer Gelegenheit gewaltig auf den Geist gehen würde:

"Du, Junge, warum machst Du nicht mal ´ne Runde im Ort und siehst nach dem Rechten?" brummte Snyder irgendwann übellaunig.
 

Der junge Mann blickte ihn angesichts der Hitze missmutig an, nickte jedoch, erhob sich und verschwand.
 

Snyder war selbst klar, dass eine Streife an diesem Morgen eine sinnlose Übung war, doch er wollte den Jungen für einen Moment los sein und einfach seine Ruhe haben.
 

Es war zehn Uhr an einem Sonntag. Die Straßen waren leergefegt. Trotz der Frühe des Tages brannte die Sonne bereits unerträglich vom Himmel. Die braven Bürger von Millers Landing schwitzten in diesem Moment in der Kirche.

Die weniger braven schwitzten vermutlich gerade in jenem Haus von fragwürdiger Reputation unter der Leitung einer gewissen Kathryn Levroux vor den Toren dieses Städtchens.
 

Snyders Gefühle gegenüber dieser rothaarigen Hexe waren zwiespältig: Unbestritten war sie eine schöne Frau, doch Snyder wusste auch, dass der Teufel gern in aufreizender Form daherkam und diese Person; das war ihm vollkommen klar, besaß weder Moral noch Scham. Der Sheriff konnte sich sehr gut vorstellen, welche Unaussprechlichkeiten sich in ihrem Hause abspielten und wenn es nach ihm und einigen anderen Leuten im Ort ginge, dann gäbe es einen Ort wie diesen in Millers Landing nicht. Doch das Weib hatte einflussreiche Freunde und Kunden, also behielt Snyder das sogenannte „Yasemines“, welches von den meisten Leuten aufgrund seiner Farbe jedoch bloß das „Rote Haus“ genannt wurde, eben genau im Blick und wartete auf seine Chance.

Snyder gefiel es überhaupt nicht, wie hochnäsig sich diese Frau ihm gegenüber bei jeder Begegnung verhielt; so als sei ausgerechnet SIE etwas Besseres als er? Offenbar hatte sie nicht viel Achtung vor seiner Autorität und Stellung.
 

Wäre er ehrlich genug gewesen, dies vor sich selbst zuzugeben, hätte er sich wohl eingestehen müssen, dass die hochgewachsene, schöne, selbstsichere Kathryn Levroux ihn mächtig einschüchterte.

Doch aufrichtige Selbstbetrachtung war eben nicht Snyders Sache.
 

Kathryn lag lächelnd mit geschlossenen Lidern in ihrem Bett. Es war dieser kurze gnädige Moment, in welchem das Gehirn noch nicht wach genug war, um Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Doch als sie die Augen öffnete, fand sie die andere Bettseite leer und schlagartig kehrte die allgegenwärtige, stille Verzweiflung der letzten Jahre zu ihr zurück.

Aufwachmomente wie diesen hatte Kathryn glücklicherweise seit Monaten nicht mehr gehabt, doch der heutige Tag war besonders. Heute jährte sich Elizabeths Todestag zum vierten Mal. Kathryns Augen wurden feucht und der Hals brannte von zurückgehaltenem Schluchzen.
 

In diesem Moment klopfte es an der Tür und Kathryn trocknete sich mit dem Handrücken rasch die Augen, ehe sie hereinbat. Es war Tiny, der seinen schwarzen Kopf durch die Tür steckte:

„Ich habe Tee. Möchtest du?“
 

Sie nickte. Er trat ein, reichte ihr eine dampfende Tasse und nahm auf der leeren Seite des Bettes Platz:

„Du hast geweint! Wird` n schwerer Tag heute, oder?“ stellte er fest und erkundigte sich: „Möchtest du, dass ich Dich begleite?“
 

Sie schüttelte den Kopf:

„Nein, Danke, aber das möchte ich lieber allein tun, “ antwortete sie und ließ ihren Kopf auf seine breite Brust sinken.

Sie strich sanft über die kleine Narbe an seiner Augenbraue und ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich an die Folgen jenes Kusses erinnerte, durch welchen er sie erhalten hatte.
 

Es war ein seltsamer Zufall gewesen, dass in derselben Nacht zwei Kinder beinahe zur gleichen Zeit auf demselben Anwesen geboren wurden. Das eine von ihnen war Kathryn selbst gewesen, als Tochter des Plantagenbesitzers Pierre Levroux und das andere war Thomas, der von Anfang an von allen bloß Tiny genannt wurde, weil er so schmächtig und klein gewesen war. Dies war schwer zu glauben, wenn man den zwei Meter großen, muskulösen, hundertzwanzig Kilo schweren Mann von heute kannte.
 

Kathryn und Tiny wuchsen auf wie Geschwister, waren unzertrennlich, auch wenn das sowohl ihren, als auch seinen Eltern; wenn auch aus unterschiedlichen Gründen gar nicht gefiel.

Als Tiny und Kathryn dann sechzehn Jahre alt waren, geschah es eines Abends, dass sie einander aus Neugierde küssten. Bedauerlicherweise kam in diesem Moment Kathryns Vater hinzu, welchen bei diesem Anblick das nackte Entsetzen packte. Ihn interessierte nicht, dass dies das erste Mal gewesen war, das so etwas passiert war. Auch nicht, dass eine Wiederholung von keinem der beiden beabsichtigt und das alles ganz harmlos gewesen war. Er nahm eine Reitgerte von der Wand und schlug auf Tiny ein, ohne Rücksicht darauf, wo er ihn traf. So verletzte er ihn auch im Gesicht und spaltete seine linke Braue. Pierre Levroux trieb den Jungen prügelnd vor sich her und jagte Tiny von seinem Land.

Dieser hatte sich daraufhin in den folgenden Wochen in den Sümpfen versteckt, wo er von Kathryn heimlich mit Lebensmitteln versorgt worden war, welche sie für ihn aus der Speisekammer stahl.
 

Die beiden Jugendlichen wussten nicht genau, was sie tun und wie es weitergehen sollte. Pierre Levroux jedoch hatte davon eine genaue Vorstellung; er hatte nämlich entschieden, dass seine Tochter zeitnah standesgemäß verheiratet werden müsse. Den Bräutigam hierfür hatte er auch bereits ausgewählt; es handelte sich um den damals dreißigjährigen Sohn ihres Nachbarn Henry Richaud.

Steward Richaud hatte bereits seit einiger Zeit ein Auge auf das schöne Mädchen aus gutem Hause geworfen und stimmte der Verbindung daher mehr als bereitwillig zu.

Kathryn war sich darüber im Klaren, dass sie ihren Vater, den großen Patriarchen niemals würde umstimmen können. So packte sie eines nachts ein paar Dinge zusammen; Kleidung, Lebensmittel und alles Geld, welches sie im Haus finden konnte und flüchtete mit Tiny in Richtung Norden. Die beiden Kinder hatten sich hierbei recht geschickt angestellt, waren in erster Linie nachts gereist und waren Menschen nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Wenn sie etwas stehlen mussten, so war Kathryn die Diebin, denn ein weißes Mädchen würde man sicherlich nicht gleich hängen; so hofften die beiden jedenfalls!

Sehr bald erkannten die Kinder auch ihr jeweils besonderes Potenzial: Kathryn wurde sich bewusst, dass kaum ein Mann ihr widerstehen konnte und gegebenenfalls auch bezahlen würde, um mit ihr zusammen zu sein und Tiny, der mittlerweile eine beachtliche Kraft und Größe entwickelt hatte, sorgte hierbei für ihre Sicherheit und nötigenfalls auch dafür, dass die Freier am Ende für das bezahlten, was sie erhalten hatten.
 

Zwei Jahre lang waren sie so unterwegs gewesen, ehe sie Millers Landing erreichten.

Warum sie letztlich hier blieben, wusste Kathryn selbst nicht so genau. Vielleicht lag es daran, dass Walter, der ehemalige Besitzer des „Yasemines“ kein übler Kerl gewesen war und ihnen beiden Arbeit und Obdach angeboten hatte, ohne viele Fragen zu stellen; vielleicht aber auch daran, dass Kathryn vom ersten Augenblick an ihr Herz an Elizabeth verloren hatte.
 

„Es wird Zeit!“ sagte sie, aus der Erinnerung zurückkehrend und erhob sich entschlossen vom Bett.

Aus Ihrem Kleiderschrank zog sie das blass rosafarbene, schlichte Sommerkleid, welches Elisabeth immer so gern an ihr gesehen hatte. Heutzutage zog Kathryn es kaum noch an, doch nun schien der richtige Tag dafür zu sein.

Bevor sie sich auf den Weg machte, hielt sie noch einmal im Garten, um die vier schönsten Rosen vom Strauch zu schneiden. Trotz der Dürre hatte Kathryn den Busch für diesen Anlass weiterhin gepflegt und mit Wasser versorgt

`Eine für jedes Jahr ohne Dich!´ sprach sie innerlich zu sich selbst und biss die Zähne zusammen.
 

Deputy Chester hatte nicht wirklich etwas dagegen, das Sheriffsdepartment zu verlassen und so den misstrauischen Blicken von Sheriff Snyder für eine Weile zu entgehen. Der verschwitzte, übellaunige, alte Kerl, an den sein Vater ihn da gekettet hatte, ob er es wollte oder nicht, behagte ihm ganz du gar nicht. Zwar hatte der Deputy bei dieser Hitze wenig Lust auf einen Streifgang, aber immerhin konnte er sich auf diese Weise einmal einen Überblick über seinen neuen Heimatort verschaffen.

Ziellos streifte er durch die staubigen Straßen, vorbei an den Wohnhäusern und den geschlossenen Geschäften. Der Ort war nicht sehr groß und schon bald hatte er die Stadtgrenze erreicht. Von hier an gab es nur noch hier und da eine Farm und außerdem die beiden hellrot gestrichenen Häuser, welche er in einer halben Meile Entfernung am Horizont ausmachen konnte. Diese hielt er für das berüchtigte Freudenhaus, über welches er in Millers Landing schon so manches hatte munkeln hören.
 

Er gestand sich nicht ein, dass es Neugierde war, welche ihn vage in diese Richtung trieb.

Doch je näher er den Gebäuden kam, desto unbehaglicher fühlte er sich. Er wollte nicht gesehen werden, wie er neugierig hier herumlungerte, also änderte er seine Richtung und ließ die Gebäude links liegen.
 

Plötzlich entdeckte er die Gestalt einer Frau in einem rosafarbenen Sommerkleid, welche in einiger Entfernung vor ihm herlief. Er bewunderte die elegante Erscheinung und die roten Locken, welche in der Sonne beinahe golden schimmerten. James hätte nicht sagen können, warum er es tat, doch er folgte der Frau und war dabei darauf bedacht, von ihr nicht entdeckt zu werden.

Zwischen einigen Bäumen machte die Fremde plötzlich Halt und kniete nieder. James versteckte sich hinter einer großen, knorrigen Eiche und beobachtete sie von dort aus.

Erstaunt erkannte er, dass es offensichtlich ein Grab war, an welchem die Frau nun saß. Sie befühlte die trockene Erde unter sich und den Grabstein. Dann legte sie sich der Länge nach auf die einsame Grabstätte und wandte James dabei erstmals den Kopf zu. Ihre Augen waren geschlossen, so dass sie ihn nicht sehen konnte. Von hinten hatte James vermutet, die Frau sei in seinem Alter, doch nun erkannte er, dass sie etwas älter sein musste, auch wenn er nicht genau hätte sagen können, wie alt. Er war ergriffen von der Schönheit der trauernden Fremden.

Er starrte sie eine Weile an, um sich jeden Zug des Gesichts einzuprägen, als ein plötzliches Knacken in den trockenen Bäumen die Frau aufschrecken ließ.
 

James erschrak auch und versteckte sich atemlos wieder hinter seinem Stamm. Dabei kam er sich extrem töricht vor, denn schließlich hatte er doch jedes Recht, hier zu sein; war er doch ein Gesetzeshüter dieser Stadt und hatte nichts angestellt, was rechtfertigte, dass sein Herz in diesem Moment wie wild gegen seine Rippen pochte, vor lauter Angst entdeckt zu werden. Schließlich hörte er, wie die Frau sich erhob und den Rückweg antrat. Er ging um den Baum herum, um in Deckung zu bleiben und blickte ihr hinterher.
 

Als sie schließlich fort war, ging James hinüber zur Grabstelle, auf der die Fremde vier Rosen zurückgelassen hatte. Ein Begräbnis in nicht geweihter Erde konnte nur eins bedeutet; nämlich dass es sich um einen Sünder handeln musste, der hier beerdigt worden war; ein Dieb oder Mörder vielleicht?

James war überrascht, als er auf dem Stein den Namen einer Frau las.
 

Als Kathryn zurückkehrte, saßen die Frauen lachend und schwatzend rund um den großen Tisch in der Küche beim Frühstück. Es duftete nach Kaffee und dem Rührei mit Speck, welches Tiny gerade am Herd in einer großen Pfanne zubereitete. Molly, eine kleine stämmige Irin mit einem Gesicht voller Sommersprossen und Lachfältchen, brachte gerade die schmale und bleiche Regine, die kleine, ernste Shy und die Zwillinge Melody und Margarete zum Lachen, indem sie die Laute eines Freiers beim Liebesspiel nachahmte. Auf dem Boden und unter dem Tisch spielten die Kinder von Regine und Molly mit dem guten Dutzend Katzen und den beiden Hunden, die nach und nach in diesem Haushalt Aufnahme gefunden hatten.
 

Kathryn hielt im Türrahmen inne und betrachtete lächelnd diese ungewöhnliche Mischung aus Harmonie und Chaos und war einmal mehr dankbar für diese Familie, welche sie so unerwartet an diesem eigenartigen Ort gefunden hatte. Als Margarete und Melody sie erblickten, erhoben sich die beiden schlanken, schönen, beinahe identisch aussehenden, schwarzen Frauen, schritten elegant zu ihr hinüber, stellten sich an je eine ihrer Seiten und küssten sie auf die Wangen; das alles in perfekter Synchronizität. Einmal mehr erstaunte Kathryn die vollkommene Einheit, welche diese beiden Frauen bildeten.

Mittlerweile konnte sie die Zwei leicht auseinanderhalten, sowohl anhand geringer äußerer Unterschiede, wie das dunklere Braun der Haut von Margarete und die etwas markanteren Gesichtszüge von Melody, als auch die inneren. Margarete war sanft, mütterlich und humorvoll, Melody hingegen vorsichtig, misstrauisch, aber auch beschützend und stark für die Ihren. Und trotz der Unterschiede geschah etwas, wenn die Zwillinge gemeinsam auftraten, das sie wie Eins erscheinen ließ:

„Komm, setz` dich zu uns und iss was, Mädchen“, sagte Melody in dem wunderbaren Südstaaten-Sing-Sang, den Kathryn aus ihrer Kindheit kannte und liebte.

Kaum dass sie sich am Tisch niedergelassen hatte, stellte Tiny sofort einen dampfenden Teller vor sie hin und legte ihr liebevoll die großen, warmen Hände auf die Schultern. Sie begann ihr Frühstück, dankbar dass keiner sie fragte, wie ihr Morgen bisher verlaufen sei.

Vatermörder

Mit der Post traf am Montagmorgen Arbeit für Sheriff Snyder und seinen Deputy ein. Ein Junge namens Joseph Harper wurde steckbrieflich wegen versuchten Mordes an seinem Vater gesucht. Neunzehn Jahre alt, weißblondes Haar, blaue Augen, schlank, von durchschnittlicher Größe, keine besonderen Kennzeichen. Burschen, auf die diese Beschreibung zutraf, gab es zuhauf. Und die Zeichnung war auch nicht eben aufschlussreich, dachte der Sheriff mürrisch.

Das bedeute für ihn eine ganze Menge lästiger Lauferei!
 

Drüben in der Mine gab es niemanden, auf den die Beschreibung zutraf und der erst kürzlich dort aufgetaucht wäre, auf den Farmen der Umgebung gab es keine Gelegenheitsarbeiter im passenden Alter, auch die Viehtreiber erkannten den Jungen nicht und die möglichen Unterschlüpfe in der Gegend, wie Höhlen und leerstehende Gebäude waren zurzeit offensichtlich unbewohnt.

Also blieb nur noch eine Adresse! Eine gute Gelegenheit für den Sheriff, seinen jungen Mitarbeiter mit einer der „Attraktionen“ von Millers Landing bekannt zu machen.
 

Die Bar des Yasemins öffnete erst bei Sonnenuntergang und befand sich in einem eigenen Gebäude, welches bei Tag leer stand.

Dahinter lag das Wohnhaus, wo Kathryn sich gerade auf der Veranda von der Gartenarbeit erholte, welcher sie so gern nachging, als sie unvermutet Sheriff Snyder in Begleitung eines unbekannten jungen Mannes näher kommen sah. Das musste wohl der neue Deputy sein, vermutete sie.

Molly und Regine hatten ihn bereits zuvor im Ort gesehen und Kathryn musste der Beschreibung der Freundinnen recht geben: er war wirklich ein gutaussehender Bursche und schon allein dadurch eine große Verbesserung zu seinem eher brutal aussehenden, grobschlächtigen Vorgänger Larson. Dieser hatte ihr Haus in der Vergangenheit vor seiner Verlobung gelegentlich ohne das Wissen des Sheriffs aufgesucht, welcher sicherlich aus der Haut gefahren wäre, wenn er davon erfahren hätte. Doch ein wichtiges Arbeitsprinzip des „Yasemines“ war die Diskretion.

Larson hatte damals einige Mühe darauf verwendet und angesichts seines Deputygehalts beträchtliche Summen geboten, um einmal in den Genuss der persönlichen Betreuung der Chefin zu kommen, doch Kathryn hatte ihn konsequent zurückgewiesen. Stattdessen hatte er sich dann für Molly entschieden. Scheinbar hatte er etwas übrig für rotes Haar.

„Wahrscheinlich die Haarfarbe seiner lieben alten Mutter!“ hatte die spitzzüngige Shy einmal spekuliert und damit Alle in schallendes Gelächter versetzt.
 

Kathryn erhob sich und setzte zur Begrüßung ihrer Gäste ihr bezauberndstes Lächeln auf:

„Sheriff!“ rief sie mit deutlich mehr Entzücken aus, als sie tatsächlich empfand.
 

„Miss Levroux“ entgegnete dieser mit schlecht verhohlener Verachtung in der Stimme und wies auf den jungen Mann neben sich.

„Mein neuer Deputy, Jimmy Chester.“ stellte er vor:
 

„James!“ korrigierte der junge Mann hastig, da er es aus irgendeinem Grund nicht ertragen konnte, dieser Frau als „Jimmy“ vorgestellt zu werden: „James Chester!“ ergänzte er, während er leicht errötend seinen Hut etwas tiefer ins Gesicht zog.
 

Belustigt streckte sie dem jungen Mann die Hand hin:

„Kathryn Levroux, Inhaberin des „Yasemines“. Erfreut sie kennen zu lernen, Deputy, “ erklärte sie und stellte im Stillen überrascht fest, dass dies tatsächlich der Wahrheit entsprach.
 

James ergriff die angebotene Hand, ließ sie jedoch rasch wieder los, unsicher ob sich das schickte und wie er sich verhalten sollte.

Er hatte in der Frau sofort die Fremde erkannt, welcher er neulich zu dem Grab gefolgt war. Heute trug sie Hosen. Noch nie zuvor hatte James eine Frau in Hosen gesehen. Sie sah umwerfend aus, noch mehr, nun da er sie von Nahem sah. Sie war groß, vielleicht sogar etwas größer, als er selbst. Das rote Haar war zu einem Zopf geflochten. Sie hatte ernste, große, braune Augen, die ihn aufmerksam betrachteten.

Ihr Blick ging ihm durch und durch und sein Gesicht brannte.
 

Glücklicherweise erklärte der Sheriff nun den Grund für ihr Kommen, so dass Kathryn Levroux ihre Aufmerksamkeit wieder Snyder zuwandte:

„Wir suchen einen jungen Mann. Ich weiß, davon sehen sie vermutlich viele und schauen den meisten wohl auch eher nicht in das Gesicht.“ meinte der Sheriff und quittierte seinen kleinen Scherz, den eigentlich nur er selbst komisch fand, mit einem schmutzigen kleinen Lachen.
 

Die Vorstellung, die dieser engstirnige, kleine Mann offenbar von ihrem ach so ausschweifendem Leben hatte, amüsierte Kathryn. Snyder wäre sicher sehr enttäuscht gewesen, wenn er wüsste, dass sie im Grunde seit Jahren das Leben einer Nonne führte. Seit Elizabeth und sie das „Yasemines“ nach Walters Tod übernommen hatten, hatten sie nur noch in der Rolle von Gastgeberinnen in der Bar gearbeitet und jede Form von Körperlichkeit von da an ausschließlich füreinander vorbehalten. Für beide war dies heilsam gewesen, denn das Gewerbe, dem sie nachgingen, hatte über die Jahre von ihnen Tribut verlangt. Beide empfanden es so, dass sie dabei auch Teile von sich selbst verloren: die Unschuld, die Fähigkeit, zu vertrauen, sich einzulassen und das Gefühl für die Realität in Bezug auf Intimität und Sexualität.

Als Elizabeth dann gestorben war, hatte dieser Teil von Kathryns Leben, wie so viele andere auch, für sie dann schließlich keinen Sinn mehr ergeben. Es hatte sicherlich keinen Mangel an Angeboten gegeben, doch Kathryns Interesse war nicht mehr vorhanden.

Dies war im Übrigen jedoch nicht der Grund für die Glückslosigkeit des ehemaligen Deputys Larson: Ihn hätte sie zu jeder Zeit und in jedem Universum zurückgewiesen!
 

Der Sheriff fuhr fort:

„Also, falls sie oder eine ihrer… ähm... Mitarbeiterinnen…“, an dieser Stelle schien es den Gesetzeshüter beinahe zu würgen: „…sich vielleicht erinnern können, wären wir dankbar für ihre Mitarbeit. Es ist wichtig! Der Bursche hat seinen Vater schwer verletzt. Gut möglich, dass der Mann sterben wird.“
 

„Sie suchen also einen jungen Gewalttäter und da haben sie logischerweise gleich an uns gedacht? Wie reizend, Sheriff!“ antwortete Kathryn sarkastisch und fuhr fort: „ Doch leider muss ich sie enttäuschen: Ich habe ihren Vatermörder nicht gesehen! Wenn sie mir den Steckbrief dalassen, werde ich aber meine… ähm… Mitarbeiterinnen genau hierzu befragen“
 

„Selbstverständlich würden sie mich dann sofort informieren?“ entgegnete Snyder, Kathryns Sarkasmus aufnehmend.
 

„Selbstverständlich! Ich bin doch immer froh, wenn ich dem Gesetz dienen kann.“

Wieder ein zuckersüßes Lächeln von ihr.
 

„Davon bin ich überzeugt. Schließlich sind sie doch eine rechtschaffene Bürgerin unserer kleinen Gemeinde, richtig? Ich wünsche noch einen angenehmen Tag.“ sagte der Sheriff und wandte sich zum Gehen.
 

Sie rief ihm hinterher:

„Den wünsche ich ihnen auch Sheriff. Und ihnen ebenso Deputy!“ Der junge Mann nickte schüchtern, tippte sich zum Gruß an den Hut und schenkte Kathryn im Gehen ein kaum sichtbares Lächeln.

Kathryn blickte den beiden noch eine Weile hinterher. `Ein seltsames Gespann!´ dachte sie und bedauerte James Chester ein klein wenig.
 

„Wir müssen diese verdammte Hure im Auge behalten!“

Der Sheriff spuckte die Worte förmlich aus.:

„Sie und ihre Bande von Sündern würden uns doch NIEMALS die Wahrheit sagen.“
 

James fühlte Wut in sich aufsteigen. Aus irgendeinem Grund konnte er es schwer ertragen, Snyder in dieser Weise über Kathryn Levroux sprechen zu hören, obwohl er sie doch gar nicht kannte. Etwas dagegen zu sagen, getraute er sich jedoch nicht.

Er dachte zurück an jenen Morgen und an die schöne, in diesem unbeobachteten Moment so zart und zerbrechlich wirkende, trauernde Frau in dem Sommerkleid, die ihm im gleißenden Sonnenlicht fast wie eine himmlische Erscheinung vorgekommen war. Er war verwirrt, nun da er wusste, wer und was sie war. Mit einem Schlag wurde ihm plötzlich mit einem leichten Schrecken etwas klar: Er erlebte ein Gefühl, welches ihm bislang unbekannt war: Unruhe, Aufregung, Verwirrung und so etwas wie Freude.
 

Am Abend dieses Tages kühlte es sich in Millers Landing endlich ein wenig ab. Der Himmel zog sich zu und sorgte so für frühzeitige Dunkelheit. Eine drückende Stille legte sich über das Land und kündigte ein Unwetter an, auch wenn sich in diesem Moment noch kein Lüftchen regte.

Tiny machte seine Runde in den beiden Häusern, um alle Sturmfensterläden zu schließen. Als er in den Pferdestall kam, hörte er plötzlich ein Geräusch von oben. Es klang wie ein Seufzen.

Er stieg die Leiter hinauf, um nachzusehen. Wahrscheinlich war es wieder ein Vagabund, der ein warmes, trockenes Plätzchen gesucht hatte, um seinen Rausch auszuschlafen und das bevorstehende Unwetter abzuwarten. So etwas war früher schon vorgekommen.

Doch oben angekommen entdeckte Tiny, versteckt hinter den Strohballen schließlich etwas, was zunächst wie ein Bündel schmutziger Kleider aussah, sich dann jedoch bewegte. Erst als er nähertrat erkannte Tiny, dass es sich hierbei um einen Jungen handelte. Seine Kleidung war verschmutzt und zerrissen. Dass flachsblonde Haar des Jungen war blutverkrustet und sein rechter Arm schien in einem seltsamen Winkel abzustehen.

„Hey, Junge! Was machst du denn hier?“ wollte Tiny wissen.
 

Der Angesprochene hob den Kopf ein wenig, öffnete den Mund, um zu antworten, doch scheinbar fehlte ihm dazu die Kraft. Seine Augenlider flatterten und offenbar war er im Begriff, das Bewusstsein zu verlieren. Tiny war zunächst unschlüssig, was er mit dem Verletzten anstellen sollte. Schließlich entschied er sich, ihn aufzuheben und ins Wohnhaus zu tragen.

„Kathryn!“ dröhnte sein donnernder Bass durchs Haus, damit diese ihn hörte.
 

Als seine beste Freundin schließlich eintraf und das mitleiderregende Bündel über Tinys Schulter liegend erblickte, brauchte sie erst einen kurzen Moment, um die Situation zu erfassen. Sie fragte:

„Was schleppst du uns denn da an? Los, bringen wir ihn rasch hinauf!“

Tiny trug den jungen Mann in sein eigenes Schlafzimmer und Kathryn folgte ihm. Sie zündete einige Öllampen an, um sich den Verletzten genauer anzusehen:

„Lebt er?“ wollte sie von Tiny wissen.
 

Dieser antwortete:

„Ich würde sagen, gerade eben noch so.“
 

Der Arm des Jungen sah gebrochen aus. Als Kathryn und Tiny, dem scheinbar Bewusstlosen die verschmutze Kleidung auszogen, stellten sie fest, dass er überdies auch am ganzen Körper übersät war von blauen Flecken, Schürf- und Schnittwunden. Es wirkte, als sei er auf brutalste Weise zusammengeschlagen worden.

„Wir müssen Dr. Miller holen.“ sagte Kathryn.
 

In diesem Moment meldete sich der Junge mit brüchiger, schwacher Stimme zu Wort:

„Kein Arzt bitte!“
 

„Du brauchst Hilfe Kleiner. Du bist verletzt.“ erklärte Tiny sanft.
 

„Kein Arzt!“ wiederholte er krächzend, aber mit Nachdruck.
 

„Ich reite hinüber zu Rebecca und Felicity! Rebecca kann vielleicht etwas tun!“ sagte Kathryn zu Tiny und an den Verletzten gewandt fügte sie hinzu: „Keine Sorge, Junge. Die beiden sind Freundinnen. Dir wird nichts passieren.“ und dann fügte sie hinzu: „Und der Sheriff wird nichts erfahren!“
 

Der Junge blickte sie erschrocken an, denn offenbar ahnte sie wohl, wer er war!
 

„Alles wird gut Kleiner! Keine Sorge!“ versicherte Tiny, der sich an die Bettkante gesetzt hatte beruhigend und streichelte sehr vorsichtig die Wange des Jungen.

Offensichtlich funktionierte es, denn dieser entspannte sich und schlief bald darauf ein.
 

Als Kathryn das Pferd sattelte, wusste sie, dass sie sich beeilen musste. Ein leichter Wind kam auf, der rasch heftiger wurde. Es braute sich etwas zusammen und Kathryn wollte zurück sein, ehe das Unwetter losbrach.
 

Rebecca war überrascht, als sie die Tür öffnete und Kathryn davor erblickte. Normalerweise vermied diese es möglichst, sie und Felicity zuhause aufzusuchen; aus Rücksicht auf den guten Ruf der beiden Frauen, wie sie sagte.

Rebecca war dies Einerlei. Kathryn war eine Freundin und sie sah keine Veranlassung, dies vor den braven Einwohnern von Millers Landing zu verbergen. Ihre Nonchalance rührte nicht nur daher, dass sie in gewisser Weise privilegiert und geschützt war, durch ihre angesehene Familie und ihre Stellung; nein sie war überdies eine mutige Frau und unkonventionelle Denkerin, wofür Kathryn sie sehr schätzte.

Rebeccas Vater war Dr. Miller, der Arzt des Ortes und Sohn des Stadtbegründers und früheren Bürgermeisters, Jeremiah Miller war.

Sie und Felicity waren die Lehrerinnen von Millers Landing, was ihnen ebenfalls ein wenig Ansehen einbrachte.

Sicherlich gab es ein gewisses Getuschel über die beiden unverheirateten Frauen, die zusammenlebten; über die Natur ihrer Beziehung und auch Spekulationen darüber, warum sie bislang noch keine potentiellen Ehemänner für sich hatten interessieren können. Doch Felicity und sie hatten ihre eigene Wahrheit und die ging das klatschsüchtige Pack nichts an; ebenso wenig, wen sie ihre Freunde nannten!
 

Die Freundschaft zwischen Kathryn und den beiden Frauen hatte einst damit begonnen, dass diese von ihnen einen Gefallen erbeten hatte: Da die Eltern von Millers Landing es nicht erlaubten, dass ihre Sprösslinge Seite an Seite mit den Kindern von Huren beschult wurden, bat sie die Lehrerinnen, diese separat am Nachmittag zu unterrichten. Ohne ein Zögern hatten beide sofort zugestimmt und Kathryn damit sehr beeindruckt. Diese war dankbar, dass sie selbst nie schwanger geworden war und somit keine Kinder hatte, welche mit dem Schmerz leben mussten, durch das Leben und die Arbeit ihrer Mutter ebenfalls zu Ausgestoßenen zu werden.
 

„Es tut mir leid, dass ich euch so spät noch stören muss. begann Kathryn: „Aber wir brauchen drüben deine Hilfe, Rebecca. Wir haben einen medizinischen Notfall.“
 

„Ich frage wohl besser nicht, warum du in dieser Sache nicht meinen Vater aufsuchst?“ fragte Rebecca, die zwar über einige medizinische Grundkenntnisse verfügte, der als Frau der Arztberuf jedoch verwehrt geblieben war.
 

Kathryn schüttelte den Kopf:

„Nein, besser du fragst nicht!“
 

Rebecca suchte einiges medizinische Material zusammen, welches sie in eine Tasche packte. Dann erklärte sie Felicity, die inzwischen zu ihnen gestoßen war, die Situation:

„Ich werde das Unwetter drüben abwarten.“ sagte Rebecca zum Abschied und küsste Felicity auf die Stirn.
 

„Passt gut auf euch auf. Wir sehen uns morgen früh“, entgegnete diese und drückte die Hand der Geliebten.
 

Als Kathryn und Rebecca das Haus verließen, fielen bereits die ersten Regentropfen und als sie drüben beim „Roten Haus“ eintrafen, waren sie bereits nass bis auf die Haut. Glücklicherweise hatten die Frauen im Haus bereits überall die Feuer angemacht und es war angenehm warm.

Als sie den Verletzten in Tinys Bett erblickte, flüsterte Rebecca Kathryn zu:

„Das ist wohl der Junge, der versucht hat, seinen Vater zu erschlagen, oder. Ich habe die Steckbriefe gesehen.“
 

„Ja, das vermute ich auch. Aber in diesem Zustand tut er sicherlich keinem etwas zuleide. Und Tiny wird ein Auge auf ihn haben. Wenn er sich erholt hat, kann er uns seine Seite der Geschichte erzählen. Dann werden wir entscheiden, was wir mit ihm machen. Kannst du uns dabei helfen, dass er so lange am Leben bleibt?“
 

Rebecca nickte und trat an das Bett heran und versprach:

„Ich werde mein Bestes tun.“
 

Als sie das blutige Haar beiseiteschob, um die Kopfwunde anzuschauen, erwachte der Junge stöhnend.

„Keine Angst, Kleiner. Ich bin hier, um deine Verletzungen zu versorgen.“ flüsterte Rebecca beruhigend. Sie bat Tiny, der die ganze Zeit am Bett des jungen Mannes gesessen hatte um heißes Wasser und schlug die Decke zurück, um den schmalen, geschundenen Körper zu untersuchen.

Gemeinsam mit Tiny wusch sie ihn und versorgte die Wunden und als dies getan war, erstattete Rebecca Tiny und Kathryn Bericht:
 

„Er hat geprellte, möglicherweise gebrochene Rippen. Dagegen kann ich nichts tun. Das muss von allein heilen. Den gebrochenen Arm habe ich gerichtet und geschient. Die Schnittwunden sind oberflächlich und werden bald verheilt sein. Er ist offenbar geprügelt worden. Der Junge hat Verletzungen am Bauch, Rücken und Unterleib, die offenbar von Tritten herrühren und die hoffentlich auch von allein verheilen werden. Ich habe seinen Bauch abgetastet, doch der war weich und unauffällig, so dass ich hoffe, dass er keine inneren Blutungen hat. Doch die größten Sorgen bereitet mir die Kopfverletzung. Der Junge braucht unbedingte Ruhe.“ Dann fügte sie hinzu: „Ich habe übrigens auch eine ganze Reihe Narben von alten Verletzungen gesehen. Wenn ihr mich fragt, finde ich, dass der Vater des Jungen, falls er ihm das angetan hat verdient hat, was immer ihm dann geschehen ist.“
 

Kathryn lächelte:

„Du wärst mit Sicherheit eine großartige Ärztin geworden, Rebecca.“ erklärte sie anerkennend.
 

„Es ist nett von dir, das zu sagen, doch ich wünschte eigentlich, mein Vater würde sich euren Patienten noch einmal ansehen. Aber ich denke leider, ihr habt euch richtig entschieden. Mein alter Herr würde nach der Versorgung des Jungen direkt zu Snyder gehen. Ich werde mir den Kleinen morgen früh noch einmal ansehen. Jemand sollte heute Nacht bei ihm bleiben.“
 

Tiny nickte und versprach:

„Ich werde das übernehmen.“
 

Rebecca und Kathryn gingen in die Küche, wo Tee und ein paar Brote bereit standen, welche Margarete für sie hergerichtet hatte. Alle Frauen des „Yasemines“ saßen gespannt am Tisch und warteten auf einen Bericht über die heutigen Ereignisse und diesen gab Kathryn nun rasch ab.
 

Aufgrund des Unwetters war in der Bar heute nichts los und so konnten die Frauen früh zu Bett gehen. Lediglich Rebecca und Kathryn blieben noch eine Weile in der Nähe des Ofens, um ihre nassen Kleider und Haare zu trocknen, während der heulende Wind um das Haus pfiff und der Regen wie Gewehrschüsse auf das Dach eindrosch.
 

„Meinst du, der Junge kommt durch?“ wollte Kathryn wissen:
 

„Ich hoffe es. Er scheint ein zäher Bursche zu sein. Mir ist rätselhaft, wie er es in seinem Zustand überhaupt bis zu euch geschafft hat. Und ich muss sagen, sein Instinkt war auch ziemlich gut. Wo sonst hätte er wohl Aufnahme gefunden, ohne sogleich festgenommen und vorverurteilt zu werden. Aber was werdet ihr mit ihm machen, wenn er sich erholt hat?“
 

„Das wird wohl davon abhängen, was der Junge uns erzählt“ entgegnete Kathryn.

Familien

Am folgenden Morgen hatte der Regen nachgelassen und die staubige, fest gebackene Erde in Schlamm verwandelt. Rebecca führte die angekündigte Visite bei ihrem jungen Patienten durch, welcher nach Tinys Auskunft die ganze Nacht durchgeschlafen habe. Der Junge war inzwischen wach und offenbar bei klarem Bewusstsein, was Rebecca zuversichtlich bezüglich seiner medizinischen Prognose stimmte, denn scheinbar gab es keine schwerwiegenden Verletzungen des Gehirns. Sie versprach, übermorgen noch einmal zum Verbandswechsel hereinzuschauen. Bevor sie ging, murmelte der Junge ein kleines „Danke“ und lächelte sie schwach an. Rebecca erwiderte das Lächeln und nickte kurz burschikos, um ihre Verlegenheit zu überspielen, denn sie war schließlich keine Ärztin und hatte ja auch gar nicht viel tun können.
 

Kathryn brachte Rebecca zu Pferde wieder nachhause, da es bei all dem Matsch für sie beschwerlich gewesen wäre, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Daheim wurde sie bereits von Felicity mit dem Frühstück erwartet.
 

Kathryn trat ein und betrachtete das gemütliche, warme Zuhause der beiden Frauen: Ein Holzhaus mit indianischen Wandteppichen, schweren, alten Holzmöbeln und einem brennenden Kamin. Sie spürte Traurigkeit und Sehnsucht in sich aufsteigen. Ein liebevolles, Sicherheit spendendes Heim für sich und die Geliebte: Das hatte sie sich eines Tages auch für Liz und sich selbst gewünscht.

Das, und viel mehr Zeit!
 

„Möchtest du zum Frühstück bleiben, meine Liebe?“ erkundigte sich Felicity.
 

„Nein, vielen Dank, aber ich muss wieder rüber“, antwortete Kathryn rasch und verbarg ihre wahren Gefühle hinter einem Lächeln.
 

Sie umarmte ihre Freundinnen kurz, bedankte sich bei Rebecca für die Hilfe, um dann beinahe fluchtartig aufzubrechen.

Auf dem Rückweg erlaubte sie sich einen Moment des Selbstmitleids. Den Tod Elizabeths konnte sie auch nach vier Jahren immer noch nicht begreifen. Wie konnte jemand, um den sich ihre ganze Welt gedreht hatte, an einem Tag noch da sein und am nächsten für immer fort? Manchmal hatte Kathryn das Gefühl, auch sie selbst sei damals irgendwie abgestorben. Natürlich war sie noch hier, aß, schlief, sprach, lachte sogar; ganz so wie früher, doch etwas fehlte in jedem einzelnen Augenblick. Alles fühlte sich viel weniger wichtig und in manchen Momenten kaum noch real an; so als sei sie ein Geist; nicht mehr wirklich ein Teil dieser Welt. Zwar war die Trauer nicht mehr dieselbe wie am Anfang, als die Verzweiflung und Wut noch so gewaltig waren, dass sie nicht gewusst hatte, wie sie damit weiterleben sollte; stattdessen waren da heute diese Taubheit und Freudlosigkeit, welche sie ständig begleiteten, ebenso wie die Frage, wieso das Leben eigentlich immer noch weiterging, mit jedem Morgen an dem sie erwachte? Welchen Sinn konnte das nun noch haben?
 

Als Kathryn zurückkehrte, waren bereits alle Haushaltsmitglieder erwacht und saßen beim Frühstück. Es fehlte nur Tiny, der, wie sie vermutete, immer noch Wache am Bett von Joseph Harper hielt. Er hatte sich gestern ein Feldbett in den Raum gestellt und dem Verletzten großzügig seine eigene Schlafstätte überlassen.
 

Kathryn ging hinauf und winkte Tiny aus dem Krankenzimmer, um allein mit ihm sprechen zu können:

„Hat der Kleine schon irgendwas erzählt; wie er hergekommen ist oder wer ihn in diesen Zustand versetzt hat?“ wollte sie wissen.
 

Tiny schüttelte den Kopf:

„Nein, ich wollte ihn aber auch nicht bedrängen.“
 

Kathryn zog kurz eine Augenbraue hoch, vor Überraschung über die seltsame Fürsorge und Rücksichtnahme gegenüber einem möglicherweise gefährlichen Fremden:

„Du magst den Jungen.“ stellte sie fest.
 

Tiny dachte eine Weile nach, ehe er antwortete:

„Ich hab` ein gutes Gefühl bei ihm. Er erinnert mich an uns beide früher: Zu viel gesehen für sein Alter, zäh, aber auch sehr verletzt!“
 

Kathryn lächelte über diese Beschreibung und die Erinnerung an ihrer beider Jugend:

„Ja! Und wir hatten damals wenigstens einander. Dieser Joseph ist ganz allein. Trotzdem halte ich etwas Skepsis für angebracht. Wir haben Kinder hier, für deren Sicherheit wir verantwortlich sind. Und überdies leben wir ohnehin alle bereits die ganze Zeit am Rande der Legalität. Wir dürfen uns bei keinem Fehler erwischen lassen. Der Sheriff hat uns sowieso schon ständig im Blick und wartet nur darauf, uns alle hinter Gitter bringen zu können.“
 

„Du hast sicher recht!“ entgegnete Tiny ein wenig verletzt.

Sie musste doch wissen, dass ihm die Sicherheit ihrer kleinen Familie ebenso wichtig war wie ihr und er stets alles tat, sie zu beschützen, dachte er finster und fügte hinzu:

„Aber vergiss` nicht; jeder in diesem Haus ist irgendwann als Flüchtling hier angekommen, einschließlich uns selbst.“
 

Kathryn war verblüfft über diese Beschreibung, denn so hatte sie selbst es noch nie zuvor betrachtet. Dennoch hatte Tiny vollkommen Recht!

Melody und Margarete waren vor den sexuellen Übergriffen des Plantagenbesitzer geflohen, dem bereits ihre Eltern als Sklaven gedient hatten, und der noch immer in dieser Vergangenheit lebte und seine Untergebenen für sein Eigentum hielt.

Bei Molly und Regine waren es jeweils gewalttätige Ehemänner gewesen, denen sie mit ihren Kindern entkommen waren.

Und Shy bewahrte zwar Stillschweigen über ihre wahre Herkunft und verriet nicht einmal ihren wirklichen Namen, was ihr auch ihren Spitznamen eingetragen hatte, da sie bei ihrer Ankunft so gut wie gar nicht gesprochen hatte und alle sie für schüchtern gehalten hatten, doch es fehlte nicht viel Fantasie, um zu erraten, dass sie aus einem Indianerreservat irgendwo weiter im Norden geflohen sein musste.
 

„In Ordnung, ich gebe dem Jungen eine Chance. Ich werde mal versuchen, mit ihm zu reden. Aber das würde ich gern erst mal allein probieren.“ erklärte Kathryn.
 

Tiny nickte und ließ sie das Zimmer betreten, vor dessen Eingang er bislang wie ein Wachhund gestanden hatte.
 

Joseph lag im Bett und musterte Kathryn misstrauisch.

Sie nahm auf der Bettkante Platz, lächelte ihn an und fragte:

„Wie geht es dir heute Morgen? Hast du noch große Schmerzen?“
 

Der Junge zuckte mit der Schulter des unversehrten Arms. Der Ausdruck seines geschwollenen, grün-blau verfärbten Gesichts war verschlossen, misstrauisch und ängstlich. Das würde wahrscheinlich eine harte Nuss werden:
 

„Wie bist du nach Millers Landing gekommen?“ wollte Kathryn wissen.
 

„Güterzug!“ lautete die knappe Antwort.
 

„Und wieso bist du ausgerechnet zu uns gekommen?“ bohrte sie weiter.
 

„Brauchte`n Versteck!“ gab der Junge zurück.
 

Kathryn seufzte innerlich, angesichts dieser mühsamen Unterhaltung:

„Ja, aber was hat dich gerade hierher zu uns ins „Yasemines“ geführt?“
 

Der Junge dachte eine Weile nach

„Hat so`n Haus wie hier auch gegeben, wo ich herkomme. Mit Huren und so!“
 

An dieser Stelle zog Kathryn kritisch eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts.
 

Joseph, dem dies scheinbar entgangen war, fuhr fort:

„Dachte, hier würde man mich vielleicht nicht gleich verraten, falls man mich findet.“
 

„Gut gedacht!“ entgegnete Kathryn. „ Aber wir müssen wissen, dass du uns nicht schaden wirst. Du wirst wegen versuchten Mordes gesucht, Joseph!“
 

Er schaute sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger an:

„Ich bin doch bloß` n Junge, der von seinem Vater zu Brei geschlagen wurde. Was kann ich euch schon antun.“
 

„Vielleicht fragen wir danach mal deinen Vater?“ entgegnete Kathryn.
 

Josephs Gesicht verschloss sich und sie erkannte, dass diese Äußerung offenbar ein Fehler gewesen war. Die Gesprächsbereitschaft des Jungen war nun verschwunden.

„Dann geht doch zum Sheriff. Ich hau´ dann aber ab!“ sagte Joseph und schickte sich an, aufzustehen. Der Versuch scheiterte jedoch an seinem körperlichen Zustand und der Junge stöhnte vor Schmerzen.
 

Kathryn drückte ihn sanft wieder zurück in das Bett.

„Ruhig, Kleiner! Niemand will dich verraten! Du bist hier erst mal sicher! Aber früher oder später wirst du uns genauer berichten müssen, was passiert ist, damit wir wissen, dass wir dir trauen können. Schau, ich habe hier eine Familie, die ich beschützen muss! Wir alle riskieren viel, wenn wir dich verstecken!“
 

Joseph starrte an ihr vorbei an die Wand und kämpfte trotzig mit den Tränen.

Kathryn streichelte die Wange des Jungen, doch dieser entzog sich:

„Bis später Joseph.“ sagte sie sanft:
 

„Joe!“ erwiderte er mit Nachdruck.
 

„In Ordnung! Bis später, Joe! Ich schicke dir etwas zu Essen rauf, in Ordnung?“

Kathryn verließ das Zimmer.
 

Vor der Tür wartete immer noch Tiny:

„Wie ist es gelaufen?“ fragte er:
 

„Nicht so toll. Ich habe ein paar deutliche Worte mit ihm gesprochen und schätze, ich bin im Augenblick nicht gerade seine Lieblingsperson. Er kriegt jetzt erst mal Frühstück, aber vielleicht sollten wir ihn ein wenig allein lassen. Kannst du trotzdem unauffällig darauf achten, dass er nicht versucht abzuhauen? Er ist nicht in der Verfassung!“

Tiny nickte grinsend:

„Scheint so, als magst du den Jungen auch?“

„Ach hör` schon auf, du kennst mich doch! Es liegt doch hauptsächlich an mir liegt, dass dieses Haus voll von missgestalteten Haustieren ist, weil ich jedes verwundete Kätzchen aufnehmen muss.“

Lächelnd zog Tiny seine Freundin in eine feste Umarmung:

„Ich weiß, du willst immer alle glauben machen, du wärst so knallhart, doch ich weiß es besser Schwesterchen!“ sagte er liebevoll.
 

Kathryn rief die Frauen zu einer Besprechung zusammen. Alle sollten darüber mitentscheiden, wie weiter vorzugehen sei, denn so handhabten sie die Dinge hier.

Erwartungsgemäß waren Regine und Molly zurückhaltend und ein wenig um die Sicherheit ihrer Kinder besorgt. Jedoch waren sie bereit, Joe eine Chance zu geben.

Molly meinte:

„Wer weiß, was geschehen ist. Hätte ich den Mut gehabt, hätte ich meinen Kerl vielleicht auch erschlagen. Weiß Gott, er hätte es verdient! Und ich hab` ja gesehen, wie der Kleine aussah, als Tiny ihn reingebracht hat.“

Melody, Margarete und Shy waren sich einig, den Jungen zu schützen.

„Wenn Tiny denkt, er sei ein guter Kerl, dann glaube ich ihm. Er kann Menschen ins Herz sehen!“ Meinte Margarete mit Überzeugung und die andere Frauen nickten zustimmend.

Und so war es beschlossen: Joe Harper wurde unter Vorbehalt in die Familie aufgenommen!
 

Die nächsten beiden Wochen ließen Joes Blessuren nach und nach verblassen und enthüllten einen gutaussehenden, jungen Mann mit strahlend blauen Augen und einem ansteckendem Lächeln. Bald waren die einzigen sichtbaren Folgen der ganzen Angelegenheit die Platzwunde an der Stirn, von der er eine Narbe zurückbehalten würde und der gebrochene Arm.

Mit den äußerlichen Veränderungen gingen auch die inneren einher und der verstockte Teenager entpuppte sich immer mehr als lustiger, charmanter Bursche, den alle schnell in ihr Herz geschlossen hatten, insbesondere Tiny.
 

Rebecca war noch einige Male vorbeigekommen, um Joes Verletzungen zu versorgen. Seine übrige Pflege und Fürsorge erledigte Tiny. Er schlief weiterhin auf dem Feldbett, um Tag und Nacht für ihn da sein zu können und der Junge öffnete sich ihm gegenüber zum Dank, sprach über alles Mögliche, insbesondere seine Mutter, die er sehr geliebt habe und die vor einigen Jahren gestorben sei und über seinen besten Freund Lucas, den er schon seit Kindertagen gekannt habe. Er sprach über alles, außer seinen Vater und Tiny ließ ihn zunächst gewähren.

Doch eines morgens fand er schließlich, dass es sei an der Zeit sei, dies zu ändern. Er setzte sich neben den jungen Mann auf das Bett und überlegte, wie er anfangen sollte. Schließlich begann er so:

„Du weißt, dass dich hier mittlerweile alle akzeptiert haben und ein großes Risiko auf sich nehmen, indem sie dich verstecken?“
 

Joe wurde schlagartig ernst und nickte:
 

„Du schuldest uns fairerweise noch ein paar Antworten.“ erklärte Tiny bestimmt.
 

Wiederum ein Nicken von Joe.
 

„Also? Was ist zwischen Dir und deinem Vater geschehen?“
 

Der Junge schwieg lange und Tiny glaubte bereits, er würde gar keine Antwort erhalten, als plötzlich die Worte doch noch zu fließen begannen:
 

„Alles war besser, als meine Mutter noch lebte. Wir standen uns sehr nahe und sie hat mich vor meinem Vater beschützt. Oft genug hat SIE Prügel eingesteckt, die eigentlich MIR gegolten haben. Ich hätte gern etwas dagegen getan, aber ich war noch zu klein“

Während er redete liefen Joe Tränen über das Gesicht, doch er wischte sie fort, ohne sie zu beachten und sprach weiter:

„Als sie starb, wurden die Dinge zwischen ihm und mir immer schwieriger. Er hat gesoffen und dann furchtbare Dinge gesagt, z.B. dass er wünschte ich wäre nie geboren worden. Ich wusste lange nicht, warum er mich so sehr hasste. Ich versuchte irgendwie durchzuhalten, war oft mit meinem Freund Lucas zusammen und…“

Hier geriet Joe ins Stocken und brauchte einige Zeit, um weiter sprechen zu könne. Dann fuhr er fort:

„ Es war immer schlimm, doch an diesem Abend war es anders. Mein Vater kam mit seinen Saufkumpanen in unser Haus. Sein Blick war nicht wie sonst, sondern irgendwie... kalt. Sie waren zu viert und griffen mich an, stießen mich herum, spielten mit mir, wie eine Katze mit einer Maus spielt. Ich hab` den Hass in den Augen der Männer gesehen und mir war klar, dass sie sich zuvor betrunken in Hitze geredet haben mussten. Und da erkannte ich plötzlich, dass sie mich nicht lebend davonkommen lassen wollten. Sie kreisten mich ein. Ich versuchte, zu fliehen und entkam aus dem Haus, doch sie holten mich ein, traten und prügelten mich. Und sie machten so lange weiter, bis ich mich nicht mehr regte.“

Dem Jungen liefen nun heiße Tränen die Wangen hinab und während er sprach brach seine Stimme immer wieder. Tiny legte ihm sanft seine große, dunkle Hand auf die magere Schulter.

„Dann war da dieser große Stein. Er lag neben mir auf der Erde“ fuhr Joe schluchzend fort: „Ich ergriff ihn, stand auf und trat von hinten an meinen Vater heran. Niemand hatte mich kommen sehen! Ich schlug ihm den Stein auf den Kopf, so fest ich konnte. Mein Vater sackte zusammen, fiel zu Boden und ich schlug ihn noch zwei weitere Male. Seine Freunde waren so erschrocken, weil sie mich ja bereits für tot gehalten hatten. Sie liefen davon, als sie mich mit dem blutigen Stein über meinem Vater hatten stehen sehen. Und dann floh ich auch!“
 

Nun begann der junge Mann, nachdem er die Schrecken dieses Tages noch einmal hatte erleben müssen, unkontrolliert zu Schluchzen und Tiny wusste nichts zu tun, als ihn fest in den Arm zu nehmen. Joes schmaler Körper bebte und zitterte und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder einigermaßen gefangen hatte. Tiny ließ ihm Zeit, ehe er ihm die letzte Frage stellte, die ihm unter den Nägeln brannte:
 

„Warum hat dein Vater dich so sehr gehasst, dass er dich töten wollte. Was kann einen Vater denn überhaupt zu so etwas treiben?“
 

Joe blickte ihn hilflos an, öffnete zweimal den Mund, als ob er etwas sagen wollte, doch es kam kein Ton:

„Du weißt es nicht!“ stellte Tiny fest.
 

Joe schüttelte langsam und traurig den Kopf:

„Doch, ich weiß es…“ und nach ein paar nachdenklichen Sekunden ergänzte er: „…nun weiß ich es. Aber ich kann es dir nicht sagen.“
 

Tiny wartete eine Weile ab und fragte schließlich sanft:

„Was kannst du denn so Furchtbares getan haben, um den Tod zu verdienen, mein Junge?“
 

Gequält schaute Joe Tiny an.

Und was der junge Mann als nächstes tat, traf Tiny vollkommen unvorbereitet: Joe griff ihn bei den Schulten, zog den viel größeren und kräftigeren Mann mit erstaunlicher Kraft zu sich heran und küsste ihn fest und ein wenig ungeschickt auf die Lippen.

Und zu seiner eigenen Überraschung erwiderte Tiny den Kuss.
 

Joe löste sich wieder von ihm und rief mit wildem Blick:

„Verstehst Du es jetzt?“

Dann sprang er auf und rannte aus dem Zimmer.

Ein leeres Bett

Als es Zeit zum Schlafen war, hatte sich Tiny noch immer keinen Reim auf die Begegnung mit Joe machen können. Er war verwirrt, nervös und brauchte etwas Abstand, um nachzudenken.

Was er außerdem brauchte, war der Rat seiner besten Freundin, also bat er Kathryn, heute bei ihr schlafen zu dürfen.

Darüber war diese mehr als überrascht, denn die Zwei hatten bereits seit langer Zeit nicht mehr im selben Bett übernachtet. Das letzte Mal war unmittelbar nach Elizabeths Tod gewesen, als Kathryn es einfach nicht ausgehalten hatte, allein in dem großen leeren Bett zu bleiben. So war sie einfach in Tinys Zimmer geschlichen und unter seine Decke gekrochen.

Tiny musste also etwas sehr wichtiges auf dem Herzen haben und sie war neugierig, was das war. Vielleicht hatten Joe und er sich gestritten?

Und so lagen Kathryn und Tiny schließlich im Licht der Öllampe nebeneinander und sie war überrascht zu sehen, wie nervös ihr Freund wirkte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie Tiny in all` den Jahren, die sie ihn kannte jemals nervös erlebt hatte und musste dies verneinen.

Seltsam, dachte sie. Was ging hier vor?
 

Endlich begann Tiny zu sprechen:

„Ich habe heute mit Joe geredet, über das, was in jener Nacht zwischen ihm du seinem Vater geschehen ist.“ leitete er seine Erzählung ein.

Er ließ den Kuss vorläufig noch aus, doch alles andere, die Gewalttätigkeit des Vaters, welche schließlich in Joes Notwehr mündete, führte er detailliert aus.
 

Kathryn war über das Gehörte offensichtlich sehr erschüttert:

„Wie furchtbar! Dieser arme Junge!“ sagte sie schließlich betroffen: „Und ich dachte schon, ICH hätte ein übles Exemplar von Vater erwischt. Aber wieso hat sein Vater ihn überhaupt angegriffen? Was zum Teufel, kann jemanden bloß dazu treiben, sein eigenes Kind totschlagen zu wollen? Das ist doch einfach unvorstellbar!“
 

Nun kam für Tiny der weitaus schwierigste Teil der Geschichte. Er fasste ein wenig Mut und berichtete schließlich, was im Anschluss an Joes Erzählung geschehen war; wobei er es allerdings vermied, seiner Freundin in die Augen zu blicken. Kathryn riss überrascht die Augen auf und fragte dann amüsiert:

„Wie bitte? Er hat dich wirklich geküsst? Mutig...und ein bisschen dramatisch, wenn du mich fragst. Aber warum hat er nicht einfach gesagt, dass er Männer mag?“
 

„Vielleicht fehlten ihm dafür ja einfach die richtigen Worte.“ meinte Tiny und fuhr dann leicht gekränkt fort: “Und möglicherweise wollte er mich ja auch einfach küssen. Ist das wirklich so schwer vorstellbar?“
 

Nun lag so etwas wie Trotz in Tinys Stimme und den, dessen war Kathryn sich vollkommen sicher, hatte sie unter Garantie noch nie an ihrem Freund erlebt. Kathryn schüttelte den Kopf und legte Tiny liebevoll eine Hand auf den breiten Oberarm:

„Nein! Das ist überhaupt nicht schwer vorstellbar. Ich habe es auch mal getan, falls du dich erinnerst.“
 

„Oh ja, ich erinnere mich.“ antwortete er schüchtern und schmiegte sich eng an seine Freundin. Sie legte einen Arm um ihn.

Nach einer kurzen Pause nachdenklichen Schweigens fuhr Tiny fort:

„Und dieser heute war der zweite Kuss meines Lebens. Ist das nicht vollkommen lächerlich?“ Er schüttelte über sich selbst den Kopf: “Hast du das gewusst?“
 

Kathryn blickte den Freund liebevoll und auch ein wenig traurig an:

„Ich hatte es vermutet. Ich meine, du hättest sicherlich etwas gesagt, wenn es irgendwann jemanden gegeben hätte, oder?“
 

„Hätte ich wohl.“ stimmte Tiny zu und fuhr fort: „Es hat eben nie die richtige Person gegeben, beziehungsweise…“ und nun zögerte Tiny unsicher: „... beziehungsweise war die einzige Person, an die ich je auf diese Weise gedacht hatte nicht erreichbar für mich.“
 

Bei dieser letzten Äußerung warf er Kathryn einen vielsagenden Blick zu und mit einem Mal wurde damit eine Frage beantwortet, die Kathryn zum Wohle ihrer Freundschaft nie zu stellen gewagt hatte.

Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt damit herausrückte. Und da wurde Kathryn klar, dass sich etwas geändert haben musste:

„Der Kuss heute hat dir gefallen, oder?“

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und Kathryn grinste breit.
 

Verlegen wich Tiny ihrem Blick aus. Nach einigem Zögern meinte er schließlich:

„Ich weiß doch gar nicht, ob IHM der Kuss irgendetwas bedeutet hat.“
 

„Dann musst du mit ihm sprechen und es herausfinden!“ entgegnete Kathryn bestimmt.
 

Tiny blickte sie an, wie ein waidwundes Reh:

„Aber Kathryn! Diese ganze Sache ist doch total verrückt! Ich bin fast doppelt so alt wie Joe. Der Junge ist neunzehn Jahre alt und ich bin ein erbärmlicher fünfunddreißigjähriger Mann, der gerade soeben den zweiten Kuss seines Lebens erhalten hat. Er ist doch noch ein halbes Kind!“
 

Kathryn blickte Tiny nachdenklich an:

„Erstens, “ begann sie: „ Wir sind vierunddreißig, Bruder! Unser Geburtstag ist erst im nächsten Monat, also mach´ uns nicht älter! Zweitens: Du bist überhaupt nicht erbärmlich, sondern großartig, liebevoll und schon viel zu lange allein! “ Kathryn richtete sich im Bett auf, wie, um die Wichtigkeit ihrer folgenden Worte zu unterstreichen: „Und nun kommt Drittens und jetzt pass` gut auf!“ Im Sprechen schwenkte Kathryn wichtig den Zeigefinger: „Joe ist alt genug, um zu heiraten, eine Familie zu gründen, einen Job zu haben oder in den Krieg zu ziehen. Damit ist er ja wohl auch alt genug, zu entscheiden, wen er küssen möchte. Ich schlage vor, wir schlafen jetzt erst mal. Und morgen früh wirst du wissen, wie es weitergehen soll. Einverstanden?“
 

Tiny nickte gehorsam und küsste sie auf die Stirn:

„Ich liebe dich Katy“
 

Sie musste lächeln, denn so hatte er sie seit Kindertagen nicht mehr genannt:

„Ich liebe dich auch Tommy.“

Und bevor sie beide Arm in Arm einschliefen, sagte sie noch:

„Eines ist nun ganz klar! Unser Joe ist einer von uns; ein Flüchtling und Außenseiter!“
 

Joe hatte gehofft, dass er Tiny später am Tag alles erklären und sich entschuldigen könnte, doch dieser war ihm ausgewichen und nicht einmal zum Schlafen war er in sein Zimmer zurückgekehrt. Im Grunde hatte Joe auch nicht gewusst, was er hätte sagen können. Er war vollkommen verwirrt! Hatte er die Freundlichkeit und Fürsorge Tinys in den letzten Wochen falsch verstanden?

Aber hatte dieser nicht auch seinen Kuss erwidert?

Doch was sollte ein erwachsener Mann wie Tiny in einem Jungen wie ihm schon sehen?

Er hatte wahrscheinlich einfach nur Mitleid gehabt und sich deshalb um ihn gekümmert.
 

Jetzt hasste er ihn bestimmt!
 

Joe wusste, dass er anders war, als andere Männer. Vielleicht war er ja der Einzige, der so empfand?

Das mit Lucas war schließlich auch bloß eine Fehleinschätzung von ihm gewesen. Und nun lag Tiny im Bett von Kathryn!

Vielleicht lachten sie gerade über ihn?

Oder sie liebten sich?

Und er war zu einem Leben in Einsamkeit verdammt, weil er ganz einfach krank war. Etwas an ihm war von Grund auf falsch und sein Vater hatte das ganz richtig erkannt!
 

Als der Morgen graute, wusste Joe, was er zu tun hatte.
 

Tiny hatte in dieser Nacht nicht gut geschlafen und erwachte mit dem ersten Hahnenschrei. Wie Kathryn prophezeit hatte, war es ihm gelungen, eine Entscheidung zu treffen und darum hielt ihn nun auch nichts mehr im Bett.

Leise, um Kathryn nicht zu wecken, stand er auf und ging hinüber zu seinem eigenen Zimmer. Er klopfte sacht an und trat ein, doch zu seiner Überraschung fand er es leer vor. Sein Blick schweifte durch den Raum und fiel dabei zufällig auch aus dem Fenster. Draußen konnte Tiny Joe ausmachen, welcher sich vom Haus entfernte, als sei der Teufel hinter ihm her.
 

Er eilte die Treppen hinunter, aus dem Haus und dem jungen Mann hinterher. Als er ihn beinahe eingeholt hatte, rief er seinen Namen, doch Joe setzte seinen Weg unbeirrt und dafür lediglich etwas schneller fort. Tiny rannte nun und mit einem Satz nach vorn gelang es ihm schließlich, Joes gesunden Arm zu packen und den jungen Mann zu sich umzudrehen:

„Was machst du hier, du Verrückter! Zum Teufel, es ist gefährlich für dich hier draußen!“ rief Tiny ärgerlich und atemlos.
 

Joe gelang es nicht, Tiny anzuschauen. Er schlang die Arme um den eigenen Körper, heftete sein Kinn fest auf seine Brust und war dabei ein lebendes Abbild des Elends:

„Es tut mir leid, was ich da gestern gemacht habe!“ antwortete er: „Ich hätte das wirklich nicht tun dürfen. Aber keine Sorge! Ich verschwinde und du musst mich nie wieder sehen. Sag` den Anderen Danke von mir!“
 

Tiny griff nach der Hand des jungen Mannes und fragte sanft:

„Was tut dir leid? Der Kuss etwa? Mir tut er nämlich nicht leid!“ Und dann fügte er hinzu: „Bitte bleib! “
 

Nun blickte Joe wie vom Donner gerührt zu Tiny auf und forschte in dessen Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er ihm nur etwas vormachte:

„Aber ich dachte…ich meine...wirklich?“ stotterte Joe ungläubig:
 

„Ja, wirklich! Und jetzt lass uns endlich zurückgehen, ehe dich jemand sieht. Bitte!“ entgegnete Tiny nachdrücklich und zog Joe in Richtung des Hauses.
 

Der Junge folgte ihm und kaum hatten sie die Haustür hinter sich verschlossen, zog Tiny Joe zu sich heran und sie küssten sich erneut, schüchtern zwar und ein wenig steif, aber dafür bewusster, sanfter und ausgiebiger als gestern. Dann huschten sie die Treppe hinauf, verschwanden in Tinys Zimmer, verschlossen die Tür und die Vorhänge, damit nichts ihr Zusammensein stören konnte und fuhren dort damit fort, einander zu küssen.
 

Schließlich versuchte Joe sanft Tiny in Richtung Bett zu schieben, doch nun zögerte dieser plötzlich.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte Joe, nun wieder verunsichert: „Willst du lieber doch nicht?“
 

Tiny, der nicht wusste, was er sagen sollte, blickte nervös zwischen dem jungen Mann der Schlafstätte hin und her.
 

Joe erriet das Problem:

„Hast du das hier denn noch nie getan?“ wollte er wissen.
 

Tiny überlegte, wie er darauf antworten sollte, ohne sich vollkommen lächerlich vorzukommen und schüttelte stattdessen lediglich den Kopf.
 

Joe versicherte:

“Ich glaube nicht, dass es so viel anders ist, als mit einer Frau.“
 

Tinys Blick verfinsterte sich noch weiter und Joe fragte ungläubig:

„Also auch keine Frauen? Aber... du bist doch erwachsen! Und du lebst in einem Haus wie diesem. Wirklich noch nie...?“
 

Tiny bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen und wünschte, dass sich vor ihm der Erdboden auftun möge.
 

In diesem Moment geschah es, dass die beiden Männer für einen kurzen Moment ihre Rollen tauschten: Der verletzte und unsichere Junge begann plötzlich, sich stark und beschützerisch zu fühlen.

Er setzte sich auf das Bett und klopfte auf den Platz neben sich:

„Hab´ keine Angst, Tiny! Setz` dich einfach zu mir und dann reden wir darüber, in Ordnung?“
 

Tiny folgte der Aufforderung unsicher und beinahe schüchtern. Joe begab sich in den Schneidersitz und blickte ihn aufmerksam an.

„Warum nennen sie dich eigentlich Tiny?“ wollte er wissen und erreichte mit der Frage, dass Tiny sich ein wenig entspannte. Und dann erzählte der Ältere davon, wie er den Namen als schmächtiger Junge erhalten hatte und er dann schließlich an ihm hängengeblieben war.
 

„Dein wirklicher Name gefällt mir besser. Ich werde Thomas nennen.“ entschied Joe.
 

Tiny nickte und wirkte damit sogar sehr zufrieden. Schließlich begann Joe zu erzählen:

„Bei mir war es Lucas! Ich habe dir ja schon erzählt, dass wir zusammen aufgewachsen sind und irgendwie jede freie Minute miteinander verbracht haben. Und als er mich dann eines Tages zum ersten Mal geküsst hat, war es gar nicht merkwürdig für mich, sondern irgendwie ganz logisch, normal und schön. Wir haben aufgepasst, dass niemand uns entdeckt, haben uns an geheimen Orten getroffen, um zusammen zu sein, aber mein Vater hat uns eines Tages dennoch erwischt. Unsere Freundschaft war ihm wohl schon länger verdächtig vorgekommen und so ist er mir irgendwann gefolgt.“
 

Bis hierhin hatte Tiny still und aufmerksam zugehört, doch nun beschäftigte ihn doch eine dringende Frage:

„Aber wo ist Lucas jetzt? Warum ist er nicht hier bei dir.“

Als Tiny den verzweifelten Ausdruck auf Joes Gesicht erblickte, bereute er es sogleich überhaupt gefragt zu haben.
 

Joe erwiderte:

„Nachdem das mit meinem Vater passiert ist, bin ich natürlich als erstes zu Lucas geflüchtet. Ich wollte, dass er mir hilft und mit mir kommt. Ich war sehr überrascht, als Lucas mir mitteilte, dass er bereits alles wisse. Er wusste es schon, bevor es passiert war, denn mein Vater und seine Freunde sind zuerst bei ihm gewesen; betrunken und streitlustig! Lucas hat ihnen erzählt, dass alles meine Schuld gewesen sei und er das mit uns nie gewollt habe. Er wollte seine eigene Haut retten, verstehst du? Aber dann war es wiederum auch beinahe so, als habe er in dem Moment selbst daran geglaubt. Ich habe gedacht, er würde etwas für mich empfinden, mich vielleicht sogar lieben, aber er hat mich noch nicht einmal gewarnt, dass ich mich in Gefahr befinde. Ich hatte Schmerzen, habe geblutet und er erklärte mir dennoch bloß, dass ich verschwinden und ihn in Frieden lassen sollte und knallte mir die Tür vor der Nase zu.“

Joe schluckte schwer und Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er fortfuhr:

„Ihm habe ich mehr vertraut, als jedem anderen Menschen, doch er hat mich verraten und nichts getan, um mich zu schützen, oder mir zu helfen.“
 

Nun weinte Joe wirklich und Tiny zog ihn in seine Arme und hielt ihn fest:

„Das tut mir sehr leid!“ flüsterte er.
 

Die beiden Männer saßen eine ganze Weile so da, bis Joe schließlich tief Luft holte, sich die Tränen abwischte, die Schultern straffte und nachdrücklich erklärte:

„Aber das ist nun vorbei und ich bin hier bei dir.“
 

„Ja, das bist du!“ antwortete Tiny: „ Und du bist sicher hier!“
 

„Ich weiß!“ erwiderte Joe. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Er legte seine unversehrte Hand in die große Hand Tinys und fuhr fort: „Aber du bist auch sicher bei mir, Thomas!“

Er setze sich rittlings auf dessen Schoss, lächelte auf ihn hinab und küsste ihn, während er langsam damit begann begann, ihm sein Hemd aufzuknöpfen.

Ritter in schimmernder Rüstung

Als Kathryn erwachte, stellte sie fest, dass Tiny nicht mehr neben ihr lag.

Da sie als Erste auf war, fütterte sie zunächst die Tiere und begann dann, das Frühstück vorzubereiten.
 

Nach und nach versammelten sich alle, außer Joe und Tiny um den großen Tisch. Beim Essen wurden, wie jeden Tag die Aufgaben und fälligen Arbeiten des Tages besprochen und verteilt und irgendwann fragte Regine:

„Wo sind eigentlich unsere beiden Männer? Die wollen sich doch wohl nicht vor der Arbeit drücken?“
 

Margarete fügte besorgt hinzu:

„Ja, das ist merkwürdig. Solange ich ihn kenne, war Tiny immer einer der Ersten hier unten. Ich werde gleich mal hinaufgehen und nachsehen, ob er krank ist.“
 

„Nein!“ schaltete sich nun Kathryn geistesgegenwärtig ein, weil sie verhindern wollte, dass Margarete möglicherweise in einem entscheidenden und unpassenden Moment dort hineinplatzte, also behauptete sie: „Von Tiny weiß ich, dass er etwas Wichtiges mit Joe besprechen wollte. Die beiden sind sicherlich gleich bei uns.“
 

Wie aufs Stichwort waren tatsächlich in diesem Augenblick von oben die Stimmen und ein ausgelassenes Lachen der beiden Männer zu vernehmen.

Als Tiny und Joe fröhlich die Küche betraten, blickten alle Frauen sie aufmerksam an und Margarete bemerkte:

„Eurer blendenden Laune nach muss das ja ein tolles Gespräch gewesen sein.“
 

Erschrocken schnellte Tinys Blick zu Kathryn hinüber:

„Wie, bitte!“ fragte er nervös.
 

Kathryn antwortete rasch und gespielt leichthin:

„Ja! Margarete wollte schon einen Suchtrupp nach euch beiden losschicken. Da habe ich gesagt, dass du mit Joe noch eine Kleinigkeit besprechen wolltest. Und da seid ihr auch schon!“

Sie zwinkerte ihrem Freund zu und fuhr fort: „Wie wär`s mit Pfannkuchen? Ich habe welche gemacht.“
 

Tiny entspannte wieder ein wenig.

“Pfannkuchen klingen wunderbar! Gern!“ antwortete er aufatmend.
 

Während er und Joe frühstückten, verließen die Anderen sie nach und nach, um ihren täglichen Pflichten nachzugehen. Nur Kathryn blieb zurück und ließ Tiny nicht aus den Augen, sondern belauerte ihn, wie eine Katze eine Maus. Anstandshalber ließ sie ihn gerade noch den letzten Bissen herunterschlucken, bis sie den Sitzenden von hinten umarmte und ihm ins Ohr flüsterte:

„Ich will einen genauen Bericht. In zehn Minuten in meinem Zimmer!“
 

Tiny saß auf Kathryns Bett und hielt sich schützend ein Kissen vor den Bauch. An seiner Seite saß eine ungeduldige Kathryn, welche die Spannung kaum noch aushielt.
 

„Wie detailliert möchtest du denn deinen Bericht? Denn ehrlich gesagt möchte ich dir irgendwie nicht alles erzählen.“
 

Kathryn schmunzelte:

„Das bedeutet dann wohl, ihr seid euch...wie soll ich es sagen... einig geworden?“
 

Tiny nickte und grinste schüchtern:

„Ja, so könnte man es wohl ausdrücken.“
 

Kathryn blickte Tiny forschend an und fragte sanft:

„Und? War es schön, mein Lieber?“
 

Tiny hielt die Augen niedergeschlagen, lächelte verlegen und bestätigte:

„Es war wahnsinnig schön! Ich denke, ich habe mich verliebt!“
 

Schüchtern blickte er zu Kathryn auf, welche über das ganze Gesicht strahlte, vor Freude wie ein Kind auf dem Bett leicht auf und ab hüpfte und in die Hände klatschte:

„Wie wunderbar! Ich freue mich so für dich, Brüderchen.“
 

Und am Ausdruck von Kathryns Augen konnte er erkennen, dass wahrere Worte wohl nie gesprochen worden waren, denn da war etwas, dass er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr an ihr gesehen hatte: Lebendigkeit!

Das machte sein eigenes Glück nun wirklich vollkommen. Schon seit geraumer Zeit machte er sich Sorgen, dass Kathryn sich möglicherweise niemals von Elizabeths Tod erholen könnte, doch die Frau, die ihm in diesem Augenblick gegenüber saß, war Kathryn, wie er sie von früher kannte und er lächelte.
 

Dann fiel Tiny etwas ein, was ihn wieder ernst werden ließ:

„Da ist aber noch eine Sache:“ begann er: „Joe war heute Morgen draußen. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Er war im Begriff uns zu verlassen, denn er hatte meinen Rückzug nach seinem Kuss falsch interpretiert und gedacht, ich wollte, dass er verschwindet. Ich vermute, dass niemand ihn gesehen hat, doch wir können nicht sicher sein. Was meinst du sollten wir nun unternehmen?“
 

Kathryn blickte ihn ernst an:

„Bist du schon bereit, dein Glück mit den Anderen zu teilen?“ fragte sie: „Denn ich denke, das ist ein Fall für den Familienrat!“
 

Als alle Erwachsenen in der Küche versammelt waren, begann Kathryn knapp:

„Joe war heute Morgen außerhalb des Hauses. Wir hoffen, dass niemand ihn gesehen hat, aber falls doch, müssen wir uns überlegen, wie wir ihn schützen können. Was sagt ihr dazu? Was können wir tun?“
 

Die Frauen begannen, wild durcheinanderzureden und nicht alles war zu verstehen. Kathryn konnte folgende Sätze aus dem Tumult heraushören:
 

„Bist du denn verrückt geworden, Junge?“

Das war Melody:
 

„Willst du uns alle in Gefahr bringen?“

Kam von Regine und Molly fast aus einem Munde und Margarete meinte:
 

„Ich finde, Joe muss für eine Weile verschwinden! Er kann dann ja später zu uns zurückkehren.“
 

An diesem Punkt schaltete sich Kathryn energisch ein:

„Ruhe!“ Befahl sie und tatsächlich stellten die Frauen das Reden sofort ein und blickten sie an; überrascht über ihren herrischen Tonfall. Milder fuhr Kathryn fort:

„Wir werden Joe nicht fortschicken, denn er ist ein Teil dieser Familie geworden. Falls ihr euch jedoch zu sehr um eure Sicherheit sorgt, dann wird Joe nicht allein gehen. Tiny wird ihn begleiten wollen. Und falls sie mich dabei haben wollen, würde ich mich ihnen anschließen.“
 

Tiny war dankbar für Kathryns parteiische Intervention.

Die Frauen waren unterdessen in ein verblüfftes Schweigen gefallen. Sie blickten von Tiny zu Kathryn und wussten scheinbar nichts zu sagen.
 

Da meldete sich Tiny leise zu Wort:

„Joe und ich sind uns in den letzten Wochen sehr nahe gekommen. Ich lasse ihn nicht allein!“ sagte er und nahm den jungen Mann bei der Hand.

Dieser hatte mittlerweile ein verdächtiges Glitzern in den Augen und legte seinen Kopf auf der Schulter des Älteren ab.

Den Gesichtern der Frauen war anzusehen, dass sie verstanden, was vor sich ging, doch keine schien recht zu wissen, was sie sagen sollte.
 

Schließlich war es ausgerechnet Margarete, die erklärte:

„In Ordnung! Niemand geht! Diese Familie wird nicht auseinandergerissen. Sind alle damit einverstanden?“ Sie blickte fragend in die Runde.

Die Anwesenden drückten nickend ihre Zustimmung aus und so fuhr Margarete fort und stellte die Frage:

„Aber was können wir sonst tun, um für Joes und unser Aller Sicherheit zu sorgen?“
 

Nun meldete sich Shy zu Wort, welche sich bislang herausgehalten hatte:

„Ich habe eine Idee. Es ist nicht die beste Idee aller Zeiten, aber immerhin besser als nichts.“ sprach sie, erhob sich, stellte den Wasserkessel auf den Ofen und verschwand, nur um nach einer Weile mit einer Schale zurückzukehren, welche gefüllt war mit einem mysteriösen Kräuterpulver. Über dieses goss sie nun das heiße Wasser, so dass ein erbärmlich stinkender Brei entstand.
 

„Du willst jetzt aber nicht zaubern, oder?“ fragte Molly naiv.
 

„Was glaubst DU denn, weißes Mädchen? Dass ich irgendeinen Indianer-Hokuspokus anstelle und unser kleiner Joe plötzlich unsichtbar wird, oder so? Schön wär` s!“ erwiderte sie lachend: „Nein, dass hier soll lediglich sein Aussehen verändern.“

An Joe gerichtet fuhr sie fort:

„Dein blondes Haar ist wirklich schön, aber auffällig, wie ein Leuchtfeuer in finsterer Nacht. Wie gefällt dir meine Haarfarbe? Ohne dieses Zeug hier…“ sie wies auf die Schale „…wäre ich schon seit Jahren grau wie ein Esel.“
 

Dieses Bekenntnis brachte die Freundinnen am Tisch zum lachen.
 

Joe hingegen blickte ein wenig verunsichert drein, ließ es dann aber dennoch geschehen, dass Shy ihm nun die angekündigte Typveränderung zukommen ließ. Als sie schließlich fertig war, hatte er tatsächlich dieselbe dunkelbraune Haarfarbe, wie seine Friseurin.
 

„Oh mein Gott!“ rief er aus, als er einen Blick in den herbeigeholten Spiegel warf. Er schaute nervös zu Tiny hinüber, doch dieser versicherte lächelnd:
 

„Also mir gefällt` s!“
 

Nun befahl Shy noch einmal streng:

„Aber ab jetzt gibt es keine Spaziergänge mehr an der frischen Luft, hast du verstanden, Junge?“
 

Molly kommentierte ungewohnt frech:

„Naja, ich vermute, er und Tiny werden in den kommenden Wochen ohnehin nicht sehr viel mehr, als die Wände ihres Schlafzimmers zu sehen bekommen, richtig?“ und versetzte damit ihre Freundinnen in schallendes Gelächter.
 

Joe verbarg vor Scham sein Gesicht hinter seinen Händen und Tiny errötete deutlich unter seiner braunen Haut, bis Kathryn schließlich Mitgefühl mit den beiden hatte und streng forderte:

„Genug jetzt, ihr albernen Gänse! Lasst die Jungs in Frieden!“
 

Der Familienrat löste sich auf und alle gingen nun wieder ihren Verrichtungen nach.
 

Die Frauen dachten jede auf ihre Weise über die neue und ungewöhnliche Paarbildung im Haus nach.

Einig waren sie sich alle in der Freude darüber, dass Tiny nach den vielen Jahren der Einsamkeit endlich jemanden gefunden hatte, doch darüber hinaus gingen die Standpunkte auseinander.
 

Regine, deren ältester Sohn Sam vierzehn Jahre alt und damit gar nicht so viel jünger war als Joe, fühlte sich gegen ihren Willen ein wenig unbehaglich angesichts des großen Altersunterschieds zwischen den beiden Männern.
 

Mollys Unbehagen war anderer Natur: Sie hatte niemals Schwierigkeiten mit der Beziehung zwischen Kathryn und Elizabeth gehabt. Im Gegenteil konnte sie nur allzu gut verstehen, warum eine Frau sich lieber mit einer anderen zusammentat, angesichts der Erfahrungen, die sie in ihrer Ehe gemacht hatte. Doch dies hier war irgendwie etwas anderes für sie. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie es gewohnt war, dass Männer sexuell auf sie reagierten und ganz gleich, ob sie selbst interessiert war oder nicht, so spielte sie doch mit dieser Anziehungskraft und nutzte sie auch mal zum Vorteil, wenn nötig. Diese neue Situation war nun erst einmal gewöhnungsbedürftig.
 

Melody nahm die Neuigkeit sehr gelassen auf. Scharfsichtig wie sie war, hatte sie längst geahnt, was vor sich ging.
 

Margarete fühlte eine kleine Traurigkeit, denn nun musste sie sich eingestehen musste, immer schon Gefühle für Tiny gehabt zu haben, was ihr zuvor nur vage bewusst gewesen war. Doch sie war klug genug um zu wissen, dass zu lieben bedeutete, dass Beste für den Anderen zu wünschen, selbst dann, wenn es nicht das Beste für einen selbst war.
 

Schließlich war da noch die abgeklärte und ein wenig zynische Shy, die nicht an die Liebe glaubte. Natürlich wünschte sie Tiny das Beste, doch im Grunde konnte sie nicht wirklich nachvollziehen, was das ganze Theater um die großen Gefühle sollte.
 

Am Nachmittag desselben Tages ging Kathryn in den Ort, um ein paar Einkäufe zu erledigen.

Als sie durch die Gänge des Gemischtwarenladens ging, spürte sie plötzlich fremde Blicke auf sich, die sie beobachteten. Es war Gretchen Schultz, die Frau des Reverends, in Begleitung ihrer Entourage gottesfürchtiger Schwestern. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen, tuschelten, zeigten auf Kathryn und kicherten albern dazu.
 

Kathryn wünschte in diesem Moment, sie hätte die Hosen heute im Schrank gelassen und ein Kleid angezogen, doch das hätte vermutlich auch nichts verändert.

Zunächst verfolgte sie nun die Strategie, diese lästigen, boshaften Frömmlerinnen ganz einfach zu ignorieren und setzte ihre Besorgungen fort.

Das es einen weiteren Beobachter gab, der sich weiter hinten, in einer dunklen Ecke des Geschäfts hinter einem Regal mit Konserven verbarg, hatte Kathryn bislang noch nicht entdeckt.
 

James lebte zur Miete in einem möblierten Zimmer bei der Witwe Meyer, seit er hier in Millers Landing angekommen war. Da die alte Dame nicht mehr in der Lage war zu kochen, hatte James beschlossen, diese Kunst selbst zu erlernen und mittlerweile, nach ein paar kleineren Fehlschlägen klappte es auch schon ganz gut. Immerhin hatte er seiner Mutter als Kind häufig geholfen, oder ihr zugeschaut und hatte dabei einiges mitbekommen.

Aus diesem Grund befand er sich an diesem Nachmittag in dem Gemischtwarengeschäft um für das Abendessen für sich und seine Vermieterin einzukaufen. Von seinem Standort aus weit hinten im Geschäft wurde er Zeuge einer Szene, in dessen Mittelpunkt sich eine ärgerlich und angestrengt wirkende Kathryn Levroux befand. Jene Frauen, die sich da zusammengetan hatten, um der Frau das Leben schwer zu machen, erkannte er als die Kirchenkreisdamen, welche er bei früherer Gelegenheit bereits kennengelernt und allesamt spontan als unangenehm empfunden hatte.

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich James, wieso angeblich gottesfürchtige Menschen häufig so bitter und freudlos wirkten und auf andere Leute mit dem Finger zeigten, anstatt ihnen mit Freundlichkeit und Mitgefühl zu begegnen, wie es doch eigentlich Christenpflicht wäre.
 

James belauschte die Szene, konnte zwar nicht alles verstehen, jedoch konnte er deutlich hören, wie Madame Levroux unter anderem als die „Hure von Babylon“ betitelt wurde. Überdies echauffierten diese Damen sich natürlich über die Hosen, welche Kathryn Levroux trug.
 

Die derart Geschmähte versuchte sich nun zur Kasse vorzudrängen, was die Damen ihr jedoch dadurch erschwerten, indem sie ihr provokativ den Weg verstellten. Als Kathryn nun unmittelbar vor Gretchen Schultz stand, hörte der Deputy, wie diese Kathryn ins Gesicht zischte:

„ Du solltest dich schämen, Dirne!“
 

Nun hielt James nichts mehr in seiner Ecke.

Kühnheit war nicht unbedingt einer seiner Wesenszüge, weswegen er auch selbst nicht begriff, was er nun tat. Er trat energisch vor, walzte ein wenig rüde mitten durch das Grüppchen, wobei er sich grüßend an seinen Hut tippte und forsch sagte:

„Meine Damen!“

Dann wandte er sich lächelnd an Kathryn:

„Madame Levroux! Wie angenehm, sie wiederzusehen. Wenn sie erlauben, werde ich ihnen bei ihren Einkäufen helfen.“
 

Ehe die Angesprochene etwas erwidern konnte, hatte der Deputy ihre Taschen bereits ergriffen.

Sprachlos bezahlte Kathryn ihre Einkäufe und auch den Damen fiel zunächst lediglich die Kinnlade herunter und keine wusste etwas zu sagen.
 

Das Gesicht von Gretchen Schultz war eine bleiche wächserne Maske der Verärgerung:

„Deputy, sie sollten ihre Freunde in diesem Ort mit größerer Klugheit wählen. Diese Frau ist eine Hure und wahrscheinlich gar Schlimmeres!“ schnappte sie säuerlich:
 

„Das war Maria Magdalena auch, richtig?“ erwiderte James schlagfertig und an Kathryn gewandt fragte er: „Wollen wir dann gehen?“
 

Kathryn war immer noch vollkommen perplex über diese Hilfe von unerwarteter Seite. Zum Abschied lächelte sie den Damen mit falscher Freundlichkeit zu und wünschte süßlich einen schönen Tag.
 

Draußen sagte sie an James gewandt:

„Wissen sie, Deputy, Ms. Schultz hat recht! Es war sicherlich keine kluge Entscheidung, dass sie für mich auf diese Weise eingetreten sind.“ Dann fügte sie jedoch mit einem warmen Lächeln hinzu: „Dennoch ist es sehr edel von ihnen, es dennoch zu tun und ich danke ihnen dafür!“
 

James erwiderte schüchtern ihr Lächeln:

„Nein, klug war es wohl nicht und doch war es mir ein besonderes Vergnügen!“ entgegnete er und zwinkerte ihr mit seinen lebhaft grünen Augen zu.
 

Kathryn machte Anstalten, ihm die Taschen wieder abzunehmen und verkündete:

„Haben sie jedenfalls vielen Dank, aber ich glaube, den Rest des Weges schaffe ich es schon.“
 

Der Deputy ließ jedoch die Taschen nicht los und antwortete:

„Erlauben sie mir, ihnen das nachhause zu tragen. Ich habe Zeit und es wäre mir eine Freude.“
 

Kathryn fiel kein höflicher Weg ein, ihren Retter loszuwerden und so ließ sie ihn zunächst gewähren, während sie gleichzeitig nervös darüber nachdachte, wie sie verhindern sollte, dass der Deputy zuhause zufällig auf Joe traf.

Beim Wohnhaus eingetroffen, hatte sie schließlich einen Plan gefasst. Entschlossen nahm sie dem jungen Mann nun doch noch die Einkäufe ab und bedeutete ihm, sich auf die Bank auf der Veranda zu setzen:

„Wenn sie noch Zeit haben, dann mache ich uns rasch einen Kaffee?“ bot sie an.
 

Der Gesetzeshüter nickte und so verschwand Kathryn im Haus.

In der Küche traf sie auf Tiny, welcher gerade das Abendessen zubereitete. Aufgeregt eilte sie zu ihm und flüsterte:

„Vor der Tür sitzt unser neuer Deputy. Sorge unbedingt dafür, dass Joe sich nicht blicken lässt und dass alle gewarnt sind. Ich mache derweil für ihn und mich Kaffee auf der Veranda.“
 

Tiny riss erstaunt die Augen weit auf und flüsterte zurück:

„Bist du übergeschnappt, uns Besuch aus dem Sheriffsdepartment einzuladen? Ausgerechnet jetzt? Was denkst du dir nur dabei?“
 

„Ich hatte leider keine große Wahl“ gab sie zurück: „Und nun kümmere dich bitte um alles und ich beschäftige solange den Burschen da draußen. Würdest du uns den Kaffee bringen, wenn er fertig ist? Ich erkläre es dir später, O.K?“
 

Tiny antwortete mit einem genervten Nicken und Kathryn ging wieder hinaus, um sich neben Deputy Chester zu setzen:

„Und? Wie gefällt es ihnen denn nun in unserem kleinen Städtchen?“ wollte sie wissen.
 

Der junge Mann überlegte kurz und antwortete:

„Ich bin mir nicht sicher. Bislang habe ich hier sehr unterschiedliche Menschen getroffen und nicht alle waren mir angenehm. Nehmen wir zum Beispiel diese Damen von vorhin: Wie können Menschen im Namen Gottes so hässlich über andere Menschen sprechen. Ich meine…“ er zögerte kurz und errötete leicht: „ ...wahrscheinlich kennen diese Frauen sie doch gar nicht richtig, stimmt` s“

Nach seinem mutigen und forschen Auftreten vorhin im Geschäft, klang der Deputy nun sehr jung und naiv, doch was er sagte, rührte Kathryn ein wenig. Das jemand außerhalb ihres kleinen Zirkels bereit war, sie unvoreingenommen kennenzulernen war etwas, dass sie beinahe nie erlebte.

Und für gewöhnlich hatten Männer, die freundlich zu ihr waren im nächsten Moment auch schon die Hand auf ihrem Hinterteil.
 

In diesem Augenblick trat Tiny mit dem Kaffee und zwei Bechern zu ihnen an den Tisch und schenkte ihnen ein:

„Ich wusste nicht, dass sie Hausangestellte haben.“ bemerkte der Deputy.
 

Tiny ließ die Blechkanne mit einem lauten „Rumms“ auf den Tisch knallen und nahm ihn eisig ins Visier.

Der junge Mann merkte sofort, dass er gewaltig ins Fettnäpfchen getreten war, obwohl Tiny kein Wort sagte und versuchte nun zurück zu rudern:

„Ich meine...Entschuldigung! Ich wollte niemanden kränken!“ stotterte er mit ängstlichem Blick auf den großen schwarzen Mann.
 

Kathryn, die sich bei dieser ganzen Szene ein Lachen verbeißen musste, schaltete sich nun ein und erklärte:

„Nein Deputy, bei uns gibt es keine `Hausangestellten´. Alle die hier in diesem Haus leben sind einander gleichgestellt. Der einzige Unterschied zwischen mir und den Anderen ist, dass auf der Besitzurkunde für das „Yasemines“ mein Name steht, doch das ist nur eine Formalität, die für unser Zusammenleben keine Bedeutung hat.“
 

James Chesters Gesicht verfärbte sich zunächst leicht rosa und wechselte seine Farbe schließlich zu einem ungesunden dunkelrot, als er es noch einmal wagte, zu Tiny aufzublicken, um unglücklich zu wiederholen:

„Es tut mir wirklich sehr leid, ähm...Sir!“
 

Tiny, starrte den jungen Deputy weiterhin mit einem finsteren Blick nieder und sagte noch immer kein Wort. Irgendwann kehrte er ihnen dann den Rücken zu und stapfte mit energischen Schritten zurück ins Haus.
 

Als er fort war, sagte Kathryn lächelnd:

„Machen sie sich darüber bitte keine Gedanken. Tiny beruhigt sich schon wieder.“
 

„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid. Ich bin noch nicht vielen schwarzen Menschen begegnet und wenn, dann waren sie immer...“ stammelte James unglücklich:
 

„Ich weiß!“ antwortete Kathryn gutmütig: „Vergessen sie es einfach. Tiny ist ein guter Kerl und eigentlich nicht nachtragend.“
 

„Er ist wirklich sehr groß und...beeindruckend!“ Bemerkte James.
 

Kathryn lachte kurz:

„Ja, das ist er! Insbesondere, wenn er sauer ist!“
 

James stellte fest, dass viel Zuneigung in der Art und Weise mitschwang, wie Kathryn das sagte. Der junge Mann nahm seinen ganzen Mut zusammen, um die folgende Frage zu stellen:

„Ist... ist er ihr Ehemann. Madame?“
 

Kathryn prustete laut lachend so:

„Nein, das ist er nicht.“ versicherte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte:
 

„Nun habe ich wohl wieder etwas Dummes gesagt?“ fragte der Deputy verunsichert.
 

Kathryn schüttelte den Kopf:

„Warum sollte das etwas Dummes gewesen sein? Die Antwort ist Nein! Ich liebe Tiny, doch ich liebe ihn nicht auf diese Weise.“

Und nun erzählte sie ihm eine verkürzte Version ihrer gemeinsamen Geschichte; dass sie seit Kindertagen wie Geschwister gewesen und irgendwann zusammen durchgebrannt sind und seitdem ihr ganzes Leben miteinander verbracht hatten.

Sie ließ jedoch alle Informationen darüber weg die verrieten, woher sie ursprünglich einmal gekommen waren, was sie auf ihrer Flucht erlebt hatten und gab nur wenige Details über ihr Leben seit ihrer Ankunft in Millers Landing preis.

Kathryn bemerkte, dass sie Sympathie für den jungen Mann entwickelte, doch sie war sich bewusst, dass sie auf unterschiedlichen Seiten standen und war noch weit davon entfernt, ihm zu vertrauen. Dazu müsste sie ihn noch viel besser kennenlernen:

„Nun wissen sie Manches über mich Deputy. Wollen sie sich nicht revanchieren und ein wenig von sich erzählen? Wie hat es sie zum Beispiel nach Millers Landing verschlagen?“

Teils steckte hinter der Frage echtes Interesse an seiner Person, doch es war auch Berechnung, um zu erfahren, mit wem sie es zu tun und was sie möglicherweise schlimmstenfalls von ihm zu erwarten hatte, denn so machte sie es heutzutage mit Menschen, welche nicht zu ihrem engsten Kreis gehörten. Das Leben mit all seinen Verletzungen, welches sie bisher geführt hatte, hatte sie vorsichtig werden lassen.

Umso beeindruckter war sie nun von der ehrlichen Art, mit der der Deputy ihr antwortete:
 

„Mein Umzug hierher und die Arbeit als Deputy waren die Idee meines Vaters.“ erklärte er: „Ihm war ich immer zu weich oder was auch immer. Er hofft wohl, dass diese Tätigkeit als Gesetzeshüter mich härter machen werden und das tägliche Zusammensein mit einem echten Kerl wie dem Sheriff irgendwie auf mich abfärbt. Manchmal glaube ich, dass es seit dem Tag meiner Geburt keinen Augenblick gegeben hat, an dem mein alter Herr mit dem was ich tat, zufrieden gewesen wäre. Er hat stets versucht, mich und mein Leben nach seinen Vorstellungen zu formen. Ich konnte ihm nie wirklich viel entgegensetzen.“ endete er und lächelte traurig.
 

Gern hätte Kathryn ihm gesagt, dass das, was er heute für sie im Laden getan hatte in ihren Augen einen starken Mann, einen starken Menschen ausmachte; sich über Konventionen hinwegzusetzen, seinen eigenen Standpunkt vor Anderen zu vertreten und sich ohne Rücksicht auf die eigene Stellung für einen anderen einzusetzen, der in diesem Moment der Unterlegene war, doch irgendwie kamen die Worte nicht über ihre Lippen.
 

Unvermittelt erhob sich James:

„Ich denke, es wird Zeit, dass ich gehe. Ich habe schon zu viel ihrer Zeit in Anspruch genommen.“ verkündete er.
 

Kathryn erhob sich ebenfalls, nahm seine Rechte in ihre beiden Hände, drückte sie ein wenig länger als nötig und blickte ihm geradewegs in die Augen:

„Ich danke ihnen für das angenehme Gespräch und natürlich für meine Rettung heute. Ich werde das nicht vergessen. Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.“
 

„Ja, ich auch!“ entgegnete James schüchtern lächelnd und machte sich auf den Weg.
 

Zurück in der Küche des Hauses wurde Kathryn bereits von Tiny erwartet:

„Ein Hausangestellter!“ fragte dieser entrüstet.
 

Kathryn grinste breit:

„Ach, nun beruhige dich wieder. Es tat ihm wahnsinnig leid. Und ich muss sagen, der Junge ist wirklich in Ordnung.“

Kathryn gab Tiny einen kurzen Bericht über die Erlebnisse des Nachmittags.
 

Dieser hörte aufmerksam zu, und bestätigte stirnrunzelnd:

„Ja, das klingt wirklich so, als sei er ganz in Ordnung.“

Seine Stimmung schlug um und er fragte amüsiert:

„Hast du das mitgekriegt: Er hat mich „Sir“ genannt. Das hat noch kein weißer Mann je getan. Da heißt es immer bloß „Junge, tu dies“ oder „Junge, tu das“!“
 

In diesem Moment kam Joe um die Ecke, der wohl die letzten paar Sätze der Unterhaltung mitbekommen haben musste und schaltete sich frech in das Gespräch ein:

„Wenn es Dir gefällt, „Sir“ genannt zu werden, dann werde ich das vielleicht in Zukunft auch tun. Was sagst du?“ fragte Joe grinsend und legte seine Arme um ihn.
 

Tiny erwiderte das Lächeln, zog den jungen Mann fest an sich, küsste ihn auf die Stirn und entgegnete:

„Mir wäre es lieber, wenn du das bleiben lässt. Sonst fühle ich mich nämlich noch älter.“
 

Joe grinste und entgegnete salutierend:

„Sehr wohl, Sir!“
 

Auf dem Heimweg fühlte James sich plötzlich verunsichert. Hatte er sich eigentlich gerade komplett lächerlich gemacht? Als er an die Fehlinterpretation der Rolle dieses Tiny zurückdachte, ließ dies seinen Kopf ein weiteres Mal vor Scham rot anlaufen.
 

Und dann fiel James wieder ein, wie offenherzig er über die Beziehung zu seinem Vater gesprochen hatte. Was musste Kathryn Levroux nun bloß von ihm denken? Wenn er zugab, dass der eigene Vater ihn für einen Schwächling hielt, wie konnte sie dann jetzt noch etwas anderes als das in ihm sehen? Und sein Auftritt in dem Geschäft? Als ob eine starke Frau wie Levroux einen dürren, blassen Burschen wie ihn bräuchte, der ihre Schlachten für sie schlug.

Je länger er darüber nachdachte, desto unglücklicher wurde er.
 

Doch dann fiel ihm etwas anderes wieder ein, nämlich die herzliche Art, wie sie zum Abschied seine Hand festgehalten und ihn aus diesen schönen, braunen Augen voller Wärme angeschaut hatte. Beides war ihm durch und durch gegangen. Vielleicht war ja doch nicht alles ganz so furchtbar, wie er befürchtete?

Wahrscheinlich war eine Frau wie Kathryn Levroux eine Nummer zu groß für ihn, doch das eine wurde ihm klar: Egal wie unbehaglich er sich dabei fühlte und wie aussichtslos es sein mochte, für einen Rückzug war es zu spät. Er war Hals über Kopf verliebt!

Das Recht und das Richtige

Als Lionel Cuttler an diesem Morgen auf dem Weg zu seinen Feldern aus einiger Entfernung das Rote Haus erblickte, fiel ihm wieder ein, dass er dem Sheriff noch berichten musste, was er vor drei Tagen dort beobachtet hatte. Der Junge, den er in der Nähe des Hauses gesehen hatte, konnte möglicherweise der sein, nach dem gesucht wurde. Zwar gab es Bengel, auf die diese Beschreibung zutraf zuhauf, doch Cuttler kannte seine Bürgerpflicht und wenn er dem Gesetz helfen konnte, so würde er dies tun, also hielt er auf dem Heimweg kurz im Sheriffsbüro, um seinen Bericht abzugeben.
 

Als dieser einfältige Farmer Cuttler an diesem Vormittag das Department betrat, verdrehte der Sheriff zunächst innerlich die Augen. Er konnte diesen Tölpel mit seinen geistlosen Kuhaugen und seiner simplen Art zu sprechen kaum ertragen.

Doch was der Mann heute zu berichten hatte, gefiel Snyder dann doch.
 

Gestern hatte der Sheriff ein Telegramm erhalten, mit welchem mitgeteilt wurde, dass der Vater dieses Joseph Harper mittlerweile verstorben sei. Der Anklagepunkt würde nun nicht mehr nur versuchter Mord, sondern Mord lauten.

Als Cuttler fort war, rief der Sheriff nach seinem Deputy, welcher zu diesem Zeitpunkt gerade hinten in einer der Zellen ein Nickerchen machte, da es bislang ein ruhiger Morgen gewesen war:
 

„Jimmy! Wach auf, Junge. Ich glaub` wir haben sie!“ rief er mit Triumph in der Stimme.

Innerlich malte er sich bereits aus, was die Verhaftung eines Mörders für seine Karriere und sein Ansehen bedeuten würde. Millers Landing war ein ruhiges, beschauliches Fleckchen Erde und die Arbeit des Sheriffs bestand in erster Linie darin, Schwarzbrenner und Viehdiebe zu verhaften und Schlägereien aufzulösen.

Mord war dagegen etwas vollkommen anderes!

Und wenn er überdies dann auch noch endlich dieser Levroux das Handwerk legen konnte, so war dies noch ein gewaltiger Bonus.
 

Als Jimmy endlich zu ihm nach vorn kam, berichtete er ihm aufgeregt die Neuigkeiten, allerdings reagierte dieser dämliche Junge längst nicht so erfreut, wie der Sheriff sich das gedacht hatte. Na ja, dass Jimmy offensichtlich etwas einfach gestrickt war, war Snyder ja vorher schon in den Sinn gekommen. Vielleicht musste er bloß deutlicher werden:

„Verstehst du nicht. Wenn da wirklich was dran ist, dann hab` ich die Schlampe. Ich mach ihr das verdammte Haus zu und bringe sie am Ende vielleicht sogar in den Knast. Dann hat mich das Miststück zum letzten Mal zum Narren gehalten. Wir gehen jetzt da rüber und stellen ihr das Haus auf den Kopf!“
 

„In Ordnung Sheriff! Gehen wir!“ erwiderte der Deputy zaghaft.
 

Und langsam dämmerte es Snyder, was es mit der Zurückhaltung des Jungen aus sich hatte: Die Prinzessin hatte offenbar Angst vor ihrem ersten großen Einsatz:

„Mach` jetzt bloß nicht schlapp, Junge! Und sieh` zu, dass deine Waffe auch geladen ist. Wir brauchen sie vielleicht.“ herrschte der Sheriff ihn an.
 

Einmal mehr wünschte Snyder sich Jimmys Vorgänger Larson zurück. Mit ihm wäre dies heute ein Abenteuer gewesen, doch der Junge vermasselte am Ende noch alles, bloß weil er sich in die Hosen machte!
 

James gingen die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf, als er sich an der Seite des Sheriffs auf den Weg zum Haus von Kathryn Levroux befand.

War es wirklich möglich, dass sie diesen Joseph Harper versteckte?

Als er sie vor ein paar Tagen nach dem Vorfall beim Einkaufen nachhause begleitet hatte; hatte sie da nicht ein wenig nervös gewirkt und hatte zunächst versucht, ihn loszuwerden?

Und sie hatte James nicht ins Haus gelassen, sondern auf der Veranda bewirtet!

Konnte es wirklich einen guten Grund geben, aus dem sie einen Mörder deckte?

Und wie konnte er, als Gesetzeshüter sie da beschützen?

Wo stand er selbst nun in der ganzen Angelegenheit?
 

James hoffte inständig, dass es einen guten Grund dafür geben musste, wenn Kathryn Levroux wirklich diesen Jungen verbarg. Sie war nicht dumm und musste um das Risiko für sich und ihre Leute wissen. Fieberhaft dachte James über eine Möglichkeit nach, Kathryn irgendwie zu warnen, doch es wollte ihm einfach nichts einfallen.
 

Am „Yasemines“ angekommen, steuerte der Sheriff zunächst das Wohnhaus an, wo er die Frauen und Tiny bei der Vorbereitung des Mittagessens antraf. Der Sheriff und der Deputy traten ein, ohne anzuklopfen, damit man nicht gewarnt war. Joe befand sich zu diesem Zeitpunkt oben in Tinys Zimmer und bekam von den Entwicklungen im unteren Stockwerk nichts mit.
 

Snyder grinste, als er seinen Text sprach, den er sich auf dem Weg schon zurechtgelegt hatte. Seine Waffe hielt er dabei gesenkt in seiner Rechten. Dies hier war SEIN Moment:

„Miss Levroux, meine Herrschaften, wir haben einen Hinweis erhalten, dass sie Joseph Harper unter ihrem Dach verstecken. Da sein Vater mittlerweile verstorben ist, suchen wir nunmehr nach einem Mörder. Wir werden die Gebäude nun Raum für Raum überprüfen. Ich muss sie bitten, zusammenzubleiben, denn wir wollen schließlich nicht, das der Verbrecher gewarnt wird und einfach verschwindet, richtig.“
 

Nachdem er seinen Text heruntergeleiert hatte, machte er sich nun daran, das untere Stockwerk zu durchsuchen.

Kathryn Levroux rief ihm ärgerlich:

„Sie haben kein Recht, in unser Heim einzubrechen.“

An den Deputy gewandt rief sie empört:

„Wollen sie nicht etwas unternehmen?“
 

Bevor James etwas erwidern konnte, erklärte der Sheriff, auf seine Waffe und seinen Stern deutend:

„Ich habe jedes Recht und auch die Verpflichtung, dies zu tun. Ich bin das Gesetz!“
 

„Er genießt das!“ stellte Kathryn im Stillen angewidert fest. Laut sagte sie:

„Wir haben ihren Jungen nicht! Verschwinden sie von hier! Sofort!“
 

Für einen kurzen Moment meinte der Sheriff Angst in Levrouxs Stimme zu hören, doch sicher war er nicht.
 

James hatte sich die Szene bislang noch von außen angeschaut und genauestens die Reaktionen der Personen im Raum beobachtet. Er glaubte in Kathryns Stimme Furcht wahrzunehmen und las diese auch in den Gesichtern aller anderen Anwesenden. Und Tiny schaute immer wieder die Treppe hinauf, vor der er sich wie ein Wachhund postiert hatte. Der Junge hielt sich also vermutlich im oberen Stockwerk auf.
 

James traf eine Entscheidung. Erzog seine Waffe und erhob sie gegen Tiny:

Sheriff! Ich werde oben nachsehen!“ rief er seinem Vorgesetzten zu.
 

Erfreut stellte der Sheriff fest, dass Chester nun endlich aufzuwachen schien. Insbesondere imponierte ihm, wie er sich dem riesigen schwarzen Kerl entgegenstellte. Selbst mit einer Waffe in der Hand; der Mann war ein Monster und konnte einem auch dann immer noch gefährlich werden.
 

Tiny verstellte dem Deputy weiterhin den Weg, den Blick abwechselnd auf die Waffe und dessen Augen gerichtet. Der junge Mann nahm Tiny entschlossen ins Visier:

„Lassen sie mich sofort durch!“ forderte er so scharf er konnte.
 

Tiny zögerte noch einen Moment und schien dann eine Entscheidung getroffen zu haben:

„Aber ich werde mit ihnen gehen, Deputy!“ teilte er mit.
 

James nickte:

„Es spricht nichts dagegen!“ erwiderte er selbstsicher, war sich aber dennoch dessen bewusst, dass er Tiny genau im Blick behalten musste, da dieser sicherlich schon seinen Angriff plante.
 

Oben betrat James Zimmer für Zimmer und durchsuchte diese, während Tiny im Gang stehen blieb und fieberhaft darüber nachdachte, was er tun konnte, um Joe zu schützen oder irgendwie zu warnen. Sein eigenes Zimmer, in welchem er seinen Liebhaber vermutete, war das letzte im Gang. Wenn er nun rufen würde, bekäme dies eventuell der Sheriff unten mit und es brächte die Frauen und Kinder in Gefahr.

Würde es ihm wohl gelingen, den Deputy trotz seiner Waffe überwältigen? Und würde auch das nicht auch wiederum genügend Krach machen, um den Sheriff zu alarmieren.

Tiny hatte keine Wahl; er musste hilflos mit ansehen, wie James seinem Zimmer immer näher kam und klammerte sich an die kleine Hoffnung, dass Joe irgendwie mitbekommen hatte, was unten vor sich ging und durch das Fenster verschwunden wäre.
 

James betrat schließlich Tinys Zimmer allein und auf dem Bett sitzend fand er einen Jungen, welcher der Beschreibung des Fahndungsplakats einigermaßen gut entsprach, bis auf die dunklen Haare, denn die hatte man ihm offenbar gefärbt. Der Junge starrte ihn, mit vor Schreck geweiteten Augen an und sog scharf Luft ein.

James legte den Zeigefinger auf seine Lippen, um dem jungen Mann zu bedeuten, sich still zu verhalten. Dieser gehorchte, gab keinen Laut von sich und wagte nicht einmal, sich zu bewegen. James verließ das Zimmer mit vorgehaltener Waffe, ließ die Tür offen und rief dann mit Blick auf Tiny in Richtung Treppe so laut er konnte:

„Hier oben ist alles sauber, Sheriff!“

Dann steckte er die Waffe wieder in ihr Holster. Tinys Blick wanderte verblüfft von James zu Joe, der immer noch reglos auf dem Bett saß.
 

„Gehen wir wieder runter? Es gibt doch noch ein weiteres Haus, in dem wir nach unserem Flüchtigen suchen müssen.“ schlug James zwinkernd vor.
 

Tiny versuchte immer noch zu verstehen, was gerade passiert war. War der Deputy denn wirklich so dumm, auf die gefärbten Haare hereinzufallen. Doch sein Blick sagte eher, dass er genau wusste, was vor sich ging, dass er jedoch aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, Joe laufen zu lassen. Tiny atmete ein klein wenig auf.
 

Nachdem das Wohnhaus ein Reinfall gewesen war und sich auch in der Scheune nichts Verdächtiges hatte finden lassen, betrat Snyder nun in Begleitung von Kathryn Levroux das andere Gebäude. Die anderen Leute hatte er draußen bei seinem Deputy zurückgelassen. Es erschien ihm so leichter, zu gewährleisten, dass niemand Joseph Harper warnte oder zu verbergen versuchte. Er MUSSTE hier einfach irgendwo sein!
 

Dem Sheriff war das „Yasemines“ bereits so lange ein Dorn im Auge gewesen, doch in Wirklichkeit hatte er es noch nie betreten. Zunächst war er ein wenig enttäuscht, als er erstmals einen Fuß hineinsetzte, weil es so vollkommen unspektakulär wirkte. Im Erdgeschoss gab es eine Bar, etliche Tische, ein Klavier und eine kleine Bühne. Es sah haargenau so aus, wie in jeder anderen Bar, welche Snyder je betreten hatte. Ansonsten befanden sich im unteren Geschoss nur noch eine kleine Küche hinter dem Tresen und ein Waschraum mit Toiletten.

Von dem Gesuchten war keine Spur zu sehen. Also gingen sie nun ins obere Stockwerk. Dort gab es einen Flur von dem links und rechts Zimmer abgingen, welche sie nun eins nach dem anderen betraten und durchsuchten. Auch hier wurde Snyders Hoffnung, irgendetwas Außergewöhnliches zu Gesicht zu bekommen zunächst enttäuscht. Es waren einfach nur hübsch eingerichtete Schlafzimmer und auch in ihnen fand sich der gesuchte Vatermörder nicht.

Lediglich eines der Zimmer unterschied ein wenig von den anderen. Es war weniger gemütlich und es fanden sich dort verschiedene Objekte, deren Verwendung Snyder sich nicht einmal vorstellen konnte. Unter dem wachsamen Blick Kathryn Levrouxs traute sich Snyder nicht, alles so genau in Augenschein zu nehmen, oder sich hier länger als nötig aufzuhalten, obwohl er sich insgeheim gern ein wenig umgesehen hätte.

Dafür würde das Gesehene ihn jedoch heute Nacht noch in seine Träume verfolgen.
 

Frustriert musste Snyder seine Suche schließlich abbrechen. Dabei war er sich doch so sicher gewesen, dass er Joseph Harper hier finden würde!

Und allzu gern hätte er diesen Schandfleck in seiner kleinen endgültig beseitigt!
 

Als die Gesetzeshüter verschwunden waren, versammelten sich die erwachsenen Bewohner des Hauses ein weiteres Mal in der Küche. Auch Joe, der bis jetzt verängstigt oben im Schlafzimmer ausgeharrt hatte, wurde dazu geholt. Er war immer noch kreidebleich und schmiegte sich eng an Tinys Seite.

Allen steckte der Schrecken noch in den Knochen und sie blickten einander verwirrt und verunsichert an.
 

Shy war die Erste, die ihre Stimme wieder fand:

„Was zum Teufel war das denn? Wer hat uns verraten. Und wie hat der Deputy Joe übersehen können?“
 

Tiny ergriff das Wort und berichtete nun, was sich vorhin im Obergeschoss des Wohnhauses abgespielt hatte.

„Ich weiß nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund hat der Deputy sich dann entschlossen, Joe nicht zu verraten.“ schloss Tiny seinen Bericht.
 

Kathryn hatte sich alles genau angehört und entgegnete nun stirnrunzelnd:

„Ich schätze, wir werden seine Beweggründe noch erfahren. Zunächst einmal bin ich erleichtert, dass wir nun fürs Erste wieder sicher sind. Alles andere werden wir abwarten müssen.“
 

Das Treffen löste sich auf und alle nahmen langsam wieder ihr Tagwerk auf. Kathryn und Tiny hatten Joe jedoch noch etwas zu berichten, von dem sie nicht wussten, wie er es aufnehmen würde. Zu dritt saßen sie auf dem Bett in Tinys Schlafzimmer mit Joe in ihrer Mitte. Der junge Mann blickte unsicher von dem Einen zu der Anderen und Kathryn beschloss, ihn nicht länger auf die Folter zu spannen:

„Der Sheriff hat mitgeteilt, dass dein Vater inzwischen verstorben ist.“ erklärte sie schlicht.
 

Tiny und Kathryn warteten Joes Reaktion auf diese Eröffnung ab, doch dieser sagte zunächst gar nichts. Auf seinem Gesicht zeigten sich verschiedene Regungen wie Angst, Ärger und Unsicherheit. Dann brachte er lediglich nüchtern hervor:

„Das war ja wohl zu erwarten gewesen.“

Er rollte sich auf dem Bett zusammen, schwieg und starrte mit glasigem Blick vor sich hin.
 

Kathryn und Tiny blickten einander ratlos an. Kathryn streichelte Joe noch einmal sanft über Schulter und Rücken und gab ihrem besten Freund einen Kuss auf die Stirn, ehe sie sich leise zurückzog und die beiden Männer allein ließ.
 

Den Rest des Tages verbrachte James mit Grübeleien. Er hatte, um Kathryn Levroux, eine Fremde mit schlechtem Ruf zu schützen, einen Mörder gedeckt und wusste nicht, was das für Konsequenzen für ihn oder irgendwen sonst haben würden. Vor allem aber wusste er nicht, ob er überhaupt auf der richtigen Seite stand?

Er hatte seinem Gefühl vertraut, doch war er sich nicht sicher, ob er das momentan überhaupt konnte?

Er sah das Bild der schönen Kathryn vor seinem inneren Auge und alles andere schien daneben bedeutungslos zu werden.

Aber was, wenn sie gar nicht das war, was er in ihr sehen wollte, sondern doch bloß das, was beinahe jeder in Millers Landing von ihr hielt.

Nach dem Einsatz im Roten Haus hatte Snyder James für seinen beherzten Einsatz gelobt. Das erste freundliche Wort aus dem Mund des Sheriffs und das für einen Verrat! James fühlte sich unbehaglich. Lüge und Falschheit lagen ihm einfach nicht.
 

Gegen Abend wusste James, was er tun musste: Er musste mit Kathryn sprechen, sie fragen, was vor sich ging.

Er musste sich Gewissheit verschaffen, wo er stand!
 

Hubert Snyder war immer noch untröstlich angesichts des Misserfolges des heutigen Tages. Als er mit Jimmy die Aktion hatte abbrechen und sich zurückziehen müssen, war sein Blick noch einmal auf diese Kathryn Levroux gefallen: Dieses unberührbare, eisige Gesicht eines satanischen Engels. Er hatte Triumph darin gelesen und das hatte ihn so wütend gemacht, dass am liebsten seine Waffe gezogen und abgedrückt hätte. Er hätte ihr dann mitten in das schöne Gesicht geschossen und dieses Trugbild für immer zerstört.

Nun konnte er lediglich die Augen schließen und es sich in allen Facetten ausmalen.
 

Als er am Abend sein Heim betrat, fand er alles genauso vor, wie an jedem anderen Tag: Im Ofen wartete etwas zu Essen auf ihn und Lydia saß über ihren Handarbeiten. Wie immer sagte sie nichts, blickte auch nicht auf, als er eintrat. Snyder erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als sie jung waren. Sie hatten sich kennengelernt und waren sich gleich sympathisch gewesen. Zugegeben: Lydia war nicht unbedingt die schönste Frau, die er je gesehen hatte und er hatte nie eine wirklich große Leidenschaft entwickelt, doch sie war ein anständiges Mädchen gewesen und sie waren gut miteinander ausgekommen. Er vermutete, dass sie ähnliche Empfindungen ihm gegenüber gehabt hatte. Ihrer beider Familien und Freunde erwarteten, dass Lydia und er eines Tages heiraten würden und genau das taten sie dann schließlich auch.

Sie führten eine gute Ehe, bekamen drei Söhne und stritten selten. Lydia führte das Haus und war eine liebevolle Mutter und er war ein guter Ehemann, der sie nie geschlagen oder betrogen hatte. Doch nun waren die Jungs längst groß und hatten im Haus eine große Stille zurückgelassen. Lydia und ihm waren die Gesprächsthemen bereits vor langer Zeit ausgegangen. Und sie berührten einander nicht mehr. Sie gaben einander nicht einmal mehr einen Kuss zur Nacht. So war wohl einfach der Lauf des Lebens.
 

Snyder setzte sich mit seinem Abendessen an den Tisch und starrte hinüber zu seiner Frau. Er suchte in dem Gesicht der älteren Frau das junge Mädchen, welches er geheiratet hatte und fand es nicht mehr.
 

James hatte ausgeharrt bis zur Dunkelheit, da er nicht gesehen werden wollte, doch nunmachte er sich auf den Weg ins „Yasemines“. Dort angekommen, linste er heimlich durch das Fenster der Bar. Er sah Kathryn hinter dem Tresen stehen und einigen Betrunkenen nachschenken. Insgesamt schien es ein ruhiger Abend zu sein.

Er war wie gebannt von ihrem melancholischem Blick und den schönen flammend roten Locken, welche ihr locker über den Rücken fielen. Aus diesem Grund nahm er auch nicht die Bewegung hinter seinem Rücken wahr. Erst als eine große Hand ihn fest im Nacken packte, bemerkte er, dass er entdeckt worden war.
 

„Was machen sie hier Deputy?“ fragte Tiny gebieterisch, ohne seinen Griff auch nur im Geringsten zu lockern.
 

James versuchte, sich zu befreien, doch Tinys Hand war wie ein riesiger Schraubstock.

„Lassen sie mich los. Ich muss mit Madame Levroux sprechen.“ forderte er und mühte sich redlich, nicht so hasenfüßig zu klingen, wie er sich in dieser Minute fühlte.
 

Tiny blickte den jungen Mann finster an und hielt ihn immer noch fest:

„Ich habe sie alle heute gerettet und nun brauche ich ein paar Antworten. Schicken sie Madame Levroux zu mir hinaus.“ forderte James den viel größeren und stärkeren Mann tapfer auf.
 

Und tatsächlich öffnete Tiny nun seine Schraubstockhände und antwortete:

„In Ordnung! Warten sie hier. Ich werde sie holen gehen!“
 

Wenig später kam Kathryn aus der Bar und bedeutete James, ihr zu folgen. Sie nahmen auf der Veranda vor dem Wohnhaus Platz, wo sie beim letzten Mal schon gesessen hatten und Kathryn entzündete eine kleine Öllampe.
 

„Ihr Freund ist wirklich ein sehr beeindruckender Kerl.“ kommentierte James ein wenig ärgerlich und rieb sich den Nacken.
 

„Hat er ihnen wehgetan?“ wollte Kathryn wissen.
 

James schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich.“ erwiderte er: „Aber es wäre sicherlich ein Leichtes für ihn gewesen, das zu tun.“
 

Kathryn schenkte James ein kleines Lächeln, als sie zurückgab:

„Er schätzt es eben nicht, wenn jemand in der Dunkelheit auf unserem Land herumstreicht.“
 

„Ich dachte, ich hätte wenigstens ein klein wenig Vorschussvertrauen verdient, nach dem, was ich heute für sie alle heute riskiert habe.“ entgegnete James grimmig.
 

Kathryn antwortete kalt:

„Vielleicht fragt Tiny sich, was sie von uns als Gegenleistung erwarten. Ich weiß, dass ich das getan habe. Also was ist es, das sie wollen Deputy: Geld? Alkohol? Gefälligkeiten vielleicht?“
 

Selbst in der Dunkelheit konnte Kathryn die Bestürzung auf James Chesters Gesicht erkennen, als er eilig antwortete:

„Es ist nichts dergleichen, das schwöre ich ihnen! Ich muss lediglich wissen, was hier vorgeht. Warum verstecken sie einen Mörder?“
 

Kathryn schwieg eine Weile nachdenklich.

Was konnte sie dem jungen Deputy sagen, wie weit ihm vertrauen?

Es stimmte, er hatte zweimal viel für sie riskiert, also verdiente er doch auch ein paar ehrliche Antworten, oder nicht?

Also beschloss Kathryn, ganz entgegen ihrer Natur, sich James ohne Wenn und Aber anzuvertrauen. Sie berichtete davon, wie Joe zu ihnen gekommen war, in welchem Zustand er sich damals befunden hatte, was wirklich zwischen Joe und seinem Vater vorgefallen und das es Notwehr gewesen war. Sie erzählte ihm auch, welchen Grund Joes Vater zu haben geglaubt hatte, seinen Sohn ermorden zu wollen. James lauschte dem Bericht aufmerksam und sagte dann ein wenig naiv:

„Aber wenn Joseph sich doch nur verteidigt hat, warum sollte man das dann nicht dem Richter überlassen?“
 

Kathryn riss ungläubig die Augen auf, um den jungen Mann gleich darauf wütend anzufahren:

„In welcher Welt leben sie eigentlich, Deputy. Eine blutdürstige Meute würde den Jungen schon gern am Galgen baumeln sehen, allein für das was er IST! Niemand würde ihm glauben. Und was denken sie würden die anderen drei Männer, die an der Tat beteiligt gewesen sind, wohl vor Gericht aussagen, hm?“

Kathryn schüttelte zornig den Kopf.
 

James erwiderte kleinlaut:

„Aber das ist nicht gerecht!“
 

Kathryn schaute ihn ungläubig an, doch dann spürte sie, wie etwas in ihr zu schmelzen begann. Sie atmete tief durch, legte eine Hand auf die seine und bestätigte:

„Nein, das ist nicht gerecht!“
 

James traf die kleine Berührung wie ein Stromschlag und um davon abzulenken fragte er:

„Aber wie soll es nun weitergehen? Es ist sehr gefährlich, wenn Joseph Harper bei ihnen bleibt. Die gefärbten Haare werden ihn sicher nicht dauerhaft schützen. Warum für einen fremden Jungen ein solches Risiko eingehen?“
 

Kathryn nickte.

„Das ist sicherlich schwer für sie nachzuvollziehen, richtig Deputy? Aber Joe hat keinen Platz auf der Welt, an den er gehen kann und an dem er sicher wäre und darum haben wir ihn aufgenommen. Er ist kein Fremder mehr für uns. In diesem Haus sind wir alle auf die eine oder andere Weise Außenseiter. Jeder bringt seine eigene, teils sehr schwierige Geschichte mit. Wir haben Joe ins Herz geschlossen. Und dann ist da noch etwas...“

Kathryn erklärte dem staunenden Polizisten die wahre Natur der Beziehung von Joe und Tiny.
 

James blickte Kathryn fassungslos an:

„Sie meinen, der Junge und der Große, die sind... ein Paar? Wie ist das denn überhaupt möglich?“
 

„Wie meinen sie das Deputy? Die Liebe mag von außen manchmal merkwürdig aussehen, doch wir wählen nun einmal nicht, wen wir lieben.“ antwortete Kathryn streng: „Und wenn sie mich fragen, dann ist Liebe ein viel zu seltenes Gut in dieser kalten, grausamen Welt. Sie verdient sie in jedem Fall unseren Respekt!“
 

James wusste darauf nichts zu antworten, doch die Worte `Wir wählen nicht, wen wir lieben´ trafen ganz gut seine eigene Situation und so gab er nachdenklich zurück:

„Wahrscheinlich haben sie Recht!“
 

Kathryn nickte wohlwollend. Dann musste sie noch eine Sache wissen:

„Wie haben der Sheriff und sie eigentlich davon erfahren, dass Joe sich hier aufhält?“
 

„Ein Farmer aus der Umgebung glaubte, den Jungen gesehen zu haben. Vielleicht sollten sie in den nächsten Monaten dafür sorgen, dass Joe das Haus nicht verlässt.“
 

Kathryn nickte und spürte, dass es eine weitere wichtige Frage gab, die sie stellen musste:

„Deputy, warum tun sie das alles für uns?“

Sie blickte ihn prüfend an.
 

James räusperte sich und antworte:

„Es scheint mir das Richtige zu sein,…“ und er flüsterte beinahe, als er fortfuhr, „…und ich tue es sie, Madame!“
 

Kathryn hoffte, die letzten Worte nicht richtig verstanden zu haben und beschloss, sie ganz einfach zu ignorieren. Stattdessen sagte sie sachlich:

„Wir alle stehen in ihrer Schuld Deputy.“

Und ohne groß nachzudenken, einem Impuls folgend fügte sie noch hinzu:

„Wir werden am Freitag in zwei Wochen hier übrigens eine kleine Feier haben. Möchten sie vielleicht dazukommen? Zum Beispiel nach Anbruch der Dunkelheit. Ich denke nämlich, es ist besser, wenn sie hier in nächster Zeit niemand sieht.“
 

Der Deputy nickte verlegen und erwiderte.

„Ich würde sehr gern kommen.“
 

In dieser Nacht träumte Hubert Snyder, er sei wieder in jenem speziellen Raum im Obergeschoss des „Yasemines“ und schaute sich in aller Ruhe um. Plötzlich spürte er eine weitere Präsenz im Raum, wendete sich um und glaubte hinter sich Lydia zu erblicken. Er musste zweimal hinschauen, denn Sie war es und gleichzeitig war sie es auch nicht: Sie war jünger als heutzutage, trug ihr Nachthemd vorn offen und ihr normalerweise dunkelblondes Haar leuchtete in flammendem Rot.
 

Der Sheriff erwachte mit ängstlich rasendem Herzen und schweißgebadet.

Erstarrt

Joe hatte das Zimmer nicht mehr verlassen, seit er die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten hatte. Er lag noch immer zusammengerollt auf dem Bett und hatte seine Lage über Stunden so gut wie nicht verändert. Tiny hatte tagsüber mehrmals nach ihm gesehen, sich zu ihm gesetzt, ihn gestreichelt und versucht, mit dem jungen Mann zu sprechen, doch erfolglos: Er lag und atmete; damit schien das Maximum des Möglichen bereits erreicht.
 

Joe hatte keine nennenswerten Gedanken oder Gefühle, während er auf diese Weise vor sich hin stierte, nur diese Unfähigkeit, sich zu rühren, sich zu äußern oder irgendetwas zu unternehmen.

Und da es nichts gab, was er tun konnte, ließ Tiny Joe zunächst in Ruhe.
 

Schließlich kam die Nacht. Tiny kroch zu dem jungen Mann ins Bett und legte einen Arm um ihn. Joe fühlte es kaum, doch er ließ geschehen.

Schließlich schlief Tiny ein und auch Joe fiel für einen Moment in einen leichten Schlaf, von dem er nicht hätte sagen können, wie lang er gedauert hatte.

Als er wieder erwachte, war immer noch stockfinstere Nacht. Er öffnete die Augen, doch er konnte absolut nichts sehen, hatte jedoch das grauenhafte Gefühl, die Schlafzimmerwände kämen rasant auf ihn zu. Und schlagartig wurde auch die Atemluft knapp.

Trotzdem er schreckliche Angst hatte, blieb Joe noch eine Weile im Bett liegen, bis er schließlich spürte, dass er es einfach nicht mehr aushielt.
 

Tiny erwachte von Geräuschen im Zimmer. Als er die Augen öffnete, erblickte er Joe, welch Vorhänge und Fensterläden aufgerissen hatte, wie er im dürftigen Licht der Sterne verkrampft dastand und keuchend und würgend atmete. Er war so weit aus dem Fenster gelehnt, dass es fast so aussah, als wollte er springen. Verwirrt stand Tiny aus dem Bett auf und trat hinter ihn. Als er den jüngeren Mann lediglich sanft an seinen Armen berührte, zuckte dieser heftig zusammen und begann zu zittern.

Tiny verstand nicht, was hier vor sich ging und Furcht ergriff ihn. Er berührte Joe zart an den Schultern und flüsterte, dass alles wieder gut werden würde, doch der junge Mann schien seine Anwesenheit überhaupt nicht zu wahrzunehmen.
 

In seiner Hilflosigkeit riss Tiny seine Zimmertür auf und rief nach Kathryn, welche gegenüber wohnte. Diese reagierte nicht sofort, also rief er lauter und nach dem dritten Mal wurde endlich Kathryns Tür geöffnet. Sie kam hereingerannt und mit ihr auch Shy, welche ihr Zimmer zwei Türen weiter hatte und durch die Schreie ebenfalls wach geworden war. Kathryn entzündete eine Öllampe und wollte wissen, was vor sich ginge:
 

„Ich weiß es nicht.“ entgegnete dieser ängstlich: „Als ich aufgewacht bin, war er schon in diesem Zustand.“
 

Auch Kathryn war ratlos und tat, was Tiny bereits erfolglos probierte hatte: Sie sprach beruhigend auf Joe ein und streichelte ihn sanft, doch er zitterte und hyperventilierte weiterhin.
 

Nun mischte Shy sich ein und erklärte:

„Vergesst es. Das bringt gar nichts. Der Junge weiß gar nicht, dass wir da sind. Lasst mich mal!“

Energisch und ohne Rücksicht auf deren Gefühle, schob die winzige Frau Kathryn und Tiny beiseite, drehte Joe zu sich um, und sprach ihn sehr laut an:

„Hey, Junge. Beruhige dich, hörst Du!“
 

Keine Reaktion!
 

Nun kniff Shy, ganz ihrem Gefühl vertrauend, Joe einmal kurz und heftig in den Arm, woraufhin das Gesicht des jungen Mannes sich schmerzhaft verzog und er das krampfhafte Atmen vergaß. Wachheit und Leben kehrten in seinen Blick zurück:
 

„Was…?“ fragte er verwirrt und blickte von Shy zu Tiny und Kathyn. „Was ist passiert?“
 

„Du hast uns allen ganz schön Angst gemacht, Junge!“ antwortete Shy: „Du hattest einen Anfall oder so etwas.“
 

„Ich kann nicht…ich kann nicht…“ stammelte Joe, doch es kam nichts Sinnvolles dabei heraus. Wieder begann er leicht zu Zittern:

„Hey, Junge!“ rief Shy lauter als nötig und klatschte vor Joes Gesicht in die Hände: „Hier geblieben! Jetzt fang´ nicht wieder mit diesem Unsinn an, O.K.“

An Tiny und Kathryn gewandt, erklärte sie etwas rüde:

„Lasst uns bitte eine Weile allein. Ich krieg` das hier schon hin.“
 

Tinys Miene zeigte zunächst Verblüffung und dann Ärger. Wie kam sie dazu, ihn des eigenen Zimmers zu verweisen?

Er hob an, sich zu beschweren, doch Kathryn legte ihm besänftigend eine Hand auf die Brust und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür:
 

„Komm, mein Lieber! Ich glaube es ist in Ordnung.“ erklärte sie sanft.
 

Widerwillig folgte Tiny Kathryn, ließ Joe jedoch nicht aus dem Blick, bis er draußen war.
 

Shy hatte Joe mittlerweile in Richtung Bett geschoben und erreicht, dass dieser sich setzte. Sie nahm ihm gegenüber Platz, blickte ihn aufmerksam an und sorgte dafür, dass er ihren Blick erwiderte, indem sie vor seinem Gesicht mit den Fingern schnipste, sobald er wieder abzudriften drohte:
 

„Joe, ich möchte, dass du dich auf meine Stimme konzentrierst und tust was ich dir sage, klar?“ forderte sie streng.

Joe nickte und sie fuhr fort:

„Ich möchte, dass du nun auf deinen Atem achtest. Atme ruhig ein und wieder aus. Besonders beim Ausatmen achte darauf, dass du deine ganze Luft entweichen lässt. Du merkst dann, dass die Luft von ganz allein in deinen Körper zurückfällt.“

Sie machte es ihm vor:

„Spürst Du das?“

Er nickte und so sprach sie weiter:

„Nun merk` dir bitte diese Erfahrung: Wenn du die Luft loslässt, kommt sie von allein wieder zu dir zurück. Wenn du das nächste Mal das Gefühl hast, dass du erstickst, dann atmest du einfach tief aus und vertraust darauf, verstanden?“
 

Wieder nickte Joe gehorsam.

Sie saßen einander eine Weile schweigend gegenüber und atmeten konzentriert, als Joe Shy plötzlich ernst anblickte und geradeheraus fragte:

„Denkst du, dass ich ein schlechter Mensch bin?“
 

Shy erwiderte ernsthaft:

„Nein, ich denke nicht, dass du ein schlechter Mensch bist. Aber wenn du mir diese Frage stellst, denkst du das scheinbar von dir selbst.“
 

Joe zögerte nachdenklich, ehe er antwortete:

„Mein eigener Vater hat mich immer gehasst. Er wollte am Ende sogar, dass ich sterbe für das was ich bin.“ Es war schwer darüber zu sprechen, aber Joe fuhr dennoch fort: „Vielleicht hatte er ja mit allem Recht?“
 

„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen das hassen, was sie nicht verstehen und was anders ist, als sie selbst. Und wenn du mich fragst, ist es sehr eitel: zu erwarten, dass andere Menschen so sind, wie man selbst. So als könnte man für irgendjemand anderen ein Maßstab sein!“ erwiderte Shy schlicht.
 

Joe bedachte ihre Worte und entgegnete:

„Aber viele Leute glauben, dass das was ich tue,...ich meine, das was ich BIN falsch ist und die Kirche sagt es doch auch. Und dann ist da Thomas. Ich bin für ihn beinahe wie die Schlange im Paradies aus der Bibel, oder nicht. Ich meine…“ er zögerte: „…er war doch vorher nicht…so.“
 

Shy zog überrascht die Augenbrauen hoch und dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
 

Joe war verwirrt und auch ein klein wenig verletzt, bis Shy immer noch lachend erwiderte:

„Mein lieber Junge! Glaubst du allen Ernstes, dass es irgendetwas gibt, was DU machen könntest, um den Großen dazu zu bringen, etwas gegen seinen eigenen Willen zu tun?“
 

Joe vergaß seinen Ärger und dachte darüber nach.

Schließlich musste er auch lachen und schüttelte den Kopf.

“Vermutlich nicht.“ gab er zu.
 

Irgendwann wurde Shy wieder ernst und erklärte:

„Es gibt drei Dinge, die ich dir sagen möchte. Erstens: Ich glaube nicht an euren Gott, die Bibel oder die Kirche. Ich glaube an mich, an meine Freunde und an das Hier und Jetzt. Für mich ist das alles, was zählt! Zweitens: Ich kenne Tiny nun bereits viele Jahre. Er ist ein sehr guter Kerl, war immer für uns da, hat uns beschützt und unterstützt, doch erst seit du bei ihm bist, habe ich das Gefühl, dass er ganz und gar lebendig ist, weil er jetzt ein EIGENES Leben hat, etwas, das wichtig für IHN ist und nicht nur für die, die er liebt. Und schließlich Drittens: Die Menschen in diesem Haus sind bereit, dich so zu akzeptieren, wie du bist. Sie mögen weder in den Augen Gottes, noch in denen der anderen Menschen viel wert sein, doch für mich sind es die besten Menschen, die ich je getroffen habe. Und nun musst du SELBST entscheiden, wem du glauben möchtest, den Menschen, denen du wichtig bist und deinem eigenen Herzen, oder den Leuten da draußen, die dich möglicherweise hassen!“
 

Joe hatte ihr aufmerksam zugehört und wischte sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er wollte ihren überzeugenden Worten gern glauben schenken, doch es gab da etwas, das ihn noch viel mehr bedrückte und über das sich nur schwer sprechen ließ.

Er nahm seinen Mut zusammen und begann:

„Ich hätte ihn nicht töten müssen, weißt du? Ich meine meinen Vater! Alle sagen immer wieder, es sei Notwehr gewesen, doch als ich da am Boden lag und er mich für tot hielt, hätte ich doch einfach liegen bleiben können, oder? Stattdessen habe ich nach dem Stein gegriffen und meinem Vater den Schädel eingeschlagen! Ich war einfach so außer mir und wütend! Mir fielen all` die Male ein, als er meine Mutter und mich geprügelt hat. Ich wollte in diesem Moment, dass das endlich ein Ende hat und er mir nie wieder wehtun kann.“

Eine Weile schwieg Joe nachdenklich und fuhr dann fort:

„Ich denke du irrst dich! Ich BIN ein schlechter Mensch! Ich bin ein Mörder!“

Joe begann wieder ein wenig zu zittern. Tränen liefen seine Wangen hinab und Shy zog seinen Kopf an ihre Brust und umarmte ihn fest.
 

Die Worte des Jungen hatten etwas in ihr selbst geweckt, an das sie nie wieder hatte denken wollen. Innerlich rang sie einen Moment mit sich und schließlich traf sie eine Entscheidung:

„Joe, ich möchte dir etwas von mir erzählen. Es ist etwas, dass niemand weiß und ich möchte nicht, dass du es irgendwem weitersagst.“
 

Joe erhob seinen Kopf und nickte ernsthaft und Shy begann zu berichten:

„Als ich halb so alt war wie heute, also ungefähr so alt, wie du jetzt bist, habe ich in einem Reservat gelebt. Meine Eltern verheirateten mich dort mit einem Mann. Ich wurde nicht gefragt, ob ich ihn haben wollte, ich musste mich einfach fügen! Dieser Mann war ein übler Kerl, brutal und ohne Achtung für Frauen. Er schlug mich häufig und in der Nacht kam er, um sich zu nehmen, was ich ihm nicht freiwillig geben wollte. Ich hasste ihn! Meine Eltern waren nicht auf meiner Seite. Sie sagten, er habe das Recht zu handeln, wie er es tat, denn schließlich sei er mein Ehemann. Es ging so mehr als ein Jahr lang, doch eines nachts wusste ich, dass ich es nicht länger ertragen könnte. Entweder müsste er sterben oder ich selbst, also traf ich eine Entscheidung: Ich wartete, bis er schlief und holte mir ein Messer. Das stieß ich ihm geradewegs in die Kehle. Mit blutigen Händen stand ich dann über ihm und sah ihm beim Sterben zu. Mit seinen Händen versuchte er vergeblich, das klaffende Loch in seinem Hals zu verschließen. Er versuchte, etwas zu sagen, doch aufgrund der Verletzung konnte er es nicht. Erst als ich sicher war, dass er nicht mehr lebte, packte ich ein paar Sachen ein und verschwand für immer.“
 

Joe hatte Shy aufmerksam zugehört und blickte sie erschüttert an. Shy sah blass und müde aus, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. Dann forderte sie:

„Und nun entscheide DU! Bin ich ein schlechter Mensch?“
 

Joe schüttelte den Kopf und umarmte sie fest:

„Danke, dass du mir das erzählt hast. Niemand wird je etwas von mir erfahren“ versicherte er aufrichtig.
 

Tiny saß unruhig auf Kathryns Bett.

„Die hat wirklich Nerven, mich einfach aus meinem eigenem Zimmer zu werfen!“ knurrte er. Kathryn lächelte nachsichtig und Tiny schimpfte:

„Ich weiß gar nicht, wieso du jetzt grinst, verdammt?“
 

Kathryn antwortete ruhig:

„Ich denke, was dir nicht passt, ist die Tatsache, dass Shy gerade da drüben ist und Joe hilft. Eigentlich glaubst du doch, das sei deine Aufgabe; und zwar deine allein!“

Tinys Gesicht verfinsterte sich noch ein wenig mehr, aber Kathryn sprach unbeirrt weiter.

„Du hast Joe gepflegt und wieder auf die Beine gebracht, als er verletzt war. Jetzt glaubst du scheinbar, Joe zu helfen, dich um ihn zu kümmern, sei deine Pflicht und niemand könnte sie besser erledigen als du. Du bist ganz einfach eifersüchtig!“
 

„Du spinnst doch, Kathryn! Darum geht es nicht“ rief Tiny ärgerlich aus.
 

Kathryn rollte unwillig mit den Augen und fuhr fort:

„Doch mein Lieber, genau darum geht es! Du kennst Shy. Sie ist manchmal rüde und unhöflich. aber das ist hier nicht das Problem. Sei froh, dass sie gerade bei Joe ist und ihm helfen kann. Du musst damit klarkommen, dass diesmal eben nicht du sein Retter sein kann. Ihr zwei habt schon den Altersunterschied zu überwinden. Möchtest du wirklich, dass die Kluft zwischen euch noch größer wird; du der große, starke Übervater und er ewig bloß der verletzte Junge?“
 

Tiny setzte zu einer Erwiderung an, doch in diesem Moment klopfte es an der Tür.

Joe trat in Begleitung von Shy ein, blickte unsicher von Kathryn zu Tiny und begann mit leiser Stimme:

„Es tut mir leid, dass ich euch Angst gemacht habe. Der Tod meines Vaters hat mich aus der Bahn geworfen. Außerdem ertrage ich es mittlerweile nicht mehr so gut, ständig hier im Haus bleiben zu müssen. Da bin ich eben einfach ein wenig durchgedreht!“
 

Tiny musterte Joe aufmerksam, doch er stellte erleichtert fest, dass dieser zwar müde wirkte, aber abgesehen davon wieder in deutlich besserer Verfassung zu sein schien. Er stand auf und trat an Joe heran. Dann wurde er plötzlich unsicher, was er tun sollte und durfte. Er hatte den Wunsch den Jungen zu umarmen, doch er dachte an vorhin, als seine Berührung die Dinge scheinbar nur noch schlimmer gemacht hatte.
 

Joe blickte fragend und überrascht über dessen Zurückhaltung zu Tiny auf und zog dann dessen Kopf zu sich herunter, um ihn zu küssen. Erleichtert, dass seine körperliche Nähe noch erwünscht war, entspannte sich Tiny traute sich, Joe in die Arme zu schließen.
 

Nun meldete sich Shy zu Wort:

„Ich denke, Joe geht es für den Moment besser, aber er wird noch eine Weile brauchen, ehe er sich wieder ganz erholt hat. In der Zwischenzeit wäre es sicher gut, wenn er zumindest nach Einbruch der Dunkelheit, vielleicht in Begleitung von dir, Tiny, das Haus verlassen könnte. Und ich denke, eine Aufgabe hier im Haus wäre sinnvoll, damit du beschäftigt bist und nicht zu sehr ins Grübeln kommst! Was meinst du, Junge?“
 

Joe nickte zustimmend und schlug vor:

„Ich könnte mich vielleicht um die Kinder kümmern und die Tiere versorgen?“
 

Kathryn nickte:

„Das wäre sicherlich möglich. Wir können das ja morgen mit den Anderen besprechen.“
 

„Wie dem auch sei! Ich gehe wieder ins Bett!“ verkündete Shy und wandte sich zum Gehen.
 

„Warte noch!“ rief Tiny und umarmte sie, wozu er sich weit zu der winzigen Frau herunterbeugen musste: „Ich danke dir!“ flüsterte er.
 

„Gern geschehen!“ antwortete Shy und klopfte dem großen Mann burschikos die Schulter, ehe sie tatsächlich in ihr Zimmer verschwand.
 

„Vielleicht sollten wir uns Alle noch ein Weilchen hinlegen.“ schlug Kathryn müde vor.
 

Tiny nickte, küsste seine Freundin zum Dank für ihre strengen Worte von vorhin auf die Wange und kehrte mit Joe in sein eigenes Schlafzimmer zurück.
 

Joe, dessen Erschöpfung nicht körperlicher Art war, konnte noch nicht wieder schlafen. Er wollte den Tod, den er gebracht hatte und welcher nun ein Teil von ihm selbst geworden war, aus seinem Körper, aus seiner Nähe vertreiben und das Leben wieder fühlen und er wusste nur einen Weg, dies zu erreichen. Er ließ eine seiner Hände Tinys Oberschenkel hinauf wandern, küsste ihn innig auf die Lippen und erreichte damit die Reaktion, die er beabsichtigt hatte:

„Bist du dir wirklich sicher?“ fragte der Ältere nervös: „Du bist gerade sehr empfindlich.“
 

„Ich vertraue dir!“ versicherte Joe: „Und ich brauche das gerade.“
 

Tiny nickte und sie begannen, sie gegenseitig auszuziehen.
 

Als Joe später in den Armen seines schlafenden Liebhabers lag, fühlte er sich einen Moment lang friedlich und geborgen.

Er musste mit dem, was er getan hatte leben, doch er war nicht allein.

Ein Grund zum Feiern

Es war ein wunderbarer Tag im August und der Geburtstag von Kathryn und Tiny war gekommen. Die Bar würde heute geschlossen bleiben. Stattdessen sollte am Abend eine Feier stattfinden.
 

Auch für Joe war heute ein besonderer Tag, denn sein Arm war endlich verheilt und seine Krankenschwester Rebecca, die unter den heutigen Gästen sein würde, hatte versprochen, ihm später seine Schiene zu entfernen.

In der Küche war Sam, Regines vierzehnjähriger Sohn gerade damit beschäftigt, den Geburtstagskuchen zu backen. Und weil er das noch nicht wirklich konnte, half ihm Tiny einfach dabei, denn schließlich war er der Koch und Bäcker des Hauses.
 

„Nun musstest du dabei helfen, deinen eigenen Geburtstagskuchen zu backen!“ kommentierte Sam geknickt, als das Gebäck im Ofen war.
 

Tiny versicherte grinsend:

„Das macht doch nichts, Kleiner. Du weißt, dass es mir Spaß macht und im nächsten Jahr schaffst du es ja vielleicht auch schon ohne meine Hilfe. Du weißt ja jetzt, wie es geht!“
 

Sam nickte strahlend und fiel Tiny um den Hals.
 

In diesem Moment kam Regine in die Küche und als Tiny den skeptischen Blick auf dem Gesicht von Sams Mutter sah, ließ er den Jungen augenblicklich wieder los.

Die Dinge zwischen ihm und ihr waren irgendwie nicht mehr dieselben, seit sie von Tiny und Joe erfahren hatte. Regine sagt nichts, doch Tiny spürte es dennoch und es auch wenn er selbstverständlich noch nie in derselben Weise an Sam gedacht hätte, wie an Joe, so erfüllte ihn die Situation dennoch mit Scham.
 

Die Frauen, Joe und die Kinder waren noch mit Kochen und Tisch decken beschäftigt, als bereits die ersten Gäste ein wenig verfrüht eintrafen. Es waren Felicity und Rebecca, welche zunächst einmal ihre Runde machten, um alle zu begrüßen.
 

„Das Essen dauert noch eine Weile.“ verkündete Kathryn bedauernd.
 

„Das macht nichts.“ antwortete Rebecca fröhlich und zwinkerte Joe zu: „Ich dachte, wir kommen etwas früher, damit ich eine letzte Visite bei unserem Patienten machen kann.“
 

Joe strahlte sie an und winkte ihr mit seinen geschienten Arm zu.
 

Rebecca winkte zurück und fragte

„Wie geht es dir heute, Junge?“
 

„Großartig bei dem Gedanken, endlich dieses Ding loszuwerden.“ antwortete Joe fröhlich.
 

Die große, hagere Rebecca legte einen Arm um die hübsche, rundliche, kleinere Felicity und fragte Joe:

„Ihr kennt euch noch nicht, oder? Das ist meine Freundin Felecity! Felicity, das ist mein junger Patient Joe!“
 

Felicity streckte ihm die Hand entgegen und sagte aufrichtig:

„Es freut mich sehr dich kennenzulernen; insbesondere in diesem Zustand, gesund, strahlend und gutaussehend. Als Becky mir berichtet hat, wie sie dich bei ihrem ersten Besuch vorgefunden hat, waren wir beide sehr besorgt.“
 

Unsicher lächelnd erwiderte Joe den Händedruck der fremden Frau:

„Danke, es freut mich auch!“ erwiderte er.
 

Rebecca hakte den jungen Mann unter und führte ihn ins Gemeinschaftszimmer:

„Nun wollen wir uns mal deinen Arm anschauen.“ verkündete sie, entfernte die Schiene und ließ Joe Bewegungen ausführen.

Schließlich nickte sie zufrieden und erklärte:

„Es sieht alles großartig aus. Der Arm wird noch eine Weile schwächer sein als der andere, doch das liegt daran, dass du ihn so lange nicht benutzt hast. Mach` dir darüber keine Gedanken. Und nun erkläre ich dich offiziell für vollständig geheilt.“
 

Joe strahlte und umarmte Rebecca:

„Ich danke dir für alles!“
 

„Gern geschehen, Kleiner. Ich bin froh, dass alles so gut für dich ausgegangen ist.“ antwortete sie und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
 

Kathryn vermisste das zweite Geburtstagskind, welches sich nun schon eine ganze Weile nicht mehr hatte blicken lassen und so machte sie sich auf die Suche nach ihm. Weil sie ihn nirgendwo fand, probierte sie es schließlich bei seinem Zimmer. Auf ihr Klopfen hin vernahm sie dann tatsächlich ein mürrisches: „Herein!“
 

Tiny starrte aus dem Fenster und sah auch nicht hin, als Kathryn sich zu ihm setzte.
 

„Hey Bruder, was ist los? Du wirst noch unseren Geburtstag verpassen, wenn du nicht bald runterkommst. Felicity und Rebecca sind schon da.“ sagte Kathryn munter.
 

„Hmm!“ brummte Tiny und fixierte weiterhin die Aussicht. Dann drehte er sich unwillkürlich zu seiner Freundin um und fragte:

„Ist dir an Regines Verhalten mir gegenüber in letzter Zeit etwas aufgefallen?“
 

Kathryn schüttelte den Kopf und fragte:

„Wieso? Ist irgendetwas vorgefallen?“
 

Tiny blickte sie unglücklich an und erwiderte:

„Sie hat nichts zu mir gesagt. Es ist nur die Art wie sie mich manchmal ansieht und mir gegenüber verhält, seit sie von Joe und mir weiß! Und heute kam sie hinzu, als Sam mich umarmt hat. Du hättest ihren Blick sehen müssen. Als wäre ich ein...ich meine... als wollte ich ihrem Kind etwas antun, verstehst du? Ich habe mich so dreckig gefühlt!“
 

Kathryn blickte ihn zornig an und schimpfte:

„Wie bitte? Die spinnt wohl! Die werde ich mir auf der Stelle vorknöpfen. Mach` dir keine Sorgen! Ich kümmere mich darum!“
 

Sie war schon im Begriff aufzustehen, doch Tiny hielt sie zurück und flehte:

„Nein! Bleib bitte noch hier.“ Dann fuhr er elend fort: „Das Schlimmste daran ist, dass ich Angst habe, dass sie Recht hat! Nicht mit Sam natürlich, aber mit Joe! Er ist noch so jung. Ich fühle mich manchmal...als hätte ich kein Recht? Als würde ich ihm... ich weiß nicht...die Unschuld nehmen, oder so ähnlich?“
 

Kathryn blickte ihn verwirrt und besorgt an:

„Entschuldige, ich komme da gerade nicht ganz mit. Was meinst du denn mit „die Unschuld nehmen“? Wenn ich mich an unser letztes Gespräch zu diesem Thema erinnere, dann war es doch wohl eher umgekehrt, oder nicht?“

Sie zog Tiny zu sich heran und er kam mit seinem Kopf in ihrer Armbeuge zum Liegen:

„Warum machst du dich so nieder, mein Lieber? Was ist hier los? “
 

Tiny seufzte und antwortete:

„Ich meine das nicht körperlich, also zumindest nicht nur. Aber Joe ist erst neunzehn. Wäre nun nicht die Zeit in seinem Leben, in die Welt zu ziehen und Erfahrungen zu machen? Stattdessen sitzt er hier fest und hat sich mit MIR verbunden; einem Mann irgendwo in der Mitte seines Lebens. Ich fürchte, ich nehme ihm etwas weg, was er nicht wiederbekommt und zwar seine Jugend! Ich habe Angst, dass ich einfach nur egoistisch bin.“

Tiny machte eine längere nachdenkliche Pause, ehe er fortfuhr:

„Aber das ist nicht das einzige, was mich verunsichert. Da sind ja noch unsere körperlichen Unterschiede. Ich frage mich, was Menschen sehen, wenn Joe und ich zusammen sind. Neben ihm fühle ich mich wie ein grobschlächtiger Riese. Irgendwie verstärkt sich dadurch noch mein Gefühl, ihm etwas...anzutun.“
 

Kathryn blickte verwundert auf ihn hinunter:

„Anzutun?“ wiederholte sie ungläubig: „Bist du verrückt geworden? Was geht denn da nur in deinem Kopf vor? Möchtest du wissen, wie ich darüber denke? Ja, Joe ist jung und vielleicht auch ZU jung für eine dauerhafte Beziehung. Und möglicherweise stellt er in ein paar Monaten oder Jahren fest, dass er eine Veränderung braucht. Es wäre auch sein gutes Recht, sich so zu entscheiden! Das gehört zu den Risiken, wenn man einen anderen Menschen in sein Leben lässt, vielleicht wird man verlassen oder, wie in meinem Fall, die andere Person stirbt! Aber wenn mich heute jemand vor die Wahl stellen würde, dass der Schmerz über den Verlust von Elizabeth mit einem Mal vorüber wäre, aber dazu müsste ich auch alle Erinnerungen an das Leben mit ihr hergeben, dann würde ich mich immer dagegen entscheiden! Was ich damit sagen will ist, das Glück zu lieben und geliebt zu werden überwiegt das Risiko und den Schmerz! Und das ist es auch, was ich sehe, wenn ich euch beide anschaue: Zwei Menschen, die sich lieben, der schönste Anblick, den ich mir vorstellen kann!“

Kathryn legte eine kurze Pause ein, um ihre Worte wirken zu lassen, ehe sie fortfuhr: „Ich habe es schon einmal gesagt, aber wiederhole es gern auch noch einmal: Joe ist alt genug, zu wissen, was er will und wie es scheint, will er dich! Sein Vater hat ihn misshandelt, seit er auf der Welt ist. Er wäre fast gestorben und nun wünscht er sich Sicherheit, um sich ein Leben aufzubauen. Was liegt da näher, als sich den größten und stärksten Kerl weit und breit zu wählen, der überdies auch noch lieb, fürsorglich und sanft ist.“
 

Tiny richtete sich auf und versicherte:

„Ich habe so großes Glück, dass du meine Freundin bist.“
 

Sie setzte sich ebenfalls auf und erwiderte zwinkernd:

„Stimmt, hast du. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss Regine anschreien gehen! Komm` runter und feiere mit uns, sobald du dich bereit fühlst.“

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.
 

Unten in der Küche trat Kathryn hinter Regine und tippte ihr grob auf die Schulter. Erschrocken drehte diese sich um:

„Können wir reden? Draußen auf der Veranda?“ fragte Kathryn barsch.

Regine nickte und wurde ein wenig bleich, da sie Kathryns Wutanfälle kannte und fürchtete.
 

Als sie ihr nicht sogleich folgte, packte Kathryn sie kurzerhand am Arm und zog sie hinter sich her:

„Ich fange gleich an!“ begann sie: „Was zum Teufel hast du mit Tiny angestellt, dass der sich schon seit heute Mittag im Zimmer verkriecht?“
 

Regine zuckte hilflos die Schultern und stotterte:

„Ich habe doch gar nichts gesagt.“
 

Das machte Kathryn bloß noch ärgerlicher:

„Das musstest du ja wohl auch nicht. Dein Blick hat scheinbar genügt! Glaubst du allen Ernstes, ausgerechnet Tiny würde Sam etwas antun. Wie kannst du nur?“
 

Regine blickte Kathryn unglücklich an:

„Das weiß ich weiß doch!“ jammerte sie: „Vom Verstand her weiß ich das. Aber Joe...er ist doch auch noch so jung. Das kommt mir irgendwie falsch vor.“
 

Kathryn war mittlerweile bleich vor Wut. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt:

„Du stehst so kurz davor, dir von mir eine Tracht Prügel einzufangen!“ erklärte sie zornig: „Und nun muss ich dich einmal fragen: Wenn die Daddys manchmal ihre Söhne nach deren achtzehnten Geburtstag mit ins „Yasemines“ bringen, damit sie zu Männern werden und du nimmst einen von ihnen mit nach oben; hast du dann auch solche moralischen Bedenken? Denkst du DABEI an den kleinen Sam?“
 

Regine hatte mittlerweile zu schluchzen begonnen:

„Es tut mir leid!“ brachte sie schniefend hervor, doch Kathryn war noch längst nicht fertig:
 

„Joe ist erwachsen und er war es, der den Anfang gemacht hat. Die beiden haben sich gern und jeder, der dazwischenfunken will, bekommt es mit mir zu tun, hörst du? Wenn es dir wirklich leid tut, schlage ich vor, du gehst rauf zu Tiny und bringst das in Ordnung, verdammt noch mal!“

Mit diesen Worten drehte sich auf dem Absatz um und ließ Regine, die immer noch weinte einfach stehen.
 

Als Regine vor Tinys Zimmertür stand, wusste sie noch nicht, was sie zu ihm sagen würde. Dennoch nahm sie ihren Mut zusammen und klopfte:
 

„Ich komm` ja gleich Kathryn! Gib` mir noch einen Augenblick.“ ertönte es von drinnen.
 

Regine öffnete zaghaft, blieb aber im Türrahmen stehen.

„Ich bin es bloß.“ kommentierte sie schüchtern das Offensichtliche.
 

Als Tiny ihr rotes, verweintes Gesicht sah, lächelte er ein klein wenig:

„Oh Gott, was hat sie getan? Sie hat dich nicht geschlagen, oder?“ wollte er wissen.
 

„Ich denke, es hat nicht viel gefehlt.“ erwiderte Regine kleinlaut.
 

Tiny klopfte auf den Platz neben sich:

„Komm´ zu mir. Lass uns reden!“ forderte er sie auf.
 

Regine folgte der Einladung und sagte:

„Es tut mir leid, dass du dich wegen mir schlecht fühlst.“
 

Tiny blickte sie traurig an:

„Es hat mich sehr verletzt, dass du offenbar glaubst, ich könnte Sam etwas antun, oder mich ihm gegenüber irgendwie unpassend verhalten.“ Er zögerte kurz, ehe er fortfuhr: „Aber ein Teil von mir kann dich auch verstehen. Du bist eine Mutter und willst deine Kinder beschützen. Und das mit Joe und mir muss dir natürlich merkwürdig vorkommen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, kommt es mir sogar selbst manchmal seltsam vor. Aber dennoch... Joe bedeutet mir etwas! Und bitte glaube mir das eine: Ich habe mich gegenüber deinen Kindern, gegenüber allen Kindern in diesem Haus immer wie ein Vater gefühlt. Ich würde stets alles tun, um Unheil von ihnen fern zu halten und ich würde ihnen niemals wehtun.“
 

Nun fing Regine erneut an zu schluchzen:

„Ich weiß! Es tut mir so leid! Bitte verzeih mir!“ bat sie.
 

„Schon geschehen!“ antwortete Tiny und umarmte die immer noch weinende Regine.
 

Nachdem sie eine Weile so dagesessen hatten und Regine sich wieder beruhigt hatte, wollte sie von Tiny wissen:

„Bist du eigentlich schon immer... so gewesen? Hast du immer schon Männer gemocht?“
 

Tiny überlegte eine Weile und musste dann zugeben:

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, denn da war ja vorher noch niemand; weder Mann noch Frau.“
 

Regine riss erstaunt die Augen auf:

„Das heißt, du warst...noch Jungfrau? Wie kann das sein? Ein Kerl wie du?“
 

Tiny zuckte ratlos mit den Schultern. Regine drückte ihn noch einmal fest an sich und küsste ihn auf die Wange.
 

Kathryn war erleichtert, als sie Regine und Tiny Arm in Arm in die Küche kommen sah. Sie hatte Regine heute sehr hart angefasst und war sich bewusst, dass sie in ihrer Wut manchmal über das Ziel hinausschoss.

Und nichts machte sie wütender, als wenn jemand Tiny wehtat, also tat es ihr auch nicht leid!
 

Als das Essen fertig war, versammelten sich alle um den Tisch herum. Es fehlte bloß noch ein Gast, aber der würde erst nach Einbruch der Dunkelheit eintreffen, also begannen sie ihre üppige, festliche Mahlzeit.
 

Joe blickte in die Runde und ließ diesen Moment auf sich wirken.

Sie waren eine Familie.

Und er war Teil davon. Er konnte es selbst kaum glauben!
 

Dann nahm er Rebecca und Felicity in den Blick Die beiden Frauen saßen dicht beieinander, schenkten sich zärtliche Blicke, waren albern miteinander, fütterten sich lachend gegenseitig und schließlich küssten sie sich sogar. Da erst dämmerte es Joe, dass diese beiden mehr als nur Freundinnen waren. Und er realisierte, dass niemand am Tisch wirklich Notiz vom Austausch von Zärtlichkeiten der beiden Frauen zu nehmen schien. Jeder schien Bescheid zu wissen und niemand nahm Anstoß.

Joe war neugierig auf diese beiden und so setzte er sich nach dem Essen zu Rebecca und Felicity, um sie besser kennen zu lernen. Er hatte das Bedürfnis, sich mit jemandem auszutauschen, der so war, wie er selbst; jemand, der erwachsen war und vielleicht ein paar Antworten für ihn hätte.
 

Als der Kuchen angeschnitten wurde, betrat Deputy James Chester die Küche. Alle Köpfe wandten sich ihm zu und ihm begegneten ein paar sehr misstrauischen Blicke.

Verunsichert schaute er in die Runde und musterte die Anwesenden.

Da waren eine kleine, rothaarige Frau mit üppigem Busen die offenbar irischer Herkunft war. Bei den beiden kleinen, ebenfalls rothaarigen Jungen handelte es sich, der großen Ähnlichkeit nach zu urteilen zweifelsohne um ihre Söhne.

Neben ihnen saßen zwei schlanke, hochgewachsene, attraktive, schwarze Frauen, die aussahen wie Zwillinge.

Ihnen gegenüber befand sich eine winzige Frau mit langen dunkelbraunen Haaren, hellbrauner Haut und kohleschwarzen, durchdringenden Augen, die ihren Platz neben einer schmalen, blassen, blonden Frau hatte, welche offenbar die Mutter der drei anderen Kinder am Tisch, zwei kleinen Mädchen und einem etwas älteren Jungen sein musste.

Die beiden Lehrerinnen Miss Miller und Miss Owens hatte James bereits bei früherer Gelegenheit kennengelernt.

Und dann waren da natürlich noch Tiny, Joe Harper und zuletzt die schöne Kathryn Levroux.
 

Die Gespräche waren abgebrochen, als James den Raum betreten hatte und angesichts des etwas frostigen Empfangs sagte er ein wenig unsicher:

„Ich wünsche einen schönen Abend! Bitte lassen sie sich von mir nicht stören.“
 

Kathryn erhob sich, trat mit eleganten Schritten auf ihn zu und empfing ihn mit einem herzlichem Lächeln und einem Händedruck:

„Herzlich willkommen, Deputy. Wie schön, dass sie es einrichten konnten! Sie kommen gerade rechtzeitig für den Geburtstagskuchen!“
 

Er war froh, wenigstens von dieser Seite warm empfangen zu werden. Er hatte sich sehr auf ein Wiedersehen mit Kathryn Levroux gefreut, jedoch befürchtet, ihr könnte es anders gehen:

„Wer hat denn heute Geburtstag?“ wollte er wissen:
 

„Es ist der Doppelgeburtstag von Tiny und mir!“ erklärte sie lächelnd.
 

Die anderen Anwesenden hatten mittlerweile ihre Gespräche wieder aufgenommen und nur Joe und Tiny blickten noch hin und wieder skeptisch zu James hinüber:
 

„Nehmen sie doch Platz!“ forderte Kathryn ihn auf: „Möchten sie gleich mit dem Kuchen beginnen, oder lieber erst mal etwas Richtiges essen. Ich habe einen Teller für Sie zurückbehalten.“
 

„Damit würde ich gern beginnen.“ erklärte James schüchtern, setzte sich und fuhr fort: „Ich wünschte, sie hätten mir verraten, dass heute ihr Geburtstag ist. Nun komme ich ohne ein Geschenk.“
 

„Machen sie sich darüber keine Gedanken, Deputy. Ich mache mir nichts aus Geschenken. Ich freue mich bloß, dass sie hier sind!“

Sie erhob sich und holte für James etwas zu Essen.
 

Nachdem er probiert hatte verkündete er:

„Es ist alles fantastisch!“ und er meinte es ehrlich: „Aber die Zubereitung ist sehr ungewöhnlich, oder?“
 

„Wie ihnen vielleicht aufgefallen ist, sind einige von uns aus dem Süden. Viele unserer Gerichte haben einen Cajun-Einfluss. Ich hoffe, es ist ihnen nicht zu scharf?“ erkundigte sich Kathryn.
 

James schüttelte den Kopf:

„Ich wusste nicht, dass Miss Miller und Miss Owens Freundinnen von ihnen sind.“ bemerkte er.
 

Kathryn erwiderte:

„Wir hängen es nicht an die große Glocke, um dem Ruf der beiden nicht zu schaden. Tatsächlich sind sie wahrscheinlich die einzigen wahren Freundinnen, die wir in Millers Landing haben.“
 

James schüttelte den Kopf und gab mutig zurück:

„Das ist nicht ganz richtig! Sie haben mittlerweile noch einen weiteren Freund!“
 

Kathryn schenkte ihm ein kleines, trauriges Lächeln und legte ihre Hand auf die von James, als sie antwortete:

„Eine Freundschaft wie ihre wäre für uns sicherlich sehr wertvoll, doch bitte bedenken sie, dass sie für sie selbst kompromittierend sein kann. Wir stehen gewissermaßen auf unterschiedlichen Seiten und eines Tages kommt vielleicht der Moment, in dem sie wählen müssen. Sind sie sicher, dass sie sich eine solche Last aufbürden möchten?“
 

Es gab vieles, was James auf diese Frage hätte antworten wollen, zum Beispiel dass er nicht verstand, warum sie auf unterschiedlichen Seiten stehen mussten, oder dass er ohnehin keine Wahl hatte, weil er ihr, Kathryn, bereits vollständig erlegen war, doch stattdessen sagte er schlicht:

„Ja!“

Nach einer Weile fügte er nachdenklich hinzu:

„Ich denke, wenn sie nach außen so isoliert leben müssen, dann ist ihr Zusammenhalt nach innen sicherlich sehr groß?“
 

Kathryn blickte in die Runde von Menschen, die sie liebte und antwortete:

„Ich denke, wir sind eine Familie, im besten Sinne des Wortes.“
 

„Es muss schön sein, einander so verbunden zu sein.“ bemerkte James: „Ich fürchte, ich habe mein Zuhause noch nicht gefunden.“

Er überlegte einen Augenblick, ob es passend sei, seine nächste Frage zu stellen und obwohl er sich nicht sicher war, nahm er seinen Mut zusammen und entschied er sich dafür:

„Aber haben sie nie darüber nachgedacht, eine Partnerschaft einzugehen, vielleicht eigene Kinder zu bekommen?“
 

Kathryn antwortete knapp:

„Ich hatte eine Partnerschaft. SIE ist vor vier Jahren gestorben.“

Sie blickte ihn scharf an, um seine Reaktion auf diese Eröffnung abzulesen.
 

James war sich ihres Blickes deutlich bewusst und versuchte, das kleine innerliche Erschrecken über ihre Worte zu verbergen. Er wusste zunächst nicht, was er darauf erwidern sollte. Dann erinnerte er sich an das erste Mal, als er Kathryn Levroux gesehen hatte. Nun wurde ihm klar, an wessen Grab sie damals getrauert hatte. Er sah vor sich wieder den tiefen Schmerz auf dem schönen Gesicht und sagte dann das einzige, was ihm in diesem Moment angemessen schien:

„Ihr Verlust tut mir sehr leid.“
 

„Danke!“ antwortete Kathryn und lächelte.
 

James hatte das Gefühl, einem Test unterzogen worden zu sein und bestanden zu haben. Nun, da er wusste, dass Kathryn zuvor eine Partnerschaft mit einer anderen Frau gehabt hatte, erschien sie ihm bloß noch unerreichbarer. An seinen Gefühlen änderte das nichts. Wenn es tatsächlich nur eine Freundschaft zwischen ihm und ihr geben sollte, wäre ihm das auch recht, sagte er sich, denn immerhin genoss er ihre Nähe. Er hatte noch nie eine Frau getroffen, die ihn derart fasziniert hätte.

James nahm allen Mut zusammen und fragte:

„Würden sie mir von ihrer Partnerin erzählen?“
 

Kathryn reagierte ein wenig zögerlich, doch dann entschied sie, dass sie James mittlerweile genug vertraute, um ihre kostbaren Erinnerungen mit ihm zu teilen:

„Elizabeth hat bereits hier gearbeitet, als Tiny und ich herkamen. Sie war einige Jahre älter als ich. Ich habe mich beinahe augenblicklich in sie verliebt, in ihre Bescheidenheit, ihre Güte, ihren Pragmatismus, ihre Scharfsinn in Bezug auf Menschen, in das lange blonde Haar und die dunkelblauen Augen.“

Kathryns Augen leuchteten, als sie berichtete und James kam es vor, als sähe er zum ersten Mal ihr wirkliches Gesicht.

Kathryn fuhr fort:

„Wir hatten elf Jahre miteinander, ehe Elizabeth krank wurde. Dr. Miller hat getan was er konnte, doch seine Medizin konnte nichts ausrichten. Es dauerte dann noch ein Jahr, in dem ihre Schmerzen immer größer wurden, sie mehr und mehr Gewicht verlor und schließlich starb. Es war für uns alle ein schwerer, schmerzhafter Abschied. Sehr lange wusste ich nicht, wie ich ohne sie weiterleben sollte.“

Traurig und matt fügte sie hinzu:

„Eigentlich ist es heute noch so“

Kathryns Augen nahmen einen verdächtigen Glanz an, doch sie verbot es sich zu Weinen.
 

„Es tut mir leid, wenn ich schmerzhafte Erinnerungen geweckt habe.“ versicherte James unsicher, doch Kathryn lächelte und erwiderte:

„Nein, ich spreche gern über Liz. Die schmerzhaften und die schönen Erinnerungen gehören nun einmal zusammen und ich will nichts vergessen, was mit ihr zu tun hat!“

Urplötzlich schien Kathryn innerlich umzuschalten. Sie wendete sich mit dem ganzen Oberkörper James zu, verschränkte die Arme vor der Brust, blickte ihm direkt in die Augen und fragte:

„Aber nun zu ihnen, Deputy: gibt es jemanden in IHREM Leben? Ein schöner junger Mann wie sie hat sicherlich keinen Mangel an Angeboten, oder?“
 

Überrumpelt antwortete James:

„Nein, eigentlich ist da niemand!“ Nach einem kurzen Zögern fügte er noch hinzu: „Und ehrlicherweise hat es auch noch nie jemanden gegeben!“
 

Kathryn war verblüfft, sagte jedoch nichts dazu, sondern wechselte lächelnd das Thema, damit ihr Gast sich nicht unbehaglich fühlen musste:

„Wie wäre es nun mit ein wenig Kuchen? Unser kleiner Sam hat ihn gebacken.“ erklärte sie auf den Jungen deutend.
 

Dieser hörte seinen Namen, strahlte und kam sofort mit einen Stück Kuchen für James angerannt. „Probieren Sie! Er ist wirklich gut.“ versicherte Sam und James tat, wie ihm geheißen wurde.
 

„Wirklich gut!“ stimmte er zu und Sam zog strahlend davon.
 

Ein Schweigen entstand und James überlegte krampfhaft, wie er das Gespräch wieder aufnehmen könnte. Er wollte noch nicht gehen müssen, doch eine unangenehme Sprachlosigkeit erschien ihm noch weitaus schlimmer.

Er wollte noch tausend Dinge von Kathryn wissen, wollte von sich selbst berichten, doch keine Frage kam ihm angemessen vor und keine Anekdote aus seinem Leben erschien James interessant genug, um sie zum Besten zu geben. Der Kuchen war beinahe verspeist und noch immer herrschte Stille.
 

Da rettete ihn Kathryn, indem sie fragte:

„Sie sind seit etwa drei Monaten in Millers Landing, richtig? Haben sie schon einige Freundschaften hier geschlossen?“
 

James schüttelte den Kopf:

„Es ist merkwürdig, wenn man den Stern trägt:“ erklärte er auf seine Brust deutend: „Jedermann scheint zu wissen, wer man ist, doch jeder vermeidet es, einen näher kennenzulernen. In der Nähe eines Gesetzeshüters fühlen die meisten Leute sich unwohl, so als wollte ich sie im nächsten Moment festnehmen.“
 

„Der Gedanke ist mir bislang noch gar nicht gekommen.“ erklärte Kathryn belustigt: „Ich haben mich bisher bei ihnen ganz behaglich gefühlt.“
 

„Vielen Dank!“ erwiderte James. „Die einzige Person, mit der ich momentan ein wenig Freizeit verbringe, ist meine Vermieterin Ms. Meyer. Abends spielen wir manchmal Karten. Das Dumme ist nur... uhm...“ James zögerte und Kathryn versuchte das Ende des Satzes zu erraten:
 

„Was denn? Betrügt die alte Dame etwa?“
 

James schüttelte den Kopf und erklärte grinsend:

„Nein, wir bringen so gut wie nie eine Partie zu Ende, denn die Lady schläft meist vorher in ihrem Schaukelstuhl ein.“
 

Diese Vorstellung ließ Kathryn schallend loslachen und auch James prustete los.
 

Doch irgendwann wurde Kathryn wieder ernst und kommentierte:

„Ihr Leben klingt sehr einsam, Deputy. Ich möchte, dass sie wissen, dass sie mir jederzeit in diesem Haus willkommen sind.“
 

„Es ist nett von ihnen, das zu sagen, Madame Levroux.“ erwiderte James, doch Kathryn versicherte:
 

„Es ist aber nicht nett gemeint, sondern ehrlich. Und außerdem möchte ich, dass sie mich Kathryn nennen, einverstanden?“
 

James nickte und erwiderte leicht errötend:

„Gern! Bitte nennen sie mich James.“
 

Während ihrer Unterhaltung mit James hatte Kathryn registriert, dass die Zwillinge am anderen Ende des Tisches offenbar etwas ausheckten. Sie steckten die Köpfe zusammen und blickten mehrfach zu James hinüber. Kathryn ahnte, was als nächstes kommen würde und lächelte in sich hinein.

Beinahe zeitgleich erhoben sich die Zwei und kamen zu Kathryn und James herübergeschlendert. Sie zogen sich Stühle heran und setzten sich zu beiden Seiten von James.
 

An Kathryn gewandt schalt Melody:

„Also wirklich, meine Liebe! Die ganze Zeit beanspruchst du den gutaussehenden Deputy schon für dich allein. Wird es nicht langsam Zeit, dass wir auch einmal die Chance erhalten, den jungen Mann kennenzulernen.“

Während sie sprach hatte Melody James untergehakt und streichelte ihm mit den Fingerspitzen der anderen Hand sacht über seinen Arm.

Margarete legte ihm sanft eine Hand in den Nacken und zwinkerte ihm zu. Abwechselnd stellten die Schwestern James nun Fragen über sein Leben und seine Pläne, die dieser schüchtern beantwortete. Sie flirteten mit ihm, schenkten ihm kokette Blicken und ließen ihm viele kleine Berührungen zukommen.

Dem jungen Mann schien dies zwar einerseits zu gefallen, doch andererseits fühlte er sich auch ganz offensichtlich ein wenig unwohl.
 

Kathryn war ein wenig von dieser Menage-a-trois abgerückt und genoss das Schauspiel. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel und James war in diesem Fall die Maus. Hin und wieder blickte er hilfesuchend zu Kathryn hinüber, die jedoch lediglich aufmunternd zurück lächelte. Sie wusste, dass Melody und Margarete nur ein wenig ihren Spaß haben wollten, aber nicht zu weit gehen würden und sie fand, James täte diese Aufmerksamkeit der beiden schönen Frauen mit Sicherheit gut.
 

Nach einer Weile fiel Kathryn auf, dass Tiny aufgestanden war und ihr mit einem Blick und einer Kopfbewegung bedeutete, dass sie ihm folgen solle. Sie entschuldigte sich bei James, dessen Blick ihr ängstlich folgte und folgte.
 

Sie begleitete Tiny in den Gemeinschaftsraum. Kaum waren sie dort angekommen, kam ihr bester Freund sogleich zur Sache:

„Kathryn, ich hoffe, du weißt, was du tust!“
 

Die Angesprochene blickte ihn verständnislos an und wollte wissen:

„Wovon redest du bitte?“
 

„Ich rede von dem jungen Deputy, der sich offenbar Hals über Kopf in dich verliebt hat.“ erwiderte Tiny: „Ich mache mir ernsthafte Sorgen. Was glaubst du, wie er reagieren wird, wenn du ihm sein kleines Herzchen brechen musst. Er wird sich rächen wollen. Und um dies zu erreichen, wird er sich dann gegen Joe und uns alle richten.“
 

Kathryn schüttelte den Kopf und forderte:

„Beruhige dich Tiny! Du kennst James nicht. Er wird nichts dergleichen tun, denn er ist ein wirklich anständiger Kerl.“
 

„Du nennst ihn James?“ fragte Tiny fassungslos:
 

„Das ist nun mal sein Name.“ schoß Kathryn zurück und fügte dann sanfter hinzu: „Lerne ihn erst einmal kennen. Er ist ein einsamer, liebenswerter, junger Mann, der Gesellschaft sucht. Vielleicht ist er ein bisschen vernarrt; das vergeht auch wieder.“
 

Tiny schüttelte finster den Kopf:

„Das ist mehr als eine kleine Vernarrtheit. Merkst du nicht, wie er dich anschaut. Aber was glaubst du geschieht, wenn er die wahre Kathryn kennenlernt. Was ist zum Beispiel, wenn du ihm von Elizabeth erzählen würdest?“ wollte er wissen:
 

„Das habe ich bereits getan.“ entgegnete Kathryn kühl: „Er hat sich sehr anständig verhalten und mir sein Mitgefühl ausgesprochen. Ich habe noch nicht viele Menschen getroffen, die auf diese Art reagiert haben.“

Tiny blickte sie erstaunt an und schwieg. Kathryn fuhr fort:

„Du solltest ihn nicht vorverurteilen. Sprich` einfach mal mit ihm.“
 

„Du hast ihn gern!“ stellte Tiny fest.
 

Kathryn errötete leicht:

„Was? Nein! Ich meine ja…irgendwie schon. Ich muss jetzt zurück, ehe die Zwillinge James noch zu Tode erschrecken.“
 

Kathryn wendete sich rasch zum Gehen, denn dieses Gespräch wollte sie keinesfalls fortsetzen. Tiny blieb stirnrunzelnd zurück.
 

Es war spät geworden. Shy, Molly und Regine waren bereits zu Bett gegangen und auch Rebecca und Felicity waren mittlerweile müde.

„Ihr müsst nicht nachhause gehen. Wenn ihr wollt, könnt ihr in meinem Bett schlafen, sofern mir eine der beiden Damen einen Platz in ihrem Bett anbietet.“ erkundigte sich Kathryn mit Blick auf Margarete und Melody.
 

Melody kicherte, trat hinter Kathryn, umfasste ihre Taille, zog sie eng an sich und hauchte in ihren Nacken:

„Du ahnst nicht, wie lange ich auf diese Gelegenheit warte, mein Liebling.“
 

Kathryn, Tiny, Joe, Rebecca und Felicity lachten. James beobachtete die Szene verunsichert. Felicity antwortete schließlich:

„Wir möchten keine Umstände machen und wir haben es ja auch nicht so weit.“
 

Und Joe schlug vor, dass Tiny und er sie ja begleiten könnten.

„Ich könnte wirklich noch etwas frische Luft vertragen, ehe es hell wird und ich wieder auf das Haus beschränkt bin.“ erklärte er.
 

Die Vier brachen auf und zurück blieben James, Kathryn und die Zwillinge.

„Nun wird das wieder nichts mit uns beiden!“ sagte Melody mit scherzhaftem Bedauern zu Kathryn, blickte ihr flirtend in die Augen und streichelte ihr anzüglich über das Hinterteil.

An James gewandt erklärte sie mit klimpernden Wimpern:

„Bis bald, schöner Mann! Beehren sie uns wieder.“

Margarete zwinkerte James zum Abschied zu und gab Kathryn einen Kuss auf die Wange, ehe sie ihrer Schwester nach oben folgte.
 

Als sie allein waren, meinte Kathryn entschuldigend zu James:

„Ich hoffe, die beiden sind nicht zu weit gegangen?“
 

James lächelte schüchtern:

„Sie sind sehr charmant!“ Dann fügte er nach kurzem Schweigen hinzu: „Und ich denke, sie hatten großen Spaß an mir und meiner Unbeholfenheit.“
 

„Du hast dich gut geschlagen, James.“ versicherte Kathryn aufrichtig und wollte wissen: „Hat der Abend dir denn auch ein wenig Freude gemacht?“
 

James strahlte, als er antwortete:

„Das wäre eine große Untertreibung. Es war einer der besten Abende seit einer Ewigkeit. Ich danke dir für die Einladung.“
 

„Mir war es ebenfalls ein Vergnügen. Komm` bald wieder mal vorbei!“ entgegnete Kathryn, legte zum Abschied die Arme um James und küsste ihn zart auf die Wange.
 

James winkte ihr noch einmal verlegen zu, ehe er sich zum Gehen wandte.
 

Den Weg durch die Dunkelheit und die Kühle der Nacht, zurück zu seiner Unterkunft nahm James kaum wahr. Seine Wange glühte, dort wo Kathryn ihn geküsst hatte. Er fühlte sich gleichzeitig glücklich und verzweifelt angesichts seiner aussichtslosen Verliebtheit. Es war, als würden tausend Ameisen unter seiner Haut krabbeln. An Schlaf war in dieser Nacht mit Sicherheit nicht mehr zu denken.
 

Als Joe und Tiny endlich auch im Bett lagen, fragte Joe:

„Hast du gewusst, dass Rebecca und Felcity ein Paar sind?“
 

Tiny bestätigte:

„Ja, wir alle wissen das.“
 

„Aber hast du auch gewusst, dass sie bereits seit zwanzig Jahren zusammen sind?“ wollte Joe wissen:
 

„Nein, das wusste ich nicht. Mir war klar, dass die Zwei sich schon lange kennen, aber zwanzig Jahre? Das ist eine lange Zeit!“ antwortete Tiny beeindruckt.
 

Joe erhob sich ein wenig und blickte im Dunkeln auf Tiny hinab:

„Meinst du denn, wir werden irgendwann auch einmal zwanzig Jahre zusammen sein?“
 

Tiny schwieg eine Weile, ehe er antwortete:

„Das fände ich schön. Aber vielleicht hast du bis dahin mich alten Mann satt und willst etwas Neues?“
 

Joe legte seinen Kopf auf Tinys Brust und antwortete:

„Also, das bezweifle ich!“
 

Und obwohl Tiny hierzu tausend Dinge durch den Kopf gingen, sagte er nichts.

Thanksgiving

Seit der Geburtstagsfeier im August hatte James sehr viel Zeit mit Kathryn und ihren Freunden verbracht. Er kam ein bis zweimal pro Woche und immer erst spät am Abend, wenn die Bar bereits geschlossen hatte, um von niemandem gesehen zu werden. Manchmal saß er dann noch eine halbe Stunde oder Stunde mit Kathryn allein auf der Veranda des Wohnhauses oder in der Küche und sie tranken Tee, führte Gespräche und ließen den Tag ausklingen. Gelegentlich kam auch die eine oder andere Frau aus dem „Yasemines“ oder Joe und gesellten sich hinzu. Ganz selten setzte sich sogar Tiny zu ihm, um ein paar Worte zu wechseln. Er begegnete James zwar noch immer mit einer gewissen Zurückhaltung, doch zur Freude des Deputys taute er allmählich ein wenig auf. James hätte nicht sagen können wieso, doch aud irgend einem Grund war ihm an Tinys Anerkennung gelegen.
 

Die Witwe Meyer wunderte sich, warum James an den Abenden nun häufig ausging und spekulierte, dass wohl ein junges Mädchen dahinterstecken musste. James beantwortete dies lediglich mit einem Lächeln.
 

Sheriff Snyder fiel auf, dass sein Deputy nun morgens häufig unausgeschlafen wirkte. James gab dann an, schlecht geschlafen zu haben. Dies wiederum kommentierte Snyder folgendermaßen: „Wenn du tagsüber tüchtig gearbeitet hättest, dann käme der Schlaf von ganz allein. Ich muss dich wohl mehr auf Trab halten, was Junge?“
 

Heute war Donnerstag, der 26. November. James hatte versprochen, seine Eltern an Thanksgiving zu besuchen, also lieh er sich ein Pferd und machte sich in aller Frühe auf den Weg, um am Vormittag in Taylorsville zu sein. Er bedauerte, dass er diesen Feiertag nicht mit Kathryn und ihren Freunden verbringen konnte, welche ihn nämlich dazu eingeladen hatten.

Er blickte dem Besuch bei seiner Familie ohne Freude entgegen. Sein neues Leben in Millers Landing gefiel James und er war froh, dem unterdrückerischen, giftigen Einfluss seines Vaters dadurch entkommen zu sein.
 

Als seine Mutter ihm die Tür öffnete, erschrak James ein wenig, denn die kleine Frau schien in seiner Abwesenheit noch winziger geworden zu sein. Überdies war ihre Haut bleich und gespannt und in ihrem cremefarbenen Kleid hob sie sich kaum noch von den Wänden des Flurs im Hintergrund ab.

„Als wollte sie sich vollends in Bedeutungslosigkeit auflösen!“ dachte James schockiert, versuchte aber, sich jedoch nichts anzumerken zu lassen. Er beugte sich zu seiner Mutter hinunter und umarmte und küsste sie zur Begrüßung.
 

Sein Vater hielt es natürlich nicht für nötig, zu seinem Empfang an die Tür zu kommen. Nein, der Bürgermeister hielt Hof in seinem Arbeitszimmer und James musste zu IHM kommen! Dort saß William Chester in seinem beeindruckenden Lehnstuhl hinter dem prächtigen alten Eichenschreibtisch. Ohne aufzustehen streckte er seinem Sohn zum Gruß die Hand hin und deutete auf einen unbequemen Holzstuhl gegenüber:
 

„Willkommen zuhause Jimmy. Setz´ dich! “ forderte er:
 

„Hallo Vater!“ antwortete James ein wenig reserviert.
 

William Chester holte eine Flasche Whiskey und zwei Gläser aus seiner Schreibtischschublade und schenkte sich selbst ein. Als er auch das zweite Glas füllen wollte, bedeckte James es mit seiner Hand und erklärte:
 

„Danke Vater, aber ich denke, für mich ist es noch etwas zu früh!“
 

Sein Vater schob seine Hand beiseite und erklärte:

„Unsinn! Heute ist ein Feiertag und ich will mit meinem Sohn anstoßen.“
 

Der Vater schob dem Sohn das Glas hin und erhob sein eigenes, um ihm zuzuprosten. Widerwillig nahm James sein Glas und trank. Schon von dem Geruch wurde ihm übel und in seinem Inneren brannte sich der Alkohol den Weg in seinen Magen. Als er das Glas geleert hatte, schüttelte sich James.
 

Sein Vater schenkte für sie beide nach und spottete:

„Jimmy, du kannst immer noch nicht trinken wie ein Mann! Wie bekommt dir der Posten als Deputy?“
 

James ignorierte die gehässige Bemerkung und antwortete stattdessen auf die Frage:

„Die Arbeit ist in Ordnung. Es ist nicht viel los in Millers Landing. Die meisten Leute dort sind gesetzestreue Bürger. Neulich haben wir ein paar Schwarzbrenner erwischt. Das Zeug, dass die unter die Leute bringen wollten, wäre geeignet gewesen, Menschen umzubringen oder blind zu machen. Ansonsten ist es viel Routine: häusliche Streitigkeiten und Schlägereien schlichten, Betrunkene, die randalieren zum Ausnüchtern mitnehmen; solche Sachen!“
 

Sein Vater nickte und dann wollte er wissen:

„Was meinst du, wie lange wird es dauern, ehe du selbst der Sheriff bist, Jimmy? Ich meine, der alte Snyder wird auch nicht jünger. Zeig` ihm was in dir steckt! Zeig` mal ein bisschen Initiative, damit er dich für seine Nachfolge vorschlägt, wenn es einmal so weit ist!“
 

James schüttete sein zweites Glas mit dem gleichen Ekel hinunter, ehe er antwortete:

„Ich bin doch erst seit einem halben Jahr dabei. Und wer sagt überhaupt, dass ich Sheriff werden will?“
 

William Chester schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und erklärte lautstark:

„Soll das dein Ernst sein? Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit du diese Position erhältst. Es geht nicht darum, was du willst Junge. Es geht darum, dass aus dir etwas Anständiges wird! Willst du irgendein Niemand sein? Ein Nichtsnutz, der sich auf den Errungenschaften seines Vaters ausruht? Wie stellst du dir dein Leben denn vor?“
 

Mit jedem weiteren Wort schwoll die Lautstärke seines Vaters ein wenig mehr an. James hatte nicht die Absicht, sitzenzubleiben und sich das weiter anzuhören:

„Ich glaube, du hattest genug Schnaps für heute, Vater“ erklärte James und erhob sich: „Ich werde Mutter in der Küche mit dem Essen zur Hand gehen.“
 

Er drehte sich um und im Hinausgehen rief sein Vater hinter James her:

„Du willst Kochen? Was bist Du? Ein kleines Mädchen etwa?“
 

James ließ den Versuch einer Beleidigung seines Vaters unbeantwortet und verschwand ganz einfach.
 

In der Küche war seine Mutter ganz allein damit beschäftigt, das Essen vorzubereiten:

„Kann ich irgendwie helfen?“ fragte James.
 

Seine Mutter lächelte:

„Gern mein Liebling. Du könntest Kartoffeln schälen. Das Personal hat heute am Feiertag frei, weißt du?“
 

„Personal?“ fragte James skeptisch: „Ihr habt seit jeher nur ein einziges Mädchen. Sollte sich das inzwischen geändert haben?“
 

Seine Mutter lächelte entschuldigend und erklärte eilig:

„Nein, ich spreche natürlich von Louise.“
 

James nickte und machte sich über die Kartoffeln her. Innerlich schüttelte er den Kopf. Seine Mutter und das Hausmädchen Louise hielten das riesige Haus mit Müh´ und Not gemeinsam in Ordnung. Es war das größte und prächtigste Gebäude in der Umgebung und erweckte bei den Menschen den Anschein von großem Reichtum, doch in Wirklichkeit war William Chester längst nicht so gut betucht, wie er alle gern glauben machen wollte. Die Chesters sprachen gern von „Personal“, obwohl sie sich mehr als die eine Hausangestellte auf die Dauer vermutlich gar nicht würden leisten können. Wenn doch einmal herauskam, dass es nur Louise gab, tat sein Vater so, als geschähe dies aus Sparsamkeit und nicht aus Not: „Wozu habe ich diese Frau geheiratet, wenn sie dann nur zuhause sitzt, und mein Geld für französische Seidenkleider ausgibt. Es ist die Aufgabe einer Frau, den Haushalt zuführen!“ Erklärte sein Vater bei dieser Gelegenheit gern.
 

James hatte seine Mutter in ihrem ganzen Leben noch nie ein Seidenkleid tragen sehen; Französisch oder nicht.
 

Während er die Kartoffeln bearbeitete, schaute er seiner Mutter dabei zu, wie sie den Truthahn füllte. Es war ein riesiges Tier und viel zu groß für drei Personen. James erinnerte sich an die vielen Male, in denen er mit seiner Mutter in der Küche gesessen und gekocht oder gebacken hatte; dies natürlich immer sehr zum Leidwesen seines Vaters. Es waren die schönsten Erinnerungen, die James an seine Kindheit und Jugend hatte. Hier in der Küche war seine Mutter immer ein anderer Mensch gewesen. Sie hatten zusammen gelacht und gesungen. Sie hatte ihm von ihrer Jugend erzählt, davon dass sie das schönste Mädchen weit und breit gewesen sei, wie viele junge Männer ihr den Hof gemacht hätten und wie sie sich schließlich für seinen Vater entschieden hatte.

James erinnerte sich, dass er sich schon als Junge gefragt hatte, wieso seine Mutter ausgerechnet diesen Mann genommen hatte. Er hatte sich jedoch nie getraut, diese Frage tatsächlich laut auszusprechen.

„Dein Vater trinkt in letzter Zeit sehr viel.“ platzte seine Mutter plötzlich unvermittelt heraus: „Viel mehr, als früher! Der Doktor sagt, das geht nicht mehr lange gut, aber er will einfach nicht aufhören!“

Die Stimme seiner Mutter klang kläglich und gedämpft. Ihr Blick war in die Ferne aus dem Küchenfenster gerichtet:

„Er wird so gemein, wenn er trinkt.“
 

James trat hinter seine Mutter und umarmte sie:

„Das tut mir leid!“ flüsterte er.

Nachdem sie eine Weile schweigend so dagestanden hatten, fragte er:

„Schlägt er dich?“
 

Seine Mutter schüttelte den Kopf:

„Nein, aber mir wäre es fast lieber, er täte es. Das was er sagt, ist viel schmerzhafter, als das, was Fäuste anrichten könnten.“
 

„Willst du ihn verlassen?“ wollte James wissen.
 

Da drehte sich seine Mutter zu ihm um, setzte ein künstliches, beinahe unheimliches Lächeln auf, schüttelte den Kopf, so als hätte er etwas sehr Dummes gesagt und antwortete:

„Natürlich nicht! Ich bin seine Frau!“
 

Und damit war das Thema erledigt.
 

Es war fünf Uhr und draußen dämmerte es bereits, als das Thanksgiving-Dinner auf dem Tisch stand. William Chester saß an seinem Platz am Kopf der Tafel und hatte zusätzlich zu dem Wein, den es zum Essen geben sollte, die Whiskeyflasche vom Vormittag vor sich stehen, nur das diese nun beinahe leer war. Zu seiner Linken und Rechten war für James und seine Mutter gedeckt.
 

Alma Chester füllte gerade für ihren Mann und ihren Sohn die Teller, als dieser lauter als notwendig und bereits ein wenig lallend ausrief:

„Sei nicht so geizig mit dem Fleisch, Alma! Ich bin ein Mann und keine Maus.“ Und an James gewandt forderte er: „Hier Junge, nimm` noch einen Schluck. Ich hab` irgendwo noch eine Flasche!“
 

James schüttelte den Kopf:

„Danke, Nein! Ich halte mich an den Wein.“ erklärte er fest.
 

William Chester zuckte mit den Schultern und bellte:

„Dann eben nicht!“

Kaum hatte sein Vater den ersten Bissen getan, schimpfte er:

„Der verdammte Vogel ist total trocken, Alma.“
 

James blickte ihn finster an und sagte dann zu seiner Mutter:

„Ich finde, alles schmeckt großartig. Das Fleisch ist sehr gut!“
 

Alma Chester lächelte gequält und erwiderte:

„Danke mein Junge!“
 

Daraufhin pöbelte William Chester seinen Sohn an:

„Ach Jimmy, du bist immer noch so ein verdammtes Muttersöhnchen. Ich dachte, der Job treibt dir das endlich aus, aber das war wohl nichts.“ Dann blickte er James spöttisch an und fragte: „Ist das der Grund, warum du uns immer noch kein Mädchen vorgestellt hast; weil keine so ist, wie deine Mama?“ Er lachte böse und klapste James unsanft auf die Wange: „Oder bist du vielleicht andersrum?“ Wieder ein Klaps, gefolgt, von einem dreckigen, kleinen Kichern: „Aber vielleicht funktioniert bei dir da unten ja auch nicht alles so, wie es soll, hm?“ Klaps, klaps: „Es gibt doch dieses Freudenhaus bei euch in Millers Landing. Vielleicht solltest du da mal hingehen. Aber Vorsicht, ich hab` gehört, die haben da Mädchen in allen Schattierungen. Sieh` zu, dass du eine Weiße bekommst. Bei den Anderen weißt du doch nicht, was du dir einfängst.“ William Chester holte mit der Hand zu einem weiteren Schlag aus, doch diesmal zuckte James zurück und funkelte seinen Vater böse an.
 

Unpassender Weise mischte sich nun seine Mutter ein:

„Ja, James. Such` dir ein nettes Mädchen und heirate. Ich möchte Enkelkinder, bevor ich sterbe!“
 

James blickte seine Mutter verständnislos an. Bekam sie gar nicht mit, was gerade vor sich ging? James bekam Kopfschmerzen und kippte mittlerweile sein drittes Glas Wein hinunter. Wenn er nicht aufpasste, dann wäre er bald ebenso betrunken, wie sein Vater:
 

„Vergiss es Alma! Der Schlappschwanz wird dir keine Enkelkinder schenken!“ erklärte sein Vater und holte erneut mit der flachen Hand aus, doch James hatte nun endgültig genug. Er sprang vom Tisch auf, ergriff die Hand seines Vaters, welche sich seinem Gesicht näherte und auch gleich noch die andere. Der Stuhl, den James beim Aufstehen zurückgestoßen hatte, fiel mit einem lauten „Rumms“ zu Boden, doch das kümmerte ihn nicht. Er riss an den Händen seines Vaters, bis dieser zu Stehen kam und verdrehte sie ihm dann schmerzhaft die Handgelenke. Mit Genugtuung registrierte er Angst und Schmerz auf dem Gesicht des großen William Chester, sowie die Tatsache, dass er mittlerweile stärker war, als dieser.

James hasste seinen Vater in diesem Augenblick. Er dachte an Joseph Harper und Vatermord erschien ihm plötzlich mehr zu sein, als eine vage Möglichkeit. James blickte seinem Vater zornig in die Augen und sagte schneidend, aber nicht laut:

„Du bist ein mieser, versoffener, alter Dreckskerl. Hast du dir einmal überlegt, warum du deinem Sohn bei jeder Gelegenheit klarmachen willst, dass er ein Schwächling ist? Ich denke, ICH weiß es jetzt! Tief drinnen ist dir klar, dass du nicht halb der Mann bist, der du gern wärst. Und eine jüngere Version deiner selbst, die mit jedem Tag, an dem du älter und schwächer wirst an Kraft gewinnt, muss dir eine verdammte Angst einjagen! Aber keine Sorge VATER...“ diesem Wort verlieh James einen spöttischen Unterton: „...mich wirst Du in diesem Haus nicht mehr wiedersehen. Du bleibst also König hier in deinem kleinen Palast.“
 

Mit diesen Worten stieß James seinen Vater zurück in seinen Stuhl. Als er sich nach seiner Mutter umsah, hatte diese zu seiner Überraschung ein kleines, kaum sichtbares Lächeln auf den Lippen.
 

Sein Vater saß wie erstarrt an seinem Platz. James griff sich eine soeben geöffnete, beinahe noch volle Flasche Wein, ehe er das Esszimmer verließ.
 

Nun rief William Chester James hinterher:

„Ja, verschwinde Jimmy und komm` bloß nicht wieder.“

Ganz so, als hätte ER ihn in die Flucht geschlagen. James konnte angesichts dieses kläglichen Versuches seines Vaters, die Oberhand zurückzugewinnen nur Lachen. Seine Mutter war James bis zur Tür gefolgt:
 

„Nimm es dir nicht zu Herzen Junge, es ist der Alkohol!“ erklärte sie, doch James schüttelte den Kopf:
 

„Nein Mutter, der Alkohol lässt ihn nur so sein, wie er wirklich ist, aber er macht ihn nicht zu diesem Menschen!“
 

Seine Mutter zuckte seufzend mit den Schultern und fragte:

„Sehen wir dich an Weihnachten?“
 

James schüttelte traurig den Kopf, weil seine Mutter offenbar nicht verstand oder verstehen wollte, was geschehen war:

„Nur wenn du nach Millers Landing kommst, denn da lebe ich nun und ich komme auch niemals zurück.“

Mit diesen Worten griff sich James seine Flasche und Jacke und verließ das Haus.
 

Draußen war es mittlerweile stockfinster und es hatte leicht zu schneien begonnen. James zog seine Jacke fest um sich und stieg auf sein Pferd. Auf halbem Weg nach Millers Landing hatte er den Wein geleert und war mittlerweile ziemlich betrunken, was den Vorteil hatte, dass er die Kälte nicht mehr so deutlich spürte. Der Schneefall hatte mittlerweile stark zugenommen und endlich tauchten vor James die Lichter von Millers Landing auf, doch anstatt in die Stadt einzureiten, überlegte er es sich anders und steuerte das Rote Haus an.

Eingeschneit

Die Bar war bereits dunkel, doch in der Küche des Wohnhauses brannte noch ein kleines Licht, also wagte es James, zu klopfen. Doch anstatt Kathryn, wie erhofft, öffnete ihm Joe, der sich vorher durch die kleine Scheibe in der Tür zuvor versichert hatte, dass draußen niemand stand, der nach ihm suchte. Der Anblick, welcher sich Joe bot war ziemlich erbärmlich. James war klatschnass und schneebedeckt, schlotterte vor Kälte und roch wie eine Schnapsbrennerei:
 

„Großer Gott, was ist denn mit dir passiert? Komm´ doch erst mal rein!“ forderte er ihn auf.
 

„Das Pferd!“ warf James schlotternd und wies auf das Tier hinter sich, doch Joe versicherte:
 

„Komm` rein und setz´ dich in der Küche an den Ofen. Ich versorge dein Pferd!“
 

James schüttelte den Kopf:

„Ich will nicht stören.“ murmelte er lallend:
 

„Ich lass´ dich aber in diesem Zustand nicht gehen. Komm´ endlich rein, damit wir die Tür wieder schließen können.“ forderte Joe ungeduldig und fügte sanfter hinzu: „Außerdem könnte ich gerade wirklich etwas Gesellschaft gebrauchen.“
 

Und so trat James ein und setzte sich an den Ofen. Joe warf sich eine Decke um, ging hinaus, führte das Pferd in den Stall, nahm ihm Sattel und Geschirr ab und versorgte es mit Wasser und Heu. Als er wieder ins Haus kam, saß James noch immer zitternd und klatschnass da. Joe lief nach oben, um ein Handtuch und trockene Kleidung für ihn zu holen. James versuchte nun, sich die nassen Kleider auszuziehen, doch seine Hände waren so erfroren, dass sie ihm nicht gehorchten. Joe half ihm schließlich, Hemd und Hose zu öffnen und bemerkte dabei James verunsicherten Blick.
 

„Keine Sorge!“ grollte Joe und rollte mit den Augen: „Ich will dir nicht an die Wäsche. Ich will bloß verhindern, dass du dir den Tod holst, Mann!“
 

Joe half James in die trockenen Kleider und rubbelte ihm die Haare trocken. Er hatte inzwischen auch Teewasser aufgestellt, für James eine Decke besorgt und im Ofen einen Scheit nachgelegt:

„So, ich denke, nun kommst du durch!“ erklärte er und wollte wissen: „Aber nun sag` doch mal, was los ist? Wolltest du denn nicht über Nacht bei deinen Eltern bleiben?“
 

Zur gleichen Zeit, als das Gefühl in James Hände, Füße und Gesicht zurückkehrte, taute scheinbar auch sein Inneres wieder auf, Tränen stiegen in ihm auf und mündeten schließlich in einem heftigen Schluchzen.
 

Joe rückte seinen Stuhl nah an James heran, legte seine Arme ihn und flüsterte ihm beruhigend zu:

„Es ist in Ordnung James. Alles wird gut!“
 

Es dauerte eine Weile, bis James sich beruhigt hatte. Dann begann er zu erzählen; von den Begebenheiten des heutigen Tages, von seiner Kindheit und Jugend, von seinem Vater und seiner Mutter. Sein Bericht war ein wenig durcheinander, doch Joe hörte aufmerksam zu. Als endlich alles gesagt zu sein schien, fühlte James sich unendlich sehr erschöpft. Er drehte seinen Kopf zu Joe herum, blickte ihn ernst an und sagte:
 

„Ich würde dir gern eine Frage stellen, aber ich habe Angst, damit unangenehme Erinnerungen zu wecken.“
 

„Frag` ruhig!“ erwiderte Joe. „Die unangenehmen Erinnerungen sind doch längst wach. Das ist der Grund, warum ich es auch bin. Ich habe es im Bett einfach nicht ausgehalten.“
 

James zögerte noch einen Moment, ehe er schließlich fragte:

„Der Moment, als du den Stein genommen und deinen Vater geschlagen hast, hattest du da das Gefühl, gesiegt zu haben?“
 

Joe sackte ein wenig in sich zusammen:

„In diesem einen Moment? Ja, ich hatte gesiegt. Aber heute denke ich das nicht mehr. Mein Vater hat Gewalt in mich gesät und ich bin dadurch zum Mörder geworden. Das werde ich nie wieder los und dadurch hat er wohl für immer über mich gesiegt.“

Nun war es Joe, dessen Augen Tränen sich mit Tränen füllten, doch er unterdrückte das Weinen:
 

„Tut mir leid!“ sagte James und nahm Joes Hand.
 

Dieser drückte sie kurz, blickte James an und lächelte tapfer:

„Ist nicht deine schuld!“
 

„Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich bis heute gedacht, `Was kann Joe an diesen Punkt getrieben haben? Wie hat er es fertig gebracht, seinen eigenen Vater zu töten?´“ bekannte James: „Doch dieser Moment heute, als ich die Hände meines Vaters festgehalten und meine Wut und Überlegenheit gespürt habe, da war es mir plötzlich vollkommen klar. Es könnte endlich vorbei sein; all` die Demütigungen und Grausamkeiten wären endlich vorüber.“ Er zögerte kurz, ehe er weitersprach: „Das, was mein Vater mir angetan hat, ist nicht annähernd zu vergleichen mit dem, was du erdulden musstest und doch war ich eine Sekunde lang an dem Punkt, da ich ihm den Tod gewünscht habe.“
 

„Du solltest unsere Situationen nicht vergleichen.“ entgegnete Joe: „Und du solltest deine eigenen Erlebnisse nicht herunterspielen.“
 

Die beiden jungen Männer saßen dicht beieinander vor dem offenen Ofen und blickten eine Weile schweigend in die Flammen.
 

Mit einem Mal waren auf der Treppe Schritte zu hören. Kathryn betrat verschlafen die Küche und war erstaunt, James dort anzutreffen:

„James ist ziemlich betrunken. Bei seinen Eltern war es wirklich übel und ich dachte, ich nehme ihn für heute Nacht auf, ehe er erfriert und zum Festmahl für die Kojoten wird.“ erklärte Joe munter in Kurzfassung.
 

James schenkte ihm einen vorwurfsvollen Blick. Er wollte nicht, dass Kathryn schlecht von ihm dachte.
 

„Betrunken, hm?“ meinte Kathryn. „Und wo soll er heute Nacht schlafen?“
 

„Weiß nicht.“ meinte Joe schmunzelnd: „Vielleicht zwischen Thomas und mir?“
 

„Ich glaube nicht, dass Tiny das gefallen würde.“ erwiderte James. „Er ist mir ja nicht gerade besonders gewogen.“
 

Joe grinste vielsagend und witzelte:

„Vielleicht ist Thomas ja auch nur so abweisend, weil er dich im Grunde mehr mag, als er zugeben will.“
 

James riss die Augen weit auf:

„Ehrlich?“ fragte er.
 

Joe verdrehte belustigt die Augen:

„Keine Sorge, du bist sicher! Ich verschaukele dich nur, weil ich es amüsant finde, wie nervös dich dieses Thema macht.“
 

Selbst im Halbdunkel der nächtlichen Küche war deutlich zu erkennen, dass James heftig errötete.

Um von seiner Verlegenheit abzulenken, wandte er sich an Kathryn und fragte:

„Ich hoffe, wir haben dich nicht geweckt?“
 

Diese schüttelte den Kopf und nahm sich ein Glas Wasser:

„Nein! Durst hat mich geweckt.“ Dann fügte sie hinzu: „Wenn du willst, kannst du bei mir schlafen. Mein Bett ist groß genug.“
 

James riss entsetzt seine Augen auf, doch Joe erklärte lediglich:

„Fein! Dann kann ich wieder ins Bett gehen. Du bist ja nun versorgt, James!“
 

„Warte noch!“ rief James ihm hinterher, stand auf und umarmte ihn: „Danke für heute Abend!“
 

„Gern geschehen!“ erwiderte Joe, die Umarmung erwidernd: „Es tut gut, zur Abwechslung einmal helfen zu können, anstatt immer nur Hilfe zu empfangen. Außerdem schulde ich dir doch etwas. Dir verdanke ich schließlich, dass ich nicht schon längst am Galgen baumele.“
 

James setzte sich wieder auf seinen Platz, blickte in die Richtung, in welche Joe verschwunden war und fragte sich:

„Wie schafft er das nur? Wie lebt er weiter, nach allem, was er hinter sich hat? Er kommt mir trotz allem glücklich und ausgeglichen vor.“
 

Kathryn setzte sich an seine Seite und antwortete:

„Es ist ja nicht so, dass er eine große Wahl hätte. Das Leben geht einfach weiter, ganz gleich was geschieht, oder nicht? Ich denke, es hilft ihm, dass er Tiny und uns alle hat. Und lass` dich nicht täuschen! Seine Erinnerungen rauben ihm oft genug den Schlaf und dann sitzt er hier unten und ist als Einziger wach, so wie heute.“
 

James blickte sie erstaunt an:

„Das habe ich nicht gewusst.“
 

Kathryn zuckte mit den Schultern. Dann wollte sie wissen:

„Was ist denn nun bei deinen Eltern geschehen? Erzähl` doch mal!“
 

Und obwohl James erschöpft war und am liebsten alles ganz schnell vergessen wollte, gab er ein zweites Mal an diesem Abend einen genauen Bericht des heutigen Tages.
 

Kathryn hatte im aufmerksam zugehört und dann forderte sie mit Nachdruck:

„Vergiss deinen Vater!“
 

James blickte sie überrascht an und Kathryn fuhr fort:

„Wir brauchen unsere Eltern, solange wir klein sind, damit sie uns beschützen und ernähren. Doch du bist siebenundzwanzig Jahre alt. Wenn Schmerz alles ist, was du durch sie erfährst, dann vergiss sie! Ich habe an MEINEN Vater seit Jahren kaum noch gedacht.“
 

James runzelte zweifelnd die Stirn und Kathryn gab zu:

„Na ja, es funktioniert wohl besser, wenn du dir eine neue Familie suchst, schätze ich.“
 

Sie schwiegen eine Weile und schließlich beschloss Kathryn, das Thema zu wechseln:

„Aber in einem Punkt muss ich deinen Eltern recht geben: Du solltest dir wirklich ein nettes Mädchen suchen. Ich weiß nicht, ob es gleich eine zum Heiraten und Kinder kriegen sein muss. Wie wäre es für den Anfang mit einer losen Bekanntschaft. Soweit ich mich erinnere, macht die körperliche Seite der Liebe viel Spaß.“
 

Er blickte sie gequält an:

„Ich denke, wenn ich irgendwann einmal dazu bereit bin, dann muss es mit jemandem sein, den ich wirklich liebe.“
 

Kathryn gab ein amüsiertes, kleines Kichern von sich.

James war ein wenig gekränkt und fragte:
 

„Lachst du mich aus?“
 

Kathryn schüttelte den Kopf.

„Natürlich nicht! Du bist nur so…“sie suchte das richtige Wort: „…so rührend!“
 

„Du machst dich DOCH lustig über mich.“ stellte James unglücklich fest, doch Kathryn antwortete nachdrücklich:
 

„Nein, das ist es wirklich nicht. Ich betrachte die Dinge nur aus einer anderen Perspektive. Vielleicht kann ich es mir nach dem Leben, dass ich gelebt habe einfach nicht mehr vorstellen, wie es sein muss, das erste Mal noch vor sich zu haben.“
 

James wollte etwas wissen, doch er war unsicher, ob er damit eine Grenze überschritt.

„Ich möchte dich etwas fragen…etwas über deine…Arbeit.“
 

Kathryn blickte ihn aufmerksam an und wartete auf die Frage:

„Wie ist das, wenn du einen Mann mit auf dein Zimmer nimmst und er dann…DAFÜR bezahlt? Du liebst ihn nicht. Vielleicht ist er dir sogar unangenehm. Wie schaffst du das?“
 

Kathryn schwieg eine Weile und James fürchtete schon, sie sei durch die Frage beleidigt, doch in Wirklichkeit dachte sie nur über die Antwort nach. Schließlich begann sie:

„Ich war sechzehn, als ich es das erste Mal tun musste. Tiny und ich hatten kein Geld und nichts zu essen. Es musste getan werden und ich habe nicht viel darüber nachgedacht.“
 

„Sechzehn?“ wiederholte James ungläubig.
 

Kathryn zuckte mit den Schultern und fuhr fort:

„Offenbar hatte ich ein gewisses Talent für das, was ich tat und scheinbar auch das passende Äußere. Ich konnte mir aussuchen, wen ich mitnehmen wollte. Meistens war es völlig bedeutungslos und schnell vorüber, nur manchmal war es unangenehm und in sehr seltenen Fällen war es sogar ganz schön. Als ich mich verliebte, änderten sich die Dinge. Die Arbeit stand zwischen Elizabeth und mir. Ich wollte meinen Körper mit niemand Anderem mehr teilen und wollte auch nicht, dass sie es tat. Ihr ging es umgekehrt genauso. Als wir beide das „Yasemines“ erbten, sprachen wir mit den anderen Frauen darüber und glücklicherweise verstanden sie uns. Wir blieben hier, doch wir standen für diese Dienstleistung nicht mehr zur Verfügung. Und als Elizabeth dann starb, wurde es ohnehin unmöglich für mich, mit jemandem intim zu sein; aus welchem Grund auch immer.“

Nach einer kurzen nachdenklichen Pause fügte Kathryn hinzu:

„Ich fühle mich den anderen Frauen gegenüber oft schuldig deswegen, doch ich kann es nicht ändern.“
 

James hatte ihren Ausführungen aufmerksam zugehört und fragte dann:

„Bedeutet dass, du warst seit Elizabeths Tod mit niemandem mehr zusammen?“
 

Kathryn bestätigte seine Vermutung mit etwas, das halb Nicken, halb Schulterzucken war.
 

„Und fehlt es dir manchmal?“ wollte er wissen:
 

„Ich weiß nicht? Ja, vielleicht? SIE fehlt mir!“ antwortete sie und fügte hinzu: „ Ich werde langsam müde. Lass uns schlafen gehen, in Ordnung?“
 

Beide erhoben sich, doch am Treppenabsatz blieb James plötzlich stehen und blickte Kathryn an. Und weil er betrunken war, weil er sich ihr in diesem Moment nah fühlte und weil er große Sehnsucht nach ihr hatte, beugte er sich vor, um sie zu Küssen.
 

Kathryn erkannte früh genug, was er vorhatte und hielt in eine Armeslänge auf Abstand:

„Was wird das?“ fragte sie streng und erst da erkannte James selbst, was er gerade im Begriff gewesen war, zu tun. Erschrocken hielt er sich eine Hand vor den Mund und murmelte:
 

„Oh Gott, es tut mir leid!“

Er rannte in Richtung Haustür.
 

Kathryn verdrehte genervt die Augen und folgte ihm: „

„James, bleib stehen! Wo willst du denn jetzt hin.“
 

An der Tür hatte sie ihn eingeholt und hielt ihn am Arm. James hatte seinen Blick beschämt am Boden festgeheftet.

„Ich gehe nachhause.“ verkündete er leise.
 

Ärgerlich erwiderte Kathryn:

„Da draußen tobt ein Schneesturm, falls du es noch nicht mitbekommen hast.“
 

„O.K., dann schlafe ich auf dem Fußboden.“ erwiderte James trotzig:
 

„Ich bin zu müde für diese alberne Diskussion! Du kommst jetzt mit rauf und schläfst im Bett, vorausgesetzt, die behältst deine Lippen, deine Hände und den Rest auf deiner Seite, hörst du?“ forderte sie.
 

James blickte sie verzweifelt an. Schließlich griff Kathryn seinen Arm, und zog ihn die Treppe hinauf. Neben ihr ihm Bett traute James kaum, sich zu rühren aus Angst, Kathryn wieder zu nahe zu treten.

Er schämte sich gewaltig.
 

Am nächsten Morgen erwachte James mit steifen Knochen und fühlte sich erbärmlich. Sein Schädel pochte vom Alkohol und nüchtern war die Scham für seine gestrige Tat kaum noch auszuhalten. Er setzte sich im Bett auf, zog die Knie unter das Kinn und umfasste mit den Armen seine Beine.

Er schaute aus dem Fenster. Der Sturm hatte nachgelassen, doch es lag mindestens ein Meter hoch der Schnee. James dachte darüber nach, was er sagen oder tun könnte, um die Situation wieder in Ordnung zu bringen, doch es fiel ihm nicht das Passende ein.
 

Nun schlug auch Kathryn die Augen auf. Als sie James grübelnd dasitzen sah, richtete sie sich ebenfalls auf. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und versuchte, mit den Fingern ihr krauses, rotes Haar zu richten, was jedoch ein sinnloses Unterfangen war.

„Guten Morgen.“ begrüßte sie ihn.
 

„Morgen.“ antwortete James kaum hörbar.
 

Kathryn blickte ihn aufmerksam an und wollte wissen:

„Was ist los mit dir! Ist es immer noch wegen gestern? Vergiss es! Du warst betrunken. So etwas passiert eben!“
 

Er drehte sich mit ernster Miene zu ihr um und erklärte:

„Ja, es stimmt, dass ich betrunken war. Aber ich hätte dich auch küssen wollen, wenn ich nüchtern gewesen wäre. Ich hätte mich nur nicht getraut, es zu versuchen. Ich denke, es wird Zeit, dass ich dir etwas sage. Ich habe mich in dich verliebt, Kathryn.“

Während er die Worte sagte, traute er sich kurz, Kathryn in die Augen zu sehen, doch lange konnte er ihrem Blick nicht standhalten und starrte stattdessen auf das Laken.
 

Kathryn betrachtete ihn mit einer Mischung aus Traurigkeit und Zärtlichkeit:

„Das weiß ich doch längst, du dummer Junge! Das ist doch kein Verbrechen.“ versicherte sie sanft und strich ihm eine schwarze Locke aus dem Gesicht. „So etwas passiert zwischen Freunden manchmal. Das geht auch wieder vorbei!“
 

Es verletzte ihn, dass sie offenbar die Tiefe seiner Gefühle nicht verstand oder ernst nahm:

„Nein, ich denke nicht, dass das vorbei geht.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich würde nun am Liebsten einfach verschwinden!“
 

Kathryn schüttelte den Kopf:

„Das geht doch jetzt nicht! Draußen ist hellichter Tag. Was ist, wenn dich jemand sieht?“
 

„Ich weiß!“ antwortete James niedergeschlagen und verließ Kathryns Schlafzimmer.
 

Er ging hinunter in die Küche, wo Tiny bereits am Herd stand und das Frühstück zubereitete. Als James ihm einen guten Morgen wünschte, drehte Tiny sich verwundert um, zog fragend eine Augenbraue hoch und erwiderte den Gruß.

„Kaffee?“ fagte er:
 

„Ja bitte!“ antwortete James dankbar.
 

Tiny stellte eine Tasse und die Kanne vor ihn hin und wendete sich dann wieder dem Herd zu.
 

James starrte in die dunkle Flüssigkeit, als gäbe es am Boden der Tasse ein paar Antworten für ihn. Dann hörte er, dass jemand die Treppe herunter geschlurft kam. Es war Joe, der in seinem Schlafanzug an James vorbei tapste, ihn verschlafen grüßte und direkt auf Tiny zusteuerte. Er schlang diesem von hinten die Arme um die Taille, schmiegte sich eng an ihn und vergrub seinen Kopf an seiner Schulter.
 

„Schade, dass du nicht mehr da warst, als ich aufgewacht bin.“ nuschelte Joe kichernd.
 

Tiny drehte sich zu dem jungen Mann um, lächelte auf ihn hinab und küsste ihn lange und innig.
 

James, der die beiden noch nie hatte Zärtlichkeiten austauschen sehen, beobachtete die Szene heimlich aus dem Augenwinkel. Es war etwas anderes, etwas zu wissen und es selbst zu sehen, stellte er fest. Bisher hatte er es vermieden, sich Joe und Tiny als Paar vorzustellen. Als er diesen Anblick aber nun vor Augen hatte, löste er eine verwirrende Mischung von Empfindungen aus. Er fühlte Widerwillen, denn der Anblick zweier Männer, die auf diese Weise miteinander umgingen, war einfach zu fremd, zu ungewohnt. Gleichzeitig schämte er sie für diese Reaktion, denn im Grunde genommen hätte er gern eine völlig indifferente Haltung gehabt, ganz frei von Vorurteilen.

Und dann erkannte James, wie verwandelt der große, grimmige Tiny wirkte, wenn er mit Joe zusammen war. Er war sanft, liebevoll und ganz und gar nicht mehr furchteinflößend.

Zuletzt war da noch eine Empfindung, die James sich am liebsten nicht eingestanden hätte und das war die kleine Erregung, welche er bei dem ungewohnten Anblick fühlte.
 

Zum Glück kam in diesem Moment ein noch größerer Anlass für Verwirrung in Gestalt von Kathryn durch die Tür, so dass er darüber glücklicherweise nicht länger nachdenken musste:
 

„Guten Morgen, Jungs!“ sagte Kathryn munter und sandte ein gutmütiges Lächeln in James Richtung, welches dieser traurig und halbherzig erwiderte. Dann trat sie an den Herd, legte je einen Arm um Joe und Tiny und warf einen Blick über deren Schultern in die Pfannen auf dem Herd:

„Was gibt`s zum Frühstück?“ wollte sie wissen und maulte dann enttäuscht: „Eier? Ich hatte auf Pfannkuchen gehofft.“
 

Nach und nach kamen auch die restlichen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses in die Küche und versammelten sich am Frühstückstisch. Als Sam eintraf und James erblickte, stürzte er sich begeistert auf ihn:

„Bist du heute den ganzen Tag bei uns?“ fragte er: „Das ist ja toll! Meist kommst du ja erst, wenn ich schon im Bett bin. Wenn du willst, können wir Karten spielen. Vielleicht machen Joe und Tiny ja auch mit?“
 

Tiny, der mitbekommen hatte, was der Junge vorgeschlagen hatte nickte:

„Später, nach dem Frühstück. In Ordnung?“
 

James, der zur gleichen Zeit mit seinem Kater und seinem wehen Herzen kämpfte, waren der fröhliche Junge und die Aussicht auf stundenlange Kartenspiele eigentlich zu viel, doch auf diese Weise hätte er wenigstens etwas zu tun, bis die Sonne unterging und er verschwinden konnte.

Wider Erwarten hatte James schließlich aber doch Spaß. Joe hatte ein unverschämtes Glück und gewann beinahe jedes Spiel und der kleine Sam war selig, Spielgefährten gefunden zu haben.

Als seine kleinen Schwestern Mia und Lois fragten, ob sie mitspielen dürften, lehnte Sam dies strikt ab und ließ sich auch durch einen strengen Blick von Tiny nicht umstimmen. Nach all den Jahren mit Mutter, Schwestern und all den anderen weiblichen Mitbewohnerinnen genoss er offenbar diese Männerrunde sehr.
 

Als schließlich der Abend dämmerte, war James dennoch froh, dass er gehen konnte, um allein zu sein und in Ruhe über alles nachzudenken.
 

Kathryn und er waren sich den Tag über aus dem Weg gegangen. James machte sich nun daran, sich von allen zu verabschieden und sich für die Gastfreundschaft zu bedanken. Am Ende blieb nur noch Kathryn, der er Lebewohl sagen musste. Er stand mit dem Rücken zur Tür und blickte zu Boden.
 

Kathryn nahm seine Hände in die ihren und sagte sanft:

„Mein Lieber! Nimm es doch bitte nicht so schwer. Von meiner Seite aus ist zwischen und beiden alles in Ordnung. Wir sind Freunde! Wirklich!“
 

Obwohl James nicht mehr als das erwarten konnte, traf es ihn im Herzen, „Freund“ genannt zu werden.

Er nickte, lächelte mühsam und verschwand dann in die Nacht.

Auf Distanz

In den nächsten beiden Wochen ließ James sich nicht im Roten Haus blicken und Kathryn wurde mit jedem Abend, an welchem er nicht erschien übellauniger. Als sie dann auch noch selbst realisierte, wie viel es ihr ausmachte, dass er nicht mehr kam, verschlechterte dies ihre Stimmung lediglich noch weiter.

Innerlich verfluchte sie James, weil er mit ihrer Zurückweisung nicht umgehen konnte. Die Gespräche mit ihm hatten ihr viel bedeutet. Sie begriff erst jetzt, was er im Grunde für ein besonderer Mensch war. Er war jemand der aus guten Verhältnissen stammte und zuvor von der Welt nicht allzu viel gesehen hatte und man konnte nicht leugnen, dass die Bewohner des Roten Hauses ihm in kurzer Zeit so manches zugemutet hatten, mit dem die meisten normalen Leute nicht umgehen konnten und wollten. James jedoch hatte sich stets einen offenen Geist bewahrt, seine bisherigen Sichtweisen hinterfragt und die Dinge akzeptiert, wie sie waren.

Kathryn vermisste seine gutmütige, wohlwollende, teilweise etwas naive Art, die Menschen und die Welt zu beurteilen. Ihre eigenen Verhärtungen, die so mancher üblen Erfahrung in ihrem Leben geschuldet waren, weichten dadurch ein wenig auf und sie musste zugeben, dass dies eine wahre Wohltat war.
 

Doch nun war James fort und würde vielleicht nicht wiederkommen.

Zum Teufel mit ihm! Er sollte zur Hölle fahren, wenn er wegen einer solchen Lappalie bereit war, alles, was zwischen ihnen entstanden war, so leichthin enden zu lassen, entschied sie ärgerlich!
 

James dachte in jeder Minute immer nur an Kathryn. Er stellte sich ihr schönes Gesicht, ihre elegante Erscheinung und den Klang ihrer Stimme vor. Es tat ihm beinahe körperlich weh, sie nicht zu sehen, doch er brachte es trotzdem einfach nicht fertig, zu ihr hinüber zu gehen. Es war nicht nur die Scham über sein unangemessenes Verhalten und Kathryns Zurückweisung, die ihn abhielten, sondern es ging mittlerweile vor allem darum, dass er sich nichts mehr darüber vormachen konnte, was er sich wünschte: er wollte mehr für sie sein, als ein Freund und das konnte Kathryn ihm nun einmal nicht geben.

James wünschte so sehr, er könnte das für Kathryn sein, was sie brauchte, doch es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.
 

Und so schleppte er sich elend durch seine Tage, kam am Abend heim in sein stilles kleines Zimmer und verbrachte seine Zeit wieder allein, denn er hatte ja nicht nur Kathryn, sondern mit ihr auch die anderen neuen Freunde verloren.
 

Joe lag im Bett in Tinys Armbeuge, einen Arm und ein Bein um ihn geschlungen und betrachtete die merkwürdigen Schatten, welche das Licht der Öllampe an die Wand warfen:

„Was glaubst, du, warum James nicht mehr kommt?“ wollte er wissen.
 

„Ich schätze, irgendetwas ist zwischen ihm und Kathryn vorgefallen.“ erwiderte Tiny bereits ein wenig schläfrig.
 

„Er war nicht mehr hier, seit er bei ihr übernachtet hat.“ fuhr Joe nachdenklich fort: „Meinst du, die beiden haben… ich weiß nicht… miteinander geschlafen oder so?“
 

„Das bezweifle ich!“ erklärte Tiny: „Ich wundere mich nur, dass Kathryn mir nichts erzählt. Ihre Laune in letzter Zeit ist unerträglich. Es ist offensichtlich, dass sie James vermisst.“
 

„Ich vermisse James übrigens auch.“ gab Joe zu.
 

„Aha!“ machte Tiny mit einem Mal hellwach:
 

Der junge Mann hob den Kopf und fragte belustigt:

„Bist du etwa eifersüchtig?“
 

„Wieso? Habe ich denn einen Grund?“ erkundigte sich Tiny scharf.
 

„James ist sehr gutaussehend und ein fantastischer Mensch…“ begann Joe und wurde von Tiny unterbrochen:
 

„…und er ist jünger als ich!“
 

„Richtig!“ erwiderte Joe, der Tinys Eifersucht ein klein wenig genoss: "Aber ich will ja DICH! Und es ist doch ziemlich offensichtlich, das James Kathryn will.“ Dann fuhr er fort: „Und ich glaube mittlerweile, sie will ihn auch. Ich verstehe nur nicht, warum die Zwei dann nicht zusammen sind und alles ist gut.“
 

Tiny dachte darüber nach:

„Ich schätze, das hat etwas mit Elizabeth zu tun.“
 

„Wer ist Elizabeth?“ fragte Joe neugierig.
 

Tiny war verblüfft über die Frage. Joe war bereits mehrere Monate bei ihnen. War es da möglich, dass er tatsächlich noch nie von Kathryn und Elizabeth gehört hatte?

Tiny erzählte die Geschichte und nun war es an Joe, erstaunt zu sein.

„Ich hatte keine Ahnung, das Kathryn so ist wie wir.“ meinte Joe schließlich: „Vielleicht hat sie es James erzählt, und er kommt deshalb nicht mehr.“
 

Tiny schüttelte den Kopf.

„Nein, das wusste er längst!“
 

„Komisch!“ meinte Joe: „Ich habe wirklich gedacht, Kathryn hätte etwas für James übrig.“
 

„Das hat sie ja vielleicht auch.“ erwiderte Tiny: „Wer sagt, dass sie nicht auch einen Mann lieben kann, nur weil sie einmal mit einer Frau zusammen war.“
 

„Hmm.“ machte Joe nachdenklich.

Diese Möglichkeit war ihm noch nie in den Sinn gekommen, denn er könnte sich das für sich selbst niemals vorstellen.
 

Das Gespräch mit Joe hatte Tiny eine Entscheidung treffen lassen, also klopfte er am nächsten Morgen in aller Frühe an Kathryns Tür. Diese murmelte ein grimmiges „Herein“ und Tiny trat ein. Kathryn lag auf dem Bauch und hielt ihr Kissen über ihrem Kopf fest. In ihrem Schlafzimmer war es eisig, denn der Winter kroch durch ein undichtes Fenster.
 

„Was willst du Tiny?“ murmelte Kathryn genervt in ihr Kissen.
 

„Ich will deiner üblen Laune auf den Grund gehen.“ erwiderte dieser: „Und nun lass mich mit unter deine Decke, ehe ich hier drinnen zum Eiszapfen erstarre.“
 

Kathryn brummte, hob jedoch ihre Decke, als Einladung an Tiny, zu ihr zu kommen. Dieser kam er dankbar nach, schmiegte sich an Kathryn und legte einen Arm um sie:

„Was ist denn eigentlich hier los Schwesterchen? Ist James ungezogen gewesen, du musstest in züchtigen und nun kommt er nicht mehr, aus gekränkter männlicher Eitelkeit?“
 

Kathryn schob das Kissen beiseite, erhob den Kopf, von dem zerzauste rote Locken in alle Richtungen abstanden und blickte Tiny mürrisch an:

„Was stimmt bloß nicht mit dir und deiner Fantasie?“ schimpfte sie.
 

Tiny grinste und antwortete:

„Du kannst mir entweder erzählen, wie es wirklich war, oder ich werde mich in weiteren Spekulationen ergehen.“
 

„Willst du mich etwa erpressen?“ grollte Kathryn.
 

Tiny nickte grinsend:

„So ist es! Also raus mit der Sprache!“
 

Kathryn seufzte unzufrieden und dann erzählte sie, was zwischen ihr und James vor etlichen Nächten vorgefallen war und maulte am Schluss selbstmitleidig:

„Ich habe es so satt, dass es immer auf das Eine hinausläuft. Beinahe bei jedem Mann, dem ich je begegnet bin, war es früher oder später so.“
 

Tiny schüttelte den Kopf:

„Blödsinn Kathryn! Das mit James ist anders und das weißt du auch. Er liebt dich aufrichtig! Und das ist nicht dein größtes Problem, sondern die Tatsache, dass dir langsam klar wird, dass du auch Gefühle für ihn hast.“

Kathryn hob abrupt den Kopf und funkelte Tiny böse an, doch der ließ sich nicht einschüchtern: „Und wenn du mich noch so grimmig anschaust; das ändert nichts an den Tatsachen. Ich schlage vor, du sprichst mit James.“
 

Nun setzte Kathryn sich im Bett auf und schimpfte:

„Und wie soll ich das machen, wenn er beschlossen hat, nicht mehr zu kommen? Soll ich einfach ins Sheriffsdepartment marschieren und sagen: Gottes Gruß Sheriff Snyder! Dürfte ich mir wohl mal ihren Deputy für ein Vieraugengespräch ausleihen?“
 

„Die Frage ist doch gar nicht wie du ihn erreichst, sondern was du zu James sagen würdest, wenn plötzlich vor dir stünde?“ fragte Tiny zurück.
 

Kathryns Wut verflog langsam und sie sackte ein wenig in sich zusammen. Traurig erwiderte sie:

„Ich wünschte, das wüsste ich selbst. Ich bin noch nicht bereit, Tiny! Ich vermisse Elizabeth. Ich kann noch nicht wieder mit jemand anderem zusammen sein.“
 

Tiny küsste Kathryn zart auf die Stirn und erwiderte sanft:

„Liz ist tot, kleine Schwester, aber du lebst!“ Dann fügte er noch hinzu: „Und dank James spürt man das auch wieder!“

Die Worte fanden ihren Weg. Kathryns Augen schwammen in Tränen.
 

Tiny ging nicht gern in den Ort, doch heute hatte er eine wichtige Mission. Sobald es dunkel war, was im Dezember bereits am Nachmittag der Fall war, machte er sich auf den Weg in das Zentrum von Millers Landing. Es gab im Ort nur wenige Schwarze und Tiny erregte allein seiner Statur wegen und weil er zum Roten Haus gehörte stets großes Aufsehen, wenn man ihn im Ort erblickte. Halb erwartete er stets, dass sich ein Mob mit Fackeln bilden und ihn verfolgen müsste, sobald er sich blicken ließ. Er war daher sehr darauf bedacht, sein Ziel ungesehen zu erreichen, indem er ausschließlich kleine Gässchen und Seitenstraßen nahm. Am Ziel angekommen, legte er sich in einer Sackgasse auf die Lauer.
 

Müde und niedergeschlagen verließ James das Sheriffsdepartment und machte sich auf den Heimweg. Er erschrak halb zu Tode, als die riesige Gestalt aus dem Schatten einer Sackgasse trat und ihm auf die Schulter tippte.
 

Mit einem Kopfnicken bedeutete Tiny ihm, dass er ihm in die Gasse folgen sollte, damit sie nicht gesehen wurden.

Als er das Gefühl hatte, sie seien nun unbeobachtet, fing Tiny an zu sprechen:

„Sie vermisst dich!“ erklärte er vorwurfsvoll: „Warum kommst du nicht mehr zu uns?“
 

James blickte Tiny skeptisch an:

„Kathryn vermisst mich?“
 

Tiny nickte:

„Sie ist unausstehlich!“
 

Verlegen blickte James zu Boden, doch sein Herz klopfte glücklich und triumphierend.
 

Tiny fuhr fort:

„Wenn du sie liebst, musst du ihr Zeit geben, verstehst du?“ Dann fügte er noch hinzu: „Und wenn du ihr wehtust, breche ich dir selbstverständlich alle Knochen, das ist klar, oder?“ James nickte und Tiny fuhr fort: „Das war`s, was ich sagen wollte! Jetzt muss ich wieder zurück.“

Tiny wendete sich zum Gehen, doch dann drehte er sich noch einmal um:

„Übrigens... die Anderen vermissen dich auch!“
 

Mit einem frechen, kleinen Schmunzeln erkundigte James:

„Und was ist mit dir?“
 

Tiny zuckte grinsend mit den Schultern, verschwand und blieb die Antwort schuldig.
 

James ging nachhause, um etwas zu Essen und um sich noch ein paar Stunden hinzulegen, ehe er am Abend Kathryn besuchen würde. Er war aufgeregt und glücklich. Plötzlich war alles viel besser und die Welt hatte ihre Farbe zurückerhalten.

Er hatte ihr also wirklich gefehlt?
 

Als James klopfte, war das Wohnhaus bereits dunkel, bis auf ein kleines Licht in der Küche. Er vermutete, dass es wieder Joe sein würde, der nicht schlafen konnte, doch es war Kathryn, die ihm öffnete. Er blickte sie gespannt an, um herauszufinden, ob sie sich freute, dass er da war, doch Kathryn ließ sich nicht in die Karten blicken:
 

„Tiny meinte, du würdest mich vielleicht gern sehen?“ fragte James hoffnungsvoll.
 

Kathryn schnaubte ärgerlich und erwiderte:

„Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit ihm sprechen.“
 

James Stimmung verfinsterte sich. Er fragte traurig:

„Wieso? Hat Tiny sich da vielleicht geirrt?“
 

Kathryns eisige Maske schmolz ein wenig:

„Nein!“ gab sie zu: „Es gibt tatsächlich einiges, was ich dir sagen möchte, und ich bin froh, dass du nun da bist.“

Sie ließ ihn ein und nun standen sie einander im Flur gegenüber:

„Du bist mir wichtig James!“ fiel Kathryn sogleich mit der Tür ins Haus: „Aber ich werde dir keine Versprechungen machen und ich bin noch nicht so weit, dass ich mich wieder auf etwas Neues einlassen will. Und ehrlicherweise weiß noch nicht einmal genau, ob ich es überhaupt je wieder sein werde. Und wenn es dann soweit ist, kann ich dir nicht sagen, ob du es sein wirst, für den ich mich entscheide. Ich will dir wirklich nicht wehtun, aber ich kann nicht garantieren, dass es nicht trotzdem geschieht“ Sie zögerte kurz und fuhr dann fort: „Ich habe dich lieber als mir recht ist, doch ich brauche meine Zeit.“
 

„So etwas hat Tiny auch gesagt.“ gab James mit einem kleinen Lächeln zurück: „Und etwas davon, dass er mir die Knochen brechen wird, wenn ich es vermassele.“
 

Kathryn schmunzelte und fragte dann:

„Ich weiß, es ist viel verlangt, aber glaubst du, du kannst dich auf eine so unsichere Angelegenheit einlassen?“
 

James schaute sie ernst an und nickte.
 

Sie erwiderte seinen Blick nachdenklich und irgendwie zweifelnd. Und einem Impuls folgend, legte sie ihre Fingerspitzen an James Kiefer, zog sein Gesicht zu sich heran und küsste ihn sanft auf die Lippen.
 

James erwiderte den Kuss mit so viel Süße, Hingabe und Unschuld, dass Kathryn es kaum ertrug. Sie strich ihm die, wieder einmal viel zu langen Locken aus dem Gesicht und teilte mit:

„Ich werde nun zu Bett gehen. Sehen wir uns morgen?“
 

Er nickte. Kathryn eilte die Treppen hinauf und James blieb, verunsichert durch ihr abruptes Verschwinden einen Augenblick lang ganz einfach stehen, wie angewurzelt.
 

Während er noch versuchte, sich darüber klar zu werden, was gerade geschehen war, kam Joe in seinem Pyjama und mit einer Decke um die Schultern die Treppe hinunter getapst. Er stellte sich an den Treppenabsatz und grinste.

„Hey James! Schön dich zu sehen! Wo will Kathryn denn so eilig hin?“ wollte er wissen.
 

James blickte ihn ratlos an und zuckte mit den Schultern:

Er umarmte Joe zur Begrüßung:

„Es ist auch schön, dich zu sehen. Hast du Lust auf ein bisschen Gesellschaft, oder wärst du lieber allein?“

James hätte in dieser Minute gern einen Freund um sich gehabt hätte.
 

Glücklicherweise antwortete Joe:

„Ja sicher! Bleib´ noch! Ich mache uns einen Tee.“
 

Die beiden jungen Männer setzten sich nebeneinander vor den Ofen in der Küche und Joe teilte großzügig seine Decke mit James, welcher ein wenig zitterte. Sie starrten eine ganze Weile wortlos in die Flammen. Joe wurde schon ein wenig schläfrig und legte seinen Kopf auf James Schulter ab, als dieser plötzlich unvermittelt fragte:

„Warst du eigentlich auch schon einmal mit einem Mädchen zusammen?“
 

Joe schreckte hoch und machte „Hmm?“
 

James wiederholte seine Frage.
 

Joe schüttelte den Kopf:

„Nein, war ich nicht.“
 

„Ich auch nicht.“ gab James zu.
 

Joe blickte ihn überrascht an.
 

James wollte noch eine Frage stellen, wusste jedoch nicht, wie er es anstellen sollte und schämte sich ein wenig. Schließlich fasste er Mut und begann:

„Darf ich dich etwas Persönliches fragen? Ich hoffe, es ist dir nicht unangenehm, doch ich habe sonst niemanden, mit dem ich über diese Dinge sprechen kann.“
 

Joe nickte und versicherte:

„Es ist in Ordnung. Frag mich ruhig.“
 

Das Thema, dass er anschneiden wollte, war James unaussprechlich peinlich. Schließlich rang er sich dazu durch zu fragen:

„Wie ist das wenn…man mit jemandem zusammen ist? Ich meine also wenn man…“
 

„…miteinander schläft?“ ergänzte Joe hilfreich.
 

James nickte und errötete.
 

Joe grinste und überlegte, wie er diese Frage beantworten sollte. Schließlich sagte er:

„Ich kann dir natürlich nur sagen, wie es für mich ist. Vielleicht empfinden es andere Menschen ja ganz anders. Ich glaube, dass wir als Menschen vom Tag unserer Geburt an sehr allein sind. Wir kennen nur unsere eigenen Gedanken und Gefühle und können nie ganz sicher sein, wie es dem Anderen geht. Aber in diesem einen kurzen Moment, wenn ich auf diese Weise mit jemandem zusammen bin, dann sind wir eins! Und das ist wirklich schön!“
 

James lächelte und erwiderte:

„Es klingt zumindest sehr schön.“
 

„Seid ihr nun eigentlich ein Paar, du und Kathryn, oder was.“ wollte Joe wissen.
 

James schüttelte den Kopf und blickte zu Boden:

„Nein! Ich weiß auch nicht, ob wir je eines werden.“ Dann hob er den Kopf und lächelte: „Aber sie hat mich heute geküsst.“

Joe grinste und legte freundschaftlich einen Arm um James.

Wendungen

In der nächsten Zeit suchte James beinahe an jedem Abend das rote Haus auf. Und zu seiner großen Freude ließ Kathryn ließ den Anderen gegenüber keinen Zweifel darüber, dass die Dinge zwischen ihm und ihr sich verändert hatten. Sie ließ ihn zwar nicht über Nacht bleiben und machte deutlich, dass sie kein Paar waren, doch sie berührten sich häufiger als früher, hielten sich bei den Händen oder Kathryn küsste ihn vor aller Augen auf Wange oder Stirn.
 

Joe freute es, den Freund nun häufiger zu sehen und er freute sich auch für James. Doch nicht jeder im Haus betrachtete die Verbindung zwischen ihm und Kathryn mit dem gleichen Wohlwollen.
 

Als eines Nachmittags die Frauen unter sich waren, tat Melody ihre Besorgnis kund:

„Mir gefällt diese Sache mit Kathryn und James nicht!“ erklärte sie: „Ich schätze früher oder später wird es mit den beiden ernster werden. Vielleicht heiraten sie oder Kathryn wird schwanger. Was glaubt ihr, wird dann passieren? Wenn Kathryn uns verlässt, sind wir alle erledigt!“
 

„Wie meinst du das?“ wollte Molly wissen: „Es ist doch schön, wenn Kathryn glücklich wird!“
 

„Ja, schön für SIE. Aber wer führt dann das Geschäft. Denkst du, Margarete, Shy, Tiny oder ich könnten das tun?“ gab Melody ungehalten zurück.
 

Da meldete sich Regine schüchtern zu Wort:

„Aber vielleicht könnten Molly oder ich doch die Geschäftsführung übernehmen.“
 

Melody verdrehte die Augen und entgegnete:

„Nimm` es mir nicht übel, wenn ich es so deutlich sage Schwester, aber lass´ uns realistisch bleiben! Es ist schon schwer genug, in dieser Welt als Frau ein Unternehmen zu führen. Für euch beide ist es unmöglich. Keine von euch hat je die Schule besucht, oder kann rechnen und schreiben. Eure weiße Haut allein reicht da leider nicht aus“
 

Regine und Molly blickten Melody fassungslos an und Molly antwortete empört:

„Willst du damit sagen, wir sind zwei dumme, ungebildete, alte Huren, die zu nichts weiter fähig sind?“
 

Melody seufzte:

„Natürlich nicht! Aber du musst zugeben, dass Kathryn etwas Besonderes ist! Sie hat eine gute Ausbildung und Erziehung genossen, sie ist clever, geschäftstüchtig und mit ihrem Charme kann sie beinahe jeden um den Finger wickeln. Sie hat uns stets allen Ärger vom Hals gehalten und kann unsere Gegner handhaben. Ich denke, keine von uns, mich selbst eingeschlossen, könnte die Dinge auf die gleiche Weise regeln, wie Kathryn.“
 

Nun mischte Shy sich in das Gespräch ein:

„Melody, ich denke, du solltest aufhören, Panik zu schüren und alle verrückt zu machen. Wir wissen nicht, was Kathryn tun wird. Bislang gibt es in meinen Augen keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie uns verlassen möchte und selbst wenn, wird sie diese Entscheidung sicher nicht auf die leichte Schulter nehmen. Abgesehen von ihren Verantwortlichkeiten im „Yasemines“ sind wir doch auch ihre Freunde, ihre Familie. Denkt ihr allen Ernstes, dass sie das alles einfach so wegwirft, wegen eines dahergelaufenen Jungen?“
 

Die Frauen waren in nachdenkliches Schweigen verfallen. Schließlich meldete sich Shy wieder zu Wort:

„Ich denke, wir sollten dieses Thema für´s Erste ruhen lassen. Lasst uns abwarten, wie sich die Dinge entwickeln und mit Kathryn ein ehrliches Gespräch führen, wenn wir glauben, dass das nötig wird. Ich fühle mich nicht wohl dabei, hier hinter ihrem Rücken mit Spekulationen um mich zu werfen.“
 

Die anderen Frauen stimmten Shy zu und so lösten sie ihre kleine Versammlung auf.
 

Es war der 25. Dezember und dieser Weihnachtstag hielt einige Überraschungen für die Leute von Millers Landing bereit.
 

Am Abend würde im Roten Haus eine Feier stattfinden, zu der sowohl James als auch Rebecca und Felicity eingeladen waren.
 

Zunächst jedoch würden die beiden Lehrerinnen bei Dr. Miller und seiner Frau zum Mittagessen sein. Es war das erste Mal in den zwanzig Jahren ihrer Beziehung, dass Rebeccas Eltern deren Partnerin ebenfalls eingeladen hatten. Die beiden Frauen waren sehr aufgeregt und dem Doktor und seiner Frau ging es offenbar ebenso. Entsprechend war die Stimmung beim Essen zunächst recht angespannt und unbehaglich.

Die Gespräche drehten sich in erster Linie um die Arbeit. Dr. Miller berichtete von seinen Patienten, davon, wo Kinder geboren worden waren oder wer kürzlich verstorben sei. Felicity und Rebecca ihrerseits erzählten von ihrem Alltag in der Schule mit den Kindern.
 

Nach dem Hauptgang erhob sich Rebeccas Mutter, um das Dessert zuzubereiten und Felicity bot an:

„Ich würde ihnen gern helfen, Ms. Miller!“
 

Sie hoffte, ihre Schwiegermutter dadurch ein wenig besser kennenzulernen.

„Das ist aber wirklich nicht nötig!“ erklärte Ms. Miller unsicher, doch Felicity insistierte:
 

„Es macht mir wirklich nichts aus! Und zu zweit geht die Arbeit doch schneller von der Hand!“
 

Da Ms. Miller nun kein höflicher Grund mehr einfiel, das freundliche Angebot auszuschlagen, ließ sie es zu, das Felicity ihr in die Küche folgte.
 

Rebecca blieb unterdes mit ihrem Vater im Esszimmer zurück:

„Danke für die Einladung an Felicity. Es bedeutete mir viel!“ sagte sie aufrichtig.
 

Ihr Vater schenkte ihr ein trauriges kleines Lächeln, als er erwiderte:

„Sie ist eine liebenswerte Frau, doch deine Mutter und ich wünschten doch, du hättest dich anders entschieden.“
 

„Ich glaube nicht, dass ich in dieser Sache eine Wahl hatte.“ erwiderte Rebecca ruhig: „Ich glaube vielmehr, dass ich so geboren wurde.“
 

„Du hättest es doch wenigstens einmal mit einem jungen Mann probieren können, um sicher zu sein.“ antwortete ihr Vater vorsichtig.
 

Rebecca bemerkte, wie diese Äußerung sie innerlich aufbrachte. Sie rang um Fassung als sie zurückgab:

„Ich BIN mir sicher! Und warum etwas probieren, von dem ich schon von vornherein weiß, dass es mich und den jungen Mann, den du im Sinn hast, ins Unglück stürzen wird?“
 

Dr. Miller schüttelte nachdenklich den Kopf und gab sanft zurück:

„Es ist nur so schwer zu verstehen! Deine Mutter und ich fragen uns manchmal, ob wir etwas falsch gemacht haben. Ich, als dein Vater frage mich das. Vielleicht…“ er zögerte: „…habe ich dir einen falschen Eindruck von den Männern vermittelt? Ist es meine Schuld?“
 

Rebecca konnte sehen, dass die Augen ihres Vaters feucht wurden und seine Hände ein wenig zitterten. Sie selbst musste nun auch schlucken. Sie ergriff eine seiner Hände und drückte sie zärtlich:

„Vater! Nein! Ihr wart gute Eltern für mich! Du warst mir immer ein guter Vater, den ich stets geliebt und bewundert habe.“
 

Nun schaute ihr Vater überrascht auf und Rebecca las Rührung in seinem Blick.
 

Sie fuhr fort:

„Ich freue mich, dass Mutter und du euch bemüht, mich zu verstehen, doch versteht bitte dies: Wie ich bin, das hat nichts mit euch beiden zu tun! Und ich möchte, dass du das Eine weißt Vater: Ich bin glücklich! Seit zwanzig Jahren ist der Mensch, den ich liebe an meiner Seite. Das ist sehr schön!“
 

Nun rollten tatsächlich zwei kleine Tränen die Wangen ihres Vaters hinab. Er erhob sich und umarmte Rebecca unbeholfen:

„Da bin ich froh, mein Kind!“ antwortete er mit ein wenig heiserer Stimme.
 

In diesem Moment kehrten Felicity und Ms. Miller aus der Küche zurück und zu ihrer Überraschung und Freude stellte Rebecca fest, dass ihre Mutter kicherte:

„Was gibt es denn so Komisches?“ Wollte sie wissen.
 

„Ach, nichts Besonderes!“ gab Felicity heiter zurück: „Ich habe deiner Mutter nur gerade von den merkwürdigen Geräuschen erzählt, die wir wochenlang im Haus gehört haben und die wir uns nicht erklären konnten. Wir dachten ja schon, dass es bei und spukt!“ erklärte sie an Dr. Miller gewandt: „Doch dann hat Rebecca schließlich die Katzenmutter mit ihren acht Jungen auf unserem Speicher entdeckt.“
 

Rebeccas Vater lächelte und holte tief Luft. Das Gespräch mit seiner Tochter hatte ihn einige Anstrengung gekostet, doch nun fühlte er sich erleichtert. Er warf noch einmal einen zärtlichen Seitenblick auf sein Kind und ihm wurde klar, dass seine geliebte Evelyn und er es wohl wirklich gut gemacht hatten, als sie dieses tapfere, eigenwillige Mädchen großgezogen haben.
 

Der Nachmittag verging und die Stimmung am Tisch war nun gelöst und heiter.

Der Knoten war geplatzt!
 

Bei der Verabschiedung sagte Mrs. Miller:

„Miss Owens, wie wäre es, wenn sie meinen Mann und mich beim Vornamen nennen würden. Sie sind ja praktisch unsere…“sie zögerte, es auszusprechen: „…unsere Schwiegertochter. Ich bin Evelyn und mein Mann heißt Elias.“
 

„Sehr gern!“ erwiderte Felicity und ihre Stimme war ein wenig belegt: „Bitte nennen sie mich Felicity!“
 

Rebecca umarmte ihre Eltern und wollte sich schon zum Gehen wenden, da wurde Dr. Miller noch einmal Ernst:
 

„Seid ihr Mädchen sicher, dass ihr jetzt noch hinüber in dieses Haus wollt. Ihr seid ohnehin schon…“ er suchte die richtige Formulierung: „…exponiert, dadurch dass ihr zusammenlebt und keine Ehemänner habt. Ich habe oft Angst um euch allein da draußen in eurem Haus. Freunde wie diese schaden doch eurem guten Ruf. Was, wenn man euch eines Tages angreift oder zuhause überfällt?“
 

„Wir weigern uns, in Angst zu leben!“ erwiderte Rebecca bestimmt und fügte hinzu: „Es sind gute Menschen, Vater! Sie verdienen nicht, wie man sie in Millers Landing behandelt! Es sind unsere Freunde.“
 

Ihr Vater nickte. Seine Sorgen blieben, doch seine mutige, unabhängig denkende Tochter erfüllte ihn auch mit Stolz.
 

Als endlich alle um den Küchentisch im Wohnhaus des Roten Hauses versammelt waren, erhob sich Felicity feierlich, denn sie hatte etwas Wichtiges vorzubringen:

„Lieber Joe!“ begann sie ernst: „Rebecca und ich haben lange über etwas nachgedacht und wir möchten dir heute ein Angebot machen.“
 

Joe blickte die beiden erstaunt und gespannt an und Felicity fuhr fort:

„Wie wäre es, wenn dein Name in Zukunft Jonah Owens, genannt Joe wäre? Du wärst dann der einundzwanzigjährige Sohn meines Bruders, der auf unbestimmte Zeit in unserem Haus leben wird? Mittlerweile sind sechs Monate vergangen und über die Sache mit deinem Vater ist Gras gewachsen. Ich könnte dich überall im Ort als meinen Neffen vorstellen und niemand würde Verdacht schöpfen. Du könntest dich wieder frei bewegen, dir vielleicht sogar eine Arbeit suchen und ein richtiges Leben beginnen. Und wenn wir dich ein wenig älter machen, wird alles auch ein wenig unkomplizierter für dich. Du solltest dir allerdings wieder die Haare dunkel färben, erstens...“ fuhr Felicitiy fort: „...weil du mir dann ähnlicher siehst!“ denn tatsächlich konnte Joe mit dunklen Haaren gut als Felicitiys Neffe gelten, denn auch sie hatte dunkles Haar und die gleichen strahlend blauen Augen wie er.

„Und zweitens...“ fuhr Felicity fort: “...können wir so ganz sicher sein, dass dieser Farmer Cuttler, der dich an jenem Morgen aus der Ferne gesehen hat, nicht wiedererkennt.“
 

Joes Augen strahlten bei der Aussicht, bald wieder frei zu sein, die Sonne zu sehen und unter Menschen zu kommen, doch dann fiel sein Blick auf Tiny, der den Vorschlag eher erschrocken als freudig aufzunehmen schien. Rebecca, welcher dieser Austausch von Blicken nicht verborgen geblieben war fügte hinzu:

„Und bedenke, wenn du dich dafür entscheidest, kannst du ja immer noch jederzeit hierher kommen und auch über Nacht bleiben, wenn du Tiny und die anderen sehen willst. Unser Haus liegt außerhalb des Ortskerns und das „Yasemines“ ebenfalls, so dass man dein Kommen und Gehen nicht unbedingt in Millers Landing mitbekommen wird. Außerdem sind beide Häuser doch nicht allzu weit voneinander entfernt. Es wäre kein Abschied für dich.“
 

„Eine ausgezeichnete Idee und eine sehr großzügige Geste von euch.“ bemerkte Kathryn anerkennend.
 

„Ja, ich danke euch!“ sagte Joe, doch sein Unbehagen war ihm deutlich anzumerken: „Darf ich darüber schlafen?“
 

Rebecca und Felicity lächelten dem jungen Mann aufmunternd zu:

„Selbstverständlich!“ antworteten sie wie aus einem Munde.
 

„Es gibt aber noch etwas, was wir euch allen gern berichten wollen.“ wechselte Rebecca das Thema: „Felicity und ich haben Post von einer gewissen Justine Carpenter bekommen. Sie gehört der Bostoner Suffragettenbewegung an.“
 

Abgesehen von Kathryn, die erfreut lächelte, blickten Rebecca und Felicity in fragende Gesichter und Rebecca erklärte:

„Es sind Frauenrechtlerinnen! Sie wollen von Millers Landing aus im nächsten Frühjahr Kundgebungen in der gesamten Umgebung zu Themen wie Frauenwahlrecht und Bildungschancen für Mädchen und Frauen abhalten. Sie haben uns um Unterstützung gebeten, die wir ihnen gern zusagen wollen. Wir wollten hören, wie ihr dazu steht? Wärt auch ihr bereit, den Frauen bei ihrer Arbeit hier zu helfen?“
 

Ohne lange zu Zögern erklärte Kathryn:

„Ich kann nicht für die anderen sprechen, doch ich finde es großartig! Ich bin gern bereit zu tun, was immer ich kann.“
 

Die anderen Anwesenden verhielten sich mit ihrer Zustimmung nicht ganz so eindeutig, waren jedoch auch nicht abgeneigt, diese Aktion zu unterstützen. Und so war es entschieden; gleich morgen würden Felicity und Rebecca Ms. Carpenter aus Boston eine positive Antwort schreiben.
 

James hatte sich den ganzen Abend über verdächtig still verhalten. Schließlich setzte Kathryn sich zu ihm, um zu erfahren, was los war. Als Antwort zog James einen ungeöffneten Brief aus seiner Brusttasche. Er war von seiner Mutter:
 

„Der hier ist vor 5 Tagen angekommen. Ich habe mich noch nicht getraut, ihn zu öffnen. Ich vermute, er enthält eine Einladung zum Weihnachtsfest, doch ich habe ja deutlich gesagt, dass ich nicht kommen werde.“ erklärte James müde und ernst.
 

Kathryn blickte ihn liebevoll und besorgt an und hielt unter dem Tisch seine Hand.

Irgendwie wollte sie noch nicht, dass Rebecca und Felicity mitbekamen, dass sich Freundschaft zwischen ihr und James inniger geworden war. Sie war sich nicht sicher, wie die zwei darüber denken würden. Kathryn fürchtete, die beiden könnten es als Verrat an Elizabeth oder gar sich selbst empfinden, dass sie nun die Nähe eines Mannes zuließ:

„Ich kann den Brief für dich lesen und dir dann erzählen, was darin steht.“ schlug Kathryn vor. James nickte dankbar und antwortete:
 

„Ja, bitte! Würdest du das tun?“
 

Kathryn öffnete den Umschlag und zog die fünf eng beschriebenen Seiten heraus. James erkannte die Handschrift seiner Mutter. Kathryn begann zu lesen und ihr Gesicht nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. Als sie geendet hatte, wiederholte sie ihm mit ernster Stimme den Inhalt:

„Deinen Vater hat der Schlag getroffen. Sein Arzt glaubt, dass er nicht mehr lange leben wird. Sie bittet dich, dass du zu ihr kommst und ihr beistehst.“
 

James nickte erschrocken und schluckte schwer.

„Ich denke, ich muss darüber schlafen!“
 

Kathryn drückte zärtlich seine Hand:„Ja, das solltest du tun!“ bestätigte sie.
 

James atmete tief durch und verkündete dann mit Überzeugung:

„Doch heute Abend möchte ich hier mit euch feiern! Ich habe übrigens ein kleines Weihnachtsgeschenk für dich.“

Er übergab ihr ein kleines Päckchen, welches in altes Zeitungspapier eingeschlagen war.
 

Kathryn öffnete es und fand darin eine hübsch gearbeitete Haarspange aus Perlmutt:

„Ich dachte mir, dass sie in deinen schönen roten Locken fantastisch aussehen würde.“ erklärte er schüchtern.
 

Kathryn betrachte den Haarschmuck lächelnd und küsste James sanft auf die Stirn. In diesem Moment vergaß sie sogar ihre Bedenken in Bezug auf Rebecca und Felecity.

„Ich habe auch etwas für dich“ erwiderte sie und zog einen kleinen Stoffbeutel aus ihrem Ausschnitt.
 

James nahm ihn in Empfang, öffnete das Zuzugband und ließ den Inhalt auf seine Handfläche gleiten. Es handelte sich um eine kleine silberne Taschenuhr, welche noch aufgeladen war von Kathryns Körperwärme.

„Sie hat meinem Vater gehört. Sie gehörte zu den Sachen, die ich ihm bei meiner Flucht gestohlen habe. Irgendwie haben Tiny und ich sie nie zu Geld machen können.“
 

James befestigte die Uhr an seiner Weste.

„Eine gestohlene Uhr für den Deputy? Sas gefällt mir!“ erklärte er grinsend.
 

Kathryn erwiderte sein Lächeln und fragte.

„Willst du heute Nacht hierbleiben?“ Dann beeilte sie sich hinzuzufügen: „Ich meine, als Übernachtungsgast! Mehr nicht!“
 

„Ich verstehe!“ versicherte James: „Ja, ich würde gern bleiben.“
 

James hatte noch ein weiteres Geschenk zu übergeben. Er nahm neben Joe Platz und reichte auch ihm ein, in Zeitungspapier eingeschlagenes Päckchen.
 

Dieser blickte ihn überrascht an:

„Für mich? Ich habe aber gar nichts für dich.“
 

James schüttelte grinsend den Kopf:

„Das macht doch nichts. Es soll ein Dankeschön sein. Du warst in der letzten Zeit für mich da und das hat mir gut getan.“
 

Joe öffnete das Päckchen. Es handelte sich um eine Ausgabe von „Moby Dick“.
 

Joe blickte James fragend an:
 

„Es ist mein Lieblingsbuch. Ich dachte, es lenkt dich vielleicht ein wenig ab, wenn du nicht schlafen kannst. Kennst du es schon?“
 

Joe schüttelte gerührt den Kopf. Er umarmte James und sagte:

„Ich danke dir! Das ist ein sehr schönes Geschenk.“
 

Dann musterte er James noch einmal eingehend und bemerkte dessen Anspannung:

„Ist alles in Ordnung?“ wollte er wissen: „Du wirkst irgendwie anders als sonst?“
 

James erzählte Joe von seinem Vater und der anstehenden Entscheidung.

„Und?“ fragte dieser. „Was wirst du tun?“
 

James zuckte ratlos mit den Schultern.
 

In der Nacht lagen Tiny und Joe nebeneinander und beide konnten keinen Schlaf finden.
 

„Denkst du, ich sollte das Angebot von Rebecca und Felicity annehmen.“ erkundigte sich Joe unsicher.
 

Tiny drehte sich zu ihm um und antwortete bestimmt:

„Das ist doch gar keine Frage. Sie bieten dir eine großartige Chance. Hier bei uns bist du doch wie ein Gefangener und ohne eine Perspektive für dein Leben. Wenn du ihr Angebot annimmst, dann steht es dir frei, alles zu tun, überall hinzugehen.“
 

Tinys Worte klangen überzeugend, doch etwas in dessen Stimme gefiel Joe nicht. Er strich seinem Geliebten durch das kurze krause Haar und wollte wissen:

„Aber was FÜHLST du, wenn ich gehe?“
 

Tiny holte tief Luft:

„Ich freue mich für dich!“ versicherte er schnell:
 

„Aber?“ fragte Joe, dem Tinys Unbehagen nicht entging:
 

„Aber... ich habe Angst!“ bekannte der Ältere unglücklich:
 

Joe schmiegte sich an ihn und legte einen Arm um ihn:

„Angst wovor, Thomas?“
 

Tiny überlegte angestrengt, wie er seine Befürchtungen in Worte fassen konnte. Schließlich begann er:

„Vor dir war ich immer allein. Ich hatte mich damit abgefunden und habe irgendwann angefangen zu glauben, dass es für mich eben niemanden gibt.“ Tiny machte eine nachdenkliche Pause: „Als das mit uns angefangen hat, konnte ich es schwer glauben und im Grunde ist es immer noch so. Du und ich, wir sind doch eigentlich ein unmögliches Paar. Zwischen uns gibt es so viel mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Ich fürchte, dass du jemanden finden wirst, der besser zu dir passt und dir Dinge geben kann, die ich nicht geben könnte.“
 

„Wovon sprichst du bitte? Was für Dinge sollen das sein?“ fragte Joe ratlos.
 

Tiny seufzte unglücklich:

„Es könnte jemand sein, mit dem du dich in der Öffentlichkeit zeigen könntest.“
 

„Zum Beispiel ein weißes Mädchen in meinem Alter, oder wie?“ erwiderte Joe aufgebracht. Dann fuhr er bestimmt fort: „Ich bin was ich bin und das hat mich beinahe mein Leben gekostet! Ich habe mich damit abgefunden, dass es keine Normalität für mich gibt. Und weil ich das weiß, werde ich einfach meine eigenen Spielregeln machen und leben wie ICH will. Und du gehörst nun mal dazu! Mir ist gleichgültig, wie unmöglich oder unvorstellbar Andere das finden. Ist das nun endlich klar?“ Er hockte er sich auf Tiny, blickte herausfordernd auf ihn hinab und begann, ihn zu küssen.
 

James lag neben Kathryn im Bett. Er erinnerte sich an das letzte Mal, als sie beide hier gewesen waren und fühlte sich beklommen. Die Öllampe brannte noch und Kathryn drehte sich zu ihm um und fragte:

„Wirst du nun zu deiner Mutter fahren?“
 

James wandte sich ihr ebenfalls zu und sein Blick fiel auf die Ansätze ihrer Brüste im Ausschnitt ihres Nachthemd.

Er zwang sich wegzuschauen, doch Kathryn hatte ihn bereits erwischt. Sie grinste ein wenig und zog ihre Decke ein wenig höher.
 

Leicht errötend beantwortete James ihre Frage:

„Ich weiß es eigentlich noch nicht. Was meinst du, was ich tun sollte?“
 

„Du solltest gehen. Unterstütze deine Mutter! Nimm Abschied und finde einen guten Abschluss.“ gab Kathryn zurück.
 

„Vielleicht ist er ja mittlerweile längst tot?“ erwiderte James achselzuckend:
 

„Und wenn es so wäre? Wie denkst du darüber?“ fragte Kathryn zurück.
 

„Hältst du mich für ein Monster wenn ich sagte, es wäre mir gleichgültig?“ erkundigte sich James unsicher.
 

Kathryn schüttelte heftig den Kopf:

„Nein!“ versicherte sie und fügte noch hinzu: „Du musst dich heute Nacht nicht entscheiden. Lass´ uns schlafen und vielleicht weißt du morgen, was du tun möchtest.“
 

Kathryn löschte das Licht und James drehte sich auf den Rücken, sorgfältig darauf bedacht, Kathryn nicht zu nahe zu kommen oder sie gar zu berühren. Diese hatte offenbar keine derartigen Bedenken. Sie küsste ihn flüchtig auf die Lippen, legte dann einen Arm um ihn und schmiegte sich an ihn. Sein Herz raste wie verrückt. Er fühlte die Wärme ihres Körpers, nahm ihren Duft wahr und das war sehr aufregend. Er drehte sich ein wenig von ihr weg, um Kathryn nicht fühlen zu lassen, wie aufregend!
 

Kathryn war längst eingeschlafen, als endlich auch James Ruhe fand.
 

Rebecca rollte sich von Felicity herunter und ihr Atem ging immer noch ein wenig schneller. Lachend meinte sie zu ihrer Geliebten:

„Sollte sich Joe wirklich entscheiden, zu uns zu kommen, dürfen wir aber nicht mehr so einen Lärm machen.“
 

Felicity lächelte und entgegnete:

„Ja, das wäre bedauerlich! Aber ich hoffe trotzdem, dass er es tut und nicht Tiny zuliebe auf sein Leben verzichtet.“

Aufbruchstimmung

Joe saß bereits in der Küche über sein Frühstück gebeugt, als James dazukam, sich einen Kaffee nahm und fragte:
 

„Und? Hast du schon eine Entscheidung getroffen? Wirst du das Angebot von Rebecca und Felicity annehmen?“ wollte er wissen.
 

Joe nickte:

„Ich werde gehen! Und was ist mit dir!“
 

„Ich werde auch gehen.“ erwiderte James „Ich werde es Kathryn erzählen, sobald sie herunter kommt.“ James nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee und fügte hinzu: „Ich bin wirklich froh über deine Entscheidung, Joe, ganz ehrlich! Weiß Tiny es schon?“
 

Joe wirkte plötzlich bedrückt:

„Er ist traurig, aber er weiß, dass es für mich das Beste ist.“ erwiderte er. Dann blickte er James ernst von der Seite an und fügte hinzu: „Ich weiß jedoch nicht, ob ich mich über DEINE Entscheidung freuen soll. Das wird wohl ziemlich hart für dich werden. Wenn du dort in deinem Elternhaus bist, vergiss` bitte nicht, dass dein Zuhause und deine Freunde HIER sind. Komm` einfach zurück, wenn du es nicht aushältst.“
 

James lächelte gerührt und er nickte.
 

Er hatte sein Frühstück bereits beendet, als endlich auch Kathryn herunterkam. Er blickte zu ihr auf und verkündete:

„Ich werde gleich dem Sheriff Bescheid sagen, dass ich einen familiären Notfall habe. Dann packe ich und besorge mir ein Pferd. Ich werde wohl eine Weile fort sein.“
 

Kathryn nickte und schlug vor:

„Ich kann mitkommen, wenn du möchtest! Ich könnte mir in Taylorsville ein Hotelzimmer nehmen!“
 

James meinte, seinen Ohren nicht trauen zu können, als er dieses unglaubliche Angebot vernahm. Dennoch lehnte er ab, denn er wollte sie diesem Drama nicht aussetzen:

„Danke, dass du mir das anbietest, aber ich denke, ich muss das allein tun. Ich werde sofort aufbrechen, sonst überlege ich es mir noch anders. Bitte grüße alle von mir.“ erklärte er tapfer.

Er erhob sich und wandte sich zum Gehen, doch Kathryn hielt ihn auf. Sie legte sanft eine Hand an seinen Hinterkopf, zog ihn zu sich heran und küsste ihn.

Als er ihre Zunge zwischen seinen leicht geöffneten Lippen fühlte, erstarrte er zunächst, doch als er begriff, was sie von ihm erwartete und sich ihr öffnete, begann er es sehr zu genießen:

„Komm` bald zurück zu mir!“ murmelte sie und ließ ihn gehen.
 

Am Vormittag desselben Tages saßen Tiny und Joe am Wohnzimmertisch von Rebecca und Felicity, um ihnen mitzuteilen, dass Joe ihr Angebot annehmen wollte. Die beiden Frauen waren sehr erfreut, das zu hören:
 

„Das ist Wunderbar! Soll ich dir gleich dein Zimmer zeigen?“ fragte Rebecca strahlend.

Joe blickte sie überrascht an:
 

„Ich werde ein eigenes Zimmer haben?“ fragte er beinahe kindlich begeistert.

Rebecca lachte:
 

„Aber sicher! Was hast DU gedacht? Doch erwarte bitte nicht zu viel. Lass` es uns erst mal anschauen gehen, in Ordnung? Es ist wirklich nichts Besonderes“
 

Die beiden verließen den Raum und ließen Felicity und Tiny zurück. Felicity erhob sich, setzte sich auf Tinys Stuhllehne, schenkte ihm ein warmes Lächeln und legte einen Arm um den großen Mann:
 

„Ich bin froh, dass du Joe ermutigst, unser Angebot anzunehmen. Ich weiß, dass das schwer für dich ist.“
 

Tiny blickte verlegen zu Boden.
 

„Hab` keine Sorge! Wir werden uns gut um deinen Jungen kümmern!“ versprach sie.
 

Tiny schaute zu ihr hoch und nickte:

„Sicher werdet ihr das.“
 

Rebecca ließ von der Decke im Flur eine Klappe herunter und stellte ein Leiter davor:

„Es ist eigentlich unser Speicher und der Zugang ist ein wenig beschwerlich.“ erklärte Sie entschuldigend.
 

Beide erstiegen die Leiter und Joe ließ seinen Blick im Dachbodenraum umherschweifen, welcher sein neues Zuhause werden sollte. Es gab Dachschrägen und die Decke war nicht sehr hoch. An der höchsten Stelle konnte er gerade eben stehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Es gab zwei kleine, runde Fenster, durch die ein wenig Tageslicht hereinfiel. Der Raum war riesig, doch im hinteren Bereich auch ein wenig voll gestellt. Dort standen mehrere Schränke, Kommoden und unterschiedliche Kleingegenstände, für welche die beiden Frauen keinen anderen Platz gefunden hatten. Vorne in der Nähe des Ausgangs hatten Felicity und Rebecca schon ein wenig Platz geschaffen. Hier standen ein schmales Bett mit einem Nachttisch und ein Kleiderschrank.
 

„Da hinten lagern wir einiges Zeug. Aber der Bereich hier vorne ist für dich. Wir haben dir hier schon ein paar Möbel hingestellt. Entschuldige, dass es noch nicht so gemütlich ist, aber das ändern wir noch. Du musst uns nur sagen, wie du es möchtest.“ erklärte Rebecca etwas unsicher und fügte hinzu: „Es ist leider etwas dunkel. Ich fürchte, das lässt sich nicht ändern. Tut mir leid! Was hältst du davon?“
 

Joe strahlte sie begeistert an:

„Es ist wunderbar! Ich hatte noch nie einen Raum für mich. Ich kann noch gar nicht glauben, dass ihr beide es wirklich ernst meint! Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll!“

Er fiel Rebecca um den Hals.
 

„Wir freuen uns, dich hier zu haben, Kleiner!“ erwiderte Rebecca, erleichtert dass Joe sich an der improvisierten Unterbringung scheinbar überhaupt nicht störte.
 

Joe strahlte immer noch über das ganze Gesicht, als sie zu Tiny und Felicity zurückkehrten:

„Und? Willst du immer noch einziehen?“ erkundigte Felicity sich unsicher.
 

Joe nickte eifrig und umarmte auch sie:

„Ich danke euch vielmals!“ rief er begeistert.
 

James fühlte sich beklommen, als er an die Tür seines Elternhauses klopfte. Es dauerte eine Weile, ehe seine Mutter ihm öffnete. Ihr Gesicht war bleich und ihre Bewegungen wirkten irgendwie verlangsamt:
 

„Hallo Mutter! Ich bin es, Jimmy!“ erklärte er töricht das Offensichtliche.
 

Seine Mutter blickte langsam zu ihm auf:

„Junge? Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest. Dein Vater ist in seinem Schlafzimmer.“ Ihre Stimme klang monoton und abwesend.
 

Er lebte also noch.
 

James trat ein und umarmte seine Mutter flüchtig. Dann bedeutete diese ihm, ihr nach oben zu folgen.
 

Sein Vater lag schlafend in seinem Bett. Er war unrasiert und trug ein fleckiges Unterhemd. Derart ungepflegt hatte James ihn noch nie gesehen. Die Luft im Zimmer war verbraucht und es roch nach Krankheit.
 

James zog sich einen Stuhl heran und spürte, wie seine Mutter hinter ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Nach einer Weile verließ sie den Raum. James blieb allein zurück und betrachtete seinen schlafenden Vater. Er wirkte eigenartig friedlich.

James wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte. Er lauschte dem Ticken der Standuhr, welches ihm irgendwie unnatürlich laut vorkam.
 

Mit einem Mal öffnete sein Vater die Augen. Er schaute sich ganz ruhig im Raum um und schließlich fiel sein Blick auf James. Er schien nachzudenken, öffnete seinen Mund, als wollte er etwas sagen, doch es kam kein Ton.
 

„Ich bin es Vater! Wie geht es Dir?“ fragte James.
 

Mittlerweile war seine Mutter wieder ins Schlafzimmer gekommen und als William Chester sie erblickte, rief er mit einem Mal aufgebracht:

„Alma? Almaalmaalma?“

Es klang, als würde ein Kind mit der Stimme eines Mannes sprechen.
 

Alma Chester hatte sich mittlerweile auf der Bettkante niedergelassen und nahm seine Hand:

„Es ist in Ordnung Bill. Ich bin ja hier.“

An James gewandt erklärte sie: „Es ist sein Kopf. Darin ist nun alles durcheinander, sagt der Doktor. Er kann kaum noch sprechen und das, was er sagt, ergibt meist keinen Sinn. Er erkennt weder das Hausmädchen, noch sonst irgendwen außer mir. Er kann nicht mehr laufen und seine rechte Seite ist gelähmt.“

Und unter Tränen fügte seine Mutter hinzu:

„Der Doktor sagt, er kommt nicht wieder in Ordnung!“
 

James blickte seinen Vater an und konnte nicht glauben, dass dies derselbe Mensch sein sollte, der ihn noch vor einem Monat unter diesem Dach beschimpft und herabgesetzt hatte; der Mann welcher ihm seine ganze Kindheit lang vermittelt hatte, dumm, schwach und wertlos zu sein. Es waren derselbe Körper und dasselbe Gesicht, doch seinen Vater erkannte er darin nicht mehr.

James blickte auf dieses hilflose Bündel herab und fühlte Mitgefühl und so etwas wie Frieden.
 

Tiny saß auf dem Bett und schaute Joe bei Packen zu:

„Warum willst du denn unbedingt heute schon hinübergehen? Es gibt doch keinen Grund zur Eile!“ wollte er wissen.
 

„Bitte sei nicht traurig, Thomas! Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll? Ich kann es einfach noch nicht wirklich glauben, dass nun ein neues Leben für mich beginnt. Ich habe das Gefühl, wenn ich heute nicht gehe, nimmt es mir vielleicht jemand wieder weg. Kannst du das verstehen?“
 

Tiny zuckte unglücklich mit den Schultern.
 

Joe stellte sich vor ihn hin, legte seine Arme um ihn und strich ihm sacht durch das Haar:

„Ich verspreche dir, morgen Nacht bin ich wieder hier und dann stellen wir etwas sehr Ungezogenes an!“ erklärte er mit einem frechen kleinen Zwinkern: „Aber bitte lass` mich heute gehen, in Ordnung?“

Tiny grinste zu ihm hinauf und sie küssten sich. Dann nahm Joe sein kleines Bündel, bestehend aus den wenigen Kleidungsstücken, die er besaß und dem Buch, welches er als Geschenk von James erhalten hatte und machte sich auf den Weg.
 

Unschlüssig blickte sich James in seinem alten Kinderzimmer um und fragte sich, was er hier tat. Er räumte seine Kleidung in den Schrank, zog seinen Pyjama an und legte sich in demselben Zimmer, in dasselbe Bett, wie bereits so viele Male zuvor. Alles war genau wie immer, nur er war nicht mehr derselbe! Er war nun der Mann, der die großartige Kathryn Levroux liebte, der seinem Vater die Stirn geboten hatte und der die vielen neuen Freunde hatte, bei denen sein Vater sicherlich der Schlag getroffen hätte, wenn dies nicht ohnehin schon geschehen wäre, falls er von ihnen erfahren hätten.

Hier war er nicht mehr zuhause! Er dachte daran, was Joe zum Abschied zu ihm gesagt hatte und wie gern wäre er nun einfach wieder heimgekehrt.
 

Rebecca und Felicity hatten noch einige Einrichtungsgegenstände für Joe herausgesucht und dieser hatte sein Zimmer nun nach seinen Wünschen fertiggestellt. Er hatte einen Vorhang zwischen dem Abstellbereich im hinteren Teil des Speichers und seinem Wohnbereich gespannt. Vor dem Bett lag jetzt ein gemütlicher Wollteppich und im Raum verteilt standen mehrere Öllampen. Rebecca hatte auch noch zwei hübsche Holzfiguren, welche sie selbst geschnitzt hatte beigesteuert, die nun den Raum verschönerten.

Nun lümmelten die drei auf dem Bett und bewunderten das Ergebnis.
 

„Und? Bist du zufrieden?“ erkundigte sich Felicity.
 

Joe strahlte:

„Es ist himmlisch!“ erklärte er begeistert.
 

Die beiden Frauen waren erleichtert, dass ihr junger Gast mit so wenig so zufrieden war. Sie erhoben sich schließlich und wie wirkliche Tanten küssten sie Joe auf die Wangen, ehe sie ihn verließen, um schlafen zu gehen.

Im Gehen rief Rebecca noch:

„Wenn du noch irgendetwas brauchst, dann sag` uns Bescheid.“
 

Doch Joe schüttelte den Kopf:

„Nein, ich bin wunschlos glücklich, ehrlich!“ versicherte er und es war unübersehbar, dass dies der Wahrheit entsprach.
 

Als die beiden fort waren, schloss Joe die Dachluke und atmete tief aus. Er wusste, dass Tiny nicht wirklich ermessen konnte, was dies hier für ihn bedeutete, doch diese hier war die erste Tür seines Lebens, welche er hinter sich verschließen konnte und an die andere anklopfen würden, ehe sie eintraten. Es war das erste Mal, dass er Raum für sich ganz allein hatte.
 

Bei seinem Vater hatte Joe auf einer alten Matratze im Wohnzimmer geschlafen, die er tagsüber beiseite schaffen musste, weil das Haus so winzig war.
 

Im roten Haus hatte er es zwar genossen, mit Tiny ein Zimmer und ein Bett zu teilen, doch dies hier, war etwas vollkommen anderes. Joe hätte es Tiny gegenüber niemals geäußert, weil er ihn liebte und nicht verletzen wollte, doch diese neue Privatsphäre war wichtig für ihn, um endlich zur Ruhe zu kommen und zu sich selbst zu finden.

Er löschte das Licht und legte sich in sein eigenes Bett und zum ersten Mal, seit er vom Tod seines Vaters erfahren hatte, schlief Joe eine ganze Nacht lang durch.
 

Kathryn setzte sich neben Tiny, der traurig am Küchentisch saß:

„Nun sind unsere Jungs weg, hm?“ meinte sie und streichelte dem Freund über die krausen Haare.
 

Dieser blickte unglücklich zu ihr hinüber und lächelte schwach.
 

Kathryn befühlte Tinys starke Arme, grinste ihn an und sagte liebevoll und mit Nachdruck:

„Du hast aber auch ganze Arbeit geleistet, großer Beschützer! Joe ist gesund und stark! Und ist es nicht unglaublich, wie erwachsen er in den letzten Monaten geworden ist?“
 

Tiny gab noch immer ein Bild des Jammers ab, also fuhr Kathryn fort:

„Es gibt weiß Gott keinen Grund, um unglücklich zu sein, mein lieber Freund. Das hier ist ein Anlass zum Feiern! Eure Beziehung kann dadurch nur besser werden. Wenn er jetzt zu dir kommt, dann deshalb, weil er es will und nicht, weil er keine anderen Optionen hat.“
 

„Und wenn er nicht wiederkommt.“ fragte Tiny unglücklich.
 

Kathryn schüttelte mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf:

„Du magst zwar der Ältere von euch beiden sein, doch was es die Liebe betrifft, bist du eigentlich noch ein Kind! Merkst du gar nicht, wie Joe dich ansieht? Mehr Liebe und Bewunderung kann man sich doch eigentlich kaum vorstellen. Selbstverständlich wird er wiederkommen!“
 

Tiny fragte seufzend:

„Ich bin ziemlich dumm, oder?“
 

Kathryn legte ihren Kopf auf seine Schulter.

„Unsinn! Du kriegst nur gerade mit, wie beängstigend die Liebe sein kann.“ erwiderte sie und bestimmte dann: „Ich glaube, wir könnten heute beide ein wenig Trost gebrauchen. Wie wär`s, wenn ich heute Nacht bei dir schlafe?“
 

Tiny war seiner besten Freundin unendlich dankbar für dieses Angebot.
 

Vor dem Einschlafen murmelte Kathryn noch müde:

„Hab` Vertrauen und dann wird alles gut!“ und noch ehe Tiny darauf antworten konnte, konnte er ihrer gleichmäßigen Atmung entnehmen, dass sie eingeschlafen war.

Zwei Welten

James erwachte mit Verspannungen überall und leichten Kopfschmerzen. Er hatte schlecht geschlafen und übel geträumt. Müde erhob er sich, um seinen Tag zu beginnen

Er fragte sich missmutig, wie lange er es wohl noch hier in seinem Elternhaus aushalten musste, denn am liebsten wäre er auf der Stelle heimgekehrt.
 

Im Haus war es unnatürlich still. Seine Mutter schlich umher wie ein Geist. Sein Vater verschlief fast den ganzen Tag. Am Nachmittag erwachte er jedoch und fing sogleich an zu schreien. Er rief immerzu nach seiner eigener Mutter und weder Alma Chester noch James vermochten es, ihn zu beruhigen. James hielt es schließlich nicht mehr aus, flüchtete in sein Zimmer und dämpfte den Lärm mit seinem Kissen. Er bedauerte nun doch, dass er Kathryns Vorschlag, ihn zu begleiten nicht angenommen hatte und er erinnerte sich an die Nacht vor seinem Aufbruch in ihrem Bett; an ihren warmen Körper und ihren gleichmäßigen Atem.

Das alles schien ihm im Moment weit, weit weg.
 

Joe war erholt aufgewacht. Er war fertig angezogen und kam zum Frühstück herunter. Schon als er die Leiter hinabstieg, hörte er Felicity und Rebecca in der Küche miteinander kichern. Sie gaben sich gegenseitig alberne, zärtliche Kosenamen und sprachen miteinander in der Sprache der Liebenden. Er hielt inne, lauschte und grinste in sich hinein.
 

Als er die Küche betrat, waren die beiden Frauen gerade damit beschäftigt, einander zu küssen. Er räusperte sich und fragte scherzhaft:

„Seid ihr sicher, dass ihr solche Dinge vor der leicht beeinflussbaren Jugend tun solltet?“
 

Die beiden lösten sich kichernd voneinander und wandten sich ihm zu.

Rebecca erwiderte:

„Guten Morgen Joe! Wie hast du geschlafen?“
 

„Wunderbar!“ versicherte er strahlend.
 

Beim Frühstück schärfte Felicity Joe noch einmal ein:

„Du darfst zu keinem Zeitpunkt vergessen, dass du nun Jonah Owens bist. Es ist nicht einfach, eine neue Identität glaubhaft durchzuhalten! Deine persönlichen Daten wie Name, Geburtsdatum- und Ort, die Namen deiner Eltern müssen dir ohne Mühe und Nachdenken über die Lippen kommen. Am besten, du sagst sie dir mehrmals täglich selbst vor.“
 

Joe nickte und schenkte ihr ein jungenhaftes Grinsen:

„Das weiß ich doch Tantchen!“ erwiderte er schelmisch: „Mach` dir bitte keine Sorgen. Mir ist klar, was auf dem Spiel steht.“
 

„Entschuldige! Ich will mich nicht wie eine Übermutter aufführen. Ich bin nur so aufgeregt! Heute ist doch ein wichtiger Tag!“ erwiderte Felicity ein wenig verlegen.
 

Heute wollte sie mit Joe in den Ort gehen, ihn als ihren Neffen vorstellen, ihn mit verschiedenen Leuten bekannt machen und er würde sich um eine Arbeit bemühen.

„Ich bin auch aufgeregt.“ gab Joe zu: „Aber noch mehr als das freue ich mich!“
 

„Welche Art von Arbeit hast du dir denn eigentlich vorgestellt?“ wollte Felicity von Joe wissen.
 

„Eigentlich ist es mir nicht so wichtig, was es ist.“ erwiderte er: „Hauptsache, ich kann ein wenig Geld verdienen und höre auf, anderen Leuten auf der Tasche zu liegen. Vielleicht bewerbe ich mich drüben in der Mine?“
 

Die beiden Frauen blickten ihn mit großen Augen an und Rebecca antwortete ernst:

„Das ist körperlich sehr schwere und auch sehr gefährliche Arbeit. Tiny bringt uns um, wenn wir dich dazu ermutigen.“

„Ich habe nichts gegen harte Arbeit und es ist nicht Tinys Entscheidung!“ antwortete Joe schärfer als nötig.
 

Beschwichtigend gab Felicity zurück:

„Das ist wahr und es ist genauso wenig unsere Entscheidung, sondern allein deine, denn du bist erwachsen. Aber bitte versprich mir, dass du es dir nicht schwerer als nötig machst, nur um etwas zu beweisen. Lass´ es uns doch erst einmal bei einigen Betrieben im Ort versuchen. Wenn dabei nichts herauskommt, kannst du es immer noch im Bergwerk versuchen.“
 

Joe nickte und erklärte entschuldigend:

„Es tut mir leid! Ich weiß, ihr meint es gut! Also machen wir es so!“

Schmunzelnd fügte er hinzu: „Ihr hört euch wirklich langsam wie meine Tanten an!“
 

Die beiden Frauen grinsten erst einander und dann den jungen Mann an und Rebecca erklärte:

„Ich denke, wir hätten auch sicher nichts dagegen, wenn wir es tatsächlich wären.“
 

Da die Schule noch bis nach Neujahr geschlossen bleiben würde, hatten beide Frauen heute Zeit und so machten sie sich gleich nach dem Frühstück zu dritt auf den Weg in den Ortskern von Millers Landing.
 

An der Haustür machte Joe eine Beobachtung: Rebecca und Felicity küssten sich, so als wollten sie sich voneinander verabschieden. Später auf der Straße erkannte Joe dann, dass die Frauen, die vorhin noch so zärtlich und intim miteinander gewesen waren, nun nebeneinander her liefen, wie flüchtige Bekannte, damit niemand ahnte, was sie wirklich waren.

Es versetze ihm einen traurigen kleinen Stich in seinem Herzen dies zu sehen.
 

Sowohl der Schreiner, als auch der Hufschmied von Millers Landing hatten keine Beschäftigung für Joe, doch an der dritten Adresse; „Petes Fine Goods“, dem örtlichen Gemischtwarenladen hatten sie Glück. Der alte Pete suchte tatsächlich gerade nach jemandem, der ihm im Laden aushalf und musterte Joe nun gründlich von oben bis unten:

„Du siehst nich´ grade kräftig aus!“ bemerkte er grimmig. „Aber ich brauch´ dringend jemand`, denn ich werd´ langsam zu alt dafür. Der Junge, der zuletzt den Job gemacht, is´ letzte Woche abgehaun`. Du musst einmal die Woche rüber zum Bahnhof: Kisten auslad`n, auf den Karren lad`n, dann hier wieder ablad`n und ins Lager räum`. Ansonst`n Regale auffüll`n, hinter der Kasse stehn, wenn ich nich` da bin und Ware ausliefern. Harte Arbeit!“ erklärte Pete mit vom Rauchen kratzigem Bass.
 

Joe schenkte ihm sein sonnigstes und zuversichtlichstes Lächeln:

„Ich bin stärker als ich aussehe. Ich schaffe das!“ versprach er.
 

„Einverstanden!“ entgegnete Pete „Hab eh` keine große Wahl.“

Sie besprachen noch das Finanzielle, die Arbeitszeiten und schließlich gab der alte Mann Joe die schrundige, knorrige Hand, um die Angelegenheit zu besiegeln:

„Morgen um acht Uhr hier.“ erklärte er.
 

Joe nickte, schaute sich im Laden um und in einer Ecke erblickte er plötzlich etwas, dass beinahe sein Herz stillstehen ließ! Es war der Steckbrief, mit dem nach ihm gesucht wurde! Joe versuchte ruhig zu atmen und betrachte das Bild. Erleichtert stellte er fest, dass es wenig Ähnlichkeit mit ihm aufwies. Pete war von hinten an Joe herangetreten, ohne dass dieser ihn gehört hatte. Als er zu sprechen begann, zuckte Joe ein wenig zusammen:
 

„Das Ding kann auch langsam weg!“ erklärte Pete, riss den Steckbrief ab, knüllte ihn zusammen und warf ihn in einen Papierkorb: „Das is` schon so lang´ her. Der Bengel is` doch längst nach Kanada abgehaun`. Auf morgen dann!“
 

Joe nickte: „Morgen!“ bestätigte er und verließ mit Rebecca und Felicity das Geschäft.
 

Draußen atmeten alle drei tief durch:

„Das war ungemütlich.“ kommentierte Rebecca bleich.
 

Felicity und Joe stimmten zu. Mit wackligen Knien machten sie sich auf den Heimweg.
 

Kaum hatte sich die Haustür wieder hinter ihnen geschlossen, beobachtete Joe, wie aus den Kolleginnen Miss Owens und Miss Miller wieder das Liebespaar Felicity und Rebecca wurde. Er setzte sich an den Küchentisch und fragte die Frauen nachdenklich:

„Glaubt ihr, in hundert Jahren oder so werden Menschen wie wir als etwas ganz Normales angesehen? Dass wir dann auf der Straße unterwegs sein können und uns bei den Händen halten, ohne dass uns etwas geschieht?“
 

Die beiden Frauen setzten sich zu ihm und blickten ihn ernst an. Rebecca zuckte mit den Schultern und meinte:

„Wer weiß! Die Dinge ändern sich ständig und manchmal ändern sie sich auch zum Guten. Erst vor zwei Wochen oder so haben sich zwei Brüder drüben in North Carolina in einem Flugzeug in die Luft erhoben. Das stand in der Zeitung. Wenn es möglich ist, das Menschen fliegen, warum sollten wir da nicht auch irgendwann einmal ganz normal leben können. Vielleicht werden Leute wie wir eines Tages sogar heiraten können. Schließlich ist doch alles denkbar“, oder nicht?“
 

Joe und Felicity lachten. Felicity fühlte die Stirn ihrer Freundin:

„Ich glaube, du redest im Fieber, mein Liebes!“ meinte sie scherzhaft und Joe fügte schwärmerisch hinzu:

„Aber wäre das nicht toll! Ihr beide mit Blumen und weißen Kleidern schreitet den Mittelgang der Kirche entlang und all` eure Freunde und Familienangehörige sind da, um mit euch zu feiern.“

Joe strahlte vor Begeisterung bei dem Gedanken, doch als er Felicity anblickte, hatte diese einen verdächtigen Glanz in ihren Augen. Rebecca hatte es auch gesehen, legte lächelnd einen Arm um ihre Geliebte, drückte sie an sich und küsste ihr sanft die Stirn.
 

Kathryn erwachte noch vor dem Sonnenaufgang und irgendwie hielt sie nichts im Bett, also stand sie auf, versorgte die Tiere, erledigte einige Hausarbeiten und machte Frühstück, um sich abzulenken. Sie sorgte sich um James und stellte zu ihrer eigenen Verwunderung fest, dass er ihr bereits fehlte.
 

Als Tiny erwachte, lag er allein im Bett. Er fragte sich, ob Joe wirklich sein Wort halten und heute Abend herüber kommen würde.
 

Wie schnell man sich daran gewöhnte, dass ein anderer Mensch wie selbstverständlich immer da war, dachte er traurig.
 

Ihm war klar, dass er nun umdenken musste. „Vertrauen“ hatte Kathryn gesagt!

Beschämt erkannte er, dass dies offenbar keine seiner Stärken war.
 

Es war wirklich bequem für ihn gewesen, dass Joe in jeder Hinsicht auf ihn angewiesen war und er sich kaum Sorgen machen musste, ob Joe eventuell jemand anderen kennenlernen oder irgendwann genug von ihm haben könnte. Tiny mochte den Menschen nicht, den das aus ihm machte. Er WOLLTE Vertrauen haben. Er WOLLTE die Selbstsicherheit besitzen, die notwendig war, eine Partnerschaft ohne einschnürende Eifersucht zu führen, doch er musste sich eingestehen, dass er Angst hatte.

Joe war schön, jung, charmant und lustig. Tiny fragte sich, was er ihm im Gegenzug zu bieten hatte? Was an ihm selbst war interessant, attraktiv oder liebenswert genug, dass Joe bei ihm bleiben wollte?

Ihm fiel absolut nichts ein.
 

Nervös erwartete Tiny den Abend. Als schließlich die Dunkelheit hereinbrach, wuchs seine Ungeduld sogar noch weiter. Er hatte regelrechtes Herzklopfen und lauschte auf jedes Geräusch, das von der Haustür her kam. Als diese sich endlich öffnete und Joe sich in den Eingang zur Küche stellte, kam Tiny sich schon beinahe lächerlich vor, in seiner großen Freude ihn zu sehen.
 

Doch anstatt zu ihm herüber zu kommen, um ihn zu begrüßen, blieb Joe im Eingang der Küche stehen, zwinkerte ihm zu und bedeutete ihm mit einer kleinen Kopfbewegung, ihm nach oben ins Zimmer zu folgen. Dieser Einladung kam Tiny nur allzu gern nach.
 

Als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatten, strahlte Joe Tiny an:

„Ich hatte einen großartigen, aufregenden Tag. Ich kann es kaum erwarten, dir alles zu erzählen!“ Und mit einem frechen kleinen Grinsen griff Joe nach Tinys Gürtel, zog ihn zu sich heran und fügte hinzu: „Aber erst hinterher!“
 

Solange er in Taylorsville ausharren musste, hatte James es auf sich genommen, die Körperpflege seines Vaters zu erledigen. Er fütterte, wusch und rasierte ihn, half ihm bei den Toilettengängen und auf Anweisung des Doktors lagerte er ihn in seinem Bett regelmäßig um, damit er sich nicht wund lag.
 

William Chester schlief viel. Wenn er wach war, wirkte er meist verwirrt, doch in den lichteren Momenten erkannte William Chester James als zur Familie gehörig, wenn er auch nicht mehr wusste, wer er war. Er rief ihn Tony. Dies war der Name seines Bruders.
 

James fiel es schwer, diesen kranken, hilfebedürftigen Mann anzusehen und den Zorn aufrecht zu erhalten, den er gegen seinen Vater ein Leben lang gefühlt hatte.
 

Er versuchte zu ergründen, was in seiner Mutter wohl vorgehen mochte. Ihm war aufgefallen, dass sie in letzter Zeit nur noch das Notwendigste sprach. Sie wirkte abwesend und in sich gekehrt. Darauf angesprochen, zuckte sie stets nur mit den Schultern.

Heute hatte James entschieden, dass die Schonzeit vorbei sein musste. William Chester würde nicht wieder gesund werden und möglicherweise bald sterben. Seine Mutter musste Entscheidungen treffen, wie es danach weitergehen sollte. Also setzte sich James zu ihr und fragte sie ganz direkt nach ihren Plänen:

„Wir müssen darüber sprechen, Mutter! Vaters Zustand ist kritisch. Willst du ihn bis…“ er zögerte es auszusprechen: „…bis zum Ende hier zuhause behalten? Und was wirst du tun, wenn er stirbt?“
 

In diesem Moment schien Alma Chester ganz plötzlich aus ihrer Erstarrung zu erwachen. Statt weiterhin mit leerem Blick die Wand anzustarren, wandte sie ihm nun ihren Blick zu. Ihre Miene verzog sich zornig. Ehe James noch wirklich begriff, was vorging, holte seine Mutter kräftig aus und er erhielt von ihr zum ersten Mal in seinem Leben eine schallende Ohrfeige.

James hielt sich die schmerzende gerötete Wange und blickte sie ungläubig an.
 

Seine Mutter zischte wütend:

„Du kannst es wohl gar nicht abwarten, bis er unter der Erde liegt, wie? Willst dir dann alles unter den Nagel reißen und wieder verschwinden, richtig?“
 

James war zunächst einmal fassungslos. Er brauchte einige tiefe Atemzüge, ehe er etwas darauf sagen konnte:

„Ich will nichts von euch haben. Gar nichts! Ich bin nur gekommen, weil du meine Hilfe wolltest. Genauso gut kann ich aber auch einfach wieder verschwinden, wenn du das so willst!“
 

Nun klammerte sich Alma Chester mit einem Mal fest an ihren Sohn und flehte:

„Nein, mein Junge. Bitte bleib` hier. Ich weiß momentan einfach nicht, was ich rede. Geh` nicht fort, hörst du?“
 

James spürte, dass seine Mutter am ganzen Leib zitterte. Er hielt sie fest im Arm und streichelte ihr besänftigend über den Rücken:

„Es ist in Ordnung Mutter. Ich habe es nicht so gemeint! Ich bleibe, versprochen! Bitte beruhige dich wieder, ja?“

James fing an, sich ernste Sorgen um ihren geistigen Gesundheitszustand zu machen.
 

James war nun bereits seit drei Wochen fort und Kathryn vermisste ihn täglich ein wenig mehr. Die Nacht vor seinem Aufbruch kam ihr nun häufig wieder in den Sinn. Seine Nähe, seine Wärme, sein Geruch hatten etwas in ihr geweckt, was sie schon lange nicht mehr gefühlt hatte.

Sie hatte Sehnsucht und hoffte, dass er bald wieder nachhause kommen würde.
 

In den folgenden Wochen blühte Joe regelrecht auf. Die Arbeit bei „Petes Fine Goods“ war körperlich so anstrengend, wie Pete versprochen hatte und Joe baute zusehends Muskelkraft auf, wie er selbst voller Zufriedenheit vor dem Spiegel feststellte. Er dachte an die vielen Male, da er von seinem Vater verprügelt worden war.

So etwas würde ihm niemals wieder geschehen.

Er war kein Opfer mehr!
 

Joe genoss es selbstverständlich auch, nicht mehr im Inneren eines Hauses eingesperrt zu sein. Er verbrachte nun möglichst jeden Moment an der frischen Luft und obwohl es immer noch Winter war, hatte ihm dies bereits eine wesentlich gesündere Gesichtsfarbe eingebracht.
 

Sein Leben war gut!
 

Noch immer war er unendlich dankbar und glücklich über sein eigenes Zimmer und er genoss das Zusammenleben mit Rebecca und Felicity.

Sehr genau beobachtete er, wie die beiden Frauen miteinander umgingen und er fand es immer noch schwer zu glauben, dass sie bereits seit zwanzig Jahren ein Paar sein sollten? Sie waren liebevoll und aufmerksam miteinander, wirkten verliebt, respektierten einander und waren sich in jedem Moment des Glücks bewusst, einander zu haben.

Genau das wünschte er sich auch für Tiny und sich selbst!
 

Etwa an jedem zweiten Abend war Joe drüben im roten Haus, um seine Freunde zu sehen, aber vor allem natürlich, um mit seinem Gefährten zusammen zu sein.

Er war sich deutlich bewusst, dass diesem die neue Situation noch nicht recht behagte, doch er spürte andererseits auch, dass Tiny sich redlich bemühte, ihm dennoch seine Freiheit zu lassen. Die Unsicherheiten und Ängste seines Freundes bereiteten Joe Sorge, doch er wusste, dass nur Zeit ihm darüber hinweghelfen konnte. Tiny musste selbst erfahren, dass Joes Gefühle aufrichtig waren und dass er bei ihm sein wollte.
 

Doch war es scheinbar nicht allein die Unabhängigkeit, die Joe hinzu erhalten hatte, welche Tiny verunsicherte. Auch die neu gewonnene körperliche Stärke Joes schien Tiny offensichtlich nicht recht zu behagen. Vor einigen Tagen hatte er abends im Bett bemerkt:
 

„Wenn du so weiter machst, sind deine Oberarme bald dicker als meine.“
 

Da hatte Joe herzhaft lachen müssen:

„Selbst wenn ich bis zum Ende meines Lebens Kisten schleppen würde, wie ein Wahnsinniger, du wirst immer der Stärkere von uns beiden sein. Das ist etwas, das mir unheimlich an dir gefällt!

Aber ich weiß, worum es hier geht Thomas, denn ich kenne dich mittlerweile viel besser, als du denkst. Du glaubst, ich brauche dich als meinen Beschützer. Aber ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass ich dieselben Dinge möchte, wie du? Ich möchte genauso für dich da sein, stark sein und dich beschützen.“

Er hatte Tinys Kopf an seine Brust gezogen und schützend die Arme um ihn gelegt. Und obwohl dies hier neu, gewöhnungsbedürftig und ein wenig unbehaglich war, hatte Tiny es sich gefallen lassen.
 

James hielt es mittlerweile seit fünf Wochen im Haus seiner Eltern aus. Seine Mutter erschien ihm mehr und mehr wie eine lebende Tote und genau so verschlechterte sich der körperliche Zustand seines Vaters zusehends. William Chester schlief beinahe ohne Unterbrechung, war kaum ansprechbar und hatte offenbar immer öfter Schmerzen im Brustkorb. Der Doktor war nun beinahe täglich bei ihnen, obschon es nicht viel gab, was er tun konnte. Seine Prognose lautete, dass es nun eventuell nur noch eine Frage von Tagen sei.
 

Dann kam ein Tag, da hielt James es in dem stillen, nach Siechtum und Tod stinkenden Haus einfach nicht mehr länger aus und er begab sich auf einen Spaziergang. Es war bereits später Nachmittag und eigentlich hatte er ja nur einige Minuten fort sein wollen, aber die frische Luft und das Alleinsein taten ihm so wohl, dass er seinen Marsch auf volle eineinhalb Stunden ausdehnte. Es hatte mittlerweile zu schneien begonnen. James genoss die Kühle des Winters und wie die Eiskristalle auf seinem Gesicht schmolzen. Er empfand großen Widerwillen, als er schließlich wieder den Rückweg antrat.
 

Schon als er über die Schwelle trat spürte er, dass etwas anders war. Er eilte hinauf in das Schlafzimmer seines Vaters. An seinem Bett saß seine Mutter und hielt dessen Hand. Als James in seines Vaters Gesicht blickte, wurde ihm sofort klar, dass William Chester nicht mehr am Leben war. Es wirkte eingefallen und irgendwie fremdartig:
 

„Mutter!“ sagte James sanft: „Wann ist Vater gestorben? Hast du schon den Doktor benachrichtigt?“
 

Seine Mutter blickte verwirrt zu ihm auf, und starrte ihn unverwandt an. Erst nach einer ganzen Weile erwiderte sie:

„Ich werde den Arzt später rufen! Oder vielleicht erst morgen früh? Ich will noch nicht, dass sie ihn fortschaffen.“ erklärte sie matt.
 

James nickte und zog sich einen Stuhl an das Bett. Gemeinsam saßen sie mindestens eine halbe Stunde ohne ein Wort da. James meinte schon, seine Mutter sei eingeschlafen, als sie plötzlich den Kopf hob und zu sprechen begann:
 

„Ich denke, dein Vater ist krank geworden wegen all` der hässlichen Dinge, die du an Thanksgiving zu ihm gesagt hast.“
 

Das kam vollkommen unerwartet.

James spürte Zorn in sich aufsteigen, doch ihm war klar, dass seine Mutter unter Schock stand. Daher holte er tief Luft und antwortete ruhig:

„Ich habe keine hässlichen Dinge gesagt. Alles was ich gesagt habe, ist wahr!“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Vater ist durch den Alkohol krank geworden oder von mir aus auch durch die Hand Gottes. Doch ICH hatte nichts damit zu tun.“
 

Beide schwiegen wieder eine ganze Weile, bis Alma Chester erneut das Wort ergriff:

„Was soll ich denn jetzt nur tun?“

Sie klang wie ein hilfloses Kind.
 

James antwortete sanft:

„Alles was du willst Mutter! Du bist frei!“
 

Sie schien über seine Worte nachzudenken. Dann bat sie:

„Kannst du mich nun bitte noch ein wenig mit deinem Vater allein lassen?“
 

James nickte, küsste seine Mutter auf die Stirn und ging zu Bett.
 

Als er am kommenden Morgen ins Schlafzimmer seines Vaters trat, fand er seine Mutter neben dessen Leiche liegend. Als er ihre Hand nahm, um sie zu wecken, fühlte er, dass sie kalt war. Neben ihr auf dem Nachttisch entdeckte er ein leeres Glas, an dessen Rand sich der Rückstand irgendeines eines Pulvers zu sehen war.
 

James schickte rasch Louise, das Hausmädchen, um den Doktor zu holen.

Diesem blieb nichts weiter zu tun, als den Totenschein für seine beiden Eltern auszustellen.
 

Fünf Tage später war die Beerdigung. Alma und William Chester wurden in einem Doppelgrab beigesetzt. Ganz Taylorsville kam, um dem Bürgermeister und seiner Frau die letzte Ehre zu erweisen. Alle redeten davon, dass Alma Chester an gebrochenem Herzen gestorben sei. Keiner sprach das Wort Selbstmord aus.

James veranlasste den Verkauf seines Elternhauses und all` ihrer Habseligkeiten. Er wollte nichts als Erinnerung zurückbehalten. Das Geld aus dem Erlös deponierte er auf einem Bankkonto. James hatte nicht die Absicht, etwas davon auszugeben. Vielleicht würde ihm ja eines Tages ein sinnvoller Verwendungszweck dafür einfallen.

Nach sechswöchiger Abwesenheit machte James sich auf den Heimweg nach Millers Landing.
 

Joe war es, der James an diesem Abend die Tür öffnete. Beinahe hätte er den Freund nicht erkannt. Seine Haare waren gewachsen, er war unrasiert, seine Wangen waren eingefallen, denn der schlanke Mann hatte offensichtlich noch ein paar Kilo abgenommen und unter seinen Augen waren dunkle Ringe entstanden.
 

Als James den Freund erblickte, gelang ihm trotz seines desolaten Zustandes ein Lächeln.

„Du siehst großartig aus, mein Lieber! Dein neues Leben scheint dir gutzutun?“ erklärte er matt.
 

Joe nickte und erwiderte stirnrunzelnd:

„Danke! Du hast Recht. Es geht mir wirklich sehr gut! Aber ehrlich gesagt siehst du selbst besorgniserregend aus!“
 

James schüttelte müde den Kopf:

„Es war furchtbar!“ erklärte er und schon begannen die Tränen zu fließen.
 

Joe legte sanft die Arme um ihn und stellte dann fest:

„Großer Gott, James! Du bist ja völlig ausgekühlt!“

Er zog den Freund ins Innere des Hauses und schloss die Tür hinter ihm. Er umarmte ihn erneut und begann, ihm Arme und Rücken zu reiben, um ihn aufzuwärmen. Schnell wurde ihm klar, dass dies nicht sonderlich hilfreich war, also führte Joe den immer noch weinenden James in den Gemeinschaftsraum und setzte ihn auf das Sofa vor den brennenden Kamin. Er selbst hockte sich daneben, zog James Kopf an seine Brust und strich ihm beruhigend über den Rücken.
 

In diesem Moment kam Tiny hinzu und runzelte bei dieser Szene die Stirn. Als ihm jedoch James verzweifelter Zustand deutlich wurde, entspannte er sich wieder und hockte sich zu den beiden auf die Sofalehne.

Joe fragte James:

„Willst du mir erzählen, was vorgefallen ist?“
 

James schüttelte den Kopf:

„Zu früh! Morgen, in Ordnung?“
 

Joe nickte und erkundigte sich:

„Möchtest du etwas Suppe? Du siehst aus, als hättest du in den letzten sechs Wochen gefastet.“
 

James nickte dankbar. Joe blickte Tiny an und der verstand ihn auch ohne Worte und veerschwand in der Küche.
 

Als Tiny fort war fragte Joe weiter:

„Soll ich Kathryn holen? Sie wird sehr glücklich sein, wenn sie dich sieht.“

James schüttelte energisch den Kopf:

„Ich war sechs Wochen fort. Ich will nicht, dass sie mich gleich als erstes in Tränen aufgelöst sieht. Ich würde mich gern erst mal hier frisch machen und rasieren. Ist das möglich?“
 

„Sicher!“ erwiderte Joe.
 

In diesem Moment kam Tiny mit der Suppe zurück.

„Kannst du bei James bleiben?“ bat er ihn: „Ich befeuere für ihn eben den Badeofen.“
 

Tiny nickte, setzte sich neben James und reichte ihm die Suppenschale, welche dieser dankbar entgegen nahm.
 

James saß zusammengesunken da und löffelte seine Mahlzeit, während Tränen in die Schale tropften.
 

Tiny betrachtete den leidenden jungen Mann von der Seite und für diesen Moment vergaß er alle Vorbehalte, die er je gegen James gehabt hatte. Sein Beschützerinstinkt war geweckt. Er legte James eine Hand auf den Rücken und dieser lehnte sich im Gegenzug an ihn.
 

Gewaschen, rasiert, getröstet und mit etwas im Magen fühlte sich James schon etwas mehr wie er selbst:

„Sollte ich mir eigentlich die Haare schneiden?“ wollte er von Joe wissen.
 

Dieser fuhr ihm mit beiden Händen in die dunkle, feuchte, lockige Mähne, schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete:

„Mir gefällst du so ganz gut. Und ich wette, Kathryn mag es auch. Bist du jetzt bereit, ihr gegenüberzutreten?“
 

James nickte.
 

Kathryn strahlte, als sie James erblickte, zog ihn in eine feste Umarmung und murmelte dann:

„Oh mein lieber Junge: du bist ja nur noch Haut und Knochen. Was ist denn bloß mit dir passiert?“
 

Die beiden setzten sich auf das Sofa vor das Feuer. James brauchte eine Weile, um einen Bericht der vergangenen Wochen zu geben. Als er geendet hatte, flüsterte Kathryn sanft:
 

„Es tut mir sehr leid!“

James nickte und sie schwiegen eine Weile. Irgendwann blickte er zu Kathryn auf und in diesem Augenblick sah er so jung und verletzt aus, dass sie schlucken musste:
 

„Ich verstehe nicht, warum meine Mutter das getan hat.“ flüsterte er.
 

Kathryn dachte einen Moment darüber nach und erwiderte dann:

„Ich schätze, sie hat so lange alles in seine Hände gelegt, dass sie vergessen hat, wer sie selbst ist. Und darum konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.“
 

„Denkst du, ich hätte es kommen sehen müssen?“ fragte James unsicher.
 

Kathryn schüttelte den Kopf:

„Wie hättest du wissen können, was sie tut? Und selbst wenn du es gewusst hättest, was hättest du tun können? Deine Mutter retten? Wie rettet man jemanden vor sich selbst? Mach` dir keine Vorwürfe, Liebling!“
 

Nach einer Weile murmelte James:

„Ist das nicht lächerlich? Die ganze Zeit kann ich nur denken „Nun bin ich eine Waise!“ Es kommt mir so vor, als wäre ich jetzt ganz allein auf der Welt.“
 

„Das bist du aber nicht.“ versicherte sie: „Dein zuhause und deine Familie sind jetzt hier. Ich habe dich sehr vermisst, mein Liebster.“
 

James blickte erstaunt zu ihr auf. Dann beugte er sich vor und küsste sie. Kathryn lehnte sich auf dem Sofa zurück und zog James auf sich. Schließlich fragte sie:

„Wie wär´s, wenn du heute Nacht bei mir bleibst.“
 

„Als Übernachtungsgast?“ fragte James unsicher zurück.
 

„Vorerst!“ Gab Kathryn mit einem vielsagenden Lächeln zurück.
 

Joe hatte bereits sehr früh gefrühstückt und wollte sich gerade auf den Weg zu „Petes Fine Goods“ machen, als James die Treppe herunterkam:

„Du siehst schon besser aus!“ stellte er fest.
 

James nickte:

„Ich fühle mich auch besser!“ versicherte er
 

„Treffen wir uns heute Abend hier und du erzählst mir alles?“ wollte Joe wissen: „Ich muss jetzt nämlich leider zur Arbeit.“
 

James nickte:

„Gern! Machen wir es so!“ dann fragte er überrascht: „Arbeit? Es scheint so, als hättest du auch einiges zu berichten.“
 

„Stimmt! Heute Abend dann!“ erwiderte sein Freund strahlend.
 

James fühlte sich noch nicht in der Lage, wieder zu arbeiten und so verbrachte er den Tag im roten Haus. Sam überredete ihn mit ihm und den anderen Kindern Karten zu spielen. Die Fröhlichkeit und Vitalität der Kleinen taten James gut und halfen dabei, dass auch in sein Inneres wieder Lebendigkeit Einzug hielt.
 

Als Joe nach einigen Stunden zurückkehrte, aßen sie gemeinsam zu Abend, ehe sie sich zusammensetzten und einander berichteten, was sie in den vergangenen sechs Wochen erlebt hatte. James begann und als er geendet hatte, sprach Joe ihm sein Mitgefühl aus. Er zögerte eine Weile, ehe er sich auszusprechen traute, was ihm durch den Kopf ging:
 

„Entschuldige, dass ich das sage, aber ich finde, deine Mutter war ausgesprochen grausam zu dir. Sie hat dir die Schuld an der Krankheit deines Vaters gegeben und sie hat es dir aufgebürdet, dass du nicht nur einen, sondern beide Elternteile beerdigen musstest. Wie hat sie das nur tun können?“
 

James dachte darüber nach, zuckte schließlich mit den Schultern und antwortete:

„Ich denke nicht, dass sie wusste, was sie tat.“
 

Der Bericht über James Erlebnisse wog schwer auf ihrer beider Schultern und sie schwiegen eine Weile.

Schließlich konnte James es nicht mehr ertragen. Er wollte etwas Erfreuliches hören und sich auf die Zukunft konzentrieren, also bat er:

„Jetzt erzähl` doch mal, wie es für dich in den letzten Wochen gewesen ist. So, wie du aussiehst, muss es großartig gewesen sein. Muntere mich auf, ja?“
 

Also berichtete Joe ausführlich von seiner neuen Arbeit und dem Zusammenleben mit Felicity und Rebecca. Und nachdem er sich zuvor vergewissert hatte, dass Tiny nicht in Hörweite war, erklärte er auch, was es für ihn bedeutete, ein eigenes Zimmer zu haben.
 

James nickte verstehend:

„Ich habe mich ein wenig so gefühlt, als ich nach Millers Landing kam. Da hat mein eigenes Leben begonnen. Ich konnte meine eigenen Entscheidungen treffen, ohne meinen Vater im Hintergrund, der ständig versuchen konnte, alles zu kontrollieren, was ich tue. Ich konnte endlich richtig erwachsen werden.“
 

Als das „Yasemines“ schloss, kam Kathryn herüber ins Wohnhaus. Joe war bereits zu Bett gegangen und James saß allein am Feuer im Gemeinschaftsraum. Kathryn beugte sich von hinten über ihn, küsste seinen Hals und ließ ihn damit wohlig erschaudern. Sie flüsterte:
 

„Ich denke, wir haben lang genug gewartet, findest du nicht? Möchtest du mit mir ins Schlafzimmer kommen?“
 

James war wahnsinnig nervös, als er Kathryn die Treppe hinauf, in ihr Zimmer folgte. Als sich die Tür hinter ihnen beiden schloss, pochte sein Herz so laut, dass er glaubte, sie müsse es hören.
 

Eine Weile blieben sie unschlüssig voreinander stehen und blickten sich nur an. Dann trat Kathryn auf ihn zu und begann dann damit, erst ihm und dann auch sich selbst die Kleider auszuziehen, wobei sie sich viel Zeit ließ.

Als sie nackt vor ihm stand, vergaß James ein wenig seine Nervosität. Sie war wunderschön und wirkte viel zarter und verwundbarer ohne ihre Kleider. Er dachte nur noch daran, dass er sie glücklich machen wollte. Sehr sanft begann er, Kathryn zu berühren, zu küssen und sich mit ihrem Körper vertraut zu machen. Alles war fremd und wunderbar.

Er ließ sich von Kathryn zum Bett führen. Sie legte sich zu ihm und begann ihrerseits, ihn zu berühren; zunächst noch sehr sanft und zurückhaltend, um dann schließlich fordernder und leidenschaftlicher zu werden.

James genoss Kathryns Hände auf seinem Körper, das Gefühl ihrer Haut auf der seinen und seine Erregung wuchs. Gleichzeitig fühlte er sich jedoch auch ein wenig unbehaglich, weil er nicht wusste, was er tun sollte, was sie von ihm erwartete und fürchtete, etwas falsch zu machen, also überließ er ihr die Führung. Kathryn lag auf ihm, küsste ihn tief, drängte sich nah an ihn und schließlich hockte sie sich auf ihn. Er setzte sich auf, legte die Arme um sie, betrachtete ihren gelösten Gesichtsausdruck, die halb geschlossenen Augen und lauschte den kleinen sehnsuchtsvollen Lauten, die Kathryns Lippen entkamen als sie begann sich sanft und rhythmisch auf ihm zu bewegen.
 

James konnte kaum glauben, dass dies wirklich geschah, schloss die Arme fester um sie und vergrub sein Gesicht an Kathryns Hals. Er vergaß seine Einsamkeit, die Schrecken der vergangenen Wochen. Nichts war mehr von Bedeutung außer dem Hier und Jetzt.
 

Später lag James mit seinem Gesicht an ihre weichen vollen Brüste geschmiegt und sie schmunzelte und fuhr ihm mit den Fingern sacht durch das Haar. Beide genossen das Nachbeben ihres Liebesspiels.
 

James konnte sich nicht erinnern, dass er sich zuvor schon einmal so friedlich und vollkommen gefühlt hätte. Ehe er einschlief, dachte er an das, was Joe über das Einssein gesagt hatte und er konnte sich keine treffendere Beschreibung vorstellen.

Des Menschen Wolf

Teil 2: Dunkle Wolken
 


 

Es war Mitte März und der Winter befand sich allmählich auf dem Rückzug.

Der Abend brach herein. Joe brachte gerade die Kinder zu Bett, während ihre Mütter nebenan im „Yasemines“ arbeiteten.

Tiny war zum Holzhacken in den Schuppen gegangen.
 

James würde an diesem Abend nicht mehr kommen. Er war wochenlang nicht mehr zuhause gewesen und glaubte, sich wieder einmal bei der alten Witwe Meyer, seiner Vermieterin blicken lassen zu müssen.
 

Heute war Samstag und das „Yasemines“ war wieder einmal sehr gut besucht. Minenarbeiter, Cowboys und Saisonarbeiter, sowie einige Stammgäste aus dem Ort saßen am Tresen oder an den Tischen, tranken, oder erfreuten sich an der Gesellschaft der Frauen.
 

Shy kam gerade mit einem Stammgast wieder herunter. Es handelte sich um einen älteren Mann, welcher seinen wahren Namen niemals verraten hatte, der von den Frauen daher bloß „Lonely Stanley“ genannt wurde. Er war Witwer und wenn er kam, wollte er stets nur mit Shy gehen, denn offenbar hatte er für ihre raue Herzlichkeit etwas übrig. Er war impotent und im Grunde ging es ihm nur darum, für eine Weile jemanden zu reden zu haben. Shy hatte den armen, alten Kerl sogar irgendwie gern und sie freute sich eigentlich immer, wenn er da war. Er war sicher einer der angenehmeren Gäste des „Yasemines“.
 

Ganz anders verhielt es sich mit jenem jungen Mann, der in letzter Zeit häufiger bei ihnen gewesen war und der ein spezielles Interesse an Margarete entwickelt hatte. Er hatte seinen Platz am Tresen den ganzen Abend noch nicht verlassen und fixierte von dort aus genauestens jeden ihrer Schritte. Sein Name war Bob Carmichael und er arbeitete drüben in der Mine.
 

Kathryn behielt den Mann unentwegt im Blick, um zu sehen, ob er Ärger bedeutete, denn sowohl Margarete, als auch die anderen Frauen hatten ihn als unangenehm beschrieben.

Er war ein gutaussehender Bursche, stellte Kathryn fest; schlank, sehnig, groß, mit einem markanten Gesicht und selbstbewusster Haltung. Doch wenn sie ihm in die silbergrauen Augen blickte, überlief sie ein kalter Schauer. Da lag etwas Taxierendes, Kaltes und auch Grausames in seinem Blick.
 

Margarete tat ganz einfach so, als bemerke sie ihren Beobachter gar nicht, doch Kathryn konnte der Freundin ansehen, dass er ihr Angst machte.
 

Der Abend wurde später und die Bar leerte sich langsam, doch Carmichael machte dennoch keine Anstalten zu gehen. Mittlerweile waren nur noch Kathryn, Shy, Molly und Margarete anwesend. Carmichael hatte mittlerweile eine ganze Menge getrunken und nun offenbar ein Level erreicht, welches es ihm erlaubte, seinen Versuch bei Margarete zu starten.
 

Kathryn befand sich noch immer hinter dem Tresen in Hab-Acht-Stellung und beobachtete die Szene genau. Sie konnte nicht hören, was gesagt wurde, konnte aber an Margaretes Körpersprache ablesen, dass sie dem Mann charmant, aber bestimmt eine Absage erteilte.
 

Zunächst schien es, als würde Carmichael diese akzeptieren, doch sobald Margarete ihm den Rücken zugekehrt hatte, umfasste dieser sie grob von hinten und versuchte, ihren Kopf zu einem Kuss zu sich herumzudrehen.
 

Kathryn griff sich einen Knüppel, der für diese Zwecke unter dem Tresen stand, stürzte los und rief im Vorbeigehen Molly, die in der Nähe stand zu, sie solle sofort Tiny und Joe herüberholen. Molly stürmte hinaus und Kathryn hatte mittlerweile Carmichael und Margarete erreicht:

„Sofort loslassen!“ brüllte sie dem Angreifer zu.
 

Dieser drehte sich, mit Margarete in seinen Klauen, langsam zu Kathryn um und schenkte ihr ein unheimliches Lächeln:

„Was ist denn los, schöne Frau? Wir haben hier doch nur ein wenig Spaß.“ flötete er süßlich.
 

Kathryn sah, dass der Mann eine seiner Hände an Margaretes Brust hatte und diese grob quetschte. Die andere hatte er an ihrer Kehle. Margaretes Gesicht zeigte Schmerz und Panik und sie war starr vor Schrecken.

Shy war inzwischen ebenfalls hinzu getreten, baute ihre winzige Gestalt bedrohlich auf, schenkte Carmichael einen finsteren Blick und Kathryn wiederholte:

„Lass` sie auf der Stelle los!“

Drohend erhob sie dabei den Prügel.
 

In diesem Moment schüttelte Margarete ihre Panik ab und trat dem Mann mit aller Kraft auf den Fuß. Vor Überraschung und Schmerz löste dieser seinen Griff und Margarete gelang es, sich zu befreien. Nun, da Kathryn nicht mehr Gefahr lief, versehentlich die Freundin zu treffen, holte sie mit dem Knüppel aus und traf Carmichael mit großer Wucht an der Schulter.

Dem Mann gelang es allerdins, die Waffe zu fassen zu bekommen. Er riss sie Kathryn aus der Hand und warf sie beiseite. Nun ging er auf Kathryn los, packte sie am Kragen und schüttelte sie grob.
 

Diese war jedoch hart im Nehmen und nicht zimperlich. Es war nicht die erste körperliche Auseinandersetzung mit einem Mann, die sie austragen musste. Sie griff zwischen seine Beine und quetschte alles, was ihm lieb wertvoll war. Als er sie losließ und sich krümmte, holte sie mit dem Ellenbogen aus und verpasste Carmichael einen kräftigen Hieb ins Genick Als dieser schließlich zu Boden ging, trat sie ihm noch einmal kräftig in die Magengegend, nur um ganz sicher zu sein.
 

In diesem Moment kam Molly mit Joe und Tiny zur Tür herein. Sie blickten auf den Mann, der sich am Boden wand. Margarete hatte die Bar unterdessen panisch verlassen.
 

„Er wollte gerade gehen.“ erklärte Kathryn auf Carmichael deutend und fügte scharf hinzu: „Und wir werden sie hier nie wieder sehen, verstanden?“
 

Der Mann erhob sich langsam und setzte wieder sein unangenehmes Lächeln auf. Tiny wollte ihn packen und hinauswerfen, doch Carmichael erhob beschwichtigend die Hände:
 

„Ich finde schon hinaus!“ erklärte er und dann war er verschwunden.
 

Kathryn und Shy erzählten Joe und Tiny kurz, was vorgefallen war, ehe sie die Bar schlossen und gingen gemeinsam hinüber ins Wohnhaus gingen.
 

In der Küche des Wohnhauses saß Melody über ein paar Handarbeiten. Sie hatte sich heute nicht wohl gefühlt und war hier geblieben. Deshalb hatte sie von den Ereignissen dieses Abends nichts mitbekommen.
 

Kathryn wollte wissen:

„Wie geht es deiner Schwester? Hat sie sich nach dem Schrecken gleich hingelegt?“
 

Melody blickte überrascht auf und fragte:

„Wovon sprichst Du? Margarete ist nicht hier. Ist sie denn nicht bei euch?“
 

Kathryn fühlte Panik in sich aufsteigen und sagte:

„Bestimmt hast du sie nur nicht reinkommen hören. Ich sehe mal in ihrem Zimmer nach.“
 

Energisch widersprach Melody:

„Ich war die ganze Zeit hier. Ich hätte es mitbekommen, wenn Margarete gekommen wäre. Willst du sagen, sie ist verschwunden. Was zum Teufel ist hier los? Was ist passiert?“

Ihre Stimme wurde schrill.
 

Shy, die wie gewöhnlich einen kühlen Kopf behielt, erklärte Melody kurz, was heute Abend vorgefallen war.
 

Melodys Augen weiteten sich entsetzt:

„Soll das heißen, meine Schwester ist jetzt irgendwo da draußen mit einem brutalen Verrückten?“ schrie sie erregt.
 

Kathryn schüttelte den Kopf und erwiderte kläglich:

„Das ist doch gar nicht möglich! Sie war doch vor ihm draußen. Margarete muss doch längst hier im Haus angekommen sein, als Carmichael gegangen ist. Es ist doch nur ein ganz kurzer Weg zwischen den beiden Gebäuden.“
 

„Sie ist aber nicht hier!“ schrie Melody außer sich: „Wir müssen sie sofort suchen gehen!“
 

Alle Anwesenden blickten Melody betreten an und sie nickten:
 

„Lasst uns Teams bilden. Ich will nicht, dass jemand von uns diesem Bob Carmichael allein gegenübertritt. Ich glaube, dass er ziemlich gefährlich ist.“ erklärte Kathryn und in dem Blick, den sie bei ihren letzten Worten von Melody auffing, lag nackte Panik. Sie drückte die Hand der verzweifelten Freundin und suchte nach Worten, um sie zu trösten:

„Es wird alles gut werden! Margarete kann auf sich aufpassen. Sie hat sich vorhin bereits gegen den Mann zur Wehr gesetzt. Außerdem ist er geschwächt, denn ich habe ihm auch ganz schön zugesetzt.“
 

Shy, Tiny und Joe nickten bekräftigend zu ihren Worten.
 

Shy blieb also bei den Kindern zurück, falls diese aufwachten und die anderen bewaffneten sich mit Stöcken, Mistgabeln oder was sonst zur Hand war, nahmen Lampen mit und machten sich dann auf, um Margarete zu finden.

Joe und Tiny liefen zunächst zu Felicity und Rebecca hinüber, um zu fragen, ob auch diese sich an der Suche beteiligen würden. Selbstverständlich stimmten die beiden Frauen zu und machten sich eilig bereit. Die anderen Teams bestanden aus Molly und Regine, sowie Kathryn, welche die aufgelöste Melody begleitete.
 

Die Suchteams brachen in verschiedene Himmelsrichtungen auf. Es war finstere Nacht und die Lampen spendeten nicht genug Licht, um weithin zu sehen und so liefen sie also durch die Dunkelheit, durchsuchten Ecken und Winkel und riefen dabei Margaretes Namen.
 

Molly nahm Regine beim Arm:

„Ich habe solch eine Angst. Du hättest den verrückten Blick dieses Kerls sehen müssen. Wenn er wirklich Margarete in seiner Gewalt hat, will ich nicht wissen, was er mit ihr anstellt.“ erklärte sie mit Tränen in der Stimme.
 

Regine nahm die Freundin bei der Hand und entgegnete:

„Deshalb müssen wir sie schnell finden.“ Und mit mehr Selbstsicherheit, als sie tatsächlich fühlte erhob sie die kleine Axt, welche sie als Waffe mitgebracht hatte und sagte: „Und dann spalte ich diesem Carmichael hiermit den Schädel!“
 

„Wieso habt ihr sie nur allein gehen lassen?“ fragte Melody vorwurfsvoll.

Kathryn blickte sie schuldbewusst an:

„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid! Es ist alles so schnell gegangen. Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, wie Margarete verschwunden ist. Ich war damit beschäftigt, diesen Kerl auszuschalten. Ich hätte aufmerksamer sein müssen!“
 

Melody schluckte und erwiderte:

„Ich weiß doch, dass es nicht eure Schuld ist! Ich bin bloß so außer mir.“ Und mit Tränen erstickter Stimme fuhr sie fort: „Wenn ihr etwas zustößt, dann weiß ich nicht, was ich tue. Sie bedeutet mir Alles, verstehst du?“
 

Kathryn nickte.

Leider verstand sie es viel zu gut!
 

Rebecca und Felicity stolperten durch die Dunkelheit und riefen nach Margarete. Rebecca blieb irgendwann stehen und flüsterte:

„Ich habe immer befürchtet, dass so etwas einmal geschehen könnte. Sie leben da draußen, haben keinen Schutz, und von allen Seiten schlägt ihnen bloß Verachtung entgegen. Für die meisten Leute ist das Leben dieser Frauen doch vollkommen wertlos. Erinnerst du dich an Elizabeths Beerdigung und was danach geschehen ist? Das war so furchtbar!“
 

„Shh!“ machte Felicity: „Lass´ uns jetzt nicht von Beerdigungen sprechen. Wir werden Margarete wieder finden. Und sollte dieser Kerl ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, nehme ich dies hier…“ Sie hielt ein mitgebrachtes Messer hoch: „…und nehme ihn aus, wie einen Fisch!“

Rebecca hatte ihre, für gewöhnlich so sanfte und freundliche Liebste noch nie so zornig und blutdürstig erlebt.

Sie ahnte, dass Felicity auf diese Weise versuchte, die eigene Furcht im Griff zu behalten.
 

Es dämmerte bereits leicht. Joe bewegte sich vorsichtig zwischen den Bäumen in der Nähe der Grabstätte von Elizabeth und da plötzlich sah er es: In einer kleinen Senke lag regungslos eine Frau.
 

Joe rannte zu ihr und richtete das Licht seiner Öllampe auf sie. Er erkannte, dass es sich tatsächlich um Margarete handelte und selbst in dem spärlichen Licht wurde ihm klar, wie schwer sie verwundet war.

Sie lebte, denn ihr Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, doch sie war scheinbar kaum bei Bewusstsein. Ihr Kleid war an mehreren Stellen zerrissen und blutig.
 

Joe rief entsetzt nach Tiny, welcher etwas weiter zurückgeblieben war. Als dieser die Verletzte erblickte, sog er vor Schrecken scharf die Luft ein:

„Ich werde sie zum Haus tragen!“ versicherte er: „Kannst du Doktor Miller holen?“
 

Joe nickte:

„Ja, ich weiß wo er wohnt.“ antwortete er und rannte in Windeseile los.
 

Als sein Geliebter fort war und er allein mit der Verletzten zurückblieb, wurde Tiny von Angst erfasst. Er wusste zunächst gar nicht, wie er den zerstörten Körper anfassen sollte. Überall war Blut und er fürchtete, die Dinge noch schlimmer zu machen, wenn er sie bewegte, doch es half nichts. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und hob sie so behutsam wie möglich auf.
 

Als Tiny die Verletzte ins Haus trug, waren sämtliche Suchteams bereits wieder eingetroffen. Auf den Gesichtern der Frauen las er zunächst große Erleichterung, die jedoch sehr schnell von Entsetzen abgelöst wurde, als sie den Zustand der Freundin erfassten:
 

„Doktor Miller?“ fragte Kathryn gepresst.
 

„Kommt gleich!“ gab Tiny atemlos zurück und trug Margarete die Treppe hinauf.

Melody folgte ihm dichtauf. Rebecca kam ebenfalls mit nach oben, falls es etwas gäbe, was die tun konnte, bis ihr Vater eintraf.
 

Tiny legte die verletzte Frau in ihr Bett und als er an sich hinuntersah, bemerkte er, dass auch er selbst nun blutüberströmt war.

Er schluckte schwer.
 

Rebecca sagte:

„Irgendwo muss eine tiefe Wunde sein. Sie verliert zu viel Blut. Wir dürfen keine Zeit verlieren!“
 

Mit Melodys Hilfe zog sie Margarete das Kleid aus.
 

Tiny drehte sich weg, aus dem Bedürfnis heraus, der schwer verletzten Margarete ihre Privatsphäre zu lassen. Zum Glück wies ihn Rebecca ihn diesem Moment an, heißes Wasser zu besorgen und er durfte das Krankenzimmer verlassen.
 

Als er in die Küche kam und die anderen seine blutige Kleidung erblickten, hörte er von allen Seiten Laute des Grauens, Shy zog scharf ihren Atem ein und Regine begann unwillkürlich zu schluchzen.
 

Rebecca untersuchte Margarete und fand, wonach sie gesucht hatte: eine klaffende Bauchwunde!

Sie wandte sich an Melody:

„Besorg´ mir irgendetwas Sauberes, ein Stück Stoff oder so, womit ich die Wunde zuhalten kann!“
 

Eilig machte Melody sich auf den Weg und kam schnell mit einem Handtuch zurück. Dies presste Rebecca sogleich auf die Wunde und hielt es dort fest. Sie betete, dass bald ihr Vater eintreffen möge.
 

Joe klopfte wie wild an die Tür der Millers. Er war vom schnellen Rennen immer noch atemlos, als der Doktor in Pyjama, Morgenmantel und Pantoffeln endlich öffnete.
 

„Entschuldigen sie die Störung…“ japste er: „Ich bin der Neffe von Felicity Owens. Ich lebe seit einiger Zeit mit ihr und ihrer Tochter Miss Miller zusammen. Mein Name ist Jonah, also Joe. Es gibt einen schwerwiegenden medizinischen Notfall drüben im „Yasemines“. Ich denke, wir haben nicht viel Zeit.“
 

„Um was geht es denn?“ fragte der Doktor, doch Joe winkte ab:
 

„Bitte! Es eilt! Ich erkläre ihnen alles unterwegs!“ erwiderte er ungeduldig.
 

Der Doktor brauchte einige Minuten und erschien dann angezogen und mit einer Arzttasche wieder in der Tür.

Auf dem Weg, den sie zu Fuß zurücklegten, berichtete Joe eilig, was vorgefallen war. Der Doktor lauschte dem Bericht und fragte schließlich mit hochgezogener Augenbraue:
 

„Und darf ich fragen, was ein junger Mann wie sie um diese Zeit an solch einem Ort tut?“

Joe, genervt darüber, dass Doktor Miller in diesem Moment tatsächlich keine anderen Sorgen hatte, entgegnete ungeduldig:
 

„Es ist nicht, was sie denken! Ich habe dort lediglich einen Freund besucht.“
 

„Verstehe!“ antwortete der Doktor und der Unterton machte deutlich, dass er Joe kein Wort glaubte. Joe hätte es nicht gleichgültiger sein können.
 

Im Haus angekommen, ging Doktor Miller sofort nach oben, wo er seine Tochter fand, die um das Leben von Margarete kämpfte. Er schickte Melody hinaus, welche das Zimmer nur widerwillig verließ. Rebecca behielt er da, damit sie ihm assistieren konnte.

Als er sich seine Patientin genauer anschaute, entfuhr selbst dem erfahrenen Arzt ein: „Um Gottes willen!“
 

Unten in der Küche hockte Tiny immer noch in seinen blutigen Kleidern in einer Ecke. Als Joe ihn erblickte, war ihm augenblicklich klar, dass sein Freund unter Schock stand.

Er ging vor ihm in die Hocke und der herbe, metallische Geruch des Blutes stieg ihm in die Nase und verursachte ihm Übelkeit. Joe suchte Tinys Blick und flüsterte sanft:

„Hey, mein Liebster! Wie wäre es, wenn ich dir helfen würde, dich sauber zu machen?“
 

Tiny blickte ihn unverwandt an und schien angestrengt über Joes Worte nachdenken zu müssen. Schließlich nickte er und folgte Joe schwerfällig in den Waschraum. Dort half der Jüngere ihm, die blutigen Kleider auszuziehen und brachte sie auch sogleich weg, damit Tiny keinen weiteren Blick darauf werfen musste. Als er zurückkam, hatte er frische Kleidung dabei. Dann half er seinen Freund, sich zu säubern.
 

Nach einer Weile sagte Tiny beinahe flüsternd:

„Als ich sie getragen habe, konnte ich beinahe fühlen, wie das Leben in ihr immer weniger wurde!“

Eine Träne lief ihm die Wange hinunter.
 

„Der Doktor ist jetzt bei ihr! Alles wird gut werden!“ versicherte Joe sanft und leise, als habe er Angst, den großen, kräftigen Kerl den er vor sich hatte allein schon mit zu lauten Worten zu Tode zu erschrecken.

Er half Tiny, die sauberen Kleider anzuziehen und führte ihn in den Gemeinschaftsraum zum Sofa. Als Joe ihn in seine Arme nahm, rollte sich Tiny an seiner Seite zusammen, wie ein kleiner Junge und begann, leise zu Schluchzen. Joe hielt den Kopf seines Geliebten an seiner Brust, wiegte ihn ein wenig und gab beruhigende Laute von sich.
 

In der Küche lief Melody auf und ab. Die Trostversuche der anderen Frauen erreichten sie in diesem Augenblick nicht. Sie musste in Bewegung bleiben; immer in Bewegung, sonst wäre sie sicherlich wahnsinnig geworden.
 

Nachdem er beinahe eine Stunde bei der Verletzten gewesen war, kam Doktor Miller endlich die Treppe hinunter. Er wirkte blass und erschöpft und wischte sich mit einem Taschentuch zunächst über die verschwitzte Stirn und dann die blutigen Hände so gut es ging sauber. Die Augen aller waren in diesem Moment gespannt auf ihn gerichtet.
 

Auch Tiny und Joe kamen in diesem Moment aus dem Gemeinschaftsraum herüber in die Küche. Sie hielten einander fest im Arm und der Jüngere streichelte dem älteren Mann beruhigend über das Haar, das Gesicht und die Schultern.
 

Doktor Miller erkannte, dass er über Joe zuvor offenbar tatsächlich falsche Schlüsse gezogen hatte und die Sache sich in der Tat ganz anders verhielt, als angenommen. Er drängte diese verstörende Erkenntnis für den Moment beiseite, holte tief Luft und begann, den Anwesenden Bericht zu erstatten:
 

„Miss Margarete hat sehr viel Blut verloren. Sie muss in den nächsten Stunden sehr viel trinken, am besten Wasser und salzige Brühe. Ansonsten braucht sie absolute Ruhe und darf das Bett nicht verlassen. Sie ist momentan bei Bewusstsein. Sie hat eine Stichverletzung im Bauch, die ich genäht und versorgt habe, so gut ich konnte. An dieser wäre sie gewiss verblutet, wenn meine Tochter nicht zur Stelle gewesen wäre. Jetzt müssen wir hoffen, dass die Verletzung keine Infektion nach sich ziehen wird. Weiterhin hat sie eine Kopfverletzung, da der Täter offenbar ihren Kopf genommen und mehrfach auf den Boden geschlagen hat. Und sie wurde…“ an dieser Stelle versagte seine Stimme.

Er räusperte sich und begann von neuem:

„Sie wurde vergewaltigt und hat auch hiervon schwere Verletzungen davongetragen.“

Er schlug die Augen nieder und fügte betroffen hinzu:

„Ich habe so etwas in meinen Jahren als Mediziner noch nie gesehen. Jemand muss jederzeit bei ihr bleiben und mich benachrichtigen, falls sich ihr Zustand verschlechtern sollte. Ich habe ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben und werde heute Abend noch einmal nach der Patientin sehen.“

An Melody gewandt erklärte er bedauernd:

„Es tut mir leid, doch ich kann nicht versprechen, dass ihre Schwester durchkommen wird.“

Der Doktor schloss mit den Worten:

„Wenn nichts dagegen spricht, werde ich zum Sheriff gehen und die Tat anzeigen. Eine von ihnen sollte mich begleiten.“
 

„Möchtest du, Melody?“ fragte Kathryn leise.
 

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr starrer Blick war vage auf den Doktor gerichtet:

„Ich bleibe bei meiner Schwester!“ erklärte sie leise.
 

„Dann werde ich mitkommen!“ versicherte Kathryn und machte sich zum Aufbruch bereit.
 

Bob saß in seinem Unterschlupf und spürte das Pochen seines erhitzten Blutes in seinem Kopf, seinem Körper, überall. Etwas war erwacht und war nun bei ihm, Teil von ihm. Er hatte sich noch nie lebendiger gefühlt!

Er erinnerte sich an das, was er beobachtete hatte, als er zehn Jahre alt gewesen war: Es war im Winter, der Schnee hatte den Wald zugedeckt und alles wirkte friedlich. Da erblickte er den Wolf! Er hatte das Reh an der Kehle gepackt und es knurrend geschüttelt. Bobs Ankunft hatte das Raubtier vertrieben. Widerwillig hatte der hungrige Wolf seine sterbende Beute zurückgelassen und der Junge hatte sich in den Schnee gehockt und zugesehen, wie aus der Wunde mit dem sich immer weiter verlangsamenden Puls das Blut hervorquoll und den Schnee rot färbte. Und dann war es plötzlich vorbei gewesen. Durch den Körper des Rehs war noch ein kleines, letztes Zucken gegangen, ehe es gestorben war.

Und genauso war es auch vergangene Nacht gewesen, nur diesmal war er der Wolf!
 

Ein wohliger Schauer überlief ihn.

Er grinste zufrieden in sich hinein.

Weiterleben!

Als Kathryn das Büro des Sheriffs betrat, machte James Herz zunächst einen kleinen Satz bei ihrem Anblick. Doch als er die Müdigkeit in ihrem Gesicht und ihrer Haltung las wusste er, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Seine Vermutung wurde auch dadurch bestärkt, dass sie den Doktor im Gefolge hatte. Und selbstverständlich war ihm überdies klar, dass Sheriff Snyder der letzte Mensch war, den Kathryn freiwillig ohne Notwendigkeit aufsuchen würde.

James begann, sich unruhig zu fühlen.
 

„Sheriff, Deputy, wir müssen ein Verbrechen zur Anzeige bringen.“ ergriff der Doktor das Wort und begann sogleich mit einer detaillierten Schilderung dessen, was vorgefallen war.
 

James wurde blass vor Entsetzen.
 

Der Sheriff hörte sich skeptisch die ganze Geschichte an und kommentierte im Anschluss:

„Ich weiß nicht, was ich da tun soll? Eine Hure und ihr Freier sind sich nicht über das Geschäftliche einig geworden und es gab eine kleine körperliche Auseinandersetzung. So etwas passiert doch wohl jeden Tag!“
 

Kathryn blickte den Sheriff fassungslos an; unfähig etwas zu sagen.

Der Doktor sprang für sie ein. Mit strenger Stimme erklärte er:
 

„Ich versichere ihnen hiermit, dass dies eine völlig andere Situation ist. Ich schlage vor, dass sie die Herrschaften im roten Haus im Laufe des Tages aufsuchen und ihre Aussagen aufnehmen. Außerdem sollten sie diesen Bob Carmichael in Gewahrsam nehmen. Wir haben es mit versuchtem Mord zu tun und wissen noch nicht, ob das Opfer durchkommen wird!“ Dann fügte er noch scharf hinzu: „Ich selbst werde die Angelegenheit genauestens im Auge behalten, Sheriff! Es handelt sich hier um ein ganz furchtbares Verbrechen!“

Und nur weil der Doktor ein Mann war und noch dazu eine der angesehensten Personen im ganzen Ort, stimmte der Sheriff zu, sich der Angelegenheit überhaupt anzunehmen; dessen war Kathryn sich vollkommen sicher.
 

Bevor sie das Sheriffsdepartment wieder verließen, formte Kathryn in einem unbeobachtetem Moment in James Richtung die Worte: „Ich brauche dich heute!“

James verstand und nickte kaum sichtbar.
 

In zwei Stunden wollte der Sheriff hinüber zum roten Haus gehen und die Aussagen aufnehmen. James bat darum, vorher eine Pause für einige Erledigungen nehmen zu dürfen und schlug vor, sich dann direkt dort zu treffen. Der Sheriff stimmte zu.

Natürlich gab es keine Erledigungen, sondern James ging direkt hinüber, um für Kathryn da zu sein. Er war ihr auf ihr Zimmer gefolgt und nun lagen sie gemeinsam auf dem Bett. Sie waren einander zugewandt und Kathryn hatte ihren Kopf auf James Arm abgelegt. Den anderen hatte er schützend um sie geschlungen. Kathryn gelang es nicht, wirklich zu weinen. Nur gelegentlich fiel die eine oder andere Träne. Sie spürte James Wärme und Herzschlag und Spannung und Verzweiflung fielen ein wenig von ihr ab.

Gewiss hatten sie über eine Stunde so dagelegen und James wurde allmählich unruhig, weil der Sheriff demnächst auftauchen würde:
 

„Mir ist es so zuwider, mit Snyder in dieser Sache zusammenzuarbeiten. Der Mann ist ein Schwein und ich bezweifle, dass er besonders geneigt sein wird, euch zu helfen.“ stieß er verzweifelt hervor.
 

Kathryn nickte:

„Ich weiß, mein Liebster! Darum ist es umso wichtiger, dass du durchhältst, damit du die Dinge ein wenig lenken kannst. Denkst du, du schaffst das?“ wollte sie wissen:
 

„Ich werde mein Bestes versuchen.“ versprach James bedrückt: „Kann ich Margarete noch einmal kurz sehen, ehe der Sheriff kommt?“
 

„Lass` uns Melody fragen, ob sie dazu in der Lage ist.“ gab Kathryn zurück.
 

Sie erhoben sich und gingen hinüber zu Margaretes Zimmer und traten leise ein. James umarmte Melody, die am Bett ihrer Schwester saß sanft und versicherte:

„Es tut mir so wahnsinnig leid, was geschehen ist!“ Er wandte er seine Aufmerksamkeit der Verletzten zu und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das blutige Laken war noch nicht gewechselt worden. Um Kopf und Bauch trug Margarete einen Verband. Beide Augen waren beinahe vollständig zugeschwollen, doch die Verletzte war wach.
 

James nahm sehr sacht eine von Margaretes schönen, schlanken Händen in seine und realisierte, dass die Fingernägel teils bis auf das Nagelbett abgebrochen waren; ein deutlicher Hinweis, dass sie sich verzweifelt gegen ihren Angreifer zu wehren versucht hatte. Er hielt die Hand sehr behutsam, versuchte, zuversichtlich auszusehen und lächelte die verletzte Frau liebevoll an, während er innerlich darum kämpfte, nicht zu weinen:
 

„Hallo Liebes!“ flüsterte er sanft: „Ich möchte das du weißt, dass ich alles tun werde, um ihn zu erledigen. Das verspreche ich dir! Halt bitte durch, damit du erlebst, wie er hinter Gitter kommt.“

Er küsste sanft ihre Hand.
 

Und tatsächlich gelang es Margarete tapfer, ein wenig zu Nicken. Zum Sprechen fehlte ihr noch die Kraft.
 

James wartete beklommen auf der Veranda auf den Sheriff. Als dieser eintraf, betraten sie gemeinsam die Küche, wo Joe, Tiny und alle Frauen außer Margarete und Melody versammelt waren. James fühlte sich merkwürdig in dieser Situation, wo er so tun musste, als seien seine Freunde und seine Geliebte Fremde für ihn.

Er hielt sich zurück und überließ dem Sheriff das Reden.
 

Dieser ließ sich nun also von Molly, Shy und Kathryn die Ereignisse der vergangenen Nacht schildern. Mit Genugtuung bemerkte Snyder die Erschöpfung und die Verzweiflung der Bordellinhaberin. Derart geschwächt gefiel sie ihm! Keine frechen Antworten, keine Überheblichkeit; endlich war sie einmal still!

Bevor er ging, ließ der Sheriff sich noch die Verletzte zeigen. Er wollte sie befragen, doch dies ließ ihr Zustand keineswegs zu und sowohl Kathryn, als auch Melody verneinten es energisch. Snyder und James warfen also lediglich einen kurzen Blick auf sie und dann verließen das rote Haus wieder.
 

Als sie wieder unter sich waren, sagte der Sheriff zu James:

„Ich kann nicht glauben, dass ich mit diesem Unsinn meine Zeit verplempere. Ich meine, was erwarten diese verfluchten Weiber denn, bei ihrem Lebenswandel? Sie reizen die Männer und wundern sich, wenn irgend so ein armer Teufel dann mal die Kontrolle über sich verliert!“
 

James blickte ihn angewidert an und schüttelte den Kopf:

„Haben sie und ich eigentlich dasselbe gesehen?“ fragte er fassungslos: „Der Mann hat die Frau zusammengeschlagen, aufgeschlitzt und brutal vergewaltigt.“
 

„Vergewaltigt?“ höhnte der Sheriff: „Bist du wirklich so naiv, Junge? Diese Frauen tun es für Geld und wenn einer nicht bezahlt, nennen sie es Vergewaltigung! So ist das nämlich!“
 

James schwieg.

Er biss seine Zähne derart stark aufeinander, bis ihm die Kiefer schmerzten und ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass er fürchtete, sie aus eigener Kraft nicht mehr öffnen zu können, doch er schwieg.

Er hasste den Sheriff in diesem Moment und spürte den Wunsch in sich, diesen zu blutigem Brei zu schlagen und diesen Bob Carmichael gleich dazu.

James erinnerte sich an die Geburtstagsfeier, auf der Margarete und ihre Schwester zum Spaß mit ihm geflirtet und ihn geneckt hatten, bis er einen hochroten Kopf bekommen hatte. Er dachte an Margaretes Charme und ihre Warmherzigkeit. Selbst wenn sie diese Sache überleben würde; diese Frau würde es dann sicherlich nicht mehr geben!
 

„Gehen wir rüber zur Mine und kassieren diesen Carmichael ein.“ unterbrach der Sheriff James düstere Gedanken.

Und das war endlich einmal etwas, dass James gern tun wollte.
 

An der Mine angekommen wandten sich die beiden Gesetzeshüter an den Vorarbeiter, einem gewissen Clark Friederich, der ihnen den Weg zu der Stelle wies, wo Carmichael heute arbeitete. Die beiden mussten Helme aufsetzen und betraten dann den Stollen. Auf dem Weg in den Berg dachte James bitter:

„Der Mistkerl ist tatsächlich einfach zur Arbeit gekommen, als wäre alles ganz normal. Er hat nicht einmal in Erwägung gezogen, die Flucht zu ergreifen, weil er sich ganz und gar sicher und im Recht fühlt!“

Galle stieg in ihm auf.
 

Als sie Carmichael gefunden hatten, forderten die Gesetzeshüter ihn auf, die Mine mit ihnen zu verlassen, was dieser ohne Protest tat:

„Was kann ich für sie tun meine Herren?“ fragte er grinsend in einem munterem Plauderton.
 

James nahm den Mann genau unter die Lupe: Carmichael und er selbst dürften im selben Alter sein, Mitte bis Ende zwanzig. Der Mann war etwas größer und kräftiger als James selbst, gutaussehend, doch mit einem unangenehmen, stechenden Blick. Das silbergrau seiner Augen ließ James an einen einsamen, hungrigen Wolf denken.
 

Der Sheriff erklärte kurz, worum es ging und Carmichael antwortete lachend:

„Da muss es sich um ein Missverständnis handeln. Ich habe dieser Hure nichts angetan. Sie hat mir ein Angebot gemacht, aber ich habe es abgelehnt und bin nachhause gegangen. Ich hab` nichts übrig für Negerinnen.“
 

James war fassungslos, wie leicht diesem Dreckskerl diese unglaubliche Lüge über die Lippen kam. Der Zorn schickte heiße Wellen durch seinen Körper. Die Bürde, die Kathryn ihm auferlegt hatte, dieses üble Spiel mitzuspielen, lastete tonnenschwer auf ihm.

Er antworte:

„Das können sie dann ja dem Richter erzählen! Drehen sie sich um, Mann!“
 

Unnötig grob legte James Carmichael die Handschellen an und führte ihn ab, indem er ihn vor sich her schubste.
 

Snyder beobachtete das Vorgehen seines Untergebenen zwar mit einer gewissen Skepsis, doch er ließ ihn gewähren.
 

Unterwegs zum Department fragte Carmichael noch:

„Was ist denn passiert? Ist die Hure tot?“
 

Da war ein eigenartiger Unterton in seiner Stimme, den James nicht zu deuten vermochte, der ihm jedoch das Blut in den Adern gefrieren ließ:

„Sie lebt!“ erwiderte er zornig: „Und ihre Aussage wird dich an den Galgen bringen!“

Carmichael schenkte James einen merkwürdigen Blick. Es war nicht die Angst vor einem Todesurteil, welche ihn bewegte, dachte James.

Etwas vollkommen anderes ging in Carmichaels Kopf vor.
 

Rebecca und Felicity waren froh, dass heute Sonntag war und die Schule geschlossen blieb. Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht hätten sie sich nicht in der Lage gefühlt, Kinder zu unterrichten. Sie lagen eng aneinander geschmiegt zuhause auf ihrem Bett:
 

„Glaubst du, Margarete kommt durch?“ fragte Felicity, obwohl sie die Antwort fürchtete.
 

„Ich weiß es nicht! Ich hoffe es!“ antwortete Rebecca müde.

Das Leben zu zwingen, Margaretes Körper nicht vollständig zu verlassen, hatte sie wahnsinnig angestrengt. Der Anblick des vielen Bluts, des Gesichts der Verwundeten, welches immer grauer wurde und die Ungewissheit, ob ihr Kampf erfolgreich sein würde; das waren Bilder, die sie it Sicherheit noch lange verfolgen würden.

Gern wollte sie ihrer Geliebten von ihren Empfindungen berichten, doch dazu fehlten ihr in diesem Augenblick noch die Worte.
 

Felicity hatte keine Ahnung, was in Rebecca vorging, doch sie spürte eine Distanz zwischen ihr und sich und das war etwas, was sie in diesem schweren Moment nicht ertragen konnte. Sie begann Rebecca zu küssen, sanft zunächst, dann tiefer und fordernder und schließlich lag sie auf ihr.
 

„Nicht!“ rief Rebecca aus und schüttelte heftig den Kopf.

Felicity blickte fragend und ein wenig verletzt auf sie hinab und so fuhr sie fort:

„Ich habe immer noch vor Augen, was der Kerl Margarete angetan hat. Ich kann das gerade nicht! Er hat aus einer guten Sache etwas so Abscheuliches gemacht!“ erklärte Rebecca gequält.

Ihre Stimme brach und Tränen kullerten ihr aus den Augenwinkeln.
 

Felicity nickte:

„ Ich verstehe!“ erwiderte sie: „Lass` uns am besten jetzt gleich wieder hinüber gehen und sehen, ob wir irgendwie helfen können.“
 

Der Doktor kam zu seiner angekündigten Visite ins rote Haus und traf dort auf seine Tochter und Felicity. Er war froh darüber, denn er wollte ohnehin etwas Ernstes mit den beiden besprechen, also bat er sie, mit ihm hinaus zu kommen.
 

Auf der Veranda nahmen sie Platz und Doktor Miller schaute in die angespannten Gesichter der beiden Frauen. Es fiel ihm nicht leicht, dieses Thema anzuschneiden, doch hielt er es für seine Pflicht, also kam er gleich zur Sache:

„Miss Owens, ähm… also, ich meine Felicity. Ich würde mit dir gern über deinen Neffen Jonah sprechen.“ begann er unsicher:

„Als ich heute Morgen hier war, habe ich den Eindruck gewonnen, der junge Mann und dieser Tiny seien…wie soll ich mich ausdrücken…?“
 

Sowohl Rebecca als auch Felicity wussten natürlich genau, worauf der Doktor hinaus wollte, hatten jedoch offenbar unabhängig voneinander beschlossen, es ihm nicht leicht zu machen.
 

Der Doktor begann von Neuen: „Also, ähm… ich hatte den Eindruck, die beiden verbinde eine Art intime, ähm…Freundschaft?“
 

Felicity nickte:

„Das ist richtig!“
 

Doktor Miller sah ein wenig irritiert aus, als er fortfuhr:

„Aber denkst du als Tante denn nicht, dass diese Beziehung unnatürlich ist?“
 

Anstelle von Felicity antwortete Rebecca:

„Sie ist genauso „unnatürlich“ wie die Beziehung zwischen Felicity und mir, Vater!“ Ihre Stimme hatten einen scharfen Tonfall angenommen und auf ihrem Gesicht zeigte sich deutlich ihr Ärger.
 

Doktor Miller ruderte zurück und erklärte entschuldigend:

„Nein, das mit euch ist doch vollkommen anders, mein Kind! Ihr seid beide erwachsen. Und dann sind da ja noch…die anderen Unterschiede.“
 

„Jonah ist einundzwanzig!“ log Felicity, denn sie hatten ihn ja im Zuge des Identitätswechsels älter und damit auch volljährig gemacht. „Und die anderen Unterschiede von denen du sprichst, spielen für die beiden keine Rolle. Warum sollten sie also für uns von Bedeutung sein.“
 

„Die beiden lieben sich!“ ergänzte Rebecca: „Joe ist glücklich! Das ist es, was für uns zählt! Ich weiß, dass ist nicht leicht für dich, zu verstehen, aber bitte versuch` es.“
 

Doktor Miller schluckte schwer. Dann nickte er und verkündete:

„Ich sollte nun wohl nach meiner Patientin sehen!“
 

Als er fort war meinte Felicity:

„Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee, meinen Bruder kontaktieren zu wollen, um ihm von den Aktivitäten seines Sohnes zu berichten.“
 

„Du hast keinen Bruder! Den haben wir erfunden.“ entgegnete Rebecca.
 

„Eben!“ antwortete ihre Geliebte.
 

Die erwachsenen Bewohner des Hauses und seine Besucher Joe, Felicity und Rebecca hatten sich in der Küche versammelt, um den Bericht von Doktor Miller zu hören:
 

„Die Patientin hat kein Fieber, welches auf eine Infektion hindeuten würde. Sie war längere Zeit wach und bei Bewusstsein, was ich als gutes Zeichen werte. Verständlicherweise hat sie große Schmerzen, daher wird sie weiterhin Schmerzmittel erhalten. Sie darf das Bett noch nicht verlassen, damit sich die Bauchwunde nicht wieder öffnet und muss ständig beaufsichtigt werden. Ich kann leider immer noch keine Versprechungen machen, aber ich muss sagen, dass sie eine sehr tapfere und starke Frau ist. Ich bin vorsichtig optimistisch“
 

Ein kleiner Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum.
 

Der Doktor verabschiedete und traf im Hinausgehen noch auf James, welcher gekommen war, um seinen Freunden von der Festnahme zu berichten. Als der Arzt fort war, nahm der junge Deputy in der Küche Platz und verkündete zornig und verzweifelt:

„Dieser verdammte Mistkerl streitet alles ab!“
 

Einige Sekunden lang herrschte eine Stille, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dann begannen die Anwesenden entrüstet durcheinander zu reden.

Keiner achtete in diesem Augenblick auf Melody, welche die Hände vor das Gesicht genommen hatte und in ihrem Stuhl zusammengesunken war. Nach einer Weile richtete sie sich mit versteinerter Miene wieder auf, nahm eine Obstschale in die Hand, welche auf dem Tisch gestanden hatte und warf sie gegen eine Wand, wo sie mit lautem Scheppern zersprang. Mit einem Mal waren alle still:
 

„Das ist doch alles Blödsinn!“ schrie Melody: „Der verdammte Richter wird diesem Ungeheuer glauben schenken und er kommt ganz einfach ungeschoren davon. Eine schwarze Hure hat vor Gericht doch keine Chance gegen einen weißen Mann.“
 

Jeder am Tisch blickte Melody betroffen an. Gern hätten sie ihr widersprochen, doch sie wussten selbst, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass es genau so kommen könnte.
 

Erschöpft sank Melody wieder in ihren Stuhl zurück.
 

Die Anwesenden waren in betretenes Schwiegen.

Schließlich ergriff Kathryn das Wort:

„Ich möchte das „Yasemines“ für eine Weile schließen. Ich kann einfach nicht weitermachen, wie bisher. Wie seht ihr das?“
 

Tiny und die Frauen nickten. Regine sagte:

„Ich gebe dir Recht! Ich könnte nachher unmöglich da rüber gehen und so tun, als wäre überhaupt nichts geschehen. Aber was wird dann aus uns? Wovon werden wir leben?“
 

Kathryn antwortete:

„Wir haben einiges gespart. Eine Weile kommen wir sicher klar. Was danach wird, werden wir sehen.“
 

Joe schaltete sich ein:

„Ich habe jetzt Arbeit. Ihr könnt meinen Lohn haben, abzüglich dessen, was ich bei Felicity und Rebecca zum Lebensunterhalt beisteuere. Ich brauche doch nichts und ihr habt monatelang für mich gesorgt.“
 

Rebecca ergänzte, nachdem sie zuvor einen stummen Blickdialog mit Felicity geführt hatte:

„Du musst uns kein Geld geben Joe. Und wir werden euch auch finanziell unterstützen, so gut wir können. Wir haben nicht viel, aber das teilen wir gern mit euch.“
 

Und James erklärte:

„Ich habe das Geld aus dem Erlös des Hauses meiner Eltern. Ich will es nicht. Es würde mir kein Glück bringen. Es ist nicht wenig! Es ist eures, wenn ihr wollt!“
 

Tiny und die Frauen blickten die Freunde fassungslos an.
 

Kathryn fand als erste ihre Sprache wieder und erklärte:

„Wir danken euch für eure Großzügigkeit! Wenn es nicht anders geht, werden wir vielleicht darauf zurückkommen. Für´s Erste greifen wir jedoch auf unsere eigenen Rücklagen zurück, denke ich.“

Gottes Segen

Der Richter hatte überraschend schnell einen Verhandlungstermin in zwei Wochen festgelegt. Bis dahin würde Bob Carmichael in der Zelle des Sheriffsdepartments verbleiben. James hatte die Aufgabe übernommen, sich um den Gefangenen zu kümmern, denn er wollte sich ein genaues Bild von ihm verschaffen. Wenn Carmichael seine Mahlzeiten einnahm, setzte er sich in die gegenüberliegende Zelle und beobachtete ihn scharf. Der Gefangene ließ sich davon nicht im Geringsten stören, lächelte zu James hinüber und betrieb Konversation:
 

„Es scheint ein schöner Tag zu werden für Mitte März, hm?“ spekulierte er an einem Morgen munter: „Ich kann durch das kleine Fenster hier in meiner Zelle natürlich nicht viel sehen, aber es macht doch den Anschein. Wenn ich wieder frei bin, werde ich mir ein Pferd besorgen und in die Berge hinauf reiten. Man ist hier drinnen ja so abgeschnitten von allem, wissen sie?“
 

James blickte Carmichael finster an und fragte:

„Wie kommen sie denn darauf, dass sie jemals wieder ein freier Mann sein werden?“
 

Carmichael wurde seines Dauergrinsens nicht müde und erklärte:

„Selbstverständlich weil ich unschuldig bin!“
 

„Und wie erklären sie dann die Verletzungen, die sie aufwiesen, als wir sie festgenommen haben? Zum Beispiel der Bluterguss an der Schulter, wo Madame Levroux sie mit dem Schlagstock getroffen hat.“ fragte James eisig.
 

„Das stammt doch nicht von einem Schlagstock! Das habe ich mir bei der Arbeit zugezogen. Ich habe einen gefährlichen Job, wissen sie Deputy.“ entgegnete Carmichael kaltschnäuzig.
 

„Und die Kratzspuren?“ fragte James ungeduldig weiter: „Sie haben Kratzer am Hals, den Armen und im Gesicht. Abwehrverletzungen! Wie erklären sie die?“
 

Das unheimliche Lächeln wurde noch ein wenig breiter, als der Gefangene antwortete:

„Ich muss ihnen doch überhaupt nichts erklären, Deputy, sondern lediglich dem Richter.“
 

James erhob sich und verschwand. Er konnte diesem Mistkerl einfach nicht länger zuhören, sonst hätte er vermutlich seine Waffe gezogen und abgedrückt.
 

****

Der Wolf saß lächelnd in seinem Käfig, als sähe er die Gitter gar nicht. Bald würde er wieder in Freiheit laufen.

****
 

Eine Woche war seit dem Überfall auf Margarete vergangen. Der Zustand der Verletzten verbesserte sich nur schleichend langsam. Sie konnte das Bett noch nicht verlassen und litt unter großen Schmerzen.

Der Schaden, den ihre Seele durch diesen Vorfall genommen hatte, war noch gar nicht abzuschätzen.
 

Es war Samstag und die Bewohner des roten Hauses saßen beim Mittagessen, als Melody erklärte:

„Ich werde morgen früh in den Gottesdienst gehen, um für meine Schwester zu beten!“
 

Die anderen Gespräche am Tisch brachen augenblicklich ab und alle blickten sie fassungslos an.
 

Shy fand als erste ihre Stimme wieder und antwortete:

„Was versprichst du dir davon, Liebes? Du weißt doch genau, wie das ablaufen wird: Raunen und Tuscheln und schlecht verhohlene Feindseligkeit. Willst du dir das wirklich antun?“
 

Melody nickte trotzig:

„Wenn sie denken, sie könnten Gottes Segen für sich allein haben, täuschen sie sich. Ich werde jedenfalls gehen.“
 

Die Art wie sie das sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte, also versicherten die Anderen am Tisch, dass sie sich ihr anschließen und ihr beistehen würden.

Regine und Molly wollten jedoch ihre Kinder zuhause lassen wollten, weil sie diese einer solchen Strapaze nicht aussetzen wollten. Da erhob sich unerwartet Regines vierzehnjähriger Sohn Sam und meldete sich zu Wort:

„Ihr denkt, wir sind zu jung und wüssten nicht, was hier passiert, aber das stimmt nicht! Wir wissen es und wir sind traurig und wütend! Ich will morgen mit euch kommen. Ich will, dass die Menschen in der Kirche uns alle sehen und merken, dass wir ganz normale Leute sind!“
 

Sams schmaler Körper bebte und sein Gesicht lief rot an vor Eifer. Er nickte noch einmal entschlossen und dann setzte er sich wieder. Regine legte eine Hand auf die Schulter ihres Sohnes und lächelte. Überrascht stellte sie in diesem Moment etwas fest, was ihr, dadurch dass sie ihn jeden Tag um sich hatte gar nicht richtig aufgefallen war: Ihr kleiner Junge wurde langsam erwachsen!
 

Als Joe am Abend von den Plänen für den kommende Morgen erfuhr, stimmte er sofort zu, ebenfalls zu kommen und Felicity und Rebecca wollte er mitbringen.

James erklärte sich bereit, bei Margarete zu bleiben und sich in dieser Zeit um sie zu kümmern.
 

Und so brachen die Bewohner des roten Hauses am Sonntagmorgen in Richtung Kirche auf wie eine Art heilige Prozession. Sie hatten ihre besten Kleider angezogen, weil sie hofften dadurch weniger Aufsehen zu erregen, doch es zeigte sich schnell, dass sie sich diese Mühe hätten sparen können. Bereits als sie sich der kleinen Holzkirche auch nur näherten, drehten sich alle Kopfe nach ihnen um. Die Mienen waren feindselig und es wurde getuschelt, Köpfe wurden zusammengesteckt und es wurde unverhohlen mit den Fingern gezeigt, genau wie es Shy prophezeit hatte.
 

Rebecca, Felicity und Joe waren die einzigen, die sich in der Nähe ihrer Freunde aufhielten, auch wenn sie ein wenig Abstand hielten, denn darum hatten die Anderen ausdrücklich gebeten, um die drei aus Schwierigkeiten herauszuhalten.
 

Melody schritt unbeirrt auf das Gotteshaus zu und die anderen folgten ihr dichtauf. Doch da hatte die Frau des Reverends, Gretchen Schultz sie bereits entdeckt. Sie und die Damen aus ihrer Gefolgschaft stellten sich den unwillkommenen Gästen demonstrativ in den Weg.
 

Joe beobachtete die Szene ärgerlich von seinem Standort aus und ballte die Hände zu Fäusten. Dann bemerkte er einen Jungen, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt, bei dem es sich, der Ähnlichkeit nach zu urteilen, offenbar um den Sohn von Ms. Schultz handeln musste. Joe wurde plötzlich klar, dass er den Burschen schon des Öfteren bei sich im Laden gesehen hatte. Er kam häufig, schaute sich um, aber kaufte nie etwas. Der Sohn von Ms. Schultz blickte zu Boden, als schäme er sich für seine Mutter, die immer noch versuchte, der Gruppe den Weg zu verstellen.
 

Kathryn spannte sich an und war notfalls bereit, sich mit Gewalt Durchgang zu verschaffen, doch in diesem Moment überraschte Sam alle Anwesenden, indem er, mit seinen beiden kleinen Schwestern an der Hand, geradewegs auf Ms. Schultz zutrat und höflich fragte:

„Dürften wir bitte vorbei?“
 

Drei Paar Kinderaugen richteten ihren Blick fest auf die Frau des Reverends und schließlich trat diese tatsächlich verunsichert ein Stück beiseite, aber gerade nur so weit, dass die Gruppe noch immer eine gewisse Mühe hatte, an ihr vorbeizukommen. Aus diesem Grund versetzte Kathryn ihr im Vorbeigehen einen gehörigen Hieb mit dem Ellenbogen in die Rippen. Ms. Schultz blickte sie empört und mit schmerzverzerrter Miene an:

„Hure!“ zischte sie ihr hinterher.
 

Kathryn fuhr energisch herum und registrierte mit Genugtuung, dass das Gesicht der Dame einen leichten Schrecken zeigte. Sie trat so nah an die Pastorengattin heran, dass ihre Gesichter sich beinahe berührten und flüsterte ihr drohend zu:

„Besser, sie geben mir keinen Grund, unter Beweis zu stellen, dass ich WIRKLICH keine Dame bin!“
 

Gretchen Schultz schwieg furchtsam und starrte Kathryn, die gut einen Kopf größer als sie selbst war, aus weit aufgerissenen Augen an.
 

Als sie in der Kirchenbank Platz genommen hatten, legte Regine stolz lächelnd den Arm um ihren Sohn, drückte seine Schulter und flüsterte:

„Das hast du sehr gut gemacht, Sammy!“
 

Die Gruppe um Melody, die gekommen war, um für Margarete zu beten, hatte sehr viel Platz um sich herum. Keiner der üblichen Gottesdienstbesucher wagte sich auch nur in ihre Nähe, als seien sie Träger einer ansteckenden Krankheit. Lediglich Joe, Felicity und Rebecca nahmen in der Bank hinter ihnen Platz, um ihren Beistand zu bekunden.

Dies ließen sie sich nicht nehmen.
 

Als Reverend Schultz die Kanzel betrat, erkannte er verdutzt, wer da heute in seine Messe gekommen war. Mit offenem Mund starrte er die Gruppe einige Sekunden lang an, ehe er sich wieder ausreichend gefasst hatte, um den Gottesdienst zu beginnen.
 

Allerdings lauschte an diesem Morgen kaum einer interessiert seiner Predigt. Die Kirchgänger begafften stattdessen die Fremden, als seien sie eine Jahrmarktattraktion. Die Qualität der Blicke reichte dabei von neugierig bis hasserfüllt.
 

Die auf diese Weise Angestarrten, versuchten sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm und schmerzhaft die Situation für sie in Wirklichkeit war. Sie legte die Arme umeinander oder hielten sich bei den Händen, um sich gegenseitig zu stärken.

Was blieb ihnen auch anderes übrig?
 

James saß am Bett der schlafenden Margarete. Er blickte auf die Verletzte hinab und fragte sich immer noch fassungslos, wie jemand dieser liebenswerten Frau so etwas hatte antun können. Sehr sanft, um sie nicht zu wecken, streichelte er mit dem Zeigefinger ihre Wange.
 

Als die Gruppe aus der Kirche zurückkehrte, kam er gerade die Treppe herunter, um sich ein Glas Wasser zu holen. James blickte in erschöpfte Gesichter. Hass und Ablehnung Auge in Auge gegenüberzustehen hatte ihnen allen viel abverlangt.
 

Kathryn schaute in die Runde ihrer entkräfteten Freunde und hätte gern etwas getan oder gesagt, was geholfen hätte, doch sie fühlte sich leer und es gab momentan absolut nichts, was sie ihnen hätte geben können. Stattdessen nahm sie James bei der Hand und führte ihn die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und ließ sich matt dagegen sinken:

„Es war furchtbar! Die Leute von Millers Landing hassen uns!“ erklärte sie: „Diese Blicke! Darin habe ich so viel Widerwillen und Ekel gesehen. Ich wünschte, ich könnte einmal mehr sagen, mir wäre das gleichgültig, aber so ist es nicht. Diesmal ist es mir unter die Haut gegangen.“
 

James setzte einen Blick dagegen, der voller Mitgefühl und Zärtlichkeit war.
 

Kathryn erwiderte ihn erschöpft und fragte:

„Warum liebst du mich, James? Was siehst du in mir? Wieso empfindest du nicht dasselbe wie all die ganzen anderen Menschen, die auf der richtigen Seite stehen? “
 

„Ich sehe DICH, Kathryn!“ erwiderte er: „Ich kenne dich und weiß wer du wirklich bist!“ Dann holte er tief Luft, denn er hatte ein wenig Angst vor Kathryns Reaktion auf das, was er als nächstes sagen wollte:

„Weißt du eigentlich, wann ich mich in dich verliebt habe?“
 

Kathryn schüttelte den Kopf und James fuhr fort:

„Es war letztes Jahr im Juni an einem dieser wahnsinnig heißen Tage. Wir waren uns noch nicht vorgestellt worden. Ich habe dich gesehen, du mich jedoch nicht. Du trugst ein rosafarbenes Sommerkleid und hast das Grab von Elizabeth besucht.“
 

Der Blick, den Kathryn ihm in diesem Moment zuwarf war forschend und ein wenig auf der Hut und James fuhr rasch fort:

„Ich hätte dich nicht beobachtet, hätte ich geahnt, dass es ein so intimer Moment für dich sein würde, doch ich kannte dich noch nicht. Ich war lediglich fasziniert von dir. Du hast mir dein schönes, trauriges Gesicht zugewandt und ich war verliebt. Einfach so!“
 

Kathryns Augen zeigten einen verräterischen Glanz. Ein wenig trotzig fragte sie:

„Heißt das, du liebst mich, weil ich schwach bin?“
 

James schüttelte lachend den Kopf:

„Schwach? Du? Du bist die stärkste Person die ich kenne. Nein, ich will damit sagen, dass ich in diesem Moment sehen konnte, wer du wirklich bist. Ich liebe alles an dir, jede Facette! Ich kann gar nicht anders!“
 

Kathryn lächelte schwach:

„Oh, Süßer! Du bist so verdammt sentimental!“ erklärte sie, griff James bei den Hüften und dirigierte ihn zum Bett, wo sie ihn küsste und eilig damit begann, ihm die Kleidung auszuziehen.

Und mit einem Mal wurde der junge Deputy sehr nervös.
 

In der folgenden Woche schien es Margarete körperlich endlich ein wenig besser zu gehen. Doktor Miller gab zur Erleichterung aller bekannt, dass das Schlimmste wohl überstanden sei. Sie konnte zwar noch nicht wieder aufstehen, doch Tiny trug sie tagsüber hinunter, damit sie im Gemeinschaftsraum bei den Anderen sein konnte und der Doktor hatte ihr für ein wenig Mobilität einen Rollstuhl vorbeigebracht.
 

Margarete sprach mit niemandem, über das Verbrechen, welches an ihr verübt worden war, auch nicht mit ihrer Schwester, doch sie war fest entschlossen, vor Gericht aufzutreten und ihre Aussage zu machen.
 

Der Tag des Prozesses war da und selbstverständlich begleiteten sämtliche Bewohner des roten Hauses Margarete zu diesem Termin. Überdies erschienen auch Rebecca, Felicity, Joe und Doktor Miller, sowie dessen Frau. Auch James war da, musste jedoch den Schein zu wahren und abseits bei Sheriff Snyder sitzen.
 

Doch all der Beistand konnte nichts daran ändern, dass es in diesem Prozess schließlich bloß auf das Eine hinauslief: Eine, sowohl körperlich, als auch seelisch verletzte schwarze Hure, sah sich zwölf weißen, ehrbaren Männern gegenüber, welche sie mit eisigen Blicken taxierten.
 

Und Margarete wirkte schmal und elend in ihrem Rollstuhl.
 

Auf der Anklagebank saß Bob Carmichael, wie gewöhnlich mit einem süffisanten Grinsen auf seinem Gesicht. Er schaute Margarete geradewegs ins Gesicht und diese schien unter seinem Blick vor Angst regelrecht zu erstarren. Es war imerhin das erste Mal seit der Tat, dass sie ihren Peiniger wiedersehen musste.
 

Carmichael blieb bei seiner Aussage, nicht der Täter zu sein und das Bordell ohne körperliche Auseinandersetzung verlassen habe.
 

Molly, Regine, Shy, Kathryn, Tiny und Joe machten ihre Aussagen darüber, was sich tatsächlich an jener Nacht abgespielt hatte, über den Angriff auf Margarete, den Rauswurf Carmichael, das Verschwinden Margaretes im Anschluss daran und die Suchaktion.
 

Der Doktor beschrieb detailliert und schonungslos, in welch erschütterndem Zustand er seine Patientin nach der Tat vorgefunden hatte und plädierte dann leidenschaftlich für einen Schuldspruch, wofür er vom Richter zur Ordnung gerufen wurde.
 

James sagte aus, dass der Verdächtige sowohl die Verletzung des Schlagstocks an der Schulter, als auch Kratzspuren als Abwehrverletzung bei seiner Festnahme aufgewiesen habe.
 

Carmichael wiederholte die Lüge, dass die Schulterverletzung angeblich von einem Arbeitsunfall stammen solle und behauptete, die Kratzer habe er von einem Rosenbusch, in welchen er betrunken hineingeraten sei.
 

Nun fehlte nur bloß noch die Aussage von Margarete selbst. Sie wurde hierzu von ihrer Schwester in den Zeugenstand gerollt. Es dauerte einige Augenblicke, bis Margarete gefasst genug war, mit ihrer Aussage zu beginnen. Sie vermied dabei, in Carmichaels Richtung zu schauen. Stattdessen blickte sie der Reihe nach in die Gesichter der Geschworenen. Mit leiser und brüchiger Stimme schilderte sie die Tat in allen Einzelheiten: Wie Carmichael sie vor der Haustür aufgehalten und mit einem Messer an ihrer Kehle zu dem Ort geführt hatte, wo sie schließlich gefunden worden war, wie Carmichael ihr die Hände um den Hals gelegt und ihren Kopf wieder und wieder auf den Boden geschlagen hatte, wie er sie mit den Fäusten bearbeitet und wie sie geschrien, sich gewehrt, geweint und gefleht hatte. Dann schilderte sie die Vergewaltigung und erklärte präzise und schonungslos, wie dabei die schweren Verletzungen entstanden waren. Sie endete damit, dass Carmichael ihr schließlich das Messer in den Bauch gestoßen hatte und verschwunden war, als er sie für tot gehalten hatte.

Ihre Sprechweise blieb während ihres gesamten Berichts monoton und ihre Augen wurden zunehmend glasiger. Als sie geendet hatte, atmete sie tief und sackte in ihrem Rollstuhl entkräftet in sich zusammen.
 

Die Geschworenen, welche zu Beginn des Prozesses sicherlich noch nicht vermutet hätten, dass sie einer Hure Glauben schenken könnten, hielten bei der detaillierten Schilderung teilweise die Luft an, gaben kleine, entsetzte Laute von sich oder schluckten schwer.
 

Den Freunden in der Zuschauerbank standen die Tränen in den Augen und einige weinten auch tatsächlich.
 

Allein der ehrenwerte Richter Ernest Keppler blieb ungerührt.
 

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit entschied die Jury einstimmig, dass Bob Carmichael schuldig sei und nun warteten alle Anwesenden im Saal auf die Verkündung des Strafmaßes.
 

Man erhob sich und Richter Keppler rückte sich umständlich und ohne Eile in seinem Stuhl zurecht. Er blickte in die Zuschauerreihen, auf die Geschworenen, die Anwälte, den Angeklagten und die Klägerin. Dann räusperte er sich, ehe er endlich zu sprechen begann:

„Die Klägerin ist eine Prostituierte. Die Tat ereignete sich im Zusammenhang mit ihrer…ähm…Arbeit. Teil ihres Berufes ist es, Männer zu sexuellen Handlungen zu reizen. Insofern verwundert es nicht, dass willensschwache Männer wie der Angeklagte, Bob Carmichael sich zuweilen auch zu gewalttätigen Handlungen hinreißen lassen, die aus juristischer Sicht aber natürlich nicht geduldet werden können.“
 

Der Richter legte eine kurze Pause ein, ehe er fortfuhr:

„Aus diesem Grund entscheide ich, dass der Verurteilte die Geschädigte für den sexuellen Akt entschädigen muss.“
 

Ein empörtes Raunen ging durch den Saal und der Richter musste sich mit mehreren Schlägen seines Hammers Ruhe verschaffen. Er fuhr schließlich fort:

„In Anbetracht des entstandenen körperlichen Schadens muss der Verurteilte eine erhöhte Summe als Wiedergutmachung für die erlittenen Schmerzen in Höhe von drei vollen Monatslöhnen zahlen.“
 

Nun brach im Gerichtssaal ein regelrechter Tumult aus. Die Geschworenen und auch die Zuschauer äußerten ihre Entrüstung, am lautesten von allen Doktor Miller, welcher versuchte, das Strafmaß mit Richter Keppler zu diskutieren, bis dieser ihn warnte, er werde ihn festnehmen lassen.
 

Die Gruppe um Margarete blieb jedoch ganz still. Niemand von ihnen konnte sprechen oder war zu irgendeiner Form von Gegenwehr fähig. Sie verließen den Saal und im Hinausgehen bekamen sie gerade noch mit, wie der Sheriff und sein Deputy vom Richter aufgefordert wurden, den Saal zu räumen.
 

Bob Carmichael blieb ruhig an seinem Platz sitzen, genoss das Spektakel und schmunzelte in sich hinein.

Schwarz und Weiß

In seinem Büro saß der Sheriff, ein zufriedenes Grinsen auf dem Gesicht, die Hände über dem kugelförmigen Bauch verschränkt und die bestiefelten Füße bequem auf der Schreibtischkante abgelegt.
 

Jimmy hatte sich heute frei genommen. Diese Sache im Gericht schien ihm irgenwie zugesetzt zu haben. Der Bengel war einfach zu weich, zu gutgläubig und hatte offenbar jedes Wort der schwarzen Hure für bare Münze genommen.
 

Als die Jury Carmichael schuldig gesprochen hatte, glaubte Snyder zunächst, seinen Ohren nicht trauen zu können. Doch sein alter Freund Keppler hatte sich nicht weichkochen lassen.

Als die verdammten Huren gehört hatten, dass Carmichael lediglich eine Geldstrafe erhalten würde, war ihnen Allen die Kinnlade heruntergefallen.

Also wirklich! Was bildeten die sich eigentlich ein? Wer ein solches Leben führte, konnte doch auf der anderen Seite nicht allen Ernstes ach-so-unschuldig tun und erwarten, dass man auch noch Mitgefühl mit ihm hatte!
 

Snyder hatte gehört, dass das Bordell nun bereits seit zwei Wochen geschlossen sei. Hätte er geahnt, dass es lediglich so etwas, wie diese Sache mit der Negerin erforderte, damit das verdammte Pack endlich aufgab, dann hätte man etwas Ähnliches sicherlich auch schon früher arrangieren können.
 

Also, was es Snyder betraf, war heute wirklich ein großartiger Tag!
 

Es klopfte an der Tür des roten Hauses. Davor stand ein Doktor Miller, welcher bleich war vor Zorn. Bei ihm waren zwei der Geschworenen und drei Männer, die bei dem Prozess im Zuschauerraum gewesen waren. Sie fanden die Hausbewohner dicht in der Küche beieinander sitzend vor einander Trost spendend, an diesem trostlosen Tag:
 

„Entschuldigen sie bitte die Störung.“ sagte der Doktor: „Sie alle müssen ja außer sich sein, wie ich vermute. Die Entscheidung, die Richter Keppler heute getroffen hat ist einfach unfassbar, empörend und verletzend!“
 

Doktor Miller blickte prüfend in die Runde der Anwesenden, doch anstatt Ärger und Entrüstung, las er in den Gesichtern der Anwesenden lediglich Trauer, Erschöpfung, Verzweiflung und Fassungslosigkeit. Diese Stimmung war so überwältigend, dass es sogar auch ihn selbst zunächst verstummen ließ. Er brauchte einen Moment der Besinnung, ehe er fortfuhr:
 

„Sie alle müssen das nicht einfach so hinnehmen. Sie können sich an eine höhere Instanz wenden und das Urteil anfechten. Die Herren und ich sind gekommen, um sie unserer Unterstützung zu versichern.“

Die anderen Männer nickten zustimmend bei seinen Worten, doch nun meldete sich Margarete zu Wort:
 

„Lieber Doktor, ich weiß es wirklich zu schätzen, was sie für mich getan haben. Sie haben mir mein Leben gerettet, auch wenn ich im Augenblick nicht mehr sicher bin, ob ich es noch haben möchte. Und vor Gericht haben sie sich bei weitem mehr für mich eingesetzt, als ich jemals erwartet hätte. Sie haben ja sogar riskiert, dass der Richter ihnen eine Ordnungsstrafe auferlegt. Ich bin ihnen wirklich dankbar, dass sie mir helfen wollen, ein gerechtes Urteil zu erwirken, doch ich denke, wir wissen beide, dass eine schwarze Frau in meinem Beruf kaum etwas Besseres erwarten kann, als das, was heute geschehen ist. Bitte entschuldigen sie mich nunm aber ich bin erschöpft und muss mich hinlegen.“

An Tiny gewandt bat Margarete elend:

„Würdest du mich hinauf bringen?“

Tiny nickte und hob Margarete sanft aus ihrem Rollstuhl.
 

Der Doktor blickte den beiden hilflos hinterher und sagte mehr zu sich selbst:

„Aber das ist doch nicht richtig?“
 

Kathryn erhob sich und erklärte mit einem matten Lächeln:

„Doktor Miller, meine Herren, wir danken ihnen wirklich für ihre Anteilnahme und die angebotene Hilfe, doch ich denke, wir müssen diese Angelegenheit auf unsere eigene Weise und unter uns als Familie klären. Aber bitte bleiben sie noch, trinken sie einen Kaffee mit uns.“
 

Der Arzt schüttelte traurig den Kopf:

„Vielen Dank, aber ich denke, wir werden sie jetzt allein lassen, damit sie die Ereignisse verarbeiten können. Wenn sie ihre Meinung ändern, wissen sie, wo sie mich finden.“

Kathryn nickte und drückte herzlich die Hand des Doktors zum Abschied. Und damit verließen die Herren das Rote Haus wieder.
 

Tiny legte Margarete vorsichtig in ihr Bett und deckte sie zu:

„Kann ich dich überhaupt allein lassen?“ erkundigte er sich besorgt und dachte dabei an die Bemerkung, welche sie zuvor dem Doktor gegenüber getan hatte.
 

„Keine Sorge, ich tue mir schon nichts an.“ entgegnete sie harmloser, als es der Wahrheit entsprach.
 

„Vergiss nicht, wie sehr wir dich alle lieben!“ antwortete Tiny und es klang beinahe flehend: „Wir sind glücklich, dass wir dich nicht verloren haben. Lass` nicht zu, dass Carmichael am Ende doch noch über dich siegt! Kämpf´ weiter!“
 

An Margaretes Blick konnte Tiny sehen, dass diese letzten Worte ihr Ziel nicht verfehlt hatten. Es

trat ein trotziger Zug um ihre Mundwinkel. Sie nickte.

Tiny küsste Margarete auf die Wange, ehe er zu den anderen zurückkehrte.
 

Kurz darauf später kam James zur Tür des roten Hauses hinein und wirkte ebenso erschöpft und frustriert wie all seine Freunde. Er küsste Kathryn sacht auf die Stirn und ließ sich dann auf einen Stuhl am Küchentisch neben Joe sinken.
 

Melody hatte die ganze Zeit verdächtig still dagesessen, doch nun erhob sie sich. Die Hände zu Fäusten geballt, begann sie in der Küche auf und ab zu wandern. Sie glich einem Behälter unter großem Druck, welcher kurz davor war, zu zerbersten. Schließlich begann sie zu sprechen:

„Hätte eine weiße Frau im Zeugenstand gesessen, wäre der Richterspruch unter Garantie anders ausgefallen!“ stieß sie wütend und verzweifelt hervor.

Die Anderen blickten sie unsicher und hilflos an. Keiner wusste etwas zu sagen und so fuhr Melody einfach fort:

„Und nun liegt meine Schwester da oben und hat jeden Lebensmut und den Glauben an ihren eigenen Wert verloren, verdammt nochmal!“
 

Kathryn meldete sich vorsichtig zu Wort:

„Was Margarete passiert ist, ist schrecklich für uns Alle. Aber es hätte vor Gericht keinen Unterschied gemacht, ob es ihr oder irgendeiner anderen, beispielsweise mir passiert wäre, denn…“
 

An dieser Stelle wurde sie von einer zornigen Melody unterbrochen:

„Ach wirklich, weißes Mädchen? Anders als wir Anderen kannst du doch diesem ganzen Mist hier den Rücken kehren! Früher oder später nimmst du deinen unschuldigen und ehrenwerten Gesetzeshüter hier…“ sie deutete mit dem Kinn auf James „…und lässt uns alle hinter dir, wie einen bösen Traum! Ich frage mich nur, worauf du eigentlich noch wartest?“
 

„W-was? Nein!“ gab Kathryn kläglich zurück: „Dies ist mein Leben, genau wie für jede andere von euch. Ihr seid meine Familie, alles was ich habe!“
 

Doch Melody war so wahnsinnig wütend und ihr Zorn brauchte ein Ziel und so war es ihr war in diesem Moment gleichgültig, wen es traf und wie viel Schaden ihre Worte anrichteten:

„Familie? Da vergisst du ja wohl einiges!“ brüllte sie: „Meine Vorfahren waren Sklaven und deine waren die Sklavenhalter, diejenigen, die unseresgleichen ge- und verkauft, ausgebeutet, geprügelt, vergewaltigt oder gar getötet haben. Wie könnten WIR da Familie sein?“
 

Kathryn wurde vor Schreck und Ärger bleich und ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie zurückschrie:

„Was DU wohl vergisst ist, dass ich dieses Leben vor Jahren hinter mir gelassen habe, als Tiny und ich das Haus meines Vaters verlassen haben; dass ich beim Einkaufen beschimpft und bespuckt werde. Denkst du, irgendwen in Millers Landing interessieren meine Herkunft oder meine weiße Haut. Für die bin ich Abschaum, wie wir alle hier und wenn ich sterbe, werde ich irgendwo im Niemandsland verscharrt, genauso wie meine Elizabeth!“

Heiße Tränen begannen Kathryn über das Gesicht zu laufen.
 

Hier schaltete sich nun Tiny ein und brüllte:

„Melody sei still! Wir wissen alle, was du durchmachst, aber wie kannst du so furchtbare Dinge sagen?“
 

Melody blickte ihn verächtlich an, als sie zurückschrie:

„Natürlich stehst du ihr bei. Sie ist ja deine „S c h w e s t er“!“ Dieses letzte Wort sprach sie gedehnt und mit einem abfälligen Unterton aus: „Mit ihr und deinem Liebhaber, der weißer ist als Milch glaubst du wohl langsam, dass du einer von ihnen wärst, doch das bist du nicht! Das wirst du niemals sein!“
 

Tiny war zu perplex, um darauf etwas zu erwidern.

Dafür mischte sich nun Shy in den Streit ein. Sie stand ärgerlich auf, packte Melody unsanft an den Armen und schaute sie mit ihrem durchdringenden Blick fest an:

„Halt` endlich die Klappe, ehe du am Ende keine Freunde mehr hier im Raum hast. Der Feind ist nicht hier, sondern da draußen! Geh` an die frische Luft oder `rauf zu deiner Schwester, aber beruhige dich gefälligst endlich, verstanden?“
 

Melody öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Shy blickte sie weiterhin streng an, also machte sie sich lediglich los und verschwand ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf.
 

Die anderen blieben zurück und es herrschte betretenes Schweigen.
 

Nach und nach zog sich einer nach dem anderen zurück.

Als Kathryn sich auf den Weg in ihr Zimmer machte, schickte sich James an, ihr zu folgen, doch sie schüttelte den Kopf:
 

James war verunsichert:

„Sehen wir uns morgen?“ wollte er wissen.
 

Kathryn zuckte mit den Schultern.
 

James war verletzt und verwirrt, denn ihm hatte der Streit ebenso zugesetzt und er sehnte sich danach, bei Kathryn ein wenig Trost zu finden.
 

Ohne einen Abschied drehte er sich um und bewegte sich in Richtung Haustür. Bevor er diese erreichte, hatte Kathryn ihn jedoch bereits eingeholt, griff ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum:
 

„Tut mir leid!“ sagte sie: „Sicher möchte ich die morgen sehen.“

Sie küsste James noch einmal, ehe sie ihn tatsächlich gehen ließ.
 

Auf dem Heimweg fühlte James sich noch immer recht beklommen. Melodys Worte hatten etwas in Kathryn ausgelöst und er ahnte, dass dies noch nicht ausgestanden war.
 

Später im Bett legte Joe einen Arm um Tiny und betrachtete den schönen Kontrast seiner eigenen hellen Haut mit der braunen Haut seines Geliebten:

„Denkst du, es ist naiv von uns, zu denken, dass unsere unterschiedliche Hautfarbe keine Bedeutung hat?“ fragte er ernst.
 

Tiny dachte einen Moment langüber die Frage nach:

„Nein, ich denke, es macht in unserem Fall tatsächlich kaum einen Unterschied. Schon weil wir zwei Männer sind, werden wir niemals normal zusammen leben können. Das mit uns kann es nur an einem Ort wie diesem geben, wo die Regeln der Welt da draußen nicht gelten.“ gab er mit einer Spur Resignation in der Stimme zurück.
 

„Ich erlebe ja nun jeden Tag, wie Rebecca und Felicity es machen.“ gab Joe nachdenklich zurück: „Sie leben miteinander und innerhalb ihres eigenen Hauses sind sie ein Paar. Kaum verlassen sie den Schutz ihrer vier Wände, sind sie sehr vorsichtig und verhalten sich fast wie Fremde zueinander.“ Traurig fügte Joe hinzu: „Aber ich fürchte, wir beide könnten nicht einmal das haben. Also denke ich doch, dass es einen Unterschied macht.“
 

Tiny schluckte die eigene Traurigkeit hinunter, atmete tief durch und erklärte:

„Es hilft uns aber nichts, uns über das zu beklagen, was wir nicht haben. Wir sollten uns lieber über das freuen, was wir haben können! Du bist hier bei mir, wir können uns sehen, wann immer wir wollen. Das ist mehr, als viele andere haben!“
 

Joe hob den Kopf und betrachtete zärtlich Tinys Gesicht im Lampenschein, als er sagte:

„Ich liebe dich Thomas! Weißt du das?“
 

Es war in all den Monaten das erste Mal, dass die Worte tatsächlich ausgesprochen worden waren.

Joe hatte bis heute gebraucht, um sie zu sagen, denn nach allem was er in der Vergangenheit erlebt hatte, insbesondere dem Verrat durch seinen Freund Lucas, fehlte ihm bislang das Vertrauen dazu.
 

Tiny indes hätte sie schon längst sagen wollen, doch all´ die Unsicherheiten und die Eifersucht, welche er, der zum ersten Mal in seinem Leben liebte in der letzten Zeit gespürt hatte, hatten ihn fürchten lassen, Joe könnte sie möglicherweise nicht erwidern:

„Ich liebe dich auch!“ antwortete er nun erleichtert, zog Joe auf sich und sie küssten einander.
 

Kathryn lag wach und dachte über die Dinge nach, die Melody zu ihr gesagt hatte, als es sacht an ihrer Tür klopfte:

„Herein!“ rief sie und vermutete, dass es Tiny sein würde, doch es war Melody, die den Kopf zur Tür hereinsteckte und sich vorsichtig erkundigte, ob sie eintreten dürfte:
 

„Wieso?“ fragte Kathryn verstimmt: „Sind dir noch mehr unheimlich verletzende Dinge eingefallen, die du dringend loswerden möchtest?“
 

Melody schüttelte den Kopf:

„Nein! Ich bin hier, weil ich mich entschuldigen möchte.“ erklärte sie kleinlaut.
 

Mit einem zackigen, unwilligen Nicken bedeutete Kathryn ihr, dass sie hereinkommen solle. Ihr Gesichtsausdruck blieb indes finster und steinern.
 

Melody stellte sich schüchtern an das Fußende von Kathryns Bett und murmelte:

„Es tut mir wirklich sehr leid. Ich hätte all´ diese Sachen wirklich nicht sagen dürfen!“
 

Katryn nickte und entgegnete:

„Stimmt! Das war ziemlich gemein!“ doch nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Aber ich habe nachgedacht und ich kann verstehen, warum du es getan hast. Das was Margarete passiert ist, ist so furchtbar und es hat jeden von uns irgendwie aus der Bahn geworfen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es da erst für dich als ihre Schwester gewesen sein muss.“ Kathryn zögerte ein wenig, ehe sie fortfuhr: „Außerdem kann ich irgendwie nachvollziehen, was du über die Unterschiede zwischen dir und mir gesagt hast. Ich KÖNNTE einfach so von hier verschwinden und ein völlig anderes Leben beginnen. Für dich wäre es ungleich schwerer oder gar unmöglich.“
 

Melody setzte sich auf die Fensterbank, blickte nachdenklich hinaus in die Dunkelheit und Kathryn fuhr fort:
 

„Aber es gibt noch zwei Dinge, die ich dazu sagen möchte. Zum einen sollst du wissen, dass ich nicht einmal im Traum daran denken würde, euch zu verlassen. Ich liebe euch doch! Weißt du das denn nicht? Zum anderen muss ich sagen, dass es mich sehr verletzt hat, dass du mir die Unterschiede, die es zwischen uns gibt vorwirfst. Ich habe die Welt nicht so gemacht, wie sie ist. Ich muss nur darin leben, genau wie du.“
 

Kathryn erhob sich vom Bett, schlang von hinten die Arme um Melody und fügte sehr leise hinzu:

„Manchmal denke ich, dass du und ich die Zwillinge sind. Wenn wir wütend sind, kennen wir kein Maß mehr.“
 

Melody nickte. Die beiden Frauen standen eine Weile lang einfach nur so da, aneinander geschmiegt und ihren Blick aus dem Fenster in die Nacht hinaus gerichtet.
 

Plötzlich entdeckten sie zur gleichen Zeit jenen Schatten, der sich vorsichtig an ihrem Wohnhaus entlang bewegte. Als die Person an einem Fenster vorbei kam, aus dem schwaches Licht schien, erkannten sie schließlich auch, um wen es sich handelte.
 

Melody machte sich in Windeseile von Kathryn los und stürmte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Kathryn konnte nicht schnell genug reagieren, um sie aufzuhalten. Sie eilte zu ihrem Kleiderschrank, wo sie ihre Schrotflinte aufbewahrte, vergewisserte sich, dass diese geladen wäre, steckte sich Munition ein und rannte hinter Melody her.
 

Als sie vor dem Haus angekommen war, erblickte sie Melody und Carmichael zu einem kämpfenden Menschenknäuel ineinander verstrickt.
 

Melody schrie:

„Ich bringe dich um, du Abschaum.“

Und tatsächlich verlieh der Hass ihr enorme Kräfte und sie setzte dem größeren und stärkeren Mann heftig zu. Am Ende gelang es diesem aber dennoch, Melody am Hals zu packen und ihr die Kehle zuzudrücken. Kathryn wusste nicht, was sie tun sollte und in ihrer Hilflosigkeit gab sie schließlich einen Warnschuss in die Luft ab. Dieser verfehlte seine Wirkung zum Glück nicht und Carmichael ließ für´s Erste von Melody ab. Dann besann er sich jedoch wieder und nahm seine Angreiferin in den Schwitzkasten.

Nun stürmte Kathryn auf die beiden los und begann mit dem Griff ihres Gewehrs auf den Mann einzudreschen.
 

Inzwischen waren die Anderen, durch den Schuss alarmiert hinzugekommen. Als Tiny Carmichael mit Kathryn und Melody kämpfen sah, war er sofort zur Stelle. Carmichael war nicht gerade ein Fliegengewicht, doch Tiny zog den Mann von Melody herunter und stemmte ihn über seinen Kopf, als wäre er nichts weiter als eine Lumpenpuppe, ehe er ihn mit Wucht gegen die Hauswand schleuderte. Carmichael versuchte, sich wieder aufzurappeln und Tiny wollte erneut auf ihn losgehen, doch Kathryn hielt den Freund zurück. Sie hatte inzwischen die Schrotflinte erneut geladen und richtete sie direkt auf Carmichaels Stirn:
 

„Gib mir eine gute Erklärung, warum du hier bist, oder ich drücke ab, du Drecksschwein!“ forderte sie mit ruhiger und dennoch schneidender Stimme.
 

Carmichael hob die Hände und Kathryn stellte mit Hochgenuss fest, dass er endlich einmal Angst zu haben schien:

„Ich…ich wollte ihnen bloß den ersten Teil des Geldes bringen.“ erklärte Carmichael stammelnd.
 

Melody trat auf ihn zu und zischte mit hasserfüllter Stimme:

„Wir wollen nichts von dir. Komm` nie wieder, sonst schneide ich dich in Streifen und verfüttere dich an die Hunde.“

Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.
 

Tiny fügte noch grollend hinzu:

„Ich schlage vor, du läufst jetzt, bevor die Frau mit der Flinte hier es sich anders überlegt.“ Er deutete dabei auf Kathryn.
 

Und das tat Carmichael; er rannte! Und nur so zum Spaß zielte Kathryn noch einmal neben seine Füße. Dies war Ansporn für den Mann, noch ein wenig schneller zu laufen und schon bald war er in der Dunkelheit verschwunden.
 

Die Bewohner kehrten wieder ins Haus zurück, wo sie beschlossen, dass Melody hinauf zu ihrer Schwester gehen sollte, um sie zu beruhigen, denn sie hatte die Schüsse sicherlich auch gehört.

Joe, Shy, Molly, Regine und die Kinder gingen wieder zu Bett und Tiny und Kathryn postierten sich in der Küche, um Nachtwache zu halten.
 

Als Melody Margarete berichtete, was vorgefallen war, begann diese sogleich heftig zu zittern. Melody legte sich zu ihrer Schwester ins Bett und hielt sie fest, wie man ein ängstliches Kind halten würde:

„Es wird alles gut werden, meine Liebes!“ versicherte sie flüsternd. Und dann begann in schillernden Farben den Kampf zu beschreiben und wie der gleiche Mann, der Margarete so furchtbar verletzt hatte, in Angst um sein eigenes wertloses Leben davongerannt war. Ihre Schilderung war ein Märchen zur Guten Nacht; es handelte von einem bösen Monster und davon, wie das Gute über das Böse triumphierte. Es dauerte dennoch eine Weile bis sich Margarete wieder ein wenig beruhigt hatte. Es half ihr zu wissen, dass ihre Freunde nun da unten Wache hielten.

Und dann begann Melody mit ihrer schönen, rauchigen Altstimme ein Kinderlied für sie zu singen, welches sie beide von ihrer Mutter gelernt hatten.

Und da endlich gelang es Margarete an der Seite ihrer Schwester einzuschlafen.
 

Melody wich nicht von ihrer Seite, denn der Überfall hatte sie einiger grundlegender Gewissheiten beraubt, wie zum Beispiel jener, dass ihre Schwester, ihr Ebenbild für immer an ihrer Seite sein würde.

Neben Margarete zu liegen beruhigte sie ein ganz kleines bisschen.
 

****

Im Gerichtssaal war Bob etwas klar geworden: Diese Frau war nicht Beute! Sie war so viel mehr als das!

Sie war Sein!

Er hatte sie sehr genau betrachtet und dabei hatte er erkannt, dass ihr Zusammentreffen in jener Nacht nicht nur ihn, sondern auch sie verwandelt hatte: Sie war nun rein und geläutert!

Und bald würde sie es auch wissen!

Er war heute zu ihr gekommen, weil er sie holen wollte, aber nun war ihm klar geworden, dass er sich noch gedulden musste. Er durfte nicht wieder alles überstürzen, wie beim letzten Mal. Er musste sich mental vorbereiten.
 

Und er musste warten, bis sie ihm das Zeichen gab!
 

****
 

Schläfrig saßen Tiny und Kathryn gemeinsam in der Küche am Feuer. Nach einem beinahe ewig langem Schweigen sagte Kathryn plötzlich in die Stille hinein:

„Mir kommen Zweifel an dieser Sache zwischen James und mir!“
 

Tiny schreckte von diesem unerwarteten Gesprächsbeginn ein wenig zusammen. Dann blickte er seine Freundin prüfend an:

„Ist es wegen dem, was Melody gesagt hat?“ wollte er wissen.
 

„Nein!“ antwortete Kathryn zunächst selbstbewusst und wiederholte dann noch einmal ein wenig verunsichert: „Nein, ich denke nicht. Aber es war doch von Anfang an schwierig zwischen uns! Wir sind so unterschiedlich. James ist ein lieber Kerl und er liegt mir ja auch irgendwie am Herzen, aber er ist so unschuldig und lammfromm, lieb, beherrscht und in allem ganz anders als. Und irgendwie nervt mich das immer mehr!“
 

Tiny schenkte ihr einen zweifelnden Blick:

„Ach komm´ schon, Schwesterchen. Ich kenne dich. Selbst wenn James mit seiner Sanftheit ein wenig deine raue Fassade umspült und damit glättet; ist es nicht genau das, was du dir von ihm wünschst?“
 

Kathryn zog eine Augenbraue hoch und ätzte mit einer Mischung aus Ärger und Belustigung:

„Das hast du aber schön gesagt. Du solltest Gedichte schreiben, oder so. Aber jetzt mal im Ernst;wenn es wirklich das wäre, was ich mir wünsche, warum habe ich dann so große Zweifel?“
 

Tiny wusste, dass das, was er als nächstes sagen würde, Kathryn gar nicht gefallen sollte, dennoch nahm er kein Blatt:

„Die Zweifel kommen daher, dass du eine Scheißangst hast, meine Liebe!“ Kathryn holte natürlich bereits tief Luft, um zu widersprechen, doch Tiny hob die Hand, um sie zu stoppen:

„Ich bin noch nicht fertig!“ herrschte er streng und fuhr fort: „Denkst du, ich habe nicht bemerkt, wie eigenartig du dich James gegenüber verhältst, wenn Rebecca und Felicity in der Nähe sind. So als wolltest du den beiden beweisen, dass das mit euch beiden doch bloß ganz harmlos ist. Glaubst du wirklich, die beiden würden dich verurteilen, wenn sie wüssten, dass du nun einen Mann liebst. Ich glaube eher, hier geht es einmal mehr allein um Elizabeth. Du glaubst, SIE würde es dir nicht verzeihen. Aber Liz kann jetzt nicht hier bei dir sein! Aber sie hat dich geliebt und sie würde wollen, dass du glücklich bist!“
 

Mit verdächtig belegter und wackliger Stimme antwortete Kathryn trotzig:

„Du weißt ja gar nicht, wovon du sprichst!“
 

Tiny schüttelte genervt den Kopf und antwortete bissig:

„Richtig! Denn du und ich kennen uns ja auch erst so kurze Zeit, nicht wahr? Und ich glaube, da ist sogar noch mehr! Elizabeths Tod hat dich derart aus der Bahn geworfen, dass du so etwas nie wieder erleben möchtest. Und ein Teil von dir weiß, dass du James genug lieben könntest, dass es dich ebenso schmerzen würde, ihn zu verlieren, also lässt du es gar nicht erst so weit kommen, richtig?“
 

Kathryn sprang von ihrem Stuhl auf, funkelte Tiny ärgerlich an und stampfte mit einem Fuß auf den Boden, wie ein zorniges Kind, als sie antwortete:

„Ach, halt die Klappe! Das ist doch alles totaler Blödsinn! James ist ein dummer Junge, dessen Anhimmelei mir allmählich auf die Nerven geht, mehr nicht! Und jetzt will ich davon nichts mehr hören! Lass´ uns einfach noch eine Runde um`s Haus machen um sicherzustellen, dass dieser Carmichael nicht wieder hier herumschleicht!“

Damit war das Thema für Kathryn erledigt.

Sie griff sich ihre Schrotflinte und stürmte hinaus.
 

Und Tiny kannte seine alte Freundin gut genug, um zu wissen, dass es in diesem Moment zwecklos wäre zu versuchen, sie zu überzeugen.
 

Am folgenden Tag stand Joe allein hinter dem Tresen des Gemischtwarenladens, denn der alte Pete lag mit einer Erkältung im Bett. Das Geschäft war leer und bislang war es ein ruhiger Arbeitstag gewesen.
 

Plötzlich öffnete sich die Ladentür und herein kam der Sohn von Gretchen Schultz und dem Reverend und bei ihm war ein Mädchen in seinem Alter.
 

Der Junge streifte durch die Gänge und tat so, als betrachte er die Auslage. Das Mädchen hingegen blieb in der Nähe der Tür stehen und fixierte mit ihrem Blick den Holzfußboden, als gäbe es dort irgendetwas wahnsinnig Interessantes zu sehen.
 

Joe beobachtete sie interessiert. Sie war groß für ein Mädchen, mindestens einen Kopf größer als ihr Begleiter und sehr schlank. Die Ärmel ihres Kleides waren zu kurz und auch ansonsten wirkte es so, als sei es einfach nicht für sie gemacht: Es spannte an den Schultern, dafür hatte es viel Luft dort, wo eigentlich der Busen hätte sein sollen. Alles an dem Mädchen strahlte Unbehagen, Nervosität und Unsicherheit aus.

Joe fühlte Sympathie für sie und musste bei ihrem Anblick unwillkürlich lächeln.
 

Nun begann Joe auch den Jungen ins Visier zu nehmen. Es war nicht zu übersehen, dass dieser in Wirklichkeit überhaupt nicht an den Waren interessiert war. Vielmehr linste er die ganze Zeit mit einem Auge zu Joe hinüber.
 

Schließlich siegte bei Joe die Neugier und er sprach den Jungen ganz einfach an:

„Sag´ mal, kann ich dir irgendwie helfen? Suchst du vielleicht etwas?“
 

Der Knabe zuckte zusammen, starrte ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf.

Dann trat an den Tresen heran und holte er tief Luft:

„Im Grunde will ich gar nichts kaufen.“ gab er zu: „Eigentlich wollte ich mit ihnen sprechen, Sir.“
 

Joe gefielen die samtige Stimme und die sanfte Sprechweise des Burschen. Dennoch hatte er Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Wie eigenartig, von ihm „Sir“ genannt zu werden, dachte er:

„Du kannst mich Joe nennen. So alt bin ich nämlich noch nicht.“ gab er zurück. „Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?“

„Ich heiße Noah, Sir…ähm… also ich meine… ich bin Noah Schultz!“

Der Junge wurde knallrot im Gesicht und begann ein wenig zu schwitzen.
 

Joe lächelte ihn aufmunternd an, als er antwortete:

„Freut mich, dich kennenzulernen Noah. Wer ist deine Freundin?“ er deutete auf das Mädchen, welches sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
 

„Das ist Alice“ gab Noah zurück und er winkte sie herbei.
 

Sie kam widerstrebend herüber geschlendert, wobei es den Anschein machte, als habe sie ihre zu langen Extremitäten kaum unter Kontrolle.
 

Nun konnte Joe sie von Nahem in Augenschein nehmen. Sie hätte mit ihrer Größe, Statur und dem markanten Gesicht einen sehr hübschen Jungen abgegeben, stellte er im Stillen fest. Er hielt Alice eine Hand hin und stellte sich vor.
 

Das Mädchen ergriff die Hand mit erstaunlich festem Griff und es gelang ihr ganze zwei Sekunden, lang Joe anzuschauen. Sie hatte sehr schöne, katzenhafte, lebhaft hellgrüne Augen.
 

Joe wandte sich wieder Noah zu:

„Du hast gesagt, du möchtest etwas mit mir besprechen? Was kann ich denn für dich tun?“
 

Der Junge schien angestrengt darüber nachzudenken, wie er anfangen sollte und fragte schließlich:

„Du kennst doch die Leute, die da drüben im roten Haus wohnen, oder?“ Joe nickte und so fuhr Noah fort: „Das neulich in der Kirche war wirklich schlimm. Die Leute waren so gemein. Du hättest hören sollen, was noch alles gesagt wurde, als ihr weg wart.“
 

„Lieber nicht!“ stöhnte Joe kopfschüttelnd.
 

Noah nickte verständnisvoll und

„Ich habe auch von dem Prozess gehört und dem Urteil des Richters. Stimmt es, dass dieser Mann die Frau beinahe umgebracht hätte?“
 

Joe nickte ernst.
 

Noah suchte erneut nach den passenden Worten:

„Würdest du den Leuten im roten Haus etwas von mir sagen? Sie sollen wissen, dass nicht alle Leute schlecht von ihnen denken. Ich habe sie in der Kirche gesehen und gedacht, ich würde lieber bei ihnen sitzen, als bei den Leuten, die so üble Sachen über Menschen sagen, die sie gar nicht wirklich kennen. Und sag´ ihnen auch, dass es mir leid tut, wie meine Mutter sich verhalten hat.“
 

„Das werde ich gern tun und es wird sie freuen, dass zu hören.“ versicherte Joe: „Aber warum gehst du denn nicht selbst rüber und sagst es ihnen?“
 

Noah blickte Joe ungläubig an:

„Meine Eltern würden mich umbringen, wenn ich mich dort blicken ließe!“
 

Joe lächelte und antwortete:

„An deiner Stelle würde ich es meinen Eltern auch nicht unbedingt auf die Nase binden. Aber vielleicht willst du es ja trotzdem irgendwann tun? Heimlich?“
 

Noah zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen:

„Mal sehen!“ erwiderte er unverbindlich.
 

Und damit verabschiedeten sich Alice und Noah.
 

Joe konnte sehen, wie die beiden Jugendlichen draußen vor dem Geschäft aufgeregt die Köpfe zusammensteckten und kicherten.
 

Er blickte ihnen grinsend hinterher und kam sich aus irgendeinem Grund gerade sehr alt vor.

Vernunftentscheidung

~~~

Es war ein herrlicher Sommertag und Kathryn spazierte mit Elizabeth über eine herrliche, bunte Blumenwiese. Kathryn pflückte einen hübschen Strauß, um damit später das Haus aufzuhellen und gerade hatte sie ein paar wunderschöne blaue Lilien entdeckt, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Als sie wieder aufblickte erkannte sie, dass Elizabeth ihr bereits sehr weit voraus war. Sie lief nun, um sie wieder einzuholen, doch aus irgendeinem Grund kam sie nicht so schnell voran, wie sie wollte, also rief sie:

„Warte auf mich Liz! Wo willst du denn hin?“
 

Eigentlich hätte Elizabeth sie hören müssen, doch sie drehte sich nicht um, sondern lief unbeirrt weiter, geradewegs auf einen dunklen Wald zu.

Kathryn rannte und endlich schien es, als würde sie den Vorsprung ein wenig aufholen. Sie rief wieder, doch ihre Geliebte reagierte immer noch nicht. Erst als sie am Waldesrand angekommen war, blickte Elizabeth sich kurz um, lächelte und winkte Kathryn zu sich, ehe sie im finsteren, dichten Unterholz verschwand.

Kathryn versuchte Elizabeth zu warnen, dass es gefährlich sein könnte, doch die hörte sie nicht mehr

Als Kathryn schließlich auch den Waldesrand erreichte, war ihre Angst dann aber zu groß, um ihrer Geliebten nachzufolgen, so gern sie auch bei ihr sein wollte.

~~~
 

Kathryn erwachte ängstlich und schweißgebadet. Draußen dämmerte bereits der Märzmorgen. Sie blickte hinab auf James, der noch immer tief und fest dort schlief, wo früher Elizabeths Platz gewesen war und plötzlich hatte Kathryn das Gefühl, es in ihrem Bett nicht mehr aushalten zu können. Eilig stand sie auf, zog sich an und ging hinunter in die Küche.
 

Da der Betrieb nach wie vor geschlossen war und die Frauen nun zeitig zu Bett gehen konnten, begannen die Tage im roten Haus früher als bisher und so saßen an diesem Dienstagmorgen alle mit Joe und James, die bald zur Arbeit mussten gemeinsam am Frühstückstisch. Es fehlte nur Margarete, die sich in letzter Zeit immer seltener blicken ließ oder an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnahm.
 

Plötzlich überraschte Joe alle, einschließlich Tiny mit einer Eröffnung:

„Ich habe am kommenden Samstag Geburtstag. Ich habe mir eigentlich nie viel daraus gemacht, weil es für mich bisher nichts zu feiern gab, aber dieses Jahr ist es anders. Mein Leben ist so viel besser geworden, seit ich euch alle getroffen habe. Darum würde ich dieses Jahr gern ein großes Essen veranstalten. Bei Felicity und Rebecca drüben ist es zu klein für uns alle, darum wollte ich euch um Erlaubnis bitten, hier im Haus feiern zu dürfen.“
 

Joe blickte unsicher in die Runde.
 

Alle Blicke richteten sich nun fragend auf Melody:
 

„Es ist vielleicht sogar eine ganz gute Idee, wenn wir nach all` dem Furchtbaren, was in letzter Zeit geschehen ist, wieder ein wenig Freude in dieses Haus zu holen.“
 

Joe war für einen Moment unschlüssig, denn an Margarete hatte er dabei überhaupt nicht gedacht. Was, wenn sie eine fröhliche Gesellschaft im Haus als unpassend empfand; so als gehe er einfach so gleichgültig über ihr Leid hinweg?

Und so fragte er fragte Melody:

„Wie geht es deiner Schwester eigentlich? Sie verkriecht sich immer häufiger in ihrem Zimmer.“
 

Diese Frage ließ die anderen Gespräche am Tisch verstummen, denn jeder wollten wissen, wie es sich mit Margarete momentan verhielt.
 

Melody zuckte traurig mit den Schultern:

„Es geht ihr nicht gut, aber ich erreiche sie irgendwie nicht. Sie sagt, ich könnte mir nicht vorstellen, was in ihr vorgeht und da hat sie wahrscheinlich sogar recht.“
 

„Ich habe noch ein wenig Zeit, ehe ich losgehen muss. Meinst du, es ist in Ordnung, wenn ich bei ihr hereinschaue?“ wollte Joe wissen.
 

Melody zuckte mit den Schultern:

„Probier`s einfach. Ich weiß nicht, ob sie dich hineinlässt.“
 

Joe nickte und ging hinauf.

Er klopfte sacht an Margaretes Zimmertür, da er jedoch nicht gleich eine Antwort erhielt, probierte er es noch einmal etwas lauter. Als immer noch keine Rückmeldung erfolgte, öffnete er dennoch vorsichtig die Tür, steckte seinen Kopf hindurch und fragte:

„Darf ich reinkommen?“
 

Margarete lag angezogen und mit aufgerichtetem Oberkörper auf dem Bett und starrte die Wand an. Im Zimmer war es schummerig, denn die Vorhänge waren zugezogen. Auf Joes Frage antwortete Margarete mit einem Schulterzucken.
 

Das war immerhin kein Nein, also entschied Joe einfach einzutreten:

„Darf ich die Vorhänge aufmachen? Ich kann dich ja beinahe gar nicht sehen.“ erkundigte er sich gespielt munter.
 

Als Antwort erhielt er wiederum nur dieses nichtssagende Schulterzucken, also ging er hinüber zum Fenster, ließ das Tageslicht ein und öffnete bei dieser Gelegenheit auch gleich die Läden, denn die Luft im Raum war abgestanden.

Margarete blinzelte wie ein Maulwurf, den man soeben ausgebuddelt hatte.
 

Joe nahm die Frau auf dem Bett in Augenschein und erschrak darüber, wie rasch und wie viel sie abgenommen hatte. Sie war vorher bereits schlank gewesen, doch nun hing ihr Kleid bloß noch lose an ihrem knochigen Körper und ihr Gesicht wirkte trotz ihrer dunklen Haut blass und grau. Vorsichtig nahm Joe auf ihrer Bettkante Platz, wobei er darauf achtete, sie nicht zu bedrängen.

„Wir alle vermissen dich, Liebes!“ erklärte er ernst.
 

Zu seiner Überraschung antwortete Margarete ihm nun:

„Glaub` mir, ihr wollt mich im Augenblick nicht um euch haben.“

Joe sagte nichts, blickte sie lediglich fragend an und so fuhr Margarete fort:

„Ich bin so voller Wut und Bitterkeit, dass ich mich selbst kaum ertrage!“
 

„Ich verstehe!“ erwiderte Joe. Margarete setzte an zu widersprechen, doch ihr Gegenüber kam ihr zuvor und fuhr einfach fort: „Mein Vater hat mich verprügelt, solange ich denken kann und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Ich war oft so wütend. Oh, Mann war ich wütend! Ich weiß, das ist nicht dasselbe, wie das was du erlebt hast. Aber ich kenne diesen Zorn und diese Ohnmacht!“

Joe erhob sich, lüftete sein Hemd und ließ Margarete die zahlreichen Narben an seinem Körper sehen. Es war sicher nicht Joes Absicht, Margaretes Mitleid zu erregen, er wollte sie nur wissen lassen, dass er wirklich wusste, was es hieß, das Opfer von jemandem zu sein, der größer und stärker ist. Er fuhr fort:

„Aber das Schlimmste waren gar nicht die Verletzungen und die Schmerzen. Ich war einfach zu schwach, zu klein und zu ängstlich, um mich zu wehren, also hatte ich am Ende die größte Wut auf mich selbst, verstehst du?“
 

Margarete schluckte, ehe sie antwortete:

„Er war hier beim Haus, dieser…Mann!“

Joe fiel auf, dass sie Carmichaels Namen nicht aussprechen konnte. Ganz so, als habe sie Angst, dadurch einen bösen Geist zu beschwören.

Margarete fuhr fort: „Ich bin sicher, er wird wiederkommen, um an mir zu beenden, was er angefangen hat.“ Tränen traten in ihre Augen.
 

Joe nickte ernst und bestätigte:

„Es kann sein, dass er es versuchen wird, aber du bist nicht allein! Wir sind alle hier, um dich zu beschützen.“ Dann forderte er streng: „Aber du selbst solltest auch bereit für ihn sein! Was du hier gerade tust ist falsch! Du hungerst dich aus und wirst immer schwächer! Stattdessen solltest du das Gegenteil tun! Du solltest dich auf jede mögliche Art stärken, damit du ihm gewachsen bist, wenn er kommt!“
 

Margarete wog Joes Worte sorgfältig ab und schließlich nickte sie. Sie zog Joe am Arm zu sich heran und schmiegte sich an ihn. Er legte beschützend seine Arme um ihren mageren Körper und hielt sie eine Weile fest.

Als sie sich von ihm löste murmelte sie grinsend:

„Danke, dass du nicht zu mir sprichst, wie zu einem Opfer!“ Dann fügte sie nachdenklich hinzu: „Ich bin froh, dass Tiny dich hat! Ich finde, du tust ihm gut, auch wenn ich am Anfang wahnsinnig eifersüchtig war.“
 

Joe blickte sie überrascht an:

„Ich wusste für nicht, dass du so für Thomas empfindest.“ antwortete er ein wenig verunsichert.
 

„Das weiß niemand, nicht einmal er selbst. Bitte verrate es ihm nicht.“ flehte die Verletzte.
 

Joe schüttelte den Kopf und versicherte:

„Das werde ich nicht! Ich muss jetzt leider los zur Arbeit. Aber warum kommst du nicht mit hinunter und machst dir ein großes Frühstück?“

Er streckte ihr eine Hand hin.
 

„Klingt gut!“ entschied sie, griff nach seiner Hand, erhob sich stöhnend und hielt sich den Bauch, dort, wo das Messer sie verletzt hatte. Mit wackligen Schritten und von Joe gestützt schritt sie langsam die Stufen hinab.
 

Als James sich an diesem Morgen von Kathryn verabschiedete, fühlte er eine Distanz zwischen ihr und sich. Ihr Kuss war flüchtig und ihr Blick ausweichend. James hatte das Gefühl, sie zu verlieren und wusste weder wieso, noch was er dagegen tun konnte. Dass eine Frau wie Kathryn sich je auf ihn eingelassen hatte, war ihm wie ein Wunder erschienen. Der Gedanke, dass sie sich nun wieder abwenden könnte, war für ihn schier unerträglich.

Er verließ das rote Haus mit furchtbaren Magenschmerzen.
 

Als Tiny in die Küche kam, erblickte er dort Margarete, welche endlich wieder einmal mit Appetit aß. Er erschrak ein wenig, als er sah, wie dünn sie geworden war, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Lächelnd nahm er neben ihr Platz und versicherte:

„Es ist so schön, dich zu sehen, Kleines!“
 

„Das verdanke ich deinem Joe.“ gab sie zurück: „Wir haben geredet und es hat mir das Gefühl gegeben, dass jemand endlich ein wenig nachvollziehen kann, was in mir vorgeht. Er ist wirklich ein großartiger Kerl, weißt du das?“
 

Tiny strahlte, als er das hörte und erwiderte stolz:

„Ja, das weiß ich!“
 

Pete war noch immer krank, also stand Joe erneut allein im Laden und auch an diesem Vormittag erhielt er dort wieder Besuch von Noah und Alice.

Einmal mehr war Joe erstaunt über die beiden unterschiedlichen Jugendlichen. Sie waren ein wirklich seltsames Gespann. Noah war eher klein für sein Alter, ein wenig rundlich mit dunklen Augen und Haaren. Damit kontrastierend hatte er sehr helle Haut und blasse Sommersprossen wie seine Mutter, doch anders als ihres, wirkte sein Gesicht unwahrscheinlich freundlich und warm. Er war hübsch auf seine eigene Art.

Neben ihm, mit vor der Brust verschränkten Armen stand das große, unbeholfen wirkende und schlaksige Mädchen mit den unglaublich leuchtenden grünen Augen, deren langes und dickes blondes Haar zu einem unordentlichen Zopf geflochten war.
 

Die beiden Jungenlichen sahen an diesem Morgen nicht besonders glücklich aus. Sie waren offensichtlich einmal mehr überhaupt nicht zum Einkaufen hierhergekommen und Joe war gespannt, was sie wohl heute auf dem Herzen haben mochten. Sie schauten verstohlen zu ihm hinüber, doch scheinbar traute sich keiner von ihnen so recht, Joe anzusprechen. Stattdessen blieben sie in der Nähe des Ausgangs stehen und tuschelten miteinander.
 

Joe verweilte hinter der Ladentheke, das Gesicht auf die Hände gestützt, beobachtete die zwei und wartete zunächst einmal ab, was wohl geschehen mochte. Schließlich sah Joe, dass Alice Noah am Arm zog und offenbar beschlossen hatte, unverrichteter Dinge wieder zu verschwinden.
 

Doch nun Joe war neugierig geworden und fragte ein wenig lauter als notwendig:

„Hey ihr zwei! Kann ich etwas für euch tun?“
 

Die beiden zuckten ein wenig zusammen und blickten dann unsicher zu ihm hinüber. Alice schüttelte zwar den Kopf, doch Noah wollte offenbar nicht so leicht aufgeben. Er hakte sie unter und zog sie hinter sich her, hin zu Joes Standort:

„Wahrscheinlich kannst du uns gar nicht helfen, aber wir wissen nicht, an wen wir uns wenden sollen!“ erklärte Noah kläglich und ohne große Vorrede.
 

Joe blickte die beiden geduldig an und wartete, ob noch eine Erklärung folgen würde. Den angespannten Gesichtern der Jugendlichen konnte er ansehen, dass es ihnen nicht leicht fiel auszusprechen, was immer das Problem war. Also begann Joe, zu raten:

„Habt ihr vielleicht Ärger zuhause?“
 

Treffer!
 

Beide rissen die Augen weit auf und Noah nickte leicht.
 

Die Erklärung dennoch ein wenig auf sich warten, doch schließlich nahm Noah seinen Mut zusammen und brachte hervor:

„Unsere Eltern sind mit unserer Freundschaft nicht einverstanden!“ Dann erklärte er stotternd: „Sie denken… also ich meine, sie machen sich Sorgen, weil…weil wir beide uns so nahe stehen.“
 

Joe ahnte, dass damit längst noch nicht alles gesagt war, also blickte er den Jungen weiterhin interessiert und aufmunternd an und schließlich erläutert Noah:
 

„Sie sagen, dass wir keine Kinder mehr sind und das ein Junge und ein Mädchen nicht so miteinander befreundet sein können, wie wir.“
 

Das Gesicht des Jungen nahm einen unbehaglichen Ausdruck an. Alice hingegen starrte finster zu Boden und scharrte mit einem Fuß.
 

Joe fragte:

„Erwarten eure Eltern denn, dass ihr zwei heiratet?“
 

Alice machte lediglich verächtlich: „Pfft! Als ob!“
 

Wieder war es Noah, der antwortete:

„Alices Vater schon. Er ist der Hufschmied hier im Ort; Gregory Lewinsky. Kennst du ihn?“
 

Joe nickte:

„Ich habe mich bei deinem Vater vorgestellt, als ich auf Arbeitssuche war.“ erklärte er an Alice gewandt.
 

Noah fuhr fort:

„Meine Eltern wollen für mich, dass ich aus Millers Landing fortgehe und studiere. Sie wollen, dass ich ein Geistlicher werde, wie mein Vater.“
 

„Und willst du das auch?“ wollte Joe wissen.
 

Noah schüttelte unglücklich den Kopf:

„Nein! Auf gar keinen Fall!“
 

Obwohl Joe glaubte, die Antwort schon zu kennen, stellte er seine nächste Frage:

„Seid ihr zwei ein Paar?“
 

Beide schüttelten widerwillig den Kopf, so als sei eine solche Vermutung komplett abwegig und Alice zog Noah am Ärmel, um ihn zu Gehen zu bewegen:

„Siehst du? Er ist genau wie alle anderen Erwachsenen: Er versteht gar nichts!“ knurrte sie unwirsch, als ob Joe sie nicht hören könnte.
 

Er spürte Sympathie für das grimmige Mädchen. Innerlich lächelnd, aber nach außen streng fragte Joe:

„Wie kann ich euch denn auch verstehen, wenn ihr mir nichts sagt?“
 

Noah entschuldigte sich mit einem Blick für seine Freundin und erläuterte:

„Nein, wir beide sind kein Paar, aber das verstehen unsere Eltern nicht. Sie denken, dass vielleicht irgendetwas passiert.“ erklärte er errötend.
 

„Du meinst etwas, das zum Beispiel dazu führt, dass Alice schwanger wird?“ hakte Joe nach.
 

Noahs Gesicht färbte sich noch ein wenig mehr und er nickte schüchtern. Zugleich wurde Alices Gesichtsausdruck noch ein wenig düsterer. Sie verschränkte die Arme ein wenig fester vor der Brust und richtete zum ersten Mal in diesem Gespräch ihr Wort an Joe direkt:

„So etwas wird mit Sicherheit nicht passieren!“
 

„Verstehe!“ entgegnete Joe: „ Und nun wollt ihr von mir wissen, was ihr tun könnt?“
 

Die Jugendlichen nickten eifrig.
 

Joe dachte nach und fragte:

„Was würde wohl passieren, wenn ihr beide euch bloß zum Schein miteinander verloben würdet? Eure Eltern könnten dagegen nicht viel machen und wären vielleicht erst mal ein wenig beruhigt und ihr wartet dann einfach, bis ihr ein bisschen älter seid. Und vielleicht verschwindet ihr dann einfach aus Millers Landing, zieht in eine größere Stadt und könnt dann machen, was immer ihr wollt. Und was es den Berufswunsch deiner Eltern für dich betrifft Noah... vielleicht solltest du dir erst einmal selbst klar machen, was du mit deinem Leben anfangen willst; dir zum Beispiel eine Lehre suchen und dann deinen Eltern ganz deutlich sagen, dass du andere Pläne hast?“
 

Noah gab ein kleines trauriges Lachen von sich:

„Mein Vater würde es vielleicht verstehen, aber du kennst meine Mutter nicht! Sie hat genaue Vorstellungen für mein Leben und davon wird sie nicht abrücken!“
 

„Aber es ist nicht ihr Leben; es ist DEINS!“ gab Joe zurück.
 

Noah runzelte die Stirn. Der Gedanke an Selbstbestimmung schien ihm offenbar irgendwie abwegig.
 

Joe fuhr fort:

„Ihr zwei solltet versuchen, etwas Zeit zu gewinnen. Wenn ihr älter seid, wird es leichter, sich den Wünschen und Vorstellungen eurer Eltern zu entziehen.“ versicherte er. Und einem inneren Impuls folgend fügte er hinzu:

„Ich weiß, ihr habt Angst, von euren Eltern dabei erwischt zu werden, aber ich möchte euch in das rote Haus einladen. Ich feiere dort am Samstagnachmittag meinen Geburtstag. Ich möchte, dass ihr die Leute dort kennenlernt. Sie sind etwas ganz Besonderes und ihr werdet sie mögen! Von ihnen habe ich gelernt, dass es viele Arten gibt, sein Leben zu leben.“
 

Die Jugendlichen wirkten verunsichert, aber Joe nahm auch die Neugierde der beiden wahr. Sie zuckten mit den Schultern und Noah meinte:

„Mal sehen, in Ordnung? Aber sei bitte nicht böse, falls wir es nicht schaffen. Wir dürfen uns dabei nicht von unseren Eltern erwischen lassen. Du hast wirklich keine Ahnung, wie sehr meine Mutter die Leute dort drüben verachtet.“ Dann fügte er kleinlaut hinzu: „Tut mir echt leid!“
 

Joe zuckte mit den Schultern und entgegnete:

„Du kannst ja nichts dafür! Und leider habe ich sehr wohl eine Ahnung. Ich würde mich trotzdem freuen, euch dort zu sehen, aber ich nehme es euch auch nicht übel, wenn es nicht klappt.“
 

Die beiden schickten sich bereits an zu gehen, doch da drehte Noah sich noch einmal um:

„Da ist noch etwas.“ sagte er: „Es betrifft Alice.“
 

Alice funkelte ihren Freund böse an. Sie boxte ihm unsanft in die Seite, so dass Noah sich vor Schmerz krümmte. An Joe gewandt erklärte Alice energisch:

„Nein, da ist nichts weiter. Das war alles!“

Sie hakte ihren Freund unter und zog ihn unsanft hinter sich her aus dem Geschäft.
 

Joe blickte ihnen stirnrunzelnd nach.
 

Den ganzen Arbeitstag lang hatte James an kaum etwas anderes als Kathryn und ihr distanziertes Verhalten denken können. Krampfhaft überlegte er, was er tun könnte, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, doch weil er nicht den blassesten Schimmer hatte, was in Kathryn eigentlich vorging blieb er ratlos. Am späten Nachmittag schließlich machte James einen frühen Feierabend und ging hinüber zum roten Haus.

Er fand Kathryn in Gesellschaft von Sam, Molly und Regine in der Küche. Sie waren gerade dabei, das Gemüse für das Abendessen vorzubereiten:
 

„Können wir reden?“ fragte James Kathryn ohne lange Vorrede.
 

Diese blickte ihn an, zuckte mit den Schultern und wartete auf das, was er zu sagen hatte. Ihr Blick war kühl.
 

James blickte unglücklich hinüber zu den anderen Anwesenden und fragte dann:

„Können wir irgendwo hingehen, wo wir allein sind?“
 

Kathryn seufzte und blickte die anderen Köchinnen und Köche fragend an. Diese versicherten ihr, dass sie momentan entbehrlich sei, also bedeutete Kathryn James, ihr auf ihr Zimmer zu folgen, wo sie sich auf dem Bett niederließ. Auch James setzte sich, jedoch lediglich auf die äußerste Kante, da er das Gefühl hatte, dass sie im Moment beide ein wenig mehr Raum bräuchten, als gewöhnlich.
 

Unter Kathryns erwartungsvollem Blick wurde James immer kleiner. Er schluckte schwer und begann:

„Irgendetwas stimmt nicht zwischen uns, oder? Ich weiß nicht, was passiert ist, aber du kommst mir so distanziert vor. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“
 

Kathryn konnte den traurigen Welpenblick nur schwer ertragen, den er ihr zuwarf und ein wenig lauter als nötig antwortete sie:

„Nein James, du hast NICHTS falsch gemacht!“

Immer noch dieser Blick und Kathryn wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Die beiden saßen einander eine Weile schweigend gegenüber.
 

Schließlich traf James eine Entscheidung. Er holte tief Luft, ehe er sagte:

„Ich liebe dich Kathryn! Ich will nie wieder ohne dich sein. Willst du mich heiraten?“
 

Die Worte trafen sie wie ein Schlag!
 

Heiraten?
 

Ja sicher!
 

Wie wunderbar einfach das wäre, dachte sie plötzlich erzürnt!
 

Vielleicht woanders neu anfangen, wo keine Seele ihre Lebensgeschichte kannte?

Ein ehrbares Leben führen, oder sogar ein paar Kinder bekommen?

Oder als lange verlorene Tochter heimkehren und mit neuem, rechtschaffenem Ehemann ihr rechtmäßiges Erbe als Gutsherrentochter antreten?
 

Sie konnte nicht begreifen, wie James überhaupt auf diesen abwegigen Gedanken kommen konnte. Am liebsten hätte sie ihn jetzt geschlagen.
 

Mit einem Mal musste sie daran denken, wie es nach dem Tod von Elizabeth gewesen war. Kathryn hatte sich damals als ihre legitime Witwe gefühlt. Sie hatte den unendlichen Schmerz des Verlustes und die Verzweiflung über die Endgültigkeit des Abschieds gefühlt, doch statt Mitgefühl schlugen ihr überall nur Grausamkeit und Verachtung entgegen.
 

In Millers Landing ging damals das Gerücht um, dass Liz an Syphilis gestorben sei: Die göttliche und gerechte Strafe für die Sünderin!

Man hatte Kathryn beim Einkaufen bespuckt!

Die Menschen wechselten die Straßenseite, wenn sie kam!

Manche der Damen legten in ihrer Nähe ihr Umhängetuch vor Mund und Nase, aus Angst vor dem angeblich ansteckenden Tod!

Gottes Segen und einen Ort auf dem Friedhof hatte man Elizabeth verweigert und stattdessen war das einsame ungeweihte Grab, welches sie erhalten hatte, zweimal verwüstet worden!

Schließlich hatten Tiny und die Frauen es rund um die Uhr, bewaffnet mit einer Schrotflinte bewacht, bis die Begräbnisstelle einer toten Hure endlich uninteressant für die Attentäter geworden war.

Tiny hatte Kathryn diese spezielle Totenwache damals untersagt, denn er kannte seine Freundin; wusste, in welchem Zustand sie sich damals befunden hatte.

Ihre wären sicher keine Warnschüsse gewesen und Tiny wollte sie vor dem Galgen bewahren, auch wenn ihr selbst das damals gleichgültig gewesen wäre.
 

Ja, diesen ehrenwerten jungen Mann zu heiraten, der sie nun verliebt aus traurigen Kulleraugen anschaute, wäre im Vergleich dazu kinderleicht!Vielleicht würde man ein wenig über den Altersunterschied spotten, doch im Großen und Ganzen würde es ein Spaziergang werden, dachte sie bitter.

Sie könnte ihren Freunden und Leidensgenossen den Rücken zukehren, sich gemütlich irgendwo einrichten und das Leben führen, dass ihr standesmäßig bestimmt war.

Und das das war genau das, wovon Melody neulich in ihrer Wut gesprochen hatte.
 

Kathryn fühlte sich in die Enge getrieben und sie wusste, dass sie es nun nicht mehr aufschieben konnte. Sie musste eine Entscheidung treffen!

Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und wappnete sich für das, was sie tun musste:

„Dich heiraten? Bist du jetzt komplett verrückt geworden? Weißt du überhaupt, wovon du da redest?“ schrie sie ärgerlich und als sie James verletztes Gesicht sah, steigerte sie sich bloß noch mehr hinein in die Wut über all jene Dinge, die überhaupt nicht seine Schuld waren: „Verschwinde von hier James! Ich will dich nicht mehr sehen!“ forderte sie eisig.
 

James schien nicht gleich zu begreifen, was sie von ihm wollte. Er starrte sie noch einen Moment lang fassungslos an, ehe er sich schließlich unendlich langsam erhob und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.

Als er die Tür geschlossen hatte, spürte Kathryn unwillig, dass ihr Tränen über die Wange rollten. Sie schüttelte ihre Traurigkeit energisch ab und versicherte sich selbst, dass sie sowohl für sich, als auch für James das Richtige getan hatte.

Er würde das auch bald begreifen und dann käme er schon darüber hinweg. Er war jung und gutaussehend. Er würde schnell ein neues Mädchen finden.
 

Joe kam gerade von der Arbeit zurück, als James ihm aus der Tür des roten Hauses direkt in die Arme lief. Sein Freund grüßte ihn nicht und war weiß wie eine Wand. Verwirrt blickte Joe ihm hinterher, ehe ihm klar wurde, dass da wohl irgendetwas passiert sein musste. Er wandte sich um, hielt seinen Freund am Arm fest und fragte:

„Moment Mal! Was ist los mit dir? Ist etwas vorgefallen? Ist es Carmichael? Hat er Margarete etwas angetan?“
 

James blickte ihn unverwandt an, schüttelte den Kopf und murmelte:

„Nein! Es ist Kathryn. Sie hat… mich rausgeworfen!“
 

Dann wendete James sich wieder um und wollte einfach ganz mechanisch weitergehen, doch Joe hielt ihn immer noch am Arm und erwiderte:

„Wie bitte? Wieso hat sie das getan?“
 

James versuchte sich loszumachen, doch Joe lockerte seinen Griff nicht und fragte:

„Wo willst du denn hin? Ich lasse dich doch jetzt nicht allein, Mann! Du wartest hier, kapiert? Ich spreche kurz mit Thomas und sage ihm, dass ich heute keine Zeit für ihn habe. Ich bin sofort wieder da.“
 

James schüttelte den Kopf und entgegnete wenig überzeugend:

„Ich komme schon irgendwie klar.“
 

Joe schob James zu den Treppenstufen vor dem Haus und drückte ihn herunter, damit er sich setzte:

„Du kommst NICHT allein klar! Warte einfach hier, sonst werde ich böse! Ich bin sofort wieder da.“

Mit diesen Worten verschwand Joe rasch im Haus.
 

Er fand Tiny oben im Zimmer auf seinem Bett sitzend und ohne einen Gruß begann er zu sprechen:

„Was ist eigentlich mit deiner besten Freundin los? Ist sie verrückt geworden?“
 

Tiny blickte überrascht zu seinem aufgebrachten Geliebten auf und so setze Joe in rasch ins Bild:
 

„Nun hat sie es also tatsächlich getan!“ antwortete Tiny nicht besonders überrascht.
 

Joe blickte ihn fragend an:

„Hast du etwa gewusst, dass das passieren würde?“
 

Tiny schüttelte den Kopf:

„Ich habe es nicht gewusst, aber ich habe es leider befürchtet. Wir haben schon vor einigen Tagen darüber gesprochen.“
 

„Und hast du nicht versucht, Kathryn wieder zu Verstand zu bringen?“ fragte Joe vorwurfsvoll:
 

„Sicher habe ich das!“ entgegnete Tiny ärgerlich: „Aber kennst du Kathryn? Stur wie ein Esel! Und nun lass deinen Groll gefälligst nicht an mir aus!“
 

Joe atmete tief durch, um sich wieder ein wenig zu beruhigen:

„Du hast Recht, tut mir leid! Aber da unten vor dem Haus hockt nun James und ist total durcheinander. Ich werde heute Nacht bei ihm bleiben; aber woanders, nicht hier!“

An Tinys Blick konnte Joe sofort erkennen, dass dieser von dieser Aussicht überhaupt nicht begeistert war, darum fügte er sanft hinzu:

„Er ist mein Freund und er braucht mich jetzt!“
 

Tiny nickte und Joe fuhr fort:

„Kannst du nicht noch einmal mit Kathryn sprechen, Thomas? Auf dich hört sie vielleicht.“
 

Tiny schüttelte den Kopf:

„Ich kenne Kathryn nun schon mein ganzes Leben lang. Glaub` mir; jetzt ist der verkehrteste Moment, zu versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Geh´, du einfach und kümmere dich um deinen Freund.“
 

Joe nickte und verabschiedete sich mit einem langen Kuss.
 

James hatte tatsächlich artig auf den Stufen gewartet und Joe wollte von ihm wissen:

„Sollen wir zu dir gehen?“
 

„Lieber zu dir!“

antwortete James matt und so machten sie sich auf den Weg.
 

Als sie bei Felicity und Rebecca angekommen waren, bedeutete Joe seinem Freund, schon einmal die Leiter zu seinem Zimmer hinaufzusteigen. Dann erklärte er den beiden Frauen noch kurz, was vorgefallen war, ehe er James folgte.
 

Dieser stand nun mit hochgezogenen Schultern mitten im Raum, die Arme eng um seinen schlanken Körper geschlungen. Joe nahm James beim Arm und führte ihn zum Bett, wo sie sich beide setzten:
 

„Du hast es sehr schön hier!“ bemerkte James, der vorher noch nicht hier gewesen war.
 

Joe bedankte sich und forderte dann:

„Erkläre mir doch noch einmal ganz genau, was da zwischen Kathryn und dir eigentlich passiert ist.“
 

James bemühte sich, einen genauen Bericht, von seinen Zweifeln und Ängsten, bis hin zu Kathryns Ablehnung des Heiratsantrags und dem Rauswurf abzugeben.
 

Joe runzelte die Stirn:

„Die spinnt doch!“ schimpfte er und fügte dann mitfühlend hinzu: „Es tut mir leid für dich!“
 

Da fing James an zu weinen. Joe schlang die Arme um ihn, brachte sie beide in dem engen Bett in eine liegende Position und breitete seine Bettdecke über sie beide. Geredet wurde an diesem Abend nicht mehr, denn James konnte einfach nicht aufhören zu schluchzen. Die Tränen liefen immer weiter, bis er irgendwann so erschöpft war, dass er einfach einschlief und Joe hielt ihn dabei fest.
 

Am folgenden Morgen erwachte Joe mit wehen Knochen, denn sein enges Bett war nicht besonders gut für zwei Personen geeignet, nicht einmal für zwei, die so schmal waren wie sein Freund und er selbst. James schien jedoch tief und fest geschlafen zu haben und so versuchte Joe sich nicht anmerken zu lassen, wie gerädert er sich fühlte.

„Wie geht es dir heute?“ wollte er wissen.
 

James zuckte mit den Schultern und antwortete leise:

„Ich begreife das alles immer noch nicht!“

Seine Augen waren verschwollen vom Weinen und seine dunklen Locken vom Schlafen plattgedrückt und wirr. Er gab ein rührendes Bild ab. Joe nahm seine Hand, drückte sie kurz und versicherte:

„Ich bin da, hörst . Sehe ich dich am Samstag drüben bei meiner Geburtstagsfeier?“
 

James blickte ihn unsicher an:

„Ich glaube nicht, dass Kathryn das recht wäre.“
 

Joe zuckte unwillig mit den Schultern und antwortete entschlossen:

„Pfeiff´ auf Kathryn. Ich kümmere mich schon um sie. Sei einfach dabei! Es ist wirklich wichtig für mich!“
 

James nickte. Er wusste, er konnte nicht ablehnen, egal wie mies er sich bei dieser Aussicht fühlte.
 

Frisch rasiert, gewaschen und umgezogen saßen die beiden Freunde eine halbe Stunde später mit Rebecca und Felicity beim Frühstück.

An James gewandt meinte Felicity stirnrunzelnd:
 

„Seltsam! Ich habe nicht einmal gewusst, dass Kathryn und du ein Paar gewesen seid. Warum hat sie daraus wohl so ein Geheimnis gemacht hat?“
 

James zuckte mit den Schultern:

„Vielleicht hat sie sich ja für mich geschämt?“
 

Felicity wirkte erstaunt:

„Vor uns? Warum sollte sie das tun? Ich meine, sieh dich an! Du bist doch ein toller Fang?“
 

„Warum sollte sie es sonst verschwiegen haben, wenn nicht aus dem Grund, dass ich ihr peinlich bin?“ murrte James.
 

Felicity blickte ihn mitfühlend an und wollte wissen:

„Sollen wir vielleicht einmal mit ihr sprechen?“
 

James wirkte zunächst unschlüssig, schüttelte dann jedoch den Kopf:

„Ich denke, besser nicht! Ich schätze, ich sollte vielleicht einfach abwarten, wie sich die Dinge weiter entwickeln. Vielleicht ändert sie ihre Meinung ja noch, auch wenn ich nicht wirklich daran glaube.“
 

„Mir tut das alles wirklich furchtbar leid!“ schaltete Rebekka sich in das Gespräch ein: „Du sollst jedenfalls wissen, dass du in unserem Haus immer willkommen bist, James. Wenn du dich einsam oder traurig fühlst, komm´ doch einfach vorbei!“
 

James nickte, lächelte scheu und bedankte sich mit belegter Stimme:
 

Nach dem Frühstück machten sich James und Joe auf zur Arbeit. Zum Abschied drückte Joe seinen Freund noch einmal fest an sich:

„Du weißt, wo du mich findest, mein Freund! Wir sehen uns spätestens am Samstag, kapiert!“
 

James nickte:

„Ich danke dir für alles!“
 

„Keine große Sache!“ versicherte Joe und verschwand in eine andere Richtung.
 

Das erste, was Joe tat, als er am Abend in das rote Haus zurückkehrte, war Kathryn aufzusuchen. Er fand sie in der Scheune bei den Boxen, damit beschäftigt, die Tiere zu versorgen.
 

Der junge Mann baute sich vor ihr auf, verschränkt die Arme vor der Brust und sagte fest:

„Hör zu, Kathryn! Mir gefällt ganz und gar nicht, was für ein Spiel du mit James treibst! Er ist mein Freund und du tust ihm weh!“
 

Empört über die forsche Ansprache unterbrach Kathryn ihre Tätigkeit, stemmte ihre Hände in die Hüften, blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hinüber und entgegnete:

„Ich weiß zwar nicht, warum du dich da einmischst, aber nur zu deiner Information: Ich spiele überhaupt kein Spiel, sondern ich war lediglich ehrlich zu ihm. Er und ich, wir passen einfach nicht zusammen und das habe ich ihm eben klar gemacht! Wär´s das dann?“
 

Joe schüttelte grimmig den Kopf, als er antwortete:

„Nein, das ist es noch nicht gewesen! Wieso fällt dir das denn ausgerechnet jetzt ein? Wäre es nicht anständiger gewesen, ihm das zu sagen, bevor du ihn mit in dein Bett genommen hast?“
 

Kathryn, war ebenso groß wie Joe. Sie baute sich vor ihm auf, funkelte ihn böse an und entgegnete barsch:

„Was fällt dir eigentlich ein! Du weißt doch überhaupt nicht, wovon du sprichst und das Ganze geht dich auch rein gar nichts an!“
 

Joe wich nicht zurück, entschied jedoch, dass die Richtung, die dieses Gespräch nahm nicht hilfreich war. Er nahm defensiv die Arme herunter, blickte ihr gerade in die Augen und erklärte betont ruhig:

„Er ist mein Freund und er leidet! Er liebt dich und ich dachte bisher, du liebst ihn auch? Wieso tust du ihm das an?“
 

Etwas geschah mit Kathryn. Joe konnte es in ihrem Gesicht sehen, war aber nicht in der Lage, diese Miene eindeutig zu entschlüsseln.
 

Kathryn erwiderte leise:

„Liebe ist eben nicht immer genug! Und nun will ich wirklich nicht länger darüber sprechen.“

Sie atmete tief durch und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.
 

Ehe er sich zum Gehen wandte, erklärte Joe fest:

„Du sollst wissen, dass du ganz so einfach nicht davonkommst. James hat Freunde in diesem Haus und er wird am Samstag zu meiner Feier kommen wird, ob es dir passt, oder nicht!“
 

Kathryn hob den Kopf und sah aus, als ob sie ein Veto einlegen wollte, doch sie schwieg.
 

Die restliche Woche verbrachte James vollkommen allein. Er ging zur Arbeit und kehrte am Abend in sein stilles Zimmerchen zurück. Er suchte Joe nicht auf und obwohl er sich über die generelle Einladung von Rebecca, jederzeit hereinzuschauen gefreut hatte, traute er sich dennoch nicht, ihr nachzukommen.
 

Er vermisste Kathryn und versuchte immer noch zu verstehen, was schief gegangen war. Der Gedanke an Joes Geburtstagsfeier ließ ihn innerlich beinahe erstarren. Sicher, er freute sich einerseits darauf, seine Freunde zu treffen und Gesellschaft zu haben, doch er fürchtete sich auch davor, auf Kathryn zu treffen. Wenn er daran dachte, wie kalt und endgültig ihre letzten Worte an ihn geklungen hatten, dann gab es wohl keinen Zweifel daran, dass sie ihn nicht in ihrem Haus wollte.

James beruhigte sich schließlich mit dem Gedanken, dass er die Feier jederzeit verlassen konnte, wenn es zu schlimm würde.
 

Der Samstag kam und Joe war viel aufgeregter, als er dies vorher für möglich gehalten hatte.

Schon seit Tagen hatte er Lebensmittel herbeigeschafft und nun war er besonders früh aufgestanden und hatte in der Küche des roten Hauses mit dem Kochen begonnen.
 

Niemand, nicht einmal Tiny konnte wohl ermessen, was dieser besondere Geburtstag für ihn bedeutete. Es war keine zehn Monate her, als Joe in seinem Geburtstag; ja in seinem ganzen Leben keinen noch großen Wert gesehen hatte, aber nun war alles vollkommen anders: Zum ersten Mal in seinem jungen Leben hatte er Freunde, Liebe, ein Zuhause und eine Arbeit. Darüber war er überglücklich und er hatte den Wunsch, jenen Menschen, die er liebte zum Dank für alles etwas Besonderes zurück zu geben. Er war vielleicht kein großer Koch, doch er hatte alles minutiös geplant.

Als Tiny an diesem Morgen die Küche betrat und ihm von hinten die Arme um die Taille schlang, ließ sich Joe lediglich für einen ganz kurzen Moment von den Zärtlichkeiten ablenken, ehe er bedauernd erklärte:

„Tut mir leid, mein Großer, aber ich muss arbeiten!“
 

„Kann ich dir helfen?“ hatte Tiny wissen wollen, belustigt über den Feuereifer seines Geliebten.
 

Joe schüttelte den Kopf, schob einen Schinken in den Ofen und antwortete:

„Ich weiß, dass du ein großartiger Koch bist Thomas, aber das hier möchte ich ganz allein machen. Das ist mein Geschenk an euch!“
 

Tiny lächelte und entgegnete:

„Aber an seinem Geburtstag bekommt man doch Geschenke und macht sie nicht!“
 

Joe schmunzelte zurück:

„Mein Geschenk von euch habe ich doch schon erhalten: Es ist mein Leben!“
 

Um drei Uhr war das Essen endlich fertig und der Tisch bog sich geradezu unter mehreren Sorten Fleisch, Pasteten, Salaten, Süßspeisen und vielem mehr. Nach dem Frühstück hatte Joe niemanden mehr in die Küche gelassen.

Nun holte er die Anderen herbei und als alle Bewohner um den Tisch versammelt waren, blickte er zufrieden in die staunenden, hungrigen Gesichter.

Man begann gerade sich zu setzen, als auch schon die ersten Gäste an der Tür klopften. Es waren Felicity und Rebecca, die nicht weniger überwältigt waren, von der reich gedeckten Tafel.
 

James stand einige Minuten unschlüssig vor der Tür des roten Hauses, ehe er es endlich wagte zu klopfen. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwarten würde, wenn er eintrat, aber das, was dann tatsächlich geschah, hätte er mit Sicherheit nicht erwartet: Die Tür wurde ihm von Sam geöffnet, der James gleich aufgeregt um den Hals fiel und laut seinen Namen rief, als er ihn sah. Sofort kamen auch die anderen Kinder herbeigerannt und umklammerten seine Beine. Shy, Regine und Molly umarmten James nacheinander, gefolgt von Melody, welche elegant auf ihn zugeschwebt kam, ihn auf beide Wangen küsste und begrüßte und ihn mit lächelnd den Worten:

„Hallo schöner Mann. Es ist eine Freude dich zu sehen!“ begrüßte.
 

Margrete blieb auf ihrem Stuhl sitzen, doch sie reichte ihm beide Hände und schenkte ihm ein, zwar verhaltenes, aber dennoch warmherziges Lächeln.

Selbst Tiny umarmte ihn mit einem vielsagenden Seitenblick auf Kathryn.
 

Jeder im Haus wusste offenbar mittlerweile was geschehen war und sie gaben ihm zu verstehen, dass er hier immer noch willkommen war.
 

Kathryn beobachtete das Schauspiel grimmig aus sicherer Entfernung, tat so, als seien James und sie lediglich flüchtige Bekannte und nickte ihm knapp und unverbindlich von der anderen Seite des Tisches zu.
 

James nahm neben Joe, Felicity und Rebecca Platz und letztere bemerkte:

„Schade, dass du in den vergangenen Tagen nicht vorbeigeschaut hast. Wir hätten uns gefreut!“
 

James warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und murmelte:

„Ich fürchte, ich bin zurzeit keine besonders angenehme Gesellschaft.“
 

Rebecca schüttelte energisch den Kopf und erklärte bestimmt:

„Das ist Unsinn! Wir haben dich gern bei uns und du bist Joes Freund. Unsere Einladung war ernst gemeint, aber wenn es dir schwer fällt, spontan vorbeizukommen, wie wäre es, wenn wir es ganz konkret machen: Möchtest du morgen gegen sechs zu uns zum Abendessen kommen?“ An Felicity gerichtet fragte sie: „Was meinst du dazu, mein Liebling?“
 

Diese bestätigte lächelnd:

„Ja, das wäre sehr schön!“
 

James blickte verlegen lächelnd von der einen zu der anderen und erklärte schließlich:

„In Ordnung! Ich komme gern!“
 

Joe, der die Szene mit angesehen hatte, lächelte zufrieden in sich hinein.
 

In diesem Augenblick kam von der Tür her ein schüchternes Klopfen. Joe, der ahnte, um wen es sich handeln musste, sprang auf und öffnete.

Wie er erwartet hatte waren es Noah und Alice, welche sich dicht an die Tür drängten und sich nervös umblickten, ob auch niemand sie gesehen hätte:
 

„Kommt schnell rein ihr Zwei. Alle anderen sind bereits da.“ erklärte Joe munter und die beiden Jugendlichen folgten rasch der Aufforderung.

Schüchtern und unsicher betraten sie die Küche und blickten in die Menge der größtenteils fremden Gesichter, welche die unbekannten Neuankömmlinge neugierig musterten.
 

Joe legte um jeden der beiden Jugendlichen einen Arm und erklärte an die Anderen gerichtet:

„Ich möchte euch meine beiden neuen Freunde Alice und Noah vorstellen. Sie hatten ein wenig Angst, von ihren Eltern erwischt zu werden, aber sie haben sich dennoch getraut, heute zu meinem Geburtstag zu kommen und das freut mich sehr!“
 

Rebecca und Felicity erhoben sich, traten auf die beiden zu und umarmten die beiden Jugendlichen freudig. An Joe gerichtet erklärte Felicity:

„Wir kennen uns natürlich! Diese Zwei hier haben im vergangenen Jahr bei uns die Schule abgeschlossen!“
 

Die Lehrerinnen ließen sich von ihren ehemaligen Zöglingen ausführlich berichten, wie es ihnen in der Zwischenzeit so ergangen war. Danach führte Joe Alice und Noah herum und stellte sie den anderen Anwesenden vor.

Als sie zu Kathryn kamen bemerkte Joe, dass Alice diese unverhohlen anstarrte. Aber auch Kathryn betrachtete das Mädchen aufmerksam und interessiert.

Joe machte sie miteinander bekannt und erzählte kurz, wie er die beiden Jugendlichen getroffen hatte:
 

„Es freut mich sehr, euch kennenzulernen.“ erklärte Kathryn und reichte den jungen Leuten nacheinander zur Begrüßung die Hand: „Joe hat bereits ein wenig euch beiden berichtet. Danke für eure Anteilnahme für das, was neulich in der Kirche geschehen ist.“
 

Alice nickte. Sie fixierte Kathryn immer noch mit ihrem Blick und schließlich platzte sie mit vor Aufregung piepsender Stimme:

„Sie tragen Hosen, Ma´am!“
 

Kathryn konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie nickte und antwortete:

„Ja, manchmal trage ich Hosen. Ich finde sie sehr bequem. Gefallen sie dir nicht?“
 

Alice schüttelte den Kopf und beeilte sich zu sagen:

„Im Gegenteil! Sie gefallen mir sogar sehr. Ich wollte auch immer Hosen, aber mein Vater und meine Brüder würden mich umbringen!“
 

Kathryn lächelte aufmunternd und erwiderte:

„Der Tag wird kommen, wo sie dir nichts mehr verbieten können.“
 

„Ja, aber bis dahin haben sie mir dann sicher einen Ehemann ausgesucht, der mir Sachen verbieten will.“ erwiderte das Mädchen resigniert.
 

Kathryn wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Sie zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Ich weiß, das ist nicht leicht, aber wenn du es wirklich willst, wird es dir auch gelingen, dein Leben nach DEINEN Vorstellungen zu führen.“
 

„Hmm.“ Machte Alice zweifelnd

.

Sie mochte noch jung sein, doch sie ahnte offenbar bereits, dass sie dafür wohl würde Opfer bringen müssen.

Und ihr war ebenso klar, dass Kathryn Levroux für ihre Freiheit auch einen Preis bezahlt haben musste.
 

Joe setzte seine Führung fort, denn als nächstes wollte Joe den Jugendlichen Tiny vorstellen, auch wenn er plötzlich nervös wurde. Er wollte natürlich einerseits nicht verleugnen, in welchem Verhältnis er zu Tiny stand, hatte jedoch andererseits Angst davor, wie die beiden Jugendlichen wohl darauf reagieren mochten.

Schließlich entschied Joe sich für eine zweideutige Form der Vorstellung. Er hakte Tiny unter und erklärte:

„Dies ist mein Freund Thomas! Von allen anderen wird er hier aber Tiny genannt.“
 

Auch Tiny selbst verhielt sich zurückhaltender als sonst und hatte offenbar nicht die Absicht, den Jugendlichen gegenüber ein eindeutiges Bekenntnis ihrer Beziehung abzugeben. Stattdessen reichte er den beiden seine große Hand zur Begrüßung.

Insbesondere der schmächtige Noah schaute beeindruckt zu dem riesigen Mann auf.
 

Alice und Noah mischten sich unter die Leute und nach ihrer anfänglichen Unsicherheit schienen sie sich sogar recht wohl zu fühlen, wie Joe zufrieden feststellte. Sam hatte sich mittlerweile der beiden angenommen, offensichtlich erfreut darüber, endlich einmal mit anderen Jugendlichen zusammen sein zu können. Und natürlich waren die unvermeidlichen Spielkarten da auch nicht weit.
 

Aus der Ferne betrachtete Kathryn immer noch interessiert das fremde Mädchen Alice und registrierte, dass auch dieses ihr gelegentlich verstohlene Blicke zuwarf.

Schließlich gesellte sich Kathryn zu Rebecca und Felicity und erkundigte sich:

„Diese Alice scheint mir ein besonderes Mädchen zu sein. Was wisst ihr über sie?“
 

Rebecca zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Sie ist mir nie besonders aufgefallen.“
 

Felicity schmunzelte und meinte:

„Sie hat mir mindestens zwei Jahre lang in der Schule Briefchen geschrieben.“
 

Rebecca blickte ihre Geliebte mit großen Augen an und fragte:

„Was für Briefchen denn?“
 

Felicity zuckte grinsend mit den Schultern:

„Du weißt schon! Liebesbriefchen! Sie hatte offenbar zwischen ihrem zwölften und vierzehnten Lebensjahr eine kleine Schulmädchenverliebtheit für mich. Das passiert Kindern schon einmal mit ihren Lehrerinnen.“
 

Rebeccas Erstaunen wurde noch größer:

„Das hast du mir nie verraten!“ entgegnete sie ein wenig vorwurfsvoll.
 

Felicity kicherte leise und antwortete:

„Weil es dich auch gar nichts anging! Und ich habe es auch gar nicht ernst genommen!“
 

Kathryn fragte dazwischen:

„Glaubt ihr sie ist…“
 

„So wie sie dich die ganze Zeit anstarrt würde ich sagen ja, definitiv!“ erwiderte Felicity grinsend.
 

Kathryn schüttelte schmunzelnd den Kopf und zwinkerte Alice über den Tisch hinweg zu, welche daraufhin schlagartig den Blick auf die eigenen Füße richtete.
 

Rebecca war immer noch ein wenig beleidigt und wollte von Felicity wissen:

„Was hat sie dir denn geschrieben?“
 

Felicity schüttelte ungläubig den Kopf:

„Bist du etwa eifersüchtig? Sie war damals doch noch so klein. Und das, was sie geschrieben hat, war doch bloß das übliche schwärmerische Zeug. `Sie haben so hübsche Augen, Miss Owens!´, `Das hier ist eine Zeichnung von meinem Lieblingspferd, Miss Owens!´ Du weißt schon! Sie ist doch ohne Mutter aufgewachsen, wahrscheinlich deswegen?“
 

„Aha!“ machte Rebecca knapp und fuhr fort: „Aber nun ist sie nicht mehr so klein, richtig? Sie ist schon fast erwachsen!“
 

„Stimmt!“ gab Felicity zurück: „Sie ist im letzten Jahr noch einmal ganz schön in die Höhe geschossen. Jetzt erinnert sie mich an dich als du jung warst, meine Liebste. Die schlaksige Figur und die langen Arme und Beine, mit denen sie noch nichts anzufangen weiß. Eigentlich ganz süß?“
 

Rebecca brummte!
 

Felicity legte leise lachend einen Arm um ihre Freundin und erklärte gutmütig: „Aber wie es scheint, hast du nichts zu befürchten, denn offensichtlich hat Alice ihr Interesse mittlerweile auf unsere Kathryn verlagert.“
 

Nachdem sie etwa eine Stunde geblieben waren, wurden Alice und Noah unruhig. Sie gingen hinüber zu Joe und erklärten, dass sie nun wieder gehen müssten, ehe es dunkel wurde:

„Es war sehr schön hier bei euch…“erklärte Noah schüchtern: „…doch wir sollten jetzt lieber nachhause zurückkehren, ehe unsere Eltern uns Fragen darüber stellen, wo wir gewesen sind!“
 

Joe nickte und antwortete:

„Ich fand es auch wirklich schön, dass ihr da gewesen seid.“
 

Alice erkundigte sich mit einem letzten schwärmerischen Blick auf Kathryn, der auch Joe nicht entgangen war:

„Glaubst du, wir können vielleicht irgendwann einmal wieder kommen?“
 

„Ganz bestimmt!“ versicherte Joe mit einem zwinkern.
 

James war froh, dass alle seine Freunde ihm so deutlich zeigten, dass er willkommen war, auch wenn er und Kathryn kein Paar mehr waren. Doch auf Kathryn zu treffen und zu wissen, dass er nicht mehr einfach zu ihr hinübergehen konnte, um sie zu küssen oder zu umarmen; zu wissen, dass sie ihn nicht mehr haben wollte, tat ihm dennoch weh.

Wie ferngesteuert musste er immer wieder zu ihr hinüberschauen; ihre elegante, kraftvolle hochgewachsene Gestalt, das lockige rote Haar, die ebenmäßigen Züge. Schließlich erwischte Kathryn ihn dabei, wie er sie anstarrte und der kalte, ärgerliche Blick, den sie zurückwarf, traf James wie ein Schlag ins Gesicht.

Also richtete er seinen Blick stattdessen aus dem Fenster, doch was er dort erblickte, riss ihn mit einem Mal aus seiner trübsinnigen Verfassung:

„Dieser verdammte Mistkerl.“ knurrte James halblaut, stieß Joe an, welcher neben ihm saß und deutete mit dem Kinn nach draußen. Etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt befand sich Bob Carmichael auf einem Pferd sitzend:
 

„Oh, verdammt!“ rief Joe aus.
 

James sprang auf und wollte bereits hinaus laufen, doch Joe hielt ihn zurück:
 

„Bleib du hier im Haus bei Margarete. Er bringt dich nicht mit uns in Verbindung. Vielleicht können wir das später irgendwann noch einmal zu unserem Vorteil nutzen.“
 

Widerwillig blieb James zurück. Inzwischen waren auch die Anderen aufmerksam geworden. Tiny, Kathryn und Shy waren bereits auf dem Weg nach draußen und Joe folgte ihnen.
 

Leider hatte Margarete Carmichael auch gesehen und sie war starr vor Schrecken. Melody hielt ihre Schwester im Arm und James trat auf die beiden zu. Er nahm sanft Margaretes Hand und sagte:

„Hab` keine Angst, Liebes! Wir werden ihn NIE WIEDER in deine Nähe lassen!“
 

Molly und Regine hatten ängstlich ihre Kinder um sich geschart und Felicity und Rebecca postierten sich vor dem Fenster, um zu sehen, was vor sich ging und ob ihre Hilfe draußen nötig wäre, doch als Carmichael die Gruppe aus dem roten Haus auf sich zukommen sah, ritt er eilig davon.
 

Tiny, Kathryn, Joe und Shy kamen wieder zurück ins Haus.
 

Shy hielt eine Schachtel in der Hand und erklärte:

„Das hat der Dreckskerl uns vor die Tür gelegt.“
 

Sie öffnete die Box. Darin fand sich ein blutiges Ochsenherz und dabei war eine Karte auf welcher die Worte `Bald, mein Liebling!´ zu lesen waren.
 

Margarete warf einen Blick über Shys Schulter und erblickte die, an sie gerichtete Botschaft.

Sie begann zu Zittern.
 

****

Bob war etwas klar geworden: Es waren ihre Freunde, die ihn nicht zu ihr lassen wollten. Darum musste er ihr diese Botschaft zukommen lassen. Er musste sie wissen lassen, dass er sie nicht vergessen hatte. Und heute war er vorbereitet gewesen. Auf dem Pferd war er im Nu verschwunden. Aber vorher hatte er sie noch kurz durch das Fenster sehen können!

****

Botschaft angekommen!

„Ich schaffe diesen Mist jetzt aus unserem Haus“ rief Shy aufgebracht und griff nach der Schachtel mit dem unheimlichen Inhalt, doch wurde sie von Margarete aufgehalten.

Diese atmete tief durch, nahm die Schachtel an sich und erklärte tapfer:

„Carmichael hat mir eine Nachricht geschickt. Jetzt schicke ich IHM eine!“
 

Sie nahm ein großes Messer aus einer Schublade und trug es, gemeinsam mit der Box zur Haustür hinaus. Die Anderen folgten ihr, um zu sehen, was sie vorhatte.
 

Margarete stieß das Messer durch die Karte und das Ochsenherz und pinnte beides zusammen mit einem energischen Hieb an die Hauswand:

„Ich will, dass das hier hängenbleibt und er es bei seinem nächsten Besuch sieht.“ sagte Margarete entschieden und fügte hinzu: „Und nun will ich, das weiter gefeiert wird. Drinnen ist noch reichlich zu essen und Joe hat noch immer Geburtstag!“
 

Niemand widersprach ihr und nach und nach folgten ihr alle wieder zurück in das Haus. Joe legte Margarete im Gehen einen Arm um die Taille und versicherte:

„Das machst du gut! Weiter so!“
 

Eine ganze Weile später an diesem Abend trat James auf Kathryn und Tiny zu und erklärte:

„Ich denke ich sollte von zuhause meine Waffe holen, wiederkommen und heute Nacht hier bei euch bleiben. Was meint ihr dazu?“
 

Er blickte bei der Frage erwartungsvoll auf Kathryn, dennoch war es Tiny, der ihm antwortete:

„Das ist eine gute Idee! Ich werde dir im Gemeinschaftsraum ein Feldbett aufstellen.“
 

Kathryn nickte lediglich flüchtig und entfernte sich dann wortlos.
 

James schluckte schwer angesichts dieser Gleichgültigkeit und Tiny legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte:

„Nimm`s nicht so tragisch, Kleiner!“
 

„Ich verstehe das einfach nicht! Was habe ich denn bloß falsch gemacht?“ erwiderte James beklommen.
 

„Ich bezweifle, dass du etwas falsch gemacht hast. Ich vermute, Kathryn weiß selbst nicht, was sie will und was das Problem ist.“ entgegnete Tiny: „Gib ihr ein wenig Zeit! Und lass` dich bloß nicht von ihr vergraulen. Wenn du hartnäckig bleibst, wird sie sich der Angelegenheit irgendwann stellen müssen!“
 

James zuckte unschlüssig mit den Schultern und machte sich auf den Weg.
 

Die Bewohner des roten Hauses ließen die Hunde hinaus, die Laut geben würden, falls ein Fremder sich nähern sollte, doch die Nacht verlief ruhig und es gab keine weiteren Besuche von Bob Carmichael.
 

Bevor James auch am Sonntagabend in das rote Haus zurückkehren würde, um ein weiteres Mal seinen Wachposten zu beziehen, nahm er noch die Essenseinladung bei Rebecca und Felicity wahr. Er hatte eine Flasche Wein mitgebracht, da er nicht mit leeren Händen erscheinen wollte und war erleichtert, dass auch Joe anwesend war. James fühlte sich ein wenig unsicher, da er die beiden Frauen noch nicht gut kannte und fürchtete, es würden sich keine Gesprächsthemen ergeben.
 

Rebecca war in der Küche noch mit dem Essen beschäftigt. Felicity und Joe hatten sich gemeinsam mit James am Tisch niedergelassen.

Bei seinem ersten Besuch im Haus der beiden Frauen war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um sich genauer umzusehen. Dies holte er heute nach und ihm fiel auf, wie gemütlich es hier war. Die schweren dunklen Holzmöbel, die Wandteppiche, die Zierkissen; alles war mit Liebe ausgesucht und gepflegt:

„Euer Zuhause ist sehr schön!“ erklärte er aufrichtig.
 

Felicity lächelte und gab zurück:

„Ja, wir fühlen uns wohl hier. Vielen Dank. Aber sag´ mal, wie geht es dir denn eigentlich? Es schien nicht leicht für dich gewesen zu sein, gestern auf Kathryn zu treffen.“
 

James zuckte traurig mit den Schultern und antwortete:

„Sie verhält sich, als wären wir Fremde füreinander. Ich begreife das noch immer nicht.“
 

„Ich denke, ihre Gleichgültigkeit ist nur gespielt.“ erwiderte Felicity nachdenklich: „So, wie ich sie kenne versucht sie damit bloß, euch beiden die Trennung leichter zu machen.“
 

James schlug die Hände vor sein Gesicht, um niemanden sehen zu lassen, dass er weinte, doch da war es ohnehin schon zu spät.
 

Felicity rückte mit ihrem Stuhl an ihn heran und legte einen Arm um ihn:

„Es ist in Ordnung!“ versicherte sie sanft.
 

Joe seinerseits rückte dicht an James andere Seite und zerzauste dem Freund kraulend das Haar.
 

Irgendwann trocknete sich James Augen und Nase mit seinem Ärmel und murmelte:

„Es tut mir leid! Ich verderbe euch den Abend!“
 

Felicity lächelte kopfschüttelnd und erwiderte:

„Das ist doch Unsinn! Ich finde es erfrischend, dass du so offen mit deinen Gefühlen umgehst. Ich mag es nicht, wenn Menschen versuchen, sich zu verstellen.“
 

In diesem Moment trat Rebecca mit dem Essen an den Tisch. Sie hatte von der Küche aus mitbekommen, worüber die anderen sich unterhalten hatten und stimmte ihrer Geliebten zu:

„Genau! Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du traurig bist, James!“
 

James holte noch einmal tief Luft, zwang sich zu lächeln und erwiderte:

„Danke, aber ich würde nun trotzdem lieber das Thema wechseln, um auf andere Gedanken zu kommen. Das Essen riecht großartig! Was ist es denn?“
 

Rebecca begann lächelnd, die Teller aufzufüllen:

„Es ist ein Schmorgericht mit Kaninchenfleisch und Rüben. Ein Familienrezept!“
 

Sie begannen schweigend zu essen, bis James sich traute, die beiden Frauen zu fragen:

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“
 

Nun begannen die Frauen abwechselnd zu berichten, wie sie sich während des Studiums zufällig ein Zimmer geteilt hatten, sich erst nach und nach ihrer Gefühle füreinander bewusst geworden waren und zankten sich liebevoll ein wenig darüber, welche von beiden damals den Anfang gemacht hatte.
 

James fiel auf, dass die Geschichte klang, als haben die beiden sie schon dutzende Male erzählt.

Es schmeichelte ihm, dass sie ihm gegenüber so frei von ihrer Verbindung zueinander sprachen. Es gab ihm das Gefühl kein Fremder, sondern ein Freund zu sein.
 

Als sich Joe und James später auf den Weg zum roten Haus machen wollten, fühlte James sich innerlich ein wenig gewärmt und er war sich sicher, dass dies nicht allein am Schmortopf lag. Die beiden Frauen verabschiedeten sich von ihm mit einer Umarmung und der Wiederholung ihrer Einladung, jederzeit zu Besuch zu kommen, wenn ihm danach war. James bedankte sich und Joe und er begaben sich hinaus in die kühle Nacht.
 

„Sie sind großartig, oder nicht?“ fragte Joe, als sie wieder unter sich waren.
 

„Du hast es wirklich gut getroffen!“ bestätigte James.

Er spürte plötzlich Unbehagen in sich aufsteigen. Gleich würde er wieder Kathryn gegenüberstehen, obwohl diese ihn eigentlich nicht sehen wollte.
 

Joe erriet seine Gedanken:

„Geh` Kathryn einfach aus dem Weg. Halte dich an Tiny, mich und an die Anderen.“

Er drückte aufmunternd James Schulter.
 

Inzwischen waren sie angekommen und traten ein. Sam freute sich, sie zu sehen und verhaftete sie sogleich zu einem gemeinsamen Kartenspiel, bis es Zeit für ihn war, schlafen zu gehen.
 

Der Abend wurde später und nach und nach zogen sich alle in ihre Schlafräume zurück. Zuletzt ließ dann auch noch Joe James im Gemeinschaftsraum zurück und begab sich nach oben.und James selbst legte sich auf seinem engen Feldbett ebenfalls zur Ruhe.

Irgendwann mitten in der Nacht erwachte er jedoch von dem Gebell der Hunde vor dem Haus. Er zog seine Stiefel an, griff nach seiner Waffe und erhob sich, vermied es jedoch, Licht zu machen.

Das Bellen wurde lauter und plötzlich wurde daraus ein klägliches Winseln, ehe es erstarb. James zog vorsichtig die Vorhänge beiseite und blickte hinaus.

Draußen bewegte sich ein Schatten!

James war einen Moment lang unschlüssig, was er tun sollte? Wenn er nach oben ginge, um Verstärkung zu holen, riskierte er möglicherweise, dass jemand unbemerkt ins Haus käme. Allerdings fürchtete er auch, Carmichael, wenn er es denn war, allein nicht gewachsen zu sein.
 

Schließlich erkannte James, dass er keine Wahl hatte. Er musste nachschauen gehen! Er öffnete leise die Haustür und trat hinaus.
 

Es war eine Vollmondnacht und der Sternenhimmel war vollkommen wolkenlos. James konnte recht gut sehen und war sich dessen bewusst, dass dies ebenso bedeutete, dass er auch gut auszumachen war. Er hielt sich nah an der Hauswand und bemühte sich, möglichst wenig Krach zu machen. Sein Herz raste wie verrückt und seine Waffe gab ihm nicht so viel Selbstvertrauen, wie er gehofft hatte. Carmichael, das musste er sich ehrlicherweise eingestehen, machte ihm Angst, denn er war rücksichtslos, brutal und ganz offensichtlich auch verrückt und besessen.
 

James konnte niemanden sehen, erblickte dann jedoch einen der Hunde, welcher regungslos an der Erde lag. Er kniete nieder, um sich das Tier anzuschauen und stellte fest, dass es in einer Lache seines eigenen Blutes lag. Es war tot!

James nahm ein kleines, winselndes Geräusch nur einige Meter von seinem Standort entfernt wahr. Dort entdeckte er den zweiten Hund, der ebenso wie der erste offenbar einer Messerattacke zum Opfer gefallen war.

Zu spät hörte James die Schritte, die sich ihm von hinten näherten. Er konnte sich gerade noch umwenden und mit einem Block seiner Hände verhindern, dass das Messer, welches auf ihn hernieder sauste, schlimmen Schaden anrichtete. Es verursachte lediglich Schnittwunden links an Hand und Arm.

Der erhaltenen Hieb durch den Angriff und auch der Schreck destabilisierten James, so dass er auf den Rücken fiel. Vom Boden aus trat er nun nach seinem Angreifer, der erneut auf ihn losging. Der Tritt traf den Mann, bei dem sich James fast sicher war, dass es sich um Carmichael handeln musste, obgleich er sein Gesicht nicht erkennen konnte, im Magen und schleuderte ihn zurück. James erhob seine Waffe und drückte ab, doch es war dunkel und James verletzt und aufgebracht. Außerdem stellte der taumelnde Angreifer ein bewegliches Ziel dar und James war zudem auch nicht der allerbeste Schütze.

So kam es, dass er sein Ziel verfehlte und dem Täter die Flucht gelang.
 

Alarmiert durch den Schuss traten nach und nach alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses vor die Tür. Sie hatten Lampen dabei und schließlich entdeckten sie James und die beiden Hunde. Joe und Kathryn rannten auf James zu, doch dieser gab Entwarnung:

„Halb so schlimm!“ erklärte er, rappelte sich auf und hielt sich den verletzten Arm:
 

„Carmichael?“ fragte Kathryn knapp.
 

James nickte:

„Ich konnte ihn nicht genau sehen, aber ich würde sagen, ja!“ Dann fügte er hinzu „Einer der Hunde lebt noch. Vielleicht schafft er es ja, wenn er sofort versorgt wird?“
 

Kathryn kniete neben dem toten Tier nieder und streichelte ihm zärtlich über den Kopf. Dann wandte sie sich dem verletzen Hund zu. James trat seitlich an sie heran und konnte sehen, dass sie weinte. Sie erhob sich und James, dem es in diesem Moment gleichgültig war, wie sie gegenwärtig zueinander standen, legte seinen unverletzten Arm um sie, um sie zu trösten.
 

Eine kleine Weile ließ sie es sich gefallen und vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, ehe sie sich auf das besann, was nun getan werden musste. Sie räusperte sich und sagte:

„Wir brauchen einen Arzt! Jemand soll den Doktor holen! Aber ich will nicht, dass jemand allein dort raus geht, falls ihr Carmichael in die Arme lauft.“
 

Und so machten sich Joe und Tiny auf den Weg zu Doktor Millers Haus.
 

Kathryn und James traten zu den anderen Frauen, wo Margarete gerade etwas entdeckt hatte: Das Ochsenherz und die Karte mit dem Messer waren verschwunden!
 

„Er hat meine Botschaft bekommen und sie hat ihm offenbar nicht gefallen!“ erklärte Margarete nüchtern.
 

Sie kehrten ins Haus zurück. Sam hatte mittlerweile den verletzten Hund aufgehoben und trug ihn vorsichtig ins Haus, wo er und seine Schwestern Mia und Lois ihn versorgten, so gut sie konnten.
 

Kathryn und Melody wollten sich nun James Verletzung anschauen:

„Zieh` dein Hemd aus!“ wies Kathryn ihn an.
 

James blickte sie unsicher an, denn ihm behagte es nicht, in einem Raum voller Frauen mit freiem Oberkörper herumzusitzen.
 

Kathryn verdrehte die Augen:

„Nun mach` schon und stell` dich nicht so an!“ herrschte sie ihn an: „Glaub mir; jede hier hat schon einmal einen nackten Mann gesehen. Ich will mir doch bloß deine Wunden anschauen, also los!“
 

James kam ihrer Aufforderung zögerlich nach. Nun, da die Aufregung ein wenig von ihm abfiel bemerkte er erst, dass seine Schnittwunden zu schmerzen begannen.
 

Kathryn betrachtete stirnrunzelnd seine Verletzungen:

„Drei Schnitte. Der hier…“sie berührte zart seinen Oberarm“…sieht ziemlich übel aus!“
 

James blickte Kathryn zunächst ins Gesicht und dann auf die Hand welche seinen Arm berührte, was sie veranlasste, ihre Finger rasch fortzuziehen:

„Tut es weh?“ erkundigte sie sich.
 

„Es kommt darauf an, wovon du sprichst!“ gab er leise zurück .
 

In diesem Moment trafen die Männer mit Doktor Miller wieder ein und retteten Kathryn davor, darauf zu antworten.
 

Der Arzt wollte sogleich James versorgen, doch dieser forderte:

„Vielleicht kümmern sie sich besser erst einmal um den Hund. ich werde es überleben, der arme kleine Kerl vielleicht nicht.“
 

Kathryn lächelte leise über seine Fürsorge für das verwundete Tier, doch das konnte James nicht sehen, da sie hinter ihm stand.
 

Nachdem der Doktor dem Hund tatsächlich das Leben retten konnte, spritzte er James ein Schmerzmittel und vernähte dann die Schnittwunden.
 

Als er seinen Patienten versorgt hatte, erkundigte sich der Doktor:

„Weiß Sheriff Snyder was hier vorgeht?“
 

James schüttelte den Kopf:

„Nein, bislang habe ich mich noch privat als Freund um die Angelegenheit gekümmert, doch gleich morgen früh werde ich ihm erklären, dass ich in dieser Sache nun offiziell ermitteln werde.“

Und missmutig fügte er hinzu:

„Ich fürchte nur, der Fall wird für den Sheriff keine allzu große Priorität haben.“
 

Der Doktor nickte:

„Ich denke, da haben sie Recht. Ich werde Sheriff Snyder morgen aufsuchen und ihm erklären, dass es auch mir persönlich ein Anliegen ist, dass diesem Carmichael das Handwerk gelegt wird. Vielleicht hilft das ja ein wenig?“
 

Der Doktor verabschiedete sich und die Bewohner versammelten sich in der Küche des Hauses. Joe hockte sich neben James und knuffte ihm ärgerlich auf den gesunden Arm:

„Wieso bist du allein dort raus gegangen? Du hättest tot sein können, du Spinner!“ schimpfte er.
 

James blickte ihn entschuldigend an und erwiderte:

„Es tut mir leid, aber es musste alles so schnell gehen!“
 

„Es war sehr mutig von dir, das zu tun.“ erklärte Margarete anerkennend.
 

Bescheiden erwiderte James:

„Ich habe mich ehrlich gesagt nicht besonders mutig dabei gefühlt. Ich hätte mir vor Angst beinahe in die Hosen gemacht! Aber ich habe es dir ja versprochen, wir lassen ihn nie wieder in deine Nähe!“
 

Margarete trat auf ihn zu, berührte sanft seinen verletzten Arm und erwiderte gleichzeitig streng und auch liebevoll:

„Das bedeutet aber nicht, dass du deswegen dein Leben auf` s Spiel setzen darfst, Deputy!“
 

„Wie soll es nun weitergehen?“ wollte Kathryn wissen.
 

„Ich werde ab morgen offiziell gegen Carmichael vorgehen.“ erklärte James fest: „Mir ist egal, was Snyder dazu sagt. Ihr verdient den Schutz des Gesetzes ebenso, wie alle anderen Leute von Millers Landing.“
 

Tiny und Joe blieben den Rest der Nacht bei James im Gemeinschaftsraum. Alle anderen kehrten in das obere Stockwerk zurück. Kathryn war die Letzte und erklärte im Hinaufgehen an James gewandt:

„Ich bin froh, dass es dir gut geht!“
 

James nickte.

Immerhin war es ihr nicht gleichgültig ob er lebte oder starb.
 

Es klopfte an Mollys Schlafzimmertür. Sie war nicht überrascht, beim Öffnen Regine zu sehen, welche die Arme fest um ihren Körper geschlungen hatte und elend dreinblickte. Molly ließ die Freundin eintreten und beide nahmen auf ihrem Bett Platz:
 

„Ich weiß nicht, ob ich diese Situation hier noch lange aushalte!“ platzte Regine heraus.
 

Molly nickte:

„Ich weiß, was du meinst!“
 

„Das, was mit Margarete geschehen ist, ist so furchtbar und es hätte jeder Anderen von uns genauso gut passieren können.“ fuhr Regine fort: „Ich weiß nicht, wie sie überhaupt damit zurecht kommt. Und nun belagert dieser Mistkerl auch noch unser Haus. Ich kann nachts gar nicht mehr schlafen! Manchmal denke ich darüber nach, einfach meine Kinder zu nehmen, zu verschwinden und irgendwi anders neu anzufangen!“
 

Molly blickte sie bestürzt an und wollte wissen:

„Wie kannst du an so etwas überhaupt nur denken? Wo willst du denn hingehen?“
 

Regine zuckte hilflos mit den Schultern und antwortete:

„Ich weiß es doch auch nicht! Irgendwo hin, wo es sicher ist!“
 

Molly schüttelte traurig den Kopf und fragte:

„Und wo soll das sein? Sicherheit gibt es für Menschen wie uns nicht! Hast du das noch nicht verstanden, Mädchen? Und hier haben wir wenigstens einander!“
 

„Du hast Recht!“ gab Regine kleinlaut zurück: „Aber anderswo können wir wenigstens Geld verdienen. Ich bin zwar einerseits irgendwie froh, dass wir gerade nicht arbeiten, denn nach allem, was passiert ist, könnte ich es jetzt auch nicht, doch ich fürchte, das geht finanziell nicht mehr lange gut!“
 

Molly lüftete ihre Bettdecke und bestimmte:

„Weißt du was? Du bleibst heute Nacht einfach erst mal bei mir. Wir passen einfach gegenseitig auf einander auf!“
 

****
 

Bob hatte die Kugel haarscharf an seinem Kopf vorbei sausen hören, doch der Wolf hatte ihn beschützt. ER wollte, dass er lebte, um seine Mission zu vollenden.

Bob hatte nicht erwartet, den Deputy dort anzutreffen. Offenbar wollte dieser Kerl sie für sich haben, aber er war ihrer nicht würdig.

Er war schwach!
 

Ihr war es dennoch gelungen, ihm eine Botschaft zu schicken: Sie war bereit für ihn, wartete auf ihn! Es würde nicht mehr lange dauern.
 

****
 

Am nächsten Morgen blickte Snyder seinen Deputy fassungslos an:

„WAS ist los? Du hältst nachts Wache drüben in dem Freudenhaus? Wie kommst du dazu?“
 

„Der Neffe der Lehrerin Miss Owens hat mich darum gebeten. Er ist ein Freund von mir.“ erwiderte James. Er war nicht der geborene Lügner, doch er hatte einmal gehört, dass es am erfolgreichsten sei, wenn man sich beim Lügen so nah wie möglich an die Wahrheit hielt. Er fuhr fort: „Und ich werde diesen Carmichael genau im Auge behalten. Ich halte ihn für gefährlich! Es ist unsere Aufgabe, die Menschen in dieser Stadt zu beschützen und das gilt nicht nur für die Personen, die uns persönlich gefallen. Ich rechne damit, dass sie mich nach Kräften in dieser Angelegenheit unterstützen werden Sheriff!“ In die letzten Worte hatte sehr viel Entschlossenheit gelegt.
 

Wie aufs Stichwort kam in diesem Augenblick Doktor Miller durch die Tür, um James Standpunkt zu untermauern:

„Ihr Deputy wurde angegriffen, Sheriff. Der junge Mann könnte jetzt tot sein, wenn er nicht so gut reagiert hätte. So hat er glücklicherweise nur Abwehrverletzungen davongetragen. Dieser Carmichael ist ein messerschwingender Verrückter und wenn sie nicht tätig werden, haben wir bald einen Berg Leichen hier, den sie dann zu verantworten haben, Snyder!“
 

Auch wenn dem Sheriff insgeheim die Vorstellung gefiel, Kathryn Levroux und ihre Huren als Tote vor sich aufgestapelt zu sehen, Doktor Miller schien sehr aufgebracht zu sein. Er war ein Mann mit einigem Einfluss im Ort. Es wäre unklug, ihm zu widersprechen. Er selbst hatte zwar wirklich wichtigere Dinge zu tun, aber sollte Jimmy sich doch um diesen Mist kümmern, wenn es ihm so viel bedeutete! Anscheinend wollte er sich ja unbedingt mit diesem Abschaum abgeben.

Und so versprach Snyder nickend:

„Wir nehmen uns der Sache an, Doktor! Es wird für meinen Deputy nun die oberste Priorität haben, diesen Mann Carmichael dingfest zu machen, aber bislang haben wir noch keine konkreten Beweise. Man hat Carmichael drüben beim roten Haus dabei erwischt, wie er auf deren Land herumgestrichen ist und Jimmy wurde zwar angegriffen, aber er hat den Kerl ja nicht genau erkannt. Es könnte doch auch jemand anders gewesen sein. Diese Leute dort im „Yasemines“ machen sich ja schließlich nicht nur Freunde mit ihrem Lebenswandel. Ich brauche mehr als das, um Carmichael einzubuchten!“
 

Miller schien vorerst zufriedengestellt zu sein und verabschiedete sich.
 

An seinen Deputy gewandt sagte der Sheriff:

„Du hast es gehört! Der Fall gehört dir! Aber lass dich von dem Pack da drüben nicht einwickeln. Die sind nicht so wie wir, hörst du? Und sie ziehen dich im Nu mit sich in den Dreck, wenn du nicht aufpasst!“
 

James Gesicht verhärtete sich doch er schwieg.

Er nickte.
 

Joe erhielt an diesem Morgen wieder einmal Besuch im Laden. Seltsamerweise jedoch kam Alice heute erstmals allein. Das Mädchen wirkte angespannt, hielt sich zunächst wie zuvor auch schon in der Nähe der Tür auf und grüßte Joe von dort aus. Schließlich schien sie sich ein Herz zu fassen und trat zu ihm an die Ladentheke. Als sie nun direkt vor ihm stand, entdeckte er etwas, was ihm bis dahin nicht aufgefallen war: Ihr linkes Auge war blau, so als habe sie sich geprügelt!

Besorgt trat Joe hinter dem Tresen hervor und legte eine Hand an ihre Wange, um sich die Verletzung genauer anzuschauen.
 

Alices Körper versteifte sich bei der Berührung:

„Nicht!“ sagte sie und trat einen Schritt zurück.
 

Auch Joe zog sich ein wenig von dem Mädchen zurück und hielt defensiv die Hände in die Luft, um ihr zu signalisieren, dass er keine Bedrohung darstellte:

„Wer hat dir das angetan!“ wollte er wissen.
 

Alice schüttelte den Kopf und sagte:

„Ich will nicht darüber sprechen!“ Dann fügte sie hinzu: „Aber ich brauche Hilfe! Ich kann nicht nachhause zurück!“
 

Joe musste sofort an seine eigene Familiengeschichte denken und schlug vor:

„Komm´ heute um halb sechs wieder hierher. Ich nehme dich dann mit hinüber ins rote Haus. Dort sehen wir weiter.“
 

Das Mädchen nickte bloß und verschwand ohne ein weiteres Wort.
 

Joe und Alice achteten sorgsam darauf, von niemandem gesehen zu werden, während sie zum roten Haus hinüberliefen. Als sie dort ankamen, war man gerade beim Abendessen.

Die am Tisch Sitzenden blickten die beiden gespannt an und Joe begann zu erklären:

„Alice kam heute Morgen zu mir. Sie sagt, sie kann mir nicht sagen, was los ist, aber sie kann nicht zurück zu ihrer Familie und sie braucht eine Bleibe. Sie ist verletzt!“ Er deutete auf das Veilchen: „Werdet ihr dem Mädchen helfen?“ fiel er direkt mit der Tür ins Haus.
 

Kathryn erhob sich stirnrunzelnd vom Tisch, trat auf Alice zu und tat, was Joe heute Morgen schon getan hatte; sie nahm Alices Gesicht in ihre Hände und betrachtete das blaue Auge, jedoch mit dem Unterschied, dass Alice es sich von Kathryn gefallen ließ.
 

„Wenn du bei uns Unterschlupf suchst, wirst du uns sagen müssen, was vorgefallen ist, damit wir wissen, worauf wir uns einlassen und ob es einen triftigen Grund gibt.“ erklärte Kathryn streng: „Du bist ein Kind. Deine Familie wird nach dir suchen und wir können hier weiß Gott nicht noch mehr Schwierigkeiten gebrauchen. Ich schlage vor, du isst jetzt erst mal mit uns und dann erzählst du uns die ganze Geschichte.“
 

Alice schluckte schwer. Dann sagte sie kleinlaut:

„Ich würde meine Geschichte aber lieber nur ihnen erzählen, Madame Levroux.“
 

„Einverstanden!“ sagte Kathryn und bot an, das Mädchen möge sie beim Vornamen nennen.
 

Kaum hatten sich die Zwei gesetzt, öffnete sich die Tür erneut. Es war James, der berichtete, was heute im Sheriffsdepartment vorgefallen war:

„Ich ermittle nun offiziell gegen Bob Carmichael, auch wenn Snyder das eigentlich nicht passt. Heute Abend werde ich noch einmal hier Wache halten und ab morgen früh hefte ich mich an die Fersen dieses Mistkerls.“
 

James hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da ging die Tür ein drittes Mal und herein traten Rebecca und Felicity.
 

„Das ist ja wie im Taubenschlag hier!“ kommentierte Shy genervt, die Störungen beim Essen gar nicht liebte.
 

Die beiden Lehrerinnen blickten betreten drein, entschuldigten sich und Rebecca erklärte dann:

„Wir haben eine große Bitte an Euch. Wir wissen, ihr habt im Augenblick andere Sorgen, also glaubt uns bitte, dass wir uns nicht an euch wenden würden, wenn wir eine weitere Option hätten.“
 

Die Anwesenden blickten die beiden neugierig an.
 

„Jetzt macht es doch nicht so spannend!“ forderte Melody.
 

Unsicher fuhr Rebecca fort:

„Nächste Woche ist es soweit; Justine Carpenter kommt mit fünf weiteren Frauen aus Boston hierher nach Millers Landing. Wir hatten Hotelzimmer für sie gebucht, doch irgendwie ist nun herausgekommen, zu welchem Zweck die Damen anreisen und nun werden sie die Zimmer nicht bekommen. Wir haben bereits jede andere mögliche Adresse in Millers Landing probiert, doch niemand ist bereit, diese Frauen aufzunehmen! Wir hatten auch schon daran gedacht, die Damen behelfsweise im Schulgebäude schlafen zu lassen, doch das wurde von der Stadtverwaltung abgelehnt und unser eigenes Haus ist viel zu klein.“
 

„Und nun wollt ihr sie hier bei uns unterbringen?“ wollte Kathryn wissen.
 

Die beiden Lehrerinnen nickten. Felicity erläuterte kleinlaut:

„Das andere Haus drüben steht doch zurzeit leer und verfügt über mehrere Schlafzimmer. Und wir haben uns gedacht, dass diese Lösung auch für euch von Vorteil sein kann. Die Damen sind allesamt wohlhabend. Sie könnten das, was sie für das Hotel bezahlt hätten doch genauso gut euch geben und damit euren momentanen finanziellen Engpass überbrücken.“
 

„Aber was werden die Damen wohl zu der Belagerungssituation durch Carmichael sagen. Was werden sie dazu sagen, dass man sie in einem Bordell unterbringen möchte?“ fragte Kathryn skeptisch.
 

Rebecca zuckte mit den Achseln und antwortete:

„Ich würde in dieser Sache mit offenen Karten spielen und dann die Frauen entscheiden lassen, ob sie sich auf die Situation, so wie sie ist einlassen wollen, oder ob sie unverrichteter Dinge wieder heimkehren möchten.“
 

Nun folgte eine Diskussion, an der sich alle Bewohnerinnen und Bewohner des roten Hauses beteiligten.

Die Frauen teilten die Ansicht, dass diese Wendung des Schicksals sie vorübergehend aus ihrer gegenwärtigen finanziellen Bredouille retten konnte und so kamen sie schließlich überein, die Bostonerinnen bei sich aufnehmen zu wollen.
 

Nach dem Abendessen nahm Kathryn Alice mit sich in ihr Zimmer und sie ließen sich auf deren Bett nieder. Kathryn schaute das Mädchen erwartungsvoll an, doch diese hatte offensichtlich nicht die Absicht, von sich aus etwas zu erzählen. Stattdessen blickte sie Kathryn ebenso schwärmerisch an, wie bereits schon zuvor auf der Geburtstagsfeier von Joe.

Als Kathryn genug davon hatte, angestarrt zu werden und zu warten, fragte sie schließlich, auf das blaue Auge deutend:

„Also? Wer hat das getan?“
 

Nun veränderte sich Alices Gesichtsausdruck und zeigte Misstrauen und Verschlossenheit. Sie antwortete zögerlich:

„Das war Nikolas!“
 

„So, so. Und wer ist das?“ wollte Kathryn wissen
 

„Das ist mein großer Bruder!“ gab Alice knapp zurück
 

„Und warum hat er das gemacht?“ fragte Kathryn weiter.
 

„Haben uns geprügelt!“

Innerlich stöhnte Kathryn angesichts der Verstocktheit des Mädchens. Alice war offensichtlich keine große Rednerin und nicht bereit, irgendetwas ohne spezielle Aufforderung preiszugeben:

„Kommt das öfter vor, dass ihr euch prügelt!“ erkundigte sie sich also.
 

In Alices Gesicht arbeitete es, während sie mit sich rang, eine Antwort auf die Frage zu geben:

„Immer dann, wenn er seine Hände nicht bei sich behalten kann!“ erwiderte sie schließlich trotzig.
 

Kathryn blickte das Mädchen überrascht an. Sie wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte und ob sie Alice richtig verstanden hatte. Schließlich wurde ihr klar, dass es nichts half, drumherum zu reden. Sie musste deutlich werden, also fragte sie:

„Soll das heißen, dein Bruder belästigt dich! Fasst er dich auf eine Art an, wie Brüder dass nicht mit Schwestern tun sollten?“
 

Alice nickte und erwiderte trotzig:

„Er versucht es immer wieder, aber ich wehre mich!“
 

„Das ist gut!“ kommentierte Kathryn und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich in ihrem Magen ein Knoten bildete:

„Hast du deinen Eltern davon erzählt?“ wollte sie wissen.
 

„Meine Mum ist tot. Bei meiner Geburt gestorben!“ erwiderte Alice: „Mein Vater glaubt mir nicht! Nur mein anderer Bruder Pavel hilft mir. Aber er ist nur ein Jahr älter als ich und nicht so stark. Er kann mich nicht mehr beschützen!“
 

Kathryn nickte nachdenklich:

„Verstehe! Also ich denke, du kannst vorerst hier bei uns bleiben, aber niemand darf wissen, dass du hier bist, verstanden? Sonst bringst du uns in Schwierigkeiten“
 

Alice nickte eifrig und erklärte:

„Das verstehe ich! Ich habe nicht einmal Noah davon erzählt!“
 

„Nun müssen wir einen Schlafplatz für dich finden.“ stellte Kathryn fest:
 

„Dein Bett ist groß! Ich kann doch hier bei dir schlafen.“ schlug Alice hoffnungsvoll vor.
 

Kathryn, die nicht die Absicht hatte, die Schwärmerei des Mädchens in irgendeiner Weise zu ermutigen, erklärte streng:

„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du kannst heute Nacht erst mal im Gemeinschaftsraum bei James schlafen. Langfristig überlegen wir uns dann etwas anderes.“
 

Kathryn sah den erschrockenen Blick des Mädchens und fügte hinzu:

„Keine Sorge, Kleines! James ist ein anständiger Kerl. Er ist nicht wie dein Bruder und wird mit Sicherheit nichts bei dir versuchen.“

Mit diesen Worten entließ sie das Mädchen aus ihrem Schlafzimmer.
 

Mit einem Kissen und einer Decke versorgt, hockte Alice später auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum, während James sich auf seiner Pritsche ausstreckte, doch dann schlug er vor:

„Du kannst auch hier schlafen, wenn du willst?“
 

Das Mädchen blickte ihn mit großen Augen ängstlich an und James beeilte sich zu erklären:

„Ich meine, ich würde dann das Sofa nehmen. Es wäre vielleicht unbequem für dich dort drüben und dieses Feldbett ist eigentlich ganz gemütlich.“
 

Alice schüttelte den Kopf:

„Danke, aber ich komme klar! Hab´ schon oft draußen geschlafen, wenn´s nicht anders ging. Das hier ist viel besser.“
 

Als sie das Licht gelöscht hatten, fragte Alice in die Dunkelheit hinein:

„Hat Kathryn eigentlich einen Freund oder einen Mann?“
 

James verdrehte die Augen. Wieder einmal hatte also jemand sein Herz an die schöne Kathryn Levroux verloren, dachte er entnervt und gab griesgrämig zurück:

„Nein, jetzt nicht mehr!“

Wolfsjagd

Am frühen Morgen machte James sich auf zum Bergwerk, wobei er darauf achtete, von Carmichael nicht gesehen zu werden. Hinter einem Stein auf einer Anhöhe legte er sich auf die Lauer, beobachtete den Mineneingang und sah zu, wie sich die Arbeiter bereit machten, untertage zu gehen. Schließlich entdeckte James auch Bob Carmichael und stellte einmal mehr fest, dass er im Grunde ein gutaussehender Mann gewesen wäre, gäbe es da nicht diese unangenehmen, hellen und durchdringenden Augen. Unter einem solch attraktiven Äußeren würden die meisten wohl nicht den Dämonen vermuten, der fähig war, einem Menschen das anzutun, was er Margarete zugefügt hatte.

Carmichael legte seine Ausrüstung an und verschwand im Stollen.
 

Eben darauf hatte James gewartet. Er verließ sein Versteck und suchte den Vorarbeiter auf. Friedrich erinnerte sich an James noch von seinem letzten Besuch:

„Guten Morgen, Deputy! Wollen sie mit Carmichael sprechen? Hat er wieder etwas angestellt? Ich zeige ihnen rasch, wo sie ihn finden.“ erklärte er hilfsbereit.
 

James schüttelte den Kopf:

„Eigentlich möchte ich mit ihnen sprechen, Sir. Ich ermittle gegen Carmichael, da er nicht von seinem Opfer ablässt und es weiterhin belästigt und bedroht. Was können sie mir über ihn sagen? Mit wem ist er befreundet? Wo wohnt er? Ist er verheiratet?“
 

Friederich erweckte den Anschein, als sei er durchaus willens, dem Gesetzeshüter helfen. Das Problem war nur, dass er im Grunde nichts wusste:

„Carmichael lebt, allein in einer Hütte irgendwo im Osten der Stadt, soweit ich weiß. Unter den anderen Arbeitern hat er nach meiner Kenntnis keinen einzigen Freund. Wenn ich es mir recht überlege, dann mag ihn eigentlich niemand so richtig. Ehrlich gesagt ist er mir selbst auch nicht besonders angenehm. Er ist…“ Friederich suchte nach der richtigen Beschreibung: „…unheimlich! Ein einsamer Wolf, verstehen sie?“
 

James nickte. Er verstand absolut und erwiderte:

„Eine letzte Frage habe ich noch. Wann ist Carmichaels Schicht heute zu Ende?“
 

„Um fünf Uhr!“ gab Friederich zurück:
 

„Ich danke ihnen für ihre Unterstützung Mr. Friederich und bitte sie darum, Carmichael nichts von unserem Gespräch zu verraten.“ schloss James seine Befragung.
 

Der Vorarbeiter versicherte:

„Verstehe! Polizeiangelegenheiten! Keine Sorge, ich werden nichts sagen. Ich spreche mit dem Kerl ohnehin nur das Nötigste.“
 

James bedankte und verabschiedete sich.
 

Im Anschluss suchte er Joe im Gemischtwarenladen auf, berichtete ihm das Wenige, was er bislang erfahren konnte und was er nun zu tun gedachte, denn er wollte zu seiner Absicherung, dass Joe es heute Abend ihren Freunden erzählen konnte. James hatte sich einen Plan für sein weiteres Vorgehen zurechtgelegt und dieser war nicht ganz ungefährlich.
 

Joe blickte seinen Freund finster an und fragte ärgelich:

„Du willst es ganz allein mit Carmichael aufnehmen? Bist du denn verrückt geworden?“
 

James schüttelte den Kopf:

„Ich suche ja gar nicht die Konfrontation! Ich will ihm nur endlich einmal einen Schritt voraus sein.“ erklärte er: „Bislang warten wir doch immer nur ab, bis er seinen Zug macht.Damit muss jetzt Schluss sein!“
 

Joe schüttelte grimmig den Kopf, dennoch sagte er nichts weiter dazu.
 

James verabschiedete sich und verließ den Gemischtwarenladen, um nachhause zu gehen und sich noch für ein paar Stunden schlafen zu legen, damit er für das, was er vorhatte gewappnet wäre.
 

James war nicht der einzige Besuch, den Joe heute im Laden erhielt. Als er gerade dabei war, die Tür für die Mittagsruhe abzuschließen, stand plötzlich Noah vor ihm; das Gesicht noch ein wenig blasser als sonst und mit rot verweinten Augen:
 

„Sie ist weg!“ verkündete der Junge mit schriller Stimme.
 

Obwohl Joe natürlich genau wusste, von wem Noah sprach, stellte er sich erst einmal dumm:

„Wer ist weg?“
 

„Alice natürlich!“ entgegnete der Junge aufgebracht: „Seit gestern ist sie verschwunden! Ihre Familie sagt, sie wüssten auch nicht wo sie ist, aber ich weiß nicht, ob ich ihnen glauben kann!“
 

„Warum denkst du, dass Alices Familie dich anlügen würde?“ wollte Joe wissen.
 

Der Junge rang offenbar mit sich, als sei er nicht sicher, wie viel er erzählen dürfte. Schließlich sagte er vage:

„Bei ihr zuhause gehen Dinge vor sich; schlimme Dinge! Was, wenn sie ihr etwas angetan haben?“

Nun war Noah wieder kurz davor zu Weinen und Joe brachte es einfach nicht über das Herz, ihn weiterhin völlig im Unklaren zu lassen:
 

„Also gut, hör´ zu, ja? Deiner Freundin geht es gut.“ versicherte er: „Ich darf dir nicht sagen, wo sie ist, aber sie ist in Sicherheit.“
 

Noahs Blick in diesem Moment war verblüfft und auch ein wenig verletzt:

„Soll das heißen, sie hat mit dir gesprochen? Warum hat sie MIR denn nichts gesagt?“ fragte er ungläubig.
 

Joe zuckte mit den Schultern:

„Das weiß ich auch nicht. Komm` heute Nachmittag einfach wieder zu mir, in Ordnung. Ich versuche in der Zwischenzeit mit ihr zu sprechen. Vielleicht kann ich dir dann später schon mehr sagen.“
 

Der Junge wirkte nun zwar ein wenig ruhiger, doch es war ihm deutlich anzusehen, dass es ihm überhaupt nicht passte, aus Alices Entscheidungen ausgeschlossen worden zu sein. Schulterzuckend brachte er ein knappes „In Ordnung!“ hervor, ehe ärgerlich davonstapfte.
 

In seiner Pause ging Joe nun also hinüber ins rote Haus. Zunächst hatte er eine wichtige Sache mit Tiny zu besprechen. Als das erledigt war, suchte er Alice auf, um von ihr zu erfahren, warum sie ihrem besten Freund gegenüber ein Geheimnis aus ihren Fluchtplänen gemacht hatte.
 

Das Mädchen druckste ein wenig herum, ehe sie schließlich mit ihren Motiven herausrückte:

„Wenn Nikolas nach mir sucht, ist Noah doch der Erste, bei dem er nachfragen würde. Er weiß schließlich, dass wir zwei unzertrennlich sind. Und Noah ist ziemlich sensibel und nicht so stark, verstehst du? Er könnte meinem Bruder bestimmt nicht standhalten, wenn er ihn bedroht und würde aus Angst etwas verraten. Er darf mich nicht falsch verstehen, aber ich habe Angst! Ich bin so froh, dass ich hier in Sicherheit bin! Wenn du mit ihm sprichst, kannst du versuchen, ihm das zu erklären?“
 

Joe zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Ich versuche es, aber Noah hat vorhin ziemlich enttäuscht ausgesehen.“
 

Alice blickte Joe schuldbewusst und traurig an:

„Sag ihm einfach, dass ich ihn lieb habe!“ bat sie.
 

Als Joe Noah am Nachmittag Alices Nachricht überbrachte, wirkte dieser nicht allzu glücklich darüber:

„Es stimmt, dass ich nicht so tapfer bin und Alices Bruder macht mir wirklich eine ziemliche Angst, aber ich würde sie doch nie verraten!“ erklärte er kläglich.
 

Joe lächelte und versuchte, den Jungen zu trösten:

„Sie meint es sicher nicht böse! Versuche einfach Alices Lage zu verstehen. Sie hat Angst!“
 

Noah nickte und bat:

„Kannst du ihr von mir sagen, dass ich sie auch liebhabe.“
 

Joe nickte:

„Das werde ich ganz gewiss tun!“
 

Um kurz vor fünf am Nachmittag bezog James wieder seinen Spähposten auf der Anhöhe. Als er Carmichael aus dem Stollen kommen sah, folgte er ihm unauffällig.

Den Verfolger, der sich wiederum an seine eigenen Fersen geheftet hatte, bemerkte James nicht.
 

Carmichael bewohnte eine Hütte im Osten, genauso, wie es der Vorarbeiter gesagt hatte. Das Gebäude war in erbärmlich heruntergekommenen Zustand, ebenso, wie die gesamte Gegend. James wunderte sich, dass jemand freiwillig hier lebte. Carmichaels Gehalt sollte eigentlich für etwas besseres mehr als ausreichend sein.
 

Der Deputy fand ein geeignetes Versteck mit Sicht auf Carmichaels schäbiges Heim und bezog seinen Posten.

Viele Stunden hockte er dort, ohne dass sich etwas tat. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen und obwohl er sich seine wärmste Jacke angezogen hatte, fror James erbärmlich in dieser eisigen Aprilnacht, doch auch als in Carmichaels Hütte das Licht ausging, hielt er tapfer weiterhin die Stellung.
 

Irgendwann zündete er ein Streichholz an, um auf seine Taschenuhr, Kathryns Weihnachtsgeschenk an ihn, zu schauen; da war es kurz vor drei. James klapperte vor Kälte mit den Zähnen, was ihn immerhin davon abhielt einzuschlafen. Jedoch war dies auch der Grund, warum er die Person nicht hörte, welche sich ihm von hinten näherte. Erst als er direkt hinter sich das Knacken eines Zweiges hörte, wurde er endlich aufmerksam. Wie ein Blitz drehte James sich um und zog seine Waffe:
 

„Nicht schießen! Ich bin es doch bloß!“

Das war die erschrockene Stimme von Joe und James steckte rasch seine Pistole zurück in ihr Holster:
 

„Was machst du hier und wieso schleichst du dich in so einer Situation von hinten an mich heran! Ich hätte dich beinahe erschossen, verdammt nochmal!“ schimpfte James, atemlos vor Schrecken.
 

„Denkst du, ich lasse meinen besten Freund einfach so in der Gefahr allein, damit er sich hier draußen erstechen lässt?“ erwiderte Joe, immer noch zu Tode erschrocken und auch ein wenig ärgerlich.

„Das hier ist mein Job!“ konterte James ernst: „Der ist nun einmal manchmal gefährlich!“
 

„Umso mehr, wenn du ihn allein machen musst, weil Snyder dich hängen lässt.“ gab Joe zurück: „Ich werde dir helfen, ob es dir nun passt, oder nicht! Und nun lass` mich an dich heranrücken, denn ich erfriere gleich.“
 

Joe hockte sich neben James und dieser legte einen Arm um seinen Freund. Dann fragte er, immer noch grummelnd:

„Wie willst du morgen munter genug sein, um zu arbeiten?“
 

„Hab` mir frei genommen hierfür.“ gab Joe zurück und obwohl James das Grinsen seines Freundes nicht sehen konnte, hörte er es in seiner Stimme:
 

„Ts!“ machte er tadelnd und schüttelte er den Kopf, doch in seinem Inneren verursachte Joes Sorge ein warmes Gefühl.
 

Um fünf Uhr am Morgen, Joe war soeben an James Schulter eingenickt, da ging in Carmichaels Haus das Licht an.

James stieß seinen Freund an, um ihn zu wecken. Sie warteten eine halbe Stunde bis schließlich die Tür aufging und Carmichael hinaustrat.
 

James und Joe reckten und streckten sich und machten sich bereit, dem Mann zu folgen. Da fiel James etwas ein:

„Ich möchte wissen, was in der Hütte ist. Wie wär`s, wenn du hineingehst und nachschaust, während ich unserem Freund Bob folge. Wir treffen uns dann nachher im roten Haus und erstatten uns gegenseitig Bericht.“
 

Joe zuckte mit den Schultern:

„Klingt nach einem Plan! Aber sei vorsichtig und lass` dich nicht von ihm erwischen! Und suche auf keinen Fall die Konfrontation mit ihm, sonst werde ich böse!“
 

Sie verabschiedeten sich und machten sich nun auf in unterschiedliche Richtungen.
 

Joe näherte sich unauffällig der Hütte von Bob Carmichael, um nicht von den Anwohnern entdeckt zu werden, obwohl er vermutete, dass diese heruntergekommene Gegend nicht unbedingt ein Teil von Millers Landing war, wo Nachbarn gute Kontakte miteinander pflegten und einer auf den anderen achtete. Vermutlich war genau dies der Grund, warum der Kerl diese lausige Wohngegend überhaupt gewählt hatte, dachte Joe.

Hier blieb sein Treiben unbemerkt, was immer er auch anstellte!
 

Joe ging zur Vordertür und stellte fest, dass diese unverschlossen war, also trat er ein. Im Haus bemerkte er sofort den Geruch, der hier herrschte. Joe fragte sich zum einen, woher um Himmels Willen dieser bestialische Gestank kommen mochte und zum anderen, wie jemand es aushielt, damit zu leben.

Die fürchterliche Antwort auf seine erste Frage erhielt Joe, als sich seine Augen an die Dunkelheit in der Behausung gewöhnt hatten. Mitten im Raum stand eine Art erhöhter Arbeitstisch, auf dem er die grausige Entdeckung machte: Dort lagen, fein säuberlich aufgereiht verschiedene Messer und daneben die verstümmelten Leichen von diversen kleinen Tieren, wie Katzen, Kaninchen, Eichhörnchen und Hunden. Einige zeigten bereits Spuren der Verwesung und Joe realisierte überdies mit Entsetzen, dass diese armen Kreaturen offenbar nicht schnell gestorben waren. Carmichael hatte ihnen Gliedmaßen abgetrennt, sie mit Schnitten lediglich verletzt, aber nicht getötet, um sie leiden zu sehen oder ihnen die Augen ausgestochen. Joe fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Dann erkannte er, dass sich zwischen all` den Kadavern noch etwas regte. Es war ein Hundewelpen, welcher auf dem Rücken lag. Der Körper war von einem langen, dünnen Messer derart durchbohrt worden war, dass er dadurch am Tisch festgepinnt war und ein Entkommen unmöglich wurde. Joe erkannte, dass das Tier es auch nicht überleben konnte, wenn er es befreite, da es bereits mehr tot als lebendig war, also tat er, was ihm als das einzig Menschliche erschien; er legte seine Hand über Nase und Schnauze des kleinen Hundes und erstickte ihn.

Obwohl es ein Akt der Gnade war, trieb es ihm die Tränen in die Augen, dieses arme, unschuldige Leben zu beenden.
 

Trotz des üblen Gestanks atmete Joe einmal tief durch, um sich zu beruhigen und setzte dann die Untersuchung der Hütte fort. Er fand eine fleckige, unappetitliche Schlafstätte und daneben ein Nachttischchen, auf dem, wie auf einem Altar, die Karte und das mittlerweile stinkende und vertrocknete Ochsenherz lagen, welche Carmichael Margarete geschickt hatte. Daneben fand sich das Messer, welches sie verwendet hatte, um die Nachricht an ihren Schänder am roten Haus zu befestigen. Joe dachte kurz darüber nach, sich das Messer wieder zu holen, doch dann entschied er, dass es klüger wäre, Carmichael nicht unbedingt wissen zu lassen, dass jemand in seinem Heim gewesen war. Nachdem er das Gefühl hatte, er habe alles gesehen, verließ Joe die Hütte wieder und atmete dankbar die frische Morgenluft ein. Ihm war speiübel.
 

James folgte Carmichael unauffällig und erkannte schnell, dass dieser sich auf dem direkten Weg zum roten Haus befand. Er hoffte, dass er Joe gegenüber Wort halten konnte und es tatsächlich zu keiner Konfrontation kommen musste.
 

Es würde schwer werden, Deckung zu finden, denn nachdem man die Stadtgrenze passiert hatte und sich den beiden hellrot gestrichenen Gebäuden näherte, gab es beinahe keine Verstecke wie Bäume und Gebäude mehr. Dennoch musste James Carmichael unbedingt auf den Fersen bleiben. Wer wusste schon, was dieser als Nächstes vorhatte.
 

James nahm seine Waffe in die Hand, um sich ein wenig sicherer zu fühlen. Am Ziel angekommen verschanzte er sich hinter einer dicken alten Eiche unweit der Häuser, hatte seine Pistole im Anschlag und beobachtete, was Carmichael tat. Zu seiner Überraschung stellte James dann jedoch fest, dass dieser sich gar nicht rührte. Er lehnte lediglich an einem Zaunpfahl und starrte das Wohnhaus an, in welchem sich noch nichts rührte, weil seine Bewohnerinnen und Bewohner offenbar noch schliefen. Dieses
 

Carmichaels Verhalten ließ James absurder Weise an einen Verliebten denken, der vor dem Haus der Angebeteten steht, in der Hoffnung einen kurzen Blick auf das Objekt seiner Begierde zu erhaschen. Nur dass es hier nicht um Liebe ging, sondern um kranke, mörderische Besessenheit. Carmichael hatte offenbar keine Eile, Margarete in die Finger zu bekommen. Vielleicht genoss er ja sogar das Warten, bis er sein grausames Werk endlich beenden könnte.

„Bald, mein Liebling“ hatte auf der Karte gestanden.

James lief es kalt den Rücken hinunter.
 

Nach etwa zwanzig Minuten hatte Carmichael offenbar genug davon, Hauswände anzustarren und er machte sich wieder auf den Weg.

James folgte ihm bis zum Bergwerk, wo Carmichael sich anschickte, seinen Arbeitstag zu beginnen. Für James war nun der Zeitpunkt gekommen, den seinigen endlich zu beenden. Todmüde kehrte er zum roten Haus zurück.
 

Als er die Küche betrat, saß dort bereits Joe erschöpft am Tisch.

„Meinst du, ich darf mir etwas zum Frühstück nehmen? Ich bin wahnsinnig hungrig!“ erkundigte sich James unsicher.
 

Joe zuckte mit den Schultern und sagte:

„Sicher kannst du das. Du riskierst deinen Hals für uns, da ist es doch wohl selbstverständlich, dass du im Gegenzug etwas zu essen erhältst! Da sind etwas Schinken, Brot und ein paar Äpfel im Schrank. Bedien Dich!“
 

„Möchtest du auch etwas.“ wollte James wissen.
 

Joe schüttelte energisch den Kopf:

„Ich halte mich an Kaffee.“ Er hielt seine Tasse hoch: „Nach dem, was ich heute in Carmichaels Hütte gesehen habe, denke ich nicht, dass ich jemals wieder Appetit haben werde.“
 

James hatte das Essen vor sich hingestellt, nahm sich selbst auch einen Kaffee, blickte Joe erwartungsvoll an und dieser begann seinen Bericht. Als er bei dem Welpen anlangte, welchen er töten musste kamen ihm ein wenig die Tränen und am Ende von Joes Erzählungen, war James sich plötzlich auch nicht mehr so sicher, ob er wirklich etwas frühstücken wollte, aber schließlich siegte doch der Hunger über den Ekel.
 

Während er aß, berichtete James nun seinerseits, was er am Morgen bei der Verfolgung Carmichaels beobachtet hatte. Danach saßen die beiden jungen Männer eineWeile schweigend, müde und missmutig beieinander und Joe resümierte schließlich:

„Ich denke, eines ist nun klar: Dieser Carmichael ist noch verrückter, als wir gedacht haben und er wird nicht aufgeben, bis er entweder tot oder im Gefängnis ist!“
 

„Oder bis er das hat, was er will!“ murmelte James mutlos. Sein Kopf lag mittlerweile auf dem Tisch, weil er ihm vor lauter Müdigkeit zu schwer geworden war.
 

In diesem Moment kam Tiny in die Küche:
 

„Hey!“ rief Joe freundlich.
 

„Hey!“ gab Tiny kühl zurück.
 

James horchte auf. Er hatte Tiny Joe gegenüber noch nie derart frostig erlebt. Plötzlich meinte James, sich dringend zurückziehen zu müssen, um den beiden Männern Raum zu geben, den Konflikt, der offenbar gerade vorlag zu klären. Er erhob sich mühsam und obwohl er sich vor Erschöpfung ein wenig wacklig fühlte, erklärte er:

„Ich denke, ich werde jetzt zu mir nachhause gehen, um ein wenig zu schlafen.“
 

„So erschöpft, wie du gerade bist, schläfst du doch im Stehen ein. Warum bleibst du nicht hier?“ fragte Joe und an Tiny gerichtet fuhr er fort: „Stört es dich, wenn wir uns beide in deinem Zimmer ein wenig hinlegen?“
 

Das Gesicht des Älteren verfinsterte sich, dennoch gab er mit zusammengebissenen Zähnen ein: „In Ordnung!“ von sich.
 

Joe wirkte unbekümmert und schickte sich an, nach oben zu gehen, doch James war beklommen zumute und versicherte an Tiny gerichtet:

„Ich kann auch hier unten auf dem Feldbett schlafen, wenn es dir nicht recht ist.“
 

Tiny schüttelte den Kopf, den bösen Blick an Joe und nicht an James gerichtet, als er antwortete:

„Unsinn! Ihr zwei hattet eine anstrengende Nacht und hier unten wirst du keine Ruhe finden.“

Dann drehte er sich um und verschwand.
 

James folgte Joe in Tinys Schlafzimmer, doch am Fuß des Bettes blieb er unschlüssig stehen:

„Die Laken sind ganz frisch.“ erklärte Joe, der sich schon hingelegt hatte mit einem kleinen Grinsen.
 

James stieg die Schamesröte ins Gesicht. Er schluckte, ehe er antworten konnte:

„An so etwas habe ich doch gar nicht gedacht! Es ist nur wegen Tiny. Er schien so wütend zu sein und irgendwie kann ich ihn verstehen. Das hier ist SEIN Bett! Natürlich will er nicht, dass sein…ähm… Geliebter darin mit einem anderen Mann liegt.“

James Röte intensivierte sich noch ein wenig bei diesem letzten Satz und dem, was er implizierte.
 

Joes Grinsen wurde breiter, als er antwortete:

„Tinys Ärger hat gar nichts damit zu tun. Er ist wütend auf MICH, weil ich dir letzte Nacht gefolgt bin. Er hat ganz einfach Angst um mich!“
 

Erleichtert traute James sich nun endlich auch, sich auf dem Bett niederzulassen und erwiderte:

„Damit hat er ja auch nicht Unrecht. Es IST gefährlich!“
 

„Genau!“ antwortete Joe: „Darum will ich ja auch nicht, dass du diesem Carmichael allein gegenüberstehst. Du bist mein Freund und…“ Joe schluckte ein wenig, ehe er fortfuhr: „...ich hab dich lieb und ich will nicht, dass dir etwas Schlimmes passiert!“

James wurde warm ums Herz und Joe sprach einfach weiter:

„Thomas darf mich nicht daran hindern, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich brauche weder einen Vater noch einen Beschützer. Ich möchte bloß einen Partner, verstehst du?“
 

James nickte:

„Ja, ich denke schon.“
 

Joe schüttelte sein Kissen auf, brachte sich in eine bequeme Schlafposition und schloss die Augen, doch James wollte noch etwas loswerden:

„Joe?“
 

„Hmm?“
 

„Ich hab´ dich auch lieb!“
 

„Schlaf ´ jetzt!“ antwortete Joe lächelnd.
 

Alice saß mit angewinkelten Knien auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum und dachte über ihre neue Lebenssituation nach.
 

Kathryn betrat den Raum und trug ein Bündel Kleidung auf dem Arm, welches sie vor das Mädchen hinlegte:

„Ich habe meinen Kleiderschrank aufgeräumt und da du ja ohne irgendetwas hier angekommen bist, habe ich hier etwas für dich!“

Das Mädchen machte große Augen und begann, sich Kleidungsstücke genauestens zu inspizieren. Es handelte sich um zwei Hosen und zwei Oberhemden:

„Du bist größer und schlanker als ich, aber dennoch sollten die Sachen dir passen, denn die Hosen waren immer schon ein wenig zu lang für mich und ich habe die Beine umkrempeln müssen. Vielleicht brauchst du aber einen Gürtel. Probier´ sie doch einmal an!“
 

Das Mädchen strahlte sie begeistert an und kam der Aufforderung eilends nach. Zwar saßen die Hosen am Bund tatsächlich ein wenig locker, doch ansonsten waren die Kleidungsstücke wie für Alice gemacht, dachte Kathryn. Die Kleider, welche sie gewöhnlich trug, wirkten dagegen wie eine Verkleidung.
 

Kathryn lächelte zufrieden und erklärte:

„Ausgezeichnet! Du siehst großartig aus!“
 

Alice holte einen Spiegel herbei, um sich zu betrachten. Dabei wurde ihr Grinsen sogar noch ein wenig breiter. Sie fiel Kathryn um den Hals und bedankte sich ausgiebig.

Bald jedoch erschien Kathryn die Umarmung ein wenig länger als nötig anzudauern. Sanft griff sie das Mädchen schließlich bei den Schultern und löste sich von ihr.
 

Alice blickte schuldbewusst drein, doch Kathryn ging kommentarlos über die Situation hinweg, indem sie sagte:

„Ich wollte auch noch etwas mit dir besprechen. Wenn nächste Woche die Frauen aus Boston kommen, würden wir dir gern bei Ihnen drüben ein Zimmer geben. Meinst du, du kommst bis dahin mit der Übergangslösung hier im Gemeinschaftsraum klar?“
 

Alice nickte und fragte dann glücklich:

„Ich werde tatsächlich ein Zimmer für mich allein bekommen?“
 

„Ja sicher!“ erwiderte Kathryn: „Wieso nicht?“
 

„Na, weil ich so etwas noch nie hatte.“ entgegnete das Mädchen schlicht.
 

Als James erwachte, schlief Joe noch tief und fest, also erhob er sich leise, ging in den Waschraum, um sich ein wenig frisch zu machen und machte sich dann auf die Suche nach Tiny. Er fand ihn schließlich im Schuppen, damit beschäftigt, Holz zu hacken, obwohl die Bezeichnung „Kleinholz machen“ sicherlich treffender gewesen wäre. Der große Mann drosch mit aller Kraft wütend auf die Scheite ein.
 

James war von dem Anblick ziemlich eingeschüchtert, doch er nahm all seinen Mut zusammen und positionierte sich so, dass Tiny ihn sehen konnte.
 

Als er James erblickte, unterbrach Tiny

seine Arbeit und fragte mürrisch:

„Willst du irgendetwas Bestimmtes?“
 

James nickte:

„Ich will mit dir über Joe sprechen!“

Tiny funkelte ihn böse an, sagte jedoch nichts und so fuhr James fort:

„Er will, dass du ihn als erwachsenen Mann wahrnimmst. Wenn du versuchst, ihn einzusperren und vor allem zu beschützen, wirst du ihn irgendwann verlieren! Ist dir das klar?“

James hatte ein wenig Angst davor, mit dem, mit einer Axt bewaffneten, zornigen, großen Kerl so deutlich zu sprechen, doch er hatte das Gefühl, es tun zu müssen, sowohl für Joe als auch für Tiny und am Ende vielleicht sogar ein bisschen für sich selbst.
 

James wartete ab, wie Tiny reagieren würde. Er erwartete eigentlich, angebrüllt zu werden und wappnete sich, doch stattdessen legte Tiny seine Axt beiseite und setzte sich auf den Spaltblock:

„Ich verstehe einfach nicht, warum er so leichtsinnig ist.“ murmelte Tiny plötzlich kleinlaut.
 

James hockte sich ihm gegenüber auf eine herumstehende Kiste und antwortete:

„Er versucht, mich, Margarete und euch alle vor Unheil zu bewahren. Gerade dir müsste dieser Wunsch, zu beschützen doch bekannt vorkommen.“
 

Ertappt lächelnd antwortete Tiny:

„Aber Joe ist nicht so wie ich. Er ist so…“ er suchte nach den richtigen Worten:„…verletzlich!“
 

James schüttelte energisch den Kopf und erwiderte:

„Genau so möchte Joe mit Sicherheit nicht gesehen werden. Und es wird ihm auch nicht gerecht! Joe hat unglaubliche Misshandlungen erfahren und er hat überlebt! Er ist stark, verstehst du? Und vergiss nicht, dass auch ein großer, starker Kerl wie du ist nicht unverwundbar ist. Wir sind alle verletzlich, Tiny!“

James hielt kurz inne und fügte dann hinzu:

„Ich werde übrigens heute Nacht wieder vor Carmichaels Haus Wache halten. Joe sollte nicht noch einen weiteren Arbeitstag versäumen, aber allein ist die Sache zugegebenermaßen wirklich ziemlich gefährlich. Willst du mich heute Nacht dorthin begleiten?“
 

Tiny grinste zufrieden.

Sechs Damen aus Boston

In dieser Nacht hatte James sich besser auf seine Observation vorbereitet, indem er noch eine weitere Schicht Kleidung angezogen und etwas zu Essen mitgebracht hatte. Nun saßen er und Tiny in einer Senke auf der Lauer und ein merkwürdiges, unbehagliches Schweigen hatte sich zwischen den beiden breit gemacht. Noch nie hatten die beiden Männer so viel Zeit allein miteinander verbracht. Und zu seiner Verwunderung stellte James fest, dass Tiny ihm gegenüber offenbar genauso unsicher war, wie umgekehrt.

Er fragte sich, ob ihr Schweigen wohl in dem Gespräch über Joe begründet lag, welches die beiden am Nachmittag geführt hatten. James war immer noch erstaunt über den eigenen Mut, derart klare Worte gefunden zu haben.
 

Einmal mehr spürte er, wie sehr er den großen, manchmal einschüchternden Mann bewunderte und sich seinen Respekt wünschte. Obwohl Tiny gar nicht so viel älter war, stellte dieser in gewisser Weise eine Art Vaterfigur für ihn dar und zwar im besten Sinne des Wortes.
 

Mittlerweile war es stockfinstere Nacht und sie hatten nun bereits so lange geschwiegen, dass James fast vermutete, dass Tiny eingeschlafen sei. Als dieser dann aber urplötzlich zu sprechen begann, zuckte er erschrocken zusammen:

„Ich habe keine Übung darin, weißt du?“ erklärte der Ältere und klang irgendwie kläglich dabei.
 

„Hmm?“ machte James, der natürlich keine Ahnung hatte, wovon Tiny sprach.
 

„Na ja, Liebe... Zusammensein...? Darin bin ich ein echter Anfänger!“ fuhr der Ältere fort. „Am Anfang war es leicht für mich gewesen; Joe war körperlich und seelisch verletzt und ich habe ihn gepflegt und beschützt. So etwas kann ich, verstehst du? Aber nun ist Joe so erwachsen, selbstbewusst und trifft seine eigenen Entscheidungen. Ich weiß gar nicht, welche Rolle ich dabei noch spiele?“
 

James fürchtete sich davor, etwas zu sagen, hatte Angst es könnte genau das Falsche sein, also schwieg er vorerst und hörte weiter zu:
 

„Ich war einfach nicht gefasst darauf, was es bedeutet, jemanden so sehr zu lieben. Plötzlich hat man so viel zu verlieren.“ sagte Tiny nachdenklich und fuhr dann fort: „Komisch, eigentlich hätte ich es wissen müssen, nach Kathryn und Elizabeth? Aber ich schätze, etwas selbst zu empfinden ist etwas anderes, als es nur von außen zu betrachten.“
 

James überwand seine Unsicherheit und erwiderte:

„Über all` diese Dinge solltest du mit Joe sprechen. Er muss das wissen, damit er dich verstehen kann!“
 

Tiny schluckte schwer. SO sollte er sich Joe zeigen? Er sollte ihn wissen lassen, wie schwach, ängstlich und erbärmlich er im Grunde war?
 

Irgendwie hatte James seine Gedanken erraten:

„Lass` ihn doch sehen, wer du wirklich bist! Er wird dich dennoch lieben! Mehr noch, vermute ich!“
 

James konnte hören, wie Tiny sich die Haare raufte, doch dann tat er etwas völlig Unerwartetes und umarmte er James aus heiterem Himmel.

Zum Glück war es dunkel, denn James grinste, wie ein selbstzufriedener Idiot.
 

Im Anschluss an diese eigenartige Szene fielen die beiden Männer wieder in Schweigen, doch diesmal fühlte es sich vertraut und angenehm an.

Worte waren nicht mehr nötig.
 

Gegen fünf Uhr am Morgen wiederholte sich das, was bereits am Vortag geschehen war: Carmichael beendete seine Nachtruhe, lief hinüber zum roten Haus um dort ausgiebig die Fassade anzustarren und machte dann auf den Weg zur Arbeit.
 

James machte es sich nun jede Nacht zur Aufgabe, Wache an der Hütte von Bob Carmichael zu halten. Dabei hatte er stets Unterstützung, meist von Tiny oder Joe und vor zwei Nächten war gar Melody mit ihm gegangen, weil sie nicht einsah, warum sie als Frau nicht dazu imstande sein sollte ihm Rückendeckung zu geben, hatte sie erklärt. Sie hätte immerhin eine Rechnung mit dem Kerl zu begleichen, brachte sie vor und weil James dagegen nichts zu sagen wusste, ließ er es mit leicht unbehaglichem Gefühl tatsächlich zu, dass sie ihn begleitete.

Sie konnte wirklich sehr energisch und überzeugend auftreten, wenn sie etwas wollte.

James gefiel das irgendwie.
 

Und in jeder dieser Nächte auf seinem Spähposten war es dasselbe gewesen: Carmichael stattete dem roten Haus vor der Arbeit seinen Besuch ab, beschränkte sich dabei aber stets auf des reine Beobachten aus der Ferne und dann verschwand er nach einer Weile wieder.

Als James Snyder darüber Bericht erstattete, was er beobachtet und herausgefunden hatte und wie er vorging, hatte dieser es grummelnd als „Zeitverschwendung“ bezeichnet, doch er ließ ihn gewähren.

Dass er bei seinen Einsätzen die Hilfe seiner Freunde in Anspruch nahm, verschwieg James wohlweislich.
 

Mehrere Tage lang waren die Frauen damit beschäftigt, die Schlafzimmer im anderen Haus so herzurichten, dass die Damen aus Boston sich dort wohl fühlen konnten und alles für ihre Bequemlichkeit vorfanden. Den Raum, der von allen immer als das „Spielzimmer“ bezeichnet worden war, verschloss Kathryn lieber und hängte sich den Schlüssel um den Hals. Sie wollte nicht riskieren, dass jemand eintrat, der dort nichts zu suchen hatte und möglicherweise einen Schrecken fürs Leben erlitt. Sie war sich nicht sicher, wie aufgeschlossen die Bostonerinnen diesen Dingen gegenüber wohl sein mochten.
 

Und schließlich war der Tag gekommen: Die Gäste aus der Großstadt würden am Mittag vom Bahnhof hergebracht werden. Rebecca und Felicity hatten sich von Joe den Pferdewagen des Geschäfts besorgt, der genug Raum für alle Frauen und ihr Gepäck bot.

Als sie draußen das Hufgetrappel vernahmen, traten die Bewohnerinnen und Bewohner des roten Hauses vor die Tür, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Als die sechs Damen dem Pferdewagen entstiegen, wirkten sie erschöpft, was angesichts der guten vierhundert Reisemeilen, welche sie hinter sich hatten nicht verwunderte.
 

Kathryn versuchte sich ein Bild von ihren Gästen zu machen. Was ihr als erstes auffiel, war die strenge, vornehme und beinahe uniform wirkende Kleidung der Damen. Sie trugen hochgeschlossene, schlichte und dennoch elegante Blusen, bodenlange Röcke aus festem Wollstoff und darunter offenbar eng geschnürte Miederwaren, dazu Schnürstiefel mit einem kleinen Absatz und auf den Köpfen saßen riesige, breitkrempige Hüte, unter denen sich strenge Hochsteckfrisuren verbargen. Alles in allem war dies sicher keine Bekleidung, welche Kathryn für diese Gegend angemessen und mehr noch, in irgendeiner Weise bequem erschien und heimlich bedauerte sie die Städterinnen, dass sie sich offenbar gezwungen sahen, ihre Körper derart einzuschnüren. Sie selbst trug, wie so oft, bequeme, weite Hosen und dazu ein cremefarbenes Oberhemd. Kathryns Freundinnen hingegen trugen wie gewöhnlich zu dieser Jahreszeit leichte, teilweise tief ausgeschnittenen Baumwollkleider, welche gleichzeitig praktisch und bequem waren und überdies ihre körperlichen Reize sehr gut abbildeten.
 

Eine der Damen trat nun hervor und stellte sich als Justine Carpenter vor. Sie war etwa Mitte fünfzig, hatte honigblondes Haar, war von mittlerer Größe und üppiger Figur. Ihr Gesicht vereinte Strenge, Güte und Intelligenz.

Kathryn war sogleich hingerissen!
 

Ms. Carpenter erklärte:

„Miss Owens und Miss Miller haben uns erklärt; dass man uns in Millers Landing offenbar keine Bleibe anbieten möchte und dass ihr Haus unsere einzige Alternative sei. Wir möchten, dass sie wissen, dass wir derartige Vorbehalte der Bevölkerung nicht zum ersten Mal erleben und dass wir überaus dankbar sind, dass sie so großzügig sind, uns ihre Gastfreundschaft anzubieten.
 

Kathryn runzelte die Stirn:

„Aber ist ihnen auch bewusst, dass wir momentan die Belagerung eines sehr gefährlichen Mannes erdulden müssen? Ehe sie zustimmen, hier bei uns zu verweilen sollte ihnen bewusst sein, dass möglicherweise auch sie selbst sich dadurch in Gefahr begeben.“
 

Justine Carpenter nickte entschlossen, als sie entgegnete:

„Wenn wir uns vor gefährlichen Männern verstecken würden, könnten meine Mitstreiterinnen und ich der Aufgabe, der wir uns gewidmet haben, überhaupt nicht nachkommen. Wir haben es uns zur Regel gemacht, vor Bedrohungen nicht zurückzuschrecken, sondern uns ihnen zu stellen. Mir wurde auch zugetragen, dass sie sich durch die jüngsten Ereignisse nachvollziehbarer Weise nicht mehr in der Lage sehen, ihrem Gewerbe nachzugehen und dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind? Wir möchten sie wissen lassen, dass wir sie für ihre Gastfreundschaft großzügig entschädigen werden! Wir sind in der glücklichen Lage, es uns finanziell erlauben zu können und für uns ist das auch ein Zeichen der Solidarität unter Frauen.“
 

„Das ist sehr freundlich von ihnen.“ versicherte Kathryn und übernahm es nun, die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses vorzustellen. Justine Carpenter tat dasselbe mit ihren Begleiterinnen und Kathryn versuchte, sich ein Bild der anderen Damen zu machen: Da war Susanna Bishop, eine mittelgroße, etwas unscheinbare Frau mittleren Alters, Gattin des Großindustriellen Cameron Bishop, von dem Ms. Carpenter und die anderen Gäste offenbar erwarteten, dass die Gastgeberinnen und Gastgeber schon von ihm schon gehört haben müssten. Da dies jedoch offenbar nicht zutraf, setzte Justine Carpenter nun einfach ihre Vorstellung fort. Die nächste Dame war Miss Dorothy Klugman. Sie hatte die Papierfabrik des Vaters geerbt, wodurch sie finanziell unabhängig war. Miss Klugmann war eine recht große und hagere Frau Mitte vierzig, mit ernstem und strengem Gesichtsausdruck. Ihr Haar war Salz- und-Pfefferfarben, sie hatte schmale, intelligente, haselnussbraune, bebrillte Augen, die ringsherum von vielen kleinen Kniffen in der Haut umgeben waren. Sie sah aus, wie eine Person, welche gern und viel las.

Die nächste Dame war Miss Claire Mcclaine. Sie war eine recht erfolgreiche Romanautorin, wie Ms. Carpenter erklärte. Sie schrieb unter einem männlichen Pseudonym gelegentlich auch für große Zeitungen. Sie war eher klein, ebenfalls etwa Mitte vierzig und hatte den üppigsten Körper, den Kathryn je an einer Frau gesehen hatte: Beine und Arme waren kurz und sehr stämmig, sie hatte einen gewaltigen Busen und einen großen, weichen Bauch. Kathryn stellte sich vor, dass dies wohl genau die Art weicher und trostspendender Schoß sein mochte, in welchen sie sich gern wie ein Kind verkrochen hätte; bei jeder Gelegenheit in ihrem Leben, bei der sie sich traurig oder ängstlich gefühlt hatte. Das Gesamtbild wurde komplettiert von einem liebenswerten, hübschen und runden Gesicht.

Miss Klugmann beeilte sich zu sagen, dass sie keine Umstände machen wollten und sie und Miss Mcclaire im selben Zimmer unterzubringen seien, da sie es so gewohnt wären.
 

„Ich verstehe!“ versicherte Kathryn mit einem kleinen Schmunzeln.
 

Dass diese beiden, äußerlich so völlig unterschiedlichen Frauen sich als Paar zusammengefunden hatten, erschien Kathryn irgendwie nachvollziehbar. In ihrer Gegensätzlichkeit ergänzten sie sich.
 

Als nächstes stellte Justine Carpenter Ms. Carolyn Hoffman vor. Sie war mit ihren etwa sechzig Jahren die Älteste in der Runde. Sie war die Witwe von Rabbi Hoffman und Mutter von fünf erwachsenen Kindern. Eines ihrer beiden Augen blickte stark auswärts, so das Kathryn sich nie ganz sicher war, wann Ms. Hoffman sie tatsächlich anblickte. Eine weitere Besonderheit der Dame war eine Verkrümmung der Wirbelsäule, welche ihr einen kleinen Buckel bescherte. Doch als Ms. Hoffman lächelte, machte das alles wett, was die Natur möglicherweise an ihr versäumt hatte: Es war das herzlichste, wärmste und breiteste Lächeln, das man sich vorstellen konnte und sie entblößte dabei beinahe das vollständige Gebiss, inklusive des Zahnfleisches. Es war Kathryn unmöglich, dieses Lächeln zu sehen und es nicht zu erwidern.
 

Die letzte in der Runde war Helena Rothschild. Mit ihren zwanzig Jahren war mit Abstand die Jüngste von ihnen und verlobt mit einem Offizier der Marine. Kathryn war sich sicher, dass sie noch nie ein schöneres Mädchen gesehen hatte. Die dunkelblauen Augen waren von dichten, schwarzen Wimpern gesäumt. Darüber fanden sich dazu passend, vollkommen geformte dunkle Brauen. Sie hatte glänzendes, schwarzes Haar, den Teint einer Porzellanpuppe, edle Gesichtszüge, war eher klein und hatte eine schlanke, makellose Figur. Nicht dass Frauen wie sie Kathryns Typ gewesen wären, doch sie musste zugeben, dass Helena Rothschild wirkliche eine Erscheinung war.
 

Nachdem man einander nun bekannt war, erkundigte Kathryn sich gastfreundlich:

„Würden sie gern zunächst etwas essen oder wollen sie direkt auf ihre Zimmer gehen und ein wenig ruhen?“
 

Die Damen verständigten sich untereinander und Justine Carpenter verkündete:

„Wir würden uns gern erst einmal zurückziehen und heute Abend eine warme Mahlzeit einnehmen. Wäre es ihnen gegen sechs Uhr recht?“
 

Kathryn nickte und Ms. Carpenter stellte ihren Koffer mit erwartungsvollem Blick vor Tiny hin. Dieser schenkte ihr einen finsteren Blick, sagte nichts und rührte sich auch nicht. Bevor die Situation eskalieren konnte, griff Kathryn kurzerhand selbst nach dem Gepäckstück und trug es hinüber ins Haus. Der kleine Sam und die anderen Frauen taten es Kathryn mit den Koffern der anderen Damen gleich, während Tiny betont gemütlich ins Wohnhaus hinüber schlenderte und sich dort in der Küche niederließ.
 

Als Kathryn dort später auf ihn stieß, grinste sie entschuldigend, ließ sich auf seinem Schoß nieder und legte einen Arm um ihn:

„Ich nehme an, Ms. Carpenter hat jetzt schon erste Minuspunkte bei dir gesammelt, wie?“ erkundigte sie sich.
 

Ehe Tiny jedoch darauf antworten konnte, ertönte hinter ihnen die Stimme Melodys, welche schimpfte:

„Nicht nur bei ihm! Was bildet diese Kuh aus der Großstadt sich eigentlich ein!“
 

„Es tut mir leid ihr zwei!“ erwiderte Kathryn: „Ich werde den Damen bei passender Gelegenheit noch beibringen, wie die Dinge hier laufen, in Ordnung?“
 

Melody zuckte unwirsch mit den Schultern und erwiderte:

„Wenn du es nicht tust, mache ich es! Verlass` dich drauf!“
 

„Ich bitte euch, einfach aufgeschlossen zu bleiben!“ flehte Kathryn: „Diese Frauen retten uns mit ihrem Geld aus unserer finanziellen Misere. Lasst uns versuchen, mit ihnen klarzukommen. Abgesehen von dieser Sache schienen sie doch ganz in Ordnung zu sein. Und sicherlich sind sie lernfähig.“
 

Melody ließ sich schnaubend am Tisch nieder.
 

Als Joe an diesem Abend von der Arbeit kam und die Küche des Wohnhauses betrat, wimmelte es dort von Frauen. Zusätzlich zu den Bewohnerinnen waren Felicity und Rebecca anwesend, Alice und natürlich die sechs Damen aus Boston. Die einzigen männlichen Wesen am Tisch waren Sam und Mollys kleine Söhne Shamus und Michael, denn Tiny war heute wieder mit James zu einer Nachtschicht vor Carmichaels Haus verabredet.

Joe machte höflich die Runde und stellte sich den Neuankömmlingen vor, ehe er sich mit an den Tisch setzte, um etwas zu essen.
 

Nach der Mahlzeit ließ er sich dann von einer glücklichen Alice ihr Zimmer zeigen, welches sie heute bezogen hatte. Nachdem Joe alles ausreichend bewundert und bestaunt hatte, setzten die beiden sich auf ihr Bett und Joe ließ das Mädchen wissen:

„Noah war heute wieder bei mir. Er kommt jetzt beinahe jeden Tag. Ich denke, dass du ihm furchtbar fehlst. Er sagt, ich soll dich grüßen, falls ich dich sehe.“
 

Alice schluckte ein wenig und antwortete:

„Er fehlt mir auch! Glaubst du, ich sollte das Risiko eingehen und ihm sagen wo ich bin? Was, wenn mein Bruder ihn zusammenschlägt, um zu erfahren, wo ich bin?“
 

Joe zuckte ratlos mit den Schultern:

„Es ist gut möglich, dass dein Bruder ihn sich so oder so vornimmt. Davor kannst du ihn nicht bewahren. Die Frage ist, ob du glaubst, dass er in diesem Fall noch dichthalten wird?“
 

„Ich weiß es nicht?“ gab Alice zu: „Ich hoffe es!“ Sie überlegte eine Weile und schließlich hatte sie eine Entscheidung getroffen: „Sag` ihm einfach wo ich bin! Er fehlt mir so. Ich hoffe einfach, dass es gut geht.“
 

„Sicher?“ hakte Joe noch einmal nach:
 

„Ganz sicher!“ erwiderte Alice mit einem entschlossenen Kopfnicken.
 

Als draußen der Abend zu dämmern begann, setzten sich Kathryn und Justine Carpenter auf die Bank auf der Veranda und Ms. Carpenter bemerkte:

„Ich habe das Gefühl, mich vorhin bei Herrn Tiny recht unbeliebt gemacht zu haben. Mir ist es wichtig klarzustellen, dass ich keineswegs aufgrund seiner schwarzen Haut angenommen habe, dass er mein Gepäck tragen würde. Vielmehr habe ich diese beeindruckenden Arme gesehen und nach der langen, anstrengenden Reise auf ein wenig Ritterlichkeit gehofft.“
 

„Ich fürchte diese Botschaft kam nicht ganz richtig an. Ich denke, es wäre nicht verkehrt, wenn sie dieses Missverständnis in den nächsten Tagen mit ihm klären würden. Er ist ein sehr stolzer Mann!“ erwidere Kathryn.
 

Justine Carpenter fiel Kathryns liebevoller Gesichtsausdruck auf, als sie das sagte, also erkundigte sie sich:

„Ist er ihr Liebhaber, Miss Levroux?“
 

Kathryn schüttelte lächelnd den Kopf und gab ihrer Besucherin einen kleinen Bericht über ihre persönliche Geschichte und darüber, was sie mit Tiny verband.
 

Carpenter lächelte und kommentierte:

„Dann verfügen sie also im Grunde genommen über das, was man für gewöhnlich als „gute Herkunft“ bezeichnet und haben all` das für ihre Freiheit und ihren Freund hinter sich gelassen, um nun dieses Leben zu führen? Eine mutige Entscheidung!“
 

Kathryn schüttelte den Kopf:

„Das Leben, welches ich ansonsten hätte führen müssen, wäre vermutlich das größere Opfer gewesen. Ich genieße meine Freiheiten und bin jeden Tag umgeben von den Menschen die ich liebe! Ich bereue die Entscheidung in keiner Minute meines Lebens.“
 

Justine nickte und erwiderte nachdenklich:

„Ich denke, ich kann mir vorstellen, was sie meinen.“
 

James und Tiny saßen ein weiteres Mal auf ihrem Spähposten in der Nähe von Bob Carmichaels Haus, doch offenbar hatte sich dieser jedoch heute entschieden, von seiner üblichen Routine abzuweichen. Es war halb drei in der Nacht, als sich plötzlich die Tür der Hütte öffnete und Carmichael hinaus ins Mondlicht trat. James tippte Tiny an, welcher im Sitzen ein wenig vor sich hingedämmert hatte, um ihn darauf aufmerksam zu machen und sie machten sich bereit, ihm zu folgen.
 

Wie gewöhnlich, ging Carmichael hinüber zum roten Haus, nur dass er heute nicht einfach davor stehen blieb um zu gaffen wie sonst. Heute hatte er offenbar andere Pläne! Er näherte sich dem Gebäude geräuschlos und begann dann in die dunklen Fenster zu spähen.
 

Flüsternd gab James Tiny Anweisung, sich zurückzuhalten und ihm lediglich Deckung zu geben, während er sich von hinten an Carmichael heranschleichen würde, um ihn im passenden Moment festzunehmen. Selbst im schwachen Mondlicht konnte James erkennen, dass dieses Vorgehen dem körperlich überlegenen Mann überhaupt nicht passte, also fügte er hinzu:

„Ich bin der Deputy und es ist nun einmal mein Job, das zu tun. Und ich will dich nicht in Gefahr bringen. Du bist unbewaffnet und Joe würde mir nie verzeihen, wenn ich zuließe, dass dir etwas geschieht!“
 

Tiny schnaubte verächtlich.
 

James drehte sich um und pirschte sich an Carmichael heran, der sich mittlerweile der Haustür genähert hatte. Als er gerade die Klinke herunterdrücken wollte, rief James ihm laut und bestimmt zu:

„Hände hoch!“
 

Carmichael zuckte zunächst erschrocken zusammen, doch fasste er sich erstaunlich schnell wieder. Statt dem Befehl Folge zu leisten, wirbelte er blitzschnell herum, ging in die Knie, um möglichen Kugeln auszuweichen und sprang James dann aus dieser Position an. Ehe der überrumpelte James noch vollständig begriff, wie ihm geschah, hatte Carmichael bereits seine beiden Hände, an jener Hand von James, welche die Waffe hielt.
 

So offensiv, wie Carmichael vorging, hatte er offensichtlich nicht im geringsten Angst um sein Leben, oder aber keinen Zweifel daran, dass er im Kampf triumphieren würde. Und tatsächlich wurde schnell deutlich, dass Carmichael der Stärkere von ihnen beiden war. Die beiden Männer rangen miteinander und plötzlich zischte Carmichael grinsend und zuversichtlich:

„Überlass´ sie mir doch einfach, Deputy! Sie ist mein Schicksal und früher oder später wird sie ohnehin Mein sein!“
 

Der wahnsinnige, eiskalte Klang der Stimme seines Angreifers erschreckte James bis ins Mark. Dennoch gelang es ihm, Carmichael die Hand mit der Waffe zu entziehen und die Pistole fortzuwerfen, ehe sein Angreifer sie gegen ihn selbst richten konnte. Sie landete vor der Veranda in der Dunkelheit.
 

In diesem Moment erschien Tiny, der James zu Hilfe kommen wollte. Als Carmichael diesen kommen sah, versetzte er James mit dem Ellenbogen einen kräftigen Hieb auf den Kopf, um ihn auszuschalten. Tatsächlich ging dieser sofort zu Boden und blieb zunächst ein wenig verwirrt liegen. Carmichael schien die Flucht ergreifen zu wollen, denn er verschwand mit einem Satz von der Veranda. Doch dann erkannte James mit Entsetzen, dass Carmichael in Wirklichkeit im Dunkeln nach der Waffe suchte.

James rief Tiny eine Warnung zu, versuchte sich aufzurappeln, um Carmichael zu folgen, doch Tiny war schneller und stürzte sich auf den Angreifer. In diesem Moment hatte dieser allerdings tatsächlich die Pistole gefunden. James hielt erschrocken den Atem an. Zwar blieb Carmichael keine Zeit, sein Ziel sorgfältig anzuvisieren, ehe Tiny ihn erreichte, aber dennoch feuerte er die Waffe ab. James sah den Lichtblitz des Schusses und wie der große Mann zu Boden stürzte und Carmichael ebenfalls umriss. Dieser landete mit Wucht mit der rechten Schulter auf einem großen Stein, so dass er die Schusswaffe wieder aus seinen Händen verlor. Mittlerweile war es James gelungen, taumelnd wieder auf die Füße zu kommen. Die Waffe lag unweit von Carmichael und James wurde klar, dass er keine Sekunde zögern durfte. Er sprang über die beiden, am Boden liegenden Männer hinweg und landete direkt neben der Pistole auf seinen Füssen. Doch noch ehe James die Waffe ergriffen hatte und auf Carmichael zielen konnte, stand dieser bereits wieder auf den Beinen und rannte blitzschnell in die Dunkelheit.
 

James nahm mit schwankenden Schritten kurz die Verfolgung auf, doch Carmichael war bereits verschwunden. Also eilte James zurück, um nach Tiny zu sehen. Mit ängstlich klopfendem Herzen beugte er sich über den Verletzten und war unendlich erleichtert zu sehen, dass dieser noch lebte:

„Wo wurdest du getroffen?“ fragte er atemlos.
 

„Mein Bein!“ erwiderte Tiny mit gepresster Stimme.
 

James befühlte die unteren Extremitäten des am Boden Liegenden, ehe er die warme, klebrig-nasse Stelle am rechten Oberschenkels fand, wo die Kugel einen ziemlichen Krater gerissen hatte.

In diesem Moment öffnete sich die Haustür und nach und nach kamen die, durch den Schuss aufgeschreckten Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses heraus.
 

Joe und Kathryn erblickten den verletzten Tiny im selben Augenblick und stürzten auf ihn zu.
 

James zog sich ein wenig zurück und sagte schuldbewusst zu allen dreien:

„Es ist alles meine Schuld! Es tut mir so wahnsinnig leid!“

Dann erhob er sich und erklärte:

„Ich werde Doktor Miller holen!“
 

Doch als er sich zum Gehen wandte, merkte er bereits nach den ersten Schritten, dass ihm schwindelig wurde. Er ging auf die Knie und erbrach sich.

Kathryn eilte zu ihm und wollte wissen:

„Was ist los mit dir?“
 

„Mein Schädel tut mir weh!“ erwiderte er würgend: „Carmichael hat eins übergebraten.“
 

„Wir werden Tiny und dich ins Haus bringen.“ erklärte Kathryn fest
 

„Aber wir brauchen den Doktor!“ wiederholte James, als er abermals versuchte, aufzustehen und loszulaufen. Kathryn hielt ihn zurück.
 

Stattdessen erklärte Shy, welche inzwischen dazu gestoßen war:

„Ich werde gehen. Ich werde deine Schrotflinte mitnehmen Kathryn und diese beiden Mädchen….“ Sie wies auf Molly und Regine:“…werden mit mir kommen. Die Zwillinge sollten hier bei euch bleiben, falls wir Carmichael treffen. Wir dürfen nicht riskieren, dass er sie in die Finger bekommt!“
 

Regine erwiderte ängstlich:

„Aber was ist mit unseren Kindern?“
 

Nun meldete sich Sam zu Wort und versicherte tapfer:

„Keine Sorge Mama, ich werde mich um alle vier kümmern und auf sie aufpassen!“
 

Regine küsste ihren Sohn auf die Stirn und so machten sich die drei Frauen; die kleine Shy mit der Flinte im Anschlag vorweg, auf den Weg.
 

Joe und Kathryn war es inzwischen gelungen, Tiny aufzuheben. Links und rechts gestützt humpelte er unter Stöhnen auf einem Bein ins Haus. Dort schafften sie ihn auf das Sofa im Gemeinschaftsraum und lagerten das verletzte Bein hoch. Die Zwillinge halfen unterdes James dabei, ebenfalls ins Haus zu kommen und platzierten ihn auf dem Feldbett, welches glücklicherweise noch niemand fortgeräumt hatte.
 

In diesem Moment stießen die Gäste aus Boston zu ihnen. Sie hatten Öllampen bei sich und trugen hochgeschlossene Morgenmäntel über langen, weißen Nachthemden. Die Haare waren unter ebenfalls weißen Nachthauben verborgen.
 

Sie sehen aus, wie Gespenster, dachte Kathryn unpassender Weise in diesem Moment.

Justine Carpenter trat an das Sofa mit dem Verletzten heran, erfasste sehr schnell die Situation und forderte:

„Dürfte ich sie wohl um ihren Gürtel bitten, Mister Tiny.“
 

Der Angeschossene blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht verwundert zu ihr auf, leistete ihrer Aufforderung jedoch dann mit Joes Hilfe folge.

Justine Carpenter trat nun dicht an Tiny heran, wand ihm den Gürtel sehr weit oben um den Oberschenkel und schnürte ihn fest zu:

„Wir sollten die Blutung verlangsamen!“ erklärte sie ihr Vorgehen.

Während Tiny auf diese Weise versorgt wurde, schaute James hinüber zu seinem Freund Joe. Dieser blickte blass, angespannt und besorgt auf seinen Geliebten hinab.
 

James schluckte schwer. Er hatte auf ganzer Linie versagt!
 

Melody, welche inzwischen eine Schale mit kaltem Wasser und einem Lappen herbeigeschafft hatte, erriet offenbar seine Gedanken und erklärte bestimmt:

„Es ist nicht deine Schuld, Süßer! Leg` dich wieder hin entspann dich!“

Sanft drückte sie ihn zurück auf die Liege, wrang den Lappen aus und legte ihm diesen auf die Stirn. Dann streichelte sie zärtlich seine Wange und hielt seine Hand.
 

Die Kühle tat James schmerzendem Kopf wohl und die liebevolle Zuwendung seinem ganzen Wesen. Die Anstrengung der letzten Tage, die ständigen nächtlichen Einsätze, die Trennung von Kathryn, seine Schuldgefühle wegen Tiny und nicht zuletzt natürlich die Kopfverletzung schienen in diesem Moment endgültig ihren Tribut zu fordern. Er schloss die Augen und schlief augenblicklich ein.
 

Unterdessen erschien Doktor Miller gefolgt von den drei Frauen in der Tür. Er erblickte die beiden Verletzten und entschied, dass zunächst Tinys Schussverletzung zu versorgen sei. Während er dies tat, beobachtete er mit gemischten Gefühlen dessen jungen Liebhaber, der nicht von der Seite des Verletzten weichen wollte, seine Stirn, auf welcher Schweißperlen standen küsste, seine Hand hielt und beruhigend auf ihn einflüsterte. Beinahe gegen seinen Willen bemerkte der Doktor, wie etwas in ihm schmolz. Einen kurzen Moment lang vergaß er alles, was an diesem Anblick war und er sah nur noch zwei Menschen, die einander liebten und nichts weiter.

Als er seine Behandlung schließlich abgeschlossen hatte, legte er Tiny einen strammen Verband an und erklärte den Anwesenden:

„Der Verletzte hat sehr großes Glück gehabt. Es wurden offenbar weder ein große Arterie noch der Knochen getroffen. Die Kugel hat das Bein lediglich gestreift. Es ist allerdings dennoch eine recht tiefe Fleischwunde, welche einige Wochen brauchen wird, ehe sie verheilt ist und wir müssen uns vor Infektionen in acht nehmen.“
 

Nun wendete der Arzt sich James zu, entfernte das feuchte Tuch und erblickte sogleich die Beule, die sich nahe der Schläfe gebildet hatte. Er weckte den Deputy, ließ sich die Beschwerden beschreiben, befühlte den Schädel, machte ein paar Tests und nickte dann:

„Der Schädel scheint nicht gebrochen zu sein, soweit ich es erkennen kann, doch sie haben eine schwere Gehirnerschütterung, Deputy! Sie brauchen einige Tage unbedingte Bettruhe!“ erklärte der Mediziner.
 

James, dessen Kopfschmerzen mittlerweile beinahe unerträglich waren, antwortete gequält:

„Von mir werden sie keinen Widerspruch hören, Doktor.“
 

Es begann es bereits wieder hell zu werden als der Doktor heimkehrte. Die Frauen beschlossen, die beiden Verletzten nach oben in die Schlafzimmer zu bringen. Als Kathryn allerdings vorschlug, James solle bei ihr liegen, lehnte dieser dies entschieden ab und kündigte sogar an, stattdessen lieber nachhause laufen zu wollen.
 

Kathryn schüttelte den Kopf und warf ihm vor, sich wie ein stures Kind aufzuführen.
 

Joe schaltete sich vermittelnd ein:

„Warum legen wir nicht beide in Thomas Bett? Dann habe ich die zwei beieinander und kann sie leichter versorgen.“ schlug er vor
 

Nachdem sich die allgemeine Aufregung ein wenig gelegt hatte, beriet man sich, was nun zu tun sei. Man entschied, dass zuoberst für Sicherheit zu sorgen sei und so bewaffneten sich sowohl die Bewohnerinnen als auch ihre Gäste und bezogen Wachposten bei den Häusern.
 

Als die beiden Verletzten auf Tinys Schlafstatt platziert worden waren, kroch Joe zwischen sie, setzte sich mit angewinkelten Beinen an das Kopfende, blickte von Einen zum Anderen und erklärte bedrückt:

„Verdammt, ihr Zwei! Ich bin so wahnsinnig froh, dass es nicht schlimmer gekommen ist.“
 

James schluckte schwer und wiederholte kläglich:

„Es tut mir so wahnsinnig leid! Ich hätte euch nie in meine Arbeit mit hineinziehen dürfen.“
 

Tiny rappelte sich stöhnend so weit auf, dass er James anschauen konnte und antwortete:

„Was soll dieser Blödsinn? Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, wärst du jetzt wahrscheinlich tot! Und es ist doch eigentlich unser Problem, in das wir DICH mit hineinziehen. Carmichael ist schließlich nicht hinter DIR her!“
 

James wollte widersprechen, doch Joe unterbrach ihn streng:

„Lass´ es gut sein, James! Wir sind froh, dass du lebst. Und jetzt wird geschlafen! In Drei Stunden muss ich schon wieder zur Arbeit!“

Mit diesen Worten legte Joe sich zwischen sie, schlang einen seiner Arme um Tiny und ergriff mit der freien Hand die von James.
 

Beim Frühstück erkundigte sich Joe, wer sich um die Verletzten kümmern würde, solange er arbeitete. Sofort meldete sich Sam freiwillig. Joe blickte den Jungen mit hochgezogener Augenbraue zweifelnd an:

„Bist du sicher, dass du das hinkriegst? Sie brauchen Ruhe. Ich will nicht, dass du sie wachhältst und versuchst, sie zu überreden, mit dir Karten zu spielen, verstehst du?“ sagte Joe streng.
 

Sam schüttelte den Kopf, blickte Joe mit großen Augen an und erwiderte empört:

„Natürlich nicht! Ich bin doch kein Baby mehr! Ich kann mich sehr gut um Andere kümmern!“
 

In diesem Moment mischte Alice sich ein und bot an:

„Ich kann dir helfen, Sam! Ich bin froh, wenn ich etwas zu tun habe!“
 

Unschlüssig blickte Joe von dem Mädchen zu dem Jungen, dann übertrug er ihnen schweren Herzens seine Fürsorgepflichten und begab sich auf seinen Arbeitsweg.
 

Tiny saß aufrecht im Bett und hatte nichts weiter zu tun, als sich auf den klopfenden Schmerz in seinem Bein zu konzentrieren. Untätig herumzuliegen entsprach ganz und gar nicht seinem Naturell. Zu gern wäre er aufgestanden, um sich irgendwo im Haus nützlich zu machen, doch bereits der Gang ins Bad stellte ihn in seinem Zustand vor eine große Herausforderung.

Er blickte auf James hinab, welcher scheinbar schlafend neben ihm lag. Plötzlich öffnete der Deputy jedoch die Augen und Tiny fühlte sich ertappt. Um dies zu überspielen erkundigte er sich rasch:

„Wie geht`s s dir, Junge? Was macht der Kopf?“
 

James richtete sich unter Stöhnen ein wenig auf und erwiderte:

„Der tut noch immer höllisch weh, aber immerhin sehe ich kaum noch Sterne, also würde ich sagen, es geht bergauf.“
 

„Gut!“ brummte Tiny und schaute aus dem Fenster.
 

James blickte nachdenklich zu ihm hinüber. Schließlich räusperte er sich und erkundigte sich:

„Darf ich dir eine Frage stellen? Es geht um etwas Persönliches; etwas das Joe und dich betrifft?“
 

Tiny kniff skeptisch die Augen zusammen, doch er nickte und so fragte James schüchtern:

„Ich würde gern wissen, ob du immer schon Männer bevorzugt hast. Auch schon bevor du Joe getroffen hast.“
 

Tiny runzelte die Stirn. Wollte er auf diese Frage Antwort geben? Zögerlich erwiderte er schließlich:

„Ich habe mir diese Frage auch bereits einige Male gestellt und ich weiß es selbst nicht. Ich habe mein gesamtes erwachsenes Leben mit diesen Frauen verbracht. Das hat mir nicht viele Möglichkeiten gegeben, es herauszufinden. Ich habe auch nicht besonders viel darüber nachgedacht. Dieser Teil meines Lebens hat nie eine große Rolle gespielt,...bis ich Joe traf... “Tiny stockte ein wenig“…bis er mich geküsst hat.“
 

„Wie im Märchen? Vielleicht hat er dich wach geküsst?“ fragte James schüchtern.
 

Tiny blickte den Anderen fassungslos an. Dann lachte er:

„Ich begreife langsam, warum Joe dich so gern hat! Du bist irgendwie...rührend!“
 

James lief rot an und entgegnete mit eine, gequälten Lächeln:

„Ich wünsche mir wohl bloß, meine eigene Liebesgeschichte hätte auch ein wenig mehr von einem Märchen gehabt.“
 

Tiny drückte die Schulter von James:

„Nach Elizabeths Tod hätte ich nie geglaubt, dass Kathryn sich ein weiteres Mal auf einen anderen Menschen einlassen würde. Ich schätze, sie hat sich selbst mit dieser Sache zwischen euch beiden überfordert. Es ist nicht deine Schuld!“
 

James seufzte und kehrte Tiny den Rücken zu:

„Ich schätze, ich sollte wohl noch ein wenig schlafen.“ erklärte er mit missmutig.
 

Tiny blickte mitleidig auf den Rücken seines Bettnachbarn. Er wusste, dass es nicht viel gab, dass er für ihn tun konnte. Da musste James nun einfach durch.
 

Um die Mittagszeit suchte Justine Carpenter Kathryn auf und erkundigte sich, ob diese denn nicht vorhabe, den Sherriff über die nächtlichen Ereignisse in Kenntnis zu setzen?
 

Kathryn blickte Ms. Carpenter unglücklich an, als sie erwiderte:

„Das sollte ich wohl, doch die Angelegenheit ist nicht ganz einfach! Daher schiebe ich es bereits seit heute Morgen vor mir her.“

Sie gab in einem kurzen Bericht ihrer Erfahrungen mit Sheriff Snyder ab.
 

„Das überrascht mich, nachdem ich mitbekommen habe, dass Deputy Chester ihnen allen sehr nahe zu stehen scheint.“ erwiderte Justine verwundert.
 

Kathryn, welche nicht die geringste Lust verspürte, ihre Geschichte mit James vor Ms. Carpenter offenzulegen, antwortete lediglich knapp:

„Der Deputy ist ein Freund des Hauses! Das gilt leider keineswegs für den Sheriff, welcher uns hasst und von dieser Freundschaft wohl auch besser nichts erfahren sollte.“
 

Justine Carpenter nahm diese Information mit einem kleinen Stirnrunzeln zur Kenntnis und schlug vor:

„Ich könnte sie zum Sheriff begleiten. Mürrische ältere Männer sind eine Spezialität von mir.“
 

Kathryn grinste und nahm das Angebot dankend an.
 

Kathryn und Ms. Carpenter betraten das Sheriffsdepartment und fanden dort den Gesetzeshüter, welcher sich breitbeinig und gemütlich auf seinen Stuhl hinter seinem Schreibtisch geflegelt hatte. Als er die beiden Frauen erblickte, richtete er sich widerwillig ein wenig auf.

Kathryn kam sogleich zu Sache, weil sie sich mit diesem Mann nicht länger aufhalten wollte, als unbedingt nötig. Sie gab einen Bericht der nächtlichen Begebenheiten und erklärte, dass es zwei Verletzte gab, von denen der eine sein Deputy war, welcher Carmichael an einem Einbruch hatte hindern wollen.
 

Der Sheriff nahm die Ausführungen wenig beeindruckt zur Kenntnis. Als Kathryn geendet hatte, ging er nicht direkt darauf ein, sondern erkundigte sich zunächst, unhöflich mit dem Kinn auf Carpenter deutend:

„Und wer sind sie, wenn ich fragen darf?“
 

Ms. Carpenter ignorierte das rüde Benehmen des Sheriffs und stellte sich vor.
 

„Aha!“ meinte der Sheriff und fuhr fort: „Sie sind also eines dieser Flintenweiber aus Boston, die hierherkommen, um unseren Frauen verrückte Ideen in den Kopf zu setzen!“
 

Justine Carpenter lächelte kühl und antwortete:

„Keineswegs! Die Frauen sind uns längst nicht genug. Uns geht es vielmehr darum, die ganze Welt zu verändern. Auch SIE sind herzlich willkommen, sich einen unserer Vorträge anzuhören, Sheriff.“
 

Der Angesprochene schüttelte verächtlich den Kopf und antwortete barsch:

„Soweit kommt es noch!“
 

Nun mischte sich Kathryn ein und schalt ärgerlich:

„Lassen sie uns doch mal zum eigentlichen Thema zurückkommen, Sheriff! Zwei Verletzte Männer, die genauso gut hätten tot sein können und ein versuchter Einbruch in unser Heim: Was gedenken sie zu tun, Sheriff?“

Dieser zuckte genervt mit den Achseln und Kathryn fuhr fort:

„Ich schlage vor, sie schreiben Bob Carmichael umgehend zur Fahndung aus und versuchen, ihn festzunehmen! Meinen sie, sie schaffen das, Sheriff? Guten Tag!“
 

Mit diesen Worten verschwanden die beiden Frauen aus dem Department.
 

Der Sheriff sprang auf und blickte ärgerlich in die Richtung, in welche sie verschwunden waren. Dann schlug er mit seiner Faust so fest auf seinen Schreibtisch, dass ihm die Hand schmerzte. Er hasste diese rothaarige Hexe und nun hatte sie auch noch Verstärkung bekommen! Und diese beiden besaßen nun die Frechheit, hier aufzutauchen, derart mit ihm zu sprechen und ihm zu sagen, wie er seine Arbeit zu tun hatte?
 

Als Joe am Abend heimkehrte und Tinys Schlafzimmer betrat, fand er dort Alice, Sam, James und Tiny vor, wie sie auf dem Bett lümmelten und Karten spielten. Er hob gerade an, zu schimpfen, als Sam aufsprang und sich rechtfertigte:

„Das war gar nicht meine Idee! Wir haben uns gut um die Zwei gekümmert!“
 

Und Tiny ergänzte:

„Es stimmt! James und mir war so langweilig, da haben wir die beiden überredet, mit uns zu spielen.“ Schmeichelnd fügte er hinzu: „Sei nicht böse, Liebling!“
 

Joe grinste kopfschüttelnd.

„Ihr seid unverbesserlich!“ sagte er gespielt streng nd fügte hinzu: „Ich habe übrigens jemanden mitgebracht!“

Er trat in den Flur, winkte die Person herbei und in der Tür erschien Noah, mit verschlossenem Gesicht und hochgezogenen Schultern.
 

Über Alices huschte ganz kurz ein glückliches Lächeln, dann senkte sie den Blick und stellte sich mit vor der Brust verschränkt Armen vor ihn hin.

Eine Weile blieben die beiden Jugendlichen unschlüssig voreinander stehen, während die anderen Anwesenden sie erwartungsvoll beobachteten.

Alice bedachte ihren Freund mit einem unglücklichen Hundeblick, bis dieser schließlich nicht länger standhalten konnte. Er öffnete seine Arme und zog Alice zu sich heran, welche die Umarmung aufatmend erwiderte. Eine ganze Weile hielten die beiden einander wortlos fest und vergruben die Gesichter in der Halsbeuge des anderen.
 

Schließlich führte Alice Noah nach unten auf die Veranda, damit sie ungestört reden konnten.Der Junge begann sogleich, sich ausgiebig darüber zu beklagen, dass seine Freundin ihm tatsächlich zugetraut hatte, er könnte ihren Standort verraten:

„Das würde ich niemals tun; nicht einmal, wenn mein Leben davon abhinge!“ versicherte Noah ernsthaft.
 

Es folgten kleinlaute Erklärungsversuche von Alice. Mit schuldbewusster Miene nahm sie seine Hand und ihre Finger verschränkten sich ineinander:

„Verzeihst du mir?“ fragte sie kläglich.
 

Noah hielt es nicht mehr länger aus, Alice zu Kreuze kriechen zu lassen:

„Ich verzeihe dir!“ versicherte er.
 

Nun, da sich die Dinge sich zwischen den Beiden endlich wieder bereinigt anfühlten, gab es noch etwas anderes, über das Alice dringend mit Noah sprechen wollte:

„Ich schätze, du hattest recht mit deiner Vermutung über Joe.“ verkündete sie.
 

„Tatsächlich?“ fragte er mit großen Augen.
 

Alice nickte doch mit Bedauern fügte er hinzu:

„Aber es gibt bereits einen anderen in seinem Leben!“
 

Noah zuckte traurig mit den Schultern.

Er schwieg einen Moment, ehe er mit einem kleinen Lächeln verkündete:

„Die Hosen sehen gut an dir aus, Alice!“

Liebe und Freundschaft

Am Folgetag hatte Joe eine Entscheidung getroffen. Er verriet niemandem, auch nicht James und Tiny, die sich noch immer im roten Haus von ihren Verletzungen erholten, was er vorhatte, doch an diesem Morgen ging er nicht zur Arbeit, sondern hinüber zur Mine, um zu sehen, ob Carmichael dort war, denn ganz offensichtlich machte der Sheriff keinerlei Anstalten, ihn zu finden. Joe war jedoch fest entschlossen, ihn nicht ungeschoren mit dem davonkommen zu lassen, was er seinen Freunden angetan hatte.

Er beobachtete, wie die Arbeiter untertage gingen, doch Carmichael war nicht unter ihnen. Als Joe den Vorarbeiter nach ihm fragte, gab dieser an, ihn seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben und nicht zu wissen, wo er sich aufhielte. Also machte sich Joe auf, um Carmichaels Hütte einen erneuten Besuch abzustatten. Ihm war dabei sehr wohl bewusst, dass sowohl Tiny, als auch James ihm den Hals umdrehen würden, wenn sie von seinem Alleingang wüssten.

Joe vergewisserte sich zunächst durch die Fenster, dass Carmichael nicht zuhause war und dann trat er ein. Drinnen stellte er schnell fest, dass Carmichael nicht nur lediglich nicht daheim, sondern die Hütte gänzlich verlassen war. Die Tierkadaver waren verschwunden und ebenso sämtliche persönliche Habe, einschließlich des unheimlichen Altars, der sich auf dem Nachttisch befunden hatte. Joe hatte alles gesehen, was er wissen musste und verschwand.
 

Alice war allein in der Küche des Wohnhauses. Sie hatte eine schwere und wichtige Entscheidung getroffen und nun öffnete sie die Besteckschublade, nahm ein scharfes großes Messer heraus, setzte es an und machte den Schnitt.
 

Kathryn hatte soeben einige Gartenarbeiten erledigt und betrat nun die Bar, um sich zu erkundigen, ob die Bostonerinnen etwas bräuchten. Die Damen hatten dort sämtliche Tische zusammengeschoben und waren gerade in das Studium einer Karte der Umgebung vertieft. Miss Klugman hatte einen Arm um Miss Macclaine gelegt. Als sie Kathryn eintreten sah, zog sie diesen rasch fort, wie Kathryn mit Bedauern feststellte. Gern hätte sie etwas gesagt, um die Frauen dazu zu ermutigen, ganz sie selbst zu sein, doch sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte, ohne plump zu sein oder ihnen zu nahe zu treten.
 

Anstatt dessen meldete sich nun Justine Carpenter zu Wort. An Kathryn gerichtet erklärte sie:

„Wir werden in den nächsten drei Wochen die Orte besichtigen, an denen wir geplant hatten, unsere Vorträge zu halten. Vorab wollen wir dort Pamphlete verteilen und Termine bekannt geben. Vielleicht wollen sie sich uns als Ortskundige ja hin und wieder anschließen?“
 

Kathryn nickte und erwiderte begeistert, dass es ihr ein Vergnügen wäre.

Sie warf einen Blick auf den Tisch, auf welchem sich neben der Karte auch die angesprochenen Flugblätter befanden. Kathryn setzte sich und vertiefte sich in die Lektüre.
 

Später waren Melody, Margarete und Kathryn verabredet, gemeinsam das Mittagessen zuzubereiten. Als die drei die Küche betraten, weiteten sich ihre Augen zunächst vor Schreck. Dann brachen Kathryn und Melody in schallendes Gelächter aus.

Am Tisch saß Alice mit mürrischer Miene. Vor ihr lagen ein großes Messer und ihr abgetrennter Pferdeschwanz. Die verbliebenen Haare auf ihrem Kopf waren unterschiedlich lang und standen in alle Richtungen ab:
 

„Was hast du getan? Du siehst ja aus wie ein gerupftes Huhn, Mädchen!“ entfuhr es Kathryn und sie und Melody setzten ihr schadenfrohes Kichern fort.
 

Alice blickte ärgerlich zu den beiden auf und erklärte trotzig und mit Nachdruck:

„Ist mir total egal wie ich aussehe! Hauptsache, die blöden Haare sind ab!“
 

„Seid still ihr albernen Gänse und lasst die Kleine in Ruh`!“ schimpfte Margarete. An Alice gerichtet fügte sie sanft hinzu: „Ach du armes Ding! Was hast du dir nur angetan?“ sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Keine Sorge, meine Süße, ich werde das wieder in Ordnung bringen.“

Mit diesen Worten verschwand Margarete nach oben und war kurz darauf mit einer Schere in der Hand wieder da. Sie nahm die unglückliche Alice bei der Hand und führte sie nach draußen vor das Haus. Im Hinausgehen warf sie einen strengen Seitenblick auf Kathryn und ihre Schwester, die noch immer ein belustigtes Grinsen auf ihren Gesichtern hatten.
 

Margarete betrachtete das Mädchen stirnrunzelnd und überlegte, wie sie retten konnte, was eigentlich nicht mehr zu retten war, dann begann sie zu schneiden, Etwa zwanzig Minuten später hatte Alice einen sehr ansehnlichen Kurzhaarschnitt.
 

Alice blickte sie unsicher und fragend an. Margarete betrachtete zufrieden lächelnd das Ergebnis und erklärte:

„Du siehst hübsch aus! Zwar wie ein Junge, aber immerhin wie ein hübscher Junge!“
 

Alice grinste schüchtern und lief zum Spiegel. Dann kehrte sie strahlend zurück, fiel Margarete um den Hals und sagte:

„Das hast du toll gemacht! Vielen Dank!“
 

„Gern geschehen, mein Kind!“ erwiderte diese und fragte dann: „Aber warum hast du deine Haare denn überhaupt abgeschnitten? Sie waren doch so schön?“
 

„Meinem Bruder Niklas haben sie auch gefallen!“ erwiderte Alice finster.
 

„Ich verstehe!“ gab Margarete zurück und das tat sie wirklich.
 

Beide setzten sich auf die Bank auf der Veranda und schwiegen eine Weile, ehe Alice sich schließlich zu fragen traute:

„Dieser Kerl, der Tiny und James verletzt hat... was will er von dir?“
 

Margarete schluckte und zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete:

„Ich schätze, über kurz oder lang will er mich wohl umbringen. Was er bis dahin mit mir vorhat, weiß ich nicht.“ Tränen erstickten ihre Stimme, als sie fortfuhr: „Ich weiß nur, es wird etwas ganz Furchtbares sein.“
 

Alice blickte die Frau bestürzt an. Dann legte sie ihr unbeholfen einen Arm um die Schulter und sagte:

„Ich könnte versuchen, dich zu beschützen! Immerhin habe ich es ja auch geschafft, meinen Bruder von mir fern zu halten und der ist von der Arbeit in der Schmiede richtig stark!“

Stolz reckte sie das Kinn ein wenig vor.
 

Margarete legte dem Mädchen eine Hand auf die Wange, ehe sie entschlossen entgegnete:

„Wenn Carmichael hier auftaucht, möchte ich, dass du dich so weit wie möglich von ihm fernhältst! Er ist sehr, sehr gefährlich, hörst du? Das musst du mir versprechen!“ Nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen fuhr sie fort: „Ich hab´ es so satt. dass Andere wegen mir verletzt werden. Manchmal denke ich, ich sollte Carmichael einfach geben, was er will. Dann sind endlich wieder alle in Sicherheit!“
 

Alice blickte Margarete irritiert an und erwiderte dann fest:

„Das ist Unsinn! Deine Freunde beschützen dich, weil SIE es so wollen. Dafür sind Freunde doch da!“
 

Margarete hatte still zu weinen begonnen und sagte dann beinahe flüsternd:

„Aber ich überstrapaziere gerade ihre Hilfsbereitschaft. Wegen mir sind alle in Gefahr, haben Angst und können nicht mehr arbeiten. Damit muss endlich Schluss sein!“
 

„Ist doch nicht deine Schuld!“ erwiderte Alice nachdrücklich: „Dieser Kerl ist dafür ganz allein verantwortlich!“
 

Margarete schüttelte unwillig den Kopf:

„Aber ich bin in letzter Zeit unausstehlich und das ist sehr wohl meine Schuld! Nichts und niemand kann es mir recht machen! Einerseits kann ich nicht allein sein, weil ich sogar Angst vor meinem eigenen Schatten habe und andererseits weiß ich gar nicht mehr, wie ich mich anderen gegenüber verhalten soll. Manchmal will ich über das sprechen, was mir passiert ist, aber dann merke ich, dass keiner es wirklich ertragen kann. Sie versuchen, mich zu beruhigen und zu trösten und ich werde ungeduldig und ärgerlich. Meine Schwester ist voller Wut, sagt, dass sie Carmichael umbringen will und schaut mich erwartungsvoll an, damit ich ihr zustimme, doch ich fühle mich einfach nur schwach. Früher haben wir uns praktisch ohne Worte verstanden, doch jetzt ist sie sicher enttäuscht von mir, weil ich so schwach und nutzlos bin. Wie kann ich erwarten, dass die anderen mich beschützen, wenn ich unfähig bin, mich selbst zu verteidigen. Nachts liege ich im Bett und bin starr vor Furcht. Ich sehe wieder vor mir, was er mir angetan hat, fühle die Verletzungen, die noch immer nicht ganz verheilt sind und dann wünschte ich, er hätte mich wirklich umgebracht. Dann hätte ich es wenigstens hinter mir!“
 

Alice blickte sie traurig und sprachlos an und plötzlich wurde Margarete bewusst, dass ihre Gesprächspartnerin eigentlich noch ein Kind war. Bestürzt sagte sie:

„Ich sollte dir das alles eigentlich gar nicht erzählen. Es ist viel zu furchtbar!“
 

Alice schüttelte den Kopf und behauptete:

„Es ist in Ordnung!“

Dann zog sie den Kopf der Älteren an ihre Schulter und umarmte sie sanft und fürsorglich und obwohl Margarete dagegen ankämpfte, brach sie nun endgültig in Tränen aus.
 

Während Alice die weinende Frau in den Armen hielt, fühlte sie sich stark und beschützerisch und nicht mehr wie ein Mädchen, das sich ängstlich vor seinem Bruder versteckte.

Dieses Gefühl gefiel ihr!
 

Angestrengt vom Weinen ruhte sich Margarete später auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum aus.

Alice saß derweil auf den Stufen der Veranda und kraulte mit der einen Hand ausgiebig den Kopf des Hundes, der dies augenscheinlich sehr genoss und mit der anderen einen großen, alten einäugigen Kater, der sein Kinn auf dem Knie des Mädchens abgelegt hatte und wohlig auf ihre Hose sabberte. In diesem Moment kam Helena Rothschild dazu.

Als sie Alice erblickte, stutzte sie kurz, dann grinste sie breit:

„Du bist dieses Mädchen? Alice, richtig? Ich hätte dich beinahe nicht erkannt! Was ist denn mit deinen Haaren passiert?“
 

„Die sind ab!“ verkündete Alice knapp.

Sie beäugte Helena misstrauisch und wappnete sich, in Erwartung irgendeiner Gemeinheit, denn so war sie es gewohnt. Seit jeher hatten diese hübschen, perfekten, eleganten; diese echten und richtigen Mädchen, wie diese Helena eine war Alice das Leben schwer gemacht. Und stets ging es dabei darum, wie sie aussah, zu groß, zu hässlich, zu stark, zu dürr, zu flachbrüstig!

Alice wusste, dass sie neben solchen Schönheiten nicht bestehen konnte und wollte es im Grunde auch nicht. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Nun wartete sie auf Helena Rothschilds Spitze, welche zweifelsohne jeden Moment kommen würde.
 

Und so traf es Alice völlig unvorbereitet, als die junge Frau strahlend verkündete:

„Es sieht großartig aus! Nein, besser als großartig, es ist perfekt! Viel besser, als vorher! Es steht dir richtig gut!“
 

Alice blickte sie skeptisch an und murmelte ein knappes „Danke!“, während sie eigentlich noch immer auf die Pointe des Scherzes auf ihre Kosten wartete.
 

Stattdessen hockte Helena sich neben sie auf die Stufen und lächelte sie immer noch strahlend an. Alice betrachtete die hübsche junge Frau neben sich mit einem Rest Misstrauen von der Seite, bis der Hund, den sie vor Überraschung zu streicheln aufgehört hatte sie mit seiner feuchten Nase vorwurfsvoll anstupste.
 

Im Laufe des Tages erhielt Alice noch viele Komplimente dieser Art für ihren neuen Haarschnitt und bis zum Abend gelang es ihr beinahe schon, den Anderen zu glauben.
 

Beim Abendessen wurde es wieder einmal sehr eng am Tisch. Neben all den Bewohnern und Bewohnerinnen des Hauses und den Besucherinnen aus Boston waren da nämlich noch Alice, James, Joe und auch Doktor Miller, der zuvor nach seinen Patienten geschaut hatte und dann zum Dinner eingeladen worden war. Und auch Rebecca und Felicity waren gekommen, weil Joe angekündigt hatte, dass es Neuigkeiten gäbe.
 

Als die Mahlzeit beendet war, erhob sich der junge Mann also und verkündete, was er heute bei seiner Aufklärungsmission herausgefunden hatte.

Wie erwartet, erhob sich zunächst einmal der empörte Tumult seiner Freunde darüber, dass er sich in Gefahr gebracht hatte, indem er sich allein auf die Suche nach Carmichael begeben hatte.
 

Joe wartete gelassen, bis die vorwurfsvollen Stimmen abebbten, ohne auch nur den Versuch einer Rechtfertigung zu unternehmen; denn im Grunde war ihm natürlich bewusst, dass seine Freunde recht hatten, aber es hatte nun einmal getan werden müssen, also hatte er es getan. Ihm entging natürlich auch der finstere Blick nicht, welchen ihm sein Geliebter quer über den Tisch hinweg zuwarf.

Joe versuchte, sich davon nicht allzu sehr verunsichern zu lassen. Tiny würde schon irgendwie damit zurechtkommen.
 

Als sich alle wieder einigermaßen beruhigt hatten, zog Joe sein Fazit:

„Carmichael hat es entweder aufgegeben und ist verschwunden oder er ist untergetaucht und plant seinen nächsten Zug.“
 

Nun meldete sich James zu Wort:

„So gern ich glauben würde, dass der Kerl einfach abgehauen ist; mein Instinkt sagt mir leider, dass er nicht aufgeben wird. Er ist wie besessen von…“ Er schluckte, denn ein Blick auf Margarete machte ihn unfähig, seinen Satz zu beenden.
 

Margarete hatte ihn auch so verstanden, blickte hinab auf ihren Schoß und nickte leicht. Alice neben ihr griff nach der Hand der Frau und ihre Finger verschränkten sich ineinander.
 

Kathryn erklärte:

„Wir müssen wohl auch in Zukunft jede Nacht Wache halten. Ich schlage vor, dass wir Zweiergruppen bilden und uns etwa alle drei Stunden abwechseln, damit jeder ein wenig Schlaf bekommt. Kinder und Verletzte sind davon ausgenommen sein. Also läuft es auf Joe, Shy, Melody, Regine, Molly und mich hinaus.“
 

Wieder erhob sich ein Stimmgewirr, denn Sam und Alice waren der Meinung, dass auch sie sehr wohl Wache halten könnten und die Verletzten, Tiny und James behaupteten dasselbe von sich. Während den beiden Ersteren Regine und Kathryn streng verboten, sich auf diese Weise in Gefahr zu begeben, erklärte der Doktor den Verwundeten eindringlich, dass sie momentan ebenfalls nicht in der Verfassung dazu seien.

Justine Carpenter versprach daraufhin, dass auch sie und ihre Mitstreiterinnen sich an der Nachtwache beteiligen würden. Kathryns Gegenrede, dass man für die Sicherheit der Gäste verantwortlich sei, wies diese streng, entschieden und mit dem Hinweis darauf zurück, dass einige der Damen über Schusswaffen verfügten und auch sehr gut in der Lage waren, diese zu benutzen.
 

Auch Felicity und Rebecca erklärten, dass auch sie nachts eine Schicht übernehmen würden, solange die Bedrohung akut sei, was Doktor Miller mit einem besorgten Blick kommentierte und stattdessen anbot, seinerseits zu patrouillieren. Da man sich jedoch einig war, dass der Doktor ein viel zu beschäftigter Mann war und man ja auch nicht wissen konnte, ob seine medizinischen Dienste nicht noch ein weiteres Mal notwendig werden würden, wurde dies dankend abgelehnt. Mit sorgenvollem Gesicht legte der Doktor einen Arm um seine tapfere Tochter, welche zuversichtlich lächelnd seine Hand ergriff und sie streichelte.

Schließlich wurde ein Zeitplan erstellt, damit jeder wusste, wann und mit wem er eingeteilt war und im Anschluss daran löste die Runde sich nach und nach auf.
 

Um sich seine Strafpredigt abzuholen ging Joe hinüber zu Tiny, welcher mit James am Tisch sitzen geblieben war. Tiny schwieg jedoch und blickte geflissentlich durch seinen Freund hindurh.
 

James machte Anstalten sich zu erheben und erklärte:

„Ich denke, ich lasse euch erst mal allein und heute Nacht werde ich wieder hier unten auf dem Feldbett schlafen, damit ihr zwei euch in aller Ruhe aussprechen könnt.“
 

Doch Tiny griff James mit seinen Schraubstockhänden am Arm, hielt ihn zurück und antwortete eisig:

„Du kannst bleiben und auch gern bei mir im Bett schlafen, aber Joe sollte sich heute Nacht lieber nach einer anderen Möglichkeit umsehen!“
 

Joe schluckte ein wenig. Er nickte, wandte sich um und verschwand.
 

Alice nahm nach dem Abendessen wieder auf die Veranda Platz und betrachtete die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Plötzlich entdeckte sie eine Gestalt, die sich bemühte, ungesehen das Haus zu erreichen. Im ersten Moment wollte sie Alarm schlagen, doch dann erkannten sie den altvertrauten Gang und die Schemen ihres lieben Freundes. Sie lief ihm ein Stück entgegen und winkte ihm, hinüber zur Scheune zu kommen. Dort angekommen entzündete sie eine Öllampe.

Erst jetzt im Lampenschein erblickte sie Noahs aufgeschlagene Lippe und das tränenverschmierte Gesicht ihres Freundes:

„Ich habe nichts verraten und ich habe gut aufgepasst, dass er mir nicht folgt!“ brach es aus dem Jungen heraus und dann rollten die Tränen.
 

Alice umarmte ihn und hielt ihn fest, bis er sich wieder ein wenig gefangen hatte. Dann flüsterte sie:

„Verdammt! Es tut mir so leid!“
 

„Du kannst nichts dafür!“ versicherte Noah schniefend.

Dann blickte er zu seiner Freundin auf und erst jetzt registrierte er Alices Typveränderung. Mit einem kleinen Grinsen erklärte er:

„Du siehst toll aus! Irgendwie wie ein Junge.“ Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: „Wenn ich nicht wüsste, dass du es bist, würde ich mich vielleicht ein bisschen in dich verlieben!“
 

„Pfft!“ antwortete Alice mit burschikos überspielter Verlegenheit und boxte ihrem Freund leicht auf den Arm. Dieser stöhnte, denn die Lippe war nicht die einzige Region seines Körpers, welche Niklas mit seinen Fäusten bearbeitet hatte.
 

Entschuldigend streichelte Alice die Wange ihres Freundes und wollte wissen:

„Und nun?“
 

„Ich werde meine Mum darauf ansetzen. Warum soll es nicht einmal von nützlich sein, dass sie so ist, wie sie ist? Soll sie doch mit deinem großem Bruder fertig werden!“ gab Noah achselzuckend zurück.
 

Alice grinste bei der Vorstellung, wie Gretchen Schultz auf ihren Bruder niederging, wie die sieben biblischen Plagen, wies jedoch darauf hin, dass Naoh selbstverständlich seinen Eltern gegenüber Stillschweigen über ihren Aufenthaltsort bewahren und behaupten, er wüsste nicht, wo sie sei.
 

„Klar! Was denkst du denn? Das ich blöd bin?“ brummte Noah eingeschnappt.
 

Alice lächelte entschuldigend und drückte dem Verletzten vorsichtig einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich wieder zur Rückkehr bereit machte, bevor sein Fehlen zuhause noch auffiel.
 

Als Alice wieder allein war, machte sich das Mädchen auf die Suche nach Margarete.
 

Als Margarete sich an diesem Abend zurückzog, bemerkte Kathryn irritiert, dass diese offensichtlich heute nicht vorhatte, allein zu schlafen. Stattdessen führte sie Alice an der Hand die Treppen hinauf.

Kathryn tippte Melody an, um diese auf die befremdliche Szene aufmerksam zu machen. Dann fragte sie:

„Was ist denn da los?“
 

Melody blickte ihrer Schwester stirnrunzelnd hinterher und antwortete:

„Woher soll ich das wissen! Ich hoffe nur, es ist nicht das, wonach es aussieht!“
 

Margarete war dankbar gewesen, als Alice ihr angeboten hatte, in der Nacht bei ihr zu bleiben, denn sobald es dunkel wurde, wuchsen ihre Ängste für gewöhnlich beinahe bis ins Unermessliche. Aber als nun dieses fremde Mädchen schüchtern auf ihrer Bettkante saß, fühlte es sich doch eigenartig an, sie hier zu haben.
 

Als habe Alice ihre Gedanken gelesen, versicherte sie:

„Ich kann für mich auch das Feldbett heraufholen, falls dir das angenehmer ist. Das macht mir nichts aus!“
 

Kopfschüttelnd schob Margarete ihre Zweifel beiseite und erwiderte:

„Nicht nötig! Mein Bett ist doch groß! Wir kommen uns schon nicht ins Gehege.“
 

Da er am Morgen wieder früh für die Arbeit aufstehen musste, hatte Joe gemeinsam mit Kathryn die erste Schicht übernommen. Sie hatten soeben eine Runde um die beiden Häuser und in die Scheune gemacht und waren nun zum Wohnhaus zurückgekehrt, wo sie sich auf die Veranda setzten. Schweigend blickten sie eine Weile Schulter an Schulter in die Dunkelheit.
 

Unvermittelt fragte Kathryn irgendwann in die Stille hinein:

„Ich habe den Eindruck, du gehst mir seit einer Weile aus dem Weg. Bist du etwa wütend auf mich, weil ich meine Beziehung zu James beendet habe?“
 

Joe war überrascht über diese offen gestellte Frage, doch er fand schon immer, dass eine ehrliche Frage auch eine ehrliche Antwort verdiente:

„Es stimmt, ich bin wütend über die Art und Weise, wie du es getan hast und ich verstehe immer noch nicht deine Gründe. Du hast James wirklich wehgetan und das hat er mit Sicherheit nicht verdient.“
 

„Das wollte ich nicht!“ gab Kathryn ungewohnt kleinlaut zurück und wollte wissen: „Wie geht es ihm mittlerweile?“
 

Joe zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Er war in letzter Zeit abgelenkt, durch all die Dinge die vorgefallen sind, aber ich denke du fehlst ihm.“

Er schwieg eine Weile und fragte dann: „Fehlt er Dir eigentlich auch?“
 

Kathryn schluckte ein wenig, dann nickte sie.

Sie sich für einen erneuten Rundgang und forderte:

„Sag es ihm nicht! Mach` ihm nicht unnötig Hoffnung!“
 

Trotz Tinys Ankündigung, ihn heute Nacht nicht sehen zu wollen, begab sich Joe nach seiner Schicht unverzüglich nach oben zu dessen Zimmer. Leise drückte er die Türklinke herunter und schlich an Tinys Bettseite, wo er unschlüssig abwartend stehenblieb. Als sich nichts tat, fragte Joe unsicher:

„Bist du wach?“
 

Keine Antwort.
 

Doch Joe war hartnäckig und so leicht würde er nicht aufgeben:

„Darf ich zu dir kommen, Thomas?“ erkundigte er sich also.
 

Tiny gab lediglich einen knurrenden Laut von sich, doch Joe konnte in der Dunkelheit erkennen, dass sein Freund als Einladung seine Bettdecke anhob. Rasch streifte der junge Mann Hemd und Hose herunter und kroch in seiner Unterwäsche neben ihn.

Als Joe sich in Tinys Armbeuge schmiegte, fragte er flüsternd:

„Verzeihst du mir?“
 

Statt einer Antwort erhielt der Jüngere einen Kuss.
 

Auf der anderen Seite des Bettes lag James, der sich schlafend gestellt hatte. Er schmunzelte über Joes Beharrlichkeit und war erleichtert darüber, dass seine Freunde sich wieder versöhnt hatten.

Dann betete er insgeheim, dass es bei diesem einen Kuss bleiben würde.
 

In dieser Nacht erwachte Margarete vom Klang ihrer eigenen Stimme. Sie hatte einen kleinen erstickten Schrei von sich gegeben. Offenbar hatte sie schlecht geträumt, auch wenn sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Ihr Herzschlag und Atem waren beschleunigt und sie schwitzte, obwohl ihr eiskalt war. Neben ihr regte sich Alice, gerade wach genug, um Margaretes ängstlichen und erregten Zustand zu realisieren:

„Shht! Alles in Ordnung!“ versicherte sie schläfrig, legte einen Arm um die Frau neben sich und zog sie eng zu sich heran.
 

Margarete schmiegte sich an das Mädchen und spürte, wie deren Nähe, Wärme und ihr regelmäßiger Herzschlag sie beruhigten. Rasch schlief sie wieder ein und erwachte erst am nächsten Morgen wieder.

Als sie die Augen aufschlug, war Alice bereits wach. Sie hatte die langen Beine angewinkelt, den Kopf aufs Knie gelegt und schaute aus dem Fenster. Als sie realisierte, dass Margarete erwacht war, wuschelte sie sich durch das wirre kurze Haar, in der Hoffnung, damit so etwas wie eine geordnete Frisur herzustellen, lächelte schüchtern zu ihr herunter und wünschte einen guten Morgen.
 

Margarete setzte sich auf, erwiderte den Gruß und fügte hinzu:

„Ich danke Dir, Kleines! Das hat geholfen!“
 

Alices Grinsen wurde breiter und leicht errötend antwortete sie:

„Ehrlich gesagt habe ich nachts auch oft Angst, wegen der Sache mit meinem Bruder und so, denn da kam er immer! Ich fand es auch gut, nicht allein zu sein.“
 

Die beiden standen auf, gingen nacheinander ins Bad und kamen schließlich Hand in Hand an den Frühstückstisch.
 

Melody warf den beiden über die lange Tafel hinweg einen skeptischen Blick zu, den Margarete jedoch entweder nicht wahrnahm oder bewusst ignorierte, wie Melody ärgerlich feststellte. Den ganzen Tag über versuchte sie daraufhin, ihre Schwester allein zu fassen zu bekommen, doch wie ein treuer Wachhund wich das Mädchen nicht von Margaretes Seite. Erst als am Nachmittag der Sohn des Reverends auftauchte, konnte sie endlich ungestört mit ihr sprechen.
 

Margarete war gerade vor dem Haus und hängte Wäsche auf, als Melody sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor sie hinstellte und ohne große Vorrede fragte:

„Was bitte ist das mit dir und diesem Mädchen?“
 

Margarete unterbrach ihre Tätigkeit und blickte ihre Schwester verständnislos an, also fuhr Melody fort:

„Ihr seht aus wie ein Liebespaar!“
 

Margarete wurde zunächst ein wenig grau vor Schreck. Dann spürte sie, wie Ärger in ihr aufstieg. Sie warf ein nasses Handtuch nach ihrer Schwester und erwiderte aufgebracht:

„Bist du irre! Sie ist doch noch ein Kind!“
 

Melody hatte das Wäschestück aufgefangen und warf es ärgerlich zurück in den Korb, als sie erwiderte:

„Sie ist eine Jugendliche, beinahe schon erwachsen und sie merkt gerade, dass sie sich für Frauen interessiert. Was soll sie denken, wenn du sie mit in dein Bett nimmst?“
 

„Wenn ich sie mit in mein Bett nehme?“ schimpfte Margarete: „Was deutest du denn da an? Du spinnst wohl! Du siehst das vollkommen falsch! Es tut mir gut mit dem Mädchen zusammen zu sein und ich denke, ihr geht es umgekehrt genauso. Vertrau mir doch einfach! Ich habe die Situation im Griff!“

Sie kehrte ihrer Schwester den Rücken zu, setzte das Aufhängen der Laken fort und signalisierte so, dass das Gespräch für sie beendet war.
 

Melody starrte noch eine Weile zornig die Rückansicht ihrer Schwester an, ehe sie sich mit einem Ruck abwendete und verschwand.

Jäger und Beute

In den folgenden beiden Wochen verbrachte Kathryn sehr viel Zeit mit Justine Carpenter und den anderen Frauen. Die beiden Pferde, die zum Haus gehörten und welche ansonsten die meiste Zeit gemütlich auf einer kleinen Weide hinter dem Wohnhaus zubrachten, wurden nun beinahe täglich vor den Wagen gespannt, der zuvor nur für größere Besorgungen für die Bar gedient hatte. Nun nutzten ihn die Frauen, um die benachbarten Ortschaften zu besuchen, Handzettel zu verteilen und für ihre Sache zu werben.
 

In der Gesellschaft dieser Damen stellte sich Kathryn immer öfter die Frage, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie damals nicht mit Tiny fortgegangen wäre? Würde sie in diesem Fall wohl auch ihre Bildung und ihren gesellschaftlichen Einfluss nutzen, um sich politisch für die Sache der Frauen einzusetzen? Oder würde sie wohl geheiratet haben, einen Haushalt führen, Teegesellschaften geben, während ihre Kinder von einer Nanny großgezogen wurden und wäre gleichgültig für die Belange der Welt außerhalb ihrer vier Wände? Und wäre sie in diesem Fall wohl zufrieden mit ihrem Leben oder würde sie sich fragen, was ihr belangloses Dasein für einen Zweck hatte? Seltsamerweise hatte sie vor ihrer Begegnung mit Justine niemals das ungewöhnliche Leben infrage gestellt, welches sie heute führte.
 

Fasziniert beobachtete Kathryn Justine bei diesen Ausflügen dabei, wie sie zu den Menschen sprach und diese mit einer Kombination aus Wortgewandtheit, intelligenter Argumentation und Menschenkenntnis von ihrem Anliegen überzeugte. Vor der Ankunft dieser Frauen hatte Kathryn noch große Zweifel gehabt, ob sich überhaupt irgendjemand für die geplanten Veranstaltungen interessieren würde, doch Justine forderte die Menschen heraus und machte sie neugierig. Vielleicht würde sie nicht jeden von ihrer Sache überzeugen können, aber zumindest regte sie die Menschen dazu an, neu über die Welt und das Verhältnis von Männern und Frauen nachzudenken. Und es war ein Vergnügen, ihr dabei zuzuschauen!
 

Gegen Mittag, kurz vor der Mittagspause, erhielt Joe im Geschäft Besuch von Noah. Der Junge wirkte nervös und es war unübersehbar, dass er über etwas Wichtiges sprechen wollte.
 

„Ich brauche Geld!“ platzte er ohne Vorrede heraus.
 

Joe blickte ihn verwundert an und erklärte dann:

„Es tut mir leid, aber ich habe selbst nicht viel!“
 

Noah schüttelte heftig mit dem Kopf und antwortete:

„Nein, nein, so meine ich das doch gar nicht. Ich brauche Arbeit! Ich will etwas sparen, damit ich irgendwann von hier verschwinden kann; am liebsten zusammen mit Alice! Meine Eltern setzen mir immer mehr zu und wollen, dass ich diesen Sommer mit dem Studium beginne. Ich will das aber nicht!“

Sein Gesicht war zu einer hilflosen Grimasse verzerrt und er verschränkte die Arme vor der Brust.
 

Joe blickte ihn mitfühlend an und erwiderte:

„Aber was kann ich denn da tun?“
 

„Meinst du, ich könnte hier mit dir arbeiten?“ erkundigte sich Noah hoffnungsvoll.
 

Joe zuckte ratlos mit den Schultern. Der alte Pete war in letzter Zeit immer häufiger krank gewesen und Joe hatte tatsächlich gelegentlich gedacht, dass er im Laden ein wenig Hilfe gebrauchen könnte, doch er war sich nicht sicher, ob Pete bereit war, ein weiteres Gehalt zu zahlen und schon gar nicht an jemanden wie Noah. Der Junge war klein, schmalschultrig, feingliedrig, also alles in allem das Gegenteil von dem, was Pete von einem Mitarbeiter erwartete. Ihn dazu zu bewegen, Noah einzustellen, würde einiges an Überzeugungskraft und Charme erfordern.

Doch ehe er sich derart ins Zeug legen würde, wollte er von Noah die Versicherung, dass er wirklich glaubte, den körperlichen Anforderungen gewachsen zu sein. Der Jüngere nickte eifrig, und die großen, aufrichtigen Kulleraugen rührten ihn derart, dass er schließlich versprach, bei Pete ein gutes Wort für ihn einzulegen:
 

„Komm` heute Abend zum roten Haus; dann sage ich dir, wie er sich entschieden hat.“ antwortete Joe.
 

Wie erwartet, hatte Pete tatsächlich zunächst einige Vorbehalte und Joe musste einiges an Überredungskunst aufbringen.

„Der Pastornsohn! Der sieht doch aus wie` n kleines Mädchen!“ maulte Pete.
 

„Ich werde ihm schon Beine machen!“ versprach Joe grinsend und fügte hinzu: „Wir können ihn doch erst mal auf Probe beschäftigen. Außerdem denke ich, dass ein weiteres paar Hände nützlich wäre.“
 

Pete zuckte unentschlossen mit den Schultern und knurrte:

„Und wovon soll ich ihn bezahln?“
 

Joe zog listig eine Augenbraue hoch und erklärte:

„Ich kenne die Gewinnspanne des Ladens! Du kannst es dir sehr wohl erlauben, den Jungen zu beschäftigen. Und seien wir mal ehrlich Pete! Du wirst nicht jünger und schaffst die Arbeit doch eigentlich gar nicht mehr. Warum setzt du dich nicht zur Ruhe, lässt die Jungen für dich schuften und lebst von dem, was der Laden abwirft?“
 

Pete blickte den jungen Mann mürrisch an und knurrte:

„Probiern wir`s. Aber wenn der Bengel nicht zupackt, muss er gehn!“
 

„Abgemacht!“ erwiderte Joe zufrieden.
 

Bob Carmichael war in den zurückliegenden Nächten nicht beim roten Haus aufgetaucht. Alle begannen vorsichtig aufzuatmen, aber dennoch hielt man die Nachtwachen vorsichtshalber weiterhin aufrecht.
 

James war mittlerweile wieder gesund genug, um zur Arbeit zu gehen und in den Nächten eine der Wachschichten zu übernehmen. Heute traf es sich, dass er seine Schicht gemeinsam mit Kathryn antreten sollte.

Er blickte dieser Aussicht mit gemischten Gefühlen entgegen.
 

Auch Kathryn fühlte sich unbehaglich. Zwar hatten sie sich in den letzten Wochen beinahe täglich gesehen, doch für gewöhnlich verbrachten sie dabei keine Zeit allein miteinander.
 

Beklommen saßen sie also schweigend nebeneinander auf der Veranda in der Dunkelheit. Um das Schweigen zu brechen, erkundigte sich James nach der Arbeit der Bostonerinnen und bereute es sofort, als er hörte, wie leidenschaftlich und schwärmerisch sie von Justine Carpenter sprach. Die Eifersucht, die er in diesem Moment fühlte, zerriss ihn beinahe innerlich, also wechselte er rasch das Thema, indem er unvermittelt fragte, was ihn schon so lange beschäftigte:

„Ich zermartere mir das Gehirn Kathryn, aber ich verstehe einfach immer noch nicht, was geschehen ist. War es mein Heiratsantrag, oder etwas anderes?“
 

Kathryn schwieg eine Weile überrumpelt. Als sie sich wieder ein wenig gefasst hatte, antwortete sie schlicht:

„Der Antrag hat mir etwas klar gemacht: Du kennst mich überhaupt nicht und wir passen nicht zusammen, James.“
 

Der Deputy schüttelte grimmig den Kopf und erwiderte:

„Das ist vollkommener Blödsinn, Kathryn! Mein Antrag mag unüberlegt gewesen sein, doch ich habe es getan, weil ich Angst hatte, dich zu verlieren. Du denkst, ich würde dich nicht kennen? Ich kenne dich sogar verdammt genau; deine guten und deine schlechten Seiten!“
 

„Ach wirklich? Und welche Seiten sollen das wohl sein?“ erkundigte sich Kathryn in scharfem Ton:
 

Jameswar nicht mehr der eingeschüchterte Bursche, der er gewesen war, als sie sich kennengelernt hatten und er würde nun kein Blatt vor den Mund nehmen:

„Du kannst hartherzig, herrschsüchtig, kalt, und jähzornig sein...“ erklärte er. Kathryn setzte an, ihn zu unterbrechen, doch James bedeutete ihr mit erhobener Hand energisch, dass er noch nicht fertig war: „…aber du hast auch eine andere Seite. Du bist liebevoll, mitfühlend, zärtlich, verletzlich. Und du bist verletzt. Und das ist wohl der wahre Grund für all´ das!“ Er schluckte und fuhr fort: „Ich liebe dich, Kathryn! Ich liebe alles was du bist, deine Härte und deine Zartheit.“
 

Kathryn wandte sich ab, als sie entgegnete:

„Du musst endlich loslassen, James!“
 

Weinte sie etwa?
 

„Du kannst dich von mir lossagen, aber du kannst mir nicht vorschreiben, was ich fühlen darf, Liebste.“ sagte James sanft.
 

„Warum reden wir noch über das Ganze? Es ist vorbei!“ erwiderte Kathryn.
 

James schüttelte den Kopf:

„Wir reden darüber, weil wir es bislang noch nicht getan haben. Du bist ziemlich unbehelligt davongekommen! Aber du sollst auch wissen, wie es mir mit der ganzen Sache geht! Hast du mich überhaupt jemals geliebt, oder war das alles bloß ein Zeitvertreib für dich?“

Nun kämpfte auch mit seinen Tränen:
 

„Ich habe uns beiden einen Gefallen getan, indem ich es beendet habe, ehe es noch schmerzhafter wurde, verflucht! Und dieses Gespräch ist nun zu Ende!“ entgegnete Kathryn trotzig:
 

„Du hast es beendet, weil du Angst hattest und du hast es dir leicht gemacht!“

antwortete James ebenso störrisch, wischte sich über die Augen, erhob sich und fügte hinzu: „Aber du hast recht, darüber zu reden bringt überhaupt nichts. Lass uns tun, wofür wir hier sind und noch eine Runde ums Haus machen.“

Mit diesen Worten stürmte er los. Kathryn folgte ihm widerwillig.
 

Den Rest ihrer Schicht sprachen die beiden kaum noch drei Worte miteinander. Als ihre Ablösung kam, waren beide heilfroh, endlich auseinander gehen zu können.
 

James schlich die Treppe hinauf und klopfte mit schlechtem Gewissen leise an Tinys Zimmertür. Er wollte unbedingt mit Joe sprechen und tatsächlich öffnete dieser ihm kurz darauf verschlafen, trat aus dem Zimmer und zog hinter sich die Tür zu:

„Ist alles in Ordnung? Ist es Carmichael?“ fragte er mit kratziger Stimme.
 

James schüttelte den Kopf und blickte unglücklich zu Boden.

„Kathryn also!“ stellte Joe fest und fuhr fort: „Ich habe geahnt, dass es keine gute Idee ist, wenn ihr zwei zusammen eine Schicht übernehmt. Willst du reden?“
 

James schüttelte erneut den Kopf. Sein Gesicht war verschlossen:

„Willst du reinkommen und bei uns schlafen?“ fragte Joe weiter und strich seinem Freund die dunklen Locken aus dem Gesicht.
 

James nickte:

„Dann komm mit, aber sei leise, damit wir Thomas nicht wecken.“

Im Bett legte Joe wortlos einen Arm um James.
 

Margarete und Alice waren in den vergangenen beiden Wochen Tag und Nacht unzertrennlich gewesen, doch mittlerweile spürte Margarete bei dem Mädchen eine wachsende Anspannung. Die Worte ihrer Schwester fielen ihr wieder ein, doch sie fand nicht den Mut, Alice zu fragen, was in ihr vorging. Ihr gefiel, was zwischen Alice und ihr entstanden war und wollte keine Komplikationen. Sie war sich bewusst, dass sie egoistisch handelte, doch die Angst, den Halt, welchen das Mädchen ihr bot zu verlieren, siegte über ihren Anstand.
 

Als Margarete an diesem Morgen die Augen öffnete, war Alice bereits wach und blickte sie nachdenklich an. Schlagartig wurde Margarete klar, dass es nun aus war mit der stillschweigend getroffenen Übereinkunft, nicht über ihre wahren Empfindungen zu sprechen.
 

„Du bist sehr schön!“ sagte Alice schüchtern.
 

Margarete schluckte schwer und das Mädchen blickte sie weiterhin intensiv aus ihren schönen Katzenaugen an. Dann beugte Alice sich über die Frau neben sich und küsste sie weich und voller Sehnsucht auf den Mund.
 

Der Kuss war honigsüß und fühlte sich im allerersten Augenblick gut an. Doch dann rief sich Margarete wieder ins Bewusstsein, wer es war, der sie da küsste: Eine einsame, verletzte, bedürftige Siebzehnjährige.

Schuldgefühle griffen nach Margaretes Brustkorb und drückten ihn zusammen. Sie löste sich von Alice und fragte erschrocken:

„Was tust du denn nur?“
 

Alice senkte den Blick und fragte kläglich:

„Ist es, weil ich ein Mädchen bin?“
 

Margarete zuckte hilflos mit den Achseln und erwiderte:

„Nein! Ich meine, ich weiß es nicht genau. Das ist verwirrend für mich. Es ist nur…du bist doch noch so jung!“
 

„Joe ist auch jünger als Tiny und trotzdem sind sie ein Paar!“ antwortete Alice trotzig.
 

„Dennoch ist Joe älter als du. Von meiner Warte aus bist du fast noch ein Baby!“ erwiderte Margarete.

Alice starrte sie verletzt an und Margarete fügte hinzu:

„Und außerdem... das mit Joe ist Tinys Entscheidung und dies hier ist meine!“
 

Das Mädchen erhob sich rasch aus dem Bett, streifte sich eilends Hemd und Hosen über und floh aus dem Zimmer, als sei der Teufel hinter ihr her.
 

Da Margarete nichts zu tun oder zu sagen wusste, sie Alice keinen Trost anzubieten hatte, ließ sie sie gehen.
 

Nach dem Frühstück, als James und Joe zur Arbeit aufgebrochen waren und alle Anderen ihr Tagwerk aufgenommen hatten, nahm Kathryn neben Tiny am Küchentisch Platz, hakte sich bei ihrem besten Freund unter, und bettete ihren Kopf auf seinem breiten Oberarm, ohne etwas zu sagen.

Sie wirkte blass, müde und es war offensichtlich, dass sie nicht geschlafen hatte.

Da sie von sich aus nicht mit dem herausrückte, was sie auf dem Herzen hatte, beschloss Tiny selbst das Wort zu ergreifen:

„Joe und ich hatten letzte Nacht wieder einen Gast in unserem Bett.“ begann er.
 

Kathryn zuckte mit den Schultern.
 

„Was war denn los?“ probierte Tiny es direkter.
 

Kathryns Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. Sie richtete sich auf, blickte Tiny an und fragte:

„Bin ich hartherzig, kalt…“ sie machte eine nachdenklich Pause und fuhr dann fort:“ …und... uhm... jähzornig und herrschsüchtig?“
 

Tiny schmunzelte:

„Hat James das gesagt?“
 

„Wie kommt er dazu, so etwas zu sagen?“ brummte Kathryn:
 

„Denkst du denn, dass er mit seinem Urteil Recht haben könnte?“ fragte Tiny zurück.
 

„Nein!“ erwiderte Kathryn bestimmt und fügte dann verunsichert hinzu: „Oder denkst DU, dass er Recht hat?“
 

Tiny lächelte und strich ihr zärtlich eine rote Locke aus der Stirn, ehe er antwortete:

„James ist sehr verletzt. Du solltest gerade nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen. Dass er dich hartherzig und kalt findet liegt an der Art, wie du eure Beziehung beendet hast. Du hast das einfach so entschieden, ohne eine Vorwarnung und ohne dass er eine Chance hatte, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Typisch Kathryn, würde ich sagen, aber ich kenne dich eben auch! Und jähzornig? Ich denke, dass ihr beide sehr unterschiedlich seid. Neben dem sanftmütigen James würde wohl jeder jähzornig aussehen, oder nicht? Und du bist nun einmal eine sehr leidenschaftliche, entschlossene Person. Jetzt musst du mir helfen: Wie lautete nochmal der letzte Anklagepunkt?“
 

„Herrschsüchtig!“ antwortete Kathryn grimmig.
 

Tiny gab ein kleines Kichern von sich und erwiderte:

„Es ist wahr, dass du gern das Heft in der Hand hast. Du bist eine Führungspersönlichkeit und viele deiner Freunde verlassen sich daher auf dich. Ich würde es aber nicht herrschsüchtig nennen. Aber jetzt muss ich dich einmal etwas fragen Schwesterchen: Warum ist es von so großer Bedeutung, wie James über dich denkt?“
 

Kathryn zuckte unschlüssig mit den Schultern. Ihre Miene war immer noch die eines trotzigen kleinen Mädchens. Mit belegter Stimme fügte sie hinzu:

„Er hat auch gesagt, dass er mich noch immer liebt!“
 

Tiny lachte leise und öffnete seine Arme.

Kathryn folgte der Einladung umgehend und warf sich hilfesuchend an seine Brust, wo sie ihren Kopf vergrub und selbstmitleidig ein wenig weinte.
 

Alice war nicht zum Frühstück erschienen. Sie verbrachte den Vormittag allein im Gemeinschaftsraum und starrte grübelnd die Wand an. Gegen Mittag hatte sie das Gefühl, sie bräuchte ein wenig frische Luft und trat auf die Veranda. Zu ihrem Leidwesen saß auf der Bank bereits diese blöde Helena Rothschild und war mit einem Stapel Papier beschäftigt, welchen sie vor sich liegen hatte.
 

Als die junge Frau das Mädchen erblickte, strahlte sie und bot an:

„Du kannst dich gern zu mir setzen, wenn es dich nicht stört, dass ich das hier rasch fertig mache!“
 

Alice nahm Platz und musterte Helena verstohlen von der Seite. Sie war wirklich unwahrscheinlich hübsch, musste sie feststellen.
 

Als Helena sie beim Starren ertappte, blickte lächelnd von ihrer Arbeit auf:

„Was?“ fragte sie
 

Alice schüttelte den Kopf und um ihre Verlegenheit zu überspielen fragte sie rasch:

„Was machst du da?“
 

„Das hier sind vorgefertigte Flugblätter. Ich muss handschriftlich Ort und Datum unserer Vorträge eintragen. Dreihundert Mal! Echte Fleißarbeit.“ erwiderte Helena lächelnd.
 

„Warum lassen sie dich das allein machen?“ fragte Alice.
 

„Ich schätze, weil ich die Jüngste bin und sie mir nicht allzu viel zutrauen.“ gab Helena lachend zurück.
 

„Und ärgert dich das gar nicht?“ fragte Alice überrascht:
 

„Ein wenig vielleicht.“ antwortete die junge Frau: „Aber ich schätze, sie haben nicht ganz unrecht. Ich bin nun einmal jung und muss mich erst beweisen. Und was ich hier mache, muss nun einmal auch getan werden.“ Helena zögerte kurz ehe sie fragte: „Willst du mir vielleicht helfen?“
 

Statt einer Antwort, nahm das Mädchen sich einfach einen Federhalter und begann.
 

Nachdem die beiden jungen Frauen schweigend eine Weile nebeneinander gearbeitet hatten, fragte Alice, auf Helenas linke Hand deutend:

„Ist das da ein Verlobungsring?“ Helena nickte und so wollte Alice nun wissen: „Wieso ist dein Verlobter nicht hier bei dir und unterstützt dich?“
 

„Francis ist beschäftigt. Er ist bei der Marine.“
 

„Werdet ihr bald heiraten?“ fragte Alice weiter.
 

Helena blickte Alice belustigt an und antwortete:

„Du willst ja eine ganze Menge wissen. Ja, Francis würde lieber heute als morgen heiraten, aber ich habe ihm gesagt, dass ich noch Zeit brauche. Er ist zehn Jahre älter als ich, weißt du. Und ich fühle mich aus irgendeinem Grund noch nicht bereit.“

Nun stellte Helena ihrerseits eine Frage:

„Ist der Junge, der hier dauernd auftaucht eigentlich dein Freund?“
 

Alice schenkte ihr einen verächtlichen Blick und machte: „Pfft!“
 

Helena kicherte. Dann wurde sie wieder ernst und wollte wissen:

„Wo ist eigentlich Margarete. Seid ihr zwei nicht im Grunde unzertrennlich? Hattet ihr Streit?“
 

Alice nahm ihr Gegenüber eisig ins Visier.

Was wusste Helena?

Wollte sie sie verspotten?

„Das würdest du eh´ nicht verstehen!“ fauchte sie:
 

„Stell` mich auf die Probe!“ forderte Helena. Sie ließ sich von dem barschen Tonfall scheinbar gar nicht beeindrucken: „Normalerweise finden die Leute, dass ich ziemlich schlau bin.“
 

Nun schenkte Alice Helena einen unglücklichen Seitenblick. Sicher, sie wollte nichts lieber, als mit jemandem über ihre Gefühle sprechen. Doch ausgerechnet mit diesem süßen Mädchen, das einen älteren Verlobten hatte, eine gute Herkunft und ein behütetes Zuhause? Was würde sie wohl von dem verstehen, was in ihr gerade vorging? Die hatte doch keine Ahnung und am Ende würde sie sich wahrscheinlich sogar vor ihr ekeln, so wie es Margarete heute Morgen getan hatte.
 

Alice wünschte so sehr, dass Noah jetzt hier wäre, denn der würde sie verstehen.
 

Schließlich erklärte sie vage:

„Ich habe etwas gemacht. Das hätte ich nicht tun dürfen und ich schätze, nun sind Margarete und ich keine Freundinnen mehr!“
 

Helena schüttelte entschieden den Kopf und erwiderte:

„Glaube ich nicht. Ihr zwei habt so gewirkt, als würdet ihr euch wirklich sehr nahe stehen. Was kannst du denn so Furchtbares getan haben, dass ihr nicht noch einmal darüber sprechen und das klären könntet?“
 

Alice zuckte mit den Schultern und dachte darüber nach.

Vielleicht hatte Helena ja Recht? Sie und Margarete mussten die Angelegenheit klären!

Sie durfte sie nicht hassen!

Sie sollte sich nicht vor ihr ekeln!

Vielleicht konnte Alice es Margarete irgendwie erklären?
 

Als die zwei mit den Flugblättern fertig waren, ließ Alice die junge Frau zurück und machte sich auf die Suche nach Margarete.
 

Margarete hatte den Vormittag mit Wäschewaschen verbracht, weil sie das Gefühl hatte, sich körperlich zu verausgaben würde ihr zu einer Lösung für das Problem mit Alice verhelfen. Da sie am frühen Nachmittag immer noch keine Antwort hatte, betrat sie nun die Scheune, um die beiden Boxen der Pferde, die sich dort befanden zu reinigen. Bevor sie jedoch damit beginnen konnte, hörte sie hinter sich Schritte und eine vertraute, beängstigende Stimme, die sagte:

„Hallo mein Liebling. Hast du mich vermisst?“
 

Als Margarete sich umwandte, stand Carmichael bereits direkt hinter ihr und legte ihr einen Arm um die Taille, wie ein Liebhaber. Margarete war starr vor Schrecken und blickte dem Mann mit den eiskalten Augen ins Gesicht, ohne etwas sagen zu können.
 

In diesem Moment öffnete sich das Scheunentor und Alice erschien. Sie erblickte Margarete, die mit dem Rücken zu ihr stand in den Armen des Fremden und erfasste sofort die Situation.
 

Margarete wendete sich um und schrie panisch:

„Lauf` weg! Bring dich in Sicherheit und hol` Hilfe.“
 

Doch Carmichael ließ Margarete los und mit einem Satz war er bei Alice, griff sie grob bei den Schultern und sagte:

„Nicht doch! Der Junge wird genau hier bei uns bleiben. Vielleicht lernt er ja noch etwas.“

Und mit einem Grinsen und einem Seitenblick auf Margarete fragte er:

„Wer ist denn der Kleine überhaupt? Dein Schützling? Dein junger Liebhaber vielleicht, den du in die Kunst der Liebe einweist?“
 

Alice nutzte es aus, dass der Mann sie in diesem Moment nicht anschaute und abgelenkt war. Sie holte kräftig mit dem eigenen Kopf aus und stieß damit gegen den Seinen.

Carmichaels Schädel flog zurück und für einen Moment war er ein wenig benommen. Alice bearbeitete ihn mit den Fäusten, trat ihm kräftig zwischen die Beine und als er in die Knie ging, hieb sie ihm mit dem Rücken ihrer Faust in den Nacken, so fest sie konnte.
 

Margarete erkannte, dass Alice in den Jahren, in denen sie ihren Bruder abwehren musste wirklich zu kämpfen gelernt hatte. Sie selbst war dagegen immer noch starr vor Angst. Ihr war zwar klar, dass sie etwas tun musste, denn Alice konnte dem Mann sicher nicht ewig standhalten, aber ihr Körper wollte ihr einfach nicht gehorchen.
 

Carmichael rappelte sich inzwischen schon wieder auf und nun hatte er ein Messer in der Hand, welches er aus einer Scheide an seinem Gürtel gezogen hatte. Mit Schrecken wurde Margarete klar, dass es dasselbe Messer war, welches sie selbst in jener Nacht vor einigen Wochen für Carmichaels grausiges Präsent benutzt hatte.
 

Alice war inzwischen aber auch nicht untätig gewesen und hatte sich das Beil gegriffen, welches normalerweise zum Holzhacken verwendet wurde.

Beide Gegner umkreisten einander nun mit ihren Waffen und suchten nach einer Schwäche in der Deckung des Anderen. Schließlich griff Carmichael Alice an und diese wehrte das Messer mit einem Schwinger der Axt gekonnt ab. Der Mann verlor seine Waffe, hatte nun aber sogleich beide Hände an der von Alice, welche die Axt hielt und es gelang ihm, ihr diese aus der Hand zu schlagen.

Nun wieder unbewaffnet rangen beide miteinander. Alice war wirklich zäh und weitaus stärker, als sie aussah, doch Margarete konnte erkennen, dass das Mädchen auf lange Sicht unterliegen würde. Carmichael war brutal, kräftig und rücksichtslos.
 

Endlich gelang es Margarete, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Sie griff nach einem Holzbalken, welchen sie am Boden der Scheune fand, schwer genug, um einigen Schaden anzurichten, wenn sie gut traf, aber doch leicht genug, dass sie ihn handhaben konnte. Schließlich kam ihre Chance. Carmichael hatte Alice von sich fort und gegen die Scheunenwand geschleudert. Gerade wollte er sich das Mädchen wieder vorzuknöpfen, als Margarete ihn von hinten ansprach:

„Hey Bob!“
 

Carmichael drehte sich zu ihr um. Sie holte mit aller Kraft aus und traf Carmichael seitlich am Kopf. Der ging zu Boden, wie ein gefällter Baum und Margarete schlug noch drei weitere Male auf ihn ein, ehe sie sicher war, dass er sich wirklich nicht mehr rührte.
 

Alice hatte sich mittlerweile wieder aufgerappelt und war hinter sie getreten:

„Ist er tot?“ fragte sie atemlos vom Kampf.
 

Margarete zuckte mit den Schultern und entgegnete kalt:

„Ich hoffe nicht. Ich bin nämlich noch nicht mit ihm fertig.“
 

Alice hockte sich hin und fühlte Carmichaels Puls. Dann blickte sie auf und erklärte:

„Er lebt! Und wir sollten uns schnell überlegen, was wir mit ihm machen, ehe er aufwacht!“
 

„Ich weiß schon, was ich tun werde!“ erklärte Margarete mit einem kleinen, bösen Lächeln: „Hilfst

Du mir?“
 

Alice nickte und Margarete zog Carmichael seine Kleidung aus. Dann griff sie nach einigen Seilen. Gemeinsam zogen sie Carmichael hoch auf die Füße, lehnten ihn an einen Stützbalken und fesselten links und rechts seine Hände an zwei Querbalken. Es folgten weitere Fesseln um seine Hüfte und seine Füße.
 

Alice rümpfte die Nase beim Anblick des nackten, bewusstlosen Mannes.
 

Wie er nun so da hing, wirkte es fast wie eine Kreuzigungsszene. Margarete vergewisserte sich noch einmal, das alle Fesseln fest genug gezurrt waren und dann betrachtete sie zufrieden ihr Werk:

„Willst du die Anderen holen? Das sollten sie sehen!“ erklärte sie.
 

Margarete selbst blieb in der Scheune zurück und rollte sich ein Fass herbei, auf welchem sie dann, elegant ein Bein über das andere geschlagen Platz nahm. Sie betrachtete den nackten, bewusstlosen und gefesselten Mann nachdenklich. Nun war sie diejenige, die die Kontrolle hatte. Sie konnte ihm antun, was immer ihr gefiel. Sie konnte Rache nehmen für den körperlichen Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, die Angst, die sie während der Tat und seitdem in jeder einzelnen Minute gefühlt hatte und für den Verlust ihres Selbstvertrauen. Sie konnte Antworten verlangen und herausfinden, warum er ihr das angetan hatte. Sein Leben lag nun in ihrer Hand.
 

Was würde sie tun?

Wolf in Gefangenschaft

Molly, Regine, Shy, Melody und Kathryn betraten von Alice angeführt die Scheune und scharten sich sogleich um den gefesselten Bob Carmichael. Dieser hatte sein Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt.
 

„Wieso ist er nackt?“ wollte Kathryn wissen.
 

Shy trat an Gefesselten heran, packte ihn grob an den Haaren, hob den herabhängenden Kopf hoch, blickte in sein Gesicht und fragte kaltschnäuzig:

„Ich will viel lieber wissen, wieso er immer noch lebt? Warum vergraben wir ihn nicht im Gemüsebeet und haben unsere Ruhe vor ihm? Dann dient sein verrottender Körper immerhin noch als Dünger und seine Existenz war nicht vollkommen sinnlos!“
 

Als Margarete antwortete, klang sie ein wenig benommen:

„Er lebt, weil ich noch nicht mit ihm fertig bin! Und er ist nackt, weil ich will dass er begreift, was Verletzlichkeit bedeutet!“
 

„Wie habt ihr es überhaupt geschafft, ihn zu überwältigen?“ wollte Molly wissen.
 

Margarete stieg von ihrem Fass herunter, trat neben Alice und erklärte:

„Das war dieses Mädchen hier!“
 

Alice schüttelte den Kopf und erwiderte bescheiden:

„Stimmt nicht! Er hätte mich besiegt, wenn du ihm nicht eins übergebraten hättest!“
 

Kathryn deutete mit dem Kinn auf Carmichael und fragte:

„Und wie soll es nun mit ihm weitergehen?“
 

„Er bleibt erst mal dort hängen!“ erwiderte Margarete: „Er gehört jetzt mir und ich weiß noch nicht genau, was ich mit ihm anfangen werde! Ich bleibe zunächst einmal hier bei ihm sitzen, bis er aufwacht.“
 

„Sind die Fesseln denn auch stramm genug?“ fragte Kathryn sorgenvoll.
 

Margarete nickte und erwiderte:

„Lasst mich nun bitte eine Weile mit ihm allein. Und keine Sorge, ich passe schon auf ihn auf!“
 

„Dann hole ich dir aber meine Flinte zur Sicherheit!“ meinte Kathryn.
 

Margarete schüttelte den Kopf und erhob das Messer, welches Carmichael mitgebracht hatte. Ihr Blick war glasig und ihre Stimme klang stumpf, als sie antwortete:

„Nicht nötig! Ich habe das hier!“

Sie wirkte eigenartig abwesend und die Frauen waren ratlos, wie sie mit der Situation umgehen sollten, doch schließlich folgten sie einfach ihrem Wunsch und zogen sich zurück.
 

Zuletzt war nur noch Melody bei ihrer Schwester, blickte stirnrunzelnd zu ihr hinüber und erkundigte sich ängstlich:

„Bist du sicher, dass du weißt, was du tust, mein Liebes?“
 

Margarete zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Wahrscheinlich nicht, aber ich kann auch nicht anders!“
 

„Was versprichst du dir denn bloß davon, dich ihm noch einmal auszusetzen?“ bohrte Melody nach:
 

„Ich muss es verstehen! Ich muss wissen, warum mir das passiert ist, warum er mir das angetan hat!“ erwiderte sie tonlos:
 

„Bitte erwarte von diesem Bastard nicht, dass er dir nachvollziehbare Antworten geben kann. Er ist doch total irre!“ forderte Melody ernsthaft.
 

Margarete nickte:

„Das weiß ich, aber vielleicht kann ich seinen Irrsinn verstehen, mit der Sache abschließen und werde dann endlich wieder frei von ihm sein.“ Sie schwieg nachdenklich und fügte hinzu: „Vielleicht tue ich nicht das Richtige, aber irgendetwas muss ich tun, sonst werde ich noch genauso verrückt wie er. Bitte verschwinde jetzt, Schwesterchen!“
 

Melody nickte und küsste ihr Ebenbild auf die Stirn, ehe auch sie die Scheune verließ. Sie ließ allerdings das Tor offen stehen und kauerte sich in der Nähe auf den Boden, um sie doch noch irgendwie im Auge zu behalten.
 

Heute war Noahs erster Arbeitstag und es musste Ware vom Bahnhof zum Laden geschafft werden. Damit begann das Berufsleben für den Jungen selbstverständlich besonders hart, doch Joe hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich beweisen musste und so bemühte er sich nach Kräften und stellte sich besser an, als Joe es ihm zugetraut hatte. Dennoch war es ihm deutlich anzusehen, dass es ihn äußerste Anstrengung kostete, die schweren Kisten zu tragen, aber Joenschonte ihn nicht.

Als die Arbeit endlich geschafft und das Lager wieder aufgefüllt war, setzten sich die beiden jungen Männer im Laden hinter den Tresen, um sich ein wenig zu verschnaufen und Joe fragte grinsend:

„Und? Wie geht es dir jetzt?“

„Gut!“ log Noah, der immer noch ein wenig keuchte und schwitzte und auf dessen bleichen Wangen sich rote Flecken gebildet hatten.

Joe lachte.
 

Als Joe und James nach der Arbeit am roten Haus ankamen und die Neuigkeiten hörten, gingen sie, gefolgt von Tiny, der auf einen Gehstock gestützt hinterher humpelte, zu allererst hinüber zur Scheune, vor welcher Melody noch immer auf ihren Wachposten saß.

Auch im Inneren des Gebäudes war die Lage unverändert. Der gefesselte Bob Carmichael war nach wie vor bewusstlos und Margarete saß da; elend, angespannt, reglos, ihren Gefangenen anstarrend. Das Messer hielt sie fest mit beiden Händen umklammert. Sie drehte sich nicht einmal um, als die Männer eintraten.

Joe legte ihr zum Gruß kurz stumm eine Hand auf die Schulter, ehe er sich mit Tiny setzte.

James blickte Margarete besorgt an und streichelte zart ihre Wange, ehe er neben ihr Platz nahm. Auch er sagte kein Wort.
 

Nach einer Weile gesellte sich auch Alice zu ihnen, nahm die schweigsame Runde in Augenschein und durchbrach die unheimliche Stille, indem sie sagte:

„Schläft der Kerl etwa immer noch? Vielleicht sollte ich mit einem Eimer kaltem Wasser nachhelfen!“
 

James erhob sich, legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern und meinte mit einem kleinen, matten Lächeln:

„Ich habe gehört, du hast uns Jungs schlecht aussehen lassen, indem du den Dreckskerl allein erledigt hast.“
 

Alice errötete ein wenig, schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Hab´ ich doch gar nicht! Margarete hat ihn ausgeschaltet! Ich hab´ ihn nur solange im Schach gehalten, bis sie so weit war!“
 

James drückte freundschaftlich Alices Schulter und sagte:

„Kein Grund zur Bescheidenheit! Ich musste mich ihm zweimal stellen und bin zweimal verletzt worden. Du hast scheinbar keinen Kratzer. Offensichtlich bist du eine echte Kämpferin!“
 

„Vielleicht kommt es darauf an, wofür man kämpft.“ antwortete Alice mit einem traurigen Blick auf Margarete.
 

In diesem Moment ließ Carmichael ein Stöhnen vernehmen. Er wachte auf, hob den Kopf und blickte benommen in die Runde.
 

James beobachtete gespannt, was nun geschehen würde.

Würde Carmichael Angst haben?

Würde er um sein Leben betteln?

Würde er sich schämen, weil er nackt war?
 

Carmichael tat nichts dergleichen, sondern war offenbar in Plauderlaune. Als er Margarete erblickte, lächelte er tatsächlich. Mit kratziger Stimme sagte er:

„Hallo mein Liebling! Du hast also alle deine Männer um dich versammelt. Willst du etwa, dass ich eifersüchtig werde?“
 

Margarete saß weiterhin bewegungslos da, schwieg und blickte ihren Gefangenen finster an und so fuhr Carmichael einfach fort:

„Du hast mir meine Kleider genommen! Gefällt dir denn, was du siehst?“
 

James überlief es eiskalt, wie er Carmichael so sprechen hörte, als ginge im Augenblick gar nichts Besonderes vor. Er war wirklich komplett verrückt!
 

Margarete behielt ihre stille, statuenhafte Pose bei und sprach kein Wort.
 

James blickte sie besorgt von der Seite an und hatte den Impuls, ihr zu helfen, sie zu schützen, Carmichael zum Schweigen bringen, doch irgendetwas sagte ihm, dass er sich im Augenblick nicht einmischen durfte. Den anderen Anwesenden schien es genauso zu gehen. Die Situation fühlte sich irgendwie vollkommen unwirklich an.
 

„Als ich mir unser Wiedersehen vorgestellt habe, hatte ich eigentlich etwas anderes im Sinn, mein Schatz, aber so ist es auch in Ordnung.“ erklärte Carmichael zuckersüß: „Wärst du nicht lieber allein mit mir? Du hast doch dein Messer wieder! Was willst du damit anstellen?“

Das kratzige war mittlerweile aus seiner Stimme verschwunden. Nun klang sie lockend, flirtend, beinahe zärtlich.

Es war zum Fürchten!
 

James trat auf Margarete zu und erkundigte sich flüsternd:

„Warum hörst du diesem Abschaum überhaupt zu, Liebes?“
 

Da richtete Carmichael sein Wort an James und er fragte mit einem kleinen Grinsen:

„Sagen sie Deputy, sollten sie dieser Angelegenheit denn nicht eigentlich ein Ende machen? Ich werde hier widerrechtlich festgehalten. Sollte ich nicht in einer Gefängniszelle sitzen, medizinisch versorgt werden und drei Mahlzeiten am Tag erhalten.“
 

James nahm demonstrativ seinen Stern ab, als er antwortete:

„Ich bin gerade nicht im Dienst, Bob!“
 

Margarete wirkte wie hypnotisiert und James beschloss, dass er nun doch eingreifen wollte. Er nahm sie am Arm und zog sie hinter sich her vor die Scheune. Sie folgte ihm widerwillig, doch draußen an der frischen Luft schien sie wieder ein wenig mehr in die Realität zurückzukehren.
 

James suchte ihren Blick und als er überzeugt war, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte, fing er an zu sprechen:

„Liebes, ich weiß nicht, was hier gerade geschieht und warum du tust was du tust, aber ich stehe hinter dir, egal was du vorhast. Wenn du ihn umbringst, werde ich dich schützen. Ich würde dir sogar meine Waffe dafür geben. Und wenn du willst, dass er ins Gefängnis kommt, dann werde ich ihn sofort mitnehmen. Lass` ihn nur nicht in deinen Kopf, in Ordnung? Lass´ nicht zu, dass er dir noch mehr wehtut!“

Dann küsste er sanft ihre Stirn und ging hinüber ins Wohnhaus.
 

Hierhin hatte sich mittlerweile auch Melody verzogen. Sie saß am Esstisch, stütze ihren Kopf mit ihren Händen und verbarg ihr Gesicht hinter den Fingern. Sie blickte auf, als sie James eintreten hörte und er konnte sehen, dass sie geweint hatte. Wortlos setzte er sich zu ihr und schloss die Arme um sie. Dankbar vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter und ließ sich eine Weile festhalten. Irgendwann blickte sie auf und murmelte:
 

„Margarete und ich haben unser gesamtes Leben miteinander verbracht. Alles was ihr widerfahren ist, habe auch ich erlebt, aber seit die Sache mit diesem Carmichael passiert ist, habe ich das Gefühl, ich verstehe sie nicht mehr. Ich hasse diesen Kerl! Ich wünschte, er wäre tot!“

Melodys Gesichtszüge verhärteten sich und ihr Körper war angespannt. James, der nicht wusste, was er dazu sagen sollte, nickte lediglich und bedeckte sanft ihre Hände mit den seinen.
 

Margarete war mittlerweile in die Scheune zurückgekehrt und bat die anderen zu gehen.
 

„Wir würden aber lieber hier bei dir bleiben!“ erwiderte Tiny besorgt.
 

„Ich schaffe das schon! Geht jetzt bitte!“ wiederholte Margarete.
 

Widerstrebend erhoben sich Joe und Tiny und verließen die Scheune. Alice jedoch blieb hartnäckig auf ihrem Platz hocken, bis Margarete schließlich ärgerlich hervorstieß:

„Dich habe ich auch gemeint!“
 

Alice blickte sie mit steinerner Miene an und schüttelte den Kopf.
 

Carmichael, der die ganze Szene belustigt mit angesehen hatte kommentierte:

„Mir scheint, dem Jungen hast du ganz schön den Kopf verdreht, mein Liebling! Was hast du denn bloß mit ihm gemacht, dass er so anhänglich ist? Hast du seine Jungfräulichkeit genommen?“
 

„Halt dein blödes Maul!“ erwiderte Alice zischend.
 

Carmichael vernahm zum ersten Mal ihre Stimme. Verblüfft brachte er hervor

„Du bist ein Mädchen? Na ja, oder zumindest so etwas Ähnliches?“ Er schüttelte grinsend den Kopf und fuhr fort: „Ich frage mich, was wir wohl zu sehen bekämen, wenn DU jetzt hier ohne deine Kleider stehen würdest.“

Und mit einem bösen kleinen Lächeln fügte er hinzu: „Vielleicht werde ich ja eines Tages noch die Chance haben, es herauszufinden!“
 

Alice blickte ihn lediglich eisig an und sagte nichts.
 

Margarete flehte nun:

„Bitte Kleines! Ich will nicht, dass du dir diesen Schmutz anhören musst. Verschwinde jetzt von hier!“
 

Alice erhob sich, trat sehr nah an Bob Carmichael heran, blickte ihm in die eisblauen Augen und erklärte fest:

„Denkst du, mich interessiert, was dieser wertlose Mistkerl zu sagen hat, oder dass mich seine Beleidigungen treffen, oder mir seine Drohungen mir Angst machen? Nicht im Geringsten! Er ist nichts weiter als wertloser Abfall!“
 

Dann nahm sie neben Margarete Platz.
 

Carmichael hatte wieder sein wölfisches Grinsen auf dem Gesicht:

„Da hast du aber einen tapferen kleinen Beschützer, mein Schatz!“ sagte er spöttisch.
 

Margarete schaute Carmichael einen Moment lang fest in die Augen und dieser setzte seinen Monolog fort:

„Ich wusste gar nicht, dass so etwas wie dieses DING da dir gefällt, mein Liebling. Aber du brauchst den kleinen Zwitter nicht! Du brauchst niemanden außer mir. Und wenn ich wieder frei bin, werde ich sie dir einen nach dem anderen wegnehmen, den großen Schwarzen, den Kleinen, den Deputy, die Rothaarige, die Blasse, die Indianerin, die Irin, die Lehrerinnen. Und gibt es nicht auch ein paar Kinder? Ich mag Kinder!“

Er grinste und so wie er es sagte klang es, als wollte er sie ganz einfach bei lebendigem Leib fressen. Er fuhr er fort: „Und am Schluss hole ich mir diesen Hermaphroditen da und deine Schwester!“
 

Carmichael feixte vergnügt und Margarete überkam mit einem Mal eine wahnsinnige Wut. Sie stürmte auf Carmichael los und begann mit ihren Fäusten auf ihn einzuschlagen, wobei ihre Rechte noch immer das Messer festhielt. Der gefesselte Mann erlitt einige kleine Schnitte an den Armen, der Brust und im Gesicht. Schließlich hielt sie ihm das Messer an seine Kehle und zischte zornig:

„Du wirst gar keine Gelegenheit erhalten, meine Freunde zu verletzen, Bob! Niemals!“
 

Doch Carmichael schienen weder ihre Schläge und Schnitte zu schmerzen, noch hatte er Angst, dass sie ihn töten würde. Vielmehr gab er ein lustvollen Stöhnen von sich und als Margarete an dem Nackten herunterblickte, musste sie angewidert feststellen, dass die Situation in tatsächlich erregte.
 

Sie rannte aus der Scheune, ging dort in die Knie und übergab sich. Inzwischen war Alice ihr gefolgt. Sie half ihr, sich zu erheben, reichte ihr ein Taschentuch, schloss sie in den Arm und flüsterte:

„Bitte beende diesen Wahnsinn! Stich` ihn ab, oder lass ihn von James wegbringen, aber bring` ihn endlich zum Schweigen, ehe er dich fertig macht!“
 

Margarete schüttelte den Kopf und sagte kläglich:

„Das kann ich noch nicht!“
 

„In Ordnung!“ erwiderte Alice: „Aber dann mach` jetzt eine Pause! Knöpfe ihn dir morgen noch einmal vor!“
 

Margarete nickte und antwortete:

„Ich suche jemanden, der ihn heute Nacht bewacht! Bleibst du so lange hier?“
 

„Sicher!“ gab Alice zurück.
 

Im Wohnhaus am Küchentisch saßen neben Melody und James mittlerweile auch Joe, Tiny, Kathryn und die Damen aus Boston. Vom Flur aus konnte Margarete hören, dass über den Gefangenen in der Scheune und sein weiteres Schicksal diskutiert wurde:
 

„Ich werde mir das nicht mehr lang mit ansehen“ verkündete Melody gerade: „ Notfalls werde ich Carmichael auch gegen den Willen meiner Schwester umbringen!“
 

Als Margarete die Küche betrat, wurde es schlagartig still und sie blickte in erschrockene Gesichter. Offensichtlich hatte man nicht erwartetet und auch nicht gewollt, dass Margarete das Gespräch mithörte.
 

„Wenn jemand das Recht hat, den Mann zu töten, der mir das angetan hat, dann bin ich es selbst. Solltest du es ohne meine Einwilligung tun, werde ich dir das niemals verzeihen, Schwester!“ verkündete sie eiskalt.
 

Melody wurde bleich unter ihrer braunen Haut. Sie erhob sich, trat vor Margarete hin und holte Luft, als wolle sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber scheinbar anders. Ihre Augen wurden feucht. Sie drehte sich um, verließ die Küche und rannte die Treppen hinauf.
 

Die anderen Anwesenden waren in unbehagliches Schweigen verfallen. James fand als erster seine Stimme wieder und richtete sein Wort an Margarete:

„Du siehst wirklich elend aus Liebes. Willst du dich nicht ein wenig ausruhen?“
 

Margarete nickte:

„Deshalb bin ich gekommen. Ich will dass jemand bei Carmichael Wache hält. Doch das, was ich zu Melody gesagt habe, gilt für Jeden! Niemand krümmt ihm ein Haar, kapiert?“
 

Da erhob sich unerwartet Carolyn Hoffman. Die ältere Frau erklärte:

„Ich verstehe und respektiere ihren Wunsch, selbst über das Schicksal des Mannes zu entscheiden, der ihnen so viel genommen hat. Ich erkläre mich bereit, die erste Hälfte der Nacht bei ihm zu wachen. Vielleicht kann eine der anderen Damen mich später ablösen.“
 

Margarete blickte Ms. Hoffman skeptisch an und fragte:

„Sind sie sicher, dass sie der Situation gewachsen sind?“
 

Die Angesprochene lächelte, öffnete ein Handtäschchen und kramte darin herum. Kurze Zeit später kam ein winziger Revolver zum Vorschein und Ms. Hoffman erklärte:

„Ich würde Mr. Carmichael nicht empfehlen, zu versuchen zu entkommen! Ich kann hiermit umgehen und notfalls einer Fliege die Flügel vom Rücken schießen. Sollte er also irgendwelchen Unsinn versuchen, bin ich in der Lage, Bob Carmichael aufzuhalten und hinterher wird immer noch genug von ihm übrig sein, dass sie von ihm bekommen, was immer es ist, dass sie von ihm brauchen, Miss Margarete.“
 

Margarete gab Ms. Hoffman die Zustimmung, die erste Wache zu halten und Justine erklärte sich bereit, sie später abzulösen.

Mit einem Mal unendlich erschöpft bedankte und verabschiedete Margarete sich und stieg dann mit schweren Schritten die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf.
 

Endlich in ihrem Bett versuchte Margarete Schlaf zu finden, doch sobald sie die Augen schloss, erschienen vor ihrem inneren Auge furchteinflößende Bilder von einem Carmichael, dem es irgendwie gelungen war sich zu befreien und von ihren ermordeten und verstümmelten Freunden.
 

Da klopfte es an Margaretes Zimmertür. Alice trat ein und schloss die Tür umgehend wieder hinter sich. Am Fuß des Bettes blieb sie stehen.

„Wie geht es dir?“ erkundigte sich das Mädchen leise.
 

Statt einer Antwort schüttelte Margarete nur müde den Kopf.
 

Plötzlich sehr schüchtern setzte Alice sich auf die äußerste Bettkante und verkündete mit gesenktem Blick:

„Es tut mir so leid, was ich heute Morgen getan habe. Den Kuss meine ich! Das war falsch von mir!“
 

Das Mädchen erhob sich und wollte das Zimmer wieder verlassen, doch Margarete wünschte sich in diesem Moment mehr als alles andere, dass Alice bei ihr bleiben möge.

Sie wollte sie um jeden Preis in ihrer Nähe haben, in ihrem Arm liegen und sich beschützt fühlen.

Die Ereignisse des Morgens erschienen ihr nach allem, was am heutigen Tag sonst noch geschehen war bedeutungslos und so weit weg, als seien sie in einem anderen Leben passiert. Sie erhob sich vom Bett, zog Alice fest an sich, streichelte zärtlich ihr Gesicht und erklärte dann:

„Dir muss es nicht leidtun. Es ist in Ordnung, dass du mich küssen willst.“

Sie ließ ein Hand hinab zu ihrem Gesäß wandern und die andere zu einer der kleinen, festen Brüste. Sie küsste Alice, führte sie zum Bett, drückte sie in die Matratze, legte sich auf sie, drängte ihren Körper dicht an den des Mädchens und flüsterte:

„Du hast so viel für mich getan. Lass` mich nun etwas für dich tun!“ sie küsste Alice erneut und wollte ihr Hemd aufknöpfen, doch dann spürte sie, wie der Körper des Mädchens sich versteifte.
 

Alice starrte sie, mit vor Entsetzen geweiteten Augen an; die Pupillen waren riesige dunkle Abgründe. Dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinab, als sie mit versagender Stimme hervor presste:

„Denkst du, dass es das ist, was ich will; dass du mir einen Gefallen tust? Ich tue etwas für dich und aus Dankbarkeit revanchierst du dich und schläfst mit mir?“ Alice schniefte: „Damit bin ich auch nicht anders als einer der Männer, die Geld auf deinem Nachttisch liegen lassen! Denkst du wirklich SO niedrig von mir?“

Das Mädchen hielt sich schluchzend die Hände vor das Gesicht, erhob sich vom Bett und rannte hinaus.
 

Margarete blieb eine Weile benommen liegen, ehe sie selbst vollständig realisierte, was sie gerade getan hatte. In ihrem Inneren machte sich Entsetzen über sich selbst breit. Sie begann, ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln:

„Nein, nein, nein!“ jammerte sie verzweifelt, sprang vom Bett auf und schlug den eigenen Kopf wiederholt gegen eine der Zimmerwände. Und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, setzte sie sich in Bewegung. Ungesehen verließ sie das Haus und rannte ihn die Nacht hinaus. Sie lief ohne ein bestimmtes Ziel, in dem verzweifelten Versuch, sich selbst zu entkommen.

Irgendwann war sie so schnell, dass ihre Lungen brannten.
 

Allmählich beruhigte Alice sich wieder ein wenig und beschloss, noch einmal mit Margarete über alles sprechen. Als sie sie in ihrem Zimmer nicht fand, suchte sie sie zunächst im Wohnhaus, dann in der Scheune und schließlich im anderen Gebäude. Sie fragte jeden, den sie traf, doch niemand hatte Margarete weggehen sehen. Nachdem Alice Margarete auch auf dem Gelände nicht finden konnte, brach sie in Panik aus.
 

Im Gemeinschaftsraum des Wohnhauses fand sie Joe und James am Feuer sitzend. Mit schriller Stimme berichtete sie den beiden Männern, dass Margarete nach einem Streit verschwunden und nun nirgends zu finden sei. Den beiden gelang es nicht, das Mädchen zu beruhigen und so erklärten sie sich bereit, ihr zu helfen, die Gegend nach Margarete abzusuchen. Kurze Zeit später brachen die drei, mit Öllampen ausgestattet auf.

Joe beschloss, dass es besser sei, wenn die aufgebrachte Alice nicht allein dort draußen unterwegs sei, also begleitete er sie. James begab sich in die entgegengesetzte Richtung.
 

Alice stolperte panisch durch die Nacht und rief Margaretes Namen. Joe musste sie einige Male auffangen, damit sie nicht stürzte.

Angst ließ das Blut in den Armen und Beinen des Mädchens erkalten. Sie weinte verzweifelt und machte sich furchtbare Vorwürfe.Wie hatte sie nur so hart zu Margarete sein können, und so selbstsüchtig, ihrer eigenen Verletzung so viel Bedeutung zuzumessen?

Offensichtlich hatte Margarete lediglich ihre Nähe gewollt und sie hatte sie allein gelassen, als diese sie so nötig gebraucht hatte!

Wenn Margarete nun etwas zugestoßen war, dann wäre das allein ihre Schuld!
 

James konnte kaum die Hand vor Augen sehen und fragte sich, wie er hier draußen Margarete finden sollte; zumal wenn diese möglicherweise gar nicht gefunden werden wollte. Er blieb stehen und überlegte.

Und mit einem Mal wusste er, wo sie war! Es war beinahe wie eine Eingebung.

Er rannte los, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben.
 

In dieser Nacht war die Luft lau und Himmel bedeckt. Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Das Wasser, welches Margarete auf ihren Händen und ihrem Gesicht fühlte, war fein wie Puder. Das letzte Mal, als sie hier gelegen hatte, war es sternenklar und eiskalt gewesen. Das war das Letzte, was sie wahrgenommen hatte, ehe der Blutverlust und die Schmerzen sie das Bewusstsein verlieren ließen. Eigentlich hatte sie hier sterben sollen und hatte dennoch überlebt. Doch nun war sie am Ende ihrer Kräfte und konnte einfach nicht mehr. Der Kreis würde sich nun schließen.

Und plötzlich erblickte sie die Reflexion eines Lichtscheins in der Klinge, welche sie in ihrer Rechten hielt.
 

James war an jener Senke angekommen, welche Joe ihm einmal beschrieben hatte, der Ort, an welchem er damals die Verletzte Margarete gefunden hatte.

Im Schein seiner Lampe erkannte er, dass sein Instinkt richtig gewesen war. Er fand Margarete und er ahnte auch, worum es sich bei dem blanken Gegenstand handelte, in welchem das Licht seiner Öllampe reflektiert wurde. Er ging behutsam in die Knie, darauf bedacht, keine hektischen Bewegungen zu machen und sagte mit ruhiger Stimme:

„Hey Liebes, wir haben schon überall nach dir gesucht. Was machst du denn hier?“
 

„Geh` weg James!“ erwiderte Margarete müde.
 

James gehorchte nicht. Im Gegenteil näherte er sich ihr sogar behutsam, bis er direkt neben ihr war. Die Hand mit dem Messer behielt er dabei genau im Blick:

„Das kann ich leider nicht tun. Ich habe Angst um dich und ich möchte dich wieder mit nachhause nehmen.“ Er wagte es nun sanft Margaretes freie Hand in seine zu nehmen und spürte, wie die Freundin sich unter seiner Berührung verspannte. Er fuhr fort:

„Was hast du denn mit dem Messer vor?“
 

Margarete stellte eine Gegenfrage:

„Glaubst du an Schicksal, James?“
 

Er schüttelte den Kopf:

„Nicht wirklich. Warum fragst du mich das?“
 

Margarete drehte das Messer in ihrer Hand und erwiderte:

Ich glaube, dass es mein Schicksal gewesen ist, diesem Kerl in die Hände zu fallen und hier an genau dieser Stelle zu sterben, doch irgendwie ist es anders gekommen. Und nun ist mein Leben eine einzige Hölle; eben deshalb, weil ich eigentlich gar nicht mehr hierher gehöre.“
 

„Mein Gott Margarete! Das sind ganz furchtbare Gedanken! Wir alle sind doch froh, dass du noch lebst. Wir lieben dich.“ James seufzte schwer und fuhr fort: „Bitte gib` mir das Messer, in Ordnung?“
 

Margarete schüttelte den Kopf. Sie hatte nun leise zu weinen begonnen und erwiderte heiser:

„Ihr denkt vielleicht, dass ihr mich liebt, aber ihr kennt mich gar nicht mehr! Ich erkenne mich selbst ja nicht einmal mehr. Carmichael ist nicht das einzige Monster hier! Ich bin auch eines! Ich bin ein Ungeheuer, dass nicht einmal davor zurückschreckt, ein unschuldiges Mädchen zu missbrauchen, bloß weil ich mich selbst und das Alleinsein nicht ertrage.“
 

Nun schluchzte Margarete und ihr schlanker Körper bebte. James sah seine Chance, nahm ihr das Messer aus der Hand und legte es außerhalb ihrer Reichweite ab. Dann schloss er Margarete in den Arm, wiegte sie und gab beruhigende Laute von sich. Als sie wieder ruhig genug war, dass sie seine Worte verstehen konnte, sagte James:

„Lass uns nun zurückkehren. Alice ist außer sich vor Sorge um dich. Sie irrt in diesem Moment mit Joe durch die Nacht und sucht nach dir. Sie macht sich Vorwürfe!“ Dann hielt er kurz inne und fuhr dann fort: „SIE sieht mit Sicherheit kein Ungeheuer in dir!“
 

„Das liegt daran, dass sie noch ein Kind ist. Sie ist idealistisch und jung.“
 

James schüttelte energisch den Kopf:

„Nach allem, was Alice hinter sich hat; glaubst du, sie sei zu naiv, um zu sehen, wer du wirklich bist? Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber ich habe gesehen, wie viel du ihr bedeutest.“ Dann fügte er hinzu: „Und ich weiß auch was du mir bedeutest! Ich bin mir sicher, dass du nichts Böses getan hast. Du hast lediglich etwas Furchtbares durchgemacht und versuchst nun, irgendwie damit klar zu kommen.“
 

„Aber was ist mit Melody?“ fragte Margarete: „Meine eigene Schwester und ich sind wie Fremde füreinander.“
 

„Auch für sie war es schrecklich, zu erleben was dir passiert ist. Sie hätte dich beinahe verloren und ist nun wütend und hilflos. Ihr braucht beide etwas Zeit, aber ich verspreche dir, auf lange Sicht wird alles besser werden!“

Mit diesen Worten erhob sich James und half auch Margarete wieder auf die Füße. Das Messer hatte er an sich genommen und bestimmte:

„Wir gehen jetzt nachhause!“
 

Und James war beinahe überrascht, dass Margarete sich tatsächlich bei ihm unterhakte und ihm folgte.
 

James hatte Margarete in der Küche des Wohnhauses einen Tee gemacht und nun saßen die beiden schweigend am Tisch. Plötzlich öffnete sich die Haustür und Joe und Alice traten ein. Das Mädchen war rot verweint und verzweifelt, doch als sie Margarete erblickte, stürzte sie auf sie zu und umarmte sie so fest, dass dieser beinahe die Luft wegblieb. Erst nach einer ganzen Weile ließ das Mädchen die Frau wieder los.
 

Margarete blickte Alice unglücklich an und sagte:

„Es tut mir so wahnsinnig leid, was ich getan habe. Ich würde es dir gern erklären, aber ich weiß nicht, ob ich das kann.“
 

Alice berührte zart Margaretes Wange und antwortete:

„Du musst mir nichts erklären. Lass` uns lieber schlafen gehen!“
 

Im Bett schmiegten sich Alice und Margarete eng aneinander. Sie sprachen nicht mehr über das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sondern schliefen beinahe sofort ein.

Als sie wieder erwachten war bereits später Vormittag und draußen regnete es noch immer.

Margarete konnte es selbst kaum fassen, doch sie fühlte sich so viel besser, als in der vergangenen Nacht. Sie war erholt und fühlte sich lebendig.

Nun gab es nur noch eine Sache, die sie tun musste.
 

Sie küsste die schlafende Alice auf die Stirn. Dann erhob sie sich und verließ das Zimmer.
 

Margarete hatte sich ihr Messer wiedergeholt und betrat gemeinsam mit James die Scheune. Dort saßen Justine und Kathryn mit müden Gesichtern und wachten noch immer bei Bob Carmichael.
 

Dieser hatte mittlerweile einen Knebel erhalten, sowie eine Decke, die ihm über den nackten Körper gelegt worden war:

„Wir wollten den Mistkerl weder sehen, noch hören!“ erklärte Justine erschöpft.
 

Margarete nickte und entließ die beiden von ihrem Posten.
 

„Was hast du nun vor?“ erkundigte sich James unsicher:
 

„Ich werde diese Sache jetzt beenden!“ antwortete sie schlicht.
 

Dann nahm sie Carmichael den Knebel ab, hielt dem gefesselten Mann die Klinge an den Hals und sagte mit ruhiger, gefasster Stimme:

„Ich möchte nur eine Sache von dir wissen, Bob. Warum hast du mir das angetan?“
 

Carmichael blickte sie verwundert an. Dann antwortete er:

„Weil wir zusammen gehören! Fühlst du das denn nicht?“ nach einer nachdenklichen Pause fuhr er fort: „Das, was ich damals in dieser Nacht getan habe war falsch. Ich war viel zu ungeduldig, betrunken und dann habe ich dich einfach dort liegen lassen. Als ich aber erfahren habe, dass du noch lebst, wusste ich, dass ER wollte, dass ich eine zweite Chance erhalte, es besser zu machen! Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt, wie in jener Nacht. Alles was vorher war, mein gesamtes Leben war bedeutungslos, farblos. Erst durch dich, durch das was wir hatten, habe ich erfahren, was mir fehlt. Binde mich los, dann bringe ich dich weg von hier! Und diesmal werde ich mir viel Zeit für dich nehmen. Für immer wenn du willst!“
 

Margarete schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Gesicht ihr Gesicht zeigte Ekel:

„Du bist wirklich ein komplett verrückter Mistkerl. Denkst du etwa wirklich, dass du mir irgendetwas bedeutest? Meinst du, ich würde dich jemals wieder in meine Nähe lassen? Du widerst mich an, hörst du? DU WIDERST MICH AN!“

Sie drückte die Klinge fest an seinem Hals und verletzte seine Haut. Einige Blutstropfen rannen seine Kehle hinab.
 

„Tu es! Dann tu es doch endlich!“ sagte Carmichael und es klang beinahe flehend.
 

In diesem Moment wurde Margarete etwas klar: Sein Tod würde ihr keinen Frieden bringen! Bob Carmichael war es nicht möglich, wie ein normaler Mensch zu empfinden.

Vielleicht war er krank?

Vielleicht war er auch besessen?

Vielleicht war er auch einfach nur böse?

Doch eines wurde ihr nun klar: Seine Tat hatte keinen tieferen Sinn!
 

Sie hatte einfach nur Pech gehabt, ihm in die Hände zu fallen, so wie man Pech hatte, wenn einen der Blitz traf. Mit Schicksal hatte das überhaupt nichts zu tun:

„Ich werde dich am Leben lassen!“ erklärte sie plötzlich sehr ruhig und ließ das Messer sinken.
 

James holte Tiny, Kathryn und Joe herbei und Margarete schnitt Carmichaels Fesseln durch. Der Mann taumelte zunächst ein wenig unsicher und rieb sich die Hände und Füße, welche nun lange Zeit nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt worden waren. Als er sich einigermaßen erholt hatte, gab James ihm seine Kleider wieder und legte ihm Handschellen an. Als James Carmichael abführen wollte, drehte dieser sich noch einmal um. Traurig sagte er zu Margarete:
 

„Schade! Für einen Moment habe ich gedacht, du seist ein Wolf, aber du bist doch nur ein Lamm, wie alle Anderen!“
 

James stieß Carmichael seine Pistole in die Rippen und rief ärgerlich:

„Beweg´ dich, du kranker Mistkerl!“
 

Kathryn und Joe begleiteten den Gesetzeshüter und seinen Gefangenen auf dem Weg zum Sheriffsdepartment.
 

Margarete blickte ihnen hinterher, solange sie sie noch sehen konnte. In diesem Moment ließ der Regen nach und die dunklen Wolken brachen auf.

Aufatmen

Dritter Teil: Inferno
 


 

Weil die Sonne herausgekommen war, saß Sheriff Snyder vor dem Department und genoss die wärmenden Strahlen. Er staunte nicht schlecht, als er die kleine Prozession, angeführt von Carmichael in Handschellen und Jimmy mit vorgehaltener Waffe auf sich zukommen sah. Bei ihnen waren dieser Junge aus dem Gemischtwarenladen und die verdammte rothaarige Hure. Die beiden letzteren blieben in einiger Entfernung zum Department stehen und sahen zu, wie der Gefangene hineingeführt wurde. Snyder folgte dem Deputy nach drinnen und meinte:
 

„Hast du den Kerl also endlich geschnappt? Und warum ist er so üblen Zustand?“ Snyder sprach von den Schnittwunden und der Kopfverletzung:

„Er hat sich der Verhaftung widersetzt!“ behauptete James mit einem Seitenblick auf Carmichael, welcher nicht widersprach, sondern stattdessen grinste und ihm verschwörerisch zuzwinkerte.
 

„Wenn du meinst.“ sagte Snyder zweifelnd und fügte hinzu: „Bring ihn in eine der Zellen. Du hast die freie Auswahl, denn zurzeit haben wir ja keine anderen „Gäste“. Sieht aus, als müssten wir ihn eine Weile beherbergen, denn der Richter ist für unbestimmte Zeit nicht in der Stadt!“
 

James verschwand mit Carmichael hinten im Zellenbereich und als Snyder außer Hörweite war sagte der Gefangene:

„Wissen sie Deputy, ich mache mir so meine Gedanken über sie. Warum hängen sie so sehr an den Leuten drüben im roten Haus? Sich mit einem Haufen Huren einzulassen ist nicht gerade typisch für so einen braven Gesetzeshüter wie sie, oder? Ich finde das sehr interessant! Ich wette, es geht hierbei um Liebe! Welche ist es denn wohl? Eine der Zwillingsschwestern vielleicht?“ Er schüttelte bestimmt den Kopf: „Nein! Es muss die Rothaarige sein!“ Dann fügte Carmichael im Plauderton hinzu: „Frauen! Ich verstehe sie gut, Deputy! Würden wir nicht alles für sie tun? Wissen sie, dass ich nicht einmal den Namen der Frau weiß, für die ich das alles auf mich nehme?“
 

James würgte es beinahe bei Carmichaels Worten:

„Eine eigenartige Art, die Situation zu betrachten. SIE nehmen etwas auf sich? Sie haben dieser Frau und auch ihren Freunden nichts weiter als Leid zugefügt. Und im Übrigen brauchen sie ihren Namen auch nicht zu wissen, denn sie werden sie NIE WIEDER sehen und nie wieder die Gelegenheit haben, mit ihr zu sprechen!“ sein Tonfall war schneidend und bitterböse.
 

Carmichael grinste und erwiderte:

„Irrtum Deputy! Dies hier ist noch längst nicht vorbei!“
 

James drehte sich kopfschüttelnd um und im Weggehen murmelte er ärgerlich:

„Kranker Bastard!“
 

Margarete saß neben Alice auf den Stufen vor dem Wohnhaus in der Sonne. Die Anspannung, welche die jüngsten Ereignisse ausgelöst hatte, fiel nun endlich von ihr ab und nun war Platz für die Schuldgefühle, welche sie dem Mädchen gegenüber empfand. Sie strich ihr sanft durch das Haar und erklärte:

„Du warst sehr tapfer in den letzten Tagen. Und ich meine nicht nur deinen Kampf mit Carmichael, sondern alles! Aber so, wie es war, darf es zwischen uns nicht weitergehen. Ich habe so viel falsch gemacht. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass ICH nun die Erwachsene von uns beiden sein kann! Was ich dir zugemutet habe, tut mir wahnsinnig leid!“
 

„Dir soll aber nichts leidtun!“ erwiderte Alice und drückte ihre Hand.
 

Margarete konnte sehen, wie erschöpft die Kleine aussah. Sie zog ihren Kopf an ihre Schulter, umarmte sie und fragte:

„Was hältst du davon, wenn wir alle heute ein kleines Fest feiern?“
 

Noah war den ganzen Vormittag über verdächtig still gewesen. In der Mittagspause hockte sich Joe daher neben den Jungen auf die Stufen vor dem Geschäft und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen:

„Sag´ mal, hast du etwas auf dem Herzen?“ fragte er
 

Noah wandte ihm sein blasses, sommersprossiges, rundes Gesicht zu und der Blick, den er ihm schenkte war so unglaublich traurig, dass Joe sogar ein wenig schlucken musste.

„Oh je Kleiner! Was ist denn los?“
 

Noah setzte mehrmals an, um etwas zu sagen, doch irgendwie kam kein Ton dabei heraus:
 

„Du kannst es mir ruhig erzählen, ganz gleich, worum es sich handelt.“ versicherte Joe.
 

Noah kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, denn trotz dieser Einladung war er sich sicher, dass er eben NICHT über alles sprechen konnte!

Er würde Joe sicher nichts von der Verunsicherung und der abgrundtiefen Verzweiflung erzählen, die er ständig spürte.

Auch nichts darüber, dass er in der vergangenen Nacht nicht hatte schlafen können und den Schlüssel seines Vaters gefunden hatte, den dieser für gewöhnlich gut versteckt hielt.

Oder darüber, dass er in dessen Arbeitszimmer geschlichen war, um mit diesem die oberste Schublade des Schreibtisches zu öffnen, wo die Waffe versteckt lag.

Und nichts darüber, wie kalt sich der Lauf an seiner Stirn angefühlt hatte, als er darüber nachgedacht hatte, dass er vielleicht endlich Frieden finden würde, nachdem er einmal den Abzug betätigt hätte.

Dann wären all die Zweifel, die Ängste, die Scham und der Hass auf sich selbst endlich vorbei!
 

Und schon gar nicht würde er darüber sprechen, dass dies längst nicht das erste Mal gewesen ist, dass er darüber nachgedacht hatte, sein Leben zu beenden.
 

Nein, diese Dinge waren Tabu!
 

Für diesen einen Moment genoss er ganz einfach die Umarmung und die Aufmerksamkeit, des gutaussehenden jungen Mannes neben sich.

Und er WOLLTE Joe ja auch von sich berichten. Nur würde er sich eben vorsichtig an das Problem herantasten und einiges für sich behalten:
 

„Eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Mir gehen in letzter Zeit so viele Dinge durch den Kopf.“ leitete Noah seine Rede schließlich ein: „Ich bin verwirrt und traurig. Und es ist merkwürdig, dass Alice nun bei euch drüben ist. Vorher waren wir fast in jeder Minute zusammen. Ich konnte ihr erzählen, was in mir vorgeht. Jetzt bin ich ganz allein!“
 

Dem sensiblen Jungen kullerten zwei dicke Tränen über die Wangen und Joe stellte fest, wie verletzlich und jung Noah im Grunde noch wirkte. Zwar war er keine drei Jahre jünger als er selbst, aber dennoch wies sein Gesicht noch kaum eine Spur von Bartwuchs auf. Seine Züge waren weich und ein wenig feminin. Alles, was dieser Junge ausstrahlte, appellierte an Joes Beschützerinstinkt und daher war er auch froh, dass sie neuerdings miteinander arbeiteten:

„Du kannst doch jederzeit zum roten Haus kommen und mit Alice sprechen.“ Erklärte er Noah aufmunternd.
 

Der Junge seufzte und gab zurück:

„Ich weiß! Aber irgendwie ist es nicht mehr dasselbe. Alice ist mit anderen Dingen beschäftigt. Sie hat neue Freunde gefunden und ihr Leben verändert sich. Ich freue mich natürlich für sie, aber irgendwie habe ich gedacht, das mit uns beiden bleibt für immer!“ und traurig fügte er hinzu: „Nun fühle ich mich irgendwie ganz…haltlos und verloren. Sie ist doch alles, was ich habe!“
 

Joe wusste nicht recht, worauf das ganze hinauslief und wie er darauf antworten sollte. Schließlich sagte er:

„Ich denke, du hast recht damit, dass Alice zurzeit vieles durch den Kopf geht, aber ich bin sicher, dass sie immer noch genauso an dir hängt, wie du an ihr. Sie macht nur ein paar Veränderungen durch.“
 

Noah antwortete unglücklich:

„Ich hab` einfach Angst, dass es mein Schicksal ist, für immer allein zu sein!“
 

Joe runzelte die Stirn. Er verstand wirklich nicht so ganz, was in Noah gerade vorging, hielt es aber dennoch für angeraten, klare Worte zu finden, also sagte er so sanft wie möglich:

„Wenn du damit sagen willst, dass du in Alice verliebt bist, dann solltest du wissen, dass sie deine Gefühle wohl nicht erwidern kann, denn sie ist…anders!“
 

Während Joe noch angestrengt darüber nachdachte, wie er es besser erklären konnte, wurde er von einem ungeduldigen Noah in seinen Überlegungen unterbrochen:

„Das weiß ich! Ich weiß, was Alice ist!“ erklärte Noah rasch. Dann zögerte der Junge, ehe er den Mut fand hinzuzufügen: „Und sie weiß auch, was ich bin! Das ist der Grund, warum ich damals überhaupt angefangen habe, mit dir zu sprechen! Ich hatte auch bei dir so ein Gefühl…also, ähm…das Gefühl, dass wir diese spezielle Sache gemeinsam hätten.“ Mit einem forschenden Blick fügte er hinzu: „Alice hat mir mittlerweile verraten, dass ich mit meiner Vermutung wohl recht hatte“
 

Nun endlich ging Joe ein Licht auf:

„Ach so ist das!“ erwiderte er verblüfft und bekannte dann: „Ja, es stimmt! Alice hat recht!“
 

Aus Joes Mund nun die Bestätigung zu erhalten, erleichterte Noah. Irgendwie hatte er es bis jetzt noch nicht wirklich glauben können.

Diese Gewissheit ließ ihn sich mit einem Schlag ein kleines bisschen weniger allein fühlen:

„Hast du es jemals deinen Eltern erzählt?“ wollte Noah wissen.
 

Joe wurde ein wenig bleich bei dieser Frage und antwortete:

„Darüber möchte ich lieber nicht sprechen!“
 

Schüchtern versicherte Noah schnell:

„Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht in eine unangenehme Situation bringen!“
 

Joe zwang sich zu einem Lächeln und erklärte:

„Es muss dir nicht leidtun. Es ist in Ordnung, dass du gefragt hast. Das ist einfach ein schwieriges und sehr persönliches Thema für mich. Was ist denn mit DEINEN Eltern? Hast DU es ihnen erzählt?“
 

„Ich habe es niemandem erzählt außer Alice. Und nun eben dir. Wenn meine Eltern je davon erführen, dann brächten sie mich wahrscheinlich um oder jagten mich zum Teufel.“ antwortete Noah bitter.
 

Niemand wusste wohl besser als Joe, dass dies durchaus im Bereich des Möglichen lag, also erwiderte er:

„Dann ist es wohl besser, du behältst es für dich.“
 

„Natürlich! Aber vielleicht erfahren sie es ja auf anderen Wegen.“ gab Noah ängstlich zurück: „Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was es für den Sohn eines Geistlichen bedeutet, SO zu sein? Es geht gegen alles, was ich zu glauben und zu sein gelernt habe! Wenn es nach meinen Eltern geht, dann fahren Leute wie ich…also Leute wie wir, direkt zur Hölle!“ Er holte tief Luft, ehe er weitersprechen konnte: „Und ich habe wirklich versucht, normal zu sein. Ich habe gebetet, gehofft, mir diese Gefühle verboten, aber es hilft alles nichts! Ich kann es einfach nicht ändern!“
 

Ihr intimes Miteinander vor dem Geschäft fing langsam an, die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zu ziehen, darum bedeutete Joe Noah, dass sie besser hineingehen sollten:

„Ich habe mich früher auch so gefühlt.“ bekannte er, sie wieder im Laden waren: „Weißt du, wann es besser wurde? Als ich Menschen getroffen habe, die mich so akzeptierten, wie ich bin. Die Leute drüben im roten Haus sind meine Freunde. Sie können auch deine Freunde sein.“

Joe zögerte ein wenig, seine nächste Frage zu stellen, weil er Noah nicht in Verlegenheit bringen wollte, doch dann siegte seine Neugierde:

„Woher willst du denn eigentlich so genau wissen, dass du SO bist. Hast du denn schon einmal irgendetwas gemacht? Zum Beispiel einen Jungen geküsst?“
 

Noah errötete ein wenig, als er antwortete:

„Ich habe das eigentlich schon immer gewusst, schon seit ich ein Kind war und lange, bevor ich irgendetwas ausprobiert habe. Und dann war da ein Junge in meiner Schule. Er war ein Jahr älter als ich. Sein Name war Christian. Vor ungefähr vor zwei Jahren ist etwas passiert. Er hat mich geküsst…“Noah blickte schamhaft zu Boden und fuhr fort: „…und auch andere Sachen mit mir gemacht; mich angefasst und so. Das ging eine ganze Weile so, aber dann hat er wohl Angst bekommen. Er hat gesagt, er bringt mich um, wenn ich es irgendwem erzähle und später haben seine Freunde und er mich verprügelt.“

Noah schluckte bei der Erinnerung:

„Er wollte wohl ganz sicher gehe, dass ich meinen Mund halte!“
 

Joe schenkte dem Jungen einen mitfühlenden Blick, doch unpassender Weise grinste Noah plötzlich ein wenig und fuhr fort:

„Als Alice das mitbekommen hat, hat sie ihm so heftig auf die Nase geschlagen, dass es eine Stunde lang geblutet hat. Sie durfte danach für eine Woche nicht mehr in die Schule kommen, aber das war ihr egal, weil sie es für mich getan hat!“
 

Joe schmunzelte und wollte wissen:

„Ist sie deine Beschützerin?“
 

„Es ist irgendwie blöd…“ erwiderte Noah: „…aber so ist es. Sie kann das so viel besser als ich! Sie ist größer und stärker, obwohl sie doch nur ein Mädchen ist.“
 

Joe zuckte mit den Schultern und meinte:

„Warum auch nicht.“
 

„Christian hatte vor einer Weile die Stadt verlassen und darüber war ich wirklich erleichtert.“ fuhr Noah fort: „Aber nun ist er wieder hier. Ich habe immer noch Angst vor ihm, weißt du? Ich habe ihn vor zwei Tagen gesehen, er mich jedoch glücklicherweise nicht, doch seitdem bin ich nervös. Was, wenn er meinen Eltern sagt, wie ich bin?“
 

Joe schüttelte entschieden den Kopf:

„Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Ich denke, dieser Christian fürchtet sich so sehr davor, dass die Wahrheit über ihn selbst herauskommt, dass er sich hüten wird, auf jemand anderen mit dem Finger zu zeigen.“
 

Irgendwie beruhigten Noah Joes Worte tatsächlich.
 

Die beiden saßen eine Weile schweigend nebeneinander, doch den Jüngeren beschäftigte noch eine weitere Sache und so gab er sich schließlich einen Ruck und fragte:

„Alice denkt, dass du einen Freund hast…also jemand Besonderen, mit dem du zusammen bist. Ist das wahr?“
 

Joe nickte, also fragte Noah schüchtern weiter: „Sie hat mir nicht gesagt, wer es ist. Bestimmt ist es der Deputy, oder?“
 

Joe erwiderte kichernd:

„Nein, James ist es nicht! Der mag Frauen.“
 

Noah wirkte erstaunt:

„Aber ihr seid gute Freunde, oder? Weiß er denn von dir?“
 

Joe nickte erneut:

„Ja, James weiß Bescheid!“
 

„Und er will trotzdem dein Freund sein?“ erkundigte sich Noah ungläubig.
 

Joe kicherte:

„Ja, warum denn auch nicht?“
 

Der Junge zuckte unglücklich mit den Schultern und erwiderte:

„Ich weiß auch nicht. Ich kann es mir wohl nur schwer vorstellen, dass normale Leute uns akzeptieren können.“ Schließlich wollte Noah wissen: „Wenn es nicht der Deputy ist, wer kann es denn sonst sein?“
 

Als Joe es ihm verriet, weiteten sich Noahs Augen erstaunt:

„Wirklich?“ fragte er.
 

Joe nickte amüsiert.
 

Im roten Haus herrschte eine Stimmung der Erleichterung. Nun, da die Gefahr durch Carmichael gebannt war, hatten alle Bewohnerinnen und Bewohner und auch ihre Gäste endlich wieder das Gefühl, frei durchatmen zu können.
 

Die Idee, dies feierlich zu begehen, stieß bei allen gleichermaßen auf Begeisterung und weil drüben in der Bar am meisten Platz war, wurde dort der Raum festlich geschmückt, Tische und Stühle zu einer großen Tafel zusammengerückt, das alte Klavier hervorgeholt und von Carolyn Hoffman, welche eine passionierte Pianistin war, gestimmt.
 

Unterdessen waren Kathryn, Justine, Tiny, Molly, Regine, Sam und Melody im anderen Haus mit dem Kochen beschäftigt.
 

Als Margarete zu ihnen stieß kippte die Stimmung und die Anspannung war mit einem Mal für alle spürbar. Seit der Auseinandersetzung, der Zwillinge über den weiteren Umgang mit Carmichael hatten die beiden nicht mehr miteinander gesprochen.
 

Margarete hatte das Gefühl, Melody sei ihr in den Rücken gefallen.
 

Melody ihrerseits empfand es so, dass ihre Schwester ihr in letzter Zeit fremd geworden war. Sie verstand nicht, was die zurückliegenden Ereignisse aus Margarete gemacht hatten. Und dieses ganze Theater mit diesem Mädchen Alice war ihr ohnehin unbegreiflich! Wieso wandte ihre Schwester sich mit ihren Sorgen an ein Kind, welches sie zudem doch noch kaum kannte und nicht an sie? Etwas an dem Verhältnis, das Margarete und Alice entwickelt hatten, erschien Melody unnatürlich und ungesund!
 

Am Nachmittag wurde Sam losgeschickt, den Freunden des Hauses Bescheid zu geben, dass es am Abend eine Feier geben würde. Sam suchte zuerst James, dann Rebecca und Felicity und schließlich Joe im Laden auf.
 

Joe nahm die Idee zu feiern begeistert auf und versuchte nun, zusammen mit Sam Noah zu überreden, sich nachts aus dem Haus zu stehlen, wenn seine Eltern schliefen und zu ihnen herüberzukommen, um dabei zu sein:
 

„Alice wird sich doch bestimmt freuen, dich zu sehen!“ versicherte er.

Noah blickte ihn zweifelnd an:
 

„Sicher dass ich kommen soll?“ fragte er: „Ich will doch nicht stören!“
 

Joe schüttelte gutmütig den Kopf und erwiderte:

„So ein Unsinn! Und ich freue mich auch, wenn du kommst!“
 

„Und ich auch!“ bekräftigte Sam strahlend, der sich so sehr danach sehnte, Zeit mit anderen Jugendlichen zu verbringen.
 

Noah kratzte sich unschlüssig am Hinterkopf. Natürlich wollte er gern dabei sein und auch Alice sehen, aber er hatte dennoch ein wenig Angst. Schließlich sagte er:

„In Ordnung! Ich werde sehen, ob ich es schaffe!“
 

Als Noah nach Einbruch der Dunkelheit tatsächlich eintraf, war die Feier bereits in vollem Gange. Ms. Hoffman saß am Klavier und spielte. Es gab eine kleine improvisierte Tanzfläche, auf der sich einige Paare zusammengefunden hatten. Joe wirbelte Regine herum und Sam tanzte mit seinen beiden kleinen Schwestern. Auch die beiden Lehrerinnen Miss Owens und Miss Miller und zwei der Damen aus Boston, eine hagere große und eine kleinere, untersetzte Frau, deren Namen Noah nicht wusste, bewegten sich ausgelassen zur Musik.

In verschiedenen Ecken des Raumes hatten sich kleine Grüppchen oder Paare zusammengefunden und waren in Gespräche vertieft. Unter anderem entdeckte Noah auch Alice und Margarete, welche dicht beieinander hockten. Sie führten augenscheinlich eine sehr ernsthafte Unterhaltung. Beide wendeten Noah den Rücken zu und konnten ihn daher nicht sehen, doch von seinem Standort aus konnte Noah dem Halbprofil seiner besten Freundin deutlich entnehmen, wie traurig und erschöpft sie war.
 

Noah fühlte sich unsicher, fehl am Platze und wusste nicht recht, wohin er sich wenden sollte. Er hatte schon fast beschlossen, sich klammheimlich wieder zurückzuziehen, doch da hatte Joe ihn entdeckt, winkte ihm fröhlich zu, verabschiedete sich galant mit einer Verbeugung von seiner Tanzpartnerin und kam auf ihn zu:
 

„Hallo Kleiner! Schön, dass du es geschafft hast, zu kommen!“ begrüßte er ihn munter und umarmte ihn.
 

Noah lächelte gequält, doch Joe hakte ihn unter und führte ihn zum Tisch, wo Tiny und James beieinander saßen. Joe zog für sie beide Stühle heran und die Männer begrüßten Noah herzlich. Mit einem entschuldigenden Lächeln erklärte Joe:

„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich habe Thomas und James erzählt, dass du zurzeit ein wenig einsam und traurig bist. Vielleicht können wir dich etwas ablenken. Ich wette, Sam hat Lust, Karten zu spielen.“
 

Noah zuckte unschlüssig mit den Schultern, doch noch ehe er etwas sagen konnte, war Joe bereits zu Sam hinüber gegangen, um ihn zu fragen. Dieser eilte sofort begeistert los, um die Spielkarten zu besorgen.

Während des Spielens entspannte sich Noah ein wenig. Er war froh, beschäftigt zu sein und zumindest von außen den Anschein zu erwecken, als würde er dazugehören.

Wenn er sich unbeobachtet fühlte, linste er heimlich zu Tiny hinüber und versuchte sich vorzustellen, wie es für Joe sein musste, jemanden wie ihn zum Freund zu haben: älter, größer, stärker und schwarz.
 

Alice hatte ihn immer noch nicht entdeckt und Noah wollte die Unterhaltung zwischen ihr und Margarete, nicht stören. Er beobachtete die beiden Frauen stattdessen über seine Karten hinweg. Margarete sprach, während seine Freundin offenbar lediglich den Part der Zuhörerin hatte. Was gesagt wurde konnte Noah nicht verstehen, doch was immer es war; es setzte Alice schwer zu.

Noah registrierte es mit Besorgnis.
 

Alice war keine große Rednerin. Sie hatte Margarete gefragt, wie es nun mit ihnen beiden weitergehen sollte, denn sie musste unbedingt wissen, woran sie war. Daraufhin hatte Margarete sehr viele Dinge gesagt und Alice, der es schwer fiel, darauf etwas zu erwidern, hörte lediglich zu, so gut sie konnte:
 

„Du weißt doch, dass du mir sehr viel bedeutest, oder meine Kleine? Aber leider kann ich dir nicht geben, was du dir wünschst. Ich bin nun mal nicht so wie du, auch wenn ich es gern wäre und es mir wahrscheinlich einigen Ärger im Leben erspart hätte!“ Margarete seufzte und betrachtete das Mädchen stirnrunzelnd: „Wenn du wenigstens ein wenig älter wärst, dann würde ich es möglicherweise trotzdem ausprobieren, denn trotz allem liebe ich dich, Schätzchen, das musst du mir glauben.“ Sie streichelte Alices Wange: „Doch so, wie die Dinge nun liegen, fühle ich mich eher wie eine Mutter, als wie eine Geliebte für dich. Glaub mir, ich mag es, deine Hand zu halten, dich in den Arm zu nehmen, oder neben dir im Bett zu liegen, aber ich möchte nicht mit dir schlafen. Das würde sich falsch anfühlen. Kannst du das verstehen?“
 

Scheinbar endlos trommelten Worte wie diese auf Alice ein. Das Mädchen musste sich konzentrieren, um zu verstehen, was Margarete ihr sagen wollte. Irgendwie war da so ein Rauschen in ihrem Kopf, das alles andere übertönen wollte. Als weigere sich ein Teil von ihr, zu hören, oder zu begreifen.

Sie atmete tief durch und rief sich zur Ordnung:.

Was hatte Margarete gesagt?

Sie wollte sie bei sich haben, aber nicht so, als wären sie ein Paar?

Was bedeutete das überhaupt?

War es ihr möglich, das eine vom anderen zu unterscheiden?

War sie in der Lage, diese Grenze einzuhalten?

Und was war mit all´ den verbotenen Wünschen und Sehnsüchten, die sie hatte?

Wäre es nicht leichter, wenn sie sich vollständig von Margarete fernhalten würde?

Aber andererseits kam es Alice so vor, als habe sie in dieser Sache gar keine Wahl, keinen eigenen Willen:?

Wie ferngesteuert würde sie so lange Margaretes Nähe suchen, bis diese sie schließlich wegschicken würde.
 

Alice fühlte Traurigkeit, Sehnsucht und Verzweiflung - alles zur selben Zeit!

Weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte; weil sie es nicht länger ertragen konnte zuzuhören und weil das Gespräch und die Gefühle, die es auslöste sie überforderten, behauptete sie schließlich:

„Ich verstehe! In Ordnung!“

Dann erhob sie sich.
 

Noah war nicht der einzige, der die Unterhaltung zwischen Margarete und Alice aus der Ferne beobachtete hatte. Auch Helena hatte die beiden ins Visier genommen. Sie konnte die Unterhaltung zwar nicht verstehen, doch sowohl die Körperhaltung, als auch die Miene der beiden sprach Bände und gab Helena eine ziemlich genaue Vorstellung, was vor sich ging.

Das Mädchen tat ihr leid. Ihr Schmerz war tief und aufrichtig!

Helena bemerkte, dass sie allmählich begann, diese Alice ins Herz zu schließen; die eckigen, ungelenken Bewegungen, die so gut zu der wortkargen, schüchternen, oftmals so grimmigen, aber auch mutigen und tapferen Wesensart passten, rührten sie.

Sie musste ein wenig lächeln.
 

Alice wusste nicht recht, wohin sie sich wenden sollte, nachdem sie Margarete am Tisch zurückgelassen hatte. Sie fühlte sich ein wenig benommen und dachte schon daran, hinauf in ihr Bett zu gehen, als sie endlich Noah entdeckte, der mit den anderen Karten spielte.

Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer bei seinem Anblick. Eilig lief sie zu ihm hinüber, schlang dem Sitzenden von hinten die Arme um die Schultern und sagte:

„Du bist da! Wie schön!“ Dann knuffte sie ihn leicht und schimpfte: „Aber warum bist du denn nicht zu mir herüber gekommen, um „Hallo“ zu sagen, du Spinner?“
 

Noah atmete erleichtert auf. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie sich freuen würde, ihn hier zu sehen:

„Ich wollte abwarten, bis ihr euer Gespräch beendet habt. Es hat wichtig ausgesehen und ich wollte nicht stören!“ erwiderte er kleinlaut:
 

„Du störst mich niemals!“ versicherte Alice und drückte ihren Freund noch fester an sich.

Sam betrachtete das Schauspiel genervt. Noah war am Zug und diese Alice hielt nun das ganze Spiel auf. Hierbei verstand er wirklich keinen Spaß:

„Was ist denn nun! Geht`s endlich weiter?“ fragte er ungehalten.
 

Noah blickte seine Freundin entschuldigend an und zuckte mit den Schultern.

Alice zwinkerte Sam zu, zog sich einen Stuhl heran, hielt sich den Zeigefinger an die Lippen und versprach:

„Ich bin ja schon still!“
 

Unter dem Tisch griff sie nach Noahs Hand und drückte sie leicht.
 

Da Alice nur stille Beobachterin des Kartenspiels war, sah Helena nun ihre Gelegenheit, das Mädchen anzusprechen. Sie schlenderte zu ihr hinüber und nahm neben ihr Platz.

„Dein Gespräch mit Margarete hat sehr ernst gewirkt.“ stellte sie fest: „Um was ging es denn?“
 

Die Angesprochene schaute Helena überrascht an, ehe sie antwortete:

„Ich bezweifle, dass du das verstehen würdest.“
 

Helena schüttelte grinsend den Kopf und erwiderte forsch:

„Das ist schon das zweite Mal, dass du mir das unterstellst. Du musst mir ja nicht sagen, worüber ihr euch unterhalten habt, wenn du findest, dass es mich nichts angeht, aber der Fairness halber solltest du mir irgendwann einmal die Chance geben, dich zu überraschen mit all` dem, was ich zu verstehen in der Lage bin!“
 

Es entstand ein kurzes Schweigen und Alice hatte das Gefühl, Helena beleidigt zu haben. Gerade dachte sie noch darüber nach, wie sie sich entschuldigen konnte, als Helena überraschend fortfuhr:

„Du siehst wirklich ganz schön geschafft aus! Es war alles ein bisschen zu viel in letzter Zeit, stimmt`s? Vielleicht solltest du dir mal eine kleine Auszeit und eine Luftveränderung gönnen?“
 

Alice zuckte mit den Schultern und antwortete resigniert:

„Das würde ich ja gern! Aber ich muss hier im Haus bleiben, damit mein Bruder mich nicht entdeckt.“
 

Da lächelte Helena breit, denn sie hatte eine Idee:

„Es ist richtig, du kannst dich in Millers Landing nicht blicken lassen, aber wie wäre es mit Taylorsville. Das ist weit genug weg, dass du deine Familie dort mit Sicherheit nicht triffst. Als ich mit den Frauen letzte Woche da gewesen bin, habe ich ein Plakat gesehen. Am kommenden Samstag findet dort ein Scheunenfest statt. Wie wäre es, wenn wir dort hingingen? Nur wir zwei?“
 

Alice schenkte Helena einen skeptischen Blick, als sie erwiderte:

„Solche Veranstaltungen sind für hübsche Mädchen wie dich vielleicht lustig. Mauerblümchen wie ich sitzen dort den ganzen Abend nur herum und schauen den anderen beim Tanzen zu!“
 

Helena lachte und schüttelte den Kopf:

„Wer hat dir denn eingeredet, dass du ein Mauerblümchen bist?“ fragte sie amüsiert.
 

„Ich bin ja wohl nicht gerade die Art Mädchen, die Männer gern zum Tanzen auffordern.“ Gab Alice knurrend zurück.
 

„Wärst du das denn gern?“ fragte Helena zweifelnd.
 

„Pfft!“ machte Alice.
 

„Na siehst du!“ erwiderte Helena: „Wenn du durch deine Haltung so deutlich signalisierst, dass du nicht aufgefordert werden möchtest, warum sollte es dann irgendjemand tun? Aber das wird an diesem Abend ohnehin kein Problem sein. Die Männer werden erst einen Blick auf diesen hier werfen…“Helena hielt die Hand mit dem Verlobungsring hoch: „…dann werden sie dich sehen und daraus schließen, dass ich mir meinen Tanzpartner schon mitgebracht habe.“
 

Alice blickte die junge Frau verblüfft an und fragte errötend:

„Heißt das, du denkst, man wird mich für deinen Verlobten halten?“
 

Helena kicherte und antwortete:

„Davon gehe ich aus!“
 

„Und das stört dich nicht?“ erkundigte sich Alice unsicher.
 

Helena schüttelte grinsend den Kopf und erwiderte:

„Warum sollte mich das stören. Denkst du, ich habe Lust, einen ganzen Abend lang von irgendwelchen fremden Flegeln herumgewirbelt zu werden? Da tanze ich doch lieber mit dir!“
 

„Wirklich?“ fragte Alice stirnrunzelnd.
 

„Sicher! Sehr gern sogar!“ versichert Helena.
 

„Dabei gibt es nur ein Problem.“ gab Alice schüchtern zurück: „Ich kann nämlich gar nicht tanzen!“
 

Helena lächelte, griff Alice bei der Hand und zog sie auf die Füße, als sie antwortete:

„Dann üben wir das jetzt!“
 

James war unkonzentriert und verlor beim Kartenspiel in einem fort. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Kathryn, welche schon den ganzen Abend dicht neben Justine hinter der Bar saß. Die Unterhaltung der beiden Frauen war innig und vertraut. Sie lächelten, berührten sich häufig, blickten einander tief in die Augen und brachten sich gegenseitig zum Lachen. Es wirkte, als hätten sie den Rest der Welt vollständig ausgeblendet.

In James Eingeweiden brannte die Eifersucht.
 

Joe bemerkte die Unruhe seines Freundes und folgte dessen Blick. Er legte James eine Hand auf die Schulter und drückte sie freundschaftlich.
 

Kathryn hatte Justine gerade ausführlich ihren ungewöhnlichen Lebensweg geschildert. Ihre Zeit mit Elizabeth hatte sie jedoch nur vage umschrieben. Aus irgendeinem Grund fand sie in Bezug auf diesen Teil ihres Lebens der anderen Frau gegenüber immer noch ein wenig Zurückhaltung angebracht.
 

Nun war es an Justine Kathryn von ihrer Vergangenheit zu berichten und wie sie dazu gekommen war, sich der Frauenbewegung anzuschließen. Justine erzählte, wie sie als junge Frau ein Medizinstudium angefangen hatte. Sie war eine von lediglich drei Frauen an ihrer Universität gewesen und die Einzige, die sich für dieses Fachgebiet entschieden hatte. Zwei Semester lang hatte sie durchgehalten, ehe sie den Geringschätzigkeiten der Lehrkräfte, sowie dem Spott und den Boykottversuchen ihrer Kommilitonen nicht mehr hatte standhalten konnte. Diese Niederlage habe sie nie ganz verwinden können, gab Justine zu. Sie hatte geheiratet, zwei Kinder geboren und großgezogen, aber dennoch immer das Gefühl gehabt, dass es mehr im Leben geben musste.

Durch Erbschaft verfügte sie über ein recht beträchtliches eigenes Vermögen, so dass sie ihren Ehemann nicht hatte um Geld bitten müssen, als sie begann, auf reisen zu gehen, um sich mit anderen Frauenrechtlerinnen auszutauschen, Vorträge zu hören und schließlich auch zu halten:
 

„Mein Mann Nathan hat meine Bemühungen von Anfang an mit Skepsis betrachtet. Mittlerweile geht er ganz offen dagegen in den Widerstand. Wir streiten ununterbrochen. Er behauptet, ich würde ihn der Lächerlichkeit preisgeben, ihn entmannen!“ erklärte Justine ärgerlich: „Ich erkläre ihm dann, wenn etwas lächerlich wäre, dann doch wohl sein fragiles männliches Ego, dass sich vor einer starken Partnerin fürchtet. Du hast gut daran getan, dir keinen Mann in dein Leben zu holen, Kathryn! Ich habe noch keinen getroffen, der eine starke Frau neben sich hätte ertragen können.“
 

Als Justine das sagte, blickte Kathryn unwillkürlich zu James hinüber und erkannte, dass dieser sie bereits zuvor im Visier gehabt hatte.
 

Sein Blick sagte alles!
 

Kathryn, die heute Abend keine Lust auf Eifersuchtsdramen mit ihrem abgelegten Liebhaber hatte, wandte sich ab und wollte von Justine wissen:

„Aber es gibt doch sicherlich auch noch positive Momente, welche dich an eurer Ehe festhalten lassen? Liebst du ihn noch?“
 

Diese Fragen trafen Justine offensichtlich unvorbereitet. Sie wurde bleich und antwortete mit belegter Stimme:

„Es tut mir leid Kathryn aber ich möchte in diesem Moment nicht sprechen.“
 

Kathryn bedeckte Justines Hand mit den ihren und versicherte sanft:

„In Ordnung! Aber falls du deine Meinung änderst, bin ich da.“
 

In diesem Moment trat Melody zu Justine und Kathryn hinter den Tresen, nahm sich ein Glas und füllte es bis zum Rand mit etwas Hochprozentigem. Sie starrte grimmig zu ihrer Schwester hinüber, die immer noch am Tisch saß und ihrerseits voller Zärtlichkeit zu Alice hinüberschaute, welcher Helena gerade das Tanzen beibrachte.

Melody leerte ihr Glas in einem Zug und schenkte sich umgehend nach. An Kathryn gewandt fragte sie ärgerlich:

„Kannst du mir mal erklären, was da vorgeht? Meine Schwester teilt ihr Bett neuerdings mit einem Mädchen, das gut und gern ihre Tochter sein könnte: Bin ich denn die Einzige, der das seltsam vorkommt? Und mit mir spricht sie schon seit Tagen kein Wort mehr!“ Sie schüttete auch ihr zweites Glas hinunter, als enthielte es lediglich Wasser, stellte es dann mit einem „rumms“ auf der Theke ab und noch ehe Kathryn antworten konnte, erklärte Justine:
 

„Miss Melody, bitte bedenken sie, dass ihre Schwester in den vergangenen Monaten Furchtbares durchgemacht hat. Sie wäre beinahe gestorben und niemand sollte sie für die Art und Weise verurteilen, wie sie ihren Weg in das Leben zurückfindet!“
 

Melody blitzte Justine zornig an. Mit Müh´ und Not verbiss sie sich einen Kommentar darüber, dass niemand SIE nach ihrer Meinung gefragt hätte und es sie einen verdammten Dreck anginge. Stattdessen schnappte sie sich die Flasche und kam eiligen Schrittes wieder hinter dem Tresen hervor, wobei sie Justine Carpenter im Vorbeigehen absichtlich anrempelte. Kathryn wollte hinter Melody her und sie zur Rede stellen, doch Justine hielt sie zurück:
 

„Lass nur, meine Liebe. Die Wahrheit tut weh und auch Miss Melody hat einiges zu verarbeiten. Mir macht es nichts aus, für einen Moment das Donnerwetter auf mich zu ziehen.“ Dann grinste sie, hielt Kathryn eine Hand hin und sagte:

„Ich habe ewig nicht mehr getanzt. Darf ich dich vielleicht bitten?“
 

Kathryn zog überrascht eine Augenbraue hoch. Dann erwiderte sie das Lächeln und folgte der Einladung.
 

Als James Kathryn und Justine auf der Tanzfläche erblickte, wurde es ihm endgültig zu viel. Er warf die Karten auf den Tisch und sagte:

„Tut mir leid, aber ich habe keine Lust mehr zu spielen.“
 

Sam machte ein unglückliches Gesicht und wollte schon Widerspruch einlegen, doch Joe hielt ihn mit einem strengen Blick davon ab:
 

„Vergiss` es James! Da läuft doch nichts zwischen den beiden. Justine ist schließlich verheiratet.“ versuchte Joe zu beschwichtigen.
 

James verdrehte die Augen und brummte verächtlich:

„Als ob das schon einmal irgendwen von irgendetwas abgehalten hätte, zum Teufel!“
 

Joe schenkte ihm einen mitfühlenden Blick und schlug vor:

„Wir könnte nach drüben ins andere Haus gehen und reden! Was hältst du davon?“
 

James schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Ich denke es ist besser, wenn ich einfach nachhause gehe! Die Lust zu feiern ist mir vergangen!“

Er verabschiedete sich und schritt auf die Tür zu, doch ehe er sie erreichte, wurde er plötzlich von Melody eingeholt. Sie fasste James an der Taille und zog ihn grinsend an sich:
 

„Wo willst du denn so schnell hin, mein Süßer? Bleib´ doch noch für einen Tanz.“ flötete sie.
 

In ihrem Atem roch er Alkohol und sie drängte sich eng und verführerisch an ihn. James errötete ein wenig und erwiderte:

„Ich weiß nicht? Vielleicht sollte ich jetzt einfach schlafen gehen.“
 

Melody schüttelte grinsend den Kopf und erwiderte:

„Komm` schon Deputy! Ein Tanz! Kathryn soll ruhig sehen, dass du nicht auf sie angewiesen bist.“
 

Zu seiner eigenen Überraschung ließ sich James überreden und von Melody hinüber zur Tanzfläche führen. Diese umfasste ihn, schmiegte ihren schönen, schlanken Körper sehr eng an seinen und legte eine Hand in seinen Nacken. Wärme und Erregung durchströmten ihn und so ließ er es geschehen, blieb für mehrere Tänze und musste zugeben, dass dies hier um einiges besser war, als um Kathryn zu trauern.

Schließlich verabschiedete er sich dann doch noch von Melody, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn murmelte leise:

„Ich danke Dir!“
 

„Es war mir ein Vergnügen, schöner Mann!“ versicherte sie mit einem kleinen Lächeln.
 

Nach und nach lichteten sich die Reihen und die meisten kehrten in ihre Zimmer zurück. Als Kathryn und Justine sich zurückzogen, stellte Joe erleichtert fest, dass beide offenbar vorhatten, getrennt schlafen zu gehen. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, was es in James anrichten würde, wenn seine geliebte Kathryn sich tatsächlich mit dieser Frau einlassen sollte.
 

Am Schluss saßen mit nur noch Joe, Noah, Helena, Alice, Tiny und Sam am Tisch, welcher von seiner Mutter heute ausnahmsweise die Erlaubnis erhalten hatte, länger wach zu bleiben. Schließlich erhob sich auch Tiny gähnend und fragte Joe:

„Willst du noch bleiben, Süßer?“
 

Der Angesprochene nickte und antwortete:

„Einen Augenblick noch, in Ordnung?“
 

Tiny zwinkerte und forderte mit vielsagendem Blick:

„Komm` lieber nicht zu spät!“

Dann zog er seinen Geliebten in seine Arme und küsste ihn innig.
 

Noah beobachtete die Szene heimlich und mit Herzklopfen.
 

Nun waren die fünf jungen Leute unter sich und plauderten.

Irgendwann bemerkte Joe:

„Du siehst erschöpft aus, Alice! Ist alles in Ordnung bei dir?“
 

„Ja!“ pflichtete Noah bei: „Ich mache mir Sorgen um dich!“ Er nahm unter dem Tisch die Hand seiner Freundin und ihre Finger verschränkten sich ineinander.
 

Alice blickte mit verschlossenem Gesichtsausdruck in die Runde und erklärte:

„Macht euch keine Gedanken! Ich komme wieder in Ordnung! Es war in den vergangenen Tagen alles etwas zu viel.“

Und um das Thema zu wechseln und die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken fragte sie schnell: „Wie hat dir der Abend heute gefallen, Noah?“
 

Der Angesprochene strahlte:

„Es war so schön hier bei euch! So ganz anders!“ Er musste ein wenig schlucken und obwohl er immer noch lächelte, liefen ihm gleichzeitig kleine Tränen über das Gesicht.
 

Alice zog ihren Freund zu sich heran und rieb sanft ihre Wange an seiner.
 

Joe staunte über diesen, für das scheue und ein wenig robuste Mädchen, ungewöhnlich offenen Ausdruck von Zärtlichkeit vor allen Anderen.

Das musste wohl Liebe sein!
 

Das Grüppchen saß noch eine Weile beieinander und bald sprachen sie über dies und das, so als wären sie alle alte Freunde.

Sam, der Jüngste in der Runde und eigentlich noch mehr ein Kind als ein Erwachsener, fühlte sich ein wenig unsicher und traute sich nicht, sich aktiv am Gespräch zu beteiligen, aber er hörte aufmerksam zu. Er war überglücklich in diesem Moment endlich einmal mit Menschen in ähnlichem Alter zusammen zu sein.
 

Irgendwann waren sie aber schließlich alle so müde, dass es sie schließlich doch noch in ihre Betten zog.
 

Auf dem Heimweg ließ Noah den Abend noch einmal Revue passieren. Er hatte wieder die Sicherheit gewonnen, dass Alice und er zusammen gehörten, er hatte erfahren, dass seine ehemaligen Lehrerinnen offenbar ein Liebespaar waren und er hatte zwei Männer einander küssen sehen: Es war ein aufregender Abend gewesen!
 

Alice hatte wirklich vorgehabt, heute in ihrem eigenen Bett zu schlafen, doch wie immer lief sie schließlich doch hinüber ins andere Haus und klopfte bei Margarete, welche tatsächlich noch immer wach lag und sie hereinbat.
 

„Ich hatte gehofft, dass du noch kommst!“ flüsterte die Ältere.
 

Alice zog sich rasch bis auf die Wäsche aus und schlüpfte wortlos zu Margarete ins Bett. Diese umfasste Alice, so dass sie in deren Armbeuge zum Liegen kam. Alice legte ihrerseits einen Arm um Margaretes Taille. Die Brust der erwachsenen Frau berührte in dieser Position sanft die Wange des Mädchens. Alice sog Margaretes Duft ein und spürte mit einem Mal eine große Sehnsucht, ihre Hände hinauf zu dem weichen Busen wandern zu lassen oder die vollen, weichen Lippen zu küssen, doch anstatt dessen blieb sie ganz einfach nur liegen, wie erstarrt.
 

Bald hörte Alice an Margaretes gleichmäßigem Atem, dass diese eingeschlafen war. Das Mädchen selbst lag noch eine Ewigkeit da und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Erregung und Sehnsucht ließen sie keine Ruhe finden.

Eins plus eins

Die Sonne war gerade aufgegangen und obwohl es gestern so spät geworden war, war Kathryn bereits wach, Sie war soeben dabei, ihr Haar zu kämmen, als sie vom Klopfen an ihrer Tür überrascht wurde. Sie staunte, als sie Justine davor stehen sah, müde und mit hochgezogenen Schultern

„Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?“ fragte diese nun ungewohnt schüchtern.
 

Kathryn schüttelte den Kopf und ließ Justine eintreten:

„Ich habe die ganze Nacht keine Ruhe finden können.“ platzte Justine ohne lange Vorrede heraus: „Ich habe über meine Ehe nachgedacht und daran, was davon übrig sein wird, wenn ich nach Boston heimkehre. Gilt dein Angebot noch, dass wir darüber reden können? Ich muss mir dringend Klarheit über diese Angelegenheit verschaffen!“
 

Kathryn nickte:

„Selbstverständlich! Komm´ rein und setz´ dich!“ antwortete sie und machte eine einladende Handbewegung. Justine nahm auf der Bettkante Platz und ihr Blick fixierte den Fußboden, als gäbe es dort etwas wahnsinnig Interessantes zu sehen. Kathryn setzte sich neben sie, nahm eine ihrer Hände in ihre beiden und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Schließlich holte Justine tief Luft und fuhr fort:

„Meine Ehe ist eine Katastrophe! Er schläft seit Jahren nicht mehr mit mir und ich weiß, dass er zu Huren geht.“

Als sie realisierte, was sie gerade gesagt hatte, blickte sie Kathryn schuldbewusst an und fügte rasch hinzu:

„Entschuldige! Ich meine es nicht so!“
 

Doch Kathryn zuckte mit den Schultern und entgegnete selbstbewusst:

„Ist schon in Ordnung. Ich weiß was ich bin und ich schäme mich nicht dafür!“
 

Immer noch ein wenig zerknirscht fuhr Justine fort:

„Nathan sieht mich nicht einmal mehr richtig an. Als könnte er den Anblick seiner fetten, alten Ehefrau nicht ertragen.“

Justines Stimme kippte und Tränen liefen ihr die Wangen hinab.
 

Kathryn konnte nur schwer aushalten, eine Frau, welche sie so sehr bewunderte in dieser Weise über sich selbst sprechen zu hören. Ohne darüber nachzudenken was sie tat, legte sie einen Finger an Justines Kinn, drehte deren Gesicht zu sich herum und blickte ihr fest in die Augen:

„Ich sehe dich!“ sagte sie bestimmt und küsste Justine sanft: „Du bist wunderschön!“
 

Justine sah erschrocken aus und einen Moment lang dachte Kathryn, die andere Frau würde sie ohrfeigen oder aufgebracht das Zimmer verlassen, doch stattdessen griff diese in Kathryns offenes Haar, zog sie leidenschaftlich an sich und küsste sie ihrerseits. Aber als habe sie plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen, unterbrach Justine den Kuss sofort wieder und blickte Kathryn unsicher an:

„Ich weiß gar nicht, was wir hier gerade tun.“ erklärte sie leise.
 

„Dafür weiß ich es aber sehr genau!“ entgegnete Kathryn selbstsicher und schenkte ihr einen herausfordernden Blick. Nun begann sie, Justines strenge Hochsteckfrisur zu lösen. Behutsam und mit viel Zeit entfernte sie Spange um Spange. Als das dicke, honigblonde, von wenigen silbernen Fäden durchsetzte Haar locker um Justines Schultern fiel, kniete Kathryn sich vor ihr nieder und begann langsam, die Bänder der hohen Schnürstiefel zu öffnen und ihr diese auszuziehen. Dabei hielt sie Justines Blick weiterhin mit dem ihren fest. Kathryn schob Justines Rock hoch, löste die Strumpfbänder und rollte die Strümpfe von ihren Beinen. Einmal mehr dache sie dabei, wie furchtbar unpraktisch die Kleidung der Damen aus der Großstadt doch war.

Kathryn erhob sich, half auch Justine auf die Füße und zog ihr Bluse und Rock aus. Immer noch fürchtete sie, von Justine an irgendeinem Punkt aufgehalten zu werden, doch diese ließ das alles geschehen und erwiderte schüchtern ihren Blick. Also öffnete Kathryn Justines enges Mieder und streifte es ab, ebenso, wie den Strumpfhaltergurt, den Unterrock und den Slip. Als Justine nun vollkommen nackt vor ihr stand, schlug sie die Augen nieder und bedeckte Brüste und Scham mit ihren Händen. Vor Kathryn stand in diesem Moment nicht die brillante Frau und ausgezeichnete Rednerin, sondern ein schamhaftes Mädchen.

Kathryn lächelte, suchte Justines Blick, nahm deren Arme herunter und sagte sanft:

„Nicht! Ich möchte dich sehen können!“ dann fügte sie hinzu: „Und ich möchte auch, dass DU MICH siehst.“

Sie zog sich ihr dünnes Baumwollkleid über den Kopf und legte ihre Unterwäsche ab. Lächelnd blickte sie an Justines üppigem, nacktem Körper herab und sagte noch einmal:

„Du bist wirklich wunderschön!“
 

Justines Augen füllten sich mit Tränen, doch Kathryn schüttelte leise lachend den Kopf, nahm ihr Gesicht in ihre Hände und küsste sie erneut. Dann hob sie die großen, schönen, weichen Brüste an und nippte zärtlich an den Spitzen. Ein Schauer durchfuhr Justines Körper. Sie umarmte Kathryn leidenschaftlich, vergrub ihr Gesicht an deren Hals, strich mit den Händen über Kathryns Rücken, ihr Hinterteil und ließ sie schließlich nach vorn zwischen ihre Beine wandern. An dieser Stelle hielt Kathryn ihre Hände fest und erklärte:

„Wir haben Zeit, Liebste!“ Und bestimmt fügte sie hinzu: „Außerdem bist erst einmal bist DU an der Reihe.“
 

Kathryn führte Justine zum Bett, ließ sie in der weichen Matratze zum Liegen kommen, legte sich auf sie und küsste und berührte sie überall. Justine blickte unsicher zu ihr auf. Sich hinzugeben fiel ihr nicht leicht, doch Kathryn war unerbittlich. Wann immer Justine versuchte, die Oberhand zu gewinnen, nahm diese ihre Hände und hielt sie sanft, aber bestimmt oberhalb ihres Kopfes fest. Schließlich sagte Kathryn lächelnd:

„Wenn du so weitermachst, zwingst du mich dazu, dir die Hände zu binden!“
 

Justine wusste nicht, ob Kathryn einen Scherz machte. Wenn sie ganz ehrlich war, spielte ein kleiner Teil von ihr mit dem Gedanken was wäre, wenn sie es ernst meinte. Der größere Teil wollte es aber lieber nicht darauf ankommen lassen und gehorchte.
 

Kathryn bedeute Justine, sich auf den Bauch zu drehen und begann dann, ihren Rücken entlang der Wirbelsäule bis hinab zum Gesäß zu küssen, zu berühren und zu lecken. Justine spürte, wie Wärme und Erregung sich in ihrem Bauch ausbreiteten und als Kathryn sie nun mit ihren Händen aufforderte, die Schenkel zu öffnen war sie nur allzu bereit, Folge zu leisten.
 

Kathryn stellte erfreut fest, dass die verräterischen Sturzbäche, welche sie vorfand bewiesen, dass Justine Gefallen an dem fand, was sie tat. Sie drang mit ihren Fingern rhythmisch in die feuchte Hitze in deren Mitte und je näher Justine dem Höhepunkt kam, umso lauter wurden ihr Stöhnen und Seufzen. Als sie schließlich den Gipfel erreichte, hatte Kathryn keinen Zweifel daran, dass jeder Bewohner des Hauses ihr Frohlocken vernommen hatte.
 

Beim Frühstück würde es wohl interessant werden, dachte Kathryn insgeheim und schmunzelte.
 

Joe und Tiny erwachten von dem Krach aus dem gegenüberliegenden Zimmer, setzten sich auf und blickten einander ratlos an:
 

„Was ist denn da los?“ fragte Joe verschlafen. „Kommt das etwa aus Kathryns Zimmer?“
 

Tiny zuckte mit den Schultern:

„Scheint so! Es klingt so als hätte jemand Spaß. Aber das ist nicht Kathryns Stimme.“
 

Joe seufzte:

„Dann muss es Justine sein! James hatte wohl recht mit seiner Vermutung. Zwischen den beiden läuft wirklich etwas! Armer Kerl! Wenn er das mitkriegt, dreht er sicher durch!“
 

„Verständlich!“ murmelte Tiny und nach einer Weile fügte er genervt hinzu: „Gute Güte, machen Frauen immer so einen Krach dabei“
 

Joe zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Woher soll ich das wissen. Rebecca und Felicity bemühen sich jedenfalls rücksichtsvoller Weise immer, leise zu sein.“
 

„Aber du kannst sie dennoch hören?“ wollte Tiny wissen:
 

„Jedes Mal! Aber ich sage nichts und lasse sie in dem Glauben, dass ihre Bemühungen um Diskretion erfolgreich sind.“ erklärte Joe schmunzelnd und legte sich wieder hin, um weiterzuschlafen.
 

„Du bist eben ein guter Junge!“ lobte Tiny ihn scherzhaft und schmiegte sich an ihn. Dann fügte er hinzu: „Wenn wir schon mal wach sind, vielleicht sollten wir dann auch ein wenig Krach machen.“
 

Joe richtete sich im Bett wieder ein wenig auf, grinste auf seinen Freund hinab und fragte:

„Geht das denn schon wieder? Du bist doch verletzt!“
 

Statt einer Antwort erwiderte Tiny das Grinsen und zog den jungen Mann zu sich heran.
 

Sie waren noch einmal eingeschlafen und als Kathryn nun erwachte, waren Justines Augen bereits geöffnet. Das seidige Haar fiel ihr locker um die Schultern, der weiche, üppige Körper war befreit von einschnürender Kleidung und die wunderbaren großen Brüste lagen, wie sie wollten. Justine hatte einen befriedigten Gesichtsausdruck und sah aus, wie eine Göttin der Fruchtbarkeit. Kathryn war überaus zufrieden mit sich selbst.

„Guten Morgen, Schöne!“ sagte sie.
 

„Ja, es ist ein guter Morgen.“ erklärte sie mit einem gelösten Lächeln: „Was gibt es wohl zum Frühstück? Ich habe einen Bärenhunger.“
 

Kathryn kicherte.
 

Den ganzen Tag lang hatte James an Kathryn gedacht und daran wie innig sie und Justine gestern gewesen waren. Für ihn gab es keinen Zweifel, worauf das hinauslaufen würde.

Er war wütend, traurig und gekränkt. Irgendwie hatte ein Teil von ihm es bis jetzt noch nicht gänzlich wahrhaben wollen, dass Kathryn tatsächlich fort war. Er hatte immer noch die kleine Hoffnung gehabt, dass ihr klar werden würde, dass sie ihn noch immer liebte.
 

James verspannte sich und er bekam Kopfschmerzen.
 

Vor seinem Feierabend sah er noch einmal nach seinem Gefangenen. Carmichael saß munter auf seiner Pritsche und schmunzelte in sich hinein, als sähe er die Gitterstäbe gar nicht, die ihn vom Rest der Welt abschnitten.
 

Er bemerkte:

„Du siehst nicht gut aus Jimmy! Ich darf dich doch Jimmy nennen, oder? Darf ich fragen, was passiert ist?“
 

James blickte den Mann angewidert an:

„Nein Bob, du darfst nicht fragen und du darfst mich Deputy Chester nennen, wenn du mich schon unbedingt ansprechen musst!“ fuhr er ihn an.
 

Carmichael erwiderte belustigt:

„Oh je, Deputy! So finster? Nun machen sie mich aber neugierig! Was hat ihre Herzdame ihnen denn angetan. Mussten sie gestern etwa ohne ein wenig menschliche Wärme nachhause gehen?“
 

James nahm eine herumliegende Eisenstange und prügelte damit gegen die Gitterstäbe von Carmichaels Zelle:

„Und was weißt du schon von menschlicher Wärme, du Monster?“ brüllte er ihn an: „Wenn du eine Frau haben willst, zwingst du dich ihr auf und versuchst hinterher, sie umzubringen! Also halt dein Maul und sprich´ nicht über Dinge, die zu verstehen du vollkommen unfähig bist, du Monster!“
 

„Da habe ich wohl einen Nerv getroffen, was Deputy?“ fragte Carmichael schmunzelnd.
 

James zwang sich, sich umzudrehen und zu verschwinden, bevor er sich vor diesem Tier noch eine weitere Blöße gab.
 

Der Geist des Wolfes saß zu Bobs Füßen und versprach ihm mit seiner sanften, schmeichelnden Stimme, dass er nicht mehr lange hier drinnen ausharren musste.
 

Eigentlich wollte James nun direkt nachhause gehen, aber andererseits musste er einfach wissen, wie es mit Kathryn und Justine weitergegangen war, also lief er hinüber zum roten Haus. Schon durch das Küchenfenster konnte er die beiden Frauen sehen, wie sie eng beieinander saßen. Er starrte sie einen kurzen Moment finster an und schließlich ließ er sich, anstatt hineinzugehen auf die Bank auf der Veranda sinken.
 

Nach einer Weile kam Melody hinzu, welche zuvor in der Scheune die Tiere versorgt hatte. Sie hockte sich neben ihn und fragte:

„Du hast es also schon gehört, wie? Kathryn und diese alte Frau sind seit vergangener Nacht ein Paar, oder was auch immer!“ Sie drückte seine Hand und fügte hinzu: „Es tut mir wirklich leid für dich, mein Hübscher!“
 

James seufzte schwer. Melody winkelte die Beine an, legte ihren Kopf an seine Schulter und fragte:

„Und was willst du denn nun tun?“
 

„Was kann ich denn schon tun? Sie hat sich offenbar entschieden und zwar nicht für mich!“ gab James gequält zurück.
 

„Aber willst du nicht um sie kämpfen? Du liebst sie doch!“ fragte Melody erstaunt.
 

„Wie denn? Soll ich Madame Carpenter etwa zum Duell herausfordern? Ganz offensichtlich bin ich nicht das, was Kathryn will! Ich denke, mir bleibt nichts anderes übrig, als mich geschlagen zu geben.“ erwiderte James verdrießlich und fügte noch hinzu: „Und dann suche ich mir irgendwo ein friedliches Plätzchen zum Sterben!“
 

Melody hob den Kopf, schaute auf ihn hinab und verkündete:

„Ich weiß etwas Besseres!“ Sie sprang auf, reichte James eine Hand und zog ihn hinter sich her in die Bar im anderen Gebäude. Dort ließ sie sich mit ihm hinter dem Tresen nieder und stellte eine Flasche mit einer honigfarbenen Flüssigkeit vor sie beide hin, bei der es sich vermutlich um Whiskey handelte, doch es fehlte das Etikett:

„Trink!“ fordert Melody James auf.
 

„Was ist das?“ fragte dieser skeptisch.
 

„Es ist Medizin!“ erklärte sie grinsend: „In regelmäßigen Abständen in großen Schlucken getrunken hilft sie dabei, dass dir bald nichts mehr wehtut!“
 

James seufzte und trank, wie befohlen. Was immer es war, was sie ihm da gegeben hatte, es schmeckte scharf! Er schüttelte sich und reichte Melody die Flasche. Diese nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck und so wechselten sie sich ab, bis die Flasche leer war.
 

James war zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich angetrunken und fragte:

„Weißt du, wann Joe nachhause kommt? Ich würde gern mit ihm sprechen.“
 

„Der kommt heute nicht hierher.“ erwiderte Melody: „Er hat aber zu mir gesagt, ich soll dir ausrichten, dass du zu ihm hinübergehen sollst, wenn du ihn brauchst. Er dachte wohl, es sei besser, wenn ihr Kathryn aus dem Weg gehen könnt.“
 

„Wahrscheinlich hat er recht!“ gab James zurück.
 

Bevor er sich auf den Weg hinüber zu Joe machte, drückte Melody ihm eine weitere Flasche ihrer „Medizin“ in die Hand:

„Für den Notfall!“ erklärte sie und küsste ihn auf die Wange.
 

„Danke!“ antwortete James: „Ich meine nicht für die Flasche, sondern deine Freundschaft. Du bist wirklich eine großartige Frau!“
 

Melody lachte und gab schmunzelnd zurück:

„Du bist lieb, wenn du betrunken bist!“
 

James verließ die Bar und trat in die Kühle der Nacht hinaus. Gerade als er sich auf den Weg zum Haus von Rebecca und Felicity machen wollte, traf er natürlich ausgerechnet auf Kathryn. Angetrunken wie er war trat er auf sie zu und fragte sie ganz direkt:

„Ist es wahr, dass du mit dieser Justine Carpenter schläfst?“
 

Kathryn funkelte ihn zornig an:

„Wie kommst du darauf, dass es in Ordnung wäre, mir eine solche Frage zu stellen?“ fuhr sie ihn an.
 

Verärgert und ungewohnt bissig erwiderte er:

„Wieso Kathryn? Bist du denn plötzlich schamhaft geworden?“
 

Kathryn roch den Alkohol in seinem Atem und erblickte die Flasche in seiner Hand:

„Und was ist mit dir James? Trittst du jetzt in die Fußstapfen deines Vaters. Willst du auch als alter Säufer eines Tages jämmerlich zugrunde gehen?“ schnappte sie.
 

Eine Weile blieben die beiden ehemaligen Geliebten wortlos voreinander stehen.

Jeder hatte versucht, den anderen mit Worten zu verletzen.

Kathryn hatte gewonnen!
 

James drehte sich wortlos um und verschwand.
 

Kathryn fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie den Vater von James ins Spiel gebracht hatte, aber dann sagte sie sich, dass James schließlich angefangen hatte!

Dummerweise gab es da aber diese kleine, flüsternde, enervierende Stimme in ihrem Inneren, die sie wissen lassen wollte, dass sie sich ihm gegenüber übel verhalten hatte und das nicht zum ersten Mal!

Vielleicht war es ja gar keine schlechte Idee, sich zu betrinken, um dieses kleine Plappermaul zum Schweigen zu bringen, dachte Kathryn grimmig.
 

Im Haus der Lehrerinnen angekommen stieg James die Leiter hinauf zu Joes Zimmer, welcher gerade lesend auf seinem Bett hockte. James hielt die mitgebrachte Flasche hoch und verkündete bereits leicht lallend:

„Ich weiß, eigentlich sollte ich dir nichts anbieten, weil du zu jung bist und ich ein Hüter des Gesetzes bin und so weiter, aber scheiß´ drauf!“
 

Joe blickte ihn groß an:

„Wie hast du die Flasche an Rebecca und Felicity vorbeigeschmuggelt?“ fragte er.

James hockte sich neben ihn:
 

„Ich denke, sie haben sie gesehen, als sie mich einließen und aufgrund meines desolaten Zustands ein Auge zugedrückt.“ spekulierte James schulterzuckend.

Er nahm einen großen Schluck und reichte Joe die Flasche, doch dieser schüttelte den Kopf. Er dachte sich, dass es besser sei, wenn wenigstens einer von ihnen nüchtern blieb.
 

„Melody glaubt, dass Kathryn mit dieser Justine Carpenter schläft. Denkst du das auch?“ fragte James ohne große Vorrede.
 

„Ich fürchte, dass ist ziemlich sicher, denn es war leider nicht zu überhören.“ erwiderte Joe bedauernd.
 

James stöhnte:

„Bitte erzähl` mir keine Details. Ich werde ohnehin schon verrückt!“ Er nahm seinen nächsten Zug aus der Flasche. „Ich begreife einfach nicht, was passiert ist! Ich dachte, sie hätte mich gern?“
 

„Sie HAT dich gern!“ erwiderte Joe: „Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist. Nicht einmal Thomas versteht das.“ Er deutete auf den Alkohol und fragte: „Willst du nicht mal ein bisschen langsamer machen?“
 

James schüttelte unmissverständlich den Kopf und wie ein trotziges Kind, trank er nun erst recht weiter:

„Kathryn hat mich gefragt, ob ich mich zu Tode saufen will, wie mein Vater. Vielleicht sollte ich ja genau das tun? Was meinst du! Wie viel von dem widerlichen Zeug brauche ich, bis ich tot umfalle?“

James fing an unruhig und bereits deutlich schwankend im Raum auf und ab zu gehen.
 

Joe lehnte an einer Kommode und schaute dem Freund dabei eine Weile hilflos zu.

„Was soll ich nur tun, verdammt? Kannst du mir das sagen?“ jammerte James plötzlich.
 

„Ich glaube nicht, dass dich betrinken und dir selbst leidtun dir irgendwie weiterhilft.“ entgegnete Joe inzwischen ein wenig genervt: „Und nun gib mir die verdammte Flasche her. Jetzt ist Schluss damit, hörst du?“
 

James schüttelte den Kopf und umklammerte mit verbissenem Gesichtsausdruck den Flaschenhals:

„Ich denke ja gar nicht daran!“
 

„Dann hole ich sie mir eben!“ erklärte Joe schnaubend und griff danach.

James ließ nicht los und so zogen sie nun beide an der Flasche, bis die zwei schließlich am Boden lagen und miteinander darum rangen. Joe und James waren in etwa gleich stark, doch Joe war im Vorteil, weil er nüchtern war und so lag James schließlich auf dem Rücken und Joe hockte auf ihm. James hielt die Flasche weiterhin fest umklammert. Plötzlich jedoch hielt er im Kampf inne, blickte Joe merkwürdig an und meinte:

„Warum mache ich es eigentlich nicht einfach so wie Kathryn und suche mir jemand anderen. Vielleicht diesmal einen Mann! Ich wette, ihr würde das gefallen.“

Mit diesen Worten griff James nach Joes Kopf und versuchte, diesen zu sich heranzuziehen.
 

Joe wehrte sich mit beiden Händen, rollte sich von James herunter und rief ärgerlich:

„Sag mal spinnst Du? Du bist vielleicht ein Arsch, wenn du getrunken hast!“
 

Er kroch in eine Ecke des Raumes und starrte James von dort aus finster an. Dieser kam offenbar erst in diesem Moment endlich wieder ganz zu sich. Erschrocken erwiderte er den Blick des Freundes. Er suchte sich einen Platz in größtmöglicher Entfernung zu ihm und erklärte zerknirscht:

„Es tut mir leid! Ich drehe scheinbar langsam durch.“
 

„Das sollte dir auch leidtun!“ antwortete Joe ärgerlich:
 

„Ich werde jetzt einfach nachhause gehen.“ erklärte James schnell und bemühte sich darum, sich zu erheben, allerdings war er mittlerweile so betrunken, dass ihm das nicht mehr so recht gelingen wollte. Er rollte sich auf dem Boden zusammen und begann zu weinen. Zwischen den Schluchzern sagte er:

„Was hat sie bloß aus mir gemacht? Ich erkenne mich selbst nicht wieder! Ich wünschte, ich wäre tot!“
 

Joes Ärger legte sich ein wenig. Er kroch zu James hinüber, strich ihm sacht über den Rücken:

„Komm` schon James. Es ist alles nicht so schlimm, wie du jetzt denkst. Wir gehen nun einfach ins Bett, und morgen früh, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast, sieht alles schon viel besser aus.“
 

James hob den Kopf und starrte ihn erschrocken an:

„Geht nicht!“ stammelte er: „Ich kann doch jetzt nicht mit dir zusammen schlafen, nach dem, was ich versucht habe. Ich gehe ganz einfach nachhause.“
 

„Blödsinn!“ antwortete Joe fest: „In deinem Zustand kommst du ja nicht einmal auf die Füße, geschweige denn die Leiter hinunter, ohne dir den Hals zu brechen. Hier steht ein Bett und da hinein werden wir uns jetzt legen, verstanden?“
 

James blickte ihn elend an.
 

„Es ist alles O.K zwischen uns! Ich verzeihe dir, hörst du?“ versicherte Joe: „Und jetzt komm schon! Dir beim Jammern zuzuhören hat mich müde gemacht.“

Joe half dem Freund auf die Füße und reichte ihm einen seiner Pyjamas.
 

Sie zogen sich um, legten sich in das enge Bett und Joe blies die Kerze aus.
 

James fragte kläglich in die Dunkelheit hinein:

„Sind wir noch Freunde?“
 

Joe seufzte und antwortete gutmütig:

„Ja, natürlich sind wir noch Freunde. Halt´ die Klappe und schlaf´ jetzt, in Ordnung?“ Zur Bekräftigung seiner Worte legte er einen Arm um James und tatsächlich war dieser binnen Minuten eingeschlafen.
 

James erwachte am darauffolgenden Morgen mit einem, wie wahnsinnig pochenden Schädel und beträchtlicher Übelkeit. Er setzte sich vorsichtig auf und stöhnte, wodurch Joe nun ebenfalls wach wurde:

„Alles in Ordnung bei Dir?“ wollte er wissen.
 

James schüttelte den Kopf und bereute es sogleich, denn zu dem Kopfschmerz gesellten sich dadurch nun auch noch grelle Blitze vor seinen Augen. Dann fiel ihm der vergangene Abend wieder ein und zu seiner körperlichen Pein kam eine grässliche Scham.

Er wiederholte noch einmal:

„Es tut mir so leid, was ich gestern getan habe!“
 

Joe blickte ihn stirnrunzelnd an:

„Ich wundere mich, dass du dich überhaupt daran erinnern kannst, so betrunken, wie du warst.“ Dann fügte er hinzu: „Was sollte das überhaupt? Wolltest du mich küssen, oder was?“
 

James zuckte mit den Schultern:

„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht?“
 

Joe blickte ihn forschend an:

„Hast du etwa Gefühle für mich, James?“
 

„Können wir darüber bitte ein anderes Mal sprechen?“ fragte der Andere elend.
 

Joe zuckte mit den Achseln und erwiderte:

„Wie du meinst!“ Er stand entschlossen: „Lass` uns nachsehen, ob die Frauen einen Kaffee für dich haben. Der wird dir gut tun!“
 

Später bei der Verabschiedung wollte Joe James umarmen, doch dieser schreckte vor ihm zurück.
 

„Was soll das denn jetzt?“ fragte Joe ärgerlich: „Sei gefälligst nicht albern! Wir sind doch Freunde! Komm` schon her!“ und mit einem Grinsen fügte er hinzu: „Du solltest nur nicht wieder versuchen, mich zu küssen.“
 

Aber James war längst noch nicht über den vergangenen Abend hinweg und zum Scherzen aufgelegt:

„Tut mir leid, aber ich kann das gerade nicht! Es liegt nicht an dir. Ich schäme mich bloß so wahnsinnig!“
 

Joe wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er blickte seinen Freund stirnrunzelnd an.

Schließlich drehte sich James um, verschwand und ließ Joe mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengegend zurück.
 

Zwei Tage lang ließ James sich nicht mehr in Joes Nähe blicken und dieser erhielt weder eine Erklärung für das, was vorgefallen war, noch gab James ihnen beiden die Chance, einfach wortlos über die Geschehnisse hinwegzugehen, womit Joe ebenso einverstanden gewesen wäre.
 

Am dritten Tag reichte es Joe schließlich und er wartete vor dem Department darauf, das James Feierabend machte. Als der Deputy seinen Freund erblickte, wurde er bleich. Er ging auf Joe zu und erklärte:

„Es tut mir leid, aber ich bin noch nicht so weit, darüber zu reden!“
 

Joe blickte ihn finster an und erwiderte ärgerlich:

„Ist mir total egal! Vielleicht kannst du ja wenigstens zuhören, denn ich habe einiges zu sagen! Ich verstehe wirklich nicht, warum du so ein Theater machst. Ich dachte, wir wären Freunde, aber wegen so einer Lappalie ziehst du dich in dein Schneckenhaus zurück und gehst mir aus dem Weg? Ich bin echt sauer auf dich, James!“
 

Der Angesprochene zuckte schuldbewusst zusammen und erwiderte kleinlaut:

„Für dich mag es nur eine Lappalie sein, aber für mich war diese Sache sehr verwirrend. Gut, ich war betrunken und auch ein wenig außer mir, aber ich verstehe dennoch nicht, wie ich mich so habe verhalten können. Ich brauche noch ein wenig Zeit, aber ich verspreche dir, dass ich kommen werde, um dir alles zu erklären, in Ordnung?“
 

„Es wird mir ja wohl nichts anderes übrig bleiben!“ gab Joe grimmig zurück und wendete sich zum Gehen. Doch dann drehte er sich noch einmal um und sagte leise:

„Du fehlst mir, James!“
 

„Du mir auch!“ versicherte dieser.
 

Es dauerte noch ganze zwei weitere Tage, bis James sich endlich überwinden konnte, mit Joe zu sprechen. Es war Freitagabend und nach Feierabend ging er bei Rebecca und Felicity vorbei in der Hoffnung Joe dort anzutreffen. Bedauerlicherweise war dieser jedoch heute nicht zuhause, also machte sich James widerwillig auf zum roten Haus.

Zu seiner Erleichterung fand er seinen Freund gemeinsam mit Tiny auf der Veranda sitzend, so dass er nicht durchs ganze Haus gehen musste, um nach ihm zu suchen, wobei er gewiss gleich wieder Kathryn in die Arme gelaufen wäre:
 

„Da bist du ja endlich, du Idiot!“ schnappte Joe ärgerlich.
 

Tiny erhob sich, wobei er sich mühsam auf eine Krücke stützte:

„Hallo James.“ begrüßte er den Deputy: „Mir scheint, ihr habt etwas zu besprechen. Ich ziehe mich dann am besten mal zurück.“

Und damit humpelte der große Mann ins Haus und ließ die Freunde allein.
 

Als er außer Hörweite war fragte James entsetzt:

„Hast du ihm etwa erzählt, was ich zu tun versucht habe?“
 

„Was glaubst du denn? Denkst du ich will, dass mein Liebhaber meinem besten Freund den Kopf abreißt? Ich bin doch froh, dass ihr euch nun endlich miteinander vertragt! Thomas weiß lediglich, dass wir Streit hatten.“
 

James atmete erleichtert aus und fragte:

„Meinst du, wir können irgendwo ungestört reden?“
 

„Im Gemeinschaftsraum ist gerade niemand!“ erwiderte Joe und ging voran.
 

James starrte auf seine Füße und dachte angestrengt darüber nach, was er sagen konnte. Er hatte trotz der Bedenkzeit immer noch keine vernünftige Erklärung vorzubringen:

„Es tut mir wahnsinnig leid, Joe!“
 

„Das sagtest du schon und ich sagte, dass ich dir verzeihe und wir immer noch Freunde sind. Also wieso reitest du so lange auf dieser albernen Sache herum?“ schnappte Joe.
 

James blickte unglücklich auf und erwiderte:

„Ich verstehe einfach nicht, was da passiert ist: Ich habe versucht, dich zu küssen. Und ich frage mich ständig, wie es wohl weitergegangen wäre, wenn du mich nicht gestoppt hättest! Hätten wir dann vielleicht…ich meine, wäre ich dann wohl noch weiter gegangen? Das hat mich ziemlich verwirrt!“
 

Joe schaute James verblüfft an und fragte:

„Also darum geht es hier? Du fragst dich, ob du vielleicht ein ganz kleines bisschen so bist, wie ich? Wäre ob das denn wirklich so furchtbar, zum Teufel? Ich habe gedacht, du kämst mittlerweile ganz gut mit dem Thema zurecht?“

Joe wirkte verletzt.
 

James zuckte hilflos mit den Schultern:

„Das tue ich doch auch!“ erwiderte er kleinlaut: „Aber es ist irgendwie etwas anderes, mich zu fragen, ob ich auch so bin. Das würde dann ja bedeuten, ich bin nicht das, wofür ich mich immer gehalten habe, also dass ich mich selbst nicht besonders gut kenne.“

James wusste, dass seine Erklärung dürftig war, doch er hatte keine Ahnung, wie er es sonst beschreiben sollte.

Zu seiner Erleichterung schien Joe seine Worte dennoch hinzunehmen:
 

„Es ist doch ganz einfach, das herauszufinden. Frag´ dich doch einfach, was du in dem Moment gefühlt hast, als du mich küssen wolltest.“ schlug er vor.
 

James zuckte unglücklich mit den Schultern:

„Das ist ja genau das Problem. Ich weiß es nicht! Ich war so betrunken und verwirrt, dass ich keinen Schimmer habe, was ich empfunden habe!“
 

„Aha!“ machte Joe und bedachte seine Worte eine Weile. Dann erhob er sich, schloss die Tür ab, zog die Vorhänge zu und nahm wieder neben James Platz:
 

„Was hast du denn nun vor?“ fragte dieser verunsichert:
 

„Ich schenke dir Klarheit!“ erwiderte Joe.

Und dann küsste er James.
 

Und es war nicht bloß ein flüchtiges Küsschen im Vorbeigehen, sondern er tat es auf die Art, wie Liebende es tun würden.
 

James wehrte sich nicht und erwiderte den Kuss sogar, auch wenn er sich währenddessen fragte, was er da eigentlich tat.
 

Hinterher blickte Joe seinen Freund prüfend an und fragte:

„Und? Was hast du nun gefühlt?“
 

James war verlegen. Er versuchte sich wieder ein wenig zu sammeln und antwortete dann:

„Das kam überraschend!“ Er kratzte sich unsicher am Kinn und fuhr fort: „Es war nicht furchtbar!“
 

Joe kicherte.
 

„Aber es fühlte sich anders an, als wenn Kathryn mich geküsst hätte.“ stellte James fest: „Ich denke, vielleicht mag ich wohl doch eher Frauen?“ Joe sagte nichts, blickte ihn lediglich weiterhin eindringlich an, was James verunsicherte, also beteuerte er noch: „Aber du kannst wirklich gut küssen!“
 

Joe schüttelte grinsend den Kopf und erwiderte:

„Ich bin immer froh, wenn ich helfen kann, Kumpel!“
 

„Und was hast du dabei gefühlt?“ wollte James wissen.
 

Joe zuckte die Achseln:

„Es war merkwürdig, so als würde ich meinen Bruder küssen, oder so? Ich schätze, nun ist zwischen uns wieder alles klar, richtig?“
 

James nickte zur Bestätigung und Joe erhob sich, zog die Vorhänge auf und öffnete wieder die Tür:

„Bevor es noch Gerede gibt!“ kommentierte er und fügte hinzu: „Und damit das Eine klar ist. Solltest du Thomas jemals hiervon erzählen, dann bin ICH es, der dir den Kopf abreißt!“
 

„Verstehe!“ erwiderte James schmunzelnd. Dann erhob er sich, umarmte Joe und erklärte feierlich: „Ich bin wirklich so froh, dass wir Freunde sind!“
 

„Du bis so ein Spinner!“ erwiderte Joe liebevoll ehe er sich verabschiedete, um nach Tiny zu sehen.
 

Er fand ihn oben im Schlafzimmer und hockte sich neben seinen Geliebte auf das Bett:
 

„Worum ging es denn da zwischen euch?“ wollte Tiny wissen:
 

„Um nichts Wichtiges.“ erwiderte Joe harmlos: „Wir haben nur festgestellt, dass James ein ziemlicher Idiot ist.“
 

„Na, da bin ich ja erleichtert, dass ihr das klären konntet, aber das hätte ich dir auch so sagen können“

erwiderte Tiny trocken.
 

Eigentlich wollte James direkt nach dem Gespräch mit Joe wieder gehen, um nicht auf Kathryn zu treffen, doch da war es leider schon zu spät. Er hörte die Stimmen von Kathryn und Justine, die soeben hereingekommen waren und sich nun in der Küche niedergelassen hatten. Da es unmöglich war, ungesehen an ihnen vorbeizukommen, harrte er einfach dort aus, wo er sich befand.

Und auch, wenn es ihm wehtat, konnte er nicht anders, als zu lauschen, worüber die beiden Frauen sprachen und was sie taten.
 

In diesem Moment betrat Melody das Gemeinschaftszimmer. Sie trat zu James an das Sofa und wollte wissen:

„Was machst du denn hier so ganz allein?“
 

James zuckte mit den Schultern und antworte mit dem Blick in Richtung Küche:

„Mir leid tun, schätze ich!“
 

„Das geht besser mit Alkohol!“ entgegnete Melody und zauberte hinter ihrem Rücken eine Flasche Whiskey und zwei Gläser hervor. James blickte sie ein wenig unglücklich an, denn er dachte an das letzte Mal, als er ihre Medizin gekostet hatte:

„Für mich nur ein kleines Glas.“ erklärte er.
 

„Für mich nur ein kleines Glas!“ äffte Melody ihn nach, verdrehte die Augen, füllte beide Gläser bis zum Rand und reichte James eines, ehe sie sich dicht neben ihm niederließ, sich bei ihm anlehnte und verkündete:

„Ich kann diese Ziege Carpenter nicht ausstehen. Kathryn muss verrückt sein, sie dir vorzuziehen, mein Hübscher.“
 

James lächelte sie traurig an und antwortete:

„Offensichtlich hat die Dame Qualitäten, die mir fehlen.“
 

„Ja, richtig!“ erwiderte Melody: „Sie ist unhöflich, mischt sich in Sachen ein, die sie nichts angehen und beim Sex schreit sie das ganze Haus zusammen, wie eine kalbende Kuh!“
 

James zuckte bei der Vorstellung zusammen, stürzte unglücklich sein Glas in einem Zug hinunter und ließ sich nachschenken.
 

Melody fuhr fort:

„Ich kann mich nur wiederholen: Kathryn hat offensichtlich ihren Verstand verloren!“ Damit leerte auch sie ihr Glas.
 

„Wie sieht es mittlerweile eigentlich mit dir und Margarete aus? Habt ihr euch aussprechen können?“ erkundigte sich James, hauptsächlich um das Thema zu wechseln.
 

„Würde ich dann hier sitzen und mich volllaufen lassen!“ lautete ihre bittere Gegenfrage: „Ich verstehe einfach nicht, warum sie so an diesem verdammten Mädchen hängt. Unser ganzes Leben lang waren Margarete und ich unzertrennlich. Wir waren nie lange aufeinander böse. Jetzt, wo wir nicht mehr miteinander sprechen fühle ich mich, als wäre ich in zwei Hälften gerissen!“ bei diesen letzten Worten brach ihre Stimme und ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz.
 

James nahm ihre Hand in seine, streichelte sie sanft und erwiderte:

„Ich kann dir nicht mit Sicherheit sagen, was in Margarete vorgeht, aber ich denke, sie ist voller Wut auf das, was Carmichael ihr angetan hat. Vielleicht ist sie auch zornig, weil ihre Freunde und ihre Familie sie nicht davor haben bewahren können, allen voran du als der Mensch, der ihr am nächsten steht. Das ist vielleicht nicht vernünftig, aber in so einer Situation handelt man wohl auch nicht rational. Und dann ist da Alice: Sie hat sich jahrelang erfolgreich ihren Bruder vom Leib gehalten und sie war es am Ende, die Carmichael hat aufhalten können. Kein Wunder, dass Margarete sich bei ihr sicher fühlt. Und Alice ist offensichtlich in deine Schwester verliebt. Einen Mann könnte Margarete momentan sicher nicht in ihre Nähe lassen, nach dem, was sie erlebt hat. Aber ich könnte mir denken, dass sie ihren Körper, der ihr fremd geworden ist, gern wieder spüren möchte. Und ein unschuldiges junges Mädchen, das zärtlich zu ihr ist, ohne zu viel von ihr zu verlangen, macht aus ihrer Sicht vielleicht Sinn!“
 

Melody hatte James seinen Ausführung interessiert zugehört und kommentierte nun:

„Also entweder bist du ziemlich schlau, oder ich bin schon betrunken, aber was du sagst macht Sinn. Und nun komme ich komme mir wie ein Monster vor, weil ich kein Verständnis für Margarete aufbringen konnte.“ Wieder weinte Melody ein wenig und James zog ihren Kopf an seine Brust:
 

„Du bist kein Monster!“ versicherte er: „Für dich war das alles doch auch ein großer Schock. Erst hattest du Angst, deine Schwester könnte sterben und dann musstest du damit klarkommen, dass die Erlebnisse sie verändert haben und du sie nicht mehr verstehen konntest. Du hast getan, was du in dem Moment für richtig gehalten hast.“
 

Melody richtete sich auf und küsste James auf die Wange:

„Danke!“ sagte sie schlicht.
 

In diesem Moment konnten sie beide hören, dass Justine und Kathryn offenbar beschlossen hatten ins Schlafzimmer umzuziehen. Ausgelassen kichernd und sich hörbar küssend, stiegen die Frauen die Treppe hinauf.
 

Die Hände von James ballten sich zu Fäusten und als oben Kathryns Schlafzimmertür ins Schloss fiel, verkündete er mürrisch:

„Ich schätze, ich sollte jetzt wirklich gehen!“
 

Melody hielt in fest und erwiderte:

„Ich wäre froh, wenn du noch ein Weilchen bleiben würdest. Ich möchte noch nicht allein sein. Vergiss` doch einfach die beiden da oben! Ich mach` uns schnell etwas zu essen und du könntest ein Feuer anmachen?“
 

James erwog seine Alternativen: Er konnte entweder zuhause wach liegen und den Verstand verlieren bei dem Gedanken, dass Kathryn gerade mit dieser Frau schlief, oder er konnte bleiben; in Gesellschaft einer Freundin und bei einer Mahlzeit möglicherweise Ohrenzeuge des Liebesspiels von Kathryn und Justine werden, das angeblich wie eine kalbende Kuh klang. Schweren Herzens entschied er sich für Letzteres.
 

Als das Feuer brannte, kam Melody mit einem Tablett wieder, auf dem kalter Braten, Käse, Brot, Gemüse und Milch zu finden waren.

Die beiden ließen sich wieder auf dem Sofa nieder und nahmen ihr Abendessen ein. Als sie fertig waren, hatten sie keine Lust aufzuräumen, stellten das Tablett mit den Überresten einfach auf den Boden und lümmelten sich faul aneinandergeschmiegt auf das Sofa. Sie starrten ins Feuer und redeten lange über Dies und Das. Es wurde langsam still im Haus, denn alle anderen waren bereits zu Bett gegangen.
 

Mit einem Mal waren eindeutige Laute aus dem oberen Stockwerk zu vernehmen.

James schluckte und zog seine Knie ans Kinn. Melody blickte hinüber zu dem unglücklichen jungen Mann und plötzlich wurde ihr klar, was sie gern tun wollte. Sie beugte sich zu ihm hinüber und strich durch seine dunklen, langen Locken:

„Ich mag dein Haar.“ flüsterte sie und begann dann ihn zu küssen, zunächst seine Wange, dann sein Ohr, seinen Hals und seinen Nacken.
 

Er blickte sie verblüfft an und stammelte dann:

„Bist du dir sicher? Aber was ist mit Kathryn?“
 

Melody schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:

„Kathryn ist da oben in ihrem Schlafzimmer und amüsiert sich gerade großartig ohne dich. Du schuldest ihr nichts!“ Dann erklärte sie: „Und es geht nicht immer nur um Liebe, weißt Du?“

Sie fuhr damit fort, James zu küssen, während sie eine Hand unter sein Hemd schob.
 

Melodys Hände und Lippen auf ihm fühlten sich gut an. James sog ihren Duft und ihre Wärme ein, ließ sich davon treiben und seine Erregung gewann schließlich die Oberhand über seinem Anstand. Er begann zunächst noch schüchtern, Melodys Zärtlichkeiten zu erwidern. Sie zog ihn auf sich, zog ihm sein Hemd über den Kopf, öffnete seine Hose und James schob ihr Kleid hoch und zog es ihr über den Kopf.

Melody wusste genau, was sie wollte und wie sie es bekommen konnte und noch ehe James es recht begriff, liebten sie sich.
 

James verstand nun, was Melody meinte. Es ging nicht immer nur um Liebe, dennoch war es wundervoll!
 

Hinterher lagen James und Melody auf dem engen Sofa beieinander. Sie hatte ihren Kopf auf seiner Brust abgelegt und lag halb auf, halb neben ihm:
 

„Das war schön!“ sagte James ein wenig schüchtern.
 

„Ja, das war es!“ stimmte Melody zu: „Schön und dringend notwendig!“
 

James wollte etwas fragen, doch er hatte Angst. Schließlich gab er sich einen Ruck:

„Ich habe also nichts…falsch gemacht, oder so? Ich dachte, vielleicht ist das der Grund für Kathryns Entscheidung?“

James kam sich dumm vor, aber er musste es einfach wissen.
 

Melody hob den Kopf und lachte leise, ehe sie antwortete:

„Du hast rein gar nichts falsch gemacht.“ schmunzelnd fügte sie hinzu: „Verstehe mich nicht falsch: Ich könnte dir sicher noch ein oder zwei Dinge beibringen, aber es war gut!“
 

James sah aus wie ein Reh, das in den Lauf eines Gewehrs blickte, also fuhr Melody nachsichtig lächelnd fort:

„Mir gefällt, dass du dir Zeit lässt und dir nicht nur dein eigenes Vergnügen dabei wichtig ist. Das ist nicht selbstverständlich und es ist das, was Frauen sich dabei wünschen.“

Sie küsste ihn auf die Stirn und legte wieder ihren Kopf ab.
 

Schläfrig streichelte James ihr sanft über Rücken und Gesäß und obwohl er eigentlich die Absicht gehabt hatte, bald nachhause zu gehen, fiel er in einen tiefen Schlaf.

Neue Spieler

Als James erwachte, lag Melody immer noch unverändert bei ihm. Er bewunderte ihren Körper im hellen Morgenlicht, die langen schlanken Extremitäten, die weich geschwungenen Hüften, die ebenmäßige dunkelbraune, seidige Haut im Kontrast zu seiner eigenen. Er war immer noch froh über das, was letzte Nacht geschehen war und fühlte sich endlich wieder wohl in seiner Haut, aber plötzlich überkam ihn auch eine kleine Angst davor, wie Melody die Sache am Morgen danach wohl sehen würde.

Immerhin waren sie beide angetrunken gewesen.

Hatte er vielleicht die Situation ausgenutzt?

Würde sie ärgerlich sein?
 

Endlich öffnete Melody die Augen, hob den Kopf und lächelte ihn an:

„Guten Morgen, Süßer!“ sagte sie und küsste ihn.
 

„Guten Morgen!“ erwiderte er und musterte sie prüfend:
 

„Was?“ fragte Melody mit gerunzelter Stirn: „Tut dir die vergangene Nacht etwa leid?“
 

James schüttelte entschieden den Kopf und beeilte sich zu sagen:

„Nein, überhaupt nicht! Aber was ist mit dir?“
 

Anstelle einer Antwort grinste Melody, küsste James erneut und er beruhigte sich wieder:

„Ich bin bloß ein kleines bisschen verwirrt.“ erklärte er: „Wie ist das hier bloß passiert. Wie kommt es, dass du das hier wolltest?“
 

Melody dachte kurz über ihre Antwort nach:

„Aus verschiedenen Gründen, denke ich. Der wichtigste ist, dass ich es wollte. Außerdem hatte ich das Gefühl, wir beide könnten etwas Trost gebrauchen.“

In diesem Moment waren von oben zwei Frauenstimmen zu hören und Melody ergänzte:

„Und ein weiterer Grund kommt gerade die Treppe herunter.“
 

Als James Kathryn und Justine hörte, wollte er aufspringen, die Tür des Gemeinschaftsraumes schließen und sich verstecken, doch Melody hielt James mit ihrem Körper fest, grinste listig und flüsterte:

„Lass sie es ruhig sehen. Du wirst sehen, es kann dir nur helfen!“

In James lag Panik, doch Melody fuhr leise fort:

„Vertrau` mir! Ich weiß, was ich tue.“

Sie brachte sich mit ihrem gesamten Körper über ihn und küsste ihn innig.
 

Tatsächlich warfen Justine und Kathryn einen Blick in den Gemeinschaftsraum, als sie im Erdgeschoss ankamen und entdeckten das nackte Paar und das Chaos aus herumliegenden Kleidungsstücken, Essensresten und der geleerten Flasche um sie herum.
 

James konnte einen kurzen Blick auf Kathryn erhaschen und sah, wie sie ärgerlich den Kopf schüttelte. Dann verschwanden die beiden Frauen in der Küche.

„Warum hast du das getan?“ fragte James unglücklich: „Das wird Kathryn mir nie verzeihen!“
 

Melody blickte ein wenig belustigt auf ihn hinab und antwortete:

„Was denn verzeihen? Du hast doch nichts Unrechtes getan! Sie hat dich fallen lassen und sich etwas anderes gesucht und du hast doch das gleiche Recht. Warum solltest du sie nicht sehen lassen, was ihr nun entgeht?“
 

James blickte verwirrt drein und Melody schüttelte den Kopf, blickte zärtlich auf ihn hinab und erklärte:

„Du bist wirklich ein lieber und anständiger Kerl, aber du bist auch ein Schaf!“ Dann küsste sie ihn ein weiteres Mal, ehe sie aufstand und begann, sich anzuziehen.
 

James griff ebenfalls nach seiner Hose und erkundigte sich unsicher:

„Was ist das mit dir und mir denn nun?“
 

Melody zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Ich hätte wirklich nichts dagegen, dass hier zu wiederholen, denn es war nett, aber du und ich sind immer noch genau das, was wir auch vorher schon waren, nämlich Freunde! Du liebst Kathryn und das wird wohl auch so bleiben. Ich schätze, sie liebt dich auch irgendwie, dass muss sie nur erst noch herausbekommen. Ich denke, wir helfen ihr ein wenig auf die Sprünge!“
 

James war mittlerweile vollständig angezogen:

„Es ist wohl besser, wenn ich jetzt verschwinde, denkst du nicht?“
 

Melody schüttelte den Kopf und grinste böse:

„Wie? Willst du dir denn den ganzen Spaß entgehen lassen? Nein! Bleib noch zum Frühstück!“
 

James grinste schüchtern und stellte fest:

„Also du bist auf jeden Fall KEIN Schaf!“

Doch er blieb.
 

Als Melody und James Hand in Hand die Küche betraten, waren auch alle anderen bereits am Tisch versammelt. Niemandem entging diese unerwartete neue Verbindung und das war genau das, was Melody beabsichtigt hatte. Sie fand, es reiche nicht, dass Kathryn nun wusste, dass James ein Stück weiter gekommen war, sondern auch alle anderen sollten es sehen.
 

Melody wusste, dass dies am Ego der schönen Kathryn Levroux kratzen würde und sie amüsierte sich königlich, als Sie hörte, wie Kathryn James über den Tisch hinweg entgegen zischte:

„Es hat ja nicht lange gedauert, dich zu trösten!“
 

James deutete mit dem Kinn auf Justine und erwiderte scharf:

„Jedenfalls länger als bei dir, Liebste!“

Und damit herrschte erst mal Stille.
 

Keine schlechte Antwort, dachte Melody und beglückwünschte ihn im Stillen. Vielleicht gab es für den Kleinen ja doch noch Hoffnung?
 

Die Aufmerksamkeit aller am Tisch war nun auf die gegnerischen Parteien gerichtet und jeder dachte sich seinen Teil.
 

Joe legte den Kopf schief und blickte James fragend an.
 

Margarete, obwohl noch immer böse auf Melody erkannte, was ihre Zwillingsschwester da trieb und amüsierte sich innerlich darüber.
 

Nach dem Frühstück fragte Joe James, als sie beide für einen Moment allein waren:

„Und? Ich schätze, nun ist wieder alles klar, oder?“
 

James grinste schüchtern und kratzte sich am Hinterkopf.
 

Joe schmunzelte zurück und zerzauste im freundschaftlich das Haar.
 

Den ganzen Tag lang hatte Kathryn auf eine Chance gewartet, mit Melody allein zu sprechen. Als es endlich so weit war, baute sie sich, mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihr auf und erkundigte sich ärgerlich:

„Kannst du mir mal verraten, was hier vor sich geht und was du für ein Spiel spielst?“
 

Melody schüttelte den Kopf und fragte ungerührt zurück:

„Darf ich fragen, wovon du überhaupt sprichst?

„Jetzt stell` dich nicht dumm, Melody!“ fuhr Kathryn die Freundin an: „Du schläfst mit James? Willst du mich ärgern? Du könntest dir doch jeden beliebigen Kerl nehmen. Warum musste ausgerechnet er es sein?“
 

„Ich schlage vor, du beruhigst dich wieder!“ gab Melody gelassen zurück: „Es dreht sich doch nicht immer alles nur um dich! James gefällt mir und du hast ihn so eilig weggeworfen, dass ich nicht den Eindruck hatte, dass du noch Verwendung für ihn hättest. Na ja, und er hat ein wenig Trost gebraucht.“
 

„Ach darum geht es hier? Du kehrst bloß deine fürsorgliche und mütterliche Seite heraus? Spiel` keine Spielchen mit ihm, denn er ist sehr empfindsam, kapiert“ bellte Kathryn.
 

Melody gab ein kurzes, hartes Lachen von sich, ehe sie antwortete:

„Soll das ein Scherz sein? Und so etwas kommt von dir? Du hast ihn monatelang hingehalten, dich dann für ein paar Augenblicke mit ihm amüsiert und ihn dann weggejagt wie einen Hund, als er dir zu langweilig wurde. Bei mir weiß er wenigstens, woran er ist. Ich mache keine Versprechen, die ich nicht halten kann. Hör auf dich da einzumischen Kathryn, denn was wir tun geht dich einen Dreck an, verstehst du? Und übrigens: James ist sicher kein armes, kleines Häschen, das vor mir beschützt werden muss. Er ist erwachsen weißt du!“

Mit diesen Worten wandte sich Melody energisch um und schritt würdevoll davon.
 

Kathryn sah ihr nach und kochte innerlich vor Wut. Kurz dachte sie ernsthaft darüber nach, ihr etwas an den Hinterkopf zu werfen.

Sie suchte stattdessen nach Justine und nahm diese für ein kurzes, leidenschaftliches Stelldichein mit hinüber in deren Schlafzimmer.
 

Vor dem Wochenende hatte es Noah gegraust. Wochentags konnte er Joe bei der Arbeit sehen und hatte dadurch jemanden zum Reden, doch nun blickte er der Aussicht entgegen, zwei volle Tage ohne ein freundliches Gesicht, aber dafür mit seinen lieblosen Eltern verbringen zu müssen. In den letzten Tagen war er nach Feierabend meist noch heimlich mit Joe hinüber ins rote Haus gegangen. Wenn Alice und Joe dann einmal keine Zeit für ihn hatten, hatte er für einige Augenblicke mit Sam zusammen gesessen, doch richtig ins Gespräch gekommen waren sie nicht. Dieser Junge wollte immer bloß Karten spielen? Und nun hatte ausgerechnet Sam ihn unverbindlich gefragt, ob er nicht am Samstag vorbeikommen wolle.
 

Alice würde nicht da sein, denn sie war mit Helena in Taylorsville verabredet und Joe hatte angekündigt, dass er mal wieder ein wenig Zeit mit Tiny allein bräuchte, welche sie die in den letzten Wochen nicht gehabt hätten.
 

Noch rang Noah mit sich, ob er der Einladung nachkommen sollte, weil er sich nicht sicher war, was dahinter steckte und was ihn erwartete. War das Angebot vorbeizukommen reine Freundlichkeit gewesen? Und würden Sam und er wohl Gesprächsthemen finden?
 

Plötzlich kam Noah ein Gedanke, der ihn ein wenig erschreckte: Was, wenn Sam mehr als nur einen Spielkameraden suchte? Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Sam erschien ihm noch viel zu kindlich, um an dem Thema überhaupt schon irgendein Interesse zu haben. Und außerdem wusste er doch auch gar nichts von Noahs Veranlagung.

Darum ging es also nicht!
 

Und das löste in Noah gleich die nächste bange Frage aus. Was, wenn Sam herausfand wie er war und er nicht damit umgehen konnte? Aber andererseits hatte er doch auch immer Joe und Tiny vor Augen und hatte damit scheinbar damit auch kein Problem?
 

Noah entspannte sich wieder ein wenig.

Er kam sich töricht vor, weil eine simple Einladung ihn derart nervös machte. Dann traf er eine Entscheidung: Selbst eine öde Verabredung wäre noch besser, als allein und traurig zu sein! Er würde heute Nachmittag also zum roten Haus hinübergehen und vielleicht würde es ja sogar ganz schön werden.

Wer konnte das schon wissen?
 

Sam war wahnsinnig aufgeregt. Würde Noah wirklich kommen? Er hatte so zurückhaltend auf seine Einladung reagiert. Und wenn er kam, was würden sie dann wohl zusammen unternehmen? Er konnte nicht schon wieder ein Kartenspiel vorschlagen. Er hatte zuvor nicht den Eindruck gehabt, dass Noah daran allzu großes Interesse hatte. Aber was machten Freunde denn miteinander, wenn sie sich verabredeten?
 

Sam hatte keine Ahnung, denn er hatte ja keine!
 

Er durfte das hier auf keinen Fall vermasseln, denn er hatte es satt, allein zu sein! Sicher, da waren die Kleinen, seine Schwestern und die beiden Jungen von Molly. Außerdem gab es viele Erwachsene um ihn herum. Aber Sam wünschte sich etwas anderes, jemanden, der ungefähr in seinem Alter war und mit dem er über bestimmte Dinge sprechen konnte, Dinge, die die Kleinen noch nicht und die Großen nicht mehr verstanden. Vielleicht konnte Noah ja so jemand sein. Dafür, dass er der Sohn des Predigers war, schien er ihm jedenfalls ganz in Ordnung zu sein. Scheinbar war er nicht so, wie seine Eltern und viele andere Leute in der Stadt, die auf die Menschen hier im roten Haus herabsahen.

Das hoffte Sam zumindest!
 

Alice stand mit nacktem Oberkörper in ihrem Zimmer vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Ihre Verabredung für heute Abend machte sie nervös. Sie war froh, dass Helena gesagt hatte, sie solle Hosen tragen, denn sie hatte überhaupt keine Lust, die hässliche Freundin des schönsten Mädchens im Raum zu sein.
 

Aber auch, wenn die anderen Anwesenden sie für Helenas männliche Begleitung halten sollten, wollte sie dabei so gut wie möglich aussehen. Sie wollte Getuschel in der Art vermeiden wie: „Wie kommt der grässliche Kerl an ein Mädchen wie sie?“ Und sie wollte überzeugend wirken! Man sollte ihr den Jungen wirklich abnehmen.

Sie hatte nämlich große Angst davor entlarvt, als Missgeburt beschimpft und körperlich angegriffen zu werden.
 

Missmutig betrachtete sie ihre Brüste. Sie waren nicht groß, aber ein wenig zeichneten sie sich unter ihrem Hemd dennoch ab. Sie hatte sich deshalb lange Stoffstreifen besorgt. Diese wickelte sie sich nun um den Oberkörper, bis alles schön flach war. Sie zog sich das Hemd darüber und betrachtete zufrieden das Ergebnis.
 

Dann griff sie schließlich noch nach einen kleinen Stoffrest, aus welchem sie ein längliches Objekt wickelte. Sie betrachtete es nachdenklich und platzierte es dann Versuchsweise vorne in ihrer Hose. Der Anblick löste widerstreitende Gefühle in ihr aus: Einerseits empfand sie Widerwillen, aber andererseits spürte sie auch eine gewisse Erregung dabei. Für einen kleinen Moment stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn sie tatsächlich ein Junge wäre?

Dann würde sie endlich dazugehören, anstatt von allen mit Misstrauen und Abscheu betrachtet zu werden. So etwas, wie das mit ihrem Bruder Nikolas wäre ihr auch nie passiert. Sie könnte mit einem Mädchen zusammen sein und es wäre ganz normal. Vielleicht hätte Margarete sie dann auch nicht zurückgewiesen?
 

Sie starrte auf die kleine Wölbung in ihrer Hose, doch plötzlich schämte sie sich furchtbar. Die Menschen, denen vor ihr graute hatten wahrscheinlich recht? Sie war eine Missgeburt, erbärmlich, ein Fehler der Natur! Sie griff in ihre Hose, zog das Stoffstück wieder heraus und warf es zornig und angewidert in eine Ecke.

Alice holte tief Luft und setzte sich eine Weile auf ihr Bett, um wieder ruhig zu werden. Dann fuhr sie mit ihren Vorbereitungen fort. Mit den Fingerspitzen tauchte sie in einen kleinen Topf mit Gänsefett. Dieses verteilte sie in ihren Haaren und kämmte sie zurück. Sie drehte sich kritisch vor dem Spiegel, formte und knetete, bis sie irgendwann befand, dass es nun ganz ordentlich aussah. Sie zog sich eine Weste und ein Jackett über, welche James ihr freundlicherweise für den heutigen Abend geliehen hatte und schließlich nickte sie, einigermaßen zufrieden ihrem Spiegelbild zu und verließ das Zimmer.
 

Als Helena die Zimmertür öffnete, sah sie atemberaubend aus. Das ansonsten hochgesteckte schwarze, lange Haar trug sie heute offen und sie hatte ihre strenge Städterinnenkluft gegen ein Kleid getauscht, dass sie sich offenbar von einer der anderen Frauen geliehen hatte. Es bestand aus einem leichten Baumwollstoff, war relativ tief ausgeschnitten und brachte ihre wohlgeformten, weichen Brüste zur Geltung. Das hellblau des Stoffes unterstrich die Farbe von Helenas Augen, welche sie dezent mit einem Kohlestift betont hatte. „Na großartig!“ dachte Alice grimmig „Sie würde von Verehrern geradezu umzingelt werden!“

Sie versuchte ihre Bedenken freundlich zu formulieren, indem sie sagte:

„Oha! Die Männer werden sich um dich reißen! Vielleicht nehme ich lieber einen Revolver mit, falls einer frech wird.“
 

Helena grinste:

„Keine Sorge! Ich weiß, wie man unliebsame Verehrer auf Abstand hält.“ Sie deutete sie mit dem Kinn auf Alice und erklärte anerkennend: „Du siehst wirklich verdammt gut aus, meine Liebe!“
 

„Mach` dich nicht lustig über mich!“ forderte Alice gequält.
 

„Wie bitte?“ fragte Helena verblüfft: „Das tue ich doch gar nicht. Ich meine es ganz ehrlich! Am Ende werde ich diejenige sein, die allein herumsitzt, während du mit sämtlichen Mädchen von Taylorsville tanzt!“
 

Alice schenkte ihr einen misstrauischen Blick, doch Helena lachte bloß ihr typisches, warmherziges kleines Lachen und hakte sie unter. Sie stiegen zusammen die Treppe hinab und begaben sich nach drüben ins Wohnhaus, um sich zu verabschieden.
 

In der Küche saßen einige der Frauen beim Kaffee beieinander. Als Alice und Helena eintraten, ertönten Pfiffe und Lachen und Justine erklärte:

„Ihr zwei seht einfach hinreißend aus.“
 

Kathryn nickte grinsend und bekräftigte:

„Also ich würde jedenfalls mit beiden tanzen!“
 

Die Mädchen lächelten verlegen.

Margarete hatte still in einer Ecke gesessen und die beiden Ausflüglerinnen stirnrunzelnd gemustert. Nun erhob sie sich, schritt zu Alice hinüber und erklärte:

„Du siehst wirklich toll aus, mein Liebling! Amüsier` dich gut, hörst du?“

Sie küsste das Mädchen sanft auf die Stirn.
 

Alice nickte.

Ihr war nicht der merkwürdige Unterton in Margaretes Stimme entgangen.
 

Noah klopfte zaghaft an die Tür des roten Hauses. Sam war umgehend zur Stelle, um ihn herein zu lassen, denn er hatte schon ungeduldig seiner geharrt. Er hieß ihn im Gemeinschaftsraum Platz zu nehmen und lief dann aufgeregt in die Küche. Was servierte ein Junge einem Freund, wenn dieser zu Besuch kam? Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht und kam sich plötzlich wahnsinnig dumm vor!

Sollte er Tee machen? Nein, das war wohl doch eher etwas für alte Leute, oder wenn man krank war, richtig? Er wusste es einfach nicht, also fragte er verzweifelt seine Mutter. Die schlug Milch und Kekse vor und versprach, sie ihnen gleich zu bringen. Ein wenig beruhigt kehrte Sam in den Gemeinschaftsraum zu seinem Gast zurück.
 

Traurig blickte Regine ihrem Sohn hinterher. Sie wusste genau, was hier vor sich ging. Sam wünschte sich verzweifelt einen Spielkameraden! Ihr war deutlich bewusst, dass sie und ihr Lebenswandel daran schuld waren, dass ihre Kinder kein normales Leben mit Freunden und allem was dazugehörte in der städtischen Gemeinschaft führen konnten, wie es doch eigentlich jedem Kind zustand.

Mit einem Mal fühlte sie sich sehr, sehr schuldig.
 

Ein wenig ratlos saßen Sam und Noah einander gegenüber, knabberten an ihren Keksen, nippten an ihren Gläsern und wussten abgesehen davon zunächst nicht recht, was sie miteinander anfangen oder worüber sie sprechen sollten. Sie blickten einander eine Weile verstohlen an, bis Noah schließlich fragte:

„Warum gehst du eigentlich nicht in die Schule?“
 

„Aber ich gehe doch in die Schule, nur zu einer anderen Zeit, als die anderen Kinder von Millers Landing!“ erklärte Sam eifrig: „Die Leute hier wollen nicht, dass ihre Kinder verdorben werden, denn unsere Mütter sind…“ Er stockte ein wenig und fuhr dann fort“… also ich meine, wegen dem, was unsere Mütter tun!“

Sam erklärte das mit solch einer Selbstverständlichkeit, als sei an der Verbohrtheit der Menschen nun einmal gar nicht zu rütteln und als müsse man sich eben damit abfinden.
 

Noah hingegen war entsetzt:

„Das habe ich nicht gewusst!“ erklärte er: „Das ist total ungerecht! Es tut mir sehr leid!“
 

Er blickte Sam mitfühlend an und plötzlich begann es in dessen Gesicht zu arbeiten. Man konnte ihm beinahe ansehen, was er fühlte und dachte und schließlich kullerten ein paar Tränen über Sams Wange, ohne dass dieser es verhindern konnte. Er schämte sich furchtbarund wäre am liebsten weggerannt. Diese Verabredung ging ja gleich gut los! Wahrscheinlich hielt Noah in jetzt schon für eine blöde Heulsuse:

„Tut... tut mir leid!“ stammelte er.
 

Noah berührte ihn unsicher am Arm:

„Das muss dir doch nicht leidtun! Ich weine auch andauernd. Da kannst du ruhig Joe oder Alice fragen.“
 

„Ehrlich?“ fragte Sam unsicher: „Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich plötzlich weinen musste. Ich kenne es ja gar nicht anders. Bislang hat einfach noch nie jemand zu mir gesagt, dass das ungerecht ist, wie wir behandelt werden. Ich versuche normalerweise, nicht darüber nachzudenken, damit es mich nicht traurig macht!“
 

Noah wusste nichts dazu zu sagen und nickte lediglich.
 

Sam beruhigte sich wieder, atmete tief durch und fragte:

„Warum musst DU denn eigentlich weinen! Dein Vater ist doch der Reverend. Bestimmt haben alle ganz viel Achtung vor deiner Familie, oder nicht? Ich habe gedacht, dein Leben muss großartig sein. Sicher hast du viele Freunde und so.“
 

Noah fühlte sich durch Sams Frage in die Defensive gedrängt. Konnte er vor dem anderen Jungen wirklich bekennen, wie einsam und erbärmlich sein Leben tatsächlich war? Oder sollte er ihm etwas vormachen?

Nein, entschied er! Entweder würde Sam ihn so mögen, wie er war, oder eben nicht! Doch lügen kam nicht in Frage!

„Meine einzige Freundin ist Alice! Von den anderen Kindern in der Schule bin ich oft gehänselt oder geschlagen worden, gerade WEIL ich der Sohn des Predigers bin!“ Dann blickte er Sam geradewegs in die Augen und erklärte: „Es tut mir leid, wenn du enttäuscht bist, weil ich nicht das bin, was du dir vorgestellt hast. Möchtest du nun vielleicht lieber, dass ich wieder gehe?“
 

Sam schüttelte energisch den Kopf und erwiderte:

„Nein, ich bin überhaupt nicht enttäuscht. Ich bin eigentlich sogar ganz froh. Ich hatte schon Angst, dass wir nichts gemeinsam hätten.“ Dann grinste er plötzlich überraschend und sagte: „Soll ich dir vielleicht mal meinen Lieblingsplatz zeigen?“
 

Noah nickte und folgte dem anderen Jungen in die Scheune, wo sie die Leiter hinaufstiegen. Hier oben wurden Heuballen und einiges Zeug gelagert. Sam wies mit dem Finger auf einen bestimmten Platz, der Noah zunächst nicht weiter besonders erschien und hieß ihn, sich zu setzen. Dann öffnete er jedoch eine große Luke im Dach und legte sich neben Noah auf den Boden:
 

„Hier komme ich immer her, wenn ich allein sein will!“ erklärte Sam: „Meine Schwestern trauen sich nämlich nicht, die Leiter hinaufzusteigen. Dann liege ich hier manchmal stundenlang im Heu, schaue in den Himmel und denke nach. Gefällt dir mein Versteck?“
 

Noah nickte und lächelte:

„Es ist gemütlich hier und sehr schön ruhig!“

Er streckte sich ebenfalls aus und so lagen sie eine Weile schweigend nebeneinander und blickten den flauschigen runden Wolken hinterher, welche an diesem sonnigen Nachmittag sanft über den Himmel zogen.
 

Mit einem Mal waren von unten Geräusche zu hören und eine hohe Mädchenstimme fragte:

„Sam? Bist du hier Sammy?“
 

Sam seufzte:

„Wenn wir nicht antworten, dann verschwinden sie einfach wieder!“ flüsterte er:
 

„Es ist doch nicht schlimm. Wir können doch auch ein wenig mit deinen Schwestern spielen. Zum Beispiel könnten wir zum See hinüber laufen und ein wenig mit den Füßen ins Wasser gehen. Es ist ja schon recht warm.“ erwiderte Noah.
 

Sam blickte ihn zweifelnd an, doch Noah nickte ihm aufmunternd zu, also machten sie es so.
 

Tiny und Joe lagen auf einer Decke im hohen Gras. Joe hatte die näherkommenden Stimmen etwas früher gehört und hielt Tiny, welcher soeben ansetzte etwas zu sagen, rasch den Mund zu. Dem Schrecken folgte jedoch die Erleichterung, als die Männer an den Stimmen erkannten, wer sich da in ihrer Nähe niedergelassen hatte.
 

„Und was machen wir jetzt?“ flüsterte Tiny mit Blick auf den Ast in ihrer Nähe, auf dem sie ihre Kleider aufgehängt hatten und den sie unmöglich ungesehen erreichen konnten.
 

„Wir machen gar nichts, Thomas! Wir bleiben einfach hier liegen, bis sie wieder weg sind, denn ich habe heute kinderfrei!“ erwiderte Joe entschieden.
 

Tiny hob den Kopf und grinste belustigt zu ihm hinüber und Joe fügte streng hinzu:

„Ich weiß gar nicht, worüber du lachst! Machst du dich etwa lustig über mich, weil ich selbst noch jung bin? In Wirklichkeit habe ich nämlich manchmal das Gefühl, einer der wenigen Erwachsenen weit und breit zu sein. Nicht nur, dass es hier plötzlich von Jugendlichen nur so wimmelt, nein, auch die Erwachsenen fangen auf einmal an, sich wie Kleinkinder aufzuführen! Nimm` nur Kathryn, James und Melody: Was ist denn das für ein Theater?“
 

Tiny nickte und antwortete gutmütig:

„Da hast du natürlich Recht, mein Liebster. Daneben bist du wirklich ein Ausbund an Reife! Aber vergiss` nicht, du bist nur einmal jung! Das solltest du mehr genießen!“
 

Joe grinste kopfschüttelnd und erwiderte:

„Ich dachte darum sind wir heute hergekommen. weil wir etwas Verrücktes anstellen und uns am helllichten Tag unter freien Himmel lieben wollten. Und nun schau´, was dabei herausgekommen ist!“
 

Sam und Noah hockten barfuß am Seeufer und sahen den kleinen Mädchen beim Planschen zu.

„Deine Schwestern sind wirklich süß!“ erklärte Noah lächelnd.
 

Sam verdrehte die Augen und beschwerte sich:

„Sie nerven total! Dauernd wollen sie in meiner Nähe sein und mit mir spielen!“
 

„Ist doch klar!“ erwiderte Noah grinsend: „Sie bewundern dich eben! Du bist ihr toller, großer Bruder!“
 

Sam blickte Noah zweifelnd an und dieser fuhr fort:

„Ich wünschte, ich hätte auch Geschwister. Dann wäre vielleicht alles einfacher und die Erwartungen meiner Eltern würden nicht allein auf meinen Schultern ruhen.“
 

„Was meinst du?“ fragte Sam: „Was wollen deine Eltern denn von dir?“
 

Noah seufzte:

„Ich soll in die Fußstapfen meines Vaters treten und auch ein Geistlicher werden. Und irgendwann soll ich dann heiraten, ihnen Enkelkinder schenken und all` das.“

Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu:

„Aber nichts davon wird jemals geschehen!“
 

„Warum nicht? Woher weißt du das?“ wollte Sam wissen.

Nun war die Situation da, vor der Noah Angst gehabt hatte. Er hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und sagte:

„Ich habe ein Geheimnis! Und wenn meine Eltern davon erfahren, dann ist der Teufel los!“
 

Sam blickte den anderen Jungen gespannt an und wartete darauf, dass dieser fortfuhr. Seufzend sagte Noah:

„Du weißt doch sicher, was mit Joe und Tiny los ist, oder?“
 

Sam blickte ihn verständnislos an und fragte:

„Was ist denn mit den beiden?“
 

Oh je!

Es wäre so viel einfacher gewesen, es zu erklären, wenn Sam über die Zwei Bescheid gewusst hätte, dachte Noah unglücklich. Er fuhr fort:

„Na ja, die beiden schlafen doch zum Beispiel in einem Bett und verbringen viel Zeit miteinander.“
 

Sam zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Ist doch klar! Die beiden sind doch auch verliebt!“
 

Noah blickte Sam verwundert an. Dann ging Sam plötzlich ein Licht auf:

„Ach so! Du bist auch so wie sie, richtig? Das ist dein Geheimnis?“

Sam wirkte völlig ungerührt bei dieser Feststellung.
 

Noahs Herz raste dennoch vor Angst.

„Wie denkst du darüber?“ erkundigte sich Noah ängstlich.
 

Sam zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Ist mir doch egal! Ich finde das nicht schlimm.“ Dann wollte er wissen: „Hast du denn einen Freund?“ Noah schüttelte den Kopf und Sam fragte weiter: „Hast du Angst, dass deine Eltern es nicht gut finden, wie du bist?“
 

Noah gab ein verzweifeltes kleines Lachen von sich, angesichts dieser harmlosen Formulierung und gab zurück:

„Ich denke, das werden sie ganz sicher nicht. Im besten Fall verstoßen sie mich lediglich und werfen mich aus ihrem Haus. Aber ich fürchte, dass sie sehr viel Schlimmeres mit mir anstellen würden, wenn sie wüssten, wer ich wirklich bin.“
 

Sam machte große Augen und erwiderte erschrocken:

„Das ist ja schrecklich! Ich könnte mir nichts vorstellen, was meine Mutter dazu bringen würde, mich nicht mehr lieb zu haben, oder mich fortzujagen.“
 

Noah verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen und weinte ein wenig. Sam, der nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, rückte etwas näher an ihn heran und strich ihm unbeholfen mit der Hand über den Rücken.
 

Schließlich blickte Noah auf, lächelte durch seine Tränen hindurch und sagte:

„Siehst du, Sam! Ich bin eine totale Heulsuse!“
 

Am Abend, als Noah fort war, wollte Regine von ihren Sohn wissen:

„Und? Habt ihr eine schöne Zeit gehabt, Sammy?“
 

Sam strahlte über das ganze Gesicht, nickte und erwiderte:

„Ja haben wir! Noah ist so nett!“
 

Regine zog ihren Jungen fest in ihre Arme und küsste sein Gesicht viele Male, bis dieser seine Nase krauszog und verzweifelt forderte:

„Ist schon gut Mama! Du kannst mich jetzt wieder loslassen!“
 

Regine wunderte sich einmal mehr, wie ihr Sohn bei allem, was er in seinem Leben schon erlebt hatte, so ausgeglichen und bei allem was er bisher schon hatte vermissen müssen, so zufrieden selbst mit den kleinsten Dingen sein konnte.

Noch deutlicher als sonst war ihr in diesem Moment bewusst, wie sehr sie ihn liebte.
 

Alice und Helena waren etwa zweieinhalb Stunden geritten. Sie versorgten die Pferde, banden sie fest und betraten die festlich mit Girlanden und Lampions geschmückte Scheune. Es gab eine großzügige Tanzfläche, eine Art Bühne, auf welcher eine Kapelle spielte, einen Tresen, wo Getränke ausgeschenkt wurden und Tische mit rot-weiß-karierten Tischdecken, auf denen Kerzen brannten rings um eine Tanzfläche herum. Die beiden jungen Frauen nahmen an einem freien Tisch Platz und plötzlich fiel Alice etwas ein:

„Ich habe gar nicht daran gedacht, dass wir ja Geld für Getränke brauchen würden.“
 

„Hast du denn welches?“ fragte Helena schmunzelnd.
 

Alice schüttelte traurig den Kopf:

„Natürlich nicht! Woher auch?“
 

„Mach dir darüber bitte keine Sorgen. Ich habe Geld dabei! Willst du uns etwas zu trinken besorgen?“ Helena schob ihr einen Geldschein hinüber, den Alice unglücklich anschaute.
 

„Es ist in Ordnung!“ versicherte Helena: „Ich kann es mir wirklich leisten!“
 

„Aber sollte ich es nicht sein, die dich einlädt?“ fragte Alice.
 

„Du spielst doch nur den Jungen, schon vergessen?“ gab Helena munter grinsend zurück: „Also sei nicht albern und hol` uns Eistee, in Ordnung?“
 

Ein wenig unzufrieden trottete Alice davon und Helena blickte ihr kopfschüttelnd mit einem leisen Lächeln hinterher.
 

Als Alice sich auf den Rückweg machte, entdeckte sie bereits den ersten Freier, der sich Helenas Tisch genähert hatte. In einigem Abstand blieb sie stehen und beobachtete die Szene, denn sie wollte Helena nicht dazwischenfunken, falls diese möglicherweise interessiert gewesen wäre, mit ihm zu tanzen.
 

Helena war ausgesprochen freundlich zu dem Kerl, stellte Alice grimmig fest. Sie lachte, legte den Kopf kokett schief und der Mann machte Anstalten, sich auf Alices Stuhl zu setzen. Da schüttelte Helena jedoch, immer noch lächelnd das entzückende kleine Köpfchen, blickte sich um und entdeckte Alice. Sie winkte sie heran und sagte noch etwas zu dem Fremden, was dazu führte, dass dieser sich verabschiedete.
 

Als Alice zum Tisch zurückgekehrt war, fragte Helena vorwurfsvoll:

„Wo warst du denn so lange? Ich dachte, ich werde den Blödmann gar nicht mehr los.“
 

„Entschuldige!“ gab Alice zurück: „Aber du hast so freundlich mit ihm gesprochen, dass ich den Eindruck hatte, du mochtest seine Gesellschaft.“
 

„So war es aber nicht! Aber was hätte ich machen sollen? Die Arme vor der Brust verschränken und ihn mit einem grimmigen Blick und der Androhung von körperlicher Gewalt in die Flucht schlagen? Das klappt vielleicht, wenn man so ein großes, starkes Mädchen ist, wie du. Bei mir wirkt das wenig überzeugend und so versuche ich es vorher lieber mit Charme!“
 

Alice musste lächeln.
 

„Das solltest du öfter tun! Es steht Dir!“ kommentierte Helena.
 

Eine Weile saßen die beiden nun gemeinsam am Tisch, blickten in die Menge und schauten den Tanzpaaren zu. Dann fragte Alice plötzlich unvermittelt:

„Willst du auch?“ Sie hielt ihr die Hand hin. Helena nickte.
 

Auf der Tanzfläche stellte Helena fest:

„Du hast geübt!“
 

„Gar nicht!“ behauptete Alice.
 

Helena kommentierte diese offensichtliche Lüge mit einem vielsagenden Schmunzeln.
 

Tatsächlich hatte Alice seit letztem Samstag an jedem Tag vor dem Spiegel getanzt, weil sie große Angst gehabt hatte, sich heute zu blamieren, doch das hätte sie im Leben nicht zugegeben.
 

Als die beiden sich später, vom Tanzen müde, mit einem weiteren Getränk schließlich wieder an ihrem Tisch niederließen, fragte Helena unvermittelt:

„Ich weiß, du sprichst nicht gern darüber, aber was ist eigentlich mit dir und Margarete los? Du erscheinst nir in letzter Zeit so unglücklich!“

Statt ihr zu antworten blickte Alice Helena lediglich entgeistert an, also fuhr diese fort:

„Hör mal, ich weiß doch längst, dass du in sie verliebt bist. Ich finde das überhaupt nicht schlimm! Ich weiß nicht, warum du dir in den Kopf gesetzt hast, ich könnte das alles nicht verstehen?“
 

„Das ist doch ganz einfach, Helena!“ gab Alice trotzig zurück: „Wir leben in vollkommen verschiedenen Welten! Du bist ein Mädchen aus gutem Hause mit guter Schulbildung. Du bist selbstbewusst, wunderschön und wahrscheinlich hat es noch nie einen Mann gegeben, der nicht mit dir zusammen sein wollte. Du bist mit einem anständigen Kerl verlobt und sobald du wieder zurück in Boston bist, wirst du ihn wahrscheinlich heiraten, ein paar Kinder bekommen und die Art von Leben führen, die ich niemals haben werde. Wie könntest du mich also verstehen?“
 

So sanft es ihr, angesichts des vorwurfsvollen Tons des Mädchens möglich war, gab Helena zurück:

„Es tut mir leid, dass du es immer schwer gehabt hast und dein Leben wohl auch in der Zukunft nicht leicht werden wird! Es tut mir auch leid, dass mir selbst ungerechterweise vieles im Leben geschenkt wurde. Aber gib mir bitte nicht die Schuld dafür, in Ordnung?“
 

Alice nickte und erwiderte kleinlaut:

„Entschuldige Helena! Du bist immer freundlich zu mir gewesen und hast mir eigentlich gar keinen Grund für das Misstrauen gegeben, dass ich dir entgegengebracht habe. Ich schätze, ich war wohl lediglich eifersüchtig auf dich! Verzeihst du mir?“
 

Helena spürte eine Welle der Sympathie für das große, störrische Mädchen. Sie legte ihre kleine Hand auf die von Alice und sagte:

„Ich mag dich, Alice! Sehr sogar! Merkst du das gar nicht?“ Und dann stellte sie noch einmal ihre anfängliche Frage: „Was ist denn nun los mit dir und Margarete?“
 

Alice zuckte traurig mit den Schultern und antwortete:

„Du hast recht, ich bin in sie verliebt und sie hat nicht die gleichen Gefühle für mich. Ich bin sehr traurig deswegen. Ich weiß, es gibt nicht viele Frauen, die so wie ich sind. Und dann frage ich mich manchmal, was geschieht, wenn ich niemals diejenige finden werde, mit der ich zusammen sein kann? Was ist, wenn ich für immer allein bleibe?“
 

Alice blinzelte die aufsteigenden Tränen fort, Helena jedoch schüttelte lächelnd den Kopf und erwiderte:

„Du irrst dich! Es gibt viel mehr Frauen, die so sind wie du, als du denkst. Du musst sie nur finden! Und wahrscheinlich wirst du Dutzende wunderbarer Mädchen küssen, ehe du die Eine findest, mit der du vielleicht zusammen bleiben möchtest.“
 

Alice wusste nicht recht, was sie von dem, was Helena sagte halten sollte, aber sie klang so zuversichtlich, dass sie ihr beinahe glauben wollte.

Für eine Weile versank das Mädchen in nachdenkliches Schweigen. Dann fragte sie:

„Hast du denn eigentlich viele Jungen geküsst, ehe du deine Verlobung eingegangen bist?“
 

Helena kicherte und erwiderte:

„Ein paar waren es schon. Meine Eltern waren nicht begeistert davon und sorgten sich um meinen guten Ruf, aber es ist ja schließlich mein Leben. Und Francis hat sich nicht daran gestört. Er wollte mich trotzdem heiraten. Er hatte schließlich auch ein Leben davor und wie ich ihn kenne, ist es da sicher nicht allein beim Küssen geblieben.“
 

„Und das stört dich gar nicht?“ fragte Alice verblüfft.
 

Helena schüttelte lachend den Kopf:

„Nein, gar nicht! Ich bin schließlich eine moderne Frau!“
 

„Man muss sich wohl sehr sicher sein, ehe man eine solche Verbindung mit jemandem eingeht. Du liebst ihn sicherlich sehr“ meinte Alice.
 

„Er ist mein bester Freund!“ gab Helena zurück. Dabei wirkte sie mit einem Mal nachdenklich.

Unvermittelt wechselte sie das Thema und fragte grinsend:

„Was ist das eigentlich für eine Sache mit Melody, James, Kathryn und Justine. Ist das nicht eigenartig?“
 

Die beiden Mädchen spekulierten eine Weile darüber, was wohl hinter dem eigenartigem Verhalten der vier stecken mochte und amüsierten sich auch ein wenig, wie albern und kindisch sie sich benahmen.

Und als dieses Thema schließlich ausgereizt war, begannen sie sich heitere Begebenheiten aus ihrer beider Leben zu erzählen, lachten viel und fühlten sich mit einem Mal sehr wohl miteinander.
 

Später, als die Zwei gerade beschlossen hatten, dass sie noch ein wenig tanzen wollten, erblickte Alice in der Menge plötzlich etwas, dass sie blass werden ließ. Sie packte Helenas Arm und deute in ihre Blickrichtung:

„Die zwei Männer dort am Tresen sind meine Brüder!“ erklärte sie atemlos.
 

Helena schaute sie mit großen Augen an und meinte:

„Dann lass` uns zusehen, dass wir hier von hier wegkommen, ehe sie dich entdecken!“
 

Aber als die beiden jungen Frauen sich erhoben hatten, war es bereits zu spät. Der ältere der beiden Männer musste zwar zweimal hinschauen, weil Alice nun so verändert aussah, aber er hatte sie dennoch zweifelsfrei erkannt und bahnte sich nun seinen Weg durch den Raum hinüber zu ihr. Alice ihrerseits nahm Helena bei der Hand und zog sie rasch in Richtung Ausgang. Sie waren gerade vor der Scheune angekommen, als Alice zwei große, kräftige Hände fühlte, welche sie unsanft bei den Schultern packten.
 

Nikolas drehte das Mädchen zu sich herum und brüllte:

„Hier steckst du also! Weißt du, dass wir überall nach dir gesucht haben? Warst du etwa die ganze Zeit hier in Taylorsville? Und wie siehst du überhaupt aus?“ Er deutete auf das Kurze Haar und die Hosen: „Das ist ja vollkommen krank!“

Sein Gesicht war zu einer angewiderten Grimasse verzerrt.
 

Alice stand wie erstarrt vor ihrem älteren Bruder. Pavel, der jüngere hielt sich unsicher im Hintergrund und blickte unglücklich und hilflos zu ihr hinüber.
 

Lediglich die kleine und zierliche Helena ging zur Gegenwehr über, baute sich vor Niklas auf und erklärte mit autoritärer Stimme:
 

„Lassen sie uns gefälligst in Ruhe! Wir werden jetzt von hier verschwinden und wünschen, nicht weiter von ihnen belästigt zu werden!“
 

„Wer ist das Flittchen? Wieso mischt sie sich in unsere Familienangelegenheiten ein?“ brüllte Nikolas unhöflich und blies Alice dabei seinen üblen, alkoholgeschwängerten Atem ins Gesicht. Dann fragte er mit einem unangenehmen Grinsen: „Ist die blöde Kuh vielleicht auf deine Maskerade hereingefallen, und glaubt tatsächlich, dass du ein Junge wärst? Das ist sie nämlich nicht!“ Als er das sagte, packte er Alice grob zwischen die Beine, was das Mädchen endlich aus seiner Erstarrung erwachen ließ.
 

„Fass` mich nicht an, du kranker Bastard!“ rief sie, holte mit ihrem Ellenbogen aus und traf Nikolas hart seitlich am Kopf, so dass dieser zu Boden ging. Helena rannte los, um die Pferde zu holen. Niklas machte Anstalten sich wieder zu erheben, doch Alice trat ihm kräftig vor den Brustkorb.
 

Nun wurde auch ihr anderer Bruder Pavel aktiv. Er stürzte sich auf den am Boden liegenden Niklas und rief:

„Lauf` Alice! Ich mache das schon!“
 

Aber Alice wollte ihn Niklas nicht einfach so überlassen und so schlugen sie gemeinsam mit Fäusten auf ihn ein, bis dieser schließlich stöhnend liegen blieb. Dann holte Pavel sich sein eigenes Pferd und trieb das von Nikolas fort, damit er ihnen nicht folgen konnte.
 

In Windeseile ritten Helena, Alice und Pavel davon und blieben erst stehen, als sie sicher waren, in Sicherheit zu sein. Dann stiegen sie ab und Pavel umarmte Alice. Er stammelte unter Tränen:

„Ich bin so froh, dass du lebst, Schwesterchen!“

Er hielt sie eine Weile fest umklammert und schluchzte, während sie ihm zärtlich über Kopf und Rücken strich.

Schließlich holte der junge Mann tief Luft, um sich zu sammeln, löste sich von seiner Schwester und sagte:

„Ich habe wirklich bis heute befürchtet, er hätte dich umgebracht und irgendwo verscharrt. Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht!“
 

Helena musterte die beiden Geschwister und selbst im Licht des Vollmonds konnte sie erkennen, wie unglaublich ähnlich sie einander sahen. Nikolas hatte schwarzes Haar und war noch größer, aber vor allem wesentlich breiter und kompakter als diese beiden. Alice und Pavel hingegen besaßen beide diesen sehnigen und hageren Körperbau mit den langen Gliedern, das gleiche mittelblonde Haar und diese unglaublich grünen Katzenaugen. Verwundert lächelnd schüttelte sie den Kopf über diese vielen Gemeinsamkeiten.
 

„Du musst mir nicht sagen, wo du jetzt wohnst.“ erklärte Pavel: „Lass` mich nur hin und wieder wissen, dass es dir gut geht, hörst du Schwesterchen?“ Und mit einem Seitenblick auf Helena fügte er noch hinzu: „Und ich freue mich aus dass du…jemanden gefunden hast!“
 

Alice dachte kurz darüber nach, das Missverständnis aufzuklären. Dann erst wurde ihr bewusst, was ihr Bruder ihr damit eigentlich nur hatte sagen wollen und beschloss, dass es eigentlich keine Rolle spielte, dass sie und Helena nicht das waren, was Pavel annahm. Stattdessen fragte sie ihn:

„Was wirst du denn nun tun. Nikolas bringt dich um, wenn er dich in die Finger bekommt!“
 

„Es wird schon nicht so schlimm werden! Ich reite jetzt zurück und kümmere mich um ihn. Vielleicht kann ich mich damit wieder bei ihm einschmeicheln. Und solange er verletzt ist, kann er mir nicht so gefährlich werden. Mach` dir keine Sorgen Alice!“
 

Das Mädchen schüttelte den Kopf:

„Du musst nicht zu ihm zurück! Du kannst mit mir kommen, oder wir finden irgendetwas anderes für dich. Hauptsache du bist vor ihm sicher!“
 

Pavel schüttelte den Kopf und antwortete resigniert:

„Dazu fehlt mir dein Mut, kleine Schwester. Ich kann nicht einfach so weggehen und irgendwo anders neu anfangen. Ich gehe zurück zu unserem Vater und unserem Bruder und ziehe den Kopf ein. Solange ich mich still verhalte, geschieht mir nichts!“
 

Alice blickte ihn traurig an, wusste aber, dass sie seine Meinung nicht würde ändern können.

Pavel schüttelte Helena zum Abschied die Hand und küsste Alice sanft auf die Stirn. Dann ritt er davon und die beiden jungen Frauen machten sich auf den Rückweg nach Millers Landing.
 

Beim roten Haus angekommen, stellte Helena fest, dass Alices Hemd bei dem Handgemenge mit Nikolas am Ärmel gerissen war:

„Oh, wie schade! Kannst du nähen?“ wollte sie wissen
 

Alice schüttelte den Kopf:

„Dann zieh` es rasch aus. Ich repariere es für dich!“ versprach Helena.
 

Alice wurde ein wenig blass. Sie wollte Helena nicht sehen lassen, was sie mit ihren Brüsten angestellt hatte:

„Ich gebe es dir oben, in Ordnung!“ erklärte sie.

Sie gingen hinauf, Alice verschwand in ihrem Zimmer und reichte Helena das beschädigte Kleidungsstück durch den Türspalt.

Während Alice sich etwas anderes anzog, rief Helena ihr zu:
 

„Du musst dich vor mir nicht schämen, Alice! Du hast nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hätte.“
 

„Hmm!“ lautete Alices ausweichende Antwort. Dann trat sie wieder aus dem Zimmer und die beiden jungen Frauen blieben eine Weile unschlüssig voreinander stehen.
 

Schließlich sagte Helena:

„Es tut mir leid, dass der Abend heute so ausgegangen ist. Ich hätte dich nie gefragt, wenn ich geahnt hätte, dass so etwas passieren würde.“
 

„Mir tut es eigentlich nicht leid!“ gab Alice nachdenklich zurück: „Ich habe mich die ganze Zeit vor dem Tag gefürchtet, an dem ich Nikolas wieder über den Weg liefe. Nun ist es geschehen und ich fühle mich plötzlich wie befreit. Und darüber hinaus konnte ich mich von Pavel verabschieden. Es hat mich die ganze Zeit belastet, dass ich ihn darüber im Unklaren lassen musste, ob es mir gut geht“ Dann fügte sie noch hinzu: „Und abgesehen von dieser Begegnung war es ein wirklich schöner Abend. Ich danke dir!“
 

Schüchtern gab sie Helena einen Kuss auf die Wange und verschwand.
 

Margarete war kurz eingenickt. Plötzlich erwachte sie mit einem Gedanken. Nein, eigentlich war es mehr als das; es war eher eine Art von Gewissheit, klar wie eine Vision! Mit einem Mal wusste sie genau, wie ihr Leben weitergehen sollte; was sie brauchte und sich sehnlich wünschte. Sie lächelte!

Doch schon im nächsten Moment kamen ihr ernste Zweifel.
 

Wahrscheinlich war es doch gar nicht möglich, oder?

Und selbst wenn es theoretisch denkbar wäre, würde es wohl trotzdem nicht dazu kommen!

Sie würde mit Tiny und Doktor Miller darüber sprechen müssen.
 

Aber vorerst wollte sie noch abwarten.

Vielleicht änderte sich ihre Meinung ja wieder?
 

Vielleicht würde sie morgen bei Tage erkennen, wie wahnwitzig ihre Idee war?

In den nächsten Stunden war es ihr unmöglich einzuschlafen. Erst als Alice eintrat und zu ihr unter die Decke schlüpfte, fand sie ein wenig Ruhe.

Der Besucher

Als James am Montagmorgen das Sheriffsdepartment betrat und nach dem Gefangenen sah, saß dieser schmunzelnd auf seiner Pritsche und starrte ihn an.

Als es James zu bunt wurde, fragte er:

„Was gibt es denn da zu glotzen?“
 

„Ach gar nichts, Deputy. Ich wollte ihnen nur gratulieren!“ gab Carmichael mit einem unverschämten Grinsen zurück.
 

„Was soll das Bob?“ fragte James gereizt: „Wozu solltest du mir gratulieren wollen!“
 

Mit einem geheimnisvollem Lächeln gab der Gefangene zurück:

„Ich kann es an ihnen riechen, wissen sie?“
 

„Für so einen Blödsinn habe ich keine Zeit!“ schimpfte James betont ärgerlich und verließ den Zellentrakt.

Aber als er allein war fröstelte es ihn. Er ahnte das Carmichael über Melody und ihn gesprochen hatte, aber es war doch absolut unmöglich, dass er irgendetwas an ihm gerochen haben konnte. Er war gewaschen und trug saubere Kleidung. Aber selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, wäre es keinem Menschen möglich, aus der Entfernung mit der Nase etwas über sein Liebesleben herauszufinden, oder nicht?
 

Nein! Carmichael riet nur und wollte ihn aus der Fassung bringen, sagte James sich.
 

Doch ein kleines Unbehagen blieb in ihm zurück.
 

„Wie war denn eigentlich deine Verabredung mit Sam?“ fragte Joe, als es am Montag gerade einmal ruhig im Geschäft war.
 

Noah lächelte:

„Es war eigentlich ganz schön! Er war anfänglich sehr aufgeregt und ich irgendwie auch. Aber dann hat es sich schnell vertraut angefühlt.“
 

„Das klingt ja beinahe wie ein Rendezvous!“ gab Joe grinsend zurück.
 

„Das war es aber nicht! Ehrlich!“ beeilte sich Noah zu antworten und errötete ein wenig: „Er ist nur ein einsamer Junge, der sich einen Freund wünscht. Das ist alles!“
 

Joe nickte. Dann sagte er ein wenig kleinlaut:

„Ich muss dir etwas gestehen. Euer Gespräch am See haben Thomas und ich teilweise mitbekommen. Wir waren zufällig... in der Nähe.“
 

„Warum habt ihr euch denn nicht bemerkbar gemacht?“ fragte Noah ein wenig verschnupft: „Das wäre höflicher gewesen!“
 

„Es tut mir leid, aber das war leider nicht möglich.“ gab Joe entschuldigend zurück: „Wir waren sozusagen nicht ganz…angezogen! Wir wollten euch nicht erschrecken.“
 

Noah machte große Augen, wobei sein Gesicht einen tiefen Himbeerrotton annahm und er stieß hervor:

„Ach so! Verstehe!“ Dann fügte er hastig hinzu: „Tut mir leid, dass wir eure Pläne durchkreuzt haben.“
 

Joe grinste verlegen und zuckte mit den Schultern.
 

Dann fiel Noahs Blick aus dem Schaufenster auf die Straße und offenbar entdeckte er draußen etwas, dass ihn genug erschreckte, um sämtliche Farbe aus seinem Gesicht weichen zu lassen:

„Oh Gott! Der Kerl, der da auf den Laden zukommt, das ist Christian! Weißt du noch? Der Junge aus der Schule, von dem ich dir erzählt habe!“ keuchte er: „Sag` ihm nicht, dass ich hier bin, bitte!“ Er tauchte unter den Tresen ab, wo er sich ängstlich in einen engen Winkel quetschte.
 

Joe blickte verdutzt abwechselnd aus dem Schaufenster hinaus und dann wieder hinunter zu Noah in seinem Schlupfwinkel.
 

Christian kam tatsächlich geradewegs auf den Laden zu und trat schließlich auch ein. Joe betrachtete den Fremden aufmerksam und ihm fiel als erstes auf, dass er irgendwie verwahrlost wirkte. Abgesehen davon war er jedoch ein recht gutaussehender Bursche; groß, mit breiten Schultern, etwas zu dünn für Joes Geschmack, zerzaustes, ein wenig zu langes hellbraunes Haar und sehr dunkle Augen. Außerdem hatte er zwei recht frische Narben im Gesicht; die eine teilte die linke Augenbraue, die andere zog sich schräg über die Oberlippe. Es ließ Joe irgendwie an einen wilden Kater denken, der schon einige Revierkämpfe hinter sich hatte.
 

Christian trat ohne Umschweife an die Ladentheke und richtete sein Wort an Joe:

„Entschuldigung, ich suche einen Freund von mir. Ich habe gehört, er arbeitet jetzt hier? Sein Name ist Noah! Noah Schultz?“
 

Joe nickte und gab zurück:

„Ja, der arbeitet hier, aber er ist gerade nicht da!“

Er ignorierte, dass Noah ihn am Hosenbein zog.
 

„Wann kommt er denn wieder?“ wollte Christian wissen und spielte dabei nervös mit seinen Händen:

„Der kommt heute nicht mehr!“ log Joe: „Was willst du denn von ihm?“
 

„Bloß mit ihm sprechen. Es ist sehr wichtig!“ erwiderte Christian: „Ist er morgen wieder da?“
 

Joe zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Weiß ich nicht! Wäre möglich.“
 

Der Junge sah enttäuscht aus:

„Ich werde mein Glück versuchen! Bis Morgen!“ antwortete er und verschwand.
 

Als sich die Ladentür schloss, kroch Noah aus seinem Versteck hervor und schimpfte verzweifelt:

„Warum hast du ihm gesagt, dass ich hier arbeite. Jetzt kommt er wieder! Ich will ihn aber nicht sehen!“
 

„Warum sagst du ihm das nicht selbst?“ erwiderte Joe: „Der Junge wirkte sehr entschlossen und er wusste doch bereits, dass du hier angestellt bist. Wenn du ihn loswerden willst ist es besser, er hört es aus deinem Munde!“ Dann wollte er wissen: „Was glaubst du, will er von dir?“
 

Noah zitterte ein wenig:

„Wahrscheinlich will er sicher gehen, dass ich niemandem etwas über ihn verrate! Vielleicht will er mich sogar töten?“ spekulierte er dramatisch.
 

Joe legte schmunzelnd einen Arm um die Schultern des Jungen und antwortete beruhigend:

„Unsinn! Den Eindruck hat er nicht auf mich gemacht. Er hat gesagt, er sucht nach einem Freund, nicht nach jemandem, mit dem er eine Rechnung zu begleichen hat. Und ehrlich gesagt sah er ziemlich elend, geschwächt und mitleiderregend aus. Vielleicht will er sich ja lediglich bei dir für das, was damals geschehen ist entschuldigen?“
 

„Das glaube ich kaum! Ich kann unmöglich mit ihm sprechen. Es geht einfach nicht!“ erklärte Noah verzweifelt und beinahe schon hysterisch.
 

„Ist schon gut!“ erwiderte Joe sanft: „Kein Grund für Panik! Wenn er morgen wiederkommen sollte, dann schicke ich ihn eben wieder weg, in Ordnung?“
 

Noah nickte eifrig, doch dann fragte er ängstlich:

„Aber was, wenn er das nicht akzeptieren will und dann DICH angreift?“
 

Joe schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Er schien wirklich nicht in der Verfassung zu sein, mir weh zu tun. Nun hör´ bitte auf, dir Sorgen zu machen!“
 

Joe zog Noahs Kopf an seine Schulter und strich ihm freundschaftlich über das Haar.
 

Helena saß nachdenklich und allein auf der Veranda des Wohnhauses. Zwei Nächte lang hatte sie kaum schlafen können, denn es gab etwas, dass sie sehr beschäftigte. Langsam wurde ihr klar, dass eine Entscheidung getroffen werden musste. Die beiden Optionen lauteten „Wahrheit“ oder „Sicherheit“.

Eigentlich war es keine Frage, was sie tun würde, aber noch schreckte sie vor den Konsequenzen zurück. Ihr war bewusst, dass sich dadurch alles verändern würde. Und es gab für sie nichts zu gewinnen.

Nichts außer Klarheit!
 

Wie immer in ihrem Leben, wenn etwas sie sehr bedrückte, bekam sie Fieber.

Sie musste mit jemandem sprechen. Sie machte sich auf die Suche nach Claire Mcclaine. Diese Mischung aus ihrer weichen, mütterlichen Umarmung und ihren klaren, wohlüberlegten Worten war genau das, was sie nun brauchte.
 

Margarete lag vor dem Haus im Gras und blickte in den Himmel. Sie hatte den ganzen Sonntag lang nachgedacht und heimlich gehofft, dass eine vernünftige Stimme in ihrem Inneren ihr zuflüstern würde, dass sie offenbar verrückt geworden war, über diese Dinge überhaupt nur nachzudenken, doch stattdessen war der Gedanke, der ihr vergangene Nacht gekommen war, noch immer mit allergrößter Klarheit in ihrem Bewusstsein. Wenn überhaupt möglich erschien es ihr, als sei sie sich ihrer Sache nun sogar noch sicherer.
 

Wenn sie doch bloß mit jemandem darüber sprechen könnte! Sie hatte an Alice gedacht, doch die würde es mit Sicherheit nicht verstehen, und nicht nur deshalb, weil sie noch zu jung war!
 

Normalerweise würde sie mit einer solchen Idee als erstes zu ihrer Schwester gehen, doch diese Option gab es momentan auch nicht. Schließlich entschied Margarete, dass es nicht schaden konnte, Doktor Millers Meinung einzuholen. Vielleicht würde er es ihr ja ausreden?
 

Nach Feierabend ließ sich Noah von Joe nachhause bringen, um sicherzugehen, dass Christian ihm nicht auflauerte. Er kam sich selbst ein wenig lächerlich dabei vor, aber die Erinnerung daran, was Christian ihm angetan hatte, stand noch allzu lebendig vor seinem inneren Auge.
 

James ging am Abend hinüber zum roten Haus, ohne recht zu wissen ob er eintreten sollte. Er hatte Lust Melody wiederzusehen, war sich jedoch nicht so sicher, ob es ihr wohl genauso ging. Ihm war unklar, wie das mit ihnen beiden nun laufen sollte?

Hatte er überhaupt das Recht, einfach so hier aufzutauchen?

Ging es zwischen ihnen beiden wirklich nur um das rein Körperliche?

Er war sich nicht sicher, wie er selbst dazu stand. Ebenso wenig wusste er, welche Gefühle er selbst für Melody hatte. Sie waren Freunde, soviel war gewiss und er liebte sie auf diese Art. Aber eine romantische Liebe, wie jene, die er für Kathryn empfand war es wohl nicht!
 

Dennoch hatte sie beide in der vergangenen Nacht fraglos auch Leidenschaft verbunden. Und es war wirklich großartig gewesen.
 

Bedeutete dass, er nutzte sie lediglich für seine Bedürfnisse aus?
 

Aber ihr hatte es doch auch gefallen, oder nicht?

Und das bedeutete doch, dass es zu ihrer beider Nutzen war, richtig?
 

Sein moralischer Kompass, dem er sein Leben lang immer vertrauen konnte, deutete ins Ungewisse und das behagte James nicht.
 

Dann kam ihm ein anderer Gedanke: Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Melody genug von ihm hatte, genauso, wie Kathryn zuvor.
 

EINE Parallele zwischen seiner Beziehung zu Kathryn und dem, was immer das mit ihm und Melody war gab es, dachte er, nämlich die, dass seine Partnerin die Spielregeln festlegte, nach denen er zu spielen hatte!

James öffnete missmutig die Tür und gerade in diesem Moment, kam Melody aus dem Gemeinschaftsraum und sie trafen sich im Flur.
 

Als sie ihn sah, lächelte sie und erkundigte sich:

„Bist du gekommen, um mich zu sehen?“
 

Er nickte schüchtern, woraufhin sie seine Hand nahm und vorschlug:

„Dann lass uns nach oben gehen. Da steht ein breites Bett und es gibt keinen Grund, warum wir uns noch ein weiteres Mal auf das enge Sofa quetschen sollten.“
 

Alle seine Zweifel und Bedenken lösten sich mit einem Mal in Wohlgefallen auf. Erleichtert folgte er Melody nach oben.
 

Kaum hatten sie die Tür hinter sich verschlossen, begannen sie damit einander gegenseitig die Kleider herunterzureißen.
 

Alice klopfte an Helenas Schlafzimmertür. Sie hatte sie seit ihrem Ausflug nach Taylorsville nur noch bei den Mahlzeiten gesehen, wo Helena sie zu ignorieren schien. Das erschien ihr merkwürdig, denn der Abend hatte ihr doch eigentlich gefallen, wie sie versichert hatte. Nun wollte sie endlich herausfinden, was los war.
 

Die Tür öffnete sich und Helena stand mit blassem Gesicht vor ihr:

„Bist du krank?“ erkundigte Alice sich besorgt.
 

Helena lächelte schwach und antwortete:

„Ich bin ein bisschen geschafft. Ich brüte wohl etwas aus. Nichts Besorgniserregendes! Was kann ich für dich tun?“
 

Alice verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Helena unsicher an:

„Es ist blöd! Ich habe gedacht, du bist vielleicht wegen irgendetwas böse auf mich. Gehst du mir aus dem Weg? Habe ich vielleicht etwas falsch gemacht, als wir in Taylorsville waren?“
 

Helena schüttelte den Kopf und erwiderte sanft:

„Was solltest du denn falsch gemacht haben? Wir hatten doch einen wunderbaren Abend. Ich meine natürlich abgesehen von dessen abruptem, furchtbarem Ende. Ich habe mich nur ein wenig zurückgezogen, weil ich mich momentan nicht so gut fühle. Aber warte, ich habe doch etwas für dich!“

Sie ließ die Zimmertür offen stehen und kam einen Moment später mit Alices Hemd zurück:

„Siehst du: wie neu!“ Erklärte Helena und deutete auf die Naht.
 

Alice war beeindruckt, denn sie konnte nicht erkennen, wo das Hemd überhaupt gerissen gewesen war:

„Danke! Das hast du ja toll hingekriegt!“ erklärte sie anerkennend. Dann fügte sie hinzu: „Aber nun lass` mich auch etwas für dich tun. Ich werde dir einen Tee bringen, damit es dir schnell wieder besser geht, in Ordnung?“
 

Ehe Helena noch etwas sagen konnte, war das Mädchen auch schon verschwunden und kam eine Viertelstunde später mit einer dampfenden Tasse wieder. Helena hatte sich auf ihr Bett gelegt und Alice griff nach ihrer Decke, breitete sie über sie und stopfte die Enden unter sie. Dann reichte sie ihr den Tee, nahm auf der Bettkante Platz und erkundigte sich, ob sie sonst noch etwas für sie tun könnte.
 

Helena hatte diesem robusten Mädchen solch große Fürsorge irgendwie gar nicht zugetraut. Sie lächelte leise und schüttelte den Kopf.
 

Plötzlich fiel Alice etwas auf. Sie deutete auf Helenas Hand und fragte:

„Dein Verlobungsring ist ja gar nicht mehr da! Du hast ihn doch hoffentlich nicht verloren, oder?“
 

Helena blickte sie zunächst ein wenig erschrocken an und bedeckte die ringlose Hand schließlich nervös mit der anderen. Dann nickte sie.
 

Alice riss die Augen weit auf und rief aus:

„Das ist ja furchtbar! Soll ich dir vielleicht beim Suchen helfen?“
 

Helena wirkte blass als sie antwortete:

„Das ist nicht nötig! Der ist weg! Ich habe ihn wohl am Samstag verloren.“
 

„Das tut mir sehr leid! Was wirst du denn jetzt tun?“ erkundigte Alice sich bestürzt. Und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Kein Wunder, dass du dich schlecht fühlst! Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, um dir zu helfen!“
 

Helena hob den Kopf, holte tief Luft und erwiderte:

„Ich fürchte, es gibt nichts, was du tun könntest. Ich danke dir für den Tee, aber ich glaube, ich wäre jetzt lieber wieder allein.“
 

Alice nickte verständnisvoll und zog sich zurück.
 

Am folgenden Tag im Geschäft fiel Joe auf, wie unruhig Noah wirkte. Es sah aus, als habe er nicht viel geschlafen und immer wieder starrte er in Richtung Tür:
 

„Ist das etwa bloß wegen diesem Christian?“ erkundigte sich Joe stirnrunzelnd.
 

Noah nickte. Sein sommersprossiges Gesicht war noch fahler als gewöhnlich.

„Aber wie ist es denn bloß möglich, dass er dir so große Angst macht? Ihr wart doch `mal so etwas wie ein Paar, oder nicht?“
 

Noah schüttelte heftig den Kopf:

„Das hast du falsch verstanden. Wir waren doch kein Paar!“ rief er aus: „Das mit uns war ein bisschen anders. Ich hatte schon als Kind Angst vor ihm! Er war immer schon groß und kräftig, hat sich geprügelt und geflucht. Alle hatten Respekt vor ihm! Er war schlechter Umgang und man ging ihm besser aus dem Weg! Jeder wusste das. Doch dann ist eines Tages etwas passiert. Hinter der Schule gibt es einen kleinen Schuppen, aus dem ich einmal etwas holen musste. Was ich nicht wusste war, dass Christian manchmal dorthin kam, um die Zigaretten zu rauchen, die er seinem Vater stahl. Als er mich dort entdeckte dachte ich natürlich, nun geht es mir an den Kragen. Aber anstatt mich zu schlagen, hat er mich in eine Ecke gedrängt, mich an sich gezogen und geküsst. Ich war total verblüfft!“
 

„Heißt das, er hat es gegen deinen Willen getan?“ erkundigte sich Joe vorsichtig:
 

„Nicht so direkt! Ich mochte es irgendwie.“ gab Noah verlegen zu: „Eine Weile haben wir uns regelmäßig dort im Schuppen getroffen, um…ungestört zu sein. Ich bin freiwillig gekommen. Ich hatte zwar immer noch ein bisschen Angst, aber irgendwie war es auch aufregend und schön. Doch dann war von einem Tag auf den anderen plötzlich alles vorbei. Er hat es wohl mit der Angst zu tun bekommen, drohte mir, dass ich niemandem etwas über uns verraten dürfte. Und ich schätze um sicher zu gehen, hat er mich schließlich zusammen mit seinen Rüpelfreunden richtig heftig verprügelt. Ich habe nicht begriffen, wie er das hatte tun können. Eine Zeitlang hatte ich nämlich wirklich das Gefühl, er hätte mich gern.“
 

„Das war sicherlich ein Schock für dich!“ erwiderte Joe Anteil nehmend.
 

Noah nickte und visierte wieder die Tür an.
 

Wie aufs Stichwort tauchte in diesem Moment Christian auf der Straße auf und näherte sich dem Laden.

Noah rannte ins Lager und rief Joe über die Schulter zu:

„Schick´ ihn bitte weg!“
 

Noah war kaum verschwunden, da hatte Christian auch schon den Laden betreten:

„Guten Morgen!“ sagte der Junge höflich. Er trug dieselben, vor Dreck stehenden Kleidungsstücke, wie am Vortag, aber heute hatte er sich offenbar die Haare gekämmt: „Ist Noah vielleicht hier? Wir sind Freunde! Ich würde ihn wirklich gern sehen.“
 

„Ich weiß, wer du bist Christian! Noah hat mir alles erzählt.“ erklärte Joe ganz direkt. Der Junge vor der Ladentheke wurde blass vor Schreck und Joe fuhr fort: „Noah will dich nicht sehen. Das hat er deutlich gesagt. Er hat Angst vor dir! Bitte lass´ ihn einfach in Ruhe, in Ordnung?“

Der Junge nickte unglücklich.
 

Gegen seinen Willen hatte Joe Mitleid mit ihm. Er kam ihm wirklich nicht wie ein Mensch vor, der andere terrorisierte. Vielmehr wirkte er wie jemand, der selbst schon zu vieles hatte einstecken müssen.

Christian verließ den Laden mit hängenden Schultern.
 

Nach seinem Feierabend wollte Noah noch nicht allein sein, also begleitete er Joe zum roten Haus. Dort machte er sich sogleich auf die Suche nach Alice. Er fand sie schließlich allein und nachdenklich dreinblickend auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum sitzend. Wortlos hockte er sich neben sie und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter:
 

„Alles in Ordnung bei Dir?“ wollte er nach einer Weile wissen.
 

„Ich mache mir Sorgen um Pavel.“ gab sie zurück: „Wie finde ich von hier aus heraus, ob es ihm gut geht. Nikolas war Samstagnacht so wahnsinnig wütend. Das hat er mit Sicherheit an ihm ausgelassen. Könntest du nicht mal unauffällig nach ihm sehen? Ich meine natürlich so, dass Nikolas dich nicht dabei erwischt.“
 

Noahs unglücklicher Blick reichte ihr im Grunde als Antwort, doch zu ihrer Überraschung erklärte er mutig:

„In Ordnung! Wenn du willst, tue ich das für dich!“
 

Sie war gerührt von seiner Tapferkeit, doch eigentlich fühlte sich Alice selbst nicht wohl dabei, ihren Freund zu ihrer verkorksten Familie hinüber zu schicken. Da kam ihr eine bessere Idee und sie wunderte sich, dass sie darauf nicht früher gekommen war:

„Ich könnte auch James bitten, dass er nach Pavel schaut. Der hat immerhin eine Waffe und den Stern! Vielleicht hat Nikolas ja wenigstens davor ein wenig Achtung?“
 

Noah nickte dankbar:

„Ja, das könntest du tun!“ antwortete er erleichtert, davon gekommen zu sein und wechselte dann rasch das Thema, indem er sich erkundigte:

„Wie geht es eigentlich Helena?“
 

Alice war erstaunt, dass Noah ausgerechnet nach ihr fragte:

„Wieso? Hast du davon gehört, dass sie krank ist?“
 

Noah grinste vielsagend und erwiderte:

„Nein, habe ich nicht! Ich frage deswegen, weil ich den Eindruck hatte, die Sache mit euch beiden sei vielleicht ein wenig mehr, als nur Freundschaft. Ist es so?“
 

Alice ließ abrupt den Kopf herum schnellen und erwiderte empört:

„Wie kommst du denn auf so etwas? Sie ist doch verlobt! Und mal ehrlich: Was sollte einem Mädchen wie Helena denn schon an mir gefallen? Und überhaupt, sie gefällt mir ja auch gar nicht, also schlag` dir das bloß wieder aus dem Kopf! Das wird nicht passieren!“
 

Aber Noah war nicht entgangen, dass seiner Freundin bei seiner Frage die Röte ins Gesicht gestiegen war. Er grinste in sich hinein und Alice bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
 

Nach einer Weile rückte er schließlich mit dem heraus, weswegen er eigentlich gekommen war:

„Weißt du eigentlich schon das Neueste? Christian ist wieder da! Er sucht nach mir!“ verkündete er unbehaglich.
 

„Wie bitte!“ fragte Alice ungläubig: „Was will er denn von dir?“
 

Noah zuckte ratlos mit den Achseln.
 

Sam hatte vom Flur aus Noahs Stimme gehört und freute sich.

Als er aber den Gemeinschaftsraum betrat und dort Noah und Alice dicht beieinander sitzen sah wurde ihm klar, dass Noah schon einen besten Freund hatte und ihn gar nicht brauchte.

„Hallo!“ sagte er schüchtern zu beiden und wandte sich dann zum Gehen.
 

„Warte doch!“ rief Noah ihm hinterher: „Warum setzt du dich nicht zu uns?“
 

Sam blickte zunächst ein wenig unsicher von Alice zu Noah:

„Ich will aber nicht stören.“ murmelte er und scharrte mit einem Fuß am Boden.
 

„Du störst aber nicht!“ versicherte Noah und winkte ihn heran: „Komm` zu uns!“

Langsam trat Sam zu den beiden und überlegte, ob er Noah umarmen sollte. Taten Freunde das überhaupt miteinander? Die Jungen, die er manchmal heimlich in der Stadt beobachtete, taten es jedenfalls nicht. Die boxten sich nur gegenseitig und gaben sich Schimpfnamen.

Das würde Noah sicherlich nicht gefallen?
 

James und Joe umarmten sich hingegen ständig, aber die waren ja auch schon älter und abgesehen davon kam Sam auch irgendetwas verdächtig an der Freundschaft der beiden vor.
 

Noch ehe Sam sich entscheiden konnte, was er nun tun sollte, hatte Noah sich schon erhoben und zog ihn in seine Arme.

So einfach war das also?
 

Die Jugendlichen saßen nun zu dritt auf der engen Couch und Noah erklärte:

„Ich habe Alice gerade erzählt, dass ein alter Schulkamerad von uns wieder in der Stadt ist und nach mir sucht. Sein Name ist Christian.“
 

„Ist er ein Freund von dir?“ wollte Sam wissen.
 

Noah schüttelte den Kopf und Alice schimpfte:

„Pfft! Von wegen Freund! Wenn der Dreckskerl dir wieder zu nahe kommen will, breche ich ihm seine blöde Nase gern noch ein zweites Mal!“
 

Sam blickte die beiden mit großen Augen an und fragte:

„Hat dieser Christian dir etwa wehgetan, Noah?“
 

Dieser zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Das ist eine lange, komplizierte Geschichte, aber kurz gesagt, ja er hat mich geschlagen und auch mein Leben bedroht.“
 

„Was?“ fragte Sam empört und bot sogleich an: „Ich kann dich beschützen, wenn du willst!“
 

Noah war gerührt über dieses tapfere Angebot, doch Alice erklärte mit finsterem Blick:

„Du? Das glaubst du doch selbst nicht! Christian ist achtzehn Jahre alt und ein Riese im Vergleich zu dir. Da hast du keine Chance, Kleiner!“
 

Sam fiel keine passende Erwiderung ein, deshalb schwieg er zu dieser Herabsetzung seiner Körperkraft und Männlichkeit. Stattdessen beschränkte er sich darauf, den grimmigen Blick des großen Mädchens zu erwidern, solange er es aushielt.
 

Alice war klar, dass sie Noah in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt hatte, aber wenn dieses kümmerliche Baby Sam sich einbildete, er könne ihren Platz an Noahs Seite einnehmen, hatte er sich getäuscht.
 

Noah entging nicht die Rivalität, die sich da zwischen seiner alten Freundin und seinem neuen Freund entwickelte und ehrlicherweise genoss er es ein wenig, wie die beiden um in buhlten. Dennoch wollte er unbedingt, dass die Zwei sich miteinander vertrugen. Er hakte beide unter und versuchte, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. Er erzählte ihnen, dass Joe Christian heute deutlich gesagt hatte, dass er nicht wiederkommen solle und dass er hoffte, Christian möge sich daran halten.
 

Sam hätte gern gefragt, was denn nun eigentlich genau zwischen Noah und diesem Christian vorgefallen war, aber er hatte Angst vor einer weiteren verbalen kalten Dusche von Alice. Stattdessen ging er in die Küche und holte Getränke und eine Kleinigkeit zu essen für sich und die anderen beiden und markierte damit ganz nebenbei sein Revier ,als so etwas wie der „Hausherr“, ganz im Gegensatz zu Alice, die hier nur Gastrechte besaß.
 

Danach saßen die drei eine Weile beieinander, aßen und unterhielten sich, wobei Sam seine Rivalin im Kampf um die Freundschaft mit Noah nicht aus den Augen ließ.

Als es für Noah Zeit wurde, sich auf den Heimweg zu machen, umarmte er beide Freunde und raunte jedem der beiden zum Abschied etwas ins Ohr.
 

Zu Alice sagte er:

„Bitte sei nett zu Sam. Er ist wirklich in Ordnung! Ich habe ihn gern!“
 

„Wie auch immer!“ gab das Mädchen grimmig zurück. Noah blickte sie eindringlich an, bis Alice schließlich lachen musste:

„Abgemacht! Ich bin lieb!“ versprach sie.
 

Sam hingegen flüsterte er zu:

„Alice ist im Grunde wirklich ein großartiger Mensch. Versuch´ doch einfach mal, sie richtig kennen zu lernen!“
 

„Mhm!“ machte Sam und nickte mürrisch.
 

Als Noah aus der Tür war, fragte Alice brummend:

„Kartenspielen?“
 

Sam blickte sie skeptisch an. Dann zuckte er mit den Schultern und meinte:

„Wie du meinst!“
 

Ein ziemlich heftiger Wind war aufgekommen, als Noah das Haus verließ. Er hatte das Gefühl, sich beeilen zu müssen, nachhause zu kommen, ehe es noch schlimmer würde. Er dachte über Sam und Alice nach und musste schmunzeln. Es hatte ihm ein warmes Gefühl gegeben, dass er den beiden wichtig war. Noch vor kurzem hatte er sich unvorstellbar einsam gefühlt und mittlerweile riss man sich um ihn.

Er grinste ein wenig Selbstzufrieden in sich hinein.
 

Auf dem Weg hinüber zum Pfarrhaus musste Noah ein kleines Wäldchen durchqueren. Unter dem Wind bogen sich die Bäume knarrend und im Blätterdach raschelte es heftig. Noah war in Gedanken versunken und bemerkte erst, dass sich ihm jemand von hinten genähert hatte, als es zu spät war. Kräftige Arme schlangen sich ihm um Brustkorb und Taille und hielten ihn fest.
 

„Hallo Noah!“

Es war die Stimme von Christian.
 

Das Blut gefror dem Jungen in seinen Adern und ihm stockte der Atem:

„Bitte Christian, ich habe außer Joe niemandem von uns erzählt und der hält dicht! Ich werde dich nicht verraten. Ich verspreche es! Tu` mir nichts und lass´ mich einfach gehen, ja?“ flehte er.
 

Christian zog ihn noch ein wenig enger an sich; fest, aber dennoch nicht grob:

„Das spielt mittlerweile überhaupt keine Rolle mehr.“ erwiderte er: „Du kannst es erzählen, wem immer du willst. Von mir aus kannst du es auch in großen, roten Buchstaben an die Wände des Rathauses schreiben und eine Zeichnung dazu machen. Mir ist das vollkommen gleichgültig!“
 

Noah stutzte:

„Was willst du dann von mir?“ fragte er furchtsam.
 

„Ich wollte dich nur sehen, mit dir sprechen, mehr nicht.“ gab Christian zurück.
 

„Kannst du mich bitte loslassen?“ bat Noah kläglich: „Du machst mir Angst!“
 

Zu seiner Überraschung nahm Christian augenblicklich seine Arme herunter und bat lediglich:

„Aber lauf` jetzt nicht gleich weg, in Ordnung?“
 

Noah drehte sich zu ihm um und machte zwei große Schritte rückwärts, ergriff jedoch nicht die Flucht. Er schlang die Arme um den eigenen Körper und nahm Christian misstrauisch in Augenschein. Früher hatte dieser eher ein paar Pfunde zu viel als zu wenig auf den Rippen gehabt. Nun bestand er quasi nur noch aus Haut und Knochen.

Und Muskeln!

Seine Augen wirkten stumpf und ausdruckslos.
 

„Was ist mit dir passiert? Du siehst furchtbar aus. Und du bist total abgemagert!“ stellte Noah fest.
 

Christian zuckte mit den Schultern, blickte zu Boden und antwortete leise:

„Es gab nicht allzu viel in letzter Zeit!“
 

Wie zur Bestätigung ertönte in diesem Moment ein lautes Geräusch und Noah fragte:

„War das etwa dein Magen?“
 

Christian nickte.
 

Noah kramte in seiner Jackentasche und beförderte daraus einen Apfel hervor.

Er reichte ihn Christian mit lang ausgestrecktem Arm, als würde er ein bissiges Pony füttern. Als sich ihre Hände bei der Übergabe kurz berührten, zog Noah die seine rasch zurück.
 

„Hab` doch keine Angst vor mir?“ forderte Christian mit vollem Mund, denn sein Hunger war so groß, dass er nicht warten konnte.
 

„Nenn´ mir einen guten Grund, warum ich keine Angst haben sollte.“ erwiderte Noah.
 

„Es tut mir wirklich leid, was ich damals gemacht habe! Ich hatte einfach plötzlich panische Angst, was passieren würde, wenn das mit uns beiden rauskommen würde. Aber davor war es doch eigentlich immer ganz schön, oder nicht?“ fragte Christian mit einem hoffnungsvollen Blick und fügte hinzu: „ Und du musst mir glauben, so bin ich nicht mehr! Ich bin bestimmt nicht gekommen, weil ich dir wehtun möchte!“
 

„Na großartig!“ erwiderte Noah sarkastisch: „Dann können wir ja jetzt beste Freunde sein!“ Dann bekam er plötzlich Angst vor der eigenen Courage und versteifte sich in Erwartung von Christians Reaktion.
 

Entweder war Christian Noahs Unterton entgangen, oder er ignorierte ihn, denn er entgegnete weich:

„Ich hoffe sehr, dass wir Freunde sein können.“
 

Noah schüttelte unwillig den Kopf und schnappte:

„Du hast doch bereits Freunde! Zum Beispiel die Kerle, die dir geholfen haben, mich grün und blau zu schlagen. Wozu brauchst du da mich?“
 

„Nein!“ gab Christian kopfschüttelnd zurück: „Ich habe keine Freunde, nur Jungs, die Angst vor mir haben und darum lieber an meiner Seite anstatt gegen mich sind! Ich will aber das wiederhaben, was WIR hatten! Du hast mir gefehlt, weißt du!“
 

„Bist du etwa verrückt geworden?“ entfuhr es Noah unzensiert. Dann warf er einen nervösen Blick auf Christian.
 

Dieser starrte jedoch lediglich traurig zu Boden und nach einer Weile meinte er:

„Es ist so viel passiert im vergangenen Jahr. Ich würde dir gern davon erzählen.“

Er blickte Noah flehend an.
 

Dieser erwiderte seinen Blick skeptisch und zögerte ein wenig, ehe er schließlich antwortete:

„In Ordnung! Komm´ morgen in der Mittagspause in den Laden. Wir können miteinander sprechen, aber mir ist es lieber, wenn Joe in der Nähe ist.“
 

„Joe ist der gutaussehende Kerl, der dort arbeitet, ja? Seid ihr Zwei…ich meine ist er…?“ fragte Christian mit einem kleinen unsicheren Lächeln.
 

Noah schüttelte den Kopf:

„Nein, er ist nur ein Freund!“
 

„Hast du denn jemanden?“ wollte Christian wissen
 

„Wir reden morgen, in Ordnung!“ wich Noah aus.
 

Christian zuckte mit den Schultern. Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, als Noah ihm hinterherrief:

„Komm` heute Nacht nach Anbruch der Dunkelheit in die Kirche. Die Tür wird unverschlossen sein. Ich werde ein paar Sachen für dich in die hinterste Bank legen.“
 

Christian nickte. Dann verschwand er ganz einfach.
 

Erleichtert atmete Noah auf und rannte heim.
 

Das Paket, welches Noah zusammengestellt hatte, war ziemlich groß und schwer. Mühsam hatte Christian es hinüber in seine Behausung am anderen Ende der Stadt geschleppt. Dort zündete er eine Öllampe an und begann ungeduldig auszupacken. Neben den vielen Lebensmitteln, welche Noah offenbar aus der Speisekammer seiner Eltern gestohlen hatte, enthielt das Paket Seife und frische Kleidung.

Christian rieb ein sauberes Hemd an seinem Gesicht und ihm kamen die Tränen.
 

Joe war es, der die Ladentür aufschloss, als es am folgenden Tag in der Mittagspause klopfte. Er grüßte Christian nicht, sondern musterte ihn lediglich mit strengem Blick und in die Hüften gestemmten Fäusten. Christian schritt verlegen an ihm vorbei, hinüber zu Noah, deutete auf das saubere Hemd, welches er trug und sagte schlicht:

„Danke!“
 

Noah zuckte mit den Schulter und erwiderte kühl:

„Das hätte ich für jeden getan!“ Ein kleines bisschen sanfter fügte er hinzu: „Es steht dir gut und mir war es etwas zu groß.“ Dann kam er gleich zur Sache und wollte wissen: „Worüber willst du nun mit mir sprechen?“
 

Christian warf einen skeptischen Seitenblick auf Joe, der sich neben die beiden gestellt hatte, den fremden Jungen mit, vor der Brust verschränkten Armen streng anstarrte und nicht den Anschein machte, sich von der Stelle rühren zu wollen.

„Ist es unbedingt notwendig, dass der da jedes Wort hört?“ wollte Christian wissen.
 

„Wir können nach nebenan ins Lager gehen.“ erwiderte Noah.
 

Joe, der seine Wachhundpflichten durchaus ernst nahm, rief ihnen hinterher:

„Aber die Tür bleibt offen.“

Als die beiden verschwunden waren, schmunzelte er in sich hinein.
 

„Wo warst du im vergangenen Jahr?“ fragte Noah als erstes.

Er hatte sich auf einer Holzkiste niedergelassen und darauf geachtet, dass der Abstand zwischen ihnen beiden groß genug war, um sich damit wohl zu fühlen.

„Das ist eine lange Geschichte.“ begann Christian: „Ich hatte jemanden kennengelernt. Einen Mann! Er war einer der Erntehelfer, die zeitweise hier in Millers Landing arbeiten. Sein Name war John. Wir hatten etwas miteinander.“
 

„Er war sicher älter als du, oder?“ erkundigte sich Noah stirnrunzelnd.
 

Christian gab ein kurzes, trockenes Lachen von sich:

„Er war sogar älter als mein Vater!“ erklärte er.

Noah starrte ihn mit großen Augen an und Christian fuhr fort:

„Meine Eltern haben uns erwischt, als wir…du weißt schon…zusammen waren! Mein Vater hat sogleich seine Flinte geholt und John fortgejagt. Dann verlangten meine Eltern, dass ich zu deinem Vater gehe, damit er mich wieder in Ordnung bringt. Ich weiß noch, dass ich darüber lachen musste, denn dein Vater hat ja nicht einmal einen Schimmer davon, was mit seinem eigenen Sohn los ist. Aber keine Sorge, ich habe nichts verraten! Meine Eltern wiederholten immer wieder, dass ich mit Gottes Hilfe wieder normal werden könnte. Und dabei haben sie mich angesehen, als wäre ich irgendein Fremder, ekelerregend, eine Art Ungeheuer. Mir war das gleichgültig. Ich wollte gar nicht normal werden! Ich wollte John! Ich war verrückt nach ihm, also sind wir zusammen abgehauen.“ Christian wirkte nachdenklich, als er fortfuhr: „Eine Zeitlang war es ganz schön. Er hat mir einiges von der Welt gezeigt, sich um mich gekümmert und wir hatten viel Spaß miteinander, aber nach und nach konnte ich spüren, wie er das Interesse verlor. Und als ich eines Morgens wach wurde, war er verschwunden und mit ihm alle unsere Sachen. Schätze, er hatte es satt, für mich zu sorgen!“

Christians Gesichtsausdruck war verschlossen. Er starrte an die Wand und Noah konnte sehen, dass er mit den Tränen kämpfte. Es dauerte eine Weile ehe er weitersprach:

„Nun war ich ganz allein und weit weg von zuhause. Ich war mir sicher, dass es nun mit mir vorbei wäre!“
 

„Was hast du dann getan?“ erkundigte sich Noah erschüttert.
 

Christian blickte zu Boden und schwieg einen Augenblick, ehe er erwiderte:

„Das was ich tun musste! Anfangs habe ich gestohlen, aber darin war ich nicht besonders geschickt. Doch ich brauchte Geld! Also fing ich an mit Männern mitzugehen. Das konnte ich besser!“
 

„Oh!“ sagte Noah hörbar schluckend. Dann fragte er unsicher: „Wie hast du dich dabei gefühlt?“
 

Christian lächelte traurig, als er erwiderte:

„Musste halt sein, aber manchmal war es ziemlich übel.“ Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Weißt du, früher in der Schule habe ich von mir gedacht, ich wäre ein harter Bursche, aber mittlerweile habe ich ein paar wirklich harte Kerle getroffen. Ich weiß jetzt wie es ist, wenn man Prügel einstecken muss. Oder Schlimmeres!“ Er hielt inne und blickte zu Noah auf: „Mir tut`s heute so wahnsinnig leid, was ich dir angetan habe! Glaubst du, dass du mir das irgendwann verzeihen kannst?“

Ein flehender Blick
 

„Ich habe dir doch längst verziehen!“ gab Noah zurück: „Nur vergessen kann ich es eben nicht.“
 

Christian nickte traurig und führte seine Geschichte zu Ende:

„Irgendwann hatte ich plötzlich die Hoffnung, ich könnte einfach nachhause kommen und es würde vielleicht alles wieder gut werden, aber meine Eltern haben mir nicht einmal die Tür geöffnet. Sie haben von drinnen gerufen, dass ich verschwinden soll, denn sie hätten keinen Sohn mehr.“
 

„Das tut mir ehrlich leid!“ versicherte Noah Anteil nehmend: „Aber warum bist du zu mir gekommen? Was willst du von mir? Was kann ich denn für dich tun?“
 

Christian schwieg einen Moment lang, ehe er sich schließlich dazu durchringen konnte zu sagen:

„Wenn ich nachts allein war und unter freiem Himmel schlafen musste, oder wenn ich mit einem dieser Männer mitgegangen bin, dann habe ich oft an dich denken müssen; daran wie es war, wenn wir uns im Schuppen getroffen haben und daran, was daraus vielleicht hätte werden können, wenn ich nicht so ein Dummkopf und feiger Schwächling gewesen wäre!“

Christian erhob sich, ging auf Noah zu und versuchte ihn zu berühren, doch dieser wich aus:
 

„Es tut mir leid, aber so einfach geht das nicht! Das, was du erlebt hast klingt wirklich schlimm, doch ich kann nicht einfach so umschalten und so tun, als sei nichts geschehen.“ erklärte Noah ernsthaft.
 

„Ich verstehe!“ sagte Christian, wandte sich um und entfernte sich.
 

„Ich brauche einfach ein wenig Zeit!“ rief Noah ihm hinterher.
 

Christian nickte, doch er drehte sich nicht noch einmal um.

Noah hatte das Gefühl, dass er ihn wohl nicht wiedersehen würde.
 

Wieder bei Joe wollte Noah sofort von dem Gespräch berichten, doch dieser winkte ab und gab mit einem verlegenen kleinen Lächeln zu:

„Ich habe alles gehört, ich habe nämlich gelauscht.“ Dann fügte er rasch hinzu: „Nur falls ich gebraucht würde, um dich zu retten, versteht sich!“ er drückte Noahs Schulter und erklärte: „Ich bin stolz auf dich und denke, du hast das Richtige getan und auf dein Gefühl vertraut. Entweder er kann damit umgehen oder eben nicht!“

Noah nickte ein wenig traurig.
 

In dieser Nacht hatte Bob einen Traum: Eine ältere Frau kam in das Sherriffsdepartment. In der Hand hielt sie einen Schlüssel, den sie auf Snyders Schreibtisch legte.

Beim Aufwachen wusste Bob, wie er hier herauskommen würde. Es wurde auch Zeit, denn er begann langsam, sich zu langweilen und Jimmy wollte überhaupt nicht mehr mit ihm spielen!

Er war die Sache die ganze Zeit komplett falsch angegangen, denn der Sheriff war seine Fahrkarte nach draußen und nicht der Deputy!

Wendungen

Justine tauchte mit dem Kopf wieder unter der Bettdecke hervor und blickte zärtlich auf Kathryn hinab, welche mit halb geschlossenen Augen und rosigen Wangen zufrieden lächelnd dalag. Sie schmiegte sich an ihre Seite, küsste sie sanft und genoss noch einen Moment lang die Ruhe nach dem Sturm.
 

Nach einer Weile entschied sie dann aber schweren Herzens doch noch, dass sie die offenen Fragen, welche sie schon seit geraumer Zeit beschäftigten nicht länger aufschieben wollte. Sie stützte den Kopf auf eine Hand und zeichnete mit dem Zeigefinger der anderen die schönen Züge von Kathryns Gesicht nach:

„Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, was geschieht, wenn meine Aufgabe hier vollendet ist? Werden wir uns dann noch sehen, du und ich?“
 

Kathryn richtete sich ein wenig auf und blickte Justine überrascht an:

„Natürlich können wir und dann noch treffen! Du kannst mich besuchen, wann immer du willst. Du könntest dir hier auch ein Urlaubsdomizil errichten oder sogar gleich ganz hierherziehen, wenn du das willst!“
 

Justine schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Ich gehöre nicht hier her! Ich habe eine Aufgabe zuhause. Und ich habe nachgedacht: Du könntest dich unserer Sache doch anschließen, Kathryn. Ich habe dich beobachtet Liebste! Du bist eine gute Rednerin, bist intelligent und hast starke Überzeugungen. Du wärst wunderbar geeignet! Warum kommst du nicht mit mir nach Boston?“
 

Kathryn starrte sie ungläubig an und erwiderte:

„Wie stellst du dir das vor? Wovon sollte ich denn Leben. Ich bin nicht wohlhabend, wie ihr alle!“
 

„Um Geld musst du dir keine Sorgen machen! Ich bin doch da!“
 

Kathryn schmunzelte:

„Willst du etwa, dass ich deine Mätresse werde? Und was wird dann aus deinem Ehemann? Denkst du, es würde ihm gefallen, im Gästezimmer untergebracht zu werden?“
 

Justine schüttelte den Kopf:

„Unsinn Kathryn! Wir können leicht Arbeit für dich finden. Du kannst finanziell vollkommen unabhängig sein. Ich würde dir nur beim Übergang in ein neues Leben helfen, wenn du es mir gestattest. Und bezüglich meines Ehemanns... das Erste, was ich tun werde, wenn ich wieder in Boston bin, ist Nathan rauszuwerfen. Immerhin ist es mein Haus. Du könntest also bei mir wohnen oder dir etwas Eigenes suchen, ganz wie du möchtest.“
 

Kathryn blickte Justine unglücklich an und antwortete:

„Aber ich kann doch nicht einfach von hier fortgehen, Liebling! Ich habe hier meine Freunde und für mich sind sie sogar mehr als das. Sie sind meine Familie! Sie brauchen mich und ich brauche sie!“
 

Traurig erwiderte Justine ihren Blick:

„Bist du sicher, dass es hierbei nicht um IHN geht? Du liebst ihn doch noch, habe ich nicht recht?“
 

„Von wem sprichst du bitte?“ fragte Kathryn entrüstet.
 

„Ach komm schon Kathryn! Es beleidigt meine Intelligenz, dass du annimmst, ich hätte es nicht mitbekommen. Du weißt ganz genau, von wem ich spreche! Und es ist in Ordnung! Ehrlich gesagt habe doch von Anfang an gespürt, dass du nicht zu mir gehörst!“
 

„Das mit James und mir ist vorbei!“ behauptete Kathryn: „Er ist jetzt bei Melody und scheinbar passen die zwei doch wunderbar zueinander. Sie verbringen schließlich jede freie Minute im Bett und können nicht genug voneinander bekommen, wie es aussieht.“

Sogar Kathryn selbst entging nicht der bittere Unterton in ihrer Stimme, als sie das sagte.
 

Justine hatte es natürlich auch gehört. Sie lächelte gutmütig, als sie antwortete:

„Das tun wir auch und dennoch erteilst du mir gerade eine Absage für eine gemeinsame Zukunft, oder nicht? Das mit Melody und James ist lediglich eine Affäre, ebenso wie das, was wir zwei haben. Vielleicht hatte ich bis gerade eben die kleine Hoffnung, dass das mit uns mehr als das sein könnte, aber ich bin realistisch genug einzusehen, dass das nicht stimmt.“
 

Kathryn schenkte ihr einen unglücklichen Blick:

„Das ist doch nicht wahr, Justine. Du bedeutest mir etwas!“
 

„Das weiß ich, mein wunderschöner Engel, aber er bedeutet dir eben mehr. Sei ehrlich; wenigstens zu dir selbst!“ erwiderte Justine.
 

Kathryn schüttelte energisch den Kopf:

„James und ich haben es miteinander versucht! Er ist noch ein Junge, lässt sich viel zu viel von mir bieten und ist mir einfach nicht gewachsen. Als Paar sind wir gescheitert!“ erklärte sie entschieden. Nach einer nachdenklichen Pause fuhr sie fort: „Und selbst wenn ich auch nur darüber nachdächte, ihn zurückzunehmen, würde er da gewiss nicht mitmachen. Er ist sehr wütend auf mich. Unsere Trennung hat ihm ziemlich zugesetzt.“
 

Justine zuckte mit den Schultern:

„Das alles ändert aber nichts an dem, was du fühlst. Ob du noch einmal den Mut aufbringst, mit ihm zusammen zu sein oder nicht, er ist letztendlich derjenige, den du wirklich willst! Und ich bin einfach nicht bereit, nur die zweite Geige in deinem Leben zu spielen.“
 

Kathryn war eine ganze Weile sprachlos. Schließlich fragte sie leise:

„Heißt das, du beendest das mit uns beiden jetzt?“
 

Lächelnd schüttelte Justine den Kopf:

„Auf keinen Fall, Kathryn. Ich werde dich genießen, solange ich kann. Du hast mir mein Leben und meinen Körper wiedergegeben. Du ahnst mit Sicherheit nicht, was unsere Begegnung für mich bedeutet!“

Mit diesen Worten legte Justine sich auf Kathryn, schob einen Oberschenkel zwischen ihre Beine und begann, sich sanft auf ihr zu bewegen. Kathryn schlang die Arme und eines ihrer Beine um Justine, drängte sich eng an sie und passte sich leise seufzend dem Rhythmus ihrer Bewegungen an.
 

Zwei Tage lang war Christian nicht mehr in Noahs Nähe aufgetaucht und nun lungerte er draußen vor dem Geschäft herum, ohne hereinzukommen.
 

Noah drückte seine Nase an der Glasscheibe der Ladentür platt und beobachtete ihn.Christians Anblick löste widerstreitende Gefühle in ihm aus. Erinnerungen daran wurden wach, wie aufregend es gewesen war, sich versteckt in einem dunklen Winkel atemlos zu küssen, zum ersten Mal fremde Hände auf der eigenen Haut zu spüren, während man die eigenen auf Wanderschaft schickte; Erinnerungen daran, wie Christian gerochen und sich angefühlt hatte.
 

Aber dann tauchten noch ganz andere Bilder aus seiner Erinnerung auf, davon, wie der erste Mensch, den er jemals so nah an sich herangelassen hatte, mit schweren Stiefeln auf ihn eintrat, als er selbst schon am Boden lag und an die Stimme, die ihm zischend, so dass die anderen Jungen ihn nicht hören könnten zugeflüstert hatte: „Ich töte dich, wenn du es irgendwem erzählst!“
 

Zwischen diesen grausam konträren Erinnerungen hatte Noah das Gefühl, zerrieben zu werden. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er nun mit Christian anstellen sollte.

Natürlich war Noah nicht entgangen, dass Christian sich durch die Erfahrungen des vergangenen Jahres verändert hatte. Er war sanfter und offener. Heute war Christian so vieles von dem, was Noah sich damals gewünscht hatte. Dennoch fühlte es sich so an, als würde sich ein scheinbar unüberwindlicher Graben zwischen ihnen auftun. Und davon einmal abgesehen: Wer konnte schon sagen, ob Christians Veränderungen von Dauer sein würden?
 

Seufzend trat Noah schließlich vor die Ladentür und winkte Christian herein:

„Hast du Hunger?“ fragte er ihn.
 

Christian schüttelte den Kopf und schlang die langen Arme um den, mittlerweile so abgehungerten eigenen Körper.
 

„Ich glaube dir nicht!“ erklärte Noah, machte eine Runde durch den Laden, sammelte verschiedene Lebensmittel zusammen, welche er dann zur Ladentheke schleppte und in einen Karton packte. Dann zog er Geld aus seiner Hosentasche hervor und legte den nötigen Betrag in die Kasse:

„Das ist für dich!“ sagte er schlicht.
 

„Du musst nicht für mich einkaufen!“ behauptete Christian: „Ich kann selbst für mich sorgen!“
 

„Und wie?“ wollte Noah wissen.
 

„Ich gehe nachher rüber zur Miene und schaue, ob einer der Arbeiter heute Nacht Gesellschaft sucht!“ gab er zurück: „Das funktioniert meistens.“
 

„Bitte tu das nicht!“ bat Noah erschrocken.
 

Christian grinste schief, als er sich erkundigte:

„Wieso nicht? Wirst du sonst eifersüchtig?“
 

Noah ging nicht auf diesen Flirtversuch ein:

„Darum geht es nicht! Ich mache mir Sorgen um dich.“ erwiderte er ernst: „Was ist, wenn einer dieser Kerle gewalttätig wird, statt zu bezahlen, oder Sachen macht, die du nicht tun willst?“
 

„Denkst wohl, das wäre noch nie passiert, wie?“ gab Christian betont gleichgültig zurück.“ Ich hab`s überlebt!“
 

„Und was ist, wenn du an den Falschen gerätst? Was ist, wenn einer dich töten will.“ fragte Noah und seine Stimme überschlug sich beinahe, während er sich das ausmalte.
 

Christian zuckte mit den Schultern:

„Na und? Dann hab´ ich`s wenigstens hinter mir. Ich hab` doch eh` niemanden, der mich vermissen würde, keine Freunde, keine Familie, niemanden. Was soll`s also?“
 

„Vielleicht würde ICH dich ja vermissen!“ erwiderte Noah leise.
 

„Nur vielleicht?“ erkundigte sich Christian mit einem kleinen spitzbübischen Grinsen
 

„Na ja, ich schätze schon.“ Noah verfluchte in diesem Moment seine Weichherzigkeit. Er wusste, dass Christian dabei war, ihn einzuwickeln, also fügte er grob hinzu: „Nimm einfach das Zeug und geh´ nachhause.“ Etwas sanfter fügte er hinzu: „Ich kann dir auch ein wenig Geld geben, wenn du möchtest, nur bitte geh` nicht mehr mit einem dieser Kerle mit!“
 

„DEIN Geld will ich aber nicht!“ scherzte Christian: „Mit dir würde ich auch ohne Bezahlung gehen.“
 

„Das ist überhaupt nicht lustig!“ erwiderte Noah böse. Dann fügte er eindringlich hinzu: „Du sagst, dir liegt etwas an mir. Wenn das wirklich stimmt, dann nimmst du diese Lebensmittel und bringst dich nicht in Gefahr, hörst du?“
 

Christian nickte. Dann fragte er frech:

„Küsst du mich zur Belohnung, wenn ich auf dich höre?“
 

Noah blickte ihn gequält an:

„Lass` das! Ich will einfach nur, dass es dir gut geht, verstehst du!“
 

„In Ordnung!“ antworte Christian und ließ den Kopf hängen. Er hob den Karton auf und wollte gehen, doch Noah hielt ihn auf und berührte sanft seine Hand. Dann ließ er einen Geldschein in die Kiste fallen.
 

Als Christian es sah, schenkte er Noah einen unglücklichen Blick. Dann verschwand er wortlos.
 

Joe hatte die ganze Szene aus der Ferne beobachtet, ohne sich einzumischen. Nun schlenderte er zu Noah hinüber und bemerkte:

„Der Junge ist ja ganz schön hartnäckig. Ich schätze, er wird sich nicht so leicht abwimmeln lassen. Er will dich offenbar wiederhaben!“
 

„Hm.“ machte Noah und zuckte unschlüssig mit den Schultern.
 

Beim Abendessen musterte Kathryn James und Melody über den Tisch hinweg mit zusammengekniffenen Augen. Händchen halten, Kichern und Flüstern... diese Turtelei war schlichtweg abstoßend!
 

Früher hatte James immer mal wieder verstohlen zu Kathryn hinüber geschaut und sie hatte gewusst, sollte es ein Fehler gewesen sein, ihre Verbindung beendet zu haben, so hätte es immer noch eine Chance gegeben, alles wieder gut zu machen, aber das war jetzt anders. James ging es offensichtlich prächtig; auch ohne sie!

Nun war sie diejenige, die heimlich hinüberblickte. Sie musterte ihn; die wie immer viel zu langen schwarzen Locken, das schöne Profil, die freundlichen grünen Augen und sie verfluchte ihn innerlich, weil das viel leichter war, als sich über sich selbst zu ärgern. Irgendwann hatte sie genug davon, sich das Schauspiel am anderen Ende der Tafel anzuschauen. Sie ließ ihr Besteck geräuschvoll auf den eigenen, halb gefüllten Teller fallen und verließ die Küche.

Justine blickte ihr stirnrunzelnd hinterher.
 

Tiny stocherte ratlos in seinem Essen herum. Heute Mittag hatte Margarete ihn aufgesucht, um mit ihm zu sprechen und was sie zu sagen hatte, war so unerwartet, unglaublich und überwältigend gewesen, dass er zunächst nur wenig dazu hatte sagen können, außer, dass er es sich gut überlegen musste. In seinem Kopf rauschte das Blut. Er war aufgeregt, zappelte unruhig mit dem Knie des gesunden Beins und hatte beinahe das Gefühl, aus der Haut fahren zu müssen. Wie sollte er das bloß Joe beibringen?
 

Helena hatte ihr Zimmer in den letzten Tagen überhaupt nicht mehr verlassen. Alice hatte sie gepflegt, ihr Essen und Tee gebracht und sie angefleht, dass sie den Doktor rufen lassen dürfte, doch das hatte die junge Frau strikt abgelehnt. Sie behauptete, es gehe ihr gut, doch diesen Eindruck teilte Alice überhaupt nicht. Sie war besorgt, weil es ihrer Patientin scheinbar überhaupt nicht besser gehen wollte.
 

Als sie heute mit einem Tablett die Treppen hinaufstieg beschloss sie, sich diesmal nicht einfach so in der, einen Spalt weit geöffneten Tür abwimmeln zu lassen. Sie würde schon herausbekommen, was Helena denn nun eigentlich fehlte.

Die junge Frau bedankte sich für den Zimmerservice und begann, freudlos ihr Essen auf dem Teller von einer Seite auf die andere zu schieben.
 

Alice beobachtete sie dabei, zog sich einen Stuhl ans Bett und fragte seufzend:

„Was ist denn eigentlich los mit dir, Helena? Macht dir irgendetwas zu schaffen?“
 

Helena lächelte müde und beteuerte wenig überzeugend, dass ihr nichts fehle, also fuhr Alice fort: „Ist es wegen des verlorenen Rings? Wenn es nämlich darum geht, glaube ich nicht, dass das so furchtbar ist, wie du denkst. Er ist doch nur ein Ding und das kann man ersetzen. Sicher wird dein Verlobter dir verzeihen!“ Scherzend fügte sie hinzu: „Ich wette, du musst ihm nur einmal mit diesen blauen Wahnsinnsaugen zuzwinkern und er ist dir vollkommen erlegen.“
 

Helena stellte ihr beinahe noch volles Tablett beiseite und blickte Alice lange nachdenklich an bis diese schon langsam begann, sich unter dem Blick unwohl zu fühlen. Endlich fing Helena an zu sprechen:

„Ich muss dir ein Geständnis machen, Alice! Ich habe den Ring gar nicht verloren! Ich habe ihn an Francis zurückgeschickt, zusammen mit einem Abschiedsbrief!“
 

Alice blickte sie ungläubig an:

„Wie bitte? Warum hast du das denn getan?“
 

Helena antwortete nicht sofort und Alice beobachtete ihr bewegtes Mienenspiel:

„Mir ist in meiner Zeit hier etwas klar geworden.“ begann Helena schließlich: „Ich weiß jetzt, warum ich so lange gezögert habe, einen Hochzeitstermin festzulegen. Francis ist mein bester Freund. Ich liebe ihn, aber ich weiß nun, dass immer etwas Wichtiges gefehlt hat. Und nun ist mir endlich klar, was das war.“

Helena hielt inne und Alice blickte sie gespannt an, bis sie endlich fortfuhr:
 

„Ich habe meine Gefühle für Francis mit etwas verwechselt, was sie nicht waren. Ich weiß nun, dass ich nie wirklich verliebt in ihn gewesen bin. Ich war überhaupt noch nie in jemanden verliebt, bis jetzt! Nun weiß ich endlich, wie sich das anfühlen soll!“
 

Alice starrte sie verblüfft an. Mit dieser Eröffnung hatte sie mit Sicherheit nicht gerechnet. Erst wusste sie nicht, was sie dazu sagen sollte, dann fragte sie:

„Aber... in wen bist du denn verliebt!“
 

Helena antwortete nicht, starrte lediglich auf ihre Bettdecke nieder und Alice ging im Kopf die möglichen Optionen durch. Da wurde es ihr schließlich klar:

„Es ist James, oder?“ fragte sie. Und kopfschüttelnd fügte sie hinzu: „Aber das ist doch eine total aussichtslose Sache.“
 

Helena lachte trocken und murmelte vor sich hin:

„Eine aussichtslose Sache. Richtig!“ Und dann wurde aus dem Lachen plötzlich ein Weinen.
 

Alice blickte verunsichert zu ihr hinüber:

„Margarete erwartet mich, aber wenn du willst, kann ich ihr sagen, dass ich heute Nacht bei dir bleibe. Was meinst du dazu!“ fragte sie sanft.
 

„Nein!“ erwiderte Helena fest: „Ich komme klar!“
 

Alice blickte sie zweifelnd an:

„Geh` schon!“ forderte Helena ein klein wenig barsch: „Margarete wartet und mir geht es schon besser, ehrlich!“

Dann streckte sie sich auf ihrem Bett aus, wandte sich demonstrativ ab.
 

Alice zögerte noch kurz, ehe sie Helena tatsächlich allein ließ.
 

Das Gespräch hatte in Alice ein beklemmendes Gefühl hinterlassen. Sie hoffte, das Noah noch nicht nachhause gegangen war und sie hatte Glück! Sie fand ihn, wie er faul mit Sam auf der Bank vor dem Wohnhaus lümmelte.
 

Sie trat wortlos vor die beiden hin, verschränkte die Arme vor der Brust und mahlte mit ihren kräftigen Kiefern:
 

„Oje, was ist passiert?“ wollte Noah wissen, dem ihre Verfassung nicht entging,#.
 

„Ich würde gern mit dir sprechen!“ erklärte sie lediglich.
 

Sam verstand den Wink, erhob sich und rief im Gehen Noah zu:

„Wir sehen uns dann morgen, in Ordnung?“
 

„Tut mir leid!“ rief Alice dem Jungen ein klein wenig schuldbewusst hinterher, doch dieser winkte lächelnd ab und verschwand im Haus.
 

Alice ließ sich neben Noah auf die Bank sinken und streckte die langen Beine von sich.
 

„Also?“ fragte Noah gespannt.
 

Alice gab präzise das Gespräch wieder, welches sie gerade mit Helena geführt hatte und endete mit der Frage:

„Ist das nicht eine eigenartige Geschichte?“
 

Noah schüttelte den Kopf und antwortete:

„An der Geschichte finde ich vor allem eine Sache wirklich merkwürdig und das ist der Teil, wo Helena in James verliebt sein soll. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich die beiden auch nur ein einziges Mal miteinander hätte sprechen sehen. Bist du sicher, dass sie das gesagt hat?“
 

Alice dachte angestrengt darüber nach und schließlich antwortete sie:

„Sie hat es zumindest nicht abgestritten. Und als ich sie danach gefragt habe, musste sie weinen. Und außerdem... wer sollte es denn sonst sein? Es kommt doch weiter keiner in Frage?“
 

Noah erwiderte amüsiert:

„Das sehe ich aber anders. Ich denke, die wahrscheinlichste Person ist wohl diejenige, mit der Helena, mal abgesehen von ihren Begleiterinnen, die meiste Zeit verbracht hat, seit sie hier ist!“
 

Alice starrte Noah einen Moment lang an, wie vom Donner gerührt und fragte dann entsetzt:

„Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“
 

Noah verdrehte die Augen, als er antwortete:

„Aber sicher ist es mein Ernst! Und ich sage es doch auch schon die ganze Zeit!“
 

Alice schüttelte den Kopf und gab dann ärgerlich zurück:

„Aber dann hätte sie doch etwas sagen können, oder etwa nicht?“
 

„Ich hätte auch nichts gesagt, wenn du verkündest, dass du gleich noch von deiner Liebhaberin zu einem Übernachtungsbesuch eingeladen bist!“ erwiderte Noah schlicht.
 

„Margarete ist nicht... meine Liebhaberin.“ stammelte Alice. Dann fragte sie kleinlaut: „Ich bin wirklich eine total dumme Kuh, oder? Was mache ich denn jetzt?“

Noah zuckte grinsend mit den Schultern:

„Schlaf am besten erst mal drüber!“ empfahl er.
 

Tiny hockte auf dem Bett und hatte das Gesicht in seinen Händen vergraben, während Joe aufgeregt im Zimmer auf und ab ging:

„Hat Margarete jetzt den Verstand verloren?“ fragte er fassungslos „Das kann doch nicht ihr ernst sein!“

Dann hielt er inne und starrte Tiny eindringlich an:

„Du sagst überhaupt nichts dazu. Denkst du etwa tatsächlich darüber nach, Thomas?“
 

Tiny richtete sich langsam auf und blickte seinen Geliebten unsicher an. Er schluckte schwer, ehe er antwortete:

„Ich würde es niemals tun, wenn du nicht einverstanden wärst. Aber ich möchte, dass du eines dabei bedenkst. Für mich eröffnet sich dadurch eine Möglichkeit, über die ich mir bisher nicht einmal erlaubt habe auch nur nachzudenken. Ich wusste, diese Sache ist für mein Leben nicht vorgesehen. Aber jetzt…? Das ist eine unglaubliche Chance!“
 

Joe schloss die Augen, holte schließlich tief Luft und antwortete resigniert:

„Ich kann mich dir bei einer so wichtigen Sache doch nicht in den Weg stellen.“

Er schlang die Arme um sich selbst und murmelte unglücklich:

„Wenn ihr beide eine Kind zeugen wollt, dann müsst ihr ja wohl auch miteinander schlafen, oder?“
 

Tiny zuckte mit den Schultern:

„Ich schätze schon!“
 

Joe fuhr damit fort, aufgebracht auf und ab zu laufen und fing nun auch noch damit an, sich die Haare zu raufen.
 

Als es an ihrer Tür klopfte, nahm Margarete an, es sei Alice, doch in Wirklichkeit war es Joe, der eintrat. Es war nicht zu übersehen, wie aufgewühlt er war:
 

„Tiny hat dir alles erzählt vermute ich?“ fragte sie.
 

Joe nickte lediglich.
 

„Setz dich zu mir und lass` uns reden, in Ordnung?“ bat sie ein wenig kläglich.
 

Joe schenkte ihr einen grimmigen Blick, kam ihrer Einladung aber dennoch nach.

„Warum hast du ausgerechnet ihn gefragt. Du könntest James bitten oder irgendeinen x-beliebigen Kerl von der Straße nehmen, wenn es dir bloß darum geht, schwanger zu werden.
 

Ist es, weil du immer noch Gefühle für ihn hast?“ fragte er verletzt.
 

Margarete schüttelte bestürzt den Kopf:

„Natürlich nicht! Denkst du, ich wollte irgendetwas tun, um euch beide auseinanderzubringen. Ich bin doch froh, dass ihr Zwei einander gefunden habt. Glaubst du wirklich, irgendjemand, egal ob Mann oder Frau hätte eine Chance, ihn von deiner Seite zu holen. Weißt du denn nicht, wie sehr er dich liebt? Tiny ist ein sehr guter Freund und das spielt natürlich eine Rolle bei meiner Wahl. Aber am wichtigsten war mir, dass er ein großartiger Vater wäre. Im Grunde ist er ist es doch jetzt schon, nämlich für Sam, Mia, Lois, Michael und Shamus. Ich will nicht James oder irgendeinen Kerl. Ich will jemanden, der wirklich ein Vater sein will. Ich habe keinen Mann und das wäre auch das Letzte, was ich will, nach allem, was ich wegen Carmichael durchgemacht habe. Ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Ich habe mit dieser Entscheidung nicht mehr ewig Zeit. Und das sind die Gründe, warum ich Tiny gefragt habe.“
 

Joe blickte sie stirnrunzelnd ran. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er fühlte sich ausgesprochen unbehaglich mit der ganzen Situation. Und so tat Margarete ihm den Gefallen, das Gespräch fortzuführen:

„Der Doktor sagt, er ist sich nicht sicher, ob es mit überhaupt noch möglich ist, schwanger zu werden, wegen…meiner Verletzungen, aber ich will es wenigstens versuchen.“
 

Joe erkundigte sich missmutig:

„Ist es in Ordnung, wenn ich eine Nacht darüber schlafe und Thomas morgen sage, wie ich darüber denke?“
 

„Selbstverständlich!“ erwiderte Margarete: „Nehmt euch so viel Zeit, wie ihr braucht! Und ich will, dass ihr wisst, dass ich nicht böse bin, wenn einer von euch Nein sagt. Ich weiß, dass das viel verlangt und eine große Entscheidung ist.“ Sie nahm Joe bei der Hand und blickte ihm in die Augen: „Da ist noch etwas, was ich dir sagen möchte. Du gehörst zu Tiny und falls er und ich tatsächlich ein Kind bekommen sollten, wirst du selbstverständlich auch ein Teil der Familie sein.“
 

Gegen seinen Willen musste Joe an dieser Stelle lachen:

„Welcher Teil der Familie bin ich denn dann? Die böse Stiefmutter?“
 

„Vielleicht finden wir eine passendere Bezeichnung für dich?“ erwiderte Margarete lächelnd.
 

Als Alice Margaretes Zimmertür öffnete, kam ihr Joe entgegen. Sie blickte ihm erstaunt hinterher und konnte spüren, dass etwas in der Luft lag, also fragte sie:

„Ist alles in Ordnung?“
 

„Wir hatten etwas Wichtiges zu besprechen, aber nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich noch nicht darüber reden möchte, in Ordnung?“ gab Margarete zurück.
 

Alice nickte. Es beunruhigte sie zwar ein wenig, dass es etwas gab, das sie nicht wissen sollte, aber sie ging darüber hinweg, denn auch sie hatte etwas Wichtiges zu besprechen. Sie war ein wenig nervös, hatte keine Ahnung, wie sie anfangen sollte, also fiel sie einfach mit der Tür ins Haus:

„Helena hat ihre Verlobung gelöst und Noah glaubt, es sei wegen mir!“

Mit diesen Worten ließ sie sich neben Margarete auf das Bett fallen. Diese blickte sie aufmerksam an und Alice stotterte unsicher:

„Du… du glaubst doch auch, dass das Unsinn ist, oder?“
 

„Nein, das denke ich nicht!“ erwiderte Margarete lächelnd.
 

Alice richtete sich ruckartig auf und starrte sie an:
 

„Wie meinst du das? Glaubst du, Helena hat wirklich etwas für mich übrig?“
 

„Nein!“ gab Margarete zurück und Alice entspannte sich ein wenig. Doch dann fuhr Margarete fort: „Ich denke, es ist sehr viel mehr als das, wenn sie deswegen sogar ihre Verlobung aufgelöst hat.“
 

„Aber doch nicht wegen mir. Ich bin das mit Sicherheit nicht wert! Sie muss verrückt geworden sein.“ erwiderte Alice fassungslos.
 

Margarete schüttelte ungeduldig den Kopf:

„Warum sollst du es denn nicht wert sein, du dummes Ding? Alles an dir ist großartig?“
 

Alice quittierte das mit einem zweifelnden Bick, erwiderte jedoch nichts:
 

„Und wenn es wirklich so wäre? Wie denkst du selbst darüber?“ wollte Margarete wissen.
 

Alice errötete und blickte verunsichert zu Margarete hinüber:

„Helena ist toll! Sie ist lustig, klug und selbstbewusst! Ich habe sie sehr gern! Aber dich habe ich auch sehr gern!“
 

Margarete zog Alice in ihre Arme und küsste sie auf die Wange:

„Das weiß ich, mein Mädchen! Aber ich kann dir nicht genug geben, um dich glücklich zu machen. Und das will ich doch für dich, denn ich liebe dich! Verstehst du das?“
 

Alice nickte und weinte ein wenig:

„Ich denke, ich werde darüber schlafen müssen. Morgen früh gehe ich zu Helena und spreche mit ihr.“ erklärte sie.
 

„Was wirst du ihr sagen?“ wollte Margarete wissen.
 

Alice zuckte mit den Schultern:

„Wenn ich das nur wüsste?“
 

Bob langweilte sich zu Tode. Er hatte damit begonnen, ein paar Fliegen, Spinnen und Käfer einzufangen, eben alles Lebendige, dass sich in seine Zelle verirrte. Dann riss er ihnen Flügel und Beine aus und sah dabei zu, wie sie zappelten und hoffnungslos zu entkommen versuchten.

Dieses Spiel amüsierte ihn allerdings nur mäßig.

Er hatte in den letzten Tagen immer mal wieder eine Maus hier herumlaufen sehen. Damit wäre es vielleicht spaßiger, aber er bekam das verflixte Biest einfach nicht zu fassen!
 

„Hey Snyder! Wann ist denn endlich mein Prozess? Ich will hier raus!“ rief er dem Sheriff zu.
 

„Das dauert noch, du Spinner!“ lautete die barsche Antwort von nebenan: „Der Richter ist noch immer nicht in der Stadt.“

Offene Worte

Margarete schlief noch fest, als Alice sehr früh am folgenden Morgen erwachte. Das Mädchen betrachtete sie zärtlich. Ihre Decke war ein wenig heruntergerutscht und entblößte einen Arm. Die dunkle Haut wirkte so vollkommen und ebenmäßig, dass Alice nicht widerstehen konnte. Sie küsste sanft die Schulter der Frau neben sich. Dann deckte sie sie wieder vollständig zu, stand auf und flüsterte der Schlafenden ein: „Leb wohl!“ zu, ehe sie das Zimmer verließ, ganz so, als würde sie wirklich fortgehen.
 

Sie verschwand im Badezimmer, um sich frisch zu machen. Was ihr als nächstes bevor stand machte sie wahnsinnig nervös und sie wollte dafür so gut wie möglich aussehen. Als sie mit ihrem Spiegelbild endlich zufrieden war, schritt sie mit wackligen Beinen hinüber ins andere Haus.
 

Sie klopfte vorsichtig an Helenas Tür und rechnete eigentlich nicht wirklich damit, dass diese bereits wach sein würde, doch die Bewohnerin des Zimmers rief ihr durch die geschlossene Tür zu, dass sie hereinkommen solle. Zu Alices Überraschung saß die junge Frau bereits vollständig angezogen auf einem Stuhl am Fenster.

Hatte sie sie bereits kommen sehen?
 

Alice blieb zunächst unschlüssig im Türrahmen stehen:

„Willst du irgendwo hin?“ erkundigte sie sich schüchtern, da sie Helena seit Tagen nicht mehr in ihrer Straßenkleidung gesehen hatte.
 

Die Angesprochene schüttelte den Kopf:

„Nein, ich komme gerade wieder. Ich konnte nicht schlafen und bin darum spazieren gewesen. Ich habe einen wundervollen Sonnenaufgang gesehen. Und warum bist du schon so früh wach?“

„Ich konnte auch nicht mehr schlafen. Mir ist einiges durch den Kopf gegangen.“ entgegnete Alice „Darf ich dich etwas fragen? Es ist aber ein bisschen peinlich“
 

„Sicher!“ antwortete Helena.
 

„Ich muss es einfach wissen! Noah hatte nämlich eine Vermutung.“ Alices Gesicht lief hochrot an: „Er denkt…nein warte! Das ist vollkommen absurd! Ich werde einfach wieder gehen.“
 

„Warte! Lauf nicht weg“ rief Helena „Was denkt Noah?“
 

„Ich kann´s dir nicht sagen. Es ist zu peinlich.“ murmelte Alice.
 

„Du kannst mir alles sagen!“ versicherte Helena darauf.
 

Alice schloss die Tür hinter sich und nahm Helena gegenüber auf der Fensterbank Platz:

„Bist du verliebt in mich Helena?“

Sie fragte es so leise, dass ihr Gegenüber die Worte eigentlich mehr ahnen als hören konnte.
 

Helena blickte das Mädchen geradewegs an und antwortete:

„Ja, Alice!“
 

Die Jüngere zog überrascht die Augenbrauen hoch und hatte im ersten Moment keine Ahnung wie sie darauf reagieren sollte.

Verdammt! Sie überlegte vielmehr, ob sie sich irgendwie missverstanden haben konnten:

„Bist du dir wirklich ganz sicher?“ Alices Stimme überschlug sich bei der Frage ein wenig.
 

Helenas zuckte ein klein wenig mit den Schultern und nickte dann:
 

„Aber wieso denn ich, Helena? Ich habe dir doch gar nichts zu bieten!“ stotterte Alice: „Ich besitze nichts, bin nicht in der Lage dich zu heiraten, dir Sicherheit oder eine Familie zu geben. Ich bin bloß irgendein Mädchen! Hast du das etwa vergessen?“
 

Helenas Lächeln wirkte müde und traurig:

„Ich weiß, was du bist! Ich weiß, was dieses Leben bedeuten würde!“ erwiderte sie matt.
 

Alice zitterte leicht, schlang die Arme um den eigenen Körper, wie um sich selbst ein wenig Halt zu geben und musterte Helena. Schließlich sagte sie erbost:

„Ich verstehe nicht, wie du einfach so deine Verlobung auflösen konntest, bevor du überhaupt mit mir über deine Gefühle gesprochen hast, noch ehe du mich gefragt hast, ob ich sie erwidere. Warum gibst du eine Zukunft in Sicherheit für eine ungewisse Sache auf. Was, wenn dich das hier nicht glücklich machen kann? Was, wenn du mich dann hasst?“
 

Helena blickte Alice geradewegs an, als sie antwortete ruhig:

„Ich habe das nicht für dich getan, Alice.“
 

„Nicht?“ fragte diese und wurde ein wenig blass.
 

„Nein“ erwiderte Helena „Ich habe es getan, weil ich die Wahrheit liebe. Ich hätte nicht zu Francis zurückzukehren und so tun können, als sei alles in Ordnung. Ich könnte weder ihn, noch mich selbst derart belügen. Ich weiß jetzt, was ich will. Ich bin vollkommen verrückt nach dir, Alice! Auch wenn du bei mich nicht willst, ich weiß nun, wonach ich in meinem Leben suchen muss! Es ist dieses Gefühl von Leidenschaft und Erregung. Plötzlich erscheint alles endlich sinnvoll und wirklich.“
 

„Du bist verrückt nach mir?“ fragte Alice mit belegter Stimme.
 

Helena nickte ernst:
 

„Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe!“ stammelte Alice: „Und ich würde dich so gern küssen, Helena!“
 

Die Ältere antwortete nicht. Schließlich erhob sie sich und Alice hatte schon die Befürchtung, sie würde nun erschrocken aus dem Zimmer laufen, doch stattdessen kam sie einfach nur sehr, sehr langsam auf sie zu, ergriff die Gelegenheit, das Alice saß und sie das viel größere Mädchen nun leicht erreichen konnte beim Schopf, zog ihren Kopf zu sich heran, drängte sich nah an sie und küsste sie.
 

Alice versteifte sich zunächst ängstlich ein wenig, doch bald sprachen die warmen, wundervollen Rundungen, die sich an sie pressten in ihrer eigenen Sprache zu ihrem Körper und ließen ihre Muskeln schmelzen. Sie fasste mit der einen Hand Helenas Hüfte, griff mit der anderen in das volle schwarze Haar und erwiderte den Kuss. Er schien eine Ewigkeit zu dauern, denn keine der jungen Frauen wollte ihn enden lassen. Schließlich lösten die beiden sich dennoch für einen Moment atemlos voneinander und Helena fragte ratlos und mit einem kleinen Grinsen:

„Und wie geht so etwas normalerweise weiter?“
 

Alice zuckte mit den Schultern.

„Ich dachte du wüsstest das und hättest es schon getan.“ erwiderte Helena erstaunt.
 

Alice schüttelte beschämt den Kopf:

„Tut mir leid. Ich habe keine Ahnung!“
 

„Mach` dir keine Sorgen: Das finden schon heraus. Ich bin ziemlich clever, weißt du?“
 

„Das weiß ich!“ erwiderte Alice mit einem schüchternen Grinsen.

Sie ließ sich von Helena in Richtung Bett dirigieren und sah ihr dabei zu, wie sie ihr das Hemd aufknöpfte. Als Helena die Bandagen darunter erblickte, welche ihre Brüste verbargen, schüttelte sie leise lächelnd den Kopf, entfernte sie und begann dann, mit Fingern und Lippen die kleinen, weißen Brüste und deren blass rosafarbenen Spitzen zu erforschen.

Alices Atem beschleunigte sich und sie gab ein leises Seufzen von sich. Sie selbst traute sich noch nicht, irgendetwas zu unternehmen.
 

Ihre Zurückhaltung führte bei Helena zu Verunsicherung.

„Mache ich etwas falsch?“ wollte sie wissen: „Oder hast du es dir anders überlegt?“
 

Alice schüttelte heftig den Kopf und flüsterte:

„Überhaupt nicht! Hör´ bloß nicht auf! Ich habe einfach nur Angst!“
 

Damit hatte Helena nicht gerechnet. Sie kicherte und erwiderte:

„Ehrlich? Du hast Angst! Vor mir? Aber das musst du doch nicht! Ich beiße nicht, Süße!“
 

Helena entledigte sich ihrer Kleidung und Alice schluckte ein wenig:

„Du bist vollkommen!“ flüsterte sie heiser.

Dann blickte sie an ihrem eigenen Körper hinab, fand sich zu groß, zu knochig und zu flachbrüstig.
 

Helena schüttelte schmunzelnd den Kopf und erklärte:

„Du denkst so laut, dass ich beinahe hören kann, was in deinem hübschen Kopf vorgeht!“ erklärte sie und fügte streng hinzu: „Und ich will davon nichts wissen! Du bist wahnsinnig schön! Entspann` dich und dann beweise ich es dir.“
 

„Bist du wach, Thomas?“ fragte Joe.
 

Tiny öffnete die Augen, rieb den Schlaf fort und reckte und streckte sich ein wenig.

„Du siehst aus, als hättest du eine Entscheidung getroffen!“ fragte er, während er sich im Bett ein wenig aufrichtete:

„Du willst nicht, dass ich es mache, stimmt`s?“
 

Joe schüttelte den Kopf:

„Nein, das ist es nicht!“ gab er zurück: „Nachdem ich nun den ersten Schreck verdaut habe, gefällt mir die Idee sogar irgendwie. Margarete hat recht: Du bist zum Vatersein wie geschaffen! Und mir gefällt die Vorstellung, „Stiefmutter“ zu werden!“
 

„Was ist es dann?“ erkundigte sich Tiny stirnrunzelnd.

Joe seufzte, ehe er antwortete:

„Ich weiß, dass das blöd ist, aber wenn ich ehrlich bin verunsichert mich der Gedanke, dass du dann mit Margarete schlafen wirst, Thomas. Was, wenn es dir gefällt? Was, wenn du dann plötzlich merkst, dass es eigentlich das ist, was du willst und was du bist?“
 

Tiny grinste und beugte sich zu Joe herüber, um ihn zu küssen:

„Danke!“ sagte er.
 

Joe schaute ihn verdutzt an:

„Wofür bedankst du dich denn?“
 

„Dafür, dass du eifersüchtig bist. Dafür, dass du Angst hast mich zu verlieren.“ Joe fing an, ein wenig ärgerlich auszusehen, doch Tiny fuhr trotzdem fort: „Du bist alles, was ich will! Ich liebe dich so sehr!“
 

„Bringt es einfach schnell hinter euch, in Ordnung?“ erklärte Joe grimmig und fügte dann hinzu: „Und hinterher kommst du dann sofort zu mir und trittst den Beweis für deine Worte an!“
 

„Verstanden!“ erwiderte Tiny lächelnd. Dann sagte er noch: „Dir ist klar, dass es vielleicht nicht gleich klappt. Margarete und ich müssen es womöglich mehr als einmal versuchen.“

Joe stöhnte und vergrub sein Gesicht im Kissen.
 

„Ich muss jetzt wirklich aufstehen!“ erklärte Helena ohne große Überzeugung.

„Mhhm!“ machte Alice. Sprechen konnte sie gerade nicht, da ihre Lippen und Zunge mit Helenas Brüsten beschäftigt waren.
 

„Ich meine es ernst! Die Anderen zählen auf mich, Liebling!

Die Zunge war mittlerweile hinab zu ihrem Nabel gewandert.

„Ich komme doch heute Nachmittag schon wieder zurück!“ machte Helena einen weiteren gutgemeinten, wenn auch halbherzigen Versuch, doch als sie dabei zusah, wie Alices Kopf sich in ihren Schoß niedersenkte, wurde ihr klar, dass sie es keinesfalls pünktlich schaffen würde.
 

Tiny und Margarete saßen vor dem Haus in der Vormittagssonne.

Sie war nervös, denn es schien ihr wie ein schlechtes Zeichen, dass Tiny ihr so bald schon seine Entscheidung mitteilen wollte. Darum war sie auch umso überraschter, als sie nun vernahm, wie sie ausgefallen war:

„Und du bist dir wirklich vollkommen sicher?“ hakte sie noch einmal ungläubig nach: „Das ist immerhin eine Sache, die dein Leben für immer verändern wird. Was, wenn du es irgendwann bereust? Und was sagt Joe überhaupt dazu?“
 

„Ich werde es sicher nicht bereuen! Und Joe freut sich darüber!“ versicherte Tiny.
 

Margarete stutzte. Sie hätte nie im Leben damit gerechnet, dass es so einfach und unkompliziert sein würde. Sie traute dem Frieden noch nicht, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen hakte sie sich bei ihm unter und legte den Kopf auf seiner Schulter ab.
 

Vor dem Wohnhaus war mit einem Mal ein reges Treiben entstanden. Die Bostonerinnen begannen, sich auf die heutige Kundgebung direkt hier vor Ort in Millers Landing vorzubereiten. Sie spannten die beiden Ponys vor den kleinen Wagen des „Yasemines“ und schleppten Flugblätter und Transparente herbei.
 

Tiny und Margarete sahen ihnen von ihrem Standort aus dabei zu.

Als die Frauen beinahe zum Aufbruch bereit waren, kamen plötzlich Helena und Alice angerannt und riefen, man möge auf sie warten. Beide Mädchen sahen so aus, als seien sie in aller Eile aufgestanden, ohne noch Zeit zu haben, einen Abstecher ins Bad zu machen oder einen Kamm zur Hand zu nehmen.

Die Bostonerinnen wirkten ungeduldig, doch Alice und Helena verabschiedeten sich voneinander, als gäbe es für sie kein Wiedersehen. Sie blickten einander tief in die Augen, schlossen sich fest in die Arme und versanken dann in einen Kuss, der scheinbar gar kein Ende mehr nehmen wollte, bis Justine die beiden streng ermahnte, dass Helena nun endlich aufsteigen müsse.
 

Tiny deutete auf die Szene und fragte:

„Wann ist das denn passiert?“
 

„Heute Morgen!“ erwiderte Margarete mit tonloser Stimme.
 

„Und wie geht es dir damit?“ erkundigte er sich.
 

„Alice soll das nicht wissen,... “ raunte sie: „...aber ehrlich gesagt bringt es mich um vor Eifersucht!“
 

„Aber warum hast du dann nicht versucht, sie zu halten?“ wollte Tiny wissen.

„Wir beide sind nicht wie Joe und du.“ gab sie seufzend zurück: „Ich kann mir eine Beziehung mit einer anderen Frau nun einmal nicht vorstellen. Ich kann ihr nicht geben, was sie braucht und das wäre nicht fair. Und davon abgesehen ist sie doch beinahe noch ein Kind. Dennoch hätte ich die letzten Wochen ohne sie mit Sicherheit nicht überlebt. Und nun ist sie fort!“
 

Tiny nahm Margaretes Hand in seine.
 

Auf dem rumpelnden Pferdekarren nahm Claire Mcclaine neben Helena Platz und streichelte ihr mit einem mütterlichen Lächeln über die Wange. Dann begann sie wortlos, Helenas wilde schwarze Mähne zu einem ordentlichen Zopf zu flechten.
 

Heute war neue Ware eingetroffen. Noah hatte sie mit dem Pferdekarren vom Bahnhof geholt und war nun dabei, die Kisten ins Lager zu schaffen. Joe hatte beschlossen ihn dies heute allein tun zu lassen, um ihn ein wenig zu fordern.
 

Christian leistete Noah Gesellschaft, hatte die Arme auf dem Pferderücken abgelegt und schaute dem Jungen bei seiner Schufterei zu, während dieser wiederum sein Bestes tat, ihn zu ignorieren.

Es war recht warm für einen Maitag und Noah schwitzte unter dem schweren Gewicht der Kisten. Schließlich zog er sein Hemd aus und setzte seine Tätigkeit im Unterhemd fort:
 

„Du hast Muskeln bekommen!“ stellte Christian anerkennend fest: „Gefällt mir!“
 

„Das kommt von der schweren Arbeit!“ gab Noah grollend und auch ein wenig verlegen zurück: „Apropos: Was hältst du davon, mir zu helfen, anstatt nur da herumzustehen und zu glotzen?“
 

„Nö, keine Lust. Ich genieße gerade die Aussicht!“ erklärte Christian grinsend und fügte frech hinzu: „Du kannst ruhig noch mehr ablegen, wenn es dir zu warm ist! Das würde mich überhaupt nicht stören!“
 

Gegen seinen Willen musste Noah schmunzeln:

„Du bist eine Nervensäge, weißt du das?“ gab er zurück:
 

„Weiß ich! Und weißt du was? Ich denke, ich werde dir doch helfen, um mich bei dir einzuschmeicheln!“ verkündete Christian und begann zuzupacken.

Christian mochte im vergangenen Jahr zwar schmal geworden sein, aber Kraft besaß er immer noch reichlich, stellte Noah im Stillen fest. Bei ihm wirkte die Arbeit beinahe mühelos.

Als sie fertig waren, saßen er und Christian nebeneinander auf der Laderampe und ruhten sich aus.
 

Nach einer Weile erklärte Christian:

„Ich habe darüber nachgedacht, was ich tun kann, damit du mich wieder zurücknimmst und da kam mir eine Idee. Du kannst es nicht vergessen, was ich getan habe…dass…dass ich dich geschlagen habe. Das kann ich verstehen! Darum will ich nun, dass du mir heimzahlst, was ich dir angetan habe. Du kannst mich schlagen, so fest und so oft, wie du es für richtig hältst!“
 

Noah blickte ihn erschrocken an und Christian beeilte sich hinzuzufügen:

„Keine Angst! Ich werde mich nicht wehren! Versprochen! Oder du kannst mich vorher fesseln, wenn du dich dann sicherer fühlst!“
 

„Das ist eine furchtbare Idee!“ erwiderte Noah fassungslos: „Ich habe noch niemals jemanden geschlagen und dir werde ich das mit Sicherheit nicht antun!“
 

„Ich habe schon oft in meinem Leben Prügel bezogen. Ich stecke das weg, keine Sorge!“ versicherte Christian: „Hauptsache, die Dinge zwischen uns beiden kommen wieder in Ordnung!“
 

Noah schüttelte den Kopf und erwiderte heftig:

„So funktioniert es aber nicht! Du musst verrückt geworden sein? Ich werde das nicht tun! Niemals!“
 

Christian blickte ihn traurig an:

„Ich will doch bloß, dass du mir wieder vertraust. Was kann ich denn bloß tun?“
 

Noah zuckte ratlos mit den Schultern.
 

Die Ansprache der Frauenrechtlerinnen aus Boston stieß in Millers Landing nicht bei allen Bürgerinnen und Bürgern auf Zustimmung, doch Justine trug ihr Anliegen eloquent und sachlich vor und ließ sich auch von wütenden oder beleidigenden Zwischenrufen nicht aus dem Konzept bringen. Sie hatte eine sehr durchdringende Stimme, wenn sie wollte und obwohl sie nicht sehr groß war, taten ihr Auftreten und Ernsthaftigkeit das Ihrige dafür, dass die Menschen ihr zuhörten. Auf freche Zwischenfragen gab sie entwaffnende Antworten und schaffte es sogar einige Male, die Zuhörerinnen und Zuhörer zum Lachen zu bringen.

Insgesamt schien es tatsächlich eine erfolgreiche Veranstaltung zu werden.
 

Alarmiert durch die Lauten Stimmen und die Menschenmenge, die sich auf dem kleinen Platz vor dem Rathaus gebildet hatte, trat Sheriff Snyder vor die Tür des Departments und sah dem Treiben eine Weile zu.

Als er herausfand, worum es ging, rief er nach seinem Deputy:

„Jimmy, ich denke wir sollten diesem Schwachsinn ein Ende machen und die verdammten Weiber zur Hölle jagen!“ erklärte er grimmig.
 

James verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf:

„Tut mir leid, Sheriff, aber ich bin nicht ihrer Ansicht. Die Frauen haben ein Recht, hier zu sprechen und offen gesagt unterstütze ich ihre Sache. Und es sieht doch alles friedlich aus. Sollte die Angelegenheit aus dem Ruder laufen, bin ich sofort da, aber im Augenblick schlage ich vor, die Damen einfach sprechen zu lassen!“
 

„Hast du den Verstand verloren Junge? Das hier ist keine Diskussion! Ich gebe dir einen Befehl!“ bellte Snyder.
 

James blickte ihn finster an und rührte sich nicht.
 

„Willst du deinen Job loswerden Jimmy?“ fragte Snyder fassungslos: „Das kannst du haben, wenn du nicht tust, was ich sage!“
 

„Es tut mir leid, Sheriff, aber ich muss in dieser Sache meinem Gewissen folgen!“ erwiderte James ernsthaft.
 

Snyder kochte vor Wut, doch allein konnte er das Pack nicht vertreiben.

Er hatte auch nicht wirklich die Absicht, Jimmy seinen Stern wegzunehmen, denn er verspürte wenig Lust, schon wieder einen neuen Grünschnabel einzuarbeiten. Und auch wenn dieser Bursche ihm im Grunde viel zu weich war, hatte sein Deputy doch bisher einen ganz vernünftigen Job gemacht.
 

Aber er konnte ihn andererseits auch nicht einfach so davonkommen lassen, sonst würde der Junge ihm zukünftig auf der Nase herumtanzen, also sagte er:

„Also gut Jimmy! Dieses eine Mal bekommst du deinen Willen, aber sei dir über eines im Klaren: Diesen heutigen Tag werde ich nicht vergessen! Wenn du dich mir auch nur noch ein einziges Mal widersetzt, bist du nicht nur deinen Job los, sondern ich werde dann auch dafür sorgen, dass du in Millers Landing kein Bein mehr an die Erde bekommst! Hast du verstanden, Junge?“
 

James nickte:

„Verstanden!“ erklärte er knapp und kehrte ins Department zurück.
 

Lydia Snyder stand am Rande der Kundgebung und tat so, als würde sie sich etwas in einem Schaufenster betrachten, doch in Wirklichkeit lauschte sie mit klopfendem Herzen den Worten der Rednerin. Sie hatte einen kurzen Blick auf sie werfen können. Die Frau war nicht viel jünger als sie selbst und doch war sie so ganz anders! Die Menschen hörten ihr zu, obwohl das, was sie zu sagen hatte den meisten Leuten mit Sicherheit nicht passte. Niemand wollte hingegen hören, was Lydia zu sagen hatte, nicht einmal ihr eigener Ehemann und aus diesem Grund hatte sie das Sprechen schon vor geraumer Zeit weitgehend eingestellt.

Manchmal stellte Lydia sich auf der Straße absichtlich Leuten in den Weg; nur um sich zu vergewissern, dass sie noch vorhanden war; nur um sicherzugehen dass die Menschen nicht mittlerweile einfach durch sie hindurch laufen konnten, als sei sie nichts weiter als dünne Luft.
 

Und nun stand da diese Dame aus der Großstadt und sprach über verschenkte weibliche Potenziale, darüber, dass das Leben einer Frau nicht vorüber sei, wenn sie Kinder erzogen hatte. Sie sprach über Bildung, Wahlrecht, berufliche Verwirklichung für Mädchen und Frauen Es war als spräche sie direkt zu Lydia; als würde sie sie und ihr Leben kennen. Sie wollte sich jedes der Worte einprägen, weil sie so wichtig und kostbar waren!
 

Plötzlich erschrak Lydia, denn sie konnte ihren Mann vor dem Department stehen sehen. Zum Glück hatte er sie nicht gesehen, denn er war gerade dabei gewesen, den Deputy anzuschreien.

Lydia bückte sich nach einem Flugblatt, das irgendjemand auf den Boden geworfen hatte und ließ es unauffällig in ihrer Schürzentasche verschwinden. Dann machte sie sich rasch aus dem Staub.
 

Bob saß in seiner Zelle und spitzte die Ohren. Wie gut, dass er halb Wolf war. So konnte er hören, was heute da draußen auf der Straße vor sich ging. Einerseits konnte er diese Weiber von drüben aus dem roten Haus hören und den Schwachsinn über Rechte für Frauen, von dem sie die Leute überzeugen wollten.

Aber viel interessanter war das Gespräch zwischen dem Sheriff und dem lieben kleinen Jimmy. Das war genau die Gelegenheit, auf die Bob gewartet hatte.

Er grinste in sich hinein.
 

Das hatte James gewiss nicht erwartet, als seine Vermieterin Ms. Meyer anklopfte, um ihm mitzuteilen, dass er Damenbesuch habe.

Er war heute zuhause geblieben, weil er das Gefühl hatte, sich Melody gegenüber ein wenig rarmachen zu müssen, um nicht zu bedürftig, oder zu anhänglich zu wirken. Halb hatte er gehofft, dass sie vielleicht Sehnsucht nach ihm bekommen hatte und deswegen zu IHM gekommen sei, doch schon im nächsten Moment wurde ihm klar, wie absurd das war. Melody würde ihn nicht kompromittieren wollen. Sie würde ihn niemals zuhause aufsuchen.

In Wirklichkeit war es aber ausgerechnet Justine Carpenter, welche in seiner Tür erschien. Als er den ersten Schrecken verwunden hatte, erkundigte James sich kühl:
 

„Was kann ich für sie tun, Madame?“
 

„Ich bin gekommen, um mit ihnen über unsere gemeinsame Freundin zu sprechen.“ erwiderte Justine mit einem kleinen Schmunzeln.
 

James betrachtete sie misstrauisch:

„Hat sie sie geschickt!“ wollte er wissen.
 

Justine lachte warm und kehlig, wobei sie den Kopf in den Nacken legte und erwiderte:

„Ganz sicher nicht! Und es wäre ihr gewiss nicht recht, wenn sie wüsste, dass ich jetzt hier bei ihnen bin.“ Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Sie ist ein ganz besonderer Mensch, unsere Kathryn, denken sie nicht, Deputy? Sie ist scharfsinnig, stark, wunderschön…“ dann ergänzte sie mit einem unverschämten kleinen Grinsen: … und sie hat die geschicktesten Hände und die talentierteste Zunge, die man sich nur vorstellen kann!“
 

James blickte Justine elend an und fragte:

„Sind sie gekommen, um mich zu verspotten und ihren Triumph zu genießen, Madame Carpenter?“
 

Justine lächelte herzlich und antwortete kopfschüttelnd:

„Ganz im Gegenteil, junger Mann! Ich bin hier, um ihnen zu helfen.“
 

Nun war James wirklich gespannt, wie diese Frau ihm helfen wollte:
 

„Kathryn und ich haben im Augenblick eine wunderbare Zeit.“ fuhr Justine fort: „Sie ist gelöst und zufrieden bei mir, doch der einzige Grund, warum sie das zulassen kann ist jener, dass sie weiß, dass das mit uns nicht für immer ist. Sicherlich, sie schätzt und bewundert mich, aber sie liebt mich nicht. Ihr Herz ist nicht in Gefahr. Nicht so, wie bei ihnen, Deputy!“ James zog skeptisch eine Augenbraue hoch, doch Justine fuhr fort: „Sie hat sie zurückgewiesen, weil sie es sich selbst leicht machen wollte. Kathryn hat bereits einmal geliebt und verloren. Dieses Risiko will sie nicht wieder eingehen. Doch ich bin mir ganz sicher, dass sie sie liebt!“
 

„Das fällt ihr aber reichlich spät ein, Madame Carpenter!“ unterbrach James sie ärgerlich: „Sie hat mich wie Dreck behandelt. Und gerade in dem Moment, da es mir endlich wieder ein wenig besser geht, will Kathryn mich zurück? Warum? Kann sie es nicht ertragen, dass ich ohne sie glücklich bin! Will sie mich wiederhaben, um mich dann erneut in mein Unglück zu stürzen? Ich ertrage das sicherlich kein zweites Mal.“

Den letzten Satz hätte James am liebsten zurückgenommen, denn er war so bitterlich wahr und er fühlte sich nackt.
 

Lächelnd schüttelte Justine den Kopf:

„Sie haben eine Menge Ärger in sich Deputy. Das zeigt mir, dass hier starke Gefühle im Spiel sind. Sie und Miss Melody sind wirklich ein sehr hübsches Paar, aber ich denke, wir wissen beide, dass diese Verbindung mehr mit körperlicher Anziehung als mit Liebe zu tun hat. Und aus Erfahrung weiß ich, dass diese Art der Attraktion vergänglich ist. Das, was sie jedoch mit Kathryn verbindet ist wesentlich größer und haltbarer als das. Ich werde in einem Monat fort sein und Kathryn wird zu meinem Bedauern nicht mit mir kommen. Der Weg ist dann für sie beide frei!“
 

Ein Gespräch wie dieses hatte James sicher nicht erwartet. Er fragte stirnrunzelnd:

„Und was denken sie sollte ich tun?“
 

Justine holte tief Luft. ehe sie antwortete:

„Ich weiß, sie sind ein sensibler junger Mann und glauben, einer kraftvollen, manchmal auch ein wenig handfesten Frau wie Kathryn nicht gewachsen zu sein, doch ich möchte sie ermutigen, ihre Empfindlichkeit ein wenig zu überwinden und um sie zu kämpfen. Sie ist es wert! Wenn sie sie wirklich lieben, dann lassen sie sich von der rauen Fassade nicht täuschen. Versuchen sie, zu ihr durchzudringen. Sie wird es ihnen nicht leicht machen, also überwinden sie ihre sanfte Natur ein wenig und seien sie bestimmt und entschlossen.“
 

James vernahm die Worte nicht ohne ein wenig Groll, doch leider musste er sich eingestehen, dass das, was Justine Carpenter sagte vernünftig klang.

„Warum tun sie das für mich?“ fragte James skeptisch.
 

„Wenn ich ehrlich sein darf? Ich tue das gar nicht für sie, sondern für Kathryn.“ gab Justine zurück: „Denn auch, wenn sie auch mich nicht liebt, ich liebe sie sehr wohl! Ich will nur eines uns zwar dass sie glücklich ist!“

Mit diesen Worten erhob sich Justine und wandte sich zum Gehen, doch James musste noch etwas loswerden:
 

„Sie haben keine Ahnung davon, welchen Hass ich in den letzten Wochen gegen sie gehegt habe, Madame.“

Justine wandte sich um und ließ noch einmal ihr warmherziges Lachen erklingen, ehe sie antwortete:

„Ich denke, das ist wohl verständlich!“

Dann war sie verschwunden.
 

James blieb zurück und schüttelte erstaunt den Kopf.
 

Als Noah an diesem Abend am roten Haus ankam, um nach Alice zu sehen, fand er sie auf der Bank vor dem Wohnhaus eng umschlungen mit Helena. Die Mädchen waren so versunken ineinander, dass sie Noahs Ankunft gar nicht mitbekommen hatten. Er drehte sich höflich ein wenig zur Seite und räusperte sich geräuschvoll, um sich bemerkbar zu machen. Die beiden schreckten auf und Alice errötete, als sie ihren Freund erblickte.

„Hallo, ihr Zwei!“ sagte er schüchtern.
 

Helena grinste:

„Hallo Noah. Schön dich zu sehen.“ begrüßte sie ihn freundlich, erhob sich und fügte hinzu: „Ich will doch mal sehen ob ich drinnen beim Kochen helfen kann!“

Damit zog sie sich höflich zurück, um den Freunden ein wenig Privatsphäre zu geben.
 

„Ich schätze, sie will uns die Gelegenheit geben, miteinander über…na ja, das hier zu sprechen.“ erklärte Alice schüchtern.
 

„Schätze ich auch!“ erwiderte Noah strahlend.
 

Er zog Alice auf die Füße und schloss sie fest in seine Arme:
 

„Ich freue mich so für dich!“ flüsterte er in ihr Ohr und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
 

Zunächst hatten sie beide nicht die Gestalt gar nicht bememrkt, die Noah heimlich hierher gefolgt war und die in diesem Moment hinter den Bäumen auftauchte.

Als Alice schließlich aufblickte, traute sie zunächst ihren Augen nicht:
 

„Was will der denn hier, zum Teufel? Den knöpfe ich mir vor!“ rief sie aus, machte sich von Noah los und wollte bereits loslaufen.
 

Noah jedoch hielt sie auf und versicherte:

„Warte bitte hier. Ich kümmere mich schon darum!“
 

Alice folgte seiner Bitte widerwillig und Noah rannte zu Christian hinüber. Dort angekommen schimpfte er:

„Sag mal, verfolgst du mich etwa?“
 

Christian zuckte mit den Schultern und erwiderte trotzig:

„Schon möglich! Was macht denn ein braver Pastorensohn an einem Ort wie diesem?“ Er deutete mit dem Kopf in Alices Richtung und fragte: „Ist der Kerl da drüben etwa dein Freund?“
 

Noah musste lachen. Christian wirkte verletzt:

„Komm` mit! Ich stelle dich vor!“ verkündete Noah und hakte ihn unter.
 

Christian folgte ihm widerstrebend. Und auch als er direkt vor ihr stand, musste er immer noch zweimal hinsehen, ehe er Alice erkannte. Noch bevor er etwas sagen konnte, trat diese bedrohlich nah an ihn heran und blaffte:

„Was schleichst du bei uns herum? Du hast hier nichts verloren. Wenn du irgendwem sagst, dass du mich gesehen hast, dann schwöre ich, dass ich dir alle Knochen breche!“
 

Alice war mit Christian auf Augenhöhe und sie plusterte sich absichtlich noch ein wenig auf, um beeindruckender zu wirken.
 

Friedfertig erwiderte Christian:

„Hallo Alice! Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Und mit einem kleinen Grinsen fügte er hinzu: „Du siehst echt gut aus!“
 

„Pfft!“ antwortete sie, reckte ihr Kinn vor und ging an ihm vorbei ins Wohnhaus, wobei sie ihn mit einer Schulter absichtlich anrempelte.
 

„Deine Freundin ist wirklich furchterregend!“ meinte Christian, als sie fort war.
 

„Sie hat Angst!“ erklärte Noah in ernsthaft: „Ihre Familie darf sie hier auf keinen Fall finden. Es sind schlimme Leute!“
 

Christian nickte:

„Sag´ ihr, von mir erfährt niemand etwas!“
 

„Mache ich!“ versicherte Noah und fügte hinzu: „Übrigens wäre ich auch froh, wenn du niemandem erzählst, dass du mich hier gesehen hast, auch wenn ich dir nicht glaubhaft mit körperlicher Gewalt drohen kann. Meine Eltern wären von meinem Hiersein sicher nicht begeistert!“
 

„Verstehe!“ antwortete Christian. Die beiden setzten sich auf die Bank und er wollte wissen: „Hat sich Alice deswegen so verkleidet, weil sie nicht gefunden werden will?“
 

„Ich denke, das ist mehr als eine Verkleidung! Ich schätze, sie gefällt sich so!“ erklärte Noah. Dann fragte er: „Hast du Hunger? Ich kann drinnen nachsehen, ob es etwas gibt?“
 

Christian zuckte schwach mit den Schultern. Er wollte nicht zuzugeben, dass er tatsächlich schon wieder eine Weile nichts gehabt hatte.
 

Noah verstand ihn auch so. Er lächelte ihm freundschaftlich zu und verschwand im Haus. Wenig später kam er mit einem Glas Milch und zwei Broten zurück, welche Christian sofort hungrig vertilgte.

Eine Weile lang saßen die beiden nebeneinander und Noah erzählte Christian, was Alice und ihn mit diesem Haus verband.

Plötzlich tauchte Sam bei ihnen auf. Noah erhob sich, umarmte ihn zu Begrüßung und erklärte dann:

„Sam, das hier ist Christian!“
 

Der Junge wurde schlagartig ernst. Er kniff finster die Augen zusammen, verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und erklärte an Christian gerichtet:

„Ich habe von dir gehört!“ Und mit grollender Stimme fügte er hinzu: „Tu´ ja nicht meinem Freund weh, sonst kriegst du es mit mir zu tun!“
 

Christian verkniff sich ein Grinsen angesichts des mutigen Auftretens des schmächtigen Jungen und antwortete:

„Werd´ ich nicht! Versprochen!“
 

Sam nickte und stolzierte davon.

„Was war das denn? Wer war der Kleine?“ wollte Christian wissen.
 

„Das hast du doch gehört: Das war mein Freund! Er passt auf mich auf!“ erwiderte Noah, der Sam lächelnd hinterher schaute. Dann fragte er: „Warum bist du mir denn nun gefolgt? Was soll das, Christian?“
 

Dieser senkte den Kopf und antwortete verlegen:

„Mich hat interessiert, wo du nach Feierabend immer hingehst. Ich wollte wissen, ob du einen Freund hast. Du hast mir diese Frage nicht beantwortet.“
 

„Und wenn es so wäre? Was würdest du dann tun? Würdest du ihn verprügeln, wie du es mit mir gemacht hast?“
 

Christian schüttelte den Kopf:

„Nein! Ich habe doch gesagt, so bin ich nicht mehr!“ und bedrückt fügte er hinzu: „Aber ich wäre traurig, wenn es so wäre!“
 

Noah legte seine Hand auf die von Christian:

„Es gibt niemanden!“ antwortete er.

Es begann langsam zu dämmern und Noah erklärte, dass er vor der Dunkelheit zuhause sein müsse.
 

„Ich könnte dich begleiten?“ schlug Christian vor.
 

„Ich habe eine bessere Idee: ICH bringe DICH nachhause! Dann weiß ich künftig auch, wo ich dich finden kann. Wo wohnst du denn eigentlich momentan?“ wollte Noah wissen.
 

„Es würde dir dort sicher nicht gefallen. Es ist ein ziemliches Drecksloch. Ein verlassenes Haus am Stadtrand!“ erklärte Christian unsicher:
 

„Zeig´ es mir!“ bat Noah.
 

Christian zögerte kurz, doch dann stimmte er zu.
 

Noah verabschiedete sich vorher noch von allen und dann machte er sich mit Christian auf den Weg. Es zeigte sich, dass dieser nicht übertrieben hatte: Bei seiner Bleibe handelte es sich wirklich um ein Drecksloch! Das konnte Noah schon von außen erkennen.
 

„Immerhin regnet es nicht rein!“ erklärte Christian entschuldigend und fügte schmunzelnd hinzu: „Zumindest nicht an der Stelle, wo mein Bett steht. Willst du mit hinein kommen?“
 

Christian in ein leer stehendes Haus zu folgen, in welchem sich seine Schlafstatt befand, behagte Noah nicht. Er schüttelte den Kopf:

„Tut mir leid! Ich muss nachhause. Wir sehen uns!“ antwortete er und wollte gehen.
 

„Warte!“ sagte Christian: „Ich würde dich gern umarmen. Darf ich?“
 

Noah war sich sicher, dass es ein Fehler sein würde und dennoch konnte er nicht anders. Christian umfasste ihn zunächst sehr sanft und vorsichtig, doch dann drängte er sich enger an ihn und schließlich fanden seine Lippen Noahs Hals und küssten ihn dort.

Noahs Atem beschleunigte sich. Es fühlte sich fantastisch an; fantastisch, aber auch falsch! Er rief sich zur Ordnung, schob Christian sanft von sich und wiederholte:

„Wir sehen uns!“ dann rannte er nachhause, als sei der Teufel hinter ihm her.

Zarte Bande

Als Noah an diesem Montagmorgen das Pfarrhaus verließ, um zur Arbeit zu gehen, erschrak er über den Anblick, der ihn dort erwartete. Am Boden sitzend und an den Stamm einer dicken alten Eiche gelehnt erblickte er Christian, dessen Haar und Hemd blutverschmiert waren. Es sah aus, als schliefe er.

Das hoffte Noah zumindest!
 

Vorsichtig näherte er sich dem anderen Jungen, ging in die Knie, streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Die Haut war eiskalt und Noah zog seine Finger rasch wieder zurück. Er atmete vor Schreck heftig ein, denn er fürchtete das Schlimmste, doch in diesem Moment begann Christian, sich zu rühren. Er hustete. Noah hockte sich neben ihn, blickte ihn besorgt an und sagte sanft:

„Mein Gott, ich haben gedacht, du wärst tot! Du bist ja ganz kalt!“
 

Mit kratziger Stimme erwiderte Christian:

„Du wärst sicher auch kalt, wenn du die ganze Nacht hier draußen zugebracht hättest!“
 

„Aber was machst du denn auch hier? Was ist dir passiert und woher kommt das ganze Blut?“ wollte Noah wissen.
 

Er ergriff Christians Hände, um sie mit seinen zu wärmen.

„Da waren ein paar Kerle drüben in meinem Haus. Sie fanden wohl, es sei nicht groß genug für uns alle, also haben sie mich verprügelt und rausgeworfen. Sie waren zu viert und ich konnte einfach nichts machen.“ erklärte Christian und obwohl er es mit aller Kraft zu verhindern versuchte, liefen ihm ein paar Tränen die Wangen hinab.
 

Noah streichelte sanft seine linke Gesichtshälfte, welche scheinbar nicht abbekommen hatte und fragte flüsternd:

„Warum hast du nicht an mein Fenster geklopft? Ich hätte dich doch hineingelassen.“
 

„Ich wusste nicht, welches Fenster deines ist. Ich wollte auf keinen Fall an deine Mutter geraten.“ gab Christian schniefend zurück.
 

„Der Doktor muss sich das anschauen. Du siehst wirklich übel zugerichtet aus.“ stellte Noah fest.
 

„Einen Arzt kann ich mir nicht leisten!“ entgegnete Christian: „Ich brauche nur einen Platz, wo ich mich für ein paar Stunden hinlegen kann, dann wird das schon wieder! Kann ich mich nicht bei euch im Lagerraum des Geschäfts ausruhen?“
 

„Mach dir über das Geld keine Sorgen. Ich kümmere mich schon darum!“ versicherte Noah, doch Christian schüttelte entschlossen den Kopf, was er jedoch gleich darauf bereute, da es seine Kopfschmerzen als Folge seiner Verletzungen nur noch verschlimmerte:
 

„Kommt nicht in Frage! Du sorgst doch ohnehin schon für mich! Ich brauche keinen Arzt! Basta!“ erwiderte er heftig.
 

Noah blickte ratlos auf den Verletzten hinab. Schließlich schlug er vor:

„Lass` uns zum Laden hinübergehen und sehen, was Joe dazu sagt!“
 

Christian erhob sich stöhnend mit Noahs Hilfe, stützte sich auf ihn und setzte sich langsam und wankend in Bewegung. Er war etliche Kilos schwerer als Noah, was die Fortbewegung und Unterstützung mühsam gestaltete.
 

Als sie im Laden ankamen, ließ sich Joe erklären, was vorgefallen sei. Noah schilderte ihm die Situation in kurzen Worten.
 

„Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du dich hier auf den harten Boden legst. Ein Doktor muss sich deine Verletzungen ansehen und du brauchst ein richtiges Bett.“ bestimmte Joe nun nachdrücklich.
 

Christians Gesichtsausdruck war verschlossen und er schüttelte trotzig den Kopf.
 

Joe seufzte ärgerlich und schlug dann vor:

„In Ordnung! Dann schließen wir kurz den Laden, bringen dich rüber zum roten Haus und ich hole Rebecca, damit sie sich um deine Verletzungen kümmert!“
 

„Meinst du etwa meine frühere Lehrerin?“ fragte Christian verwundert: „Was kann die denn schon tun?“
 

„Sie kennt sich ein wenig mit Medizin aus. Mich hat sie auch schon einmal zusammengeflickt und da sah ich deutlich übler aus, als du heute.“ versicherte Joe.
 

Beide Jungen blickten ihn verwundert an, doch Joe verspürte keine Lust, ihnen ausführlich davon zu berichten, also sagte er lediglich:

„Das ist eine lange Geschichte!“
 

Joe und Noah fassten Christian unter und brachen auf. Kurz vor dem Ziel ließ Joe die beiden Jungen allein weitergehen und rannte hinüber zur Schule.
 

Von weitem konnte Alice, welche gerade mit Sam vor dem Haus Karten spielte Noah mit dem Verwundeten ausmachen. Sie rannte hinüber, zog bei Christians Anblick kurz fragend eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts und half dabei, den Verletzten ins Haus zu schaffen.

Sie legten ihn auf das Sofa im Gemeinschaftsraum und einige der Frauen, die bis dahin in der Küche beim Kaffee gesessen hatten, folgten ihnen.
 

Kathryn war eine von ihnen und erkundigte sich stirnrunzelnd:

„Wer ist denn dieser Bursche? Und was ist mit ihm passiert?“
 

„Er ist so etwas wie ein Freund von mir. Sein Name ist Christian. Er wurde verprügelt!“ erklärte Noah kleinlaut.
 

„Pft! Von wegen Freund!“ kommentierte Alice seine Worte.
 

Kathryn und die anderen Frauen blickten sie fragend an und Alice erläuterte:

„Früher hat er Noah geschlagen und bedroht, aber jetzt will er sich scheinbar mit ihm verloben, oder was auch immer. Wer weiß, was als nächstes kommt? Ich würde ihn an eurer Stelle lieber genau im Auge behalten!“
 

„Komm` schon Alice!“ erwiderte Noah unbehaglich: „Christian ist verletzt! Wirkt er gerade etwa besonders gefährlich auf dich?“

Zur Bestätigung seiner Worte nahm Noah Christians Hand und ihre Finger verschränkten sich ineinander.
 

Alice zog verächtlich eine Augenbraue hoch.
 

Kathryn schaltete sich ein:

„Ich finde es auch vernünftig, den Burschen im Auge zu behalten, aber im Augenblick sieht es so aus, als bräuchte er jetzt erst mal medizinische Versorgung!“
 

„Joe holt Miss Miller herüber. Christian hat nämlich kein Geld für einen Arzt.“ erwiderte Noah schnell.
 

„Und wo sind deine Eltern?“ wollte Kathryn von Christian wissen: „Warum kümmern sie sich nicht um dich?“
 

Noah wollte darauf antworten, doch Christian schüttelte den Kopf, richtete sich auf und begann, den Anwesenden seine Geschichte zu erzählen, ohne etwas auszulassen. Er gestand seine unrühmliche Geschichte mit Noah, erklärte, warum seine Eltern ihn hinauswarfen, von John und wie er von diesem zurückgelassen worden war, wie er danach sein Geld verdient hatte und dass er nun wiedergekommen war, um in Noahs Nähe zu sein.

An dieser Stelle legte Noah ihm sacht von hinten die Hände auf die Schultern, wie, um ihm den Rücken zu stärken.
 

Alice verdrehte bei dem Anblick die Augen, doch als Ihr bester Freund konnte Noah ihr ansehen, dass Christians Geschichte sie nachdenklich gestimmt hatte und sie lediglich deshalb an ihrer Ablehnung festhielt, weil sie dies für ihre freundschaftliche Pflicht hielt.
 

Als Christian geendet hatte kommentierte Shy scharfzüngig:

„Dies war einmal ein Freudenhaus. Dann wurde es zu einem Gästehaus, aber mittlerweile kommt es mir immer mehr wie ein Waisenhaus vor!“
 

Die anderen Frauen lachten ein wenig darüber.
 

In diesem Moment kam Joe mit Rebecca herein. Er hatte sie für ihren Rettungseinsatz aus dem Unterricht holen müssen.
 

Sie musterte den Jungen kritisch:

„Hallo Christian! Ich bin überrascht, dich wiederzusehen, aber mehr noch hat es mich überrascht von Joe zu erfahren, dass ausgerechnet Noah wünscht, dass ich dich wieder in Ordnung bringe! Früher war es doch eher so, dass Noah derjenige war, der geblutet hat und du warst der Grund dafür, richtig?“

Rebeccas Tonfall war streng und ganz und gar die Lehrerin.
 

Christian blickte betreten zu Boden:

„Hallo Miss Miller! Danke, dass sie gekommen sind.“ erwiderte er kleinlaut, weil er sonst nichts darauf zu erwidern wusste.
 

Rebecca bat darum, dass alle anderen das Zimmer verlassen mögen, doch Noah bestand darauf, dabei zu bleiben. Joe verabschiedete sich indes, um in den Laden zurückzukehren. Noah versprach, baldmöglichst nachzukommen.
 

Rebecca forderte Christian auf, Hemd und Hose auszuziehen. Der Junge blickte sie unsicher an, doch Rebecca erklärte ungeduldig:

„Ich muss sehen, wie ernsthaft deine Verletzungen sind. Das kann ich nicht, wenn du angezogen bist, also mach schon! Ich habe heute noch etwas anderes vor!“
 

Christian tat schließlich, wie ihm geheißen wurde und Rebecca begutachtete und befühlte die Verletzungen, hieß den Jungen, verschiedene Bewegungen auszuführen und reinigte und verpflasterte die Kopfwunde:

„Du kannst dich wieder anziehen!“ sagte sie schließlich.
 

Als er damit fertig war erklärte sie:

„Du hast dir zum Glück nichts gebrochen, außer vielleicht ein paar Rippen. Du hast ziemlich viele Prellungen und vielleicht auch eine kleine Gehirnerschütterung. Du solltest eine Weile liegen bleiben und dich auskurieren. Und vor allem halte dich aus Schlägereien heraus! Das solltest du dir vielleicht grundsätzlich zur Regel machen!“
 

Christian nickte und erwiderte:

„Ich bemühe mich heutzutage darum, Miss Miller, wirklich! Aber manchmal ist es eben nicht meine Entscheidung!“
 

Rebecca quittierte diese Erklärung mit einem Kopfschütteln:
 

„Ich danke ihnen, Miss Miller!“ murmelte Christian:
 

„Ja, danke!“ schloss Noah sich an. Er hatte sich neben Christian gesetzt und dessen Hand genommen.

Der Anblick dieses seltsamen Paars veranlasste Rebecca erneut, den Kopf zu schütteln. Dann verabschiedete sie sich.
 

Noah ließ Christian im Gemeinschaftsraum zurück und ging hinüber in die Küche:

„Christian braucht einen Platz, um sich auszuruhen.“ erklärte er kleinlaut: „Darf er wohl für eine kleine Weile hier bei euch bleiben? Ich verbürge mich dafür, dass er keinen Ärger macht. Und ich werde für das, was er isst bezahlen!“

Noah schenkte den Frauen einen flehenden Blick:
 

„Und wo soll er schlafen?“ wollte Kathryn wissen.
 

Nun überraschte Alice die Anwesenden, indem sie vorschlug:

„Der Blödmann könnte in meinem Bett liegen. Ich schlafe ja sowieso so gut wie nie dort!“ Noah schenkte ihr einen dankbaren Blick und so beeilte Alice sich hinzuzufügen: „Aber das ist nur vorübergehend, kapiert!“
 

Die Bewohnerinnen des Hauses kamen überein, dass sie den verletzten Jungen nicht einfach vor die Tür setzen konnten und so war es beschlossen und Christian wurde hinüber ins andere Haus gebracht.
 

„Kannst du dich um ihn kümmern, bis ich nach Feierabend hier bin?“ wollte Noah von Alice wissen. Diese verdrehte genervt die Augen und erklärte:
 

„Er sollte lieber keine allzu große Fürsorge erwarten. Ich bin schließlich keine Krankenschwester!“

Noah grinste und drückte Alice einen geräuschvollen Kuss auf die Wange, ehe er verschwand.
 

Nach dem Mittagessen saßen Alice und Helena auf der Veranda. Alice wirkte ernst und in sich gekehrt und Helena wollte wissen:

„Fehlt dir etwas, Süße?“
 

Alice blickte nachdenklich zu ihr auf und stellte eine Gegenfrage:

„Was wird eigentlich aus uns beiden, wenn ihr hier fertig seid? Wo wirst du dann hingehen?“
 

Helena lächelte:

„Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber wo immer es sein wird, ich hoffe, wir gehen dort gemeinsam hin!“
 

„Ehrlich?“ fragte Alice skeptisch: „Du siehst eine Zukunft für uns beide?“
 

„Du nicht?“ erkundigte sich Helena plötzlich verunsichert.
 

Alice zuckte mit den Schultern und erwiderte missmutig:

„Ich weiß nicht! Ich habe immer noch Angst davor, dass du irgendwann aufwachst und merkst, dass alles ein Fehler gewesen ist. Ich wusste schon immer, was ich bin, aber für dich ist das alles ganz neu. Vielleicht kannst du ja wieder normal werden, dann musst du nicht erleben, wie schwer es sein kann.“ Sie schluckte und fügte hinzu: „Das will ich nicht für dich!“
 

Helena blickte sie bestürzt an und fragte:

„Denkst du, das hier ist nur ein Spiel für mich? Etwas Neues, was ich ausprobiere, weil ich mich langweile?“
 

„Das vielleicht nicht.“ erwiderte Alice kleinlaut: „Aber ich bin mir nicht sicher, ob du weißt, was es bedeutet, anders zu sein. Hier in diesem Haus gibt es andere, die so sind wie wir und der Rest von ihnen akzeptiert uns, aber da draußen in der Welt ist es anders! Dort gibt es Leute die uns hassen und die Angst vor uns haben! Hast du dir schon überlegt, was deine Eltern sagen würden, wenn du mich ihnen vorstellen würdest? Oder deine Freunde?“
 

„Denkst du, dass ich darüber nicht bereits nachgedacht hätte, Alice?“ gab Helena aufgebracht zurück: „Hältst du mich etwa für naiv?“
 

Alice schüttelte den Kopf:

„Nein, ich halte dich für sehr klug!“ erwiderte sie: „Sicher hast du darüber nachgedacht, aber du weißt noch nicht, wie es sich ANFÜHLT! Das ist dir doch noch nie passiert! Du bist schön; viel schöner als die meisten Mädchen, außerdem intelligent, interessant und gebildet. Aber was, wenn dir das alles nun nicht mehr weiterhilft? Ich kann dich davor nicht beschützen!“ Tränen standen in ihren Augen.
 

„Was bringt dich bloß auf die Idee, dass du mich vor irgendetwas beschützen musst? Wenn überhaupt beschützen wir uns gegenseitig! Oder ich dich, denn ich bin schließlich die Ältere!“ erwiderte Helena und schüttelte unwirsch den Kopf. Dann fügte sie hinzu: „Du tust die ganze Zeit so, als hätte ICH die Wahl! Ich bin genau wie du, nur mit dem Unterschied, dass ich es eben bislang noch nicht wusste. Es tut mir leid, Engelchen, aber es gibt kein Zurück mehr, hörst du? Du hast mich am Hals!“
 

Alice lächelte:

„Wirklich? Da bin ich froh!“ antwortete sie und sie küssten sich.
 

Nach Feierabend machte sich James auf den Weg zum roten Haus, denn er war mit Melody verabredet. Er lächelte in sich hinein, denn eine richtige Verabredung konnte man es eigentlich nicht nennen, denn es lief im Grunde immer gleich ab: sie gingen hinauf in ihr Zimmer, entledigten sich ihrer Kleider und liebten sich.

Melody war eine geduldige Lehrerin und er ein aufmerksamer Schüler.
 

Später, als sie ruhig Arm in Arm beieinander lagen, fiel James das merkwürdige Gespräch mit Justine Carpenter wieder ein und er berichtete Melody davon.
 

Diese richtete sich ein wenig auf, stützte den Kopf auf ihre Hand und hörte aufmerksam zu. Als James geendet hatte kommentierte sie:

„Na, wenn das nicht interessant ist! Scheinbar haben wir erreicht, was wir wollten. Unsere wunderbare Kathryn will dich wiederhaben. Das muss dich doch freuen?“

James blickte unglücklich zu ihr hinüber, ohne zu antworten und Melody erkundigte sich stirnrunzelnd:

„Was ist? Das wolltest du doch, oder nicht?“
 

James ließ sich laut seufzend auf den Rücken plumpsen:

„Sicher! Das habe ich mir gewünscht. Doch nun, wo es so ist, fühle ich mich verwirrt und ein bisschen traurig.“
 

Melody beugte sich über ihn, küsste seine Wange und strich ihm durch die Locken:

„Wieso, Liebling? Was macht dich traurig?“
 

„Was geschieht mit dir und mir, falls Kathryn und ich wieder….“
 

Melody kicherte ein wenig:

„Nun ja, ich schätze zu dritt in einem Bett wird es wohl ein bisschen eng, auch wenn ich ehrlich gesagt schon einige Male in meinem Leben über eine solche Möglichkeit nachgedacht habe. Und Kathryn muss ja wohl eine lohnende Erfahrung sein, so verrückt, wie alle immer nach ihr sind.“

witzelte sie, doch dann wurde sie wieder ernst: „Du musst dir über mich wirklich keine Gedanken machen. Verstehe mich nicht falsch! Ich habe das mit uns beiden sehr genossen, aber mir war von Anfang an klar, dass es nicht für immer ist. Und ich will, dass du zu Kathryn zurückkehrst, denn da gehörst du schließlich hin!“
 

James zog nachdenklich mit den Fingerspitzen die Form von Melodys Schlüsselbeinen nach:

„Aber wäre es für dich denn völlig einerlei wenn das, was wir beide haben plötzlich vorbei wäre? Löst es gar keine Gefühle in dir aus?“
 

Nun warf Melody sich ihrerseits auf den Rücken und fragte, ärgerlich die Zimmerdecke anstarrend:

„Was willst du denn nun hören, James? Das es mir das Herz bricht? Dass ich Kathryn die Augen auskratzen werde, wenn sie sich dir nähert. Vergiss es! So bin ich einfach nicht!“
 

„Du könntest sagen, dass es dir nicht gleichgültig ist. Oder dass dir unser Zusammensein wenigstens ein bisschen bedeutet und es mehr ist, als lediglich…“ er zögerte: „…nützlich! Mir bedeutet es nämlich etwas. DU bedeutest mir etwas!“
 

Melody verschränkte die Arme vor der Brust, biss´ die Kiefer aufeinander, spürte ihre Muskeln sich verhärten, doch James Worte bohrten sich dennoch durch ihre Haut, in ihr Fleisch und schließlich in ihr Herz. Als sie sich ihm wieder zuwandte wusste sie noch nicht, ob sie ihn schlagen oder anschreien würde. Doch stattdessen sagte sie leise:

„Du bedeutest mir mehr, als mir recht ist! Aber du liebst Kathryn und ich bin kein Trostpreis!“
 

James schluckte:

„Es tut mir leid!“ flüsterte er: „Soll ich lieber nachhause gehen?“
 

Sie schüttelte den Kopf:

„Nein, bleib!“

Sie rollte sich auf ihn, hielt seine Handgelenke mit erstaunlicher Kraft über seinem Kopf fest und küsste ihn tief und leidenschaftlich.
 

Jimmy war schon eine Weile fort. Der Sheriff ging noch einmal nach hinten in den Zellentrakt, um nach Carmichael zu sehen, ehe er selbst Feierabend machen würde.

Der Gefangene saß auf seiner Pritsche und starrte ihn an. Wie immer hatte er dabei dieses ungewaschene Grinsen auf dem Gesicht. `Was hatte dieser Kerl bloß immer zu lachen?´ dachte Snyder grimmig bei sich. Laut sagte er:

„Was glotzt du denn so, Bob?“
 

„Ach nur so!“ erwiderte der Gefangene harmlos: „Ich habe mir bloß gerade meine Gedanken über ihren Deputy gemacht. Wissen sie eigentlich, wie der seine Feierabende verbringt?“
 

„Warum sollte mich das interessieren!“ gab Snyder barsch zurück.
 

„Richtig, richtig! Warum sollte es das!“ erwiderte Carmichael im Plauderton und fügte dann listig hinzu: „Es sei denn, es wäre etwas, was ihnen und dem Ansehen des Sheriffsdepartments schadete, stimmt`s“
 

„Willst du mir etwas sagen, oder mir nur meine Zeit stehlen, Junge?“ fragte der Sheriff unwirsch.
 

„Nein, eigentlich ist es gar nichts Wichtiges. Ich hatte bloß den Eindruck, dass der Deputy sehr vertraut mit den Leuten im roten Haus wirkte, als ich dort in Gefangenschaft war. Beinahe intim, wenn sie verstehen, was ich meine?“ gab Carmichael vielsagend zurück.
 

Der Köder war sorgfältig ausgelegt.
 

„Was meinst du damit, du warst „In Gefangenschaft“? Wie lange warst du denn dort, Bob?“
 

„Eineinhalb Tage!“ antwortete Carmichael ganz selbstverständlich: „Wussten sie das etwa nicht?“
 

„Und du hast Jimmy dort gesehen? Er hat zugelassen, dass sie dich dort festhalten?“ erkundigte der Sheriff sich misstrauisch.
 

„Ich habe ihn aufgefordert, mich zu befreien und hierher ins Department zu überstellen, aber ihm war das gleichgültig. Er hat mich diesen Leuten überlassen!“ versicherte Carmichael: „Und wie ich gesagt habe, er schien ihnen allen freundschaftlich verbunden zu sein!“
 

Snyder schüttelte unwillig den Kopf:

„Ich glaube dir kein Wort, Junge! Jimmy war drüben bei den Huren, weil ich ihn damit beauftragt habe. Er sollte dich schnappen und das hat er ja schließlich auch getan. Du suchst doch nur einen Weg aus dem Knast und erzählst mir deswegen irgendein Märchen! Für den Blödsinn habe ich keine Zeit! Ich gehe jetzt nachhause!“
 

„Grüßen sie ihre Frau, Sheriff!“ rief Carmichael ihm hinterher: „Wie geht es ihr denn so. Ist alles in Ordnung zuhause?“
 

Snyder würdigte diese unverschämten Fragen keiner Antwort, sondern machte sich auf den Weg. Dennoch hatte die Unterhaltung mit dem Gefangenen ihn nachdenklich gemacht.

Jimmy schien tatsächlich eine Art eigenartige Affenliebe für diese Leute im roten Haus entwickelt zu haben. Ihm fielen nun einige Dinge wieder ein; wie betroffen sein Deputy bei dem Prozess wegen der schwarzen Hure gewesen war, wie sehr er sich später dafür eingesetzt hatte, Carmichael dingfest machen zu dürfen und nicht zuletzt gab es diese merkwürdige Weigerung vor ein paar Tagen, die Kundgebung dieser Weiber aufzulösen, die sich seit einiger Zeit in dem Bordell eingenistet hatten. Das kam ihm in der Summe nun doch irgendwie verdächtig vor!
 

Und wieso hatte Carmichael sich nach Lydia erkundigt?

Ihm war bis heute nicht einmal klar gewesen, dass der Kerl wusste, dass er verheiratet war. Geschweige denn, dass er wissen konnte, dass Lydia sich seit ein paar Tagen tatsächlich irgendwie eigenartig verhielt. Neulich hatte sie zum Beispiel einfach das Kochen vergessen.

Er hatte sich ein Brot machen müssen!

So etwas war überhaupt noch nie in den vielen Jahren ihrer Ehe vorgekommen. Wie konnte eine Frau vergessen, dass ihr Mann abends hungrig nachhause kommen würde?

Recht zu glauben war ihr das nicht!
 

Und dann hatte sie damit angefangen, ihn so merkwürdig zu mustern. In den letzten Jahren war er sich nicht einmal mehr sicher gewesen, wie die Farbe ihrer Augen war, so selten schauten sie einander an. Und nun dieser durchdringende Blick, sobald er durch die Tür kam. Fast wünschte er sich, sie möge ihn wieder ignorieren, denn derart unter Beobachtung fühlte er sich ausgesprochen unbehaglich.

Am meisten verstörte ihn jedoch, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Lydia war in ihrem Nachthemd aus dem Bad zu ihm in das Ehebett gekommen, hatte sich auf ihn gehockt und versucht ihn zu küssen. Dabei hatte sie auch noch anregend ihr Becken bewegt!

Sie hatte ihre Hand hinunter zwischen seine Beine wandern lassen. Nie zuvor, hatte sie gewagt, ihn dort zu berühren! Und selbst früher, als sie noch miteinander intim gewesen waren, war sie niemals derart initiativ geworden. Sie hätte sich auch niemals AUF ihn begeben, wie eine Hure.
 

Fast hatte Snyder ein wenig Angst gehabt, Lydia könnte von einem bösen Geist besessen sein. Er hatte sogar kurz überlegt, den Reverend danach zu fragen, doch das hätte auch bedeutet, dass er es laut hätte aussprechen müssen, was vorgefallen war und das hätte er nicht fertiggebracht. Er hatte Lydia schließlich an den Handgelenken gepackt und von sich herunter geschoben. Dann war er ins Wohnzimmer gegangen und hatte dort geschlafen.

Und das würde er heute auch wieder tun!
 

Der Wolf leckte Bob die Hände. Das war seine Art ihm zu zeigen, dass er heute gute Arbeit geleistet hatte. Der Sheriff würde bald erkennen, was zu tun war und dass sie verwandte Seelen waren.

Da entdeckte Bob etwas, dass ihn Lächeln ließ. Die Maus hatte sich endlich in seine Zelle verirrt. Er hielt ganz still und als das Tier zwischen seinen Beinen hindurch laufen wollte, griff er blitzschnell zu.

Eigentlich hatte er geplant, ihr ein langsames Ende zu bereiten, doch er hatte bereits zu lange gewartet. Ungeduld hatte sich aufgestaut. Er nahm den Kopf des Tieres in die eine Hand, den Körper in die andere und riss sie einfach in zwei Hälften.

Bobs Atem beschleunigte sich dabei und er genoss dieses unglaublich Lustgefühl, als er das warme, tiefrote Blut über seine Hände laufen sah.

Er lachte, als hätte er einen guten Witz gehört; schüttete sich geradezu aus vor Lachen und konnte sich beinahe gar nicht mehr beruhigen. Die Überreste des Tieres verbarg er unter seiner Matratze.
 

Nach der Arbeit war Noah zum roten Haus hinübergelaufen und dort umgehend zu Christian hinaufgegangen. Als er leise die Tür öffnete, erwachte dieser gerade. Verschlafen richtete er sich auf und sagte grinsend:

„Ich hatte gehofft, dass du kommst!“
 

„Aber sicher!“ erwiderte Noah lächelnd und nahm auf der Bettkante Platz: „Ich musste doch sichergehen, dass Alice dich nicht mit einem Kopfkissen erstickt hat!“
 

„Das wäre wohl nicht ihr Stil.“ erwiderte Christian: „Sie würde warten, bis ich wieder ganz gesund und bei Kräften wäre und erst dann würde sie mich zu einem Duell auf Leben und Tod herausfordern!“
 

Noah lachte und gab zurück:

„Ich schätze, damit könntest du Recht haben.“
 

„In Wirklichkeit war Alice erstaunlich nett zu mir!“ erklärte Christian: „Sie hat mir sogar Suppe vorbeigebracht. Ich weiß natürlich nicht, ob sie vorher hineingespuckt hat. Übrigens... als sie vorhin nach mir gesehen hat, war ein hübsches Mädchen bei ihr. Sie haben sich bei den Händen gehalten.“ Noah zuckte mit den Schultern und Christian fügte mit einem breiten Grinsen hinzu: „Ein schönes Paar!“
 

„Das sind sie!“ stimmte Noah zu.

Dann blickte Christian ihn so merkwürdig an und Noah ahnte, in welche Richtung seine nächste Äußerung gehen würde:
 

„Ich finde, du und ich sind auch ein schönes Paar!“ und mit einem unverschämten, schiefen Lächeln fügte er hinzu: „Und ich habe es endlich geschafft, dich in mein Bett zu kriegen!“
 

„AN dein Bett!“ korrigierte Noah: „Und kannst du selbst in deinem körperlichen Zustand eigentlich an gar nichts anderes denken?“
 

„Nicht wenn du in meiner Nähe bist!“ konterte Christian schelmisch.
 

Noah wollte schon wieder verschwinden doch Christian bat:

„Kannst du nicht einen Moment bei mir bleiben und mich festhalten? Ich bin schließlich ganz furchtbar verletzt! Und ich schwöre, ich werde auch nichts Ungezogenes versuchen!“
 

Noah blickte auf ihn hinab und das grünblau verfärbte Gesicht rührte ihn derart, dass er sich wider besseres Wissen darauf einließ. Er legte sich neben Christan und bettete dessen Kopf in seiner Armbeuge und ließ ihn wissen:

„Du bist ein ziemliches Schlitzohr, weißt du das?“
 

Christian grinste in sich hinein und auch wenn Noah es hasste, sich das einzugestehen, es war ziemlich aufregend, ihm plötzlich wieder so nah zu sein.

Noah zog sich rasch die Bettdecke über seinen Schoß, um Christian nicht wissen zu lassen, wie aufregend.
 

In diesem Moment klopfte es laut und ohne ein „Herein“ abzuwarten, platzte Alice herein und fragte forsch:

„Störe ich!“
 

Das wirkte besser als kaltes Wasser, dachte Noah mit einem kleinen verlegenen Lächeln.
 

Joe hockte unruhig auf Tinys Bett und dachte grimmig an das, was dieser nun gerade einige Türen weiter mit Margarete tat.

Joe war sich nicht sicher, ob er selbst überhaupt körperlich dazu in der Lage wäre, das zu tun, was nötig wäre. Wenn Tiny es aber konnte; würde das dann nicht beweisen, dass er anders war, als er selbst? Und was hieß das dann für sie beide?

Musste Joe in diesem Fall dann fürchten, dass Tiny ihn irgendwann gegen eine Frau austauschte? Offensichtlich gab es ja Menschen, die vielseitiger waren, als andere. Kathryn war ein Beispiel dafür.
 

Versuchsweise legte sich Joe aufs Bett, nur um gleich wieder aufzuspringen und nervös auf und ab zu tigern. Er hatte sich auf ein Baby im Haus gefreut, nachdem er sich einmal mit der Idee angefreundet hatte, aber war er wirklich imstande auszuhalten, was dazu nötig war?
 

Gerade als Joe sich entschlossen hatte, ein wenig durch die Nacht zu rennen, um Spannung abzubauen, öffnete sich die Zimmertür und Tiny trat ein:

„Das ging ja schnell! Hat es geklappt? Konntet ihr…ich meine ähm… habt ihr das Nötige erledigt?“ erkundigte sich Joe missmutig.
 

Tiny schüttelte den Kopf und ließ sich auf das Bett plumpsen. Joe blickte ihn überrascht an:

„War es ein…ein körperliches Problem?“ erkundigte er sich hoffnungsvoll.
 

Erneut ein Kopfschütteln seines Geliebten:

„So weit sind wir gar nicht erst gekommen.“ erklärte Tiny: „Margarete und ich haben darüber geredet und wir wussten beide, dass es nicht geht. Wegen Dir! Ich will bei niemandem außer dir liegen, weißt du? Niemals!“
 

„Das heißt dann wohl, es wird kein Baby geben?“ fragte Joe zur gleichen Zeit traurig und erleichtert.
 

Tiny zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Vielleicht doch? Margarete hatte eine Idee. Sie sagt, es sei nur wichtig, dass die notwendigen Zutaten zusammen kommen können. Die Art und Weise spielt möglicherweise keine Rolle.“ Joe blickte ihn fragend an und Tiny fügte hinzu: „Und vielleicht könntest du mir dabei ja…ein wenig…zur Hand gehen, verstehst du?“
 

Joe verstand!

Er grinste!

Die Robe

Lydia beobachtete beinahe schon amüsiert ihren Ehemann am Frühstückstisch. Er schien sich unbehaglich zu fühlen, drehte sich dauernd nach ihr um, war wachsam! Wenn sie ihn jetzt eun wenig zu laut anspräche, würde vor Schreck wohl sein Herz stehen bleiben, überlegte sie. Nicht, dass Lydia seinen Tod gewollt hätte. Ihr ging es nur darum, sich sichtbar zu fühlen. Und in diesem Augenblick galt seine ganze Aufmerksamkeit ihr.

Und das war wunderbar!
 

Noah war an diesem Vormittag wieder einmal sehr still gewesen und das war stets ein sicheres Zeichen dafür, dass er intensiv über etwas nachdachte. Was ihn so sehr beschäftigte war freilinch nicht schwer zu erraten, also fragte Joe ihn schließlich in der Mittagspause, als sie beide hinter dem Geschäft im Schatten saßen und ihre Pausenbrote vertilgten:

„Wie geht es denn Christian mittlerweile?“
 

„Besser, denke ich.“ gab Noah zurück.
 

Überrascht über die einsilbige Antwort fragte Joe weiter:

„Wie wird das nun mit euch beiden denn nun weitergehen?“
 

Noah zuckte mit den Schultern:

„Ich wünschte, dass wüsste ich!“ erwiderte er unglücklich:
 

„Christian lässt aber auch nicht locker, wie es aussieht, oder? Scheinbar hat er sich in den Kopf gesetzt, dass du ihn zurücknehmen solltest.“ bemerkte Joe schmunzelnd.
 

„Was würdest du das denn an meiner Stelle tun?“ wollte Noah wissen:
 

„Ich weiß nicht, wie ich dir das beantworten soll.“ ab Joe zurück: „Es hängt von dir ab, denke ich. Was fühlst du denn?“

Noah zuckte mit den Achseln, also fragte Joe weiter:

„Und was rät Alice dir?“
 

„Mit ihr kann ich darüber nicht sprechen. Sie versteht nicht, warum ich Christian überhaupt wieder in meine Nähe lasse und versucht, mich zu beschützen!“ antwortete Noah resigniert.
 

„Brauchst du denn Schutz vor ihm?“ forschte Joe weiter: „Alice war immerhin damals dabei, als das alles passiert ist. Vielleicht sorgt sie sich ja zu Recht?“
 

„Das ist es ja gerade!“ antwortete Noah: „Ich weiß es nicht! Christian hat sich im vergangenen Jahr total verändert. Heute ist er viel sanfter und geht wirklich liebevoll mit mir um. So war er früher nicht. Selbst als wir noch…du weißt schon! Auch da hat er mir schon irgendwie Angst gemacht und war unberechenbar! Wie kann ich mir da sicher sein?“
 

„Vielleicht kannst du das nicht, sondern musst es drauf ankommen lassen. Die Frage ist doch, ob es dir die Sache wert ist. Magst du ihn noch?“ erkundigte sich Joe.
 

„Sehr!“ gab Noah zurück: „Viel mehr als früher sogar! Wenn er in meiner Nähe ist, ist das so…schön und aufregend!“

Der Junge errötete bei diesem Geständnis und verbarg sein Gesicht hinter den Händen.
 

Joe kicherte und erklärte:

„Ich denke, da hast du deine Antwort! Und du bist ja nicht allein, falls es schief geht. Alice allein würde Christian dann schon gehörig einheizen. Und ich bin ja auch noch da!“
 

Noah nickte.

In seinem Kopf entstand ein Plan.
 

Justine war heute in den Ortskern von Millers Landing gekommen, um etwas abzuholen. Bereits vor zwei Wochen hatte sie beim Schneider ein Kleid für Kathryn in Auftrag gegeben. Natürlich hatten sie nicht Maß nehmen können, denn es sollte eine Überraschung werden, doch Justine hatte in den letzten Wochen ja ausgiebig Gelegenheit dazu gehabt, die Anatomie ihrer Geliebten zu studieren, um konkrete Schätzungen und Beschreibungen abzugeben.
 

Der Schneider von Millers Landing, ein gewisser Alexander Czerna hatte vielsagend gelächelt und sein Bestes gegeben. Er schien sofort zu wissen, welchen Grund Justine hatte, ein Kleid für eine andere Frau zu bestellen.

Und Justine war ihrerseits sofort alles über ihn klar gewesen ohne dass sie beide viele Worte darüber verlieren mussten.
 

Alexander war ein kleiner, schlanker, feingliedriger Mann von etwa sechzig Jahren. Das graue, immer noch volle Haar war sorgfältig geschnitten und mit Pomade zurückgestrichen. Er trug ein dünnes Oberlippenbärtchen und vermutlich die ausgesuchteste Garderobe im ganzen Ort. Er war ein liebenswerter Mann, wie Justine fand, doch er erschien ihr wie der einsamste Mensch, den sie je getroffen hatte.
 

Gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen waren die beiden auf die Vornamensbasis gewechselt wie Verschwörer und alte Bekannte.

Justine hatte eine konkrete Vorstellung von dem Stoff für die Robe gehabt. Es sollte hellgrüne Seide sein, im herrlichen Kontrast zu Kathryns roten Haaren.
 

Alexander, der diese natürlich vom Sehen kannte, so wie jeder andere im Ort nickte zufrieden und beglückwünschte Justine zu ihrer Stilsicherheit. Selbstverständlich hatte er etwas derart Exquisites nicht auf Lager, da er in Millers Landing keine entsprechende Käuferschaft fand, doch er war eigens dafür zu seinem Großhändler gefahren und hatte das Passende beschafft.
 

Das Kleid hatte etwas Besonderes werden sollen; übertrieben, großartig, seiner späteren Besitzerin voll und ganz würdig! Sicherlich würde sie nur selten Gelegenheit haben, es zu tragen. Es war eher dazu gedacht, es hin und wieder aus dem Schrank zu holen, um sein Gesicht an der sinnlichen, kühlenden Seide zu reiben und es zu bewundern. Aber letztlich, und Justine war ehrlich genug sich das einzugestehen sollte es sicherstellen, dass Kathryn sie nicht vollständig vergessen würde, sobald sie einmal fort wäre.

Und Alexander hatte wirklich ganze Arbeit geleistet! Das Kleid war wundervoll und erfüllte all` die Anforderungen, die Justine an es gestellt hatte.
 

Lydia hatte die Frau sofort erkannt, welche gerade die Schneiderei betreten hatte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Eine bessere Gelegenheit würde sich wohl nicht finden, sie anzusprechen. Sie an ihrem augenblicklichen Wohnort aufzusuchen hätte sie nicht gewagt, doch auch so war es noch immer schwer genug, sich ihr zu nähern.
 

Sie ging auf das Geschäft zu. Vor der Tür hielt sie eine Weile ängstlich inne, aber schließlich gab sie sich einen Ruck.

Im Laden bewunderte die Fremde gerade ein Kleid und sprach mit dem seltsamen, kleinen Schneider. Als sie eintrat, drehten die beiden sich nach ihr um und verstummten. Lydia machte ein paar Schritte auf die Frau zu, doch dann verließ ihr sie Mut und sie bekam kein Wort heraus. Anstatt dessen starrte sie die Fremde lediglich an; mit hochgezogenen Schultern und Händen, welche einander nervös kneteten.
 

Ihr war selbst klar, dass dieses Verhalten eigenartig war.

Sie musste jetzt schnell etwas von sich geben.

Sie begann zu Schwitzen.

`Komm` schon Lydia!´ schalt sie sich selbst und endlich stotterte sie:

„Sie sind diese Frau!Ich habe sie sprechen hören!“

Sie erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme, weil sie sie so lange nicht mehr gehört hatte.
 

Die Fremde lächelte, streckte ihre Hand aus und stellte sich vor:

„Guten Tag! Mein Name ist Justine Carpenter. Ich freue mich, sie kennen zu lernen.“

Lydia ergriff die hingehaltene Hand schüchtern und erwiderte:

„Ich heiße Lydia! Ihre Worte waren so…ich meine... uhm..., sie haben alles verändert! Ich würde gern mit ihnen über das alles sprechen, bitte!“
 

Justines Lächeln wurde noch ein wenig breiter und sie antwortete:

„Wir können uns gerne ein wenig austauschen, wenn sie wollen. Sie wissen ja sicher, dass meine Freundinnen und ich derzeit im roten Haus zu Gast sind. Begleiten sie mich doch gleich dorthin.“
 

Lydia wurde bleich bei der Vorstellung und sie schüttelte den Kopf:

„Mein Mann!“ sagte sie aufgeregt: „Er dürfte mich dort auf keinen Fall sehen. Er darf nicht einmal wissen, dass ich mit ihnen gesprochen habe!“
 

„In Ordnung!“ sagte Justine beschwichtigend zu der aufgebrachten Fremden: „Ich weiß etwas anders. Kennen sie die einsame Grabstätte jenseits der Stadtgrenze, wo die Eichen stehen? Dort kommt doch niemals jemand hin und wir würden nicht gesehen werden. So gegen vier Uhr vielleicht?“
 

„Einverstanden! Bis später dann!“ erwiderte Lydia hektisch nickend und verließ das Geschäft ohne ein weiteres Wort, als sei der Teufel hinter ihr her.
 

Justine blickte der Fremden kopfschüttelnd hinterher:

„Das war ja eigenartig!“ kommentierte sie.
 

„Sogar noch eigenartiger, wenn du weißt, wer sie ist, Liebes. Sie ist nämlich die Frau des Sheriffs.“ erklärte Alexander.
 

„Sehr interessant!“ erwiderte Justine stirnrunzelnd: „Wirklich sehr interessant!“
 

Dann bedankte sie sich für Alexanders gute Arbeit und bezahlte die stolze Summe, welche gefordert wurde, ohne mit der Wimper zu zucken.
 

„Ich denke, deine Füchsin wird fantastisch darin aussehen.“ meinte Alexander noch spitzbübisch: „Kommt wieder, falls noch etwas geändert werden muss!“
 

Christian hatte sich vor dem „Yasemines“ auf die Veranda gesetzt, um ein wenig Sonne zu tanken. Alice kam zu ihm herüber geschlendert, nahm gegenüber auf dem Geländer Platz und musterte ihn schweigsam:
 

„Was denn?“ fragte Christian schließlich freundlich: „Versuchst du, durch Anstarren herauszufinden, wie gefährlich ich bin?“
 

„So etwas in der Art!“ gab Alice schroff zurück: „Und ich will wissen, was du von Noah willst?“
 

Christian lächelte:

„Ich weiß genau, warum Noah dich so mag. Du bist unter deiner rauen Schale wirklich ein netter Mensch und eine treue Freundin! Er hat Glück, dich zu haben!“
 

„Ich bin diejenige die Glück hat. Darum werde ich auch um jeden Preis verhindern, dass ihm wehgetan wird!“ antwortete Alice kämpferisch.
 

„Ich will ihm aber überhaupt nicht wehtun!“ versicherte Christian aufrichtig: „Was ich in der Vergangenheit getan habe, bereue ich zutiefst. Ich schäme mich dafür.“
 

„Warum hast du es denn überhaupt gemacht?“ fragte Alice anklagend: „Wie konntest du nur?“
 

Christian schluckte:

„Es war anfangs unmöglich für mich, zu akzeptieren, was ich war. Mir hat es vor mir selbst gegraut und es war so einfach, es an Noah auszulassen. Nicht nur, weil er derjenige war, mit dem ich diese Dinge getan habe, sondern auch…“Christian kratzte sich nervös am Hinterkopf: „…naja, weil er so ist, wie er ist.“
 

„Wie ist er denn?“ fragte fragte Alice scharf.
 

„Was ich meine ist, wenn die Leute über Männer wie mich sprechen, dann haben sie doch eher so jemanden wie Noah im Sinn.“ gab Christian unsicher zurück: „Er ist zurückhaltend, gefühlvoll, ein wenig ängstlich, vielleicht sogar ein bisschen mädchenhaft!“
 

Alice erhob sich drohend von ihrem Platz, ballte die Fäuste und funkelte ihn böse an.
 

Christian hob beschwichtigend die Hände und fügte hinzu:

„Ich war einfach ein Idiot. Noah schien all´das zu sein, was ich Nicht sein wollte. Aber heute sehe ich das alles ganz anders. Ehrlich!. Ich denke nicht mehr, dass irgendetwas falsch daran ist, wie Noah ist. Im Gegenteil! Ich glaube, ich mag ihn genau deswegen!“
 

Alice entspannte sich ein wenig und nahm ihren Platz wieder ein. Nach einer Weile sagte sie nachdenklich:

„Ich mag ihn auch dafür! Es kostet Mut, so zu sein wie er, weißt du? Er verstellt sich nicht, um es anderen recht zu machen!“
 

„Du auch nicht!“ stellte Christian fest.
 

Alice zuckte mit den Schultern. Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte sie noch:

„Ich weiß immer noch nicht, ob ich dich mag, Christian, aber ich werde auch nicht versuchen, mich dir in den Weg zu stellen, wenn Noah und du euch näher kommt. Sei dir nur bewusst, dass ich dich im Auge behalte! Wenn du einen Fehler machst, bist du dran!“
 

Christian nickte und versicherte:

„Keine Sorge! Das vergesse ich nicht!“
 

Als Justine an der Grabstätte ankam, wähnte sie sich allein.

Sie kniete vor dem Stein nieder und stellte mit Erschrecken fest, wie kurz die Lebensspanne doch gewesen war, die der Bindestrich verband. Elizabeth war lediglich sechsunddreißig Jahre alt geworden.

Justine überkam plötzlich eine große Traurigkeit. Sie tröstete sich damit, dass die Frau, die hier lag immerhin bis zu ihrem Tod mit Kathryn zusammen sein durfte. Das, und die Tatsache, dass diese sie nie vergessen und sie weiterhin lieben würde, bis ihr eigenes Herz eines Tages zu schlagen aufhörte, tröstete sie ein wenig.
 

Justine nahm hinter sich ein Geräusch wahr. Als sie sich umwandte, tauchte Lydia Snyder hinter einem dicken Eichenstamm auf:

„Entschuldigung! Ich wollte sie nicht erschrecken.“ murmelte sie leise. Dann blickte sie sich nach allen Seiten um, um sicherzugehen, dass wirklich niemand sie bei diesem Stelldichein entdeckte:
 

„Sie müssen keine Angst haben, Ms. Snyder. Wir sind allein hier!“ versicherte Justine beruhigend: „Ich freue mich, dass sie gekommen sind.“
 

„Ich freue mich auch!“ erwiderte Lydia und Justine war sich nicht sicher, ob die Freude ihrem Erscheinen galt, oder vielleicht doch eher dem Umstand, dass Ms. Snyder selbst den Mut gefunden hatte, herzukommen:
 

„Was kann ich denn nun für sie tun?“ erkundigte sich Justine: „Gibt es etwas, was sie mich fragen, oder mir berichten wollen?“
 

„Ja!“ antwortete Lydia aufgeregt: „Ich meine, ja, es ist beides!“
 

Justine lächelte und blickte die andere Frau erwartungsvoll an, bis diese schließlich zu sprechen begann:

„Manchmal kneife ich mich, um zu sehen, ob ich noch am Leben bin. Wenn ich diesen kleinen Schmerz spüre, fühle ich immerhin irgendwas. Als ich jung war, habe ich gedacht, ich liebe meinen Mann, aber was ist das eigentlich? Liebe? Wie fühlt Liebe sich an? Ich habe meine Jungs geliebt, als sie noch klein waren, doch jetzt sind sie weg und ich sehe sie höchstens noch an Weihnachten. Ist das Liebe? Ich habe gedacht, dass ich meine Eltern liebe wie eine gute Christin, aber nun sind sie schon lange tot und ich denke gar nicht mehr an sie. Ist das Liebe? Ich fühle gar nichts! Ein Tag ist genauso, wie der andere. Ich erfülle keinen Zweck, außer meinem Mann das Haus sauber zu halten und für ihn zu Kochen.“ Lydia blickte abwesend in die Ferne und fuhr fort: „Als Mädchen hatte ich ein paar Freundinnen, mit denen ich sprechen konnte, aber dann kam die Hochzeit und die Kinder und man hat sich aus den Auge verloren. Und mein Mann spricht schon seit einer Ewigkeit nicht mehr mit mir. Er geht ja auch hinaus in die Welt, hat eine Aufgabe und trifft Menschen. Ich habe das nicht. Wissen sie, wie öde es sein kann, wenn man nur seine eigenen Gedanken hört und es sind ständig dieselben, die sich wiederholen und wiederholen bis man das Gefühl hat, man würde den Verstand verlieren?“

Mit jedem weiteren Wort steigerte sich die Verzweiflung Lydias. Ihre Mine wirkte verzerrt, so als habe sie körperliche Schmerzen.
 

Justine ließ sich für einige Sekunden emotional auf die Pein ihrer Gesprächspartnerin ein, doch sie war wie ein heulender, tiefschwarzer Abgrund, der sich zu ihren Füßen auftat und sie zu verschlingen drohte.

Mit einem tiefen Atemzug kehrte Justine in die aufgeräumte Sicherheit ihrer eigenen Gedankenwelt zurück und fragte Lydia ernsthaft:

„Was gedenken sie zu tun, um ihrem Leben eine neue Wendung zu geben, Ms. Snyder?“
 

Lydia blickte überrascht und enttäuscht zu ihr auf und erwiderte:

„Ich dachte, sie könnten mir das sagen! Ich hatte gehofft, sie hätten die Antworten für mich! Bitte helfen sie mir doch!“
 

Justine schüttelte den Kopf und erwiderte streng:

„Es tut mir leid Ms. Snyder, doch das kann ich nicht für sie tun. Es ist IHR Leben; ihr Klumpen Lehm wenn sie so wollen und sie müssen ihm eine Form nach ihren Vorstellungen geben! Sehen sie, wohin es sie gebracht hat, die Verantwortung dafür aus den Händen zu geben? Genau an diesen Punkt! Wenn sie ihrem Unglück ein Ende bereiten wollen, müssen sie selbst wissen, was sie ändern wollen. Ich kann ihnen helfen, das Ziel zu erreichen, welches sie sich stecken, doch die Vision muss von ihnen kommen!“
 

Lydia blickte Justine mit großen Augen an. Es kam ihr vor, als hätte diese sie vor eine unlösbare Aufgabe gestellt.

Sie sollte sagen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte?

Was konnte das schon sein?

Sie konnte nichts, hatte nichts, war nicht gebildet, nicht interessant, nicht schön und nicht mehr jung.

Aus nichts ließ sich auch nichts machen, also was wollte diese Frau von ihr?
 

Als hätte Justine ihre Gedanken gelesen, sagte sie plötzlich:

„Machen sie sich keine Sorgen, Ms. Snyder. Wenn sie sich erst einmal die Erlaubnis geben, zu träumen, wird die Antwort, wie sie ihr weiteres Leben gestalten wollen von allein zu ihnen kommen. Und wenn es schon kein anderer für sie tut, werden sie wohl die Erste sein müssen, die anfängt, sie wichtig zu nehmen und die ihnen applaudiert!“
 

Lydia nickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie alles verstanden hatte und in ihrem Kopf rauschte es, aber sie nickte.
 

„Sie können mich jederzeit wieder aufsuchen, wenn sie unser Gespräch fortsetzen wollen!“ bot Justine an.
 

Wiederum gelang es Lydia lediglich zu Nicken.

Sie ergriff die Hand, die Justine Carpenter ihr zum Abschied hinhielt und schüttelte sie. Und dann tat sie etwas, was sie selbst überraschte: Sie fiel der anderen Frau um den Hals!
 

Sie konnte es selbst kaum fassen. Es war scheinbar eine Ewigkeit her, dass sie einem anderen Menschen körperlich so nah gekommen war und nun gelang es ihr gar nicht mehr, diese Frau, die sie kaum kannte loszulassen?
 

Justine war zunächst ein wenig überrumpelt von der Umarmung der eigenartigen Fremden, doch die Bedürftigkeit und Einsamkeit, die darin zum Ausdruck kam, rührte sie gleichzeitig. Schließlich schloss sie ihrerseits die Arme um Lydia Snyder, wiegte sie ein wenig und wiederholte murmelnd die Worte, dass alles gut werden würde.
 

Es dauerte eine ganze Weile, bis Lydia sich wieder losmachte, doch Justine ließ sie bis dahin gewähren.

Schließlich bedankte Lydia sich mehrmals, drehte sich um und eilte zurück zum Ort.
 

Justine blickte ihr stirnrunzelnd hinterher.
 

Nach dem Abendessen nahm Noah Christian mit in Sams Versteck in der Scheune, wofür er sich zuvor dessen Einverständnis eingeholt hatte. Sam hatte ihn zwar ein wenig säuerlich angeschaut bei der Frage, doch dann hatte er genickt.
 

Nun lagen die beiden nebeneinander im Heu und Christian wollte wissen:

„Was wird das denn hier nun? Du machst mich irgendwie ein wenig nervös!“
 

„Ich habe dich hierher geholt, um dir meine Bedingungen mitzuteilen.“ verkündete Noah.

„Die Bedingungen für was?“ fragte Christian nach:
 

„Was denkst du denn?“ fragte Noah zurück: „Die ganze Zeit sagst du, du willst mich zurück. Ich sage dir jetzt, wie es läuft!“
 

Christian gefiel Noahs Entschlossenheit. Er lag ihm zugewandt, hatte den Kopf auf seine Hand gestützt und sagte grinsend:

„Dann lass` mal hören!“
 

„Es funktioniert nur auf eine einzige Art!“ sagte Noah ernst: „Wir spielen nach meinen Spielregeln! Ich weiß, früher war es andersrum, du hast den Anfang gemacht, hast bestimmt was wir machten und wann und auch, wann es vorbei war, aber das mache ich nicht mehr mit, kapiert?“
 

Christian nickte:

„Klingt akzeptabel. Aber was genau sind deine Spielregeln?“
 

Noah errötete ein kleines bisschen, als er antwortete:

„Zunächst möchte ich, dass wir es ganz langsam angehen. Du hast im letzten Jahr viel Erfahrung gesammelt. Ich aber nicht! Ich fürchte mich ein bisschen vor deinen Erwartungen. Darum will ich, dass du dich meinem Tempo anpasst! Selbst wenn es noch eine Ewigkeit dauert bis wir…du weißt schon!“
 

„Einverstanden!“ versicherte Christian.
 

„Und außerdem möchte ich, dass eines vollkommen klar ist: Wenn du noch einmal die Hand gegen mich erhebst, siehst du mich nie wieder! Verstehst du mich? Ich werde es nie wieder zulassen, dass du mir wehtust!“
 

Christan nickte:

„Es tut mir so leid. Der Blitz soll mich treffen, wenn ich es tue! Ich fühle mich grauenhaft deswegen.“ murmelte er heiser: „Aber was ist da noch? Ich würde alles tun, weißt du?“
 

„Das war`s eigentlich schon!“ gab Noah schüchtern zurück
 

„Sind wir dann also jetzt ein Paar?“ wollte Christian wissen.
 

Noah zuckte mit der Schulter:

„Ich schätze schon!“ Er drückte Christian einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und erklärte: „Ich muss jetzt nachhause!“
 

Christian stöhnte unglücklich.

Das Warten würde hart werden!“
 

Vor der Scheune wartete Sam auf Noah und fragte forsch:

„Was hattest du denn mit ihm zu besprechen?“
 

„Das ist kompliziert!“ gab Noah ausweichend zurück und fügte hinzu: „Ich muss jetzt nachhause!“

„Ich begleite dich ein Stück und du erklärst es mir!“ sagte Sam.

Es war keine Bitte!
 

Noah zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„In Ordnung! Ich versuch`s!“

Er fühlte sich unbehaglich dabei, denn er ahnte, dass Sam zu jung war, um zu begreifen, was vor sich ging. Dennoch bemühte er sich um eine genaue Erklärung und ließ dabei nichts; auch die schwierigen Dinge nicht aus.
 

Sam lauschte aufmerksam und sagte schließlich:

„Erst hattest du Angst vor ihm und nun willst du, dass Christian dein Freund ist? Das verstehe ich irgendwie nicht?“ Er klang ratlos: „Du hast doch schon Freunde, Alice und Joe und mich. Warum brauchst du dann noch ihn?“
 

„Ich habe jetzt keine Angst mehr!“ versicherte Noah: „Christian scheint sich wirklich geändert zu haben. Und außerdem ist das mit ihm etwas anderes! Ich glaube, ich bin in ihn verliebt!“

Erst jetzt, als er es ausgesprochen hatte, wurde Noah bewusst, dass es stimmte.

Er war verliebt!
 

Sam nickte:

„In Ordnung!“ entschied er großzügig: „Aber ich behalte Christian im Auge! Nur für den Fall!“
 

Auf dem Heimweg bekam Noah Angst vor seiner eigenen Courage. Er hoffte, dass er Christian nicht zu viel versprochen hatte, denn in ihm gab es noch immer große Zweifel.

Er konnte nicht ändern, was er war, aber wenn er diesem Verlangen auch tatsächlich nachgab; war das dann nicht die eigentliche Sünde?

Er traute sich nicht, mit Alice, Joe oder Christian über diese Angst zu sprechen, denn sie würden ihn gewiss nicht verstehen.
 

Als Hubert nachhause kam, war Lydia gerade beim Brotbacken.

Der Teigklumpen lag vor ihr auf der Arbeitsfläche und plötzlich hatte sie das Gefühl, er würde sie verspotten, wie er so unförmig vor ihr lag.

`Ihr Klumpen Lehm´ ging es ihr wieder und wieder durch den Kopf und sie begann den Brotteig zu bearbeiten: Sie knetete, quetschte, rollte und wälzte. Schließlich schlug sie mit Fäusten wütend auf den Teig ein, schrie und keuchte dabei und betrachtete zwischendurch die Abdrücke, die ihre Hände in ihm hinterließen.

Sie hatte zunächst gar nicht bemerkt, dass ihr Mann mittlerweile neben ihr stand und sie fassungslos anstarrte.

Dann nahm er seine Jacke und verließ das Haus wortlos wieder.
 

Lydia war offenbar dabei, den Verstand zu verlieren. Der Sheriff würde heute Nacht auf keinen Fall zuhause schlafen.

Sie schien nicht mehr zu wissen, was sie eigentlich tat, überlegte er.

Was wenn die Beherrschung verlor und ihn im Schlaf ermordete?

Das Risiko würde er lieber nicht eingehen. Er würde im Department übernachten und morgen früh wollte er mit Doktor Miller über das ganze sprechen.

Und zur Sicherheit auch mit dem Reverend.
 

Joe stand mit dem Becher in der Hand vor Margaretes Zimmertür. Tiny hatte ihn gebeten, die Übergabe vorzunehmen, weil es ihm unangenehm war, es selbst zu tun.

Joe konnte allerdings auch nicht behaupten, dass er selbst sich so recht wohl dabei fühlte.

Er tat es nur, um ein Teil dieser ganzen Angelegenheit zu sein.

Als er klopfte, öffnete Margarete sofort. Sie musste wohl schon hinter der Tür auf ihn gewartet haben.

Sie grinste ihn schüchtern an, nahm das Gefäß aus seinen Händen, bedankte sich und schloss die Tür wieder.
 

„Verdammt! Was für eine merkwürdige Situation!“ dachte Joe bei sich.
 

„Haben sie etwas vergessen Sheriff?“ rief Carmichael Snyder von seiner Zelle aus zu.
 

„Halt´ die Klappe!“ herrschte er seinen Gefangenen an.

Er bezog eine der freien Zellen außerhalb von Carmichaels Sichtfelds, ließ sich auf der Pritsche nieder und breitete eine Decke über sich.
 

„Haben sie etwa Ärger zuhause! Das tut mir wirklich leid!“ behauptete Carmichael.
 

„Ich hab` gesagt, du sollst die Klappe halten, du Mistkerl!“ knurrte der Sheriff: „Wenn ich noch einen Ton von dir höre, knalle ich dich ab! Ich werde es wie einen Ausbruchsversuch aussehen lassen, also führe mich nicht in Versuchung!“
 

Bob grinste in die Dunkelheit hinein. Alles lief wie am Schnürchen. Er konnte es kaum erwarten, sie alle in seine Hände zu bekommen, die Huren, ihre Kerle und am Schluss natürlich SIE. Er malte sich aus, was er mit ihnen tun würde.

Der Wolf fiepte wohlig zu seinen Füßen.

Der Ehemann

Der Sheriff hatte sich für heute krank gemeldet und James war allein im Department, wenn man einmal von dem mörderischen Verrückten absah, der hinten in seiner Zelle verrottete. Doch diesen versuchte der Deputy zu ignorieren, so gut es eben ging. Wenn sie ihn doch nur erst los wären, sie den Prozss hinter sich hätten und er ins Staatsgefängnis überführt werden würde.

Und James hoffte inständig, dass es genau so kommen möge!
 

Es war seltsam, dass sich der Sheriff ausgerechnet jetzt zum ersten Mal seit ihrer Zusammenarbeit wegen Krankheit entschuldigte, denn er hatte sich ja bereits seit Tagen so eigenartig und irgendwie schreckhaft verhalten, dachte James.

Außerdem hatte er eigenartiger Weise den Eindruck gewonnen, Snyder würde neuerdings im Department übernachten.

Vermutlich steckte mehr hinter dieser Angelegenheit, als eine einfache Erkältung. James hatte jedoch keine Vorstellung, was das sein mochte und wenn er ehrlich war, interessierte es ihn auch nicht besonders, den er konnte den boshaften, alten Kerl nun einmal nicht besonders gut leiden.
 

Doktor Miller schien Snyders Ausführungen nicht sonderlich ernst zu nehmen. Lydias Verhalten deute seiner Meinung nach nicht auf eine Krankheit hin, sondern offenbarte nach seiner Auffassung lediglich, dass ihr wohl einiges durch den Kopf ginge, erklärte er beruhigend und schlug ein ernsthaftes, verständnisvolles Gespräch unter Eheleuten vor, Er bot sogar an, bei Bedarf zwischen ihnen zu vermitteln.
 

Als ob er Hilfe dabei bräuchte, mit seiner eigenen Frau zu sprechen, dachte Snyder verächtlich!

Was bildete dieser studierte Schnösel sich überhaupt ein?
 

Der Sheriff war weiterhin davon überzeugt, dass Lydia entweder dabei war, den Verstand zu verlieren oder dass sie vom Bösen besessen war. Davon würden ihn auch die Plattitüden nicht abbringen, die Doktor Miller von sich gegeben hatte, um ihn schnell wieder abzuwimmeln. Daher war seine nächste Adresse das Pfarrhaus. Sollte doch der Reverend ihm sagen, was er von der Angelegenheit hielt.
 

Als Snyder gerade klopfen wollte, öffnete sich die Tür und heraus kam der Sohn des Hauses, welcher gerade auf dem Weg zur Arbeit war. Sie grüßten einander flüchtig und Snyder warf dem verweichlichten, kleinen Burschen einen grimmigen Blick hinterher. Irgendetwas gefiel ihm an dem Jungen ganz und gar nicht, dachte er kopfschüttelnd. Dann trat er in das Pfarrhaus ein.
 

Natürlich war der Reverend nicht allein, sondern seine neugierige Ehefrau war bei ihm. Die zwei saßen noch am Frühstückstisch.

Snyder konnte das klatschsüchtige Weib nicht leiden. In ihrer Gegenwart würde er kein Wort darüber verlieren, warum er gekommen war, denn sonst wüsste es bis zum Nachmittag die ganze Stadt:

„Guten Morgen Reverend!“ grüßte er: „Es tut mir leid, dass ich sie beide beim Essen störe. Könnte ich sie später wohl unter vier Augen sprechen?“
 

„Guten Morgen Sheriff! Wir waren ohnehin gerade fertig!“ antwortete der Geistliche: „Ich habe jetzt Zeit. Wenn sie wollen, können wir hinüber in die Kirche gehen. Dort sind wir ungestört!“

Snyder warf einen Blick auf Gretchen Schultz und ihm entging nicht die Enttäuschung auf deren Gesicht, darüber, dass sie nicht mithören durfte.
 

Die beiden Männer nahmen in einer der Kirchenbänke Platz. Der Sheriff rang eine Weile um die richtigen Worte, versicherte sich zuvor der Verschwiegenheit seines Gegenübers, doch als er einmal zu sprechen begonnen hatte, wurde es leichter. Er brachte es schließlich sogar über sich, vor dem Geistlichen von dem sexuellen Angriff seiner Frau zu sprechen. Als er mit seiner Schilderung fertig war, erkundigte er sich stirnrunzelnd:

„Glauben sie, es handelt sich um eine Form der Besessenheit? Denken sie, dass ein Exorzismus vorgenommen werden muss?“
 

Der Reverend zog zweifelnd eine Augenbraue hoch:

„Wie kommen sie denn darauf, dass der Wunsch ihrer Frau nach ehelicher Intimität etwas mit Besessenheit zu tun hat?“ erkundigte er sich vorsichtig.
 

Der Sheriff errötete und als ihm dies bewusst wurde, versuchte er es ärgerlich zu überspielen:

„Meine Frau und ich sind doch beide aus dem Alter heraus!“ erklärte er grollend: „Lydia wird in diesem Jahr sechzig! Kinder werden sie und ich sicherlich nicht mehr bekommen, also was soll das Ganze dann?“
 

„Sicherlich dient…“ der Reverend räusperte sich: „…die körperliche Vereinigung der Fortpflanzung, doch sie festigt auch die Bindung zwischen Mann und Frau!“ erklärte er.
 

Der Sheriff schüttelte unwillig den Kopf:

„Sie verstehen nicht, Reverend! Wir haben…DAS…seit Jahren nicht mehr getan. Und mit Sicherheit taten wir es nie auf diese anstößige Weise.“
 

„Aber ist es da nicht verständlich, dass ihrer Frau die Nähe zu ihnen nach so langer Zeit fehlt?“ erkundigte sich der Geistliche: „Ihre Gattin hat möglicherweise lediglich eine etwas unglückliche Art gewählt, ihnen dies zu zeigen Sheriff!“
 

„Aber es ist doch auch nicht nur das allein!“ beharrte der Sheriff zornig: „Ich habe ihnen doch gesagt, sie starrt mich auch so eigenartig an! Wie eine Verrückte!“
 

„Wollen sie damit sagen, ihr Blick habe sich im Vergleich zu früherer Zeit verändert?“ wollte der Reverend Schultz wissen.
 

„Die Tatsache, dass sie mich überhaupt anschaut ist schon merkwürdig genug. Sie hat mich jahrelang scheinbar gar nicht mehr bemerkt. UND NUN STÄNDIG DIESER B L I C K, DEN ICH AUF MIR FÜHLE! “ Snyders Stimme wurde schrill.
 

„Ich glaube nicht, dass sie sich sorgen müssen, Sheriff!“ erklärte Reverend Schultz beschwichtigend: „Ich gewinne den Eindruck, ihre Frau möchte lediglich ihre eheliche Beziehung neu beleben. Sie beide sollten sich dringend miteinander aussprechen! Wenn sie wünschen, biete ich ihnen hierbei gern meine Unterstützung an. Die Gemeinschaft von Mann und Frau braucht ein wenig Pflege, wenn sie so wollen. Wie mir scheint, sind sie und Lydia einander etwas fremd geworden. Doch mit Gottes Hilfe wird sich das lösen lassen!“
 

Der Pfaffe war auch nicht besser als der Doktor, dachte Snyder grimmig bei sich. Sie nahmen seine Befürchtungen einfach nicht ernst. Als ob Schultz so eine Vorzeigeehe führen würde, dass er anderen Ratschläge erteilen konnte! Wie sollte das wohl möglich sein? Jeder wusste schließlich, dass er mit einem echten Drachen verheiratet war!

Eilig verabschiedete Snyder sich und verschwand.
 

Der Sheriff lief hinüber zu seinem eigenen Haus, doch anstatt einzutreten schlich er auf dessen Rückseite und schaute unauffällig in das Schlafzimmer. Lydia war gerade dabei, das Bett zu machen. Sie entdeckte ihn nicht und eigentlich wirkte sie ganz so wie immer, dachte der Sheriff beruhigt. Als sie fertig war, ging sie in die Küche. Snyder wechselte das Fenster, um zu sehen, was sie tat. Es waren ganz normale Hausarbeiten, Abwasch, aufräumen, fegen und putzen. Als sie damit fertig war, nahm Lydia am Küchentisch Platz und schien etwas aufschreiben zu wollen. Sie starrte ins Leere, hatte dann offenbar einen Gedanken, den sie niederschrieb und überlegte von Neuem. Das ging beinahe eine Stunde so. Snyder schaute ihr von draußen dabei zu und blickte sich zwischendurch immer wieder um, denn er wollte nicht von den Nachbarn dabei gesehen werden, wie er sein eigenes Haus ausspionierte.
 

Irgendwann war Lydia fertig mit dem, was immer es war, dass sie zu Papier bringen wollte. Ein Einkaufszettel konnte es ja wohl kaum sein, so angestrengt, wie sie darüber nachgedacht hatte. Snyder wollte zu gern wissen, was sie geschrieben hatte, doch dann tat Lydia etwas Merkwürdiges: Sie faltete den Zettel klitzeklein und versteckte ihn in ihrem Ausschnitt. Snyder würde unmöglich unbemerkt einen Blick auf das Papier werfen können.
 

Seit Helena und Alice ein Paar waren, hatten Margarete und Alice nicht mehr miteinander gesprochen.

Alice hatte das aus Scham vermieden. Sie fühlte sich seltsam dabei, an einem Tag noch das Bett der einen Frau zu teilen, während sie am nächsten bereits mit einer anderen schlief, auch wenn Margarete und sie nie eine wirkliche Liebesbeziehung gehabt hatten.
 

Margarete hingegen war dem Kontakt aus dem Weg gegangen, weil sie Alices Glück nicht stören oder das Mädchen verwirren wollte. Sie hatte ihr schließlich bereits genug angetan.
 

Alice spürte jedoch mit jedem Tag deutlicher, dass sie dieses Schweigen nicht länger ertragen konnte. Dazu vermisste sie Margarete zu sehr!

Helena war heute nicht da, denn sie war wieder einmal mit den anderen Frauen aus Boston in einer der Nachbargemeinden, um eine ihrer Kundgebungen abzuhalten. Es war Alice auch lieber so, sie nicht in der Nähe zu wissen, wenn sie sich Margarete wieder annäherte, denn sie wollte ihre Freundin nicht verunsichern oder traurig machen.
 

Alice machte sich auf die Suche nach Margarete und fand sie beim Waschen der Wäsche hinter dem Haus:

„Kann ich dir helfen?“ erkundigte sie sich schüchtern.
 

Margarete blickte auf, lächelte leise und reichte ihr ein Ende eines Lakens, damit sie ihr beim Auswringen half. Sie sagte nichts, also begann Alice zu sprechen:

„Du fehlst mir!“

Es klang viel dramatischer, als das Mädchen es beabsichtigt hatte.
 

Erstaunt blickte Margarete auf und erwiderte:

„Du fehlst mir auch, Süße! Wie läuft es mit Helena? Vertragt ihr euch gut?“
 

Alice nickte:

„Sie ist toll!“
 

„Wirklich?“ fragte Margarete grinsend, als sie das nächste Laken in die Lauge tauchte und es auf

dem Waschbrett zu reiben begann: „Was ist denn so toll an ihr? Beschreib` es doch mal!“
 

„Bist du sicher, dass du das hören möchtest?“ fragte Alice zweifelnd.
 

„Gewiss möchte ich das! Als ich dir gesagt habe, du sollst zu ihr gehen, habe ich es auch so gemeint. Ich will, dass du glücklich bist!“ Sie blickte von ihrer Arbeit auf und erkundigte sich: „Bist du das denn auch, Schätzchen?“
 

Alice lächelte schüchtern:

„Ich traue dem Frieden noch nicht so ganz und denke `Was, wenn sie es sich anders überlegt?´ So bin ich eben! Aber abgesehen davon bin so glücklich wie noch nie zuvor! Sie überrascht mich immer wieder mit ihren ungewöhnlichen Gedanken! Sie hat mich gern, so wie ich bin, und versucht nicht, mich zu verändern! Sie ist eigenwillig, sieht in allem, was geschieht das Positive und sie ist so lustig!“ Alice kratzte sich verlegen am Hinterkopf, ehe sie fortfuhr: „Wenn wir...ich meine, du weißt schon...das ist unglaublich schön!“

Sie blickte Margarete entschuldigend an, als sie das sagte, doch diese lächelte und Alice konnte keine Spur von Ärger in ihrem Gesicht wahrnehmen.
 

Stattdessen hielt Margarete in ihrer Arbeit inne, trat auf Alice zu und küsste sie auf die Stirn:

„Ich freue mich für dich!“ erklärte sie aufrichtig.
 

Alice entfuhr ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Sie umarmte Margarete fest und flüsterte ihr ins Ohr:

„Ich liebe dich wie verrückt!“
 

„Und ich habe gedacht, du würdest mich hassen!“ erwiderte Margarete zerknirscht: „Du hättest allen Grund dazu gehabt, so wie ich dich behandelt habe. Ich habe deine Zuwendung ausgenutzt, um mich besser zu fühlen. Es tut mir so wahnsinnig leid, mein Kleines!“
 

„Das ist Unsinn!“ erwiderte Alice streng: „Ich will das nie wieder von dir hören, verstehst du? Du hast mich ebenso gerettet, wie ich dich! Weißt du das denn nicht? Und nun ist alles gut! Besser als gut sogar!“
 

Margarete nickte. Die beiden setzten schweigend ihre Arbeit fort; froh einander wiedergefunden zu haben.
 

Als sie fertig waren und dabei, die Wäsche aufzuhängen sagte Margarete plötzlich:

„Ich würde dir gern etwas erzählen, was sonst noch kaum einer weiß. Versprichst du, es niemandem weiterzusagen?“
 

Alice blickte überrascht auf und nickte:

„Versprochen!“
 

„Ich versuche, schwanger zu werden!“ erklärte sie ohne lange Vorrede: „In zwei oder drei Wochen werde ich vielleicht schon eine Ahnung haben, ob es funktioniert hat und ob meine Blutung ausbleibt.“

Alice riss die Augen weit auf:

„Wie bitte? Wie? Und wer? Wie ist das überhaupt möglich?“ fragte sie fassungslos.
 

Margarete erklärte es ihr und immer noch verblüfft erwiderte Alice schließlich:

„Oh Mann!“

Dann setzte sie ein breites Grinsen auf!
 

Beim Abendessen nutzte Christian die Gelegenheit, dass alle versammelt waren, um etwas zu sagen. Er erhob und räusperte sich. Noah blickte ihn erstaunt an, denn er hatte ihn nicht vorgewarnt, dass er etwas anzukündigen hätte.

Schüchtern begann Christian zu sprechen:

„Ich möchte euch dafür danken, dass ihr mich bei euch aufgenommen habt, als ich verletzt war. Das war sehr großzügig von euch allen! Es geht mir inzwischen besser und ich weiß dass eure Gastfreundschaft zeitlich begrenzt war. Aber ich weiß nicht, wohin ich jetzt gehen soll und wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst davor, wieder allein da draußen zu sein. Es gefällt mir bei euch!“ Er kratzte sich am Hinterkopf: „Ich möchte euch darum bitten, mir eine Chance zu geben mich würdig zu erweisen, hier bei euch bleiben zu dürfen.“ Christian schluckte, blickte in die Runde und ehe er ein Nein von irgendeiner Seite hörte, beeilte sich fortzufahren: „Ich habe nicht vor, euch auf der Tasche zu liegen, oder so! Ich kann hier bei euch arbeiten, wenn ihr wieder öffnet und mein Geld genauso verdienen wie ihr. Ich habe es ja auch früher schon getan!“ erklärte er schüchtern.

Noah blickte seinen Freund bestürzt an und griff nach dessen Arm, doch Christian fuhr unbeirrt fort: „Außerdem würde ich alle unangenehmen Hausarbeiten für euch machen. Ich bin stark und jung! Es macht mir nichts aus!“

Erwartungsvoll blickte er in die Runde.
 

Es war Kathryn, die schließlich das Wort ergriff, nachdem sie versucht hatte, in den Gesichtern ihrer Freunde zu lesen:

„Wir haben noch nicht besprochen, ob wir unser Geschäft jemals wieder öffnen, aber wir werden uns überlegen müssen, wovon wir alle leben werden, wenn unsere Gäste abgereist sind. Dennoch glaube ich nicht, dass du dann hier arbeiten kannst. Wie es scheint, ist dein Freund Noah von dieser Idee auch nicht begeistert. Und bezüglich deines Vorschlags, dass du hier als eine Art Diener arbeiten willst, muss ich dir deutlich sagen, dass das ist nicht unser Stil ist. Wir beuten niemanden aus! Ich persönlich habe kein Problem damit, wenn du hier bei uns wohnen bleibst. Du scheinst ein netter Junge zu sein! Aber das entscheide ich nicht allein. Alle sollten sagen, was sie davon halten. Falls du bleiben solltest, müsstest du dir allerdings Arbeit im Ort suchen und etwas zum Lebensunterhalt beisteuern. Wenn du damit einverstanden wärst, sollten wir vielleicht abstimmen, ob du bleiben kannst!“
 

„Bevor wir das tun, würde ich gern von Alice hören, was sie davon hält?“ schaltete Margarete sich ein: „Sie hatte in Bezug auf Christian von Anfang an die größten Bedenken!“
 

Christian, aber auch Noah blickten das Mädchen flehend mit großen Augen an, bis diese schließlich antwortete:

„Ist ja gut! Ich vermassele es deinem Schatz schon nicht, Noah!“ Und an alle gerichtet erklärte sie: „Solange Christian sich so verhält, wie in der letzten Zeit und solange er gut zu Noah ist, kann der Blödmann bleiben. Es scheint, als hätte er dazugelernt!“
 

Also wurde abgestimmt und das Votum fiel einstimmig aus, Christian wurde dauerhaft in die Gemeinschaft aufgenommen.

Er bedankte sich kleinlaut und versprach, gleich morgen früh damit anzufangen, sich Arbeit zu suchen. Er setzte sich wieder und ein paar Tränen der Erleichterung kullerten über sein Gesicht.
 

Noah rückte nah an ihn heran, legte ihm eine Hand in den Nacken und küsste liebevoll sein Gesicht.
 

Justine beob die Szene mit einem kleinen Lächeln und da kam ihr eine Idee:

„Ich weiß möglicherweise, wo du arbeiten und vielleicht sogar eine Lehre beginnen kannst, Christian. Bist du geschickt mit deinen Händen?“ wollte sie wissen.
 

Noah errötete und die Frage ließ ihn ein wenig kichern, denn er wusste ja ein wenig, wie es um die Geschicklichkeit der Hände seines Freundes bestellt war.
 

Christian ignorierte das, blickte die Frau überrascht an und zuckte mit den Schultern.
 

Justine sprach unbeirrt weiter:

„Halte dich morgen früh bereit und sieh zu, dass du einen ordentlichen Eindruck machst und gut angezogen bist. Ich erzähle dir alles Weitere dann!“
 

Christian nickte gehorsam, doch er traute sich nicht, genauer nachzufragen worum es überhaupt ging.
 

Später lagen Noah und Christian eng beieinander und Noah flüsterte:

„Du hast wieder ein Zuhause!“
 

Christian war noch immer überwältigt und nickte lediglich.
 

Die beiden Jungen küssten und berührten einander sanft; oberhalb von Kleidung und Gürtellinie, denn das waren die Spielregeln, die Noah für heute festgelegt hatte! Und eine Zeitlang lief es ganz gut, bis irgendwann die Küsse atemloser und die Berührungen fordernder wurden, Christan auf Noah lag und ihre Körper sich eng aneinander drängten.
 

Schließlich besann Noah sich jedoch, schob Christian sanft von sich herunter und erklärte lächelnd:

„Tut mir leid! Ich muss vor dem Dunkelwerden zuhause sein. Ich gehe jetzt!“
 

Christian erwiderte sein Lächeln kopfschüttelnd:

„Du machst mich noch verrückt!“ sagte er zärtlich.
 

„Das ist doch meine Aufgabe, oder nicht?“ erwiderte Noah mit einem frechen, kleinen Grinsen. Dann verabschiedete er sich.
 

Kaum war sein Freund aus dem Raum, schob Christian sich eine Hand in die Hose und schloss die Augen.
 

Margarete klopfte bei Tiny und Joe, trat ein und folgte der Einladung, sich zu den Männern auf das Bett zu setzen.

Sie wirkte angespannt und ernst:

„Hast du schlechte Nachrichten? Hat es nicht geklappt?“ erkundigte sich Tiny stirnrunzelnd.
 

Margarete schüttelte den Kopf:

„Nein, das ist es zum Glück nicht. Eigentlich habe ich sogar ein sehr gutes Gefühl in Bezug auf diese Sache. Ich weiß, dass es noch viel zu früh ist, irgendetwas zu sagen. Und wahrscheinlich haltet ihr mich für verrückt, wenn ich das sage, aber mir kommt es seit unserem Versuch neulich Nacht so vor, als wäre ich nicht mehr allein; so als wäre die Seele unseres Kindes schon bei mir.“ Sie blickte unsicher auf, doch die beiden Männer wirkten nicht, als würden sie an ihrem Geisteszustand zweifeln.
 

Wie zur Bestätigung sagte Joe:

„Das klingt doch sehr schön. Warum dann das lange Gesicht?“
 

„Mich beunruhigt etwas anderes.“ fuhr Margarete fort: „Und zwar das, was Kathryn vorhin angesprochen hat. Werden wir das „Yasemines“ wieder eröffnen, oder nicht? Mir ist nämlich etwas klar geworden: Ich kann das nicht mehr! Und das ist nicht nur eine vorübergehende Entscheidung: Nein, ich werde nie wieder als Hure arbeiten.“ Sie blickte die beiden Männer abwechselnd an und fuhr dann fort: „Meine Entscheidung hängt gar nicht unbedingt damit zusammen, ob ich nun ein Kind bekommen werde oder nicht. Es ist wegen allem, was ich wegen Carmichael durchgemacht habe! Es geht nicht mehr!“ Sie seufzte: „Aber ich weiß nicht, was dann aus mir werden soll. Ich habe nichts gelernt und niemals in einem bürgerlichen Beruf gearbeitet. Für mich gibt es im Grunde keine Optionen. Wenn die anderen Frauen sich entscheiden weiter zu machen, dann habe ich wohl keine Berechtigung mehr hier zu sein.“
 

„Es werden sich Lösungen finden!“ versicherte Joe beschwichtigend:
 

„Natürlich!“ stimmte Tiny zu: „Und wenn du unser Kind bekommen wirst, werde ich natürlich für euch sorgen!“
 

„WIR!“ beeilte sich Joe zu sagen: „Wenn wir eine Familie sein wollen, werde ich natürlich auch meinen Beitrag leisten!“ Margarete wirkte nach wie vor beunruhigt und Joe fügte hinzu: „Ich denke, alle sind momentan ein bisschen nervös beim Gedanken an die Zukunft, aber wir werden eine Lösung finden. Diese Familie ist stark und wird zusammenhalten; komme, was wolle! Du musst keine Angst haben.“
 

Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich heran, so dass sie in der Mitte zwischen ihm und Tiny zum Liegen kam.
 

Margarete genoss es, sich für einen Moment sicher und beschützt in ihrer Mitte zu fühlen.
 

Heute wirkte Melody nicht wie sonst gelöst und zufrieden nachdem sie sich geliebt hatten:

„Warum bist du so ernst, mein Liebes?“ wollte James wissen: „Fehlt dir etwas?“
 

Melody antwortete nicht gleich und James runzelte die Stirn, wie ein besorgter Welpe.

„Nun schau´ nicht so James! Es ist alles in Ordnung! Es war schön, so wie immer und du hast nichts falsch gemacht, also entspann´ dich!“
 

James grinste ertappt:

„Du fängst langsam an, mich ziemlich gut zu kennen!“ kommentierte er.
 

Sie erwiderte sein Lächeln fuhr dann jedoch ernst fort:

„Ich überlege, wie ich dir erklären soll, was gerade in mir vorgeht. Es geht um unsere Zukunft hier im roten Haus. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann hat mir die Auszeit gut getan. Ich habe früher nie darüber nachgedacht, ob die Arbeit im „Yasemines“ gut oder schlecht für mich ist. Ich habe es einfach getan. Das hat mit meiner Vergangenheit zu tun. In unserer alten Heimat hat der Mann, zu dessen Haus Margarete und ich gehörten sich einfach bedient, verstehst du? Er hat die jungen, schwarzen Frauen in sein Schlafzimmer mitgenommen, ganz so, als hätte er ein Recht darauf. Als meine Schwester und ich dann geflüchtet und hierhergekommen sind, war es eine echte Verbesserung. Plötzlich hatten wir so etwas wie Macht über unsere eigenen Körper! Wir haben keine Männer mit auf die Zimmer genommen, die wir nicht leiden konnten. Und wir wurden für unsere Dienste bezahlt. Aber nach dem, was Margarete wegen Carmichael zugestoßen ist, glaube ich plötzlich nicht mehr daran, dass ich irgendeine Form von Macht habe. Die Arbeit ist gefährlich und wir hatten bis dahin einfach nur Glück!“ Sie blickte ihn nachdenklich an: „Und dann ist da das, was du und ich hier haben. Ich schlafe mit dir aus keinem anderen Grund, außer dem dass ich es will. Das ist für mich das erste Mal in meinem Leben! Keine Sorge; ich mache dir jetzt keinen Heiratsantrag, oder mache mir Illusionen über uns beide. Aber diese Tatsache macht unsere Beziehung doch zu etwas Besonderem für mich. Es hat mich in gewisser Weise verwöhnt. Wenn ich mir in Zukunft jemanden mit in mein Bett nehmen werde, kann es nur noch jemand sein, den ich begehre, denke ich. Ich kann es nicht mehr für Geld tun!“
 

James blickte sie ernst an und antwortete dann nachdenklich:

„Aber es ist doch gut, dass du das nun weißt! Keiner wird dich zwingen, weiter im „Yasemines“ zu arbeiten. Du solltest ein Recht dazu haben, deine Liebhaber nach deiner Lust auszuwählen. Wenn du mich fragst, dürfte es gar nicht anders sein!“
 

Wie so häufig brachte James Melody zum Lächeln. Manch einer würde ihn vielleicht als naiv, oder einfältig bezeichnen, doch in Wirklichkeit war er einfach ein unverbesserlicher Idealist:

„Aber kannst du mir sagen, wovon ich leben soll, Liebling? Ich habe nichts gespart und nichts gelernt. Niemand wird einer ehemaligen schwarzen Hure Arbeit geben. Ich habe Angst vor der Zukunft!“ erwiderte Melody ernst.
 

„Etwas wird sich finden!“ versprach James: „Du wirst nicht verhungern! Das lasse ich nicht zu! Ich kann für dich sorgen! Wir alle werden es!“
 

Sie legte den Kopf auf seine Brust und ging mit den Fingern sanft durch die Haare, die dort wuchsen. Sie schwieg zu dem, was er gesagt hatte. Es hatte keinen Zweck die Realität mit einem Idealisten zu diskutieren.
 

Justine verbarg das große Paket hinter ihrem Rücken, so gut es ging und klopfte an Kathryns Zimmertür.

Als diese ihr öffnete, versuchte sie sogleich zu sehen, was Justine vor ihr zu verstecken versuchte:
 

„Darf ich hereinkommen?“ wollte Justine wissen:
 

„Natürlich!“ antwortete Kathryn:“ Du bist mir immer willkommen.“ Und wie ein ungeduldiges kleines Mädchen wollte sie nun wissen: „Was hast du denn da?“
 

Justine grinste und holte das Paket hinter ihrem Rücken hervor:

„Das sollte eigentlich dein Abschiedsgeschenk werden.“ erklärte sie: „Doch irgendwie konnte ich nicht abwarten, es dir zu geben!“
 

Kathryn lächelte überrascht, nahm das Geschenk an sich und legte es auf dem Bett ab. Sie öffnete das Paketband und wickelte das sperrige, dicke Papier ab, bis darunter ein wunderschönes, edles, hellgrünes Seidenkleid zum Vorschein kam.

Mit offenem Mund starrte Kathryn erst das Kleid und dann Justine an:

„Bist du verrückt geworden? Das muss ein Vermögen gekostet haben!“ rief sie aus:
 

„Das spielt keine Rolle!“ gab Justine entschlossen zurück: „Ich hatte eine genaue Vorstellung wie es aussehen sollte und der hiesige Schneider hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Es wird wundervoll an dir aussehen!“
 

„Soll ich es anziehen?“ fragte Kathryn.
 

„Selbstverständlich!“ gab Justine zurück: „Sonst habe ich doch keine Möglichkeit, es dir wieder herunterzustreifen!“
 

„Ich denke, ich weiß etwas Besseres!“ verkündete Kathryn listig. Sie zog sich komplett aus und streifte dann lediglich das neue Kleid über den nackten Körper. Sie drehte sich in beide Richtungen und fragte: „Wie sehe ich aus?“
 

„Besser, als ich zu hoffen gewagt hatte!“ erwiderte Justine bewundernd.
 

Kathryn legte sich auf den Rücken, warf Justine einen herausfordernden Blick zu, zog das Kleid ein wenig hoch, so dass sie ihre wohlgeformten Beine entblößte:

„Willst du mir nun unter den Rock schauen, Liebling?“ erkundigte sie sich anzüglich.
 

„Wir werden den schönen Stoff zerknittern!“ gab Justin schmunzelnd zurück.
 

„Das lässt sich wieder beheben!“ erklärte sie und zog das Kleid noch ein wenig höher, bis ein roter Haarbusch zum Vorschein kam:
 

„Du hast gewonnen!“ kapitulierte Justine. Sie legte sich auf Kathryn, blickte zärtlich auf sie hinab, schob ihre Hand zwischen ihre Beine und tauchte die Fingern in sie. Kathryn Atem beschleunigte sich und sie legte den Kopf in den Nacken.
 

Helena lehnte am Kopf des Bettes und streichelte Alice, welche in ihrer Armbeuge ruhte, durch das kurze blonde Haar:

„Es war nett von dir, Fürsprache für Christian einzulegen. Ich bin froh, dass er bleiben darf. Ich muss zugeben, dass ich anfange, ihn ins Herz zu schließen.“ erklärte sie.
 

Alice hob den Kopf, um sie anschauen zu können:

„Ich bin immer noch nicht ganz überzeugt von seinen Absichten.“ erwiderte sie.
 

Helena grinste:

„Das liegt daran, dass du der misstrauischste Mensch bist, den ich kenne.“ Nachdenklich fügte sie hinzu: „Ich vermute, das musstest du sein, nach allem, was du hinter dir hast? Und immerhin geht es hierbei ja um Noah; den wichtigsten Menschen in deinem Leben! Aber du bist nun in Sicherheit! Und er ist es auch! Alles wird gut werden, Engelchen!“
 

Alice kicherte:

„Etwas Ähnliches habe ich heute zu Margarete gesagt!“
 

„Ihr sprecht wieder miteinander?“ fragte Helena begeistert.
 

„Bist du denn gar nicht eifersüchtig?“ erkundigte sich Alice unsicher.
 

Helena schüttelte den Kopf:

„Welches Recht habe ich denn, eifersüchtig zu sein? Du bist doch nicht mein Eigentum! Und du hast Margarete bereits vor mir geliebt. Ich bin in der glücklichen Lage, dass du nun bei mir sein willst. Worüber sollte ich mich also beklagen. Im Gegenteil, ich bin glücklich!“
 

„Das bin ich auch!“ erwiderte Alice: „Du ahnst sicher nicht, wie sehr!“

Sie rollte sich auf Helena, nahm ihre sahnig weißen Brüste in ihre Hände und begann zart, an den Spitzen zu saugen. Helena schlang die Beine um Alices Hüfte und begann zu stöhnen, als diese anfing, rhythmisch ihr Becken gegen das Ihrige zu drängen.
 

Molly hatte heute nicht allein sein wollen, also hatte sie Regine gefragt, ob sie bei ihr übernachten dürfte. Nun schmiegten sich die beiden Frauen aneinander und Molly fragte:

„Irgendetwas liegt in der Luft. Hast du es auch bemerkt?“
 

Regine nickte:

„Ich glaube, uns stehen einige Veränderungen ins Haus. Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll.“ erwiderte sie.
 

„Wollen wir uns etwas versprechen? Egal was geschieht, wir halten zusammen, in Ordnung?“ fragte Regine.
 

Molly nickte:

„Abgemacht!“
 

Shy saß im Dunkeln auf ihrem Bett und versuchte dem unangenehmen Gefühl in ihrer Magengegend auf den Grund zu gehen.

War heute irgendetwas vorgefallen, was sie verstört hätte?

Sie konnte sich jedenfalls an nichts erinnern!
 

Es war wie eine Art dunkle Vorahnung, dass etwas Schlimmes bevorstand, nur glaubte sie selbst nicht an so etwas. Sie schüttelte den Kopf und schalt sich streng, dass sie wohl auf ihre alten Tage abergläubisch wurde.

Sie legte sich hin, zwang sich an etwas anders zu denken und war tatsächlich bald darauf eingeschlafen.
 

Snyder hatte sich den Tag über ziellos in der Stadt herumgetrieben. Nun war der Abend da und er stand unschlüssig vor der Tür seines eigenen Hauses. Wie bereits am Vormittag linste er wieder in die Fenster. Lydia war gerade dabei, Feuer zu machen. Sie wirkte so wie immer, also wagte er es, einzutreten.
 

Als sie ihn bemerkte, hob sie erwartungsvoll den Kopf und schaute ihn an.

Er nahm am Tisch Platz und sie servierte ihm sein Essen. Sie hatte das Ihrige bereits früher eingenommen. So hatten sie es in vergangenen Jahren häufig schon gemacht, aber etwas war anders als gewöhnlich?

Sie nahm ihm gegenüber am Tisch Platz und musterte ihn.

Ihr Blick durchbohrte Snyder beinahe. Als er es nicht mehr ertrug fragte er schließlich:

„Ist alles in Ordnung mit dir, Lydia? Geht es dir gut?“
 

„Eigentlich nicht!“ antwortete sie schlicht.
 

Doch weil er nicht nachfragte, teilte sie ihm auch nicht mit, was ihr durch den Kopf ging und das Gespräch war beendet.
 

Lydia schlief in dieser Nacht im Ehebett.
 

Der Sheriff auf dem Sofa.

Vertauen

Nach dem Frühstück stand Christian frisch gewaschen und rasiert, die Haare gekämmt und sorgfältig gescheitelt, die Fingernägel geschnitten und gesäubert, vor dem Haus und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während er auf Justine Carpenter wartete. Von Joe hatte er sich ein sauberes weißes Hemd geliehen, doch die einzige, die eine Hose für ihn gehabt hätte, die nicht zu kurz wäre war Alice, also hatte er mit zitternden Fingern bei ihr geklopft und sich innerlich schon auf eine barsche Abfuhr eingestellt.

Zu seiner Überraschung hatte sie dann doch eine ihrer heißgeliebten Hosen herausgerückt, aber darauf bestanden, sie baldmöglichst gewaschen zurückzubekommen.
 

Als Justine den zappelnden, angespannten, jungen Mann erblickte, musste sie schmunzeln:

„Na gut, mein Junge, ich will dich nicht länger auf die Folter spannen.“ erklärte sie: „Ich habe kürzlich den Schneider hier im Ort kennengelernt. Wir haben uns recht gut verstanden und vielleicht würde er dir, mir zu Gefallen eine Arbeit geben. Er ist nicht mehr ganz jung. Möglicherweise denkt er ja darüber nach, seine Künste an die nächste Generation weiterzugeben. Was sagst du?“
 

„Ich kenne den Mann vom Sehen.“ erwiderte Christian nachdenklich: „Als ich klein war, haben meine Eltern mich vor ihm gewarnt und gesagt, ich solle ihm aus dem Weg gehen und mich nicht allein von ihm erwischen lassen!“ Es begann in Christians Gesicht zu arbeiten und dann verwandelte sich seine Miene in ein Lächeln: „Ich glaube, jetzt verstehe ich, wovor sie Angst hatten!“
 

Justine lachte:

„Ich schätze, für derlei Befürchtungen seitens deiner Eltern ist es nun wohl ohnehin zu spät, wie?“
 

„Definitiv!“ erwiderte der Junge grinsend.
 

Die beiden machten sich auf den Weg:

„Ich weiß nicht, ob ich für diese Art der Arbeit geschaffen bin, aber ich versprechen, dass ich mein Bestes geben werde, wenn sie sich schon für mich einsetzen, Madame Carpenter!“ versicherte Christian ernsthaft:
 

„Es freut mich, das zu hören!“ entgegnete Justine.

Als sie bei der Schneiderei angekommen waren, erklärte sie:

„Ich denke, es wird am Besten sein, wenn du mich erst einmal allein mit Alexander sprechen lässt, mein Junge. Warte hier! Ich hole dich dann dazu, in Ordnung?“
 

Christian nickte und nahm auf den Stufen vor dem Laden Platz.
 

Der Schneider blickte überrascht von seiner Näharbeit auf und lächelte, als er Justine in sein Geschäft kommen sah. Er erhob sich und begrüßte sie mit Wangenküssen links und rechts:

„Ich hatte nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen, meine Liebe. Hat deiner Füchsin ihr Kleid etwa nicht gefallen? Oder passt es ihr nicht?“ erkundigte er sich.
 

Justine lächelte:

„Nein, das ist es nicht. Das Kleid ist vollkommen und Kathryn liebt es! Ich bin heute hier, weil ich einen Gefallen von dir erbitten möchte.“
 

Alexander blickte sie erstaunt an:

„Was könnte ich denn wohl für dich tun?“ wollte er wissen.
 

„Vor der Tür sitzt ein junger Mann, der dringend eine Arbeit und eine Perspektive für sein Leben benötigt.“ begann Justine: „Er hat in der Vergangenheit einiges durchgemacht. Seine Eltern haben ihn aus dem Haus geworfen und er war eine Weile auf sich allein gestellt. Er hat Dinge erlebt und tun müssen, die ihm nicht gut getan haben. Die Frauen im roten Haus haben ihm ein Zuhause gegeben, aber sie können ihn natürlich nicht versorgen. Er braucht Arbeit, sollte einen Beruf erlernen. Hierbei habe ich an dich gedacht!“
 

Alexander blickte Justine stirnrunzelnd an:

„Warum haben seine Eltern den Burschen denn hinausgeworfen? Ich habe nämlich wirklich kein Interesse daran, mich mit einem unerzogenen Bengel zu belasten. Für so etwas bin ich zu alt!“
 

Justine lächelte:

„Nein, es ist nichts in der Art. Er ist wirklich sehr höflich und scheint im Grunde ein anständiger Kerl zu sein. Seine Eltern waren mit seinem Lebenswandel nicht einverstanden, wenn du verstehst was ich meine. Ich dachte, gerade du könntest seine Situation vielleicht nachvollziehen?“
 

Ein Ausdruck des Begreifens tauchte auf Alexanders Gesicht auf:

„Ach, so ist das!“ erwiderte er.

Dann schüttelte er den Kopf und fuhr nach einer Weile stirnrunzelnd fort: „Aber dennoch weiß ich wirklich nicht, ob dass das Richtige für mich ist und ob ich derlei Unruhe in meinem Leben brauchen kann.“
 

Justine nahm Alexanders Hand in ihre beiden und blickte ihn voller Zärtlichkeit an, als sie erwiderte:

„Mir ist aufgefallen, wie allein du bist, mein Lieber. Es gibt niemanden, der dein Leben teilt und die Leute von Millers Landing meiden dich, solange sie nicht beruflich mit dir zu tun haben. Das finde ich sehr traurig, denn du bist ein wirklich liebenswerter Mann! Dies muss nicht allein ein Gefallen sein, den du einem anderen Menschen tust. Auch für dich kann es bereichernd sein, einen jungen Menschen in dein Leben zu lassen. Du kannst dein Wissen weitergeben, hast einen Gesprächspartner und jemanden der ein wenig Lebendigkeit in deinen Alltag bringen wird. Es wird jemanden geben, der dein Geschäft weiterführen könnte, wenn du irgendwann zu alt dafür sein wirst. Niemand verlangt, dass du den Jungen unbesehen einstellen sollst. Lerne ihn kennen und stelle ihn vielleicht zunächst auf Probe ein. Er hat keine großen Erwartungen und wird dankbar für eine Chance sein. Was denkst du?“
 

Alexander zuckte mit den Schultern:

„Stell` mir den Knaben doch einmal vor, damit ich weiß worüber wir überhaupt sprechen!“ erwiderte er zurückhaltend.
 

Justine lächelte. Dann holte sie Christian dazu.
 

Der Junge stand mit hochgezogenen Schultern im Laden und blickte den fremden Mann unsicher mit gesenktem Kopf an:
 

„Hallo mein Junge!“ begrüßte ihn der Schneider freundlich: „Mein Name ist Alexander Czerna. Wie heißt du?“
 

Christian streckte ihm seine Hand hin und erwiderte:

„Ich heiße Christian Petersen, Sir.“
 

„Und du möchtest eine Schneiderlehre machen?“ erkundigte sich Alexander.
 

Christian zuckte mit den Schultern:

„Ich möchte arbeiten! Ich bin fleißig und werde mir Mühe geben. Wenn ich ehrlich bin, habe ich bisher nicht darüber nachgedacht, Schneider zu werden. Ich muss zugeben, dass ich noch nie in meinem Leben etwas genäht habe. Es war die Idee von Madame Carpenter, dass ich mich bei ihnen vorstellen soll, doch mir gefällt der Gedanke! Ich kann ihnen nicht versprechen, dass ich ihren Erwartungen gerecht werde. Wenn sie denken, dass ich ungeeignet bin, werde ich mich nach etwas anderem umsehen. Aber ich würde mich freuen, wenn sie es mich versuchen lassen würden!“
 

Der Schneider blickte den Jungen nachdenklich an. Schließlich sagte er:

„In Ordnung! Du kannst ab morgen früh um neun Uhr anfangen! Ich werde sehen, wie wir zurechtkommen. Sei dir bewusst, dass ich nicht lange zögern werde, das Ausbildungsverhältnis zu beenden, wenn ich feststellen sollte, dass die Arbeit dir nicht liegt! Und ich werde dir am Anfang nicht viel bezahlen können, denn ich gehe davon aus, dass ich zunächst viel Arbeit in dich investieren muss, ehe du meinem Geschäft von irgendeinem wirtschaftlichen Nutzen sein kannst.“
 

Christian nickte und nun traute er sich ein wenig zu Lächeln:

„Ich verstehe! Ich danke ihnen, Sir! Wir sehen uns morgen!“

Er hielt Alexander wiederum die Hand hin und schüttelte diese:
 

„Geh` ruhig schon vor, mein Junge!“ sagte Justine: „Ich will noch ein wenig mit Alexander allein sprechen!“
 

Christian nickte und verließ den Laden mit klopfendem Herzen.
 

„Und? Was meinst du?“ wollte Justine von Alexander wissen, als sie wieder unter sich waren:
 

„Ein attraktiver Bursche!“ sagte Alexander anerkennend: „Aber wie ein Schneider sieht er nicht gerade aus? Groß, vor Kraft strotzend und mit riesigen breiten Händen. So einen würde man eher auf einer Baustelle, drüben in der Mine, oder in der Landwirtschaft vermuten, oder nicht?“
 

„Sei nicht so voreingenommen!“ entgegnete Justine lächelnd.“
 

„Ich werde mich bemühen!“ erwiderte Alexander. Und schmunzelnd erkundigte er sich: „Hat der Junge denn schon einen besonderen Freund?“
 

Justine nickte:

„Das darf natürlich niemand erfahren, aber der Junge des Reverends und er sind einander sehr zugetan, wie es scheint!“
 

Alexander schüttelte schmunzelnd den Kopf:

„Ich wette, es würde seine Mutter Gretchen, diese verdammte Hexe ins Grab bringen, wenn sie davon wüsste! Ich wäre zu gern dabei, wenn sie es erfährt. Diese Frau macht mir seit jeher schon das Leben schwer.“
 

„Ich habe sie nie kennengelernt, aber Kathryn hat mir so einiges über sie erzählt, was mir einen Eindruck vermittelt hat. Keine Sorge, du bist nicht der einzige, dem Ms. Schultz das Leben schwer macht!“
 

„Das kann ich mir vorstellen!“ gab der Schneider zurück.

Justine verabschiedete sich von Alexander und bedankte sich noch einmal bei ihm. Sie war überaus zufrieden mit dem Ausgang des Gesprächs.
 

Der Sheriff hockte unruhig an seinem Schreibtisch. Das untypische Verhalten seiner Frau in letzten Zeit ließ ihn einfach nicht los. Dies fing mittlerweile an, sich auf seine Konzentration und seine Arbeitsfähigkeit auszuwirken. Nachts schlief er mittlerweile gar nicht mehr durch. Er war besessen von der Idee, Lydia könnte ihn im Schlaf überraschen und ihm etwas antun. Zwar hatte sie sich ihm gegenüber bislang noch nicht gewalttätig gezeigt, bis auf den eigenartigen sexuellen Angriff vor einiger Zeit, doch sie war eindeutig nicht mehr sie selbst und Snyder wusste nicht, womit er rechnen musste. Schließlich hielt ihn nichts mehr an seinem Arbeitsplatz. Er überließ seinem Deputy das Department, um unauffällig zuhause nach dem Rechten zu sehen.
 

Stirnrunzelnd blickte James dem Sheriff hinterher. Immer häufiger verhielt er sich in letzter Zeit eigenartig, wirkte nervös, müde und abwesend, tauchte gar nicht erst zur Arbeit auf, oder ging früher, so wie heute. Nicht dass James tatsächlich so etwas wie eine persönliche Besorgnis gegenüber seinem Vorgesetzten empfand, denn im Grunde konnte er den verbitterten, manchmal recht bösartigen alten Kerl nicht sehr gut leiden. Er fragte sich jedoch, ob beruflich noch voll auf ihn zu zählen sei und ob er nicht früher oder später Fehler machte, die auch ihn betrafen, oder das Wohl der Menschen dieser Stadt gefährdete, für deren Schutz sie beide verantwortlich waren.

James nahm sich vor, die Lage genauestens im Auge zu behalten.
 

Als Snyder zuhause heimlich durch die Fenster spähte, stellte er fest, dass Lydia nicht da war.

Das war wirklich seltsam?

Wo steckte sie wohl mitten am Tag?
 

Snyder ging hinüber zum Gemischtwarenladen, doch durch das Schaufenster konnte er nur die beiden Jungen sehen, die dort arbeiteten; den Pastorensohn und den anderen, diesen Freund von Jimmy.

Die beiden hockten dicht beieinander, hatten offenbar nichts zu tun und tratschten miteinander wie alte Weiber. Snyder gefiel nicht, wie vertraut die zwei Knaben miteinander wirkten. Kurz dachte er darüber nach, einzutreten und sie ein wenig zu scheuchen, um dem Treiben ein Ende zu bereiten, doch hatte er im Augenblick Wichtigeres zu tun. Er musste Lydia finden!

Er suchte sie in den anderen Geschäften von Millers Landing und sogar beim Friseur, obwohl sie dort eigentlich niemals hinging, doch die Suche blieb erfolglos.
 

Als gerade niemand im Geschäft war, fragte Noah Joe unvermittelt:

„Was denkst du eigentlich über Christian?“
 

Joe legte grinsend den Kopf schief:

„Warum fragst du?“
 

Noah zuckte mit den Schultern und erwiderte:

„Ich möchte nur wissen, ob du glaubst, dass er in Ordnung ist, nachdem du ihn nun ein wenig kennengelernt hast? Denkst du, ich kann ihm vertrauen?“
 

„Hmm…“ machte Joe: „…er ist sicher nicht das Ungeheuer, welches du in ihm vermutet hast, als er wieder hier aufgetaucht ist. Er ist freundlich, benimmt sich drüben im Haus gut und ganz offensichtlich ist er total vernarrt in dich!“
 

Noah errötete, als er antwortete:

„Ja, scheint so, nicht? Aber es geht nun alles so schnell. Erst hatte ich Angst vor Christian und nun sind wir einander plötzlich so nah. Ich habe ihn auch sehr gern und nun überlege ich ob…“ Noah zögerte weiterzusprechen und so hakte Joe nach:
 

„Ob du...was?“
 

Joe war für Noah in den letzten Monaten immer mehr zu so etwas wie einem großen Bruder geworden und mit wem konnte er sonst über diese Dinge reden? Da blieb eigentlich nur Alice übrig, aber irgendwie fühlte sich das merkwürdig an, weil sie ein Mädchen war.

Schließlich rang sich Noah dazu durch, weiterzusprechen:

„Ich überlege, ob ich bereit für den nächsten Schritt bin, wenn du verstehst.“
 

„Häh?“ machte Joe zunächst dümmlich, doch als er Noahs verzweifelte Miene sah dämmerte es ihm und er lachte: „Sprichst du davon, mit Christian zu schlafen? Ich war mir sicher, das hättet ihr längst getan?“
 

Noah wurde immer kleiner, sein blasses Gesicht färbte sich dunkelrot und er schüttelte unglücklich den Kopf.
 

Joe schmunzelte gutmütig, legte freundschaftlich einen Arm um den Jungen und erklärte:

„Ich finde es schön, dass du damit gewartet hast. Irgendwie romantisch“ grinsend fügte er hinzu:

„Mir selbst ist das bislang nie gelungen, wenn ich verliebt war. Wie steht Christian denn dazu?“
 

Noah gelang es nicht, Joe anzuschauen und fixierte stattdessen den Boden:

„Er respektiert meinen Wunsch zu warten, aber ich schätze, wenn es nach ihm ginge, hätten wir es

längst getan. Für ihn ist es schließlich nicht das erste Mal!“

Plötzlich kam Noah ein erschreckender Gedanke:

„Denkst du, er verliert das Interesse, wenn ich zu lange warte?“
 

Joe schüttelte energisch mit dem Kopf:

„Das glaube ich nicht, so wie er sich ins Zeug legt, aber selbst wenn es so wäre, solltest du deine Entscheidung davon nicht abhängig machen!“
 

Der Sheriff kehrte nachhause zurück, um zu sehen, ob seine Frau mittlerweile wieder da war und tatsächlich, da saß sie am Esstisch und hatte wieder diesen Zettel vor sich liegen, welchen sie neulich geschrieben hatte.

Snyder öffnete rasch die Haustür, doch er kam zu spät: Lydia blickte ihn erschrocken an, doch das Blatt Papier hatte sie bereits verschwinden lassen:
 

„Was machst du denn so früh hier?“ fragte sie: „Das Abendessen ist noch längst nicht fertig!“

Sie klang beinah vorwurfsvoll.
 

Als müsste er sich rechtfertigen, wenn er sein eigenes Haus betrat:

„Ich dachte, ich sehe hier mal nach dem Rechten. Ich war vorhin schon einmal hier, doch das Haus war leer! Wo warst du?“ fragte er ärgerlich.
 

„Ich war einkaufen!“ behauptete sie.
 

Eine offensichtliche Lüge!

Selbst wenn sie im Stadtzentrum irgendwie ungesehen an ihm vorbeigelaufen wäre, wo waren dann die Einkäufe?

Snyder betrachtete seine Frau misstrauisch, doch er sagte nichts.

Ihn fröstelte.
 

Nach dem Abendessen lagen Noah und Christian nebeneinander auf dem Bett. Noah hatte seinen Kopf auf die Brust seines Freundes gebettet und lauschte dem beruhigenden, gleichmäßigen Herzschlag. Es gab einige wichtige Dinge, die er mit ihm besprechen wollte und bereitete sich mental darauf vor. Schließlich gab er sich selbst einen Ruck und begann:

„Wenn du damals nicht mich, sondern einen anderen Junge im Schuppen der Schule erwischt hättest, würdest du dann jetzt eigentlich bei ihm liegen, anstatt bei mir?“ fragte er unvermittelt.
 

Überrascht hob Christian den Kopf, blickte auf seinen Freund hinab und fragte:

„Wie bitte? Wie kommst du denn auf so etwas?“
 

„Na ja, die Art und Weise wie das mit uns angefangen hat war doch mehr oder weniger Zufall, oder etwa nicht?“ antwortete Noah schulterzuckend.
 

Christian schüttelte amüsiert den Kopf:

„Das glaubst du also? Dass ich derart wahllos an die Sache herangegangen bin? So war es aber nicht. Ganz und gar nicht! In Wirklichkeit hatte ich damals schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, dich allein anzutreffen. Ich wusste, dass du an jenem Tag in den Schuppen kommen würdest und habe dort auf dich gewartet.“
 

„Ehrlich?“ fragte Noah zweifelnd: „Aber wie solltest du denn überhaupt ahnen, dass ich mitmachen würde. Woher wusstest du, dass ich SO bin?“
 

Christian erwiderte kichernd:

„Ob du mitmachen würdest wusste ich natürlich nicht, aber ich habe damals ja auch nicht gerade um Erlaubnis gebeten. Ich habe es einfach versucht und hatte Glück, dass du mich nicht abgewiesen hast! Du hast keine Ahnung, wie viel Angst ich in diesem Moment davor gehabt habe, oder auch davor, dass du weglaufen und Hilfe rufen würdest und mein Geheimnis dann gelüftet wäre. Doch daran, dass du so bist wie ich hatte ich aber ehrlich gesagt nie einen Zweifel. Das war für mich offensichtlich!“
 

Noah machte ein langes Gesicht:

„Wirklich? Ich will aber nicht, dass man es merkt!“ klagte er: „Woran merkt man es denn? Und wie kann ich das verhindern?“
 

Christian küsste Noah und erklärte beschwichtigend:

„Vielleicht ist es ja gar nicht für jeden gleich offensichtlich, sondern nur für mich. Irgendwie müssen Jungs wie wir einander doch erkennen. Sonst würden wir uns doch nicht finden!“
 

„Aber du beantwortest mir meine Frage nicht!“ beharrte Noah unzufrieden: „Woran merkt man es?“
 

Christian blickte ihn ein wenig hilflos an und stotterte schließlich:

„Nun ja, du bist irgendwie ein wenig…anders als viele andere Jungen.“ Noah schaute zugleich fragend und unglücklich zu ihm hoch und Christian fuhr fort: „Du bist einfach sanfter, ruhiger, irgendwie weicher…verstehst du?“
 

Noah nickte unglücklich:

„Ich weiß!“ erklärte er tonlos und wendete seinem Freund den Rücken zu.
 

Dieser rückte nah an ihn heran, legte einen Arm um ihn und flüsterte:

„Das ist aber doch kein Grund traurig zu sein. Es ist nichts Schlechtes, so zu sein. Im Gegenteil, ich finde es toll! Es gefällt mir!“
 

Noah seufzte und griff nach der Hand, die ihn umfasste:

„Aber es bedeutet auch, dass ich immer ein leichtes Ziel für jene Leute sein werde die uns hassen! Sie können mich leichter erkennen und ich kann mich schlechter gegen sie zur Wehr setzen, weil ich schwach bin, richtig?“ gab er zurück.
 

„Du musst keine Angst haben!“ versprach Christian aufrichtig: „Ich bin stark und ich werde nicht zulassen, dass irgendwer dir etwas antut!“

Und wie zur Bestätigung zog er ihn noch enger in die Umarmung.
 

Noah lächelte ein wenig über Christians Worte, doch dann wurde er wieder ernst:

„Denkst du manchmal auch, diese Leute, die das ablehnen, was wir sind könnten damit recht haben? Glaubst du, mit uns stimmt vielleicht etwas nicht?“
 

Christian drehte Noah zu sich herum und blickte ihn fragend an:

„Was ist denn auf einmal mit dir los?“ wollte er wissen: „Warum machst du dir so merkwürdige Gedanken?“
 

Noah zuckte mit den Schultern:

„Das habe ich eigentlich immer schon getan. Also zumindest seit ich wusste, wie ich bin. Früher habe ich immer gehofft, dass diese Gefühle vorbei gehen werden, doch das sind sie nicht. Meine Eltern haben mir von klein auf beigebracht, dass Gott alles sieht und alle meine Gedanken kennt. Und das bedeutet, er ist jetzt auch hier in diesem Zimmer und sieht mir zu, wie ich bei einem anderen Jungen liege. Dann weiß er, was ich getan habe und was ich vielleicht noch tun möchte!“ Er seufzte und fuhr fort: „ Ich habe Angst davor, dafür in die Hölle zu kommen.“
 

Christian runzelte die Stirn:

„Wie ich schon gesagt habe, bevor die Katze aus dem Sack war, hatte ich wahnsinnige Angst davor was geschieht, wenn die Leute und besonders meine Eltern es herausfinden würden. Ich dachte, mein Leben wäre dann vorbei, aber ich habe mich geirrt. In gewisser Weise ist es sogar so, als würde es jetzt erst anfangen.“ Er machte eine nachdenkliche Pause, ehe er fortfuhr: „Ich kenne böse Gedanken und ich habe böse Dinge getan. Ich weiß, wie sich das anfühlt! Aber wenn ich bei dir bin, fühlt sich das nicht böse an. Im Gegenteil, es scheint mir dann so, als würde ich endlich etwas richtig machen!“ Christian grinste schüchtern und es machte ein schabendes Geräusch, als er sich verlegen am Kinn kratzte: „Das klingt ganz schön albern, oder? Aber irgendwie habe ich das Gefühl, du färbst auf mich ab und ich werde ein besserer Mensch durch dich! Und was kann daran böse sein?“

Noah schluckte. Dann zog er Christian zu sich heran, küsste ihn sanft und bedankte sich.

Der Wunsch zu bleiben war in diesem Moment größer als je zuvor, also erklärte er rasch:

„Leider muss ich jetzt nachhause. Es wird bald dunkel!“

Dann brach er auf, ehe er dazu nicht mehr den Willen aufbrächte.
 

Lydia lag mit offenen Augen allein in ihrem dunklen Schlafzimmer. Hubert hatte sich wieder einmal im Wohnzimmer niedergelassen, weil er es offenbar nicht mehr neben ihr im Bett aushielt?
 

Eigentlich war Lydia heute Mittag fest entschlossen gewesen, Justine Carpenter aufzusuchen. Sie war bis zur Stadtgrenze gekommen und hatte die beiden hellrot gestrichenen Häuser bereits in der Ferne ausmachen können, doch dann hatte sie der Mut verlassen. Eine Frau wie sie, die Gemahlin des Sheriffs wollte dem Bordell der Stadt einen Besuch abstatten?

Es wäre nicht auszudenken, welches Gerede es gäbe, wenn sie dabei von den falschen Leuten gesehen würde.

Aber sie musste Madame Carpenter sehen!

Sie wollte ihr die Liste zeigen, wollte mit ihr darüber sprechen und ihre Meinung hören. Sie hatte nämlich deren Vorschlag umgesetzt und sich einige Dinge überlegt, welche sie tun könnte, um ihrem Leben wieder Bedeutung zu geben. Sicherlich war sie nicht mehr jung, aber sie war schließlich noch am Leben; hatte noch etwas zu geben, einen Beitrag zu leisten, oder etwa nicht?

Wenn sie weitermachte, wie bisher, würde sie mit Sicherheit den Verstand verlieren. Justine Carpenters Worte waren wie ein Weckruf nach einem langen Schlaf gewesen und nun brauchte sie ein wenig Hilfe von ihr. Doch wie konnte sie sie nur erreichen, solange sie in diesem Haus war?
 

Das rote Haus.
 

In der Vergangenheit hatte Lydia, wie wohl die meisten Leute in Millers Landing, stets mit Widerwillen und Unbehagen an die Dinge gedacht, die sich dort wohl abspielen mochten. Doch nun, da sie ganz allein und unbeobachtet in ihrem Bett lag, schloss sie einen Moment die Augen und stellte sich vor, was diese Wände dort wohl schon alles gesehen hatten und ein wohliger Schauer überlief sie.
 

In der Nacht hatte Christian nicht gut schlafen können, denn er war einfach zu aufgeregt gewesen. Viel zu früh war er aufgestanden, hatte für alle Frühstück gemacht und nun stand er überpünktlich vor der Tür der Schneiderei, wo er von Alexander Czerna mit einem Grinsen begrüßt wurde:
 

„Na, mein Junge? Kannst du es gar nicht erwarten, anzufangen?“
 

Christian nickte eifrig.
 

Alexander ließ ihn ein und sagte:

„Dann lass uns mal sehen, was wir für dich zu tun haben.“
 

Zunächst lernte Christian etwas über die Arbeitsgeräte, die unterschiedlichen Garne und Stoffe. Dann zeigte der Schneider dem Jungen verschiedene Stichformen und stellte zufrieden fest, dass dieser sich unerwartet geschickt anstellte. Am Ende dieses ersten Arbeitstages war Christian sogar schon in der Lage, einfache Arbeiten auszuführen.
 

Nachdem Alexander zunächst befürchtet hatte, dieser fremde Junge würde zu einer Belastung für ihn werden und seinen routinierten Alltag stören, hatte der Schneider plötzlich das Gefühl, das Justine recht behalten könnte und Christian sich als Bereicherung für ihn erweisen würde. Woher dieses Gefühl kam, hätte er allerdings selbst nicht sagen können. Eventuell lag es daran, dass der Junge so vital und hoffnungsvoll wirkte. Vielleicht färbte das ab?

Alexander jedenfalls verspürte plötzlich in sich eine Offenheit, einen anderen Menschen in sein Leben zu lassen, die er lange nicht mehr empfunden hatte und den Wunsch, seine Kenntnisse und Künste weiterzugeben. Und zumindest vor sich selbst musste er zugeben, dass es Schlimmeres gab, als diesen gutaussehenden, jungen Mann, der ihm sicherlich sehr gefallen hätte, wenn er etwa vierzig Jahre jünger gewesen wäre, täglich um sich zu haben:

„Wir sehen uns morgen!“ erklärte Alexander am Ende dieses ersten Arbeitstages zufrieden.
 

Christian strahlte über das ganze Gesicht.
 

Als er die Schneiderei an diesem Abend verließ, waren dunkle, bedrohliche Wolken aufgezogen, doch bislang regnete es noch nicht. Der Junge nahm dennoch lieber seine Beine in die Hand, denn er hatte nicht den Wunsch, mitten in das hineinzugeraten, was dieser Himmel versprach.

Die Erste, die ihm im roten Haus über den Weg lief war Justine und Christian fiel ihr sogleich stürmisch um den Hals und bedankte sich noch einmal ausgiebig für die Vermittlung seiner Ausbildungsstelle, begleitet von einem begeisterten Kurzbericht seines ersten Tages.
 

Justine grinste:

„Ich habe mir doch beinahe gedacht, dass Alexander und du gut miteinander auskommen würdet!“ erklärte sie zufrieden.
 

Christian nickte aufgeregt:

„Er ist wirklich sehr nett zu mir. Und die Arbeit macht viel mehr Spaß, als ich gedacht hätte! Ich will unbedingt Noah davon erzählen.“
 

„Ich habe ihn mit Joe und ein paar anderen drüben in der Bar sitzen sehen.“ ließ Justine ihn wissen.

Christian stürmte sogleich los und Justine blickte ihm schmunzelnd hinterher.
 

Am Tisch in der Bar saßen Noah, Joe, Tiny, Sam, Alice und Helena beim Kartenspiel. Offenbar waren sie soeben im Begriff, ihre Partie zu beenden. Noah hatte Christian nicht kommen sehen und dieser schlang ihm ungestüm von hinten die Arme um die Brust und küsste seinen Nacken mit einem lauten Schmatzen.
 

Noah riss überrascht die Augen auf und stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus.

Joe, Tiny und Helena kicherten. Sam und Alice hingegen beäugten die Situation hingegen eher skeptisch:

„Jemand mit deiner Vorgeschichte sollte es sich lieber zweimal überlegen, ehe er einen anderen so erschreckt!“ kommentierte Alice grummelnd: „Woher soll Noah denn wissen, welche Absichten du wohl heute verfolgst?“
 

Christian blickte betreten zu Boden, doch Noah winkte ab:

„Lass` es gut sein, Alice!“ forderte er, erhob sich und zog Christians Gesicht zu einem Kuss zu sich heran.
 

Helena, Joe und Tiny johlten.

Alice schüttelte den Kopf, doch konnte sie sich zu ihrem Ärger ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

Sam runzelte die Stirn.
 

„Ich bin froh, dass du da bist!“ flüsterte Noah Christian ins Ohr.
 

Christian hockte sich zu den anderen an den Tisch. Der Schwung war ihm durch die Situation gerade eben zwar genommen, dennoch begann er, von seinem Tag zu berichten.

Noah strahlte, als er hörte, dass Christians erster Arbeitstag ein solcher Erfolg gewesen war. Er nahm seine Hand und drückte sie.
 

Nun erkundigte sich Joe, der durch seine Arbeit bei Petes Fine Goods so allerhand Tratsch mitbekam mit einem schelmischen Grinsen nach Christians neuem Arbeitgeber:

„Und? Streckt Mr. Czerna denn wohl seine ungezogenen Hände nach dir aus, Christian?“
 

Der Junge riss erstaunt die Augen auf und versicherte kopfschüttelnd:

„Natürlich nicht! Er ist ein wirklich netter älterer Herr. Ich glaube nicht, dass er so etwas tun würde!“
 

„Also wirklich, Joe!“ schalt Tiny seinen Liebsten streng und Noah rief empört:
 

„Das will ich ihm auch geraten haben!“

Er legte besitzergreifend einen Arm um Christian, was dieser mit einem kleinen Grinsen zur Kenntnis nahm.
 

Die Runde witzelte noch ein wenig über den Ruf, den der Schneider Czerna in Millers Landing genoss, bis es Sam, den das alles nicht interessierte zu viel wurde und er entnervt ein weiteres Kartenspiel vorschlug.
 

Die anderen waren einverstanden, doch Noah, der schon die ganze Zeit über ein wenig unruhig gewirkt hatte, verkündete, dass er lieber mit Christian noch ein wenig Zeit allein verbringen wollte:
 

„Willst du mit nach oben kommen?“ fragte Christian hoffnungsvoll.
 

Noah schüttelte den Kopf:

„Nein, ich würde lieber draußen ein wenig mit dir spazieren gehen.“

Er versuchte, ein wenig Zeit zu schinden.
 

„Hast du mal aus dem Fenster gesehen?“ fragte Christian zurück: „Es wird heute sicherlich noch ein tüchtiges Unwetter geben.“
 

„Das stört mich nicht!“ versicherte Noah: „Ich brauche noch ein wenig frische Luft!“
 

„Dein Wort ist mir Befehl!“ erklärte Christian schulterzuckend und mit einem kleinen Grinsen:
 

„So ist es Recht!“ entgegnete Noah mit einem kleinen Zwinkern.
 

Die beiden verabschiedeten sich von den anderen, doch kaum hatten sie das Haus verlassen, begann es auch schon leicht zu nieseln:
 

„Umkehren?“ fragte Christian.
 

Noah schüttelte den Kopf:

„Nein, ich habe Lust, noch ein wenig zu laufen. Ein bisschen Regen stört mich nicht! Was ist mit dir?“
 

„Es gibt Schlimmeres!“ versicherte Christian und platzte dann unvermittelt heraus: „Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, dass ich dich vorhin so erschreckt habe!“
 

„Ist es wegen dem, was Alice gesagt hat?“ fragte Noah überrascht: „Hör` nicht auf sie! Es ist in Ordnung! Du hast gar nichts falsch gemacht!“
 

„Doch, das habe ich!“ erwiderte Christian kläglich: „Alice hat recht! Ich habe so vieles wieder gut zu machen. Ich muss viel lieber und viel sanfter mit dir sein! Nichts, was ich tue soll dir je wieder Angst machen!“
 

Der Regen wurde heftiger. Noah schaute Christian ernst ins Gesicht, vergewisserte sich dann nach allen Seiten, dass niemand in der Nähe war, ehe er nach seiner Hand griff und die Finger mit den seinen verschränkte:

„Es ist alles gut! Versprochen!“ versicherte er.
 

Christian starrte zu Boden und mahlte mit den Kiefern.

Zum Regen hatte sich mittlerweile auch ein Sturm gesellt und die Regentropfen verwandelten sich nach und nach in Hagel:

„Was machen wir denn bloß hier draußen? Wir müssen zusehen, dass wir ins Trockene kommen!“ rief Christian gegen das Tosen an: „Ich begleite dich zu dir nachhause, und dann laufe ich zurück, in Ordnung?“
 

Noah schüttelte den Kopf:

„Zu dir ist es kürzer!“ erwiderte er und rannte in Richtung des roten Hauses.
 

„Aber es ist schon spät! Was wirst du deinen Eltern sagen?“ wollte Christian wissen.
 

Noah zuckte mit den Schultern und rannte weiter.
 

Als sie in Christians Zimmer ankamen, waren beide Jungen bereits nass bis auf die Haut und zitterten.

Christian kauerte vor dem winzigen Ofen, um ein Feuer zu machen:

„Gib` mir deine nassen Kleider, damit ich sie über den Ofen hängen kann.“ forderte er Noah auf: „In der Kommode findest du etwas Trockenes.“
 

In seiner Unterwäsche breitete Christian ihrer beider Kleidung in der Nähe des Feuers aus und als er sich wieder umwandte, entdeckte er, dass Noah in sein Bett geschlüpft war:

„Ich brauche gerade nichts zum Anziehen!“ erklärte er viel selbstbewusster, als er sich fühlte.
 

Christian nahm auf der Bettkante Platz:

„Was hast du denn vor?“ fragte er unsicher.
 

„Ich warte auf dich!“ verkündete Noah entschlossen, doch sein Gesicht sprach eine andere Sprache. Er war blass hinter seinen Sommersprossen und seine Augen waren riesige, dunkle, furchtsame Teiche.
 

Christian griff nach Noahs Hand und drückte sie:

„Wir haben dafür noch genug Zeit!“ versicherte er.
 

Noah schüttelte den Kopf und zog ihn an seiner Hand auf sich zu:

„Ich bin froh, dass ich endlich den Mut dazu gefasst habe. Draußen habe ich die ganze Zeit versucht es dir zu sagen, aber die Worte kamen einfach nicht über meine Lippen.“
 

Es war bereits stockfinstere Nacht, als Noah schüchtern fragte:

„Hat das Warten sich gelohnt?“
 

Christian kicherte leise, zog Noah im Bett noch ein wenig näher an sich heran und versicherte:

„Und wie!“ Dann wollte er wissen: „Aber was ist mit Dir? War es so, wie du es Dir vorgestellt hast?“
 

Christian spürte Noahs Kopfschütteln mehr, als dass er es im sterbenden Licht des Ofens sehen konnte:

„Nein, es war ganz anders!“ erklärte Noah schlicht und Christian wurde ein wenig bange. Doch dann fuhr Noah fort: „Ich dachte, es wäre eine große, furchteinflößende Sache, aber das war es nicht. Kennst du Situationen, in denen plötzlich alles einen Sinn macht und die Verwirrung endet? So war es! Und es war wirklich schön!“
 

„Das war es!“ bestätigte Christian und vergrub sein Kinn an Noahs Hals. Dann fragte er: „Wie kommt es, dass du es ausgerechnet jetzt tun wolltest. Was hat sich verändert?“
 

„Weil ich dir jetzt vertraue!“ erklärte Noah.

Christian wurde innerlich ganz warm:
 

„Ich verspreche Dir, dass kannst du! Egal was kommen mag!“ versicherte er und wollte dann wissen: „Aber was wirst du deinen Eltern sagen, wo du warst?“
 

Noah zuckte mit den Schultern.
 

Auf dem Heimweg durch die kalte dunkle Nacht fühlte Noah zu seiner Überraschung keine Angst. Stattdessen empfand er eine nie gekannte Selbstsicherheit.

Er war endlich im Reinen mit sich!

Das konnte ihm niemand wieder nehmen, auch seine Eltern nicht.
 

Im Pfarrhaus brannte noch ein kleines Licht, als er ankam.

Die Zeichen der Apokalypse

Noah drückte die Türklinke herunter und trat ein. Am Esstisch im Schein einer einzigen Öllampe saß seine Mutter und starrte ihn müde und vorwurfsvoll an, sagte jedoch zunächst kein Wort.
 

„Hallo Mutter!“ murmelte Noah und nahm am gegenüberliegenden Ende des Tisches Platz, bereit, seine Standpauke zu erhalten.
 

„Wo warst Du? Ich bin krank vor Sorge!“ bellte Gretchen Schultz ohne große Vorrede.
 

„Es tut mir leid! Ich wollte nicht, dass du dich ängstigst.“ erwiderte Noah sanft: „Ich war mit einem Freund draußen und wir wurden vom Regen überrascht. Wir haben bei ihm zuhause Unterschlupf gesucht, um das Unwetter abzuwarten und sind dann vor dem Kamin eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, bin ich sofort nachhause gelaufen. Es wird nicht wieder vorkommen.“
 

Seine Mutter anzulügen kam Noah nun wie ein vergleichsweise kleines Vergehen vor, angesichts dessen, womit er seinen Abend heute tatsächlich verbracht hatte.

„Ein Freund?“ fragte Gretchen Schultz misstrauisch: „Was für ein Freund? Du hast doch gar keine Freunde! War es dieser Junge, mit dem du zusammenarbeitest?“
 

„Nein. Es ist ein Junge, mit dem ich zur Schule gegangen bin! Sein Name ist Christian.“
 

Seine Mutter schüttelte den Kopf:

„Ich glaube Dir nicht!“ verkündete sie scharf: „Es war sicher dieses Mädchen Alice! Habt ihr gesündigt, mein Sohn? Sag´ mir die Wahrheit!“

Das Gesicht der Pastorengattin legte sich in bekümmerte Falten.
 

Beinahe hätte Noah laut losgelacht. Seine Mutter hatte wirklich keine Ahnung, wer er eigentlich war und aus irgendeinem Grund machte Noah das plötzlich sehr wütend. „Ja!“ wollte er brüllen: „Ich habe gesündigt! In einer Weise, die du dir nicht einmal vorstellen könntest. Es hat mir gefallen, es tut mir nicht leid und ich werde es wieder tun!“ doch stattdessen schüttelte er nur leise mit dem Kopf und erklärte schlicht:

„So war es nicht! Alice ist fort! Das weißt du doch. Es war nur ein Freund!“ Dann er erhob er sich und fügte hinzu: „Ich werde jetzt zu Bett gehen!“

Er zog sich zurück und ließ seine Mutter einfach sitzen.
 

Als er allein in seinem Bett lag schloss er die Augen, dachte an die vergangenen Stunden und lächelte in sich hinein. Auf seiner Haut roch er den Duft von Regen und den eines anderen Menschen.
 

Alice hatte es sich neuerdings zur Angewohnheit gemacht, vor dem Frühstück zu Margarete ins Zimmer und in ihr Bett zu schlüpfen. Margarete war sich nicht sicher, was Helena wohl dazu sagte, oder ob sie es überhaupt wusste und bislang hatte sie es auch noch vermieden danach zu fragen, denn sie genoss es zu sehr, vor dem Aufstehen noch eine Weile in Alices Armen zu liegen, wenn sie sie schon bei Nacht vermissen musste, doch an diesem Morgen siegte die Neugier.
 

Auf Margaretes Frage hin schüttelte Alice den Kopf:

„Helena weiß, dass ich hier bin und sie ist keine Spur eifersüchtig! Ist das nicht eigenartig? Denkst du, das heißt ich bedeute ihr nicht genug?“
 

Margarete lachte leise:

„Niemals! Sie hat ihre Verlobung gelöst und ihr ganzes Leben deinetwegen umgeworfen. Ich denke, sie muss verrückt nach dir sein, meine Süße!“ erklärte sie und fügte mit einem kleinen verlegenen Lächeln hinzu: „Wer könnte es ihr verdenken?“

Alice zog eine Augenbraue hoch und Margarete fuhr rasch fort, um die soeben getane Bemerkung zu überspielen:

„Ich möchte dir etwas erzählen was noch niemand weiß; auch die beiden Männer nicht: Ich denke es hat geklappt? Ich bin schwanger!“
 

Alice richtete sich im Bett auf und blickte mit großen Augen auf sie hinab:

„Meinst du? Woran merkst du das?“
 

„Meine Blutung ist ausgeblieben und meine Brüste spannen. Ich bin nicht sicher, aber ich denke, daran merkt man es!“
 

Alice nahm Margarete Hand, führte sie zu ihrem Mund und küsste sie:

„Ich freue mich für dich!“ verkündete sie.

Sie meinte es so.
 

Am Frühstückstisch trafen sich die Blicke von James und Kathryn und blieben aneinander hängen.

`Diese Augen!´ dachte James.

Dann traf es ihn plötzlich, wie ein Schlag: Er liebte sie noch!

Er warf einen schuldbewussten Blick auf Melody neben sich.
 

Lydia belauerte ihren Ehemann am Frühstückstisch und konnte es beinahe nicht erwarten, dass er endlich Anstalten machen würde, das Haus zu verlassen, denn heute, so hatte sie beschlossen, würde sie endlich hinüber zum roten Haus gehen, um mit Justine Carpenter über ihre Lebensplanung zu sprechen. Wenn sie ganz vorsichtig wäre, würde sie sicherlich niemand sehen, sagte sie sich, um sich zu beruhigen, doch es half nicht richtig. Sie hatte das Gefühl, ihr gesamtes Inneres sei von Ameisen besiedelt, die wie wild durcheinander liefen. Lydia wusste nicht, was sie mehr ängstigte, Madame Carpenter zu treffen und ihr Urteil zu hören, oder dieses berüchtigte Haus zu betreten.
 

Endlich erhob Hubert sich vom Tisch. Er beäugte sie misstrauisch.
 

Sie starrte durch Augenschlitze zurück.
 

Er ging ohne ein Wort.
 

Lydia schob die Scheibengardinen beiseite, um sich zu vergewissern, dass er wirklich fort war. Dann zog sie denn winzig gefalteten Zettel aus ihrem Dekolletee.

Sie las ihn noch einmal und das Geschriebene erschien ihr plötzlich belanglos, lächerlich und erbärmlich. Die Ameisen hatten sich scheinbar noch weiter vermehrt, krochen ihr nun aus den Körperöffnungen und bedeckten schließlich ihren ganzen Körper.
 

An seinem zweiten Arbeitstag blickte Christian immer wieder prüfend zu seinem neuen Chef hinüber, denn Joes Bemerkung vom Vortag ging ihm nicht aus dem Kopf, doch Alexander Czerna zeigte keinerlei unschickliches Interesse an ihm.

Eigentlich beleidigend, dachte er bei sich. Schließlich war er doch ein recht ansehnlicher Kerl, oder etwa nicht?

Aber letztlich war es sicher besser so. Christian wollte diese Arbeit nicht gleich wieder verlieren und derlei Dinge verkomplizierten häufig alles.
 

Er linste noch einmal hinüber zu Czerna und überlegte, wie dieser IHM denn eigentlich gefiel? Eher schmächtig und klein, besonnen und sanftmütig. Abgesehen davon, dass er alt genug war, sein Großvater zu sein, waren dies durchaus Attribute, die ihm gefielen. Gut möglich, dass Noah ihm in vierzig Jahren ähneln mochte?
 

Christian hoffte jedoch, dass dieser dann nicht derart melancholisch sein möge. Vielleicht wäre er selbst dann ja sogar noch in der Nähe wäre, um das zu verhindern?

Was mochte Czerna wohl so traurig machen, überlegte Christian?
 

Vielleicht würde er es ihm eines Tages verraten?
 

Lydia schlich hinüber zum roten Haus und sah dabei aus, wie eine Person, die sich gerade eines Verbrechens schuldig machte. Hektisch drehte sie sich immer wieder nach allen Seiten um, nahm nicht den direkten Weg, sondern schlug Haken, wie ein gejagtes Kaninchen, um etwaige Verfolger, die nur in ihrer ängstlichen Vorstellung existierten in die Irre zu führen. Als sie die beiden hellrot gestrichenen Häuser schließlich am Horizont aufragen sah, raste ihr Herz dermaßen, dass sie fürchtete, sie müsste daran sterben. Warum verdammt nochmal, gab es hier nur so wenig Sichtschutz? Kein Haus weit und breit und nur wenige Bäume. Zwischen ihnen huschte Lydia nun hin und her und näherte sich dabei langsam ihrem Ziel. Nun war es nur noch ein letzter Sprint und sie stand vor dem Wohnhaus. Sie pochte aufgeregt an der Tür und es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis ihr endlich geöffnet wurde.

Ein schmächtiger Junge von etwa vierzehn oder fünfzehn Jahren blickte sie fragend an. Ihr Blick war gehetzt und wechselte aufgeregt zwischen dem Knaben und dem Inneren des Hauses hin und her, ehe sie japsend hervorbrachte:

„Madame Carpenter. Ist sie da? Darf ich hereinkommen?“
 

Sam zuckte gleichgültig mit den Schultern:

„Ich hole sie!“ erklärte er, ließ die seltsame Fremde eintreten und führte sie in die Küche. Dort fand Lydia einen großen, schlanken Jungen und eine hübsche, zierliche, junge Frau vor, die Händchen hielten. Der Junge kam Lydia vage bekannt vor. Er erinnerte sie an den jüngeren Sohn des Hufschmieds, doch irgendwie war er es dennoch nicht?
 

Alice zog Helena aus der Küche und aus dem Haus, denn sie hatte die Frau des Sheriffs erkannt und hoffte sehr, dass diese ihrerseits nicht ahnte, wer sie selbst war. Doch wahrscheinlich hatte sie sie nicht einmal als ein Mädchen identifiziert, versuchte sie sich selbst zu beruhigen:
 

„Was ist denn los Liebling? Wer war das?“ wollte Helena wissen.
 

Alice erklärte es ihr und Helena machte große Augen:

„Denkst du, sie weiß, wer du bist und wird dich an deine Familie verraten?“
 

Alice zuckte mit den Schultern:

„Ich habe mich ganz schön verändert! Vielleicht habe ich sie täuschen können.“ Sie zögerte, ehe sie weitersprach: „Ich will nicht weiter flüchten müssen! Ich bin gerne hier!“ sagte sie unglücklich:
 

„Mach` dir keine Sorgen. Es wird schon nicht so schlimm werden! Und falls doch, hast du Freunde hier, die dich beschützen werden! Und einer davon ist immerhin der Deputy dieser Stadt!“ Und mit einem schelmischen kleinen Zwinkern fügte sie hinzu: „Komm! Wir verstecken uns in meinem Zimmer, schließen ab und ziehen die Gardinen zu, dann findet uns niemand. Ganz gleich WAS wir treiben!“

Sie kicherte.
 

Alice schüttelte schmunzelnd den Kopf über ihre durchtriebene Freundin:

„Du kriegst wohl nie genug?“ fragte sie.
 

„Das siehst du richtig!“ erwiderte Helena und zog Alice hinter sich her.
 

„Na sowas! Haben sie also endlich doch den Weg hierher gefunden, Mrs. Snyder!“ begrüßte Justine Lydia herzlich.
 

Die Frau des Sheriffs wirkte blass und gehetzt:
 

„Soll ich uns einen Tee machen?“ erkundigte sich Justine sanft: „Sie sehen aus, als könnten sie ihn vertragen.“
 

Lydia nickte fahrig und Justine nahm ihre Hand und drückte sie.

Als das Teewasser aufgestellt war, führte Justine Lydia am Arm zum Tisch, hieß sie Platz zu nehmen und setzte sich neben sie:

„Was führt sie denn zu mir?“ erkundigte sich Justine: „Wie kann ich ihnen weiterhelfen?“
 

Der Blick der Gemahlin des Sheriffs war der eines verwundeten Tieres:

„Sie haben gesagt, ich soll ihnen sagen, wie ich mein weiteres Leben gestalten möchte. Sie wollten mir helfen! Erinnern sie sich nicht?“ stotterte sie ängstlich.
 

Justine lächelte sanft:

„Aber sicher erinnere ich mich, Mrs. Snyder. Sind sie deshalb gekommen? Ich bin sehr gespannt!“
 

Lydia nickte eifrig und zog einen winzig zusammengekniffenen Zettel aus ihrem Ausschnitt, entfaltete ihn und legte ihn vor Justine auf den Tisch.
 

Die Schrift auf dem Dokument verriet einem bereits alles, was es über Lydia Snyders Gemütszustand zu wissen gab. Die Buchstaben waren klitzeklein, als sollten die niedergeschriebenen Gedanken auf gar keinen Fall zu viel Raum einnehmen. Darüber hinaus fiel auf, wie unglaublich akkurat die Schriftzeichen waren. Sie sahen nicht geschrieben, sondern eher gedruckt aus, so als hinge das Leben der Verfasserin davon ab, so ordentlich, genau und kontrolliert wie möglich alles festzuhalten. Die Liste umfasste folgende Punkte:
 

Etwas tun, was anderen nutzt

Menschen helfen

Eigenes Geld haben

Jemanden zum Reden haben

Einmal Millers Landing verlassen und das Meer sehen
 

Beim letzten Punkt war die Schrift schließlich so klein, das Justine ihre Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug, zu Hilfe nehmen musste, um sie zu entziffern:
 

Meinen Mann verlassen
 

Stand dort geschrieben.

Justine blickte Lydia nachdenklich an. Lydia schaute mit weit geöffneten Augen ängstlich zurück:

„Sie finden es sicher sehr dumm, habe ich recht?“
 

Justine schüttelte energisch den Kopf:

„Keineswegs meine Liebe! Was sie schreiben klingt sehr vernünftig!“ erwiderte sie: „Nun lassen sie uns sehen, wie wir ihre Wünsche Wirklichkeit werden lassen können. Haben sie noch lebende Familienangehörige? Eltern, Kinder, sonst irgendjemanden, der ihnen behilflich sein kann oder sie vielleicht sogar bei sich aufnehmen könnte?“
 

Lydias Gesicht verwandelte sich vor Justines Augen zu einer bleichen Totenmaske. Zwei riesige Tränen kullerten ihr über die wächsernen Wangen:

„Da ist niemand!“ schluchzte sie: „Nur meine beiden Jungs, doch die würden mir niemals helfen, ihren Vater zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Eher würden sie mich in ein Sanatorium schickten, weil sie sicher wären, das ich den Verstand verloren habe.“ Sie schluckte: „Wahrscheinlich habe ich das ja auch! Ich habe Kinder erzogen und damit meinen Teil geleistet. Ich muss verrückt sein, mehr zu wollen!“
 

Sie wollte vom Tisch aufspringen, doch Justine griff nach ihren Schultern und drückte sie zurück in den Stuhl:

„Warten sie, meine Liebe. Ihr Teewasser hat soeben gekocht. Den sollten wir jetzt noch gemeinsam genießen!“ erklärte sie bestimmt und erhob sich um den Aufguss zu machen: „Wie alt sind sie Lydia?“ erkundigte Justine sich über ihre Schulter hinweg.
 

„Ich werde in diesem Jahr fünfundfünfzig Jahre alt. Eine Großmutter also. Ich habe schon vier Enkelkinder.“
 

Justine stellte die Becher auf dem Tisch ab, ließ sich wieder nieder und erwiderte:

„Sie haben gewiss noch sehr viele Jahre vor sich. Wollen sie diese wirklich damit verbringen, auf den Tod zu warten? Denken sie, dass sich das unser Schöpfer so gedacht hat, als er uns ins Leben gestellt hat?“
 

Lydia blickte die andere Frau nachdenklich an und schüttelte dann den Kopf:

„Vermutlich nicht!“ bestätigte sie matt.
 

Justine lächelte aufmunternd:

„Als Frauen lernen wie von klein auf, uns zu begnügen. Aus irgendeinem Grund ist mir das nie sehr gut gelungen. Ich wollte immer mehr, als man mir zugestehen wollte. Und weil ich so daran geglaubt habe, habe ich es auch bekommen. Ich bin viel gereist, habe interessante Menschen getroffen und habe die Chance gehabt, in den Köpfen von Menschen etwas zu verändern. Sie ahnen sicher nicht, wie wundervoll und beglückend das sein kann, aber ich möchte sie ermutigen, große Träume zu haben, sowie den Mut, zu versuchen, diese in die Realität umzusetzen. Ich denke, meine Mitstreiterinnen und ich würden sie gern dabei unterstützen. Können sie sich vorstellen, uns nach Boston zu begleiten, wenn die Zeit gekommen ist?“
 

Entsetzen, Neugier und Begeisterung kämpften in Lydias Gesicht um die Oberhand. Schließlich platzte sie heraus:

„Darf ich darüber nachdenken?“
 

„Aber sicher!“ erwiderte Justine: „Sie sollten es sich sogar sehr gründlich überlegen, denn es ist eine große Entscheidung. Aber versprechen sie mir, dass sie sich bei dieser nicht allein von ihrer Angst leiten lassen, in Ordnung?“
 

Lydia nickte und machte sich zum Aufbruch bereit, ohne ihren Tee angerührt zu haben. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und erklärte feierlich:

„Ich werde sie wieder aufsuchen!“

Dann war sie verschwunden.
 

Justine blickte ihr nachdenklich hinterher. „Eine eigenartige Frau“, dachte sie, aber auf irgendeine Weise fühlte sie sich von Lydia Snyder tief berührt.
 

Lydia verließ das rote Haus seltsam gewärmt. Irgendetwas an Justine Carpenter vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, welches sie sonst nicht kannte. Obwohl einige Jahre jünger als sie selbst, erschien sie ihr wie eine Art freundliche, gütige Mutterfigur.

Beinahe hätte Lydia in ihrem Hochgefühl sogar ihre Vorsicht vergessen, sich nicht entdecken zu lassen. Als ihr das klar wurde, schrak sie zusammen und besann sich wieder auf etwas mehr Achtsamkeit. Und wie sich herausstellen sollte, war das auch gut so. Sie war einen großen Bogen gelaufen, damit man von Millers Landing aus nicht ahnen konnte, woher genau sie kam und kaum hatte sie sich dem Ortskern genähert, erblickte sie in der Ferne ihren Ehemann. Er hatte sie auch gesehen, dessen war sie sich sicher, aber er versteckte sich rasch hinter einer Hauswand.
 

„Wo kommt sie um diese Zeit her? Was treibt diese Frau?“ fragte Snyder sich ärgerlich. Sie hatte ihn nicht gesehen; so meinte er zumindest. Wenn er sich sehr beeilte, war er vor ihr zuhause. Dann würde er sie zur Rede stellen.

Er rannte los.
 

Immer noch ein wenig keuchend und schwitzend ließ der Sheriff sich am Esstisch in seinem Haus nieder, schlug betont lässig ein Bein über das andere und erwartete seine Frau. Als sich die Tür öffnete, bemerkte er gereizt:

„Kommst du auch endlich nachhause? Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich! Wo warst du? Wann gibt es Mittagessen?“
 

Lydia lächelte geheimnisvoll:

„Ich fange gleich an zu kochen.“ versicherte sie und verschwand in der Küche, ohne auf seine anderen Fragen auch nur einzugehen.
 

Snyder folgte ihr; nur um sicherzugehen, dass nichts in seinem Mittagessen landete, was nicht dort hinein gehörte.
 

Am folgenden Tag meldete er sich bei seinem Deputy für eine Woche krank, ohne es Lydia wissen zu lassen. Er verließ am Morgen das Haus und verfolgte dann heimlich jeden Schritt seiner Frau. Er würde schon noch herausfinden, was hier gespielt wurde!
 

In den folgenden Tagen machte sich Katerstimmung im roten Haus breit. Nächste Woche war es so weit, die Bostonerinnen würden wieder abreisen.

Allen war nur allzu deutlich bewusst, wie fest die Bande geworden waren, die zwischen ihnen entstanden waren. Der Abschied würde schwer werden; mehr noch in dem Bewusstsein, dass sie ihre jüngste Mitstreiterin Helena zurücklassen würden.
 

Und Justine brach es das Herz, Kathryn zu verlassen. Zwar hatte sie sich damit abgefunden, dass diese ihr nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte wie umgekehrt, doch sie würde nicht nur eine Geliebte, sondern auch eine Freundin und Seelenverwandte zurücklassen; einen der interessantesten Menschen, der ihr in ihrem Leben begegnet war.
 

Die Bewohnerinnen und Bewohner des roten Hauses würden ihre Gäste ebenfalls vermissen, doch abgesehen davon war da ja auch die Angst vor der ungewissen Zukunft. Weiterzumachen, wie vorher kam für niemanden infrage; darüber waren sich alle einig, doch welche Alternativen hatten sie schon?

Würden die Leute von Millers Landing ihnen wohl die Chance geben, ein bürgerliches Leben zu beginnen?

Würden sie hier seriöse Anstellungsverhältnisse finden?

Einig waren sie sich wenigstens in einem Punkt: Was immer sie taten, sie würden es gemeinsam tun. Ob sie blieben, oder fortgingen, ob sich ihnen eine Zukunft böte oder sie hungern müssten; sie würden es zusammen durchstehen.
 

Sie kamen schließlich überein, dass sie versuchsweise den Barbetrieb wieder aufnehmen würden, doch abgesehen vom Alkoholausschank würde es keine weiteren Dienstleistungen mehr dort geben. Ob sie damit erfolgreich wären, oder untergingen war ungewiss.
 

Melody bedrückte neben dem Abschiedsschmerz und den Zukunftsängsten noch etwas anderes. Sie hatte nämlich eine erschreckende Feststellung gemacht: Es gab unmissverständliche Anzeichen dafür, dass sie schwanger war!

In all` den Jahren als Hure war dies nie geschehen, so dass sie immer davon ausgegangen war, unfruchtbar zu sein und im Grunde war ihr das ganz recht gewesen. Doch offensichtlich hatte sie sich geirrt.

Und was nun?

Sie wusste genau, was James tun würde, wenn er davon erführe, nämlich das Anständige: Er würde darauf bestehen, dass sie ihn heiratete. Das kam für Melody auf keinen Fall in Frage.

Allein der Gedanke daran schnürte ihr die Luft ab!
 

Sie musste also zusehen, dass James in die Arme seiner geliebten Kathryn zurückkehrte, ehe ihr Zustand nicht mehr zu leugnen wäre.

Mehr als alles Andere wollte Melody ihrer Schwester erzählen, was geschehen war und ihren Rat einholen, doch zwischen ihnen herrschte immer noch eiszeitliche Stimmung und damit wurden die Optionen rar, sich irgendwem anzuvertrauen.
 

Ein paar Mal hatte Lydia in den vergangen Tagen den Versuch gemacht, hinüber zu Madame Carpenter zu gehen, doch irgendwie hatte sie sich stets unwohl dabei gefühlt, so als würde sie dabei beobachtet werden. Offenbar litt sie bereits unter Verfolgungswahn, doch hin und wieder meinte sie, ihren Ehemann hinter einer Mauer oder einem Baum lauern zu sehen, wenn sie aber nachschaute, war er nicht da, und so verschob sie ihren zweiten Besuch im roten Haus von einem Tag auf den nächsten um ganz sicher zu gehen. Doch langsam wurde sie unsicher, denn sie wusste auch, dass die Damen aus Boston bald abreisen würden. Also nahm sie an einem Nachmittag ihren ganzen Mut zusammen und machte sich auf den Weg.
 

Das tagelange Lauern schien sich endlich bezahlt zu machen. So, wie Lydia sich immer wieder umschaute, ängstlich innehielt und scheinbar sinnlos die Richtung wechselte, hatte sie offenbar ein Ziel vor Augen und wollte unbedingt sichergehen, dass niemand ihr folgte.

Was mochte sie vorhaben?

Wen wollte sie in dieser Heimlichkeit treffen?

War es ein anderer Mann?

Oder ging es gar um etwas viel Schlimmeres?

Langsam wurden die Verstecke rar, doch mittlerweile erkannte Snyder, wo seine Frau hinwollte.

Dem Sheriff lief es eiskalt den Rücken hinab.

Er blieb in einem Schlupfwinkel zurück und wartete ab. Erst als Lydia nicht mehr zu sehen war, machte er sich selbst auf den Weg hinüber zum roten Haus.
 

„Ich werde mit ihnen gehen!“ verkündete Lydia Snyder. Es klang, wie ein feierlicher Eid. Justine nickte bedächtig: „Ich freue mich, das zu hören!“ erwiderte sie: „Ich denke, sie haben es sich gut überlegt. Sie können übergangsweise in meinem Haus leben. Alles Weitere werden wir sehen, wenn wir vor Ort sind, denke ich. Es stellt sich ja die Frage, wo und wovon sie auf lange Sicht leben werden, meine Liebe.“
 

Lydias Augen wurden schreckensweit. Mit einem Mal war sie sich ihrer Sache gar nicht mehr so sicher.

Sie konnte nichts und hatte nichts gelernt und vor allem nicht, sich selbst um sich zu kümmern.

Sie würde elendig zugrunde gehen und verhungern in der großen Stadt!

Selbst als Dirne könnte sie kein Geld mehr verdienen, alt und welk wie sie war!
 

Als sie Justine diese Dinge stotternd erklärte, versicherte diese beschwichtigend:

„Haben sie keine Sorge. Diese Dinge werden sich finden. Ich habe sehr viele Kontakte in Boston. Alles wird gut werden. Ich helfe ihnen! Versprochen!“

Sie legte vorsichtig einen Arm um die andere Frau und diese schien sich unter der Berührung ein wenig zu entspannen.
 

Der Sheriff traute seinen Augen kaum, als er durch eines der Fenster linste und seine Frau am Küchentisch mit der Rädelsführerin dieser Hexen aus Boston sah. Was immer sie mit ihr zu besprechen hatte, es konnte nur gegen ihn gerichtet sein.

Höchstwahrscheinlich planten sie gerade ein Mordkomplott!
 

Als Snyder erkannte, dass seine Frau sich zum Aufbruch bereit machte, folgte er ihr nicht. Stattdessen schlich er in die Scheune des Hauses, stieg die Leiter hinauf, verbarg sich im Heu und wartete. In diesem Haus ging offensichtlich viel mehr vor, als er bislang geahnt hatte und er würde der Sache nun auf den Grund gehen.
 

Er musste auch nicht lange warten, ehe tatsächlich etwas geschah. Das Scheunentor öffnete sich und zwei Jungen kamen herein; ein großer und ein kleinerer. Den Großen erkannte Snyder als denjenigen, der sich neuerdings bei diesem widerlichen alten Sodomisten in der Lehre befand. Bei dem anderen handelte es sich um den Sohn von Reverend Schultz.

Was zur Hölle machte ein braver Pastorensohn wohl an diesem verdammten Ort?

Snyder linste über den Rand seines Verstecks und wartete.
 

Die Jungen jagten einander lachend, bis Christian Noah schließlich eingefangen und gepackt hatte. Er drängte ihn grinsend gegen die Wand der Scheune und sie küssten einander. Dann ging das Scheunentor erneut auf. Helena, Alice, Joe und Tiny traten ein. Sie zogen sich in einem Kreis Fässer und Kisten zusammen und ließen sich auf ihnen nieder.
 

„Nun lasst endlich die Finger voneinander und kommt zu uns!“ rief Alice genervt.
 

„Ich kann nicht!“ antwortete Noah kichernd: „Mein Körper gehorcht mir einfach nicht!“
 

„Geht mir genauso!“ rief Christian. Dann raunte er Noah zu: „Ich bin verrückt nach dir, weißt du das?“
 

Alice verdrehte die Augen und stöhnte:

„Oh Mann, ich glaube mir wird schlecht!“
 

Helena kicherte, nahm ihr Gesicht in ihre Hände und küsste sie:

„Hab` doch ein wenig Nachsicht mit dem jungen Glück!“ säuselte sie zärtlich.
 

Endlich ließen Noah und Christian voneinander ab und setzten sich zu den anderen. In diesem Moment erschien Sam mit Spielkarten in der Tür:

„Wollen wir?“ fragte er.
 

Snyder hatte die Runde beim Kartenspiel beobachtet. Vor dem unschuldigen Kind hatten sie sich den Anschein von Normalität gegeben, doch ER erkannte, was diese Leute in Wirklichkeit waren; sie waren hochgefährlich! Von ihnen ging eine Krankheit aus, die soeben im Begriff war, sich tief in das Herz von Millers Landing zu fressen.

Und niemand außer IHM selbst schien etwas zu bemerken?
 

Der Sheriff hatte keine Ahnung, wem er noch trauen konnte. Das Böse hatte sich ja sogar schon im Pfarrhaus niedergelassen.

Unbemerkt!
 

Männer, die bei anderen Männern lagen. Nicht nur die beiden Jungen. Snyder war auch nicht entgangen, wie der Junge aus dem Gemischtwarenladen und der riesige Schwarze einander bei den Händen gehalten hatten.

Ihm wurde übel!

Und dann war da ein Zwitterwesen, halb Mann, halb Frau?

Wer weiß was noch alles vor sich ging.

Es waren die Vorzeichen der Apokalypse!
 

Wenn er seine Stadt und seine Frau retten wollte, musste er etwas unternehmen. Er wusste nur noch nicht, was das sein sollte.
 

Er musste besonnen vorgehen, soviel stand fest.

Er musste verstehen, was wirklich vorging.

Er musste herausfinden, wie weit die Seuche bereits um sich gegriffen hatte.
 

War nur Millers Landing betroffen?

Die Hexen aus der Großstadt waren schließlich überall in der Gegend gewesen.

Vielleicht waren sie es gewesen, die über alles und jeden einen Zauber gelegt hatten?

Nur ER selbst schien immun zu sein.

Und das machte IHN zu Gottes rechter Hand.
 

Die Versammlung unten hatte sich aufgelöst und Snyder fühlte sich überreizt und erschöpft. Doch kaum dass er die Augen schloss, stiegen in seinem Geiste Bilder auf, die ihn keinen Schlaf finden ließen. Eine endlosen Reihe von Leibern: Männern, Frauen und Zwitterwesen, gehörnte und geflügelte Dämon-Mensch-Hybriden; allesamt nackt, verschlungen und sich ekstatisch windend.

Eine endlose Orgie!

Eine Vision der nahen Zukunft zweifelsohne; die Hölle auf Erden, die ER verhindern musste.

Er warte die Nacht ab.
 

Snyder verließ sein Versteck und schlich im Schutz der Dunkelheit hinüber zum Wohnhaus.

Im Küchenfenster brannte noch Licht und so warf der Sheriff einen Blick hinein. Mit dem Rücken zu ihm stand eine der schwarzen Huren am Herd und rührte in einem Topf. Da betrat eine weitere Person die Küche und der Sheriff traute seinen Augen kaum, als er erkannte, um wen es sich handelte: Es war Jimmy!

Er schlang seine Arme um die Hüften der Frau und küsste ihren Nacken. Sie ihrerseits lehnte sich an ihn, griff seine Hände und zog sie hinauf zu ihren Brüsten. Sie lachten!
 

Sein Deputy war also mitten im Zentrum dieser ganzen Sache; war es vermutlich schon die ganze Zeit gewesen und hatte ihn immer nur an der Nase herumgeführt?
 

Snyder bebte vor Wut, griff nach seinem Revolver und zielte auf die beiden. Doch dann besann er sich. Er durfte nicht vorschnell handeln, musste die Verführten von den Verführern unterscheiden. Erst dann konnte er richten!

Er steckte die Waffe wieder zurück in ihr Holster, rutschte an der Hauswand hinab und ließ sich auf den Boden sinken. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, um sich zu beruhigen.
 

Shy erwachte schweißüberströmt. Jenes beklemmende Gefühl, das sie bereits seit einiger Zeit begleitete war in diesem Moment so stark, dass es ihr gesamtes Schlafzimmer auszufüllen schien. Sie musste hier auf der Stelle raus, also zog sie sich ihr Kleid und einen Mantel über, verließ den Raum, schritt die Treppen hinab und trat vor das Haus. Es war sternklar und ruhig. Jeder im Haus schlief bereits. Sie beschloss ein paar Schritte zu gehen.
 

Dann hörte sie hinter sich ein Geräusch. Sie drehte sich um und die Welt um sie herum verschwand mit einem Mal im Nichts.

Der gerechte Mann

James sah im Licht der Öllampe den Schweiß in den Haaren auf seiner Brust glitzern, als er versuchte wieder zu Atem zu kommen:

„Meine Güte! Was war das denn?“ fragte er keuchend.
 

„Ich dachte, es wäre für uns beide schön, wenn unsere letzte gemeinsame Nacht etwas Besonderes wäre, an das wir uns später erinnern können.“ erwiderte Melody schlicht.
 

James richtete sich im Bett ein wenig auf und blickte sie ratlos an:

„Unsere letzte Nacht? Gehst du denn irgendwo hin?“
 

Melody schüttelte den Kopf:

„Ich nicht, aber du!“ verkündete sie: „Du gehst zurück zu Kathryn!“
 

„Wer sagt das?“ empörte sich James: „Wo war ICH, als diese Entscheidung getroffen wurde?“
 

„Beruhige Dich, mein Liebling!“ forderte Melody: „Und tu nicht so, als wäre das nicht in deinem Sinne! Ich weiß, dass du sie noch immer liebst, ich sehe deine Blicke! Und nur damit das ganz klar ist: Für mich ist das in Ordnung! Ich habe unsere Zeit sehr genossen, aber nächste Woche ist Carpenter fort und der Weg für dich ist bei Kathryn wieder frei. Denkst du, ich will dich dann noch in meinem Bett, wenn deine Gedanken sich immer nur darum drehen werden, wie du in ihres zurückkehren kannst?“
 

James wollte zu weiterem Protest ansetzen doch Melody fuhr fort:
 

„Die Sache mit uns beiden lief viel länger, als ich erwartet hatte und es war wirklich eine schöne Zeit, aber du und ich sind kein Liebespaar. Wir sind Freunde, die sich auch im Schlafzimmer gut verstehen. Ich habe kein Interesse daran, dass du aus Pflichtgefühl bei mir bleibst. Lass` uns lieber gemeinsam darüber nachdenken, wie du diesen störrischen Rotschopf zurückgewinnst!“
 

James wusste nicht, was er erwidern sollte. Ihre nüchterne, pragmatische Sichtweise verblüffte ihn:

„Das hier wird mir fehlen!“ flüsterte er kleinlaut:
 

„Mir auch!“ gab sie zu. Dann fügte sie hinzu: „Aber glaub` mir, es ist besser so!“
 

James zuckte unglücklich mit den Schultern. Dann drehte er sich zu ihr um, stützte den Kopf auf seine Hand und flüsterte mit einem kleinen, traurigen Lächeln:

„Die Nacht ist noch nicht vorüber, oder? Und es ist nicht fair, dass es unser letztes Mal gewesen sein soll, ohne, dass mir das bewusst gewesen ist.“
 

Melody grinste:

„In diesem Punkt muss ich dir recht geben!“ erklärte sie, drehte ihn wieder auf den Rücken und hockte sich auf ihn.
 

Der Körper der Frau, der über Snyders Schulter lag war winzig, aber auf die Dauer wurde er dennoch schwer. Der Sheriff hatte keine Ahnung, was er mit ihr anstellen sollte. Ja, er wusste nicht einmal, warum er sie mitgenommen hatte. Es erschien ihm in dem Moment, als er ihr den Griff seiner Waffe über den Schädel geschlagen hatte einfach das Richtige zu sein. Und nun stolperte er mit ihrem bewusstlosen Körper durch die Nacht und er hatte keine Ahnung, wohin mit ihr. Im Augenblick schützte ihn die Dunkelheit, aber was sollte er tun, sobald die Sonne aufging. Weil ihm nichts Besseres einfiel, schleppte er die kleine Indianerin hinüber ins Sheriffsdepartment.

Snyder legte den Körper auf der Pritsche in der vordersten Zelle ab, doch leider hatte er Carmichael vergessen. Trotz der späten Stunde war der Mistkerl noch immer hellwach, glotzte durch die Gitterstäbe und fragte mit schnarrender Stimme:
 

„Was bringen sie denn da mit Sheriff? Ist das vielleicht ein Geschenk für mich?“
 

„Halt dein Maul, Bob!“ herrschte er seinen Gefangenen an und blickte auf den reglosen Körper der Frau hinab. Kurz erfasste ihn die Angst, er könnte sie mit dem Schlag getötet haben, doch dann sah er, wie ihr Brustkorb sich senkte und hob.
 

Er betrachtete sich die Indianerin genauer und dachte törichterweise, dass sie gar nicht wie eine Hure aussah; nicht so, wie die anderen Frauen drüben im roten Haus, die allesamt schön oder zumindest ansehnlich waren und sich stets ein wenig aufreizend zurecht machten. Diese hier war älter als die Anderen, von durchschnittlichem Aussehen, mit herben, strengen Gesichtszügen und in schlichter Kleidung.

Selbst in ihrem bewusstlosen Zustand und obwohl sie so winzig war, hatte sie etwas Einschüchterndes, dachte er kurz bei sich, doch er verdrängte den Gedanken rasch wieder:
 

„Sie wissen nicht, was sie mit ihr anfangen sollen, was Sheriff? Ich weiß da vielleicht etwas!“
 

Wider besseres Wissen hörte Snyder sich an, was Carmichael zu sagen hatte:
 

„Lassen sie mich frei.“ bat dieser schmeichelnd: „Ich schaffe sie weg von hier und werde selbst auch verschwinden! Weder von ihr, noch von mir wird man je wieder eine Spur finden. Damit wären sie gleich zwei Probleme auf einmal los. Was sagen sie?“
 

„Du hältst mich wohl für extrem dämlich Junge, wie?“ erwiderte Snyder grollend: „Du kommst hier nicht raus!“
 

„Schade!“ entgegnete Carmichael mit einem kleinen Grinsen: „Aber ich habe noch eine andere Option für sie. Ich kenne ein Versteck, wo niemand sie finden wird und sie können sich dann in Ruhe überlegen, was sie mit ihr tun wollen. Doch sie müssen jetzt gleich aufbrechen, solange es noch dunkel ist.“
 

Als Shy beim Frühstück fehlte, waren alle verwundert, denn jeder wusste, wie wichtig ihrer Freundin, die regelmäßigen Mahlzeiten waren.
 

Molly schaute in Shys Schlafzimmer nach:

„Sie ist nicht da und ihr Mantel fehlt!“ erklärte sie, als sie an den Tisch zurückkehrte. In ihrer Stimme schwang Besorgnis mit.
 

Ein Murmeln entstand am Tisch.
 

James runzelte die Stirn. Dann erhob er sich und trat vor das Haus, um sich umzusehen.

Es war windstill und so konnte er im Staub vor dem Gebäude die kleinen Fußabdrücke deutlich erkennen.

Ebenso die anderen, welche sich Shy von hinten genähert hatte.

Und zwei kleine Blutspritzer!

Er fand die Stelle, wo Shy zu Boden gegangen war und der Unbekannte sie offenbar aufgehoben hatte.

Dann gab es nur noch dessen Fußspuren.
 

Das Blut gefror in James Adern. Er holte die Anderen herbei und zeigte ihnen seinen Fund:

„Ich werde versuchen, den Spuren zu folgen und Shy zu finden!“ erklärte er, bemühte sich zuversichtlich zu klingen und machte sich auf den Weg.
 

Doch James war kein guter Spurenleser und je näher er dem Stadtzentrum kam, umso schwerer wurde es, ihnen zu folgen. Andere Fußabdrücke, Wagen- und Hufspuren und die Abdrücke von Rindern, die heute Morgen hier bereits vorbeigeführt worden waren, überlagerten die Fußstapfen des Entführers mehr und mehr und schließlich hatte James sie verloren.
 

Obwohl das eigentlich nicht möglich war, ließ diese Entführung James dennoch befürchten das Bob Carmichael dahinter steckte, also führte ihn sein nächster Weg ins Sheriffsdepartment.
 

Carmichael saß dort, wo er hingehörte, war aus irgendeinem Grund wieder einmal bester Laune und wartete auf sein Frühstück.
 

James überprüfte sogar Fenster und Tür der Zelle, um ganz sicher zu gehen, dass der Gefangene sich nicht draußen aufgehalten haben konnte.
 

Vom Sheriff gab es keine Spur, doch der lag wahrscheinlich immer noch mit seiner dubiosen Erkrankung im Bett.
 

Als der Gefangene versorgt war, kehrte James ins rote Haus zurück und erstattete Bericht.
 

Die Frauen beschlossen, sich auf die Suche nach der Entführten zu machen und wenn nötig, die ganze Stadt dafür auf den Kopf zu stellen.

Wut, Angst und Entsetzen lagen in der Luft! Erinnerungen an die Nacht, in welcher Margarete verschwunden war wurden wach.
 

Joe machte auf dem Weg zur Arbeit einen kurzen Abstecher zu Rebecca und Felicity, um sie über die Geschehnisse in Kenntnis zu setzen. Die beiden versprachen, nach der Schule im roten Haus vorbeizuschauen um zu helfen.
 

Auch Christian hatte sich schweren Herzens auf den Weg zur Arbeit gemacht, Alice blieb mit den Kindern zuhause, doch alle anderen, auch die Gäste aus Boston bildeten Dreiergruppen und brachen auf. Zuvor hatten sie verabredet, sich im Dreistundentakt wieder im Haus zu treffen, um sich über ihre Fortschritte auszutauschen. Der Tag verging, ohne dass die Suchtrupps eine Spur von Shy fanden und als sie sich am Abend um achtzehn Uhr zu einer weiteren Lagebesprechung zusammenfanden, war eines der Teams, bestehend aus Justine, Melody und Regine nicht zurückgekehrt.
 

Als Christian, James und Joe nach der Arbeit ins rote Haus zurückkehrten, blickten sie in blasse, fassungslose Gesichter.
 

Mittags hatte Snyder die beiden Lehrerinnen Miss Miller und Miss Owens dabei beobachtet, wie sie ins rote Haus hinübergelaufen waren.

Sie gehörten also auch dazu; sie, denen tagtäglich die Kinder von Millers Landing auf Gedeih` und Verderb` ausgeliefert waren!

Ungestört und ohne, dass es irgendwem verdächtig vorkäme, konnten sie dort die dunkle Saat ausbringen.

Um diese Zwei würde er sich später kümmern. Jetzt gab es erst mal etwas anderes, was dringender war. Es gab nun keinen Zweifel mehr daran, dass er Gottes Willen erfüllte, als die drei Weiber direkt an dem Ausgang des stillgelegten Stollens vorbeikamen, als er nach der Indianerin sehen wollte. Nun musste Snyder sie nur noch einsammeln. Er entsicherte seine Waffe und befahl ihnen ganz ruhig zu bleiben, die Hände zu heben und ihm zu folgen.
 

Als Snyder die Frauen gut vertäut in der Dunkelheit des Stollens zurückließ; die Öllampe, mit der er sie hergeführt hatte, hatte er wieder mitgenommen, fragte eine kratzige Stimme:
 

„Wer ist da?“
 

Regine atmete erleichtert auf:

„Wir sind es Shy! Justine, Melody und ich!“ Ihre Stimme hallte von den Stollenwänden wieder: „Mein Gott bin ich froh, dass du lebst! Geht es dir gut?“
 

„Den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Ich habe Durst! Außerdem hat jemand mir eins über den Schädel gebraten und mich hierher geschleppt. Wer war das zum Teufel?“
 

„Das war der Sheriff!“ erwiderte Justine.
 

„Wie bitte?“ fragte Shy verständnislos: „Der Kerl war zwar noch nie ein Bewunderer unserer Arbeit, aber seit wann greift er uns denn körperlich an und entführt uns?“
 

„Ich habe darüber nachgedacht und ich fürchte, ich kenne die Antwort.“ gab Justine bedrückt zurück: „Seine Frau Lydia hat mich aufgesucht, da sie ihren Mann verlassen will. Ich fürchte, der Sheriff hat das herausgefunden und ist nicht besonders glücklich darüber. Mein Gott, ich hoffe nur, er hat ihr nichts angetan!“
 

Christian lief unruhig in der Küche des Wohnhauses auf und ab:

„Ich muss da raus und Noah davon abhalten, hierher zu kommen, ehe ihm auch noch etwas zustößt!“ klagte er:
 

„Ich habe ihm heute bei der Arbeit erzählt, dass Shy entführt wurde. Sicher wird er nicht so dumm sein, herüber zu kommen.“ erwiderte Joe beruhigend.
 

„Ich fürchte doch, dass er das tun wird, denn er wird nach uns sehen und helfen wollen!“ gab Alice ebenso aufgebracht zurück.
 

„Ich gehe jetzt da raus und laufe ihm entgegen!“ verkündete Christian.
 

„Willst du der Nächste sein, der spurlos verschwindet!“ fragte Kathryn ärgerlich:
 

„Das ist mir gleichgültig. Ich muss wissen, das Noah in Sicherheit ist!“ entgegnete er und fügte trotzig hinzu: „Ihr seid nicht meine Eltern und könnt mich nicht zurückhalten!“
 

„Das gilt auch für mich!“ schloss Alice sich an: „Ich komme mit dir!“
 

Und mit diesen Worten machten die beiden Jugendlichen sich auf den Weg. Niemand stellte sich ihnen in den Weg.

Die Zwei hatten richtig vermutet und trafen Noah am Stadtrand, als er gerade auf dem Weg zu ihnen war.
 

Verwirrt blickte dieser von der einen zu dem anderen und wollte wissen, was los sei. Die beiden berichteten rasch von den weitere Entführungen.
 

„Du lieber Gott!“ entfuhr es Noah: „Wie geht es denn Sam und seinen Schwestern ohne ihre Mutter? Sie müssen doch außer sich sein vor Sorge!“
 

„Sam versucht für die beiden Mädchen tapfer zu sein, doch man merkt ihm an, dass er sehr verzweifelt ist.“ erwiderte Christian.
 

„Dann lasst uns schnell zu ihm gehen. Der kleine Kerl ist mein Freund! Ich möchte jetzt für ihn da sein.“ rief Noah aus.
 

„Kommt nicht in Frage!“ bestimmte Alice und Christian fügte hinzu:
 

„Solange wir nicht wissen, was vor sich geht, sollte jeder von uns im Haus bleiben und niemandem vertrauen. Wir bringen dich jetzt nachhause und bitte bleib dort und geh` auch morgen nicht zur Arbeit!“
 

„Und was macht ihr beide dann hier draußen, wenn es so gefährlich ist?“ fragte Noah trotzig.
 

„Wir sind hier, um dich zu beschützen! Wir sind zu zweit!“ gab Alice zurück und fügte unbescheiden hinzu: „Und ich denke, man wird es sich wohl zweimal überlegen, ehe man sich mit UNS beiden anlegt!“
 

„Seid ihr euch also zum ersten Mal im Leben über etwas einig?“ erkundigte sich Noah mit spöttischem Unterton.
 

„Ja, in der Sorge um dich!“ erwiderte Christian sanft: „Nun lass` dich bitte von uns nachhause bringen, in Ordnung?“
 

Noah zuckte unwillig mit den Schultern, doch er folgte ihnen.
 

In dem Wäldchen nahe dem Pfarrhaus verabschiedeten sich Christian und Noah ausgiebig voneinander, während Alice Schmiere stand, um vor unliebsamen Beobachtern zu warnen. Dann war sie an der Reihe:
 

„Pass gut auf dich auf!“ bat sie und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn:
 

„Du auch!“ gab Noah zurück, nahm ihre Hände und drückte sie kurz. Dann wandte er sich um und rannte das letzte Stück zu seinem Elternhaus allein weiter. Erst als Alice und Christian gesehen hatten, wie sich die Haustür hinter ihm schloss, machten sie sich auf den Rückweg.
 

Snyder stählte sich innerlich für das, was er als nächstes tun musste. Vor seiner Haustür atmete er einige Male tief ein und aus, dann riss er die Tür auf und stürmte hinein. Lydia stand am Herd, rührte in einem Topf und wandte sich nun erschrocken zu ihm um. Ehe sie noch recht wusste, wie ihr geschah, hatte ihr Ehemann sie bereits brutal gepackt, in einen Stuhl gedrückt und fesselte sie an diesen:
 

„Was tust du denn Hubert? Du tust mir weh!“ stotterte sie panisch und überrumpelt:
 

„Halt den Mund!“ fuhr er sie an.

Er zog die Vorhänge zu, damit von draußen niemand mitbekam, was im Haus vor sich ging.

Auf dem Herd kochte zischend das Essen über.
 

Törichter Weise ging es Lydia in diesem Moment durch den Kopf, dass es nun bald ruiniert sein würde, wenn sie den Topf nicht vom Feuer nahm.

Die Fesseln waren stramm und schmerzten. Ohne dass sie es selbst realisierte liefen Tränen über ihre Wangen.
 

Hubert zog sich einen Stuhl heran und stierte seine Frau an, ohne etwas zu sagen. Es war, als versuchte er etwas an ihr zu sehen, was ihm bisher entgangen war:
 

„Was willst du von mir?“ jammerte Lydia: „Warum hast du mich hier angebunden? Was soll das? Du machst mir Angst!“
 

Snyder lachte hart und freudlos:

„Ich mache DIR Angst? Wenn das nicht zum Totlachen ist! Ich bin jedenfalls nicht derjenige, der sich mit dieser Dämonin aus der Großstadt eingelassen hat und sich heimlich mit ihr in diesem Sündenpfuhl trifft. Ich habe dich nämlich gesehen, weißt du?“
 

„Wovon sprichst du Hubert? Meinst du Madame Carpenter? Sie ist doch keine Dämonin!“ rief Lydia verzweifelt: „Sie ist eine Freundin!“
 

„Diese Person, die die Männer hasst ist deine Freundin?“ Sein Gesicht war verzerrt von Ekel und Hass.
 

„Was redest du denn nur? Sie hasst die Männer doch gar nicht. Sie möchte doch bloß den Frauen helfen!“ versuchte es Lydia.
 

„Und womit wird sie DIR wohl helfen? Hat sie dir vielleicht geraten, mich im Schlaf zu ermorden? Oder mich zu vergiften? Sag` es mir! Wie willst du mich aus der Welt schaffen, hm?“
 

Lydia schüttelte unwillig den Kopf:

„Hast du den Verstand verloren?“ fragte sie gequält: „Ich will dich doch nicht verletzen. Du hast nichts von mir zu befürchten.“
 

„Lügnerin!“ presste Snyder hervor: „Sie weiß, dass ICH derjenige bin, der es aufhalten kann und deshalb sollst du mich aus dem Weg räumen! Aber eines solltest du wissen: sie kann dir nicht mehr helfen! Dafür habe ich gesorgt!“
 

Lydia wurde bleich:

„Was hast du Madame Carpenter angetan! Lebt sie noch?“ presste sie hervor.
 

Snyder antwortete nicht. Er grinste stattdessen.

Er nahm ein Geschirrtuch, aus welchem der einen Knebel fertigte, den er Lydia anlegte:

„Ich komme später zu dir zurück, mein Liebling!“ säuselte er.

Dann verließ er das Haus.
 

James saß wie erstarrt im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa und starrte in den kalten Kamin, als Kathryn ihn fand. Sie hockte sich im Schneidersitz neben ihn:
 

„Was machen wir jetzt nur?“ fragte sie mit tonloser Stimme.
 

James zuckte ratlos mit den Schultern:

„Ich habe absolut keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, wo ich mit der Suche anfangen soll.“ Er blickte zu Kathryn hinüber und sie konnte das Wasser sehen, das in seinen Augen stand: „Es tut mir wahnsinnig leid. Ich bin total nutzlos! Ein Junge, der Hilfssheriff spielt!“ rief er aus und sackte in sich zusammen.
 

„Komm´ schon, James!“ flüsterte Kathryn, legte einen Arm um ihn und zog ihn zu sich heran: „Du bist nicht nutzlos. Ich weiß doch genauso wenig, was wir jetzt tun sollen. Diese ganze Sache ist so eigenartig. Was geht denn bloß hier vor?“ Kathryn weinte: „Du kannst nichts dafür, mein Herz! Mach` dir keine Vorwürfe.“
 

Sie streichelte sein Haar und James schlang seine Arme fest um sie. So saßen sie schweigend eine ganze Weile da, um sich gegenseitig Halt zu geben, bis James schließlich verkündete:

„Alle sollten heute Nacht hier im Haus schlafen und niemand sollte allein bleiben. Auch Rebecca und Felicity sollten hierbleiben, solange wir nicht wissen, wer uns schaden will und ob auch sie in Gefahr sind. Ich werde hier bei euch Wache halten!“
 

Kathryn nickte und küsste ihn flüchtig auf die Stirn. Dann ging sie, um das Nötige zu veranlassen und die Frage der Bettenvergabe zu klären.
 

Margarete saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett und starrte schweigend an die Wand. Alice saß neben ihr, blickte sie hilflos an und nach einer Weile bat sie:

„Bitte sag` doch etwas! Du machst mir Angst!“
 

Sehr langsam wandte die Angesprochene dem Mädchen den Kopf zu und schenkte ihr einen glasigen, abwesenden Blick:

„Sie ist meine Schwester!“ sagte sie mit tonloser Stimme.
 

Alice wusste nicht, was sie mit dieser Äußerung anfangen sollte, also wartete sie. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Margarete weitersprach:

„Ich liebe sie mehr als alles andere auf der Welt und ich habe sie die letzten Monate wie Luft behandelt. Was wenn…?“ ihre Stimme brach und sie begann zu schluchzen.
 

Alice zog sie in ihre Arme und drückte sie fest an sich.

„Beruhige dich, mein Liebling!“ flüsterte Alice hilflos und wiegte sie: „Es wird alles wieder gut! Bitte beruhige dich!“
 

Margarete rang um Fassung. Sie löste sich von Alice, atmete einige Male tief durch und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Als sie wieder in der Lage war zu sprechen flüsterte sie:

„Was, wenn Melody bereits tot ist? Dann wird sie gar nicht wissen, wie sehr ich sie geliebt habe!“
 

Alice schüttelte energisch den Kopf:

„Sie ist aber nicht tot! Wir werden sie wiederfinden! Und außerdem... natürlich weiß sie, dass du sie liebst. Und sie liebt dich ebenso. Alles wird gut werden!“
 

In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür. Alice öffnete und davor stand Helena:

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute Nacht unten mit Christian und James Wache halten werde. Wie geht es Margarete?“ wollte sie wissen.
 

Alice schüttelte traurig mit dem Kopf:

„Es wird am besten sein, wenn du hier bei ihr bleibst!“ flüsterte Helena und warf einen kurzen Blick auf Margarete in ihrem Bett:

„Pass` gut auf dich auf und holt mich, sobald heute Nacht irgendetwas geschieht!“ bat Alice eindringlich. Helena nickte und küsste sie lange und weich auf die Lippen.
 

Snyder kehrte in den Stollen zurück und versorgte seine Gefangenen mit Wasser aus einer Feldflasche.

Sie sollten nicht sterben.

Zumindest nicht, solange er nicht wusste, welche von ihnen den Tod auch verdiente.

Wer waren die wirklichen Dämonen?

Das musste er wissen, wenn die Reinigung gelingen sollte.
 

Er nahm selbst einen Schluck aus der Feldflasche, denn ihm fiel auf, dass er lange nichts mehr getrunken hatte. Seine letzte Mahlzeit lag sogar noch länger zurück und geschlafen hatte er bereits seit vier Tagen nicht mehr.
 

Seltsam, dass er dennoch alles so klar sah?
 

Niemand außer IHM hatte die Bedrohung aus der Hölle kommen sehen.

Nur ein weiterer Beweis, dass er hier Gottes Werk tat.
 

Mia, Lois und Sam übernachteten heute im Bett von Tiny. Joe hatte die beiden kleinen Mädchen in je einen Arm genommen und diese waren binnen kurzem friedlich eingeschlafen. Mittlerweile fielen auch ihm selbst, links und rechts gewärmt von den kleinen Körpern, die Augen zu.

Sam hingegen war hellwach. Er blickte nachdenklich auf seine schlafenden Schwestern hinab. Tiny hockte neben ihm und musterte den Jungen aufmerksam:

„Kannst du nicht schlafen?“ wollte er wissen: „Willst du noch ein wenig Karten spielen?“
 

Sam schüttelte den Kopf und strich der kleinen Mia eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er schaute zu Tiny auf. Sein Blick war ernst, seine Pupillen riesig:

„Was soll ich denn nur machen, wenn Mama nicht zurückkommt? Ich glaube nicht, dass ich es schaffe, allein für die beiden sorgen! Ich bin zu jung!“ erklärte er mit erstickter Stimme.
 

Tiny zog den schmächtigen Jungen in seinen Arm und flüsterte sanft:

„Was redest du denn da nur? Sie wird zu euch zurückkehren. Ganz bestimmt!“ versprach er.
 

„Das kannst du nicht wissen!“ entgegnete Sam müde: „Niemand weiß, was passiert ist. Vielleicht ist sie schon tot!“

Eine einzelne Träne kullerte über seine Wange.
 

Tiny schluckte:

„Es ist wahr, ich kann dir nicht versprechen, dass alles wieder gut wird, aber ich will daran glauben!“
 

„Werdet ihr uns zu unserem Vater zurückschicken, wenn Mama nicht wiederkehrt?“ wollte Sam wissen. Tiny blickte ihn fragend an und der Junge fuhr fort:

„Meine Schwestern erinnern sich nicht an ihn. Lois war noch ein Baby und Mia war noch gar nicht geboren, als wir weggegangen sind, aber ich weiß es noch ganz genau, wie er war. Er hat viel getrunken und er war gemein. Mama hat oft geweint. Er hat sie geschlagen. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er war zu stark. Ich war damals ja erst neun Jahre alt. Ich will ihn nie wieder sehen!“
 

„Ihr bleibt bei uns, egal was passiert! Hier gehört ihr her!“ versprach Tiny und drückte den Jungen noch fester an sich.
 

„Kannst du dann nicht bitte unser Vater sein?“ fragte Sam leise.
 

„Regine wird zurückkommen. Aber selbst wenn nicht wird alles bleiben, wie es war.“ versprach Tiny: „Ich habe dich und deine Schwestern sehr lieb und ich kümmere mich um euch, so wie ich es immer getan habe! Und jetzt lass´ uns schlafen, in Ordnung?“
 

Sam nickte und die beiden legten sich hin. Es war eng zu fünft im Bett. Sam drehte Tiny den Rücken und zog dessen Arm um sich. Tiny breitete die Decke über sie alle und warf noch einen letzten Blick in die vier Gesichter, ehe er die Öllampe löschte. Einen kurzen Moment dachte er darüber nach wie es wäre, wenn er tatsächlich diese drei Kinder großziehen müsste.
 

Zum dutzendsten Mal stellte Snyder seinen Gefangenen dieselben Fragen:

„Wem dient ihr? Wer ist euer Anführer?“
 

Justine verlor allmählich die Geduld:

„Ich verstehe nicht, was sie von und wollen, Sheriff! Diese Fragerei ist ermüdend! Wir haben keinen Anführer. Wir dienen niemandem! In diesem verdammten Stollen ist es heiß! Die Fesseln, die sie uns angelegt haben, schnüren mir die Blutzufuhr ab! Doch am Wichtigsten ist, dass sie kein Recht haben, uns hier festzuhalten und sie wissen das, denn sonst wären wir in einer Gefängniszelle und nicht in einem heißen, feuchten Bergwerksstollen gefangen. Also hören sie endlich mit der Fragerei auf und lassen sie uns gehen. Miss Regine hat drei Kinder zuhause, die sich um sie sorgen. Seien sie kein Unmensch!“
 

Die Teufelin appellierte tatsächlich an seine Menschlichkeit. Sie wollte ihn hinters Licht führen, indem sie so tat, als handele es sich bei ihnen um ganz gewöhnliche Leute?

Snyder wiederholte:

„Wem dient ihr? Wer ist euer Anführer?“
 

„Mein Gott Snyder, haben sie das letzte bisschen ihres Verstandes verloren?“ rief die Indianerin nun ärgerlich aus: „Wir haben keine Ahnung, wovon sie überhaupt reden! Hören sie endlich auf mit diesem Blödsinn!“

So würde er nicht weiterkommen, wurde dem Sheriff klar. Er musste diesen verdammten Weibern klar machen, dass er es ernst meinte. Er zog seine Waffe und hielt sie an die Stirn der blassen, schlanken Hure. Diese kniff erschrocken ihre Augen zu und begann zu wimmern:
 

„Hören sie auf Sheriff! Sie ängstigen sie!“ rief die schwarze Hure und rüttelte an ihren Fesseln:

„Halt den Mund, Jezebel! Ich weiß, was du mit meinem Deputy getan hast. Denk` nicht, ich würde ebenso auf dich hereinfallen. Ich will nur, dass ihr mir endlich sagt, was ich wissen will!“

Melody schaute ihn mit großen Augen erschrocken an und schwieg.
 

Snyder entsicherte die Waffe.
 

Regine begann zu weinen.
 

Justine Carpenter meldete sich zu Wort:

„Diese Frau hat zwei kleine Mädchen, die fünf und sechs Jahre alt sind und einen Jungen von vierzehn. Bestimmt kennen sie die Kinder vom sehen. Sie mögen uns vielleicht hassen, aber wollen sie diese drei unschuldigen Seelen wirklich zu Waisen machen. Überlegen sie doch einmal, Sheriff.“
 

Snyder griff Regine grob an die Gurgel und presste die Waffe fester an ihren Schädel, als er erwiderte:

„Dann soll mir endlich jemand meine Fragen beantworten!“
 

„Das können wir nicht! Um Gottes Willen!“ erwiderte Carpenter.
 

Snyder grinste. Da hatte er seine Antwort. Sie hatte es nicht direkt sagen können, denn sie fürchtete offenbar den Zorn der Hölle, aber sie hatte ihm einen Hinweis gegeben. Der Sheriff steckte die Waffe zurück in das Holster, ließ die Frau los, griff sich seine Öllampe und ließ die Gefangenen ohne ein weiteres Wort in der Dunkelheit zurück.
 

„Wie geht es dir, Schätzchen?“ fragte Melody und robbte mühsam an Regine heran. Diese weinte noch immer: „Shht!“ machte Melody: „Es ist vorbei. Du hast es überstanden!“
 

„Was ist hier gerade passiert? Warum ist er plötzlich abgehauen?“ fragte Shy verwirrt.
 

„Der gute Sheriff hat offenbar wirklich den Verstand verloren.“ erklärte Justine: „Wer weiß, was in seinem Kopf vorgeht. Ich bin jedenfalls froh, dass wir ihn erst mal los sind. Wir sollten versuchen, uns zu befreien, denn wenn er wiederkommt, haben wir vielleicht nicht noch einmal so großes Glück! Lassen sie uns sehen, ob es uns gelingt, uns gegenseitig die Fesseln zu lösen.“
 

Snyder fühlte sich fiebrig, als er den Stollen verließ. Das kam daher, dass er erfüllt war von Gottes Gerechtigkeit. Die Sonne ging gerade auf. Er ließ seine Öllampe am Stolleneingang zurück und machte sich auf den Weg, den Teufel zu stellen. Endlich wusste er, wo er ihn finden konnte. Dass er nicht früher darauf gekommen war, dass das Böse sich hinter einer so harmlosen Maske verbergen würde.

Und das Versteck war perfekt gewählt.

Niemand würde Satan an gerade diesem Ort vermuten!
 

Snyder würde raffiniert vorgehen müssen, wenn er dem Bösen das Handwerk legen wollte.

Er legte sich seine Geschichte zurecht.

In den Himmel und zurück

Noah war überrascht, als er die Tür öffnete und den Sheriff davor stehen sah. Snyder schien nicht in bester Verfassung zu sein. Seine Augen waren gerötet, sein schütteres Haar stand fettig und wirr von seinem Kopf ab und er wirkte insgesamt erschöpft:
 

„Guten Morgen, mein Junge! Gut, dass ich dich antreffe! Ich bin hier, weil ein Freund von dir einen Unfall hatte. Er ist drüben beim Doktor und hat mich gebeten, dich zu holen.“ erklärte Snyder ungewohnt freundlich.
 

Noah Herz begann zu rasen. Er riss erschrocken die Augen auf und fragte mit schriller Stimme:

„Du liebe Güte! Geht es um Christian? Ist er schwer verletzt?“
 

„Wir sollten uns auf jeden Fall beeilen!“ erklärte der Sheriff eindringlich.
 

Noah nickte:

„Ich hole nur rasch meine Jacke.“ erwiderte er und verschwand von der Eingangstür.

Der Magen des Jungen zog sich zu einem ängstlichen Knoten zusammen, als er sich eilig auf den Weg in sein Zimmer machte. Doch als er nach seiner Jacke griff, fühlte er mit einem Mal ein eigenartiges Prickeln in seinem Nacken, das ihn warnte, dass etwas nicht stimmte. Der Sheriff war viel zu nett zu ihm gewesen! Und er sah so eigenartig aus; ungepflegt und irgendwie irre.

Noah dachte an Christians Warnung, niemandem zu trauen. Dann schloss er kurzentschlossen seine Zimmertür von innen ab, öffnete ein Fenster, kletterte hinaus und rannte in den Wald hinein, so schnell seine Beine ihn trugen.
 

Snyder wartete einen Augenblick, doch als der Junge nicht zurückkehrte wurde ihm klar, dass der kleine Teufel in durchschaut haben musste. Er trat ein, schritt durch den Flur und grußlos vorbei am Esszimmer, wo der Reverend und seine Frau beim Frühstück saßen und irritiert aufblickten, als sie den unerwarteten Gast bemerkten.
 

Snyder rüttelte an Noahs Zimmertür und als er feststellte, dass diese verschlossen war, pochte er fluchend dagegen:

„Verdammter Bastard! Mach die Tür auf!“
 

Der Reverend und seine Frau kamen eilig hinzu, als Snyder mit hochrotem Kopf versuchte, die Tür einzutreten:

„Was tun sie denn da Sheriff?“ fragte Gretchen Shultz entrüstet: „Was wollen sie von unserem Jungen?“
 

„Pah!“ machte Snyder: „Ihr Junge? Der Bengel ist eine Ausgeburt der Hölle und alle Sünder der Stadt folgen ihm nach. Er wird uns alle ins Verderben reißen, wenn ich ihn nicht aufhalte!“ Bei seinen Worten waren seine Augen so weit aufgerissen, dass man beinahe nur noch das Weiße darin sah. Er bot einen furchterregenden Anblick.
 

„Wie bitte? Was fällt ihnen ein?“ fragte der Reverend entrüstet, aber auch ein wenig eingeschüchtert, doch der Sheriff hatte keine Zeit zu verlieren. Er schob die Eheleute Schultz grob beiseite, stürmte hinaus und rannte um das Haus herum. Durch das offene Fenster starrte er ins leere Zimmer. Der Dämon war entwischt, stellte er resigniert fest. Er rannte los in der Hoffnung, ihn noch einholen zu können.
 

Atemlos kam Noah beim roten Haus an und stürmte in die Küche, wo alle gerade beim Frühstück saßen. Als er Christian unter ihnen erblickte, rannte er aufgeregt auf ihn zu, schlang beide Arme um ihn und presste ihn an sich:
 

„Was ist denn passiert?“ wollte dieser wissen: „Was machst du hier. Du solltest doch zuhause bleiben!“
 

Noah versuchte, seinen Atem zu beruhigen und brachte keuchend hervor:

„Du bist hier und du bist gesund. Das bedeutet, es ist der Sheriff. ER hat die Frauen entführt. Nun wollte er mich mitnehmen! So MUSS es einfach sein!“ er klang verwirrt, selbst nicht vollständig überzeugt von seinen Worten.
 

Ruckartig gingen alle Köpfe am Tisch hoch.
 

James erhob sich vom Tisch, trat auf Noah zu und ergriff ihn bei den Schultern:

„Wie bitte?“ fragte er aufgeregt: „Wovon sprichst du? Was ist passiert?“
 

Noah nahm Platz, berichtete, was gerade vorgefallen war und schloss mit den Worten:

„Der Sheriff hat versucht, mich hinters Licht zu führen, indem er mir die Lüge von Christians Verletzung erzählt hat. Er wollte mich fortlocken! Das beweist es doch, oder?“
 

Er blickte in verwirrte Gesichter. Dann folgte ein aufgeregtes Stimmengewirr, über das sich schließlich Kathryn, lauter als alle Anderen erhob und verwirrt fragte:

„Welchen Grund sollte der Sheriff haben, so plötzlich, hinter uns her zu sein? Was soll das?“
 

„Wenn ich es recht bedenke, hat er sich in letzter Zeit mehr als auffällig verhalten.“ erwiderte James ein wenig kleinlaut: „Ich wäre niemals auf ihn gekommen, aber es macht durchaus Sinn, dass er etwas so Verrücktes tut. Er wirkte zuletzt sehr verwirrt, aufgebracht und hat sich überaus untypisch verhalten. Ich habe keine Erklärung für die Ursache, aber andererseits seid ihr ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Ist es da nicht naheliegend, dass er sich als erstes auf euch einschießt, in einem Moment, da er den Verstand verliert?“
 

Es entstand ein Schweigen.

Schließlich fragte James ratlos in die Runde:

„Und was machen wir nun?“ Sich selbst eine Antwort gebend, weil es sonst keiner tat, fügte er hinzu: „Mir fällt kein Ort ein, an dem ihr euch verstecken könntet und an dem ihr wirklich sicher wärt. Ich schlage deshalb vor, dass ihr einfach genau hier im Haus bleibt. Alle die schießen können, sollten sich bewaffnen, falls er versucht, ins Haus zu gelangen. Niemand geht hinaus. Ihr werdet dies hier in eine Festung verwandeln.“
 

„Heißt das, du willst darauf warten, dass Snyder zu uns kommt?“ fragte Kathryn ungläubig.
 

James schüttelte langsam den Kopf:

„Nein, ICH werde da hinaus gehen und ihn suchen! Aber IHR werdet hierbleiben!“
 

„Ich gehe mit dir!“ verkündeten Joe und Tiny im selben Moment:
 

„Kommt nicht in Frage!“ erklärte James entschlossen: „Ihr helft, das Haus zu sichern! Ich gehe allein!“
 

„Spinnst du?“ fragte Joe entrüstet und Kathryn fügte hinzu:
 

„Das kommt nicht in Frage James. Es ist zu gefährlich! Jemand wird dich begleiten.“
 

James erhob sich und seine Freunde sahen einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie bislang nicht von ihm kannten.

Laut und donnernd erwiderte er:

„Ich werde NIEMANDEN mitnehmen! Ich bin der Deputy, verdammt nochmal! Es ist meine Aufgabe, euch zu beschützen und Snyder aufzuhalten. Meine allein, kapiert?“ Er stieß ärgerlich die Fäuste in seine Hosentaschen und wendete er sich zum Gehen. Joe und Tiny folgten ihm dennoch und so drehte James sich noch einmal energisch um und rief:

„Ich meine es diesmal vollkommen ernst. Ihr MÜSST hier bleiben und euch schützen. Es ist sicherer so für uns alle.“ Sanfter fügte er hinzu: „Noch bringt Snyder mich offenbar nicht mit euch in Verbindung. Er wird mir also wahrscheinlich gar nichts tun wollen und ich kann mich ihm unbeschadet nähern. Vertraut mir bitte in dieser Sache!“
 

Tiny nickte:

„Einverstanden! Aber sei um Himmels Willen vorsichtig!“ erwiderte er düster.
 

Joe trat vor und umarmte James fest:

„Wehe, du kommst nicht heil zurück!“ murmelte er und drückte seinem Freund ein Kuss auf die Wange.
 

James erwiderte die Umarmung und versprach:

„Ich werde mein Bestes tun.“ und an alle gewandt fügte er hinzu: „Passt gut auf euch auf!“

Es klang wie letzte Worte, dachte James erschrocken. Dann verließ er eilig die Küche.
 

Seine Freunde blickten ihm nervös hinterher.
 

Lediglich Kathryn folgte ihm mit den Worten:

„Ich bringe dich noch zur Tür, James!“
 

Am Eingang angekommen nahm sie seinen Arm, drehte ihn zu sich um und blickte ihn schweigend an. Dann schloss sie ihn unvermittelt in die Arme und küsste ihn lange.
 

James war anfänglich wie erstarrt, doch dann öffnete er die Lippen und erwiderte den Kuss:

„Komm` bitte zurück zu mir!“ flüsterte Kathryn schließlich: „Ich will nie wieder einen Liebhaber beerdigen müssen!“
 

James war zu perplex, um darauf zu antworten. Er nickte bloß und dann trat er aus der Tür.
 

Der Vorsprung des Jungen war zu groß gewesen. Snyder hatte ihn nicht einholen können. Wohin er gelaufen war, war hingegen nicht schwer zu erraten. Doch dahin würde er ihm nicht folgen; nicht jetzt, allein und am helllichten Tag. Er brauchte eine Strategie. Wenn er nur einen treuen Gefolgsmann hätte und diese schwere Bürde nicht allein tragen müsste. Doch er konnte niemandem mehr trauen. Diese Verschwörung hatte bereits zu weite Kreise gezogen. Der Sheriff kehrte zurück in das Department, um sich zu sammeln.
 

„Ich fing schon an mich einsam zu fühlen, Sheriff!“ rief Carmicheal ihm von hinten aus dem Zellentrakt zu:
 

„Ruhe! Ich muss mich konzentrieren!“ brüllte Snyder zurück und ließ sich matt auf den Stuhl seines Schreibtischs sinken. Er stützte den Kopf in seine Hände und schloss für einen Moment die Augen.
 

Die Tür des Departments öffnete sich und Snyder schreckte hoch.

War er etwa eingeschlafen?

Ja, offensichtlich!

Panik überfiel ihn.

Wie lange war er ausgeschaltet gewesen? Minuten? Stunden? Oder einen ganzen Tag lang?

Nein so lange konnte es nicht gewesen sein, draußen war es noch hell, er fühlte sich noch immer abgrundtief erschöpft und die Augen brannten ihm. Er rieb sie, um die Schlieren zu vertreiben und zu sehen, wer gekommen war.

Es war sein Deputy, stellte er verdrießlich fest; wie immer mit diesem typischen, lammfrommen Gesichtsausdruck, als könnte er kein Wässerchen trüben. Und dabei konnte Snyder den Gestank der schwarzen Hure beinahe noch an ihm riechen.

Doch die befand sich nun in seiner Gewalt, erinnerte er sich grinsend. Wusste Jimmy wohl davon? Wenn ja, dürfte es ihm wohl kaum gefallen:
 

„Hallo Sheriff! Sind sie wieder gesund?“ fragte Jimmy harmlos, doch in seinem Blick lag etwas Forschendes: „Sie sehen gar nicht gut aus. Müde irgendwie?“
 

„Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten, Junge!“ forderte der Sheriff übellaunig.

Er musste den Kerl dringend loswerden. Er störte seine Gedanken. Und wer wusste schon, was er vorhatte. Vielleicht wollte er ihn ausschalten, ehe er sein Werk vollenden konnte. Snyder wusste ja nicht, wie tief Jimmy in dieser Sache mit drinsteckte. Kurz überlegte er, seine Waffe zu ziehen und einfach abzudrücken, doch das würde er niemandem erklären können, wurde einem vernünftigen Teil seines Gehirns klar. Er hatte keine Beweise für Jimmys Verrat. Und andererseits: Vielleicht war seine Seele ja auch noch zu retten, wenn man ihn erst mal dem Einfluss des Bösen entzogen hatte?
 

James nahm gegenüber des Schreibtischs Platz und musterte den Sheriff. Dieser starrte aus gereizten, geröteten Augen zurück:

„Sie sollten wirklich nachhause gehen und sich eine Weile hinlegen, Sheriff!“ bemerkte James: „Sie sehen aus, als hätten sie dringend ein wenig Schlaf nötig!“
 

Snyder sprang auf, beugte sich über den Schreibtisch und brüllte bedrohlich:

„Das hat dich nicht zu interessieren, Jimmy. Du gehst mir verdammt nochmal auf die Nerven. Warum verschwindest du nicht einfach, nimmst dir einen freien Tag, oder was auch immer. Ich komme hier allein klar!“
 

Jimmy erhob sich stirnrunzelnd, machte noch eine kurze Runde durch den Zellentrakt und das restliche Department und zur Überraschung des Sheriffs folgte der Deputy daraufhin seiner Aufforderung zu gehen.

Snyder blickte ihm misstrauisch hinterher.
 

Es gab nun wirklich keinen Zweifel mehr daran, dass der Sheriff nicht mehr er selbst war, dachte James beunruhigt. Er litt offensichtlich an Schlafmangel, hatte möglicherweise auch Fieber, so wie er schwitzte und er war noch viel unbeherrschter als gewöhnlich.

Eine sehr gefährliche Kombination!
 

James hatte sich davon überzeugt, dass sich die Frauen nicht im Department befanden, also war der nächste logische Schritt, sie im Haus des Sheriffs zu suchen.
 

Carmichael hatte glücklicherweise noch immer in seiner Zelle gesessen, doch James hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt, die beiden Wahnsinnigen gemeinsam zurückzulassen. Wer konnte schon sagen, wozu sie sich am Ende noch gegenseitig anstifteten. Andererseits gab es auch nichts, was er in diesem Augenblick dagegen unternehmen konnte.
 

Zeit, seine Trumpfkarte zu spielen, dachte Carmichael grinsend bei sich und rief zum Sheriff hinüber:

„Es gibt wohl Ärger im Paradies, wie? Sie und der Deputy vertragen sich im Augenblick nicht mehr so gut, wie es scheint! Ist es, weil er sich mit den Huren drüben im roten Haus unter einer Decke steckt?“ Carmichael lachte anzüglich und fügte hinzu: „Sogar wortwörtlich, wenn sie verstehen, was ich meine!“
 

Der Kopf des Sheriffs ging ruckartig nach oben. Was hatte Carmichael da gerade gesagt? Was wusste er über diese Sache?

Snyder erhob sich von seinem Platz und ging hinüber in den Zellentrakt.
 

Wenn er ehrlich war, musste James zugeben, dass er keine Ahnung hatte, was er als nächstes tun sollte. Der Sheriff, sein Vorgesetzter, bewaffnet mit seiner Dienstwaffe hatte offenbar den Verstand verloren. Sein Hass richtete sich gegen seine Freunde, von denen er einige an einem unbekannten Ort gefangen hielt. `Wenn sie noch lebten!´ flüsterte plötzlich eine kleine, gemeine Stimme in seinem Kopf, die er bislang hartnäckig ignoriert hatte. Das Blut wich aus seiner Körpermitte und sackte ihm in die unteren Extremitäten.

Ihm wurde eiskalt.
 

Melodys markantes, dunkles, schönes Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf; die zärtlichen, schlanken und doch kraftvollen Hände, der Körper, der den seinen in den letzten Monaten in so vielen Nächten gewärmt hatte.
 

Vielleicht war all dies nicht mehr?

Vielleicht hatte der Irre ihr Licht für immer ausgelöscht, hatte darüber hinaus Mia, Lois und Sam ihre Mutter genommen und auch Shy und Justine Carpenter getötet?
 

Vielleicht kam er ganz einfach zu spät?
 

Die Panik lähmte ihn einen Moment lang. Er vergaß zu atmen und seine Muskeln krampften sich zusammen, doch schließlich straffte er sich und besann sich wieder. Diese Gedanken würden ihn nicht weiterbringen. Nur wenn er in Bewegung blieb, konnte er irgendwem von Nutzen sein. Er atmete tief durch und lief los. Er wusste nun, was sein nächstes Ziel sein musste!

Am Haus des Sheriffs angekommen, schaute James zunächst in die Fenster, doch er stellte fest, dass die Vorhänge allesamt zugezogen waren. Plötzlich hatte er die Hoffnung, der Sheriff hatte es ihm tatsächlich so leicht gemacht und die Frauen seien in seinem Haus versteckt, doch als er eintrat, fand er dort nur eine einzige Person, Lydia Snyder, mit schreckensbleichem, verweintem Gesicht, gefesselt an einen Stuhl. Der Deputy löste vorsichtig den Knebel und die Fesseln der Frau, welche ihm daraufhin dankbar und schluchzend um den Hals fiel:
 

„Er ist komplett verrückt geworden!“ stieß sie aufgebracht hervor.
 

James nickte:

„Ich weiß!“ erwiderte er und tätschelte sanft ihre Schulter: „Ich habe ihn gesehen! Können sie mir sagen, was mit ihrem Mann passiert ist? Was treibt ihn bloß dazu, diese Dinge zu tun?“
 

Lydia Snyder blickte den jungen Mann ratlos an. Dann stotterte sie:

„Er muss es herausgefunden haben,...dass…dass ich ihn verlassen will….dass ich mit Madame Carpenter gesprochen habe…ich weiß nicht wie. Er hat sie eine Dämonin genannt.“
 

James mahlte mit den Kiefern:

Das sah diesem alten Bastard ähnlich, dachte er bitter. Anstatt sich einzugestehen, dass er ein mieser Ehemann gewesen war und dass seine Frau es deshalb nicht länger bei ihm aushielt, musste natürlich irgendetwas völlig anderes schuld sein; nämlich Dämonen in Menschengestalt!“

Darum also das Ganze?

Darum mussten seine Freunde leiden, um ihr Leben fürchten oder waren vielleicht schon tot?

James fühlte eine mörderische Wut!
 

Der Sheriff hatte Carmichael genau zugehört und mit einem Mal begriff er, dass der Mann wohl seine einzige Hoffnung war. Bob Carmichael hatte schon lange vor allen anderen begriffen, was mit den Leuten im roten Haus vorging, doch niemand hatte ihm geglaubt.

Er war offenbar auch auserwählt, ebenso wie Snyder selbst, das Böse auszumerzen und er hatte es bereits versucht; in der Nacht vor einigen Monaten, als er die schwarze Hure umzubringen versucht hatte:
 

„Ich habe ihr wahres Gesicht gesehen, Sheriff!“ flüsterte Bob eindringlich: „Sie hatte die Fratze eines Dämonen. Ich hatte mein Messer dabei und ich wusste, ich muss ihr ein Ende bereiten. Doch der Dämon war stärker, als ich geglaubt habe. Die Hure hat überlebt und MICH hat man ins Gefängnis gesperrt Ich konnte mich niemandem anvertrauen, Sheriff. Bis jetzt! Zusammen können wir es schaffen. Wir werden die Teufelsbande besiegen, richtig?“
 

Snyder nickte andächtig. Mit einem Mal war er davon überzeugt, das dieser Mann reinen Herzens war. Er zückte den Schlüssel zur Zelle:

„Bring dein Werk zuende, Carmichael.“sagte er feierlich: „Die schwarze Hure; sie ist in dem Stollen, bei der Indianerin und den anderen Frauen. Hol` sie dir!“ Dann öffnete er die Zellentür:
 

„Ich werde sie nicht enttäuschen, Sheriff!“ versicherte Bob aufrichtig.
 

Er verließ das Department mit dem Wolf an seiner Seite. Er lachte, lachte und lachte. Nur ein kleiner Zwischenstopp im Wald, um seine Ausrüstung zu holen und in weniger als einer Stunde würde sie endlich ihm gehören. Rausch und Erregung überschwemmten ihn mit der Wucht einer Flutwelle.

Der Sheriff war vielleicht ein Idiot, aber er war nützlich.
 

Gottes Wege waren wirklich unergründlich. Er hatte einen Verbündeten, von dem er keine Ahnung gehabt hatte. Nun wurde Snyder ein wenig leichter ums Herz. Er legte sich in einer der Zellen auf eine Pritsche, um sich endlich ein wenig auszuruhen.
 

James brachte die erschöpfte, verzweifelte Lydia Snyder hinüber ins rote Haus und berichtete dort, was er erfahren hatte. Leider hatte auch die Frau des Sheriffs keine Ahnung, wo Snyder seine Gefangenen versteckt halten mochte.

Wo sollte er nun seine Suche fortsetzen?
 

Vor seinen Freunden versuchte er, sich seine Ratlosigkeit und Furcht nicht anmerken zu lassen. Wenn die Frauen noch lebten, so überlegte James, würde Snyder früher oder später zu ihnen zurückkehren. Dann würde er ihm heimlich folgen, beschloss er.

Es war das Einzige, was ihm einfiel.
 

Als er das Haus seiner Freunde verlassen hatte und wieder allein war, schluckte er, um die Tränen die sich ihren Weg bahnen wollten, zurückzudrängen. Noch mehr, als je zuvor in seinem Leben fühlte er sich mit einem Mal wie ein kleiner Junge, der lediglich so tat, als könnte er erwachsene Entscheidungen treffen.
 

Zurück beim Sheriffsdepartment atmete James tief durch und linste unauffällig durch ein Fenster. Snyder saß nicht mehr an seinem Schreibtisch. Leise trat er ein und wurde des Schnarchens gewahr, dass aus dem Zellentrakt kam. Er schlich sich nach hinten und es traf ihn beinahe der Schlag: Der Sheriff schlief tief und fest und Carmichaels Zelle war leer!
 

Dem Deputy wurde kurz schwarz vor Augen.
 

Er knickte in den Knien ein und musste sich an den Gitterstäben einer Zelle festhalten, um nicht zu Boden zu gehen. Durch tiefe Atemzüge versuchte er wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er starrte auf den Sheriff hinab und abgrundtiefer Zorn ergriff ihn. Er packte den schlafenden Sheriff am Hemdkragen, schüttelte den Erwachenden und brüllte:

„Sie haben den irren Mörder freigelassen? Wie verrückt sind sie eigentlich, verdammt nochmal? Wo sind die Frauen? Wo haben sie sie versteckt. Ist er jetzt bei ihnen? Sprechen sie!“

James Stimme wurde schrill und verzweifelte Tränen liefen ihm über das Gesicht. Schließlich sackte James in sich zusammen, das Gesicht in die Hände vergraben.
 

Für einen kurzen Moment gab er auf.
 

Und er sah die Faust nicht kommen, die ihn niederstreckte.
 

Carmichaels Atem ging schneller, als er den Stollen betrat. Er hatte die Lampe bei sich, die Snyder für ihn am Höhleneingang zurückgelassen hatte und seine kleine Tasche.

Er hatte es gewusst! Wenn er nur Geduld hätte, dann käme er auch ans Ziel, so, wie der Wolf es ihm versprochen hatte!

Doch nun war es beinahe schon zu perfekt?

Es hatte nur ein paar gut platzierter Täuschungen und Halbwahrheiten bedurft und der irre Sheriff hatte ihm die Zellentür aufgeschlossen.

Mehr noch, er hatte SIE bereits für ihn eingefangen und gut verschnürt abgelegt.

Er würde keinerlei Arbeit mehr haben, sondern ausschließlich das Vergnügen.

Er grinste breit.

Als die Tür aufgegangen war, hatte er kurz darüber nachgedacht, den Sheriff auf der Stelle zu töten, doch auf der anderen Seite konnte er ja nicht wissen, ob er ihm nicht noch nützlich sein würde.
 

Nach einer Weile fand Bob endlich den Ort im Stollen, wo der Sheriff die Frauen gefangen hielt. Er leuchtete mit der Öllampe in die Gesichter und sein Grinsen erstarb: Es war die falsche Schwester, die hier vor ihm lag!

Er gab ein unwilliges Knurren von sie und trat gegen einen Felsen.
 

Die Gefangenen, alle außer Shy, waren zuvor in leichten Schlaf gefallen, doch sie waren erwacht, als sie die sich nähernden Schritte hörten. Als ihre Augen sich an das Lampenlicht gewöhnt hatten und sie erkannten, wer ihnen da einen Besuch abstattete, entfuhr jeder der vier Kehlen ein entsetzter Schrei.
 

Carmichael lachte tief und unheimlich und es hallte an den Stollenwänden wieder. Vielleicht war das hier doch keine vollkommene Zeitverschwendung? Vier Frauen, gefesselt, wehrlos und starr vor Angst bei seinem Anblick?

Er hatte ja keine Eile.

Er konnte ausgiebig mit ihnen spielen, und das, was am Ende von ihnen übrig war würde er IHR als Brautgeschenk mitbringen.

Er trat an jede der Frauen einzeln heran und schaute sie sich ausgiebig an, ehe er bei dem falschen Zwilling in die Knie ging und schnurrend fragte:

„Du willst wissen, was deine Schwester gefühlt hat, richtig?“
 

Carmichael ließ sich rittlings auf die, am Boden liegend gefesselte Melody nieder und fuhr fort:

„Nun wirst du es erfahren!“
 

Melody wand sich verzweifelt, versuchte den Mann loszuwerden, blickte sich links und rechts nach ihren Mitgefangenen um, doch keine von ihnen konnte sie retten. Im spärlichen Lampenschein sah sie das Gesicht Carmichaels, gierig, lüstern und ohne Erbarmen. Sie wusste, für ihn war sie nicht mehr, als eines der bemitleidenswerten Tiere, die er gefoltert und getötet hatte; im besten Fall ein wenig amüsanter. Und er würde ihr nun antun, was er Margarete bereits zugefügt hatte. Nur würde er dieses Mal wohl besser darauf achten, dass sein Beutetier am Ende auch tatsächlich tot wäre. Sie murmelte ihm Verwünschungen zu und zappelte in seinem Griff, doch er nagelte sie mit seinem Gewicht und seiner Körperkraft am Boden fest:
 

„Wehr dich doch nicht!“ flüsterte er und kam mit seinem Gesicht sehr nah an das ihrige. Sie hasste seinen Körpergeruch. Auf eine sehr animalische, instinktive Weise verriet er ihr alles, was sie wissen musste; dass er böse war, ein Dämon und dass sie alles tun musste, um von ihm fortzukommen! Doch das war die eine Sache, die ihr absolut unmöglich war.

Melody hatte einen metallischen Geschmack im Mund.

Sie saß in der Falle.

Sie wusste das und er wusste es auch.
 

Und er genoss es!

Ihr Ausgeliefertsein, ihre Todesangst, sein Publikum, die ganze Szene.

Er zog ein Messer aus einer mitgebrachten Tasche, ließ es kurz im Lampenschein aufblitzen, damit sie es sehen konnte und legte es dann dicht neben ihrem Kopf ab:

„Das ist für später!“ erklärte er. Dann öffnete er seine Hose und schob ihr Kleid hoch.
 

Melody drehte den Kopf weg, um ihn wenigstens nicht riechen oder anschauen zu müssen. Sie schwitzte. Der Stollen war feucht, heiß, dunkel und jedes Geräusch wurde endlos von einer Wand zur nächsten geworfen wie hektisches Geflüster.

Plötzlich glaubte Melody hinter Carmichael eine Bewegung wahrzunehmen. Sie strengte ihre Augen an, um in der Finsternis etwas zu erkennen. Sie glaubte schon, es sich bloß eingebildet zu haben, als sie plötzlich die Umrisse von Shy erkannte, die einen großen Stein in beiden Händen über dem Kopf hielt.

Während die anderen geschlafen hatten, hatte sie es irgendwie geschafft, durch beständiges Reiben an einem scharfen Felsvorsprung ihre Fesseln ganz langsam zu durchtrennen. Ihre Handgelenke hatten dabei einigen Schaden genommen und Blut tropfte von ihnen herab.

Shy war hinter Carmichael getreten, hielt ihren Stein fest in beiden Händen und holte aus. Doch durch irgendetwas war Carmichael aufmerksam geworden, eventuell durch Melodys Blick, dachte sie kurz.
 

Aber instinktiv wusste sie, dass es etwas anderes gewesen war.

Er hatte das Blut gewittert, wie ein Raubtier!
 

Carmichael grapschte nach seinem Messer, wandte sich, immer noch auf Melodys Bauch hockend blitzschnell um und versuchte, dem Hieb auszuweichen, dennoch traf der Stein ihn seitlich an der Schläfe.

Einige warme, klebrige Tropfen trafen Melody im Gesicht- sein Blut!

Carmichael ließ nun gänzlich von ihr ab, rappelte sich ein wenig benommen auf und ging auf Shy los. Er holte mit dem Messer aus, doch Shy hatte immer noch ihren Stein, von dem die Waffe abprallte und irgendwo in der Dunkelheit scheppernd zu Boden fiel. Carmichael machte einen Satz nach vorn, sprang Shy an, brachte sie damit zu Fall und entwaffnete sie gleichzeitig. Melody wand sich, um zu erkennen, was vor sich ging. Carmichael hockte nun auf Shy und würgte sie.
 

Es gab nicht viel, was die winzige Frau dem starken Kerl entgegensetzen konnte. Melody robbte sich Stück für Stück an die beiden heran.

Vielleicht konnte sie sich ja mit dem ganzen Körper gegen ihn werfen und irgendetwas ausrichten. Vielleicht konnte sie nach ihm treten.

Vielleicht gab es irgendetwas, was sie tun konnte.
 

Doch dann wurde ihr bewusst, sie kam zu spät. Shy hatte bereits aufgehört zu zappeln und rührte sich nicht mehr. Und Carmichael wandte sich ihr nun wieder grinsend zu, um fortzusetzen, wobei er zuvor so unhöflich gestört worden war.
 

Der Sheriff erhob sich und blickte ohne jede Gefühlsregung auf Jimmy hinab, der reglos am Boden lag. Dann stieg er über dessen Körper hinweg und verließ das Sheriffsdepartment. Er wusste selbst nicht, wohin er nun wollte, bis er plötzlich vor seinem eigenen Haus stand. Er trat ein und stellte fest, dass Lydia fort war.

Wahrscheinlich hatte die Dämonin sie zu sich gerufen, also machte er sich wieder auf den Weg.
 

***

Plötzlich war hellichter Tag. Shy blickte sich erstaunt um. Die Landschaft um sie herum war ihr unbekannt. Und da waren Leute, viele Leute! Sie hörte das Murmeln zahlloser Stimmen, doch erkennen konnte sie im gleißenden Sonnenlicht bislang noch niemanden. Sie wusste nicht, ob sie näher treten sollte, doch dann wurde sie gewahr, dass jemand auf sie zu kam. Sie erkannte ihn zunächst nicht, bis er unmittelbar vor ihr stand, doch dann war sie zutiefst überrascht, wenn auch, zu ihrer eigenen Verwunderung, überhaupt nicht ängstlich?

Die Person, die auf sie zu getreten war, war ihr Ehemann, der keinen Tag älter zu sein schien, als in jenem Augenblick vor vielen Jahren, als sie ihn getötet hatte. Seine Kehle, in welche sie damals das Messer gestoßen hatte, war unversehrt.

Er lächelte?
 

So freundlich und gütig hatte sie sein Gesicht niemals gesehen.
 

Er nahm ihre Hand und sie ließ es geschehen.

Mit einem Mal tauchten hinter ihm noch zwei weitere Gestalten auf und Shy erkannte in ihnen die vertrauten Umrisse ihrer Eltern.

Und auch auf ihren Gesichtern las sie nichts weiter als Liebe und Vergebung!

Mit einem Mal fühlte sie einen Frieden, den sie zuvor niemals gekannt hatte. Seltsamerweise sprach niemand mit ihr, nicht mit den Lippen zumindest. Und dennoch wusste Shy ganz genau, was sie ihr mitteilen wollten. Als kämen ihre Gedanken; die ihres Mannes und ihrer Eltern und auch die der vielen anderen Menschen in fern und nah von demselben Ort und seien für jeden zugänglich.

***
 

Als der Sheriff in den Stollen zurückkehrte, wo er seine Gefangenen zurückgelassen hatte, erblickte er als erstes das nackte Hinterteil von Carmichael und grobe Hände, die gewaltsam versuchten, die Schenkel der schwarzen Hure zu öffnen.
 

Unbeteiligt betrachtete er die Szene einen Moment lang, als handele es sich um eine Vorstellung im Theater, welche ihm zu Ehren gegeben wurde.

Snyder blickte sich seelenruhig im Stollen um. Von Lydia keine Spur. Seine Augen verengten sich.
 

Carmichael wurde sich der Anwesenheit des anderen Mannes bewusst und hielt einen Moment lang in seinem Treiben inne, wandte sich um und fragte mit geschürzten Lippen und einem schmutzigen Grinsen:

„Wollen sie sie auch, wenn ich mit ihr fertig bin, Sheriff? Ich kann sie auch später noch töten!“

Dann wandte er sich wieder seinem Opfer zu.
 

In den Blick des Sheriffs kehrte wieder ein wenig Wachheit zurück.

In seinen Eingeweiden machte sich Ekel breit.

Nein dieser Mann war kein Auserwählter! Er hatte ihn bloß getäuscht!

Snyder zog seine Waffe.

Er entsicherte sie.

Er zielte.

Er drückte ab.

Der Schuss donnerte los und hallte endlos an den Stollenwänden wieder. Carmichaels Kopf flog mit einem Ruck nach vorn. Etwas spritzte gegen die Felswände und Bob Carmichael brach leblos auf Melody zusammen.
 

Der Sheriff legte den Kopf schief und betrachtete die Szene noch einmal genau. Die Frauen starrten ihn mit aufgerissenen Augen an.

Snyder steckte die Waffe wieder in ihr Holster und schlurfte davon.
 

***

Shy wandte sich um und entdeckte plötzlich hinter sich jemanden, der gerade noch nicht dagewesen war. Er war einfach so aus dem Nichts aufgetaucht, wie es schien. Am Boden unter einem kleinen Bäumchen saß ein Junge von etwa sechs Jahren. Er spielte mit einem Wolfswelpen und streichelte zärtlich dessen Fell. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie ahnte, wenn er sie nun anblickte, würde seine Iris silbrig schimmern.

Da hob der Knabe den Kopf und seine Augen waren angstvoll geweitet und dunkelgrau. Sie kniete sich neben ihn und zog seinen Kopf an ihre Brust:

„Nun wird alles gut! Du darfst dich nun endlich ausruhen, mein Junge!“ sandte sie in seinen Kopf.

***
 

Carmichaels Messer war beim Kampf mit Shy direkt neben Regines Händen gelandet. Keiner hatte auf sie geachtet in all´ diesem abscheulichen Durcheinander und nun war es ihr gelungen, ihre Fesseln durchzuschneiden. Sie riss sich den Knebel aus dem Mund und sprang auf. Tausend Nadeln stachen in ihren Händen und Füßen, als das Blut in sie zurückkehrte. Regine achtete nicht darauf und rappelte sich auf. Sie riss Carmichaels Leiche von Melody herunter und legte ihr das Messer in die Hand. Dann stürzte sie auf Shy zu und versuchte an ihrem Hals einen Puls zu fühlen.

Nichts!
 

Regine geriet in Panik:

„Nein, nein, nein!“ keuchte sie: „Du bist nicht tot! Du darfst nicht tot sein!“ Ihre Stimme schwoll an und war bald ein panisches Brüllen. Regine hatte Shys leblosen Körper am Kragen gepackt und begann ihn zu schütteln. Sie weinte und flehte und schließlich begann sie, mit Fäusten auf ihren Brustkorb einzuprügeln.
 

Etwas packte Shy von hinten grob am Kragen und riss sie mit sich. Alles versank in Schwärze.
 

Sie öffnete die Augen.

Die Sonne, die Landschaft, die Menschen waren verschwunden. Sie lag am Boden eines feuchten Stollens und Regine war über sie gebeugt; die Augen erschrocken geweitet:

„Warum schlägst du mich, Schwester?“ fragte Shy mit heiserer Stimme.
 

„Du warst tot!“ erklärte Regine tonlos.
 

„Unsinn!“ erwiderte Shy: „Ich lebe! Das siehst du doch! Aber ich hatte einen wirklich seltsamen Traum!“
 

Regine lachte und weinte zur gleichen Zeit. Sie zog Shy fest an sich und vergrub ihr Gesicht an ihrer Schulter:
 

„Mädchen, putz dir die Nase!“ forderte Shy: „Ich will deinen Rotz und deine Tränen nicht an meinem Kleid!“
 

Regine lachte laut auf.
 

Inzwischen war es Nacht geworden. Sheriff Snyder nahm einen großen Handkarren, welcher vor Petes Fine Goods stand, packte die Griffe und schleuderte ihn gegen die Schaufensterscheibe, welche mit einem lauten Klirren zu Bruch ging, wodurch die Stille der späten Stunde jäh zerrissen wurde. Der Sheriff kletterte durch das Fenster, wobei er sich an ein paar, im Rahmen verbliebenen Scherben an der linken Hand verletzte.

Snyder spürte es kaum. Er hatte eine Mission zu vollenden. Sein Auftrag kam von höchster Stelle! GOTT wollte, dass er diese Stadt endlich von dem widerlichen Geschwür befreite, welches Millers Landing befallen hatte, ohne dass irgendwer es mitbekommen hatte.

Nicht einmal der Reverend der Stadt ahnte, was hier, ja was gar unter seinem eigenen Dach vor sich ging. Der Teufel war sehr raffiniert vorgegangen, hatte sie alle eingewickelt und getäuscht.

Nur er selbst besaß noch seine Wachsamkeit.
 

Sicher, er hatte sich kurzfristig von Carmichael täuschen lassen und das war ein Rückschlag gewesen. Doch der Teufel war nun einmal gerissen und das war nur ein Grund mehr, seine Mission ohne Zögern und Rücksicht aus Verluste zu vollenden.
 

Er musste die Reinigung vornehmen, die Reinigung durch die Flammen!
 

Der Sheriff blickte sich im Ladeninneren um, fand wonach er gesucht hatte und schleppte alles hinaus, um es auf den Handkarren zu laden. Dann machte er sich auf den Weg. Sein erstes Ziel war nur wenige Schritte von hier

Rauch und Flammen

Alexander hatte seit Jahren keine einzige Nacht mehr ruhig durchgeschlafen, doch heute wirkte sich diese Ruhelosigkeit zum ersten Mal zu seinem Vorteil aus. Als er den Spiritusgeruch wahrnahm, dachte er sich zunächst noch nicht viel dabei, doch sehr bald danach roch er den Rauch und da begann es auch schon, sehr warm um ihn herum zu werden. Alexander sprang aus dem Bett und sah aus dem Fenster zur Straße hinaus. Unbarmherzige Flammen züngelten aus der Schneiderei und in ihrem Schein erkannte er den Sheriff, der auf der Straße stand und das Schauspiel offenbar genoss.
 

Der Gesetzeshüter machte keinerlei Anstalten, irgendetwas gegen das Feuer zu unternehmen. Im Gegenteil, vielmehr wirkte er wie jemand, der überaus zufrieden mit sich selbst und seinem Werk war.
 

Es war immer schon nur eine Frage der Zeit gewesen, dass der bigotte Mistkerl seinen Verstand verlieren würde, dachte Alexander beiläufig!
 

Der Schneider war ein vorsichtiger und misstrauischer Mann; dazu hatte sein bisheriges Leben ihn erzogen. Er hatte immer schon geahnt, dass ihm früher oder später irgendwer nach dem Leben trachten würde, so dass ein rascher Rückzug nötig wäre, denn er war sich deutlich bewusst, wie die Leute in Millers Landing über ihn dachten.

In Gedanken hatte er seine Flucht bereits unzählige Male durchgespielt und nun war der Moment offenbar tatsächlich gekommen!
 

Eilig griff er sich ein paar Dinge: Papiere, Jacke und Hose, Bargeld und Schmuck, stopfte sie in eine Tasche und rannte zum anderen Fenster, welches zum Hof hinaus führte, sprang hinaus auf das Vordach der Terrasse, warf die Tasche hinunter und ließ sich dann selbst am Rand des Daches herab.
 

Er blickte sich noch einmal um, sah sein Lebenswerk in Flammen aufgehen und musste schlucken. Dann eilte er einfach los.
 

Alexander ahnte, dass er nicht der Einzige war, dem der Hass des Sheriffs galt.

Möglicherweise war dieser gar verantwortlich für das Verschwinden der Frauen drüben im roten Haus?

Vielleicht gab ja etwas, was er tun konnte?

Alexander schulterte die Tasche und rannte los.

In einer engen Gasse hielt er inne um sich rasch Hose und Jacke über den Pyjama zu ziehen. Seine Lungen brannten vom Rauch.
 

Inzwischen hatte Melody sowohl sich selbst als auch Justine Carpenter befreit und stand nun über der Leiche von Bob Carmichael. Sie stieß ihn mit dem Fuß an und flüsterte:

„Du hast mich nicht gekriegt, Bastard!“
 

Justine hatte sich unterdessen Shy zugewandt und begutachtete im Lampenschein die Würgemale an deren Hals:

„Ich weiß nicht, wie sie überlebt haben, Miss Shy. Es scheint ein Wunder zu sein!“ An alle gewandt fügte sie hinzu: „ Was war hier bloß los, zum Teufel? Lassen sie uns schnell zusehen, dass wir von hier weg kommen, ehe der Sheriff zurückkommt und sich überlegt, dass er keine Zeugen hinterlassen möchte.“

Sie und Regine hakten Shy unter, um sie zu stützen und Melody ging mit den beiden Öllampen vorweg. Zu viert verließen sie nach einem beschwerlichen Marsch von einer halben Stunde endlich den Stollen und sogen gierig die frische Nachtluft ein.

Sie erklommen den Hügel nahe der Mine und blickten auf Millers Landing hinab.
 

Von mehreren Orten sahen sie Rauchsäulen aufsteigen!
 

Die Schneiderei war Snyders erstes Ziel gewesen, weil es in der Nähe war.

Als nächstes war er hinüber zur Schule gegangen. Es musste schließlich verhindert werden, dass die Jugend dort weiterhin vom Bösen korrumpiert wurde!
 

Sowohl das Schulgebäude selbst, als auch das Haus der Lehrerinnen hatte Snyder nun den reinigenden Flammen übergeben und war sehr zufrieden mit sich.
 

Er hatte jedoch nicht die Zeit gehabt, sich weiter aufzuhalten, denn sein Werk war an diesem Punkt noch lange nicht beendet gewesen.

Er hatte einen weiteren Zwischenstopp im Gemischtwarenladen machen müssen, um noch mehr von dem Spiritus auf den Handkarren zu laden.
 

Spiritus!

Geist!

Heiliger Geist!

Wie passend, dachte er und musste lachen.
 

Er war bei seinem Werk von niemandem behelligt worden, denn alle braven Bürger schliefen zu dieser späten Stunde bereits.
 

Die Kirche und das Pfarrhaus waren dunkel und still gewesen, als Snyder sich ans Werk gemacht hatte.

Die Brutstätte des Dämonen hatte natürlich nicht weiterbestehen dürfen!

Dies war kein Gotteshaus mehr!
 

Das Freudenhaus war das letzte Ziel des Rächers gewesen und nun stand er da, genoss den prächtigen Anblick der Flammen und wartete auf die, die es hinaus schaffen mochten. Niemand durfte entkommen!
 

Plötzlich war überall Rauch!

Die Wachen hatten immer wieder um das Haus patrouilliert, waren dann wieder zurückgekehrt, um sicherzustellen, das niemand eindrang, doch damit, das jemand ein Feuer legen und somit verhindern würde, dass sie ihrerseits hinauskämen, hatte niemand gerechnet!
 

Das „Yasemines“ hatte nur wenige Minuten vor dem Wohnhaus zu brennen begonnen. Der Brandbeschleuniger, der überall um das Haus verteilt worden war, hatte dafür gesorgt, dass das trockene Holz des Gebäudes sehr schnell Feuer gefangen hatte und nun waren alle Ausgänge; alle Fenster und Türen, die ins Freie führte von gierigen Flammen umzüngelt.
 

Im Wohnhaus herrschte das absolute Chaos; Schreie, Durcheinanderlaufen, Hilflosigkeit und Angst.

Tiny versuchte sich so gut wie möglich einen Überblick darüber zu verschaffen, wer sich wo befand und wie er helfen konnte. Er hatte Mia und Lois auf dem Arm und Sam und Joe waren an seiner Seite. Dann traf er eine Entscheidung. Er gab je eines der weinenden Mädchen an die beiden Jungen weiter und befahl:

„Schafft sie hier raus und bewaffnet euch! Der Brandstifter könnte noch in der Nähe sein!“
 

Joe blickte unzufrieden zu seinem Liebhaber hinauf und wollte wissen:

„Und was machst du?“
 

„Ich helfe den Anderen!“ gab er zurück.
 

Joe schüttelte den Kopf und bestimmte:

„Ich lasse dich hier nicht zurück!“
 

„Bitte Joe. Mach´ was ich dir sage, nur ein einziges Mal! Tust du das bitte für mich? Ich komme nach. Versprochen! Mir wird schon nichts geschehen!“ Er deutete auf das kleine Mädchen in seinem Arm: „Sieh sie dir an! Sie muss hier raus!“
 

„Komm!“ flehte nun auch Sam: „Hilf mir bitte!“
 

Joe schluckte. Er küsste Tiny und flüsterte:

„Wehe, du lässt mich allein zurück! Das würde ich dir nie verzeihen!“
 

Dann fasste er das Kind auf seinem Arm fester und rannte hinter Sam her, die Treppen hinab. Unten sah er, dass sie durch die Tür nicht hinaus kommen würden, weil die gesamte Veranda bereits lichterloh brannte. Dann erkannte er Christian, Noah und Helena die zuvor unten Wache gehalten hatten und die nun dabei waren, das Fenster des Gemeinschaftsraumes einzuschlagen. Joe setze das Mädchen kurz ab und half ihnen dabei.

Helena, Christian und Noah sprangen als erstes hinaus und und nahmen dann die Mädchen entgegen.
 

Sam war der Nächste der durch das Fenster kletterte.

Nun blickten alle erwartungsvoll auf Joe, doch der schüttelte den Kopf:

„Ich werde hier gebraucht!“ verkündete er: „Nehmt euch vor dem Brandstifter in Acht, sucht euch Waffen und helft allen, die hinauszukommen versuchen. Passt auf die Mädchen auf!“

Dann verschwand er vom Fenster.
 

Joe kamen an der Treppe einige der Frauen entgegen, denen es offensichtlich schwer fiel, sich in Hitze, Rauch und Dunkelheit zu orientieren und so wies er Susanna Bishop, Claire Mcclaine Dorothy Klugman und Carolyn Hoffman, sowie Rebecca und Felicity den Weg zum eingeschlagenen Fenster, sog selbst gierig ein wenig von der frischen Nachtluft ein, ehe er sich, mit dem Kragen seines Pyjamas vor dem Gesicht wieder zurück zur Treppe machte, denn im Haus befanden sich noch etliche Personen, welche den Ausgang noch nicht gefunden hatten.

Mit Entsetzen stellte Joe fest, dass die Flammen sich rasend schnell ausbreiteten.
 

James kam mit dröhnendem Schädel wieder zu Bewusstsein. Er fand sich auf dem kalten Boden des Sheriffdepartments wieder und nach und nach fiel ihm alles wieder ein, die Entführungen, der entkommene Gefangene, der Sheriff, der den Verstand verloren hatte.
 

Oh, Gott, dachte er entsetzt!

Sicherlich war es mittlerweile bereits zu spät für alle seine Freunde!

Der Deputy rappelte sich mühsam auf, ignorierte seinen schmerzenden Kopf, trat aus dem Gebäude und da sah er es: Die Schneiderei stand lichterloh in Flammen!
 

Er läutete die große Glocke vor dem Department, um die Bewohner der Stadt auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Zum Glück hatten sich die Flammen des alleinstehenden Gebäudes noch nicht auf die umstehenden Häuser ausgebreitet.

Und nun entdeckte James etwas, das beinahe sein Herz aussetzen ließ: Einen roten Lichtschein am Horizont, zu früh für die Morgendämmerung und es war überdies die falsche Himmelsrichtung.

Er wusste sofort, was das bedeutete.

Seine Füße setzten sich in Bewegung. Er überließ die Stadt sich selbst.

Ein leichter Nieselregen setzte ein.
 

Der Sheriff hatte ihn entdeckt! Der kleine Teufel hatte es aus den Flammen heraus geschafft und gerade folgten ihm durch eines der Fenster einige seiner Jüngerinnen.

Snyder machte einen großen Bogen, damit er sich dem Teufel von hinten nähern konnte.

Der Junge hörte ihn nicht, denn er war abgelenkt vom Brüllen des Feuers, von den Stimmen, die durcheinanderredeten und vom Regen, der eingesetzt hatte und langsam heftiger wurde.
 

Justine und Melody stützten Shy und Regine folgte ihnen. Keine von ihnen sagte ein Wort. Sie fürchteten das Schlimmste als sie das Feuer von Ferne sahen und ihre Schritte wurden immer schneller, je näher sie den beiden brennenden Gebäuden kamen.
 

Joe war mittlerweile wieder oben im ersten Stock, wo er Kathryn, Lydia und Alice fand:

„Helena?“ rief Alice aufgebracht:
 

„Sie ist schon draußen!“ versicherte Joe: „Was macht ihr denn noch hier? Verschwindet!“ rief er aus. Dann entdeckte er Tiny, der versuchte Mollys Zimmertür aufzubrechen:
 

„Durch die hohen Temperaturen hat sich irgendwie der Rahmen verzogen, oder so etwas. Die Tür öffnet sich nicht!“ erklärte Kathryn mit schriller Stimme.
 

Nun vernahm Joe auch die Stimmen von Molly und den beiden Jungen auf der anderen Seite der Tür, wie sie in Panik riefen und weinten:

„Thomas und ich schaffen das hier schon!“ versicherte er den Anderen: „Lauft, ehe hier alles in sich zusammenstürzt!“
 

Tiny wandte sich nach ihm um und rief:

„Verdammt, was machst du hier? Wirst du jemals auf das hören, was ich dir sage?“
 

Joe schüttelte den Kopf:

„Nein, ich schätze nicht. Du kannst mich später bestrafen! Jetzt haben wir zu tun!“
 

Als James an den beiden roten Häusern ankam, erblickte er einige Leute im Schein der Flammen: fünf der Damen aus Boston, Sam mit den Mädchen und Christian; doch niemand von ihnen schaute auf das flammende Inferno. Vielmehr waren all´ die entsetzten Blicke auf den Sheriff gerichtet, der dem zitternden Noah seine Pistole unter das Kinn hielt.
 

Den Deputy hingegen hatte bislang noch niemand entdeckt.
 

Schweren Herzens ließen Kathryn, Lydia und Alice die beiden Männer zurück und liefen die Treppe hinab, welche mittlerweile bereits von den Flammen erreicht worden war. Sie wollten direkt zum offenen Fenster laufen, denn es war so unerträglich heiß im Gebäude und der Qualm biss sich in Augen, Nase und Lungen fest, doch da entdeckte Alice zufällig etwas, das in der Nähe des Eingangs lag. Beinahe hätte sie es im Rauch übersehen, doch dann regte es sich. Während die anderen aus dem Fenster kletterten, wandte Alice sich dem Bündel am Boden zu.

In diesem Moment viel draußen ein Schuss!
 

Tiny und Joe zählten bis drei und dann warfen sie sich mit Macht gegen die verschlossene Tür.

Nichts!

Sie versuchten es ein zweites Mal und endlich barst das Holz. Die Zwei fielen mit der Tür ins Zimmer und sahen, das Molly in ihrer Verzweiflung bereits im Begriff war, mit den Jungs aus dem Fenster zu springen.
 

„Stopp!“ rief Tiny in allerletzter Sekunde. Er schnappte sich die Jungs und lief in Richtung Treppe, während Joe die verzweifelten Molly unterfasste und hinter sich her zog.

Als sie alle die Stufen erreichten, stürzten diese krachend in sich zusammen.
 

Alexander kam gerade recht um Zeuge einer Szene zu werden, in dessen Mittelpunkt sich der Sheriff und der Sohn des Geistlichen befanden:

„Bekenne, dass du der Dämon bist, der die ganze Stadt in ihr Unglück stürzen will! Bereue, ehe ich dich zurück in die Hölle schicke, damit deine Seele Erlösung finden kann!“
 

Der Sheriff bohrte dem weinenden und bebenden Noah seinen Revolver unter sein Kinn, bereit ihm in den Kopf zu schießen:
 

„Wovon sprechen sie denn bloß?“ fragte der Junge schluchzend.
 

Dies ließ den Sheriff seinen Griff und den Druck seiner Waffe nur noch erhöhen.
 

Lydia Snyder trat, mit vor der Brust verschränkten Armen vor und fragte empört:

„Was soll das Hubert? Du bedrohst ein Kind? Du redest ja komplett wirres Zeug! Lass´ ihn los und komm´ zur Vernunft!“
 

„Du kommst auch noch dran, Hexe!“ erwiderte er: „Ihr werdet alle eurem Anführer folgen, wenn ihr euch nicht vom Bösen abkehrt!“

In diesem Moment ertönte hinter dem Sheriff eine vertraute Stimme, die behauptete:

„Sie haben den Falschen, Boss! Ich bin der Dämon, den sie suchen!“
 

Snyder lockerte den Griff um den Jungen und wendete sich James zu.
 

Der Deputy war sich dessen bewusst, dass die Chancen, versehentlich Noah zu verletzen bei dem Versuch, den Sheriff aufzuhalten beträchtlich waren.

James hörte in seinem Kopf plötzlich die Stimme seines Vaters, die ihm zu verstehen gab, dass er ein Schwächling und ein Idiot sei und dass er es gar nicht schaffen KONNTE, weil er doch noch nie etwas richtig gemacht hatte!
 

Dann fiel sein Blick auf das Gesicht von Kathryn, die ihm mit einem kleinen Lächeln zunickte.
 

James zielte und drückte ab.
 

Alice zuckte zusammen, als sie das Poltern der einstürzenden Treppe hörte und hoffte inständig, dass niemand mehr dort oben sein mochte, doch im Augenblick musste sie die beinahe bewusstlose Margarete aus dem Haus schaffen.

Als sie sie zum Fenster geschleppt hatte, rief sie nach den Anderen, damit sie ihr die Frau abnehmen mochten.
 

„Verflucht? Und was nun?“ fragte Joe entsetzt, als sie zu fünft am Absatz von dort standen, wo sich soeben noch eine Treppe befunden hatte:

„Ich werde euch hinunter heben!“ erklärte Tiny: „Mit dir fange ich an Molly und dann kommen die Jungs!“

Er legte sich an den Treppenabsatz ließ Molly hinab und als sie auf dem Schutthaufen einen einigermaßen sicheren Halt gefunden hatte, reichte er ihr dann nach und nach ihre beiden Söhne, welche sie unten entgegennahm und dann mit den Kindern in Richtung des eingeschlagenen Fensters rannte:
 

„Jetzt du!“ sagte Tiny zu Joe.
 

Dieser schüttelte den Kopf:

„Und was ist mit dir? Ohne dich gehe ich nirgendwo hin!“
 

„Ich werde springen!“ behauptete Tiny:
 

„Das ist Blödsinn!“ rief Joe aufgebracht unter Husten: „Du brichst dir den Hals, wenn du auf den Treppentrümmern landest und ich kann dich unten allein nicht auffangen.“ Er hakte sich bei Tiny unter:

„Ich werde hier bei dir bleiben bis zum Schluss!“ Versicherte er ernsthaft: „Es ist in Ordnung, Thomas! Ehrlich! Du hast mich in der kurzen Zeit, in der wir uns kennen so unglaublich glücklich gemacht. Das reicht für ein ganzes Leben. Von mir aus darf es hier enden.“
 

Tiny schüttelte unwillig den Kopf, während Tränen in seinen Augen standen:

„Entweder du gehst freiwillig, oder ich schaffe dich mit Gewalt runter!“ erklärte er zornig:
 

„Nicht!“ bat Joe sanft: „Ich würde es dir nie verzeihen!“
 

Tiny zog den jungen Mann, den er so sehr liebte fest in seine Arme und ließ ihn nicht mehr los.
 

Es regnete mittlerweile in Strömen!

Nachdem der Schuss gefallen war, waren sowohl der Sheriff, als auch Noah in sich zusammengesackt, landeten auf der nassen Erde und selbst James war sich nicht sicher, wen von beiden er nun getroffen hatte.
 

Christian stürzte auf die beiden Körper am Boden zu, wälzte den Sheriff von dem Jungen herunter und entdeckte das Loch, welches in der Brust Snyders klaffte. Noah lag am Boden und seine Augen waren schreckgeweitet:

„Ist gut!“ murmelte Christian: „Ich hab´dich! Nichts passiert!“
 

Noah gelang es, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Er klammerte sich an den Oberkörper seines Freundes und dieser wiegte ihn ein wenig und flüsterte ihm immer wieder in sein Ohr, dass nun alles gut werden würde.
 

Lydia trat an die Seite des Leichnams ihres Mannes und schaute auf ihn hinab. Dann hob sie den Blick wieder, richtete ihn auf James und erklärte in unnatürlich gefasstem Ton:

„Sie hatten keine Wahl, Deputy Chester!“
 

James schluckte. Er zitterte ein wenig.
 

Kathryn lief auf ihn zu, nahm ihm die Waffe aus der Hand, legte sie auf den Boden und dann schloss sie ihn in ihre Arme:

„Ist in Ordnung, mein Liebling! Du hast es richtig gut gemacht!“ versicherte sie ihm leise.
 

Oben am Absatz der zerstörten Treppe hielte Joe und Tiny einander immer noch fest. Sie vernahmen das Prasseln des Regens auf dem Dach und wussten doch, dass sie diese Rettung für sie zu spät kam. Die Flammen fraßen sich immer näher und näher.

Und in diesem Moment vernahmen sie unter sich eine Stimme:
 

„Braucht ihr Hilfe, Männer?“ wollte Alice wissen.
 

Die beiden mussten ein wenig Lachen.

Nun hob Tiny Joe rasch auf dieselbe Weise herunter, wie zuvor Molly und ihre Söhne und als er selbst über den Rand hinabließ, wurde er unten von Alice und Joe aufgefangen. Die drei eilten in den Gemeinschaftsraum Raum mit dem Notausgang und kletterten hustend und würgend hinaus ins Freie, wo der Regen es übernommen hatte, das Feuer in weiten Teilen zu löschen und Ruß und Schmutz von allen, die in dem brennenden Haus gewesen waren abzuwaschen.
 

Tiny blickte sich um und konnte es nicht fassen. Alle hatten es hinausgeschafft und auch die Verschwunden waren wieder bei ihnen?
 

Er zog Joe an sich und murmelte heiser:

„Ich liebe dich wie wahnsinnig, du kleiner Verrückter!“
 

Helena entdeckte Alice, doch anstatt sie zu umarmen oder sie zu küssen, verlieh sie ihrer Wiedersehensfreude anders Ausdruck. Sie boxte sie so fest sie konnte in den Oberarm:

„Ich dachte, du hast es nicht geschafft, du Miststück!“ brachte sie zornig hervor. Dann brach sie in Tränen aus.
 

Alice konnte nicht anders, sie lachte!

Dann krümmte sie sich vor Husten.
 

Es kam irgendwie ganz von allein: Alle Überlebenden rückten einander immer näher, bildeten schließlich so etwas wie einen Kreis und legten die Arme umeinander. Christian stand dabei neben Alexander und fragte erstaunt:

„Was tun sie denn hier, Sir?“
 

„Ich denke, ich muss dir sagen, dass ich deine Ausbildung nicht fortsetzen kann!“
 

Christian blickte ihn unglücklich an und wollte wissen:

„Habe ich denn meine Sache nicht gut gemacht?“
 

„Du hast es wunderbar gemacht, meine Junge, doch leider gibt es kein Geschäft nicht mehr. Mein Haus war das Erste, das der Mistkerl angesteckt hat!“
 

Christian hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund.

Dann zog er den Schneider fester in seine Arme:

„Es tut mir so wahnsinnig leid!“ murmelte er.
 

Der Regen löschte das Feuer, doch es blieb beinahe nichts übrig, was sich zu retten lohnte und man versuchte es in diesem Augenblick auch gar nicht erst. Gemeinsam gingen sie hinüber zum Haus des Doktors. Ursprünglich hatten sie zur Schule gehen wollen, um sich dort auszuruhen, doch als Rebecca und Felicity die beiden Rauchsäulen am Horizont gesehen hatten, wo die Schule und ihr Haus hätte stehen sollen, hatten sie mit den Anderen bleich und wortlos die Richtung gewechselt.
 

Der Doktor und seine Frau hatten sich in aller Kürze erklären lassen, was vorgefallen lassen. Dann hatte der Doktor, der Zugang zur Notversorgungsausrüstung der Stadt hatte, Feldbetten und alles Nötige herbeischaffen lassen und versorgte nun Verbrennungen, Rauchvergiftungen und anderer Verletzungen.
 

Noah hatte sich bis gerade eben zwischen Alice und Christian befunden und sich von beiden abwechselnd oder auch mal gleichzeitig halten lassen, weil er einfach nicht hatte aufhören können zu zittern.

Nun verkündete er:

„Ich muss meinen Eltern alles erklären! Sie machen sich bestimmt Sorgen um mich.“
 

„Darf ich dich begleiten?“ wollte Christian wissen.
 

Alice hätte ihn auch gern begleitet, doch konnte sie sich als Flüchtling ja leider nirgends blicken lassen.
 

Noah war dankbar, dass Christian mit ihm kam, doch ein wenig unbehaglich war ihm dennoch, weil er sich fragte, welche Rückschlüsse insbesondere seine Mutter über seine Gesellschaft ziehen würde.

Wie sich zeigen sollte, würde diese Befürchtung keine Rolle mehr spielen.
 

Als die beiden Jungen ihr Ziel erreichten, standen weder die Kirche noch Noahs Elternhaus noch. Beides war nur noch ein qualmender Haufen Schutt und davor saß der Reverend und hatte den leblosen Körper seiner Frau auf seinem Schoß.
 

Noah ging neben den beiden mit einem Ruck in die Knie:

„Was ist hier geschehen?“ wollte er eigentlich fragen, doch heraus kam nur ein entsetztes Krächzen.
 

Sein Vater verstand ihn dennoch, blickte auf und zog ihn an sich.

Erst nach einer Weile fand Noah endlich seine Stimme wieder und erklärte:

„Wir müssen dich zum Doktor bringen. Und Mutter auch!“
 

Sie luden die Leblose auf einen Handkarren und machten sich auf den Rückweg.

Der Doktor konnte später nur noch den Tod von Gretchen Schultz feststellen.
 

„Hast du wieder einmal etwas auf deinen armen, schönen Kopf gekriegt, mein armer Liebling?“ fragte Kathryn und deutete auf James verbundenen Schädel.
 

Der Deputy zuckte mit den Schultern und brachte ein mühsames kleines Lächeln zustande.

Die Rothaarige hockte sich neben ihn und blickte ihn verstohlen von der Seite an. Irgendwann suchten ihre Finger die seinigen und verschränkten sich mit ihnen.

Justine sah es aus der Ferne und nickte Kathryn zu, ehe sie sich abwandte und verschwand.
 

Melody setzte sich auf das Feldbett zu ihrer Zwillingsschwester. Diese trug einen Verband um ihren Kopf und erinnerte Melody damit schmerzhaft an damals, als Margarete die Verletzungen durch Carmichael mehr schlecht als recht überlebt hatte.
 

Margarete war bei dem Versuch aus der brennenden Haustür zu kommen, ein Balken auf den Kopf gefallen, doch niemand hatte es gesehen.

Hätte Alice sie nicht zufällig entdeckt und aus dem Inferno heraus geschafft, wäre sie darin unweigerlich umgekommen:

„Du musst endlich damit aufhören, immer wieder beinahe zu sterben, Schwesterchen!“ murmelte sie in dem Versuch, einen Scherz zu machen, doch anstatt zu lachen brach sie in Tränen aus.
 

Margerete schlang sich fest um sie und es dauerte nicht lange, ehe auch sie weinte.

Erst weinten die beiden um die Verletzungen, die ihnen das Leben zugefügt hatte, dann weinten sie weil sie alles verloren hatten und dann weinten sie vor Freude, weil sie eben nicht alles verloren hatten!

Alle ihre Freunde hatten wie durch ein Wunder überlebt und sie hatten einander endlich wiedergefunden.
 

Nach einer Ewigkeit, als endlich alles betrauert war, rieb sich Melody mit dem Ärmel über Augen und Nase und sagte:

„Ich will dir etwas sagen, was noch keiner wissen darf: Du wirst Tante!“
 

Margarete riss überrascht die Augen weit auf und dann legte sie den Kopf in den Nacken und lachte aus voller Kehle.
 

Melody war zunächst verblüfft und dann auch ein wenig verletzt über diese Reaktion, bis sie erfuhr, was zur Belustigung ihrer Schwester geführt hatte:

„Du auch, Süße!“
 

„Aber wie...?“ wollte sie wissen.

Margarete erklärte es ihr.

Und dann lachten sie beide!
 

Am folgenden Tag, nachdem alle sich ein wenig erholt hatten, machten man sich daran in den Trümmern der abgebrannten Häuser nach irgendetwas umzusehen, was das Feuer überlebt hatte. Da waren ein paar Küchengegenstände, wenige Möbel, persönliche Habe, doch das allermeiste war für immer verloren.
 

Gegen Mittag kamen Joe, James, Alice, Helena, Christian, Noah, Alexander, die beiden Lehrerinnen und die Bewohnerinnen und Bewohner des abgebrannten Roten Hauses zusammen, um zu beraten, wie es nun mit ihnen weitergehen sollte.

Sie alle waren unendlich erschöpft, ratlos und traurig und als Helena eine Idee äußerte, stimmten die Anwesenden zu, ohne lange darüber nachzudenken.

Diese Lösung erschien so gut, wie jede andere und hier zu bleiben war keine Option.
 

Später am Nachmittag hatte Kathryn noch einen schweren Gang vor sich und James begleitete sie dabei. Sie hatte fünf Rosen vom Strauch vor dem ehemaligen roten Haus gebrochen und nun näherten sie sich der einsamen Grabstätte von Elizabeth. Heute jährte sich ihr Todestag zum fünften Mal.

James blieb eben da stehen, wo er sich vor genau einem Jahr vor Kathryn verborgen hatte, um nicht von ihr dabei entdeckt zu werden, wie er sie beobachtete. Heute war er hier, weil sie den schweren Gang nicht allein machen wollte.
 

Und irgendwie hatte James auch das Gefühl, sein Hiersein sei auch ein Symbol.

Kathryn war nun endlich bereit für ihn.
 

James konnte sehen, das Kathryns Lippen sich bewegten, doch was sie dem einsamen Grabstein zu berichten hatte, konnte er nicht verstehen und versuchte es auch nicht, denn es ging ihn nichts an.
 

„Hallo, meine Liebste!“ murmelte Kathryn und weinte ein wenig: „Ich bin es; Kathy!“ Sie schluckte: „Bitte sei mir nicht böse, aber ich muss wohl fortgehen. Die Lebenden brauchen mich.“ Sie hielt einen Moment inne, ehe sie hinzufügte: „Ich kann es eigentlich kaum erwarten, irgendwann wieder bei dir zu sein, aber heute ist leider noch nicht der Tag.“

Sie blickte über ihre Schulter zurück zu dem jungen Mann mit den zu langen schwarzen Locken: „Ich frage mich immer wieder, ob du ihn gemocht hättest, Liz, aber ich glaube, das hättest du. Ihr seid euch ähnlich auf eine bestimmte Art.“

Sie blinzelte, um weitere Tränen daran zu hindern, sich ihren Weg zu bahnen:

„Ich liebe dich! Ich werde dich nie vergessen und in einem Jahr komme ich wieder hierher!“ Versprach sie.
 

Dann erhob sie sich und machte sich auf den Weg zurück zu ihrer Familie.

Epilog

Acht Monate später in einem Hotel in Boston herrschte heute reges Treiben. Ein großes Ereignis stand ins Haus.
 

Margarete hielt die Hand ihrer Zwillingsschwester, die keuchend und stöhnend in den Wehen lag. Neben der Hebamme war auch noch Kathryn im Raum, die der Freundin Beistand leisten wollte. Die restlichen Frauen und auch Noah hielten derweil mit Müh und Not den Hotelbetrieb aufrecht.

Christian und Alexander hatten am Morgen, als sich die Niederkunft ankündigte zwar überlegt, die neue Schneiderei heute geschlossen zu lassen, doch die Anderen hatten versichert, dass sie klarkommen würden.
 

Dasselbe hatten sie auch zu Rebecca und Felicity gesagt, die zunächst überlegt hatten, sich in der Schule zu entschuldigen.
 

Im Schlafzimmer von Joe und Tiny lief James, immer noch in seiner Polizeiuniform auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Joe beobachtete seinen besten Freund dabei und musste lachen:
 

„Willst du vielleicht Sofia eine Weile halten?“ Er hielt ihm seine winzige Tochter hin: „Ich finde es immer wahnsinnig beruhigend, sie im Arm zu halten.“ Er küsste das zappelnde, zufriedene Baby noch einmal auf die Stirn, ehe er es weiterreichte:
 

„Denkt ihr zwei, ich schaffe das? Bin ich dazu geeignet, ein Vater zu sein?“
 

Tiny lachte:

„Du wirst es müssen! In wenigen Augenblicken ist ein neuer Mensch hier bei uns und baut darauf, dass du deine Sache gut machst. Aber du hast Glück, Kleiner. Wenn du es vermasselst, ist hier ein ganzes Haus voller Menschen, die dir in den Arsch treten können!“
 

James betrachtete die kleine Sophia in seinen Armen und plötzlich konnte er es gar nicht mehr erwarten, seinen eigenen Nachwuchs endlich im Arm zu halten. Die Anspannung wich der Freude.
 

Nachdem der Kopf einmal da war ging es sehr schnell und Melody war unendlich erleichtert, als es vorbei war und man ihr das winzige, in ein Tuch gewickelte Wesen, das unzufriedene, quengelnde, kleine Laute von sich gab, auf den Bauch legte:

„Es ist ein Mädchen und an ihr ist alles dran, was es braucht. Sie ist wunderschön, meine Nichte!“ verkündete Margarete lächelnd und Kathryn wollte wissen:
 

„Wie werdet James und du sie nennen?“
 

„Caitlyn nach unserer Mutter!“ gab die Melody zurück und Margarete strahlte.
 

Kathryn streichelte sich sanft über den eigenen Bauch und dachte still für sich, dass dieses Baby sich wahrscheinlich keine weitere Woche mehr hätte Zeit lassen dürfen, bevor ihr eigener Zustand für jeden offenbar würde. Nicht einmal James hatte sie bislang ein Sterbenswörtchen verraten.
 

Heute war Caitlyns großer Tag und den sollte sie nicht teilen müssen, wenn sie schon ihren Vater niemals für sich allein haben würde.



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Darkdragon83
2019-05-13T11:33:46+00:00 13.05.2019 13:33
Eine Fortsetzung fände ich super!
Ich mochte die Entwicklung von Noah. Mein Lieblingspärchen waren Rebecca und Felicity, da hätte ich mir mehr Spotlight gewünscht. Könnte aber auch daran liegen, dass ich auch Lehrerin bin :D
Antwort von:  GingerSnaps
13.05.2019 19:22
Lustig, dass Rebecca und Frelicity dir gefallen haben. Sie waren ja nun wirklich totale Nebenfiguren, aber sie kamen wohl meiner Frau und mir am nächsten. :-D Wenn und falls es eine Fortsetzung gibt, wird das wohl noch ziemlich dauern, weil ich gerade mitten in mehreren angefangenen FanFics stecke. Schade. Ich hätte gern viel mehr Zeit zum Schreiben.
Von:  Darkdragon83
2019-05-11T22:41:46+00:00 12.05.2019 00:41
Grandios!
Ich habe die Geschichte mit sehr viel Spaß gelesen und finde es schade, dasy es jetzt am Ende doch so schnell vorbei war.
Ich muss zugeben Kathryn und James sind nicht mein Lieblingspärchen, aber das ist ja Geschmacksache. ;)



Antwort von:  GingerSnaps
12.05.2019 07:36
Es freut mich sehr, dass mein Erstlingsroman dir gefallen hat. Nein, Kathryn und James sind auch nicht mein Lieblingspärchen. Wenn ich darüber nachdenke, dann sind es in dieser Story wohl Joe und Tiny, weil sie so unwahrscheinlich sind, aber es am Ende doch passt. Danke für deinen Kommentar! Mir geht übrigens auch eine Fortsetzung durch den Kopf, aber ich komme einfach nicht dazu.
Von:  Spitzbube67
2018-09-19T00:27:07+00:00 19.09.2018 02:27
Moin,
All s....... O ich weiß nicht was ich sagen soll, finde die Story super!!
Mußte ich mal los werden 👍👍👍👍👍

LG
Spitzbube67
Antwort von:  GingerSnaps
19.09.2018 06:23
Hallo Spitzbube,
bei dieser Story freue ich mich noch mehr darüber, wenn sie jemanden gefällt, weil sie ja ein "Original" und keine FF ist. Also vielen Dank! Das versüßt mir den Tag! :-))
lg, Ginger
Von:  Spitzbube67
2018-09-06T23:37:47+00:00 07.09.2018 01:37
Moin,
Erst mal super diese beiden Kapitel!
D
Und dann der Deputy hätte nicht gedacht das er macht. (will ja nicht spoilern).


LG
Spitzbube67
Antwort von:  GingerSnaps
07.09.2018 06:16
Vielen Dank für die Rückmeldung. Und der Deputy... na ja, manchma wächst man eben über sich hinaus, richtig?
LG Ginger
Von:  Spitzbube67
2018-09-03T05:44:37+00:00 03.09.2018 07:44
Heurika
Das nenne ich mal ein Anfang und das soll deine erste Geschichte gewesen sein? Wenn der Rest so gut ist wie der Anfang. (dann brauchst du Teen Wolf nicht mehr 😅😅😅) jetzt muss du nur noch schnell den Rest hochladen, da mit ich weiter lesen kann. 😁😁😁😁😁😁

LG
Spitzbube67
Antwort von:  GingerSnaps
03.09.2018 16:45
Vielen Dank! Damit wir uns nicht falsch verstehen, das war natürlich nicht mein erster Versuch in Sachen Schriftstellerei, aber davor waren es nur Gedichte und Kurzgeschichten. Ich versuche mal, täglich ein Kapitel hochzuladen. Und nur so nebenbei- ich mag TeenWolf! :-D
LG, Ginger


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