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Schnee mitten im Sommer

von

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Kapitel 01 - Neue Wege

GESCHAFFT! ^__________^

Ralf, mein Schnuckel, es hat lange gedauert, aber ich habe es geschafft. Deine Story ist fertig!

Ralf: Wurde auch mal Zeit. *grummel*

Och, er schmollt immer noch. Dabei hat er gar keinen Grund dazu.

Na egal! Hauptsache, ich bin fertig geworden, und ich bin richtig stolz auf das Ergebnis. ^^

Für alle, die die Vorgeschichten hierzu noch nicht kennen: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/autor/723837/334036/

Man muss sie aber nicht unbedingt gelesen haben, um die Geschichte hier zu verstehen.
 

Leider notwendig zu erwähnen: Alle Rechte meiner Texte liegen allein bei mir. Meine Texte, mein Eigentum. Unerlaubte Veröffentlichungen, auch nur auszugsweise, auf anderen Plattformen oder Onlineshops sind verboten, und das mache ich Text-Dieben auch rechtlich begreiflich, falls es sein muss.

Also? Klauen is nicht. Und wie ich kürzlich erfahren habe, haben meine lieben Leser ihre Augen überall und berichten mir jeden dreisten Text-Diebstahl.

Auch ich werde in Zukunft besser aufpassen und genauer hinsehen, was einem auf digitalem Wege angeboten wird.
 

In diesem Sinne wünsche ich euch trotzdem viel Spaß beim Lesen.

Eure Fara
 


 

Schnee mitten im Sommer
 


 

Kapitel 01 - Neue Wege
 

~Ralf~

Das war's also.

Vorbei.

Good bye altes Leben.

Auf ein Neues.

Auf ein Besseres.

"Schön wäre es", flüstere ich nicht sehr überzeugt von meinen eigenen Gedanken, denn bisher war ich nicht gerade vom Glück verfolgt. Doch habe ich nicht auch mal etwas Glück verdient? Nach all den Enttäuschungen? "Vielleicht klappt es ja in der neuen Stadt", mache ich mir Mut. Es hilft leider nicht wirklich. Mich hat der Mut und die Hoffnung schon lange verlassen. Um mir das bewusst zu machen, muss ich nur in mich hineinhorchen. Auf mein gebrochenes Herz, dass trotzdem noch immer schlägt, wieso auch immer. Es hatte genug mitgemacht die letzten Jahre.

Mit einem mulmigen Gefühl betrachte ich meinen voll gestellten Hausflur. Umzugskartons stapeln sich im Flur, dazu ein paar Koffer. Mein ganzes Leben. Verpackt in braune Pappkartons. Versunken in den Anblick meines sorgfältig verstauten Lebens, denke ich darüber nach, was mich dazu bewogen hat, endgültig alle Zelte hinter mir abzubrechen, und wo anders neu zu starten.

Ganz klar war das super Jobangebot ein großer Faktor, der für einen Umzug sprach. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn überhaupt. Natürlich liegt der Hauptgrund meines Umzugs in einer zerbrochenen Liebe. Nein. Eigentlich waren es zwei zerbrochene Lieben. Zwei Männer, in die ich bis über beide Ohren verliebt war, denen ich die Welt zu Füßen gelegt hätte, hätten sie mich denn gelassen. Aber sie wollten mich nicht. Sie wollten immer 'den Anderen'. Ich war bloß der gute Freund, der nette Mitbewohner, bei denen sie sich ausheulen konnten.

Der erste, der mir das Herz geraubt hatte, es aber dankbar ablehnte, war Dillan gewesen. Dillan, mein lieber und süßer Mitbewohner. Ich verliebte mich in ihn. Konnte gar nicht anders, doch er wollte diesen Arsch Brandon, der seine Liebe gar nicht zu schätzen wusste. Gut für mich, dachte ich. Doch dann bemerkte dieser Idiot Brandon, dass er sich ebenfalls in Dillan verliebt hatte. Dillan ging. Hin und wieder sehen wir uns noch, aber ich gehe ihm meist aus dem Weg. Es tut weh, ihn zu sehen. Noch immer.

Nachdem Dillan bei mir ausgezogen war, und bei seinem neuen Lover einzog, lernte ich nach einiger Zeit Kris kennen.

Ich weiß nicht mehr genau, wie es geschah, aber wir trafen uns in einer Bar und unterhielten uns miteinander. Auch er war unglücklich verliebt gewesen. Es dauerte, doch nach und nach bemerkte ich, dass ich mehr für ihn empfand. Wir schliefen miteinander. Für Kris war es bloß Ablenkung. Ich verdrängte es, redete mir ein, dass auch mir unsere Bettgeschichte gut tat. Und dann kam der Tag, an dem er sich mit seinem besten Freund, seiner heimlichen Liebe, verkrachte. Ich sah meine Chance gekommen, und schlug ihm vor, es mit mir zu versuchen. Er willigte ein. Mehr oder weniger. Ich war glücklich. Seit langer Zeit war ich mal wieder richtig glücklich. Bis Kris sich mit seinem Freund vertrug. Mehr noch. Sie sind jetzt ein Paar.
 

Jetzt stehe ich also hier. In der Wohnung, in der von Anfang an alles schief gegangen war, und breche endgültig die Zelte hinter mir ab. Was würde ich drum geben, wenn ich die schlechten Erinnerungen, die ich hier gesammelt habe, mit meinem Haustürschlüssel abgeben könnte. Oder sie für den nächsten Mieter im Schrank hinterlegen könnte. Soll er sie haben. Ich brauche sie nicht. Ich will sie nicht. Ich will ... nicht mehr alleine sein.

In meinem Bauch bildet sich ein heißer Klumpen. Nicht mehr alleine sein. Nein. Ich bin nicht allein. Allein ist noch zu harmlos ausgedrückt. Ich bin einsam. Verlassen. Im Stich gelassen worden. Von Menschen, die ich liebte. Und das nicht erst, seitdem ich hier wohne ...

Ich raufe mich zusammen. In der neuen Stadt wird alles anders! Jawohl! Das schwöre ich mir. "Es wird alles anders", murmle ich und zwinge mir ein Lächeln ab, ehe ich die Kappe vom Filzstift ziehe und die braunen Umzugskartons beschrifte. "Es wird alles anders."
 

***
 

~Ralf~

Geschafft und KO falle ich in mein Bett. Die letzte Nacht hier. Morgen früh kommen die Möbelpacker und verfrachten meinen Kram in den gemieteten LKW. Das wird sicher anstrengend und ich muss fit sein für morgen. Ich drehe mich auf die Seite und schließe die Augen. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. Ich bin aufgeregt. Ruhelos. Meine Gedanken drehen sich wild durcheinander.

Ich wälze mich unruhig herum, finde aber keine Position, in der ich einschlafen kann. Auf dem Rücken bleibe ich schließlich liegen und schlage die Augen auf. Vorbeifahrende Autos malen weiß-schwarze Muster an die Decke. Eigentlich möchte ich hier nicht weg. Auf der anderen Seite jedoch, freue ich mich schon so sehr auf mein neues Leben, dass ich am liebsten jetzt aufstehen würde, um endlich loszufahren. Dieser Zwiespalt lässt mich keine Ruhe finden. Ich brauche was zum einschlafen.

Ich knipse die kleine Lampe an und betrete den Flur. In irgendeiner Kiste müssen doch meine Tabletten sein. Mit zusammengekniffenen Augenlidern entziffere ich die Beschriftungen der Kartons, als es plötzlich klingelt.
 

Ich drehe mich zur Tür. Es ist noch nicht spät, aber wer besucht mich denn jetzt noch? Seit Kris nicht mehr da ist, meide ich meine Freunde. Seit ich weiß, dass ich wegziehe, melde ich mich noch nicht mal mehr bei ihnen. Es klingelt noch einmal. "Ich komme ja schon", knurre ich und laufe zur Sprechanlage. "Ja?"

/Hey Ralf. Ich bin's./ Mir rutscht der Finger von der Anlage. Das ist Dillans Stimme gewesen! Was sucht er denn hier?

Meine Hand zittert, als ich zum zweiten Mal den Knopf drücke. "Was willst du?", frage ich ziemlich barsch.

/Du ziehst um?/ Er weiß davon?

"Wüsste nicht, was dich das noch anginge." Ich schlucke hart.

/Ralf. Bitte lass uns ... Ich würde mich gern von dir verabschieden. Darf ich?/ Mein Finger wandert auf den Türöffner. Es brummt, und ich höre die Haustür klacken.

Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Wand. Warum habe ich schon wieder nachgegeben? 'Ihn noch einmal sehen', denke ich, ehe es leise neben mir klopft. Dillan steht vor meiner Wohnungstür. Ich lasse ihn eintreten, schaue ihn dabei jedoch nicht an. "Du ziehst wirklich um", flüstert er und geht ein paar Schritte im Flur entlang.

"Wer hat gepetzt?", frage ich genervt.

"Es macht die Runde", meint er achselzuckend und dreht sich wieder zu mir. Jetzt sehe ich ihn das erste Mal bewusst an.

Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen? Gut ein halbes Jahr vielleicht. Das letzte Mal war auf einer Geburtstagsparty, die ich fluchtartig verlassen hatte, als ich ihn erblickt hatte. "Du siehst schlecht aus."

"Danke für die Blumen", knurre ich sauer. "Wenn du hergekommen bist, um mir zu sagen, wie kacke ich aussehe, dann kannst du gleich wieder verschwinden."

"Das meinte ich damit doch gar nicht", wehrt er schnell ab. "Du siehst aus, als ginge es dir nicht gut."

"Seit wann interessiert dich das?" Ich weiß, dass ich ihm damit Unrecht tue. Doch ich kann nicht anders, muss ihn mir mit gemeinen Worten vom Leib halten, damit er sich nicht wieder zu tief in mein Herz gräbt. Kris hat genug offene Wunden zurück gelassen, da kann ich die alten, die ich noch von Dillan habe, nicht auch noch gebrauchen.

"Du warst mein Freund", wispert er und sieht traurig zu mir rüber. "Es tut mir alles so leid, was damals passiert ist. Dass ich nicht gemerkt habe, wie es in dir aussah."

"Lass es Dillan! Entschuldigungen habe ich schon zu genüge von dir gehört!" Feindselig starre ich ihn an. Er kann nichts dafür. Er hat nichts falsches getan. Ich war nur so dumm gewesen, mich in ihn zu verlieben. Und noch dümmer war es gewesen, dass ich es ihm über ein Jahr lang verschwiegen habe. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht wären wir jetzt ein Paar.

Ich verdränge den Gedanken ganz schnell wieder. Ich mag nichts mehr davon in meinem Kopf haben. Nie wieder! "Sag schon, was du sagen willst Dillan. Und dann geh bitte. Ich muss morgen sehr früh aufstehen."

Dillan nickt. "Natürlich." Er senkt den Kopf und kommt auf mich zu, bleibt aber in gebührendem Abstand zu mir wieder stehen. "Lebe wohl Ralf. Wo auch immer du hingehst, ich wünsche dir, dass du glücklich wirst." Seine Augen werden feucht. Das will ich nicht sehen!

"War es das?", frage ich barsch. Er nickt. "Dann geh. Geh zurück zu Brandon." Er leckt sich über die Lippen. Das tut er immer, wenn er nervös ist. Ich lache auf. "Er weiß nicht, dass du hier bist. Stimmt's?"

"Nein."

"Streit im Paradies?" Ich hasse es so zu reden. Aber es bewahrt mich davor, mich wie ein Schwächling vor Dillan zu präsentieren.

"Bei uns ist alles in Ordnung", antwortet er gereizt. "Er macht sich sonst bloß Sorgen."

"Sorgen?! Um dich, oder um mich?" Dillan sagt nichts dazu, seufzt nur und lässt die Schultern hängen. "Hätte ich gar nicht gedacht. Das dein ehemals so gewissenloser Vögelpartner auch eine weiche, sorgenvolle Seite hat."

"Lass das Ralf!"

"Was soll ich lassen? Schlecht von deinem Freund zu sprechen?"

"Fängst du wieder damit an?" Er verschränkt seine Arme vor der Brust.

Ich ignoriere es, gehe sogar zwei Schritte auf ihn zu. "Vielleicht hat dein Lover ja gar nicht mal so unrecht mit seiner Befürchtung, was mich angeht."

"Wie meinst du das?" Oh, wie unsicher er sich auf einmal anhört!

"Vielleicht geschieht hier gleich etwas, was dein teurer Brandon schon vor so langer Zeit vorhergesehen hat." Ich gehe drei weitere Schritte auf ihn zu. "Einmal, Dillan. Eine Nacht. Schenke mir nur eine verdammte Nacht mit dir. Niemand wird es erfahren."

Dillans Augen werden immer größer. Ängstlich schüttelt er schwach den Kopf. "Das meinst du nicht so", stößt er hervor. "Das ist nicht dein Ernst."

"Oh doch. Mein vollster Ernst." Das würde Dillan niemals tun. Das weiß ich, sonst hätte ich das eben nicht zu ihm gesagt. Ich gebe es ungern zu, aber er liebt Brandon viel zu sehr, als dass er darauf eingehen würde. Außerdem würde mich dieser Irre killen, wenn er es jemals herausbekommen täte. Und meinem zertrampelten Herzen täte eine Nacht mit Dillan sicher auch nicht gut. Das, was ich damit bezwecken will ist einfach, dass Dillan jetzt endlich wieder verschwindet, und ich scheine Erfolg mit meinem Plan zu haben.

"Ich gehe jetzt, Ralf", japst er und weicht mir aus. "Was ich dir sagen wollte, habe ich gesagt." Mit gesenkten Kopf eilt er in einem Bogen an mir vorbei auf die Wohnungstür zu. Ich lasse ihn.

Erst als ich höre, wie er sie öffnet, drehe ich mich zu ihm herum. "Mach's gut Dillan. Ich wünschte, es wäre anders zwischen uns gelaufen." Bei aller Bitterkeit, ich kann ihn nicht so gehen lassen. Er hält in der Bewegung inne, weiß anscheinend keine Antwort auf meine Worte. "Du musst nichts sagen. Du liebst dieses Arschloch. Warum auch immer."

Er strafft sich und dreht seinen Kopf zu mir. "Viel Glück", wünscht er mir leise und verschwindet endgültig.

"Danke ... Danke, dass du mich nicht hasst, für all das, was ich dir und Brandon angetan habe", sage ich zu der geschlossenen Tür, ehe ich mich von ihr abwende und in mein Schlafzimmer gehe.
 

***
 

~Ralf~

"Alles was im Flur steht kommt in den LKW und die Möbelstücke, an denen ein grüner Post-It klebt, ebenfalls", erkläre ich den Möbelpackern. Der Chef von ihnen nickt, und dann legen sie auch schon los.

Ich laufe zur Sicherheit nochmal von Raum zu Raum, ob ich auch nichts vergessen habe. Nach meinem Rundgang bin ich mir sicher: Alles, was ich noch brauche, ist verstaut. Der Rest wird nachher von einem Entsorgungsunternehmen abgeholt. Perfekt!

Heute geht es mir wieder etwas besser. Zwar war ich Abends wegen Dillans Besuch noch ziemlich angeschlagen gewesen, aber nach dem Wachwerden war dieses flaue Gefühl im Bauch wie weggeblasen. Endlich geht es los, und die Vorfreude über meinen Auszug überwiegt nun doch.

Da ich nichts mehr zu tun habe, gehe ich den Möbelpackern zur Hand, schleppe Kartons, Stühle und anderen Kram, den ich mit in mein neues Zuhause nehmen will.

Als der LKW dann randvoll bestückt ist, ist meine Wohnung so leer wie ein Supermarkt kurz vor Heilig Abend. Meine Schritte hallen von den Wänden wider. Jetzt ist es endgültig. Adios, du unglückselige Wohnung. Adios, du grausame Stadt. Ich werde dich ganz sicher nicht vermissen.

Voller Vorfreude steige ich in mein Auto und gebe Gas. Der LKW mit meinen Möbeln fährt in ca. einer Stunde von hier weg. Genug Zeit für mich, in meiner neuen Wohnung alles vorzubereiten.
 

Meine neue Wohnung ist um einiges größer, als meine Alte. Sie liegt ebenerdig in einer ruhigen Wohngegend. Einen kleinen Garten habe ich ebenfalls, sowie eine klitzekleine Terrasse, auf der man in der Sonne sitzen und lesen kann. Etwas, das ich schon immer wollte. Mein eigenes kleines Reich im Grünen. Der Garten wird ausreichen, um mir im Sommer ein Wenig Gemüse anbauen zu können. Mal sehen, ob das klappt. Mein grüner Daumen lässt arg zu wünschen übrig. Zur Not wird eben nur gegrillt oder in der Sonne gepennt.

Langsam biege ich zwischen den beiden Häusern ein und bremse. Ich habe noch keinen Toröffner, weshalb ich aussteigen, und das Garagentor per Hand entriegeln muss. Den passenden Schlüssel habe ich schon von meinem Vermieter bekommen. Tor auf, in den Wagen mit mir und rein in die Garage. Ruhe kehrt ein, als ich den Motor abstelle. Vogelgezwitscher dringt zu mir. Als ich aussteige und die kleine Auffahrt betrete, schließe ich die Augen und hebe den Kopf gen Himmel. Sonnenschein und das ganz ohne Abgase. Ich liebe Vororte!

Ich öffne die Augen wieder, drehe mich einmal um die eigene Achse und schaue mich in der Gegend um. Die Nachbarschaft scheint relativ ruhig zu sein. Jedenfalls sehe oder höre ich niemanden, der Unruhe stiftet. Gepflegte Ein- oder Zweifamilienhäuser. Hier und da bellt ein Hund. Kinderlachen. Ich bin zuhause.
 

Mit dem Schlüssel in der Hand laufe ich zur Haustür, schließe sie auf und trete ein. Ich war erst einmal hier. Zur Besichtigung, die mir meine neue Firma vermittelt hat. Das gehört zum angenehmen Teil, wenn man ein hervorragend ausgebildeter Grafiker mit einem Haufen guter Referenzen ist. Ich könnte fast überall einen Job bekommen. In großen Städten, mit großen, namenhaften Firmen zum Beispiel. Aber ich habe mich für eine kleine Firma entschieden. Ich brauche das im Moment. Bodenständige Arbeit, mit hoffentlich netten Kollegen. Keine langen, grell beleuchteten Firmengänge, wo man ständig Leuten begegnet, die man nicht kennt.

Seufzend bleibe ich im breiten Flur stehen. Geradeaus schaut man direkt ins Wohnzimmer mit dem dahinter liegenden Garten und der kleinen Terrasse. Vorne links ist die Küche, und vorn rechts geht ein weiterer schmaler Flur ab, der zum Schlafzimmer und dem großen Bad führt. Eine Gästetoilette gibt es auch. Diese verbirgt sich hinter einer schmalen Tür, direkt links neben mir.

Das ist also ab heute an mein neues Reich.

Ich laufe wieder zurück zum Auto und hole die mitgenommenen Koffer heraus. Die verfrachte ich gleich ins Schlafzimmer und setzte mich aufs Bett. Die Matratze ist nicht schlecht. Vielleicht behalte ich sie. In Gedanken überlege ich schon mal, wo welches Möbelstück von mir hin passen könnte, mache das Gleiche mit den restlichen Räumen, da höre ich draußen das Zischen des LKWs, der mir meine ganze Habe bringt. Die waren aber schnell!

"Die Möbelpacker kommen gleich", klärt mich der LKW Fahrer auf und reicht mir einen Zettel zum unterschreiben. "Ich hol den Bock heute Abend wieder ab." Ich nicke und sehe zu, wie die Hebebühne abgelassen wird.

Einiges kann ich alleine in meine Wohnung schleppen. Bei den schwereren Sachen warte ich lieber auf die Möbelpacker. Kartons, Tischchen und Stühle wandern der Reihe nach in die Räume, die ich für sie vorgesehen habe, noch bevor einer meiner Helfer hier auftaucht. Ich hieve gerade einen zwar nicht sehr schweren, aber unhandlichen Karton aus dem LKW, da merke ich, wie etwas gegen die äußere Ecke des Kartons schlägt. Und das ziemlich heftig. Ich verliere fast das Gleichgewicht, fange mich aber noch gerade so. Dafür fliegt mir der Karton aus der Hand und landet scheppernd auf dem Boden. Was für ein Glück war da nichts Zerbrechliches drinnen. Dennoch bin ich sauer auf den Raudi, der mich soeben gerammt hat, und schaue mich nach dem Übeltäter um.
 

Und da ist er auch schon. "Au!", krächzt ein junger Kerl, der vor mir auf dem Boden hockt und sich das Knie reibt. Neben ihm liegt ein Skateboard, die Rollen nach oben, welche sich noch immer drehen.

"Mensch! Kannst du nicht aufpassen?!", pflaume ich den Bengel an.

"Und Sie? Können Sie nicht vorher auf den Gehweg glotzen, ehe Sie mir direkt vor die Nase latschen?!"

Sauer stemme ich die Arme in die Hüften. Was bildet sich dieser Pimpf überhaupt ein?! Wie alt ist der überhaupt? Dreizehn? Vierzehn? "Der GEHweg ist zum Gehen da! Deshalb heißt er ja auch so. Du darfst überhaupt nicht mit diesem Teil darauf fahren!"

"Ach?! Sind sie etwa vom Ordnungsamt? Sie Schlaumeier!" Mir segelt die Klappe nach unten. So ein vorlauter Zwerg! Wo bin ich denn hier hingeraten?

Dieser lebensbedrohliche Skateboardfahrer hebt sein Board auf und kommt ächzend auf die Beine. Er muss sich weh getan haben. Automatisch wandert mein Blick nach unten. Er steht seitlich zu mir. Zum Glück, denn ich mag gar nicht wissen, was passieren würde, wenn er meinen jetzigen Gesichtsausdruck bemerken würde. Dieses Früchtchen trägt bloß eine sehr, sehr kurze Jeanspants. Sie bedeckt nur das Nötige. Wenn überhaupt!

Damit ich nicht weiter auf die höchst verwirrenden oberen Bereiche seiner Beine starre, fixiere ich seine Knie. Das Linke davon hat er sich beim Sturz aufgeschlagen und es blutet stark. "Shit." Der Kleine tupft mit den Fingern in der Wunde rum.

"Lass! Das entzündet sich!"

"Jetzt sind Sie auch noch ein Arzt?" Grimmig dreht er sich zu mir um. "Sie sind ja ein viel begabter Mann!" Ich schlucke. Vierzehn ist er ganz sicher nicht. Er ist definitiv älter. Vielleicht noch nicht volljährig, aber er ist definitiv kein herumtollendes Kind mehr, wie ich zu Anfang geglaubt hatte. "Hallo?! Erde an Sprücheklopfer! Noch da?" Er wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum.

"Komm mit rein. Die Wunde muss versorgt werden." Ich drehe mich einfach um und laufe auf den Hauseingang zu. Ob er mir folgen wird, liegt bei ihm. Insgeheim hoffe ich, dass er mich nicht folgt ...

"Hey! Und der Karton? ... Hey!", höre ich ihn noch rufen, doch ich bin schon in meiner Wohnung.
 

~Björn~

So ein arrogantes Arschloch! Der hört mir ja gar nicht zu! Ich hätte nicht übel Lust, gegen diesen beschissenen Karton zu treten. Arsch! Arsch, Arsch, Arsch!

Wütend schaue ich mein aufgeschlagenes Knie an. Das Blut läuft mir schon am Bein hinab. Ich knirsche mit den Zähnen. Also gut. Soll er mich verarzten, dieses Arschloch. Er ist ja auch Schuld an meinem blutenden Knie.

Angefressen latsche ich ihm nach. Mein Skateboard lehne ich gegen die Hauswand, bevor ich eintrete. "Mister?" Wo ist er denn?

"Hier." Ich zucke zusammen. "Komm rein." Er steht in einem kleinen Badezimmer, direkt links neben mir. "Setzt dich." Widerwillig folge ich seiner Anweisung und lasse mich auf den geschlossenen Toilettensitz fallen. Mr. Kartonträger hat schon einen nassen Lappen in der Hand. Wortlos kniet er sich vor mich und wischt erst das runter geflossene Blut von meinem Schienbein, bevor er den Lappen noch mal unter den Wasserhahn hält und ihn auf mein aufgeschrapptes Knie legt. Zischend ziehe ich die Luft durch die Zähne. "Pass doch auf!", pöble ich ihn an.

"Hör auf zu flennen." ARSCH! "Wer ohne Hose auf so einem Höllenteil durch die Gegend rast, muss sich nicht über angeschlagene Knie wundern. Sei froh, dass du nicht auf den Kopf gedonnert bist." Ohne Hose?

"Ich hab 'ne Hose an. Du Blindgänger."

"Das ist keine Hose, das ist ein Verkehrshindernis." Bitte was?! Heißt das etwa ...?

"Ach? Macht dich das geil, Opi? Bist wohl 'ne alte Schwuchtel die auf saftige Jungenhintern steht?" He he. Friss das, du Sack! Um ihn noch ein bisschen mehr zu ärgern spreize ich meine Beine ein klein wenig weiter auseinander.

Kurz danach schreie ich auf, denn diese fiese Sau drückt den scheiß assi-Lappen fest auf mein Knie. Grantig schaut er zu mir auf. Seine Augen funkeln gefährlich. Ui. Der hat ja Feuer unterm Hintern. "Das Alt verbitte ich mir. Ja?" Ich blinzle perplex. Nur deshalb ist er sauer? Ist er etwa wirklich ein Homo? Mein Herz beginnt zu rasen. Ein Homo! In unserer Nachbarschaft! Und der tupft mir gerade das Knie sauber!

Ein leises Lachen ertönt. "Auf einmal so ruhig?", fragt er und spült den Lappen noch einmal aus.

"Du bist schwul?", frage ich geradeheraus. "Ohne Scheiß?"

"Hast du jetzt Angst?" Frech grinst er mich von oben herab an, ehe er sich wieder vor mich kniet.

Selbstbewusst strecke ich mein Kinn in die Höhe. "Nein. Warum sollte ich?"

"Dann ist ja gut", meint er bloß und grinst noch immer dabei.

Schweigend säubert er meine Wunde und kramt dann aus einem Karton einen Verbandskasten hervor. Mein Knie wird mit einem Pflaster beklebt und fertig. "Danke", flüstere ich und stehe auf.

"Auf einmal so nett? Was eine kleine Info über mein Leben so alles bewerkstelligen kann ..."

"Sehr lustig. Jetzt bist'e auch noch ein Komödiant?"

"Manchmal. Besonders dann, wenn man mich mit einem Skateboard überrollt." Ich lege den Kopf schief, sage aber nichts mehr dazu. "Kannst du laufen?"

"Warum sollte ich nicht?"

"Ich frage ja nur." Schulterzuckend tritt der lustige Homo zur Seite. Ich stapfe demonstrativ an ihm vorbei und schnappe mir draußen mein Skateboard. "Fahr vorsichtig! Und nimm dich vor Möbeltransportern in Acht."

"Und Sie nehmen sich besser von Jungs in kurzen Hosen in Acht", rufe ich ihm zu, als ich auf dem Bürgersteig stehe und auf mein Board steige. Er lacht bloß amüsiert und schüttelt den Kopf. Penner!
 

Ich wohne nur eine Straße weiter und als ich um die Kurve bin, steige ich von meinem Board runter. Mein Knie tut weh! Den Rest des Weges laufe ich besser. Na ja. Humpeln trifft es eher. Zuhause kommt mir meine Adoptivmutter entgegen. "Wo warst du so lange? Wir warten schon seit einer dreiviertel Stunde mit dem Mittagessen!"

"Tut mir leid", knurre ich und verkneife mir einen bissigen Kommentar. Ich bin dafür nicht in der Stimmung.

"Geh und wasch dich! Und dann beweg deinen Hintern in die Küche."

"Alles klar." Weg ist sie.

Wütend pfeffere ich das Board in eine Ecke meines Zimmers. Dämliche Kuh! Aber was soll ich schon machen? Sie ist meine Mutter. Nein, halt! Meine Adoptivmutter. Im Bad wasche ich mir die Hände, prüfe meine Frisur im Spiegel und pikse mit dem Zeigefinger auf dem Pflaster herum. Wenigstens blutet es nicht mehr. Dieser Homo hat volle Arbeit geleistet.

Ich fange an zu grinsen. Wenn meine Alten erfahren, dass ein Schwuler in die Nachbarschaft gezogen ist, ist hier die Hölle los. Vielleicht bekommen sie ja einen Herzinfarkt? Wer weiß?

Unten in der Küche empfängt mich meine komplette 'Familie'. Wie immer mit grimmigen Blick. Na ja. Mein 'Bruder' ignoriert mich viel mehr. "Sag ma, geht's noch? Wie läufst du denn wieder rum?" Mein Adoptivvater zeigt auf die Shorts, die ich trage. "Zieh dich sofort um!"

Mein Wutlevel steigt erneut an. "Kannste knicken! Es ist meine Sache, wie ich herumlaufe und was ich anziehe." Stoisch setzte ich mich an den Küchentisch.

"Björn! Du tust, was ich dir sage, oder das Mittagessen fällt für dich heute aus!"

"Schön! Von mir aus! Diese fettige Pampe bekommt doch eh kein gesunder Mensch runter!" Innerlich wappne ich mich für das Kommende.

Mein Adoptivvater steht ruckartig auf und holt aus. Treffer. So viel Geschwindigkeit hätte ich ihm gar nicht zugetraut. "Hoch mit dir! Sofort! Und ich will dich heute nicht mehr sehen! Verstanden?!"

"Fick dich doch", zische ich ihm zu und rausche aus der Küche.

"BJÖRN!" Ich beeile mich und rase in mein Zimmer. Schnell abschließen, bevor dieser Wichser die Treppe hoch gekrochen kommt, was aber eher unwahrscheinlich ist. Da müsste er sich ja bewegen und sein Essen stehen lassen. Bevor das aber passiert, hört die Welt sich auf zu drehen. Gieriger Vielfraß.
 

Sauer werfe ich mich aufs Bett und berühre meine Wange. Bestimmt ist sie ganz rot. Auf jeden Fall brennt sie wie Feuer. Nichts, was ich nicht schon gewohnt wäre. "Du dämlicher Wichser", krächze ich und beiße die Zähne zusammen. Nur nicht heulen. Wehe Björn. "Ich kann es kaum erwarten, bis ich volljährig bin. Dann bin ich hier schneller weg, als ihr glotzen könnt." Noch drei Wochen. Nur noch drei Wochen!

Ich atme tief ein und drehe mich auf die Seite. Zwischen Bett und Wand habe ich mein Tagebuch versteckt. Das ziehe ich nun heraus und schlage es auf. Darin schreibe ich mir meine ganze angestaute Wut von der Seele und schreibe auch die Begegnung mit dem neuen Nachbar auf. Noch immer muss ich an ihn denken. Irgendwie sah er beeindruckend aus, als er mich in dem kleinen Bad so überheblich-stolz von oben herab angeschaut hat. Der weiß sich sicher zu verteidigen. Kunststück. Er ist ein erwachsener Mann. Ich wünschte, ich könnte auch so einfach umziehen. Weit weg von hier.

Leider bin ich seit sieben Jahren an dieses Haus gefesselt, an diese beschissene Familie. Kalle, mein Adoptivbruder, ist schon viel länger hier als ich. Manchmal sehen wir uns tagelang nicht. Ich habe keine Ahnung was er eigentlich den ganzen Tag über so treibt. Um ehrlich zu sein, ich mag es auch gar nicht wissen. Wir konnten uns von Anfang an nicht leiden, oder besser gesagt, wir meiden uns. Sicher ist das nicht seine Schuld. Man wird in diesem Haus eben so. Keinen Schimmer, weshalb das Jugendamt sich nicht darum schert, wie es uns geht. Kalle ist ein mieser Schüler, genau wie ich. Er prügelt sich viel und ich bin mir sicher, dass er das ein oder andere krumme Ding zieht. Aber was soll's? Es muss erst was Schlimmes passieren, ehe das Jugendamt eingreift. So ist es doch immer. Ich atme tief durch und stecke mein Tagebuch wieder weg. Bald bin ich hier raus. "Nur noch drei Wochen ..."

In Gedanken versunken blicke ich aus meinem Fenster. Was für ein schöner Tag. Viel zu schön, um im Zimmer zu versauern. Die Ferien sind doch zum Spaß haben da, oder? Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ein Tag am See wäre doch was.

Ich raffe mich auf und stopfe meine Badehose und ein Handtuch in einen Beutel. Das Skateboard klemme ich mir unter den Arm und öffne das Fenster. Über ein altes Rosengitter geht es nach unten. Meine Adoptiveltern werden mein Verschwinden erst bemerkten, wenn ich schon längst weg bin. Wie immer.

"Tschau, ihr Luschen!" Ich zücke meinen Mittelfinger, den ich auf das mir so verhasste Haus richte und steige auf das Board. Nur weg von hier!
 

******
 

Na? Neugierig, wie es weiter geht?

Kaum ist Ralf an seinem neuen Domizil angekommen, rauscht ihm Björn in die Arme. Doch nicht nur der kleine Gehwegraudi 'begrüßt' ihn in der Nachbarschaft, da kommt auch noch jemand anders, der ihn seine nachbarschaftliche Hilfe anbietet. ^^

Wer das sein wird, erfahrt ihr im nächsten Kapitel.
 

Und wer sie noch nicht gelesen hat, hier die Geschichte von Dillan und Brandon: http://animexx.onlinewelten.com/fanfiction/346294/?js_back=1 Ralf kommt auch darin vor. ^^

Kapitel 02 - Hallo Nachbar

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 02 - Hallo Nachbar (Ohne Adult)

Kapitel 02 - Hallo Nachbar (Ohne Adult)
 

~Ralf~

Halb neun. Die Sonne steht schon richtig tief. Trotzdem ist es noch angenehm warm draußen. Im diffusen Abendlicht packe ich meine Klamotten in den Schrank. Dank dem mir noch zustehenden Resturlaub in meiner alten Firma, bleiben mir noch drei Wochen für's Auspacken und Vorbereiten. Dann ruft mein neuer Job.

Ich freue mich schon richtig darauf. Endlich kann ich mich ganz auf mich konzentrieren. Auf mich und meine Arbeit. Keine Liebesverwirrungen mehr. Ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht mehr so schnell zu verlieben. Jedenfalls werde ich meine Finger in Zukunft von den süß aussehenden Kerlchen lassen, an denen ich sie mir bis jetzt immer verbrannt habe. Ihr wisst schon. An den netten kleinen Jungs, die mir im Nullkommanichts die Sinne rauben, aber selbst durch die Gegend taumeln, weil sie nicht wissen, wohin sie ihr Leben treiben wird. Ich habe die Schnauze voll von denen, die einfach nicht wissen, was sie wollen. Ich werde mich in keinen mehr von ihnen verlieben! Nie mehr, auch wenn ich mich im Moment noch so einsam fühle. 'Das geht vorbei', rede ich mir ein und hänge einen Anzug in den Schrank. Dabei fällt mir eine zerbeulte Zigarettenschachtel entgegen. Ich bücke mich, hebe sie auf und schaue hinein. Noch drei Glimmstängel. Ich knäule die Packung fest zusammen. Damit ist jetzt ebenfalls Schluss! Seit drei Tagen habe ich keine mehr gequalmt, und ich werde auch nicht mehr mit dem Scheiß anfangen. Sie wandert umgehend in den Müll, aus den Augen, aus dem Sinn, dann räume ich weiter meinen Koffer aus.

Morgen muss ich auf's Amt und meine neuen Papiere abholen. Einkaufen wäre auch nicht schlecht. Ich habe noch nichts zu Essen im Haus. Nur das, was ich mir vor dem Umzug eingepackt habe. Für heute und morgen früh reicht das zwar, doch wer hat schon den ganzen Tag Lust darauf, von Weißbrot und Käse zu leben? Vielleicht sollte ich mir was liefern lassen. Gleich mal das regionale Angebot austes... Nanu! Ist das nicht der kleine Skateboardfahrer von heute Vormittag?

Ich verenge meine Augen und starre angestrengt aus dem Fenster, da mir die Sonnenstrahlen die Sicht erschweren. Doch ja, das ist er! Das freche Früchtchen trägt noch immer diese verboten kurzen Shorts und schlurft auf dem Gehweg entlang. Diesmal hat er sein Skateboard unter dem Arm klemmen, und nicht unter seinen Füßen. Hat er etwa dazugelernt?!

Grinsend falte ich eine Jeans zusammen und räume sie ins dafür vorgesehene Fach. Den kleinen Raudi hatte ich schon wieder ganz vergessen. Trotz seines rüpelhaften Verhaltens und seinem vorlauten Mundwerk hat er mich seit langer Zeit mal wieder zum Lachen gebracht. Der Kleine hat Mumm, das muss ich ihm lassen. Nicht jeder hätte so unbeeindruckt darauf reagiert, von einer, wie er sagte, Schwuchtel das Knie verarztet zu bekommen. Grade in diesem Alter. Obwohl man ihm schon angesehen hat, dass er an dieser Info zuerst hart zu knabbern hatte.

Als ich mich umdrehe, um mir eine weitere Hose zu schnappen, sehe ich, wie der Kleine auf dem Gehweg hockt. Die Beine angezogen, kauert er am Bordsteinrand. Ich überlege nicht lange und lehne mich auf das Fenstersims. "Hey! Kleiner?" Er reagiert nicht. "Wirst du wohl herschauen, wenn die Schwuchtel mit dir redet?" Darauf reagiert er.

Halb zu mir gedreht, blinzelt er mich mit einem Auge an. "Du schon wieder?", ruft er mir zu.

"Das Selbe könnte ich auch sagen. Was'n los? Hat's dich wieder hingehauen?"

"Halts Maul! Wer hat dich denn gefragt?" Er dreht seinen Kopf wieder um und ignoriert mich.

"Du hast eine ganz schön vorlaute Klappe. Weißt du das eigentlich?" Sein Arm schnellt hoch und ... Er zeigt mir den Mittelfinger! Meine gute Laune verschwindet. "Du kleine Kröte", knurre ich und überlege nicht lange. Mit einem Satz bin ich aus dem Fenster, quetsche mich durch die niedrigen Büsche und laufe über den Rasen. Direkt auf dieses mies gelaunte, vorlaute, Mittelfinger zeigende Balg zu. Der gehört übers Knie gelegt, damit er mal Manieren lernt!
 

"Zeig mir noch einmal den Mittelfinger, und es setzt was!", schreie ich ihn an und packe seinen Arm.

"AU! Lass mich los du Penner!"

"Das hättest du wohl gern, was?" Sauer über das Verhalten dieses Früchtchens zerre ich ihn auf die Beine und drehe ihn zu mir herum. Fest umfasse ich seine Oberarme, damit er mir auch ja nicht abhauen kann. "Du entschuldigst dich gefälligst bei mir! Verstanden?"

"Leck mich", wispert er dünn. Den Kopf hält er dabei runter gebeugt, sodass ich ihm nicht ins Gesicht schauen kann.

"Guck mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!" Ich packe ihn am Kinn und zwinge seinen Kopf nach oben. Erstaunlicherweise wehrt er sich gar nicht. "Also was sollte das eb... Du meine Güte!" Beschämt schaut der Kleine nach unten, während ich sein Gesicht mustere. "Wer hat dir das angetan?" Seine Oberlippe ist aufgeplatzt und er hat ein böses Veilchen am linken Auge, das von der Nähe aussieht wie ein abstraktes Kunstgemälde in Lila-Blau-Gelb. Außerdem ist die Wange darunter ganz geschwollen. Das sieht aus, als hätte einen heftigen Schlag abbekommen.

"Hab mich geprügelt", flüstert er.

"Geprügelt?" Kein Wunder, so aufgeladen er scheinbar immer ist. Er ist demnach nicht nur in meiner Anwesenheit auf Krawall gebürstet. "Das muss verarztet werden", überlege ich laut. "Geh besser nach Hause und lass da mal jemanden drüber schauen."

"Das geht nicht. Ich kann nicht nach Hause."

"Warum nicht?"

Sein eben noch beschämter Ausdruck verwandelt sich in eine wütende Grimasse. "Das geht dich nichts an!", zickt er mich an und schlägt meine Hände weg. "Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß!" Er dreht sich von mir weg und will weg stürmen, doch ich erwische ihn am Arm. "Hey!"

"Du gehst nirgendwo hin", bestimme ich. "Wenn du nicht nach Hause kannst, dann lass wenigstens mich nach deinen Verletzungen sehen." Und um noch eins drauf zu setzen: "Darin habe ich inzwischen Übung."

Die Kiefermuskeln des Kleinen arbeiten verbissen. "Na gut", grunzt er schließlich. "Aber wehe du tatschst mich an, du Homo!" Dafür hätte er eigentlich noch eine Ohrfeige von mir verdient.

"Keine Angst, du Früchtchen. Ich stehe nicht auf kleine Milchbubis. ... Komm mit." Wie du mir, so ich dir. Du verzogenes Balg!
 

~Björn~

Milchbubi? Hallo?! "Ich bin fast achtzehn", empöre ich mich über seine mehr als schlechte Einschätzung, was mein Alter betrifft.

"Und? Ich bin schon fast neunundzwanzig. Für mich wärst du auch noch mit zwanzig ein Milchbubi." Arrrrgh! Arrogantes Arschloch!

Dieser Mistkerl regt mich sowas von auf. Warum ich mich dennoch von ihm mitziehen, und mich einfach durch sein Schlafzimmerfenster bugsieren lasse, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht, weil er der erste Mensch seit langem ist, der sich, bis auf meinem Kumpel Domi, um mich kümmert. Trotz seiner teilweise herablassenden Art und dem Umstand, dass er ein Homo ist.

Diesmal verfrachtet er mich in ein anderes Bad, das direkt neben dem Schlafzimmer liegt. Große Wanne, Dusche und zwei Waschbecken. Nicht schlecht. "Hast du einen Freund?", frage ich neugierig mit Blick auf die zwei Waschbecken.

"Nein ... Setz dich." Ich runzle die Stirn. Weicht er dem Thema gerade aus? Interessant. Falls er mir noch mal blöd kommt, habe ich was, womit ich kontern kann. Sehr gut. "Wie ist denn das passiert?", will er wissen. Vorsichtig tupft er mir die Unterlippe ab und reibt das angetrocknete Blut von meinem Kinn.

"Wie soll das schon passiert sein?" Nun weiche ich aus.

"Hast du dich wenigstes gewehrt?"

"Nein."

Verwundert schaut er mich an und hört auf mich zu säubern. "Nicht? Große Klappe und nichts dahinter, oder wie?" Dieser Drecksack schmunzelt leise. Penner!

"Und du? Bist wohl umgezogen, weil dich dein Stecher nicht mehr will. Bist ihm wohl zu alt, oder wie?" He he. Friss das! Hoffentlich kaust du lange daran.

Die dunklen Augen mustern mich. Erst überrascht, dann sauer. Doch dann wirkt er eher traurig. "Was weißt du schon davon? So ein Jungspund wie du hat doch nicht die leiseste Ahnung von Liebe oder zerbrochenen Beziehungen", flüstert er leise und macht sich wieder daran, meine Wunden zu säubern.

Ich hätte wirklich mit allem gerechnet. Damit, dass er mich rausschmeißt, oder mir eine klebt und mich dabei beschimpft. Aber nicht damit. Jedenfalls ist seine Reaktion auf meinen Spruch nicht halb so befriedigend, wie ich es gerne hätte. "Woher willst du das wissen? Vielleicht war ich ja mal verliebt. Oder bin es noch? Du kennst mich genauso wenig, wie ich dich."

Er legt den Kopf schief und lässt die Hand mit dem nassen Tuch sinken. "Hast recht", nickt er und hält mir seine Hand hin. "Ich bin Ralf."

"Björn", stelle ich mich ihm irritiert vor und ergreife seine dargereichte Hand. Wie zaghaft er zupackt. Fast schon lächerlich sanft. Und das bei einem Kerl wie ihm!

"Gut Björn." Seine Hand rutscht aus meiner. "Dann schaue ich mir mal dein Veilchen an."
 

Ein weiteres Mal von Ralf zusammengeflickt, hocke ich noch immer auf dem Toilettensitz, als er mit Tupfen, Salbe schmieren und Verbinden fertig ist. Ich bin unsicher. Soll ich wieder gehen? Doch wohin? Solange es noch hell ist, will ich nicht nach Hause. Noch mal mache ich nicht den Fehler, mich im Hellen in mein Zimmer zu schleichen. Die Quittung dafür habe ich heute schon bekommen.

Es war keine Prügelei, die mir das Veilchen, die geschwollene Wange und meine aufgeplatzte Lippe beschert hat. Nein. Es war mein Adoptivvater gewesen, der mitbekommen hatte, wie ich vorm Haus herumgestreunert bin.

Eigentlich wollte ich wieder ins Innere klettern, doch daraus wurde nichts. Plötzlich stand mein verhasster Adoptivvater hinter mir, packte mich und verpasste mir genau zwei Schläge. Doch die saßen. Danach schliff er mich zurück in mein Zimmer (ich wundere mich immer wieder, wie er es in seinem Wutrausch schafft, die grenzen der Schwerkraft zu überwinden und mich plus seinem Gewicht im Eiltempo die Treppen herauf zu wuchten). Kaum war die Tür zu, war ich wieder draußen. Diesmal war ich vorsichtiger. Nicht wissend wohin, ließ ich mich einfach auf dem Gehweg nieder, wo mich Ralf ausfindig machte. Und nun? Nun hocke ich hier, anstatt draußen.

Ralf packt gerade das Verbandszeug weg, da hallt ein lautes Knurren durch das noch kahle Badezimmer. Mit erhobener Augenbraue dreht sich Ralf zu mir. "Hunger?", fragt er mich unnötiger weise und grinst dabei blöd.

Beschämt spiele ich mir an den Fingern herum. "Etwas", gestehe ich leise. Das Mittagessen ist ja heute bei mir 'leider' ausgefallen.

"Und du kannst nicht nach Hause. So ein Jammer." Nun werde ich wieder sauer. Halte es mir noch vor, du Arsch! "Bock auf 'ne Pizza?" Mein Wutlevel sinkt wieder.

"Pizza?"

"Ja. Ich wollte was bestellen. Falls du auch was willst ...?"

"Keine Kohle." Ich knabbere auf meiner wunden Unterlippe rum. Pizza hört sich echt lecker an.

"Die paar Euro für eine zweite Pizza werde ich noch gerade so verschmerzen können", lacht er und deutet mir an, mit ihm das Bad zu verlassen. Wieder möchte ich es nicht, aber der Hunger und die Aussicht auf eine leckere Gratis-Pizza treiben mich auf die Beine. Mit schmerzendem Bauch dackle ich ihm nach.
 

***
 

~Tore~

Na da schau an! Ein neuer Nachbar? Ich strecke den Hals, damit ich besser aus meinem Küchenfenster gegenüber zur anderen Straßenseite schauen kann. Ja hallo mein Hübscher! Wo kommst du denn her? Dunkelblondes Haar, einen leichten Bartschatten, groß und muskulös. Total mein Typ! Was aber noch besser ist: Wie in einer typischen schmutzigen Männerfantasie steht er da. Nur in Badeshorts gehüllt, und wäscht seinen Wagen. Mann oh Mann! Was für eine heiße Aussicht an einem so heißen Tag! Das vertreibt doch sofort meine trüben Gedanken, die mir ständig im Kopf herumgeistern.

Ich lasse mein Mittagessen, Mittagessen sein und verlasse meine Wohnung. Mal sehen, ob die Post schon da war und auf diesem Wege kann ich doch gleich unseren neuen Nachbarn begrüßen. Woll'n doch mal sehen, ob der nicht was für mich ist.

Zum Glück war die Post wirklich schon da. So kann ich ganz unauffällig neben dem Briefkasten stehen bleiben und die Briefchen durchschauen. Ich warte eine günstige Gelegenheit ab und tue so, als würde ich ihn im selben Moment erblicken, wie er mich. Er nickt mir freundlich zu, lächelt und raubt mir damit fast den Verstand. Treffer! Definitiv schwul und definitiv geil!

Freundlich wie ich bin, hebe ich mein Patschehändchen und winke ihm zu. Und da das noch nicht freundlich genug ist, will ich mich ihm doch auf diesem Wege richtig vorstellen. Mit der Nachbarschaft muss man sich gut halten, sagte meine Oma schon immer. "Hallo." Ich stelle mich vor seinen Wagen und lächle ihn offen an. "Sie sind neu hier eingezogen. Richtig?"

Mein planschender Nachbar dreht den Wasserschlauch aus und kommt auf mich zu. Uhhh! Was für ein Oberkörper! Nicht zu offensichtlich hinstarre, Tore! Immer schon die braunen Augen im Blick behalten. "Ja. Gestern", antwortet er mir freundlich.

"Ach wie schön. Dann willkommen in unserer Straße. Ich bin Tore und wohne direkt gegenüber."

"Hab ich mitbekommen", grinst er. "Ich bin Ralf." Wir reichen uns die Hand.

"Freut mich sehr. ... Ralf." Ich halte weiterhin seine Hand fest und schaue ihm tief in die Augen. Er kann ruhig wissen, was mir durch den Kopf geht.

"Mich auch", sagt er leise und verstärkt den Händedruck. Yes Baby!

"Sieht anstrengend aus", sage ich und deute auf den immer noch mit Schaum bedeckten Wagen. "Hunger? Ich habe gerade gekocht."

Ralf macht große Augen, grinst dabei aber noch immer. Leider lässt er nun meine Hand los. "Du bist wohl einer der ganz schnellen Sorte, was?"

"Klar." Ich zucke mit den Schultern. "Warum auch nicht? Ich mag es eben direkt."

Sexy leckt sich Ralf über die Lippen und denkt kurz nach. "In Ordnung. Ich klopfe an, wenn ich hier fertig bin."

"Super! Ich freue mich." Forsch wie ich bin, werfe ich ihm einen Handkuss zu und drehe mich um. Im Davonlaufen wackle ich aufreizend mit meinem Hintern, schnappe mir die zuvor abgelegte Post von der Steinmauer und verschwinde im Haus. Allerdings nicht, bevor ich meinem sahneschnittigen Nachbarn noch einen vielversprechenden Blick zugeworfen habe. Hiermit sind die Spiele eröffnet! Auf das du mich auf andere Gedanken bringst, mein süßer, neuer Nachbar.
 

~Ralf~

Ha! Wow. Ich bin ... sprachlos!

Eigentlich hatte ich geglaubt, die Kerle in der Stadt kommen schon schnell zur Sache. Aber hier? In der Vorstadt? Bei aller Liebe. Damit hätte ich nicht gerechnet.

Tore, mein Nachbar. Zugegeben. Er sieht gut aus. Mit seinen dunklen, kurzen Locken, seinem schönen, verschmitzten Lächeln und der großen Statur. Aber will ich das? Auf jeden Fall ist er ganz offensichtlich nicht der Typ Mann, der nicht weiß, was er will. Er entspricht damit so gar nicht meinem Beuteschema. Doch soll ich darauf eingehen? … Ach, was soll's! Vielleicht ist er ja bloß auf Sex aus und dagegen habe ich ganz sicher nichts. Und wer weiß, was sich daraus ergibt? 'Ralf? Du bist schon wieder dabei, deine Vorsätze zu brechen.' Klappe Hirn! Was ist gegen ein Essen mit dem neuen Nachbarn einzuwenden? Nichts! Lernen wir uns erstmal kennen. Mehr nicht.

Ich wasche schnell den Schaum von meinem Wagen und räume den Gartenschlauch weg. Bevor ich rüber gehe, dusche auch ich lieber noch mal und ziehe mich um. Im Schlafzimmer suche ich mir fix frische Kleidung heraus und tapse ins Bad. Fertig geduscht, stelle ich mich vor den großen Spiegel und rubble mir die Haare trocken. Dabei fällt mein Blick auf etwas rotes, das am Boden unter dem rechten Waschbecken liegt. Ein Tupfer. Das ist sicher noch von Björn gestern.

Björn. Ich kann nicht umhin, wieder an den gestrigen Abend zu denken. Was ist nur mit ihm? Ich werde aus diesem kleinen Quälgeist nicht schlau. Erst ist er total abweisend zu mir, dann scheint er mir doch zu vertrauen, lässt sich von mir verarzten und auf eine Pizza einladen. Ja gut. Letzteres hat er bestimmt nur getan, weil für ihn ein Gratisessen herausgesprungen ist.

Das aller Merkwürdigste war jedoch, dass wir kaum ein Wort miteinander gewechselt haben. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich angelogen hat, was seine Verletzungen angeht. Tja. Und kaum war die Pizza aufgegessen (eher inhaliert, so wie er die in sich hinein geschlungen hat), ist er quasi aus meinem Haus geflüchtet. "Muss nach Hause", hatte er gemurmelt, sich für das Essen bedankt und weg war er. Warum er auf einmal dann doch nach Hause musste, bleibt mir immer noch ein Rätsel.

Ach Mensch! Warum grüble ich eigentlich noch darüber nach? Ich wette, er hatte sich von einem Gleichaltrigen die Fresse demolieren lassen, wahrscheinlich wegen einem Mädel, hatte Panik so nach Hause zu kommen und hat sich von mir die Wunden lecken lassen. So wird es gewesen sein. Ich bin der idiotische Onkel, der ihn aufpäppelt und durchfüttert. Danke und tschüss.

Ist ja jetzt auch egal. Besser, ich denke nicht weiter über den Jungen nach, sondern mache mich fertig für mein 'Date', oder was auch immer das werden soll. Meinem Date mit meinem neuen Nachbarn Tore.
 

"Hallo! Komm rein." Tore begrüßt mich herzlich und weist mir den Weg in sein Haus. "Die Küche ist gleich die erste Tür rechts." Zugegeben, ich bin ein klitzekleines Bisschen nervös. Ein Date hatte ich schon ewig nicht mehr. Und erst recht nicht in der Küche meines Nachbars. "Was magst du trinken?" Tore öffnet den Kühlschrank.

"Hast du ein Bier da?"

"Bier?"

"Wasser ist auch gut." Ich Idiot!

"Du kannst von mir auch eine Pulle Wodka haben", lacht er und holt zwei Flaschen aus dem Seitenfach des Kühlschrankes. Eine Bierflasche und ein Wasser. "Entscheide dich einfach, wenn du Durst hast."

"Danke", schmunzle ich.

"Nervös?"

"Merkt man mir das so sehr an?"

"Hm ... Ja!" Oh Shit! "Guck nicht so. Ist doch nicht schlimm." Er setzt sich mir gegenüber und hebt den Deckel von dem großen Topf, der in der Mitte steht. "Gedämpftes Gemüse und das Hühnchen ist noch im Ofen", klärt er mich auf.

"Lecker." Gedämpftes Gemüse? Oh wei. Ein Gesundheitsapostel.

"Ich sehe dir an, was du denkst."

"Ja?"

"Ja. Aber glaube mir, an heißen Tagen gibt es nichts Besseres als leichtes Essen." Punkt für ihn.

"Davon lasse ich mich gerne überzeugen." Wir lächeln uns an. Meine Nervosität legt sich langsam. Tore scheint ein wirklich netter Kerl zu sein. Direkt, vorschnell und forsch, aber nett.

Der Ofen piepst. Tore holt das gesunde Hühnchen heraus und reicht mir etwas davon auf den Teller. Trotz Vorurteil, schmeckt es wirklich gut. "Darf ich fragen, weshalb du hierher gezogen bist?"

"Jobwechsel", antworte ich wahrheitsgemäß.

"Nur ein Jobwechsel?"

"Ja."

"Echt?" Ich nicke und zerfleddere mein Hähnchen. Tore legt das Besteck nieder und stützt sein Kinn auf die Handaußenflächen. "Du verschweigst was", raunt er mir grinsend zu. "Was ist der wahre Grund für deinen Umzug?" Kann dieser Typ Gedanken lesen?

'Wie Björn gestern', schießt es mir durch den Kopf.

"Nun?"

Ertappt lege ich ebenfalls mein Besteck beiseite. "Du willst, dass ich dir die ganze Geschichte erzähle?" Er bejaht. "Okay. Die Kurzfassung?"

"Wie du willst. Ich habe Zeit." Schön. Ich beginne zu erzählen. Von Dillan, der mich immer nur als Mitbewohner und guten Freund ansah, und von der Sache mit Kris, bei der ich mir nur selbst in die Tasche gelogen habe. Es tut gut, dass alles jemanden zu erzählen, der nicht daran verstrickt ist. Der meine beiden großen Lieben nicht kennt und alles mit klareren unvoreingenommenen Augen sieht. "Oh Mann", seufzt er, nachdem ich mit meiner Erzählung am Ende bin. "Das ist hart. Besonders das mit diesem Kris. Lässt dich einfach fallen wie eine heiße Ofenkartoffel."

"Ich war selbst daran Schuld. Ich wusste, dass er Malvin liebt. Der Wunsch, er würde mich irgendwann lieben können, war egoistisch von mir. Das habe ich längst eingesehen."

"Suchst du sie noch?", will er wissen. Ich weiß nicht, was er damit meint. Also frage ich nach. "Die große Liebe", setzt er erklärend nach.

"Im Moment nicht. Nein."

"Gut." Er schnappt sich die noch geschlossene Bierflasche, an der schon das Kondenswasser abperlt. "Denn weißt du, dass leichtes Essen noch für ganz andere Dinge unheimlich praktisch ist?" Er öffnet die Flasche, trinkt direkt einen Schluck daraus und hält sie mir hin.

"Für welche", frage ich und nehme sie ihm ab.

"Man kann gleich nach dem Essen zum angenehmeren Teil des Tages überwechseln", flüstert er und leckt sich höchst anregend über die Lippen.

"Du meinst ...?"

"Sex. Gefühllosen, unverbindlichen Sex mit dem scharfen Nachbarn von gegenüber." Mir rutscht fast die Bierflasche aus der Hand. "Kein Drama. Einverstanden?"

"Meinst du das ernst?"

"Absolut." Ich korrigiere mich: Kein in der Stadt lebender Schwule, war jemals so direkt zu mir, wenn es um das Eine ging. "Du beginnst einen neuen Lebensabschnitt. Lass mich dir helfen, Dillan und Kris zu vergessen." Entspannt lehnt Tore sich zurück und zieht sich das Shirt über den Kopf. Ich schlucke hart. Seine Nippel sind gepierct und an seinen rechten Rippenbögen schlängelt sich schwarzes Tribal-Tattoo entlang. Ich halte die Luft an, als ich ihm dabei zusehe, wie er seine Hose aufknöpft und darunter eine nicht zu verachtende Beule zum Vorschein kommt.

"Wo war noch mal dein Schlafzimmer?"
 

~Tore~

Wer sagt's denn? Ich wusste doch, dass da heute noch was geht. Ralf laufen ja fast die Augen über. "Folge mir", raune ich ihm zu und stehe auf. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass er mir auch wirklich folgen wird.

Erst im Schlafzimmer drehe ich mich wieder um und stehe Ralf direkt gegenüber. Mit einem Ruck wandert meine Hose nach unten und legt

alles frei, was frei gelegt werden muss. "Was ist? Willst du mir nicht auch zeigen, wie sehr du dich auf gute Nachbarschaft freust?"
 

*
 

~Tore~

"Oh Fuck!", keuche ich noch immer nach Luft schnappend. "Dieser Kris ... war ein Idiot!" Ich höre Ralfs abgehacktes Lachen neben mir. Ich drehe meinen Kopf zu ihm. "Das meine ich ernst."

"Schick ihm 'ne Postkarte." Ich fange ebenfalls an zu lachen.

"Ralf? Du kannst jederzeit kommen. ... Und das meine ich zweideutig."

"Das Angebot nehme ich gern ... an." Wir lächeln uns an, ehe ich mich zu ihm drehe und an ihn lehne. "Das hat mir gefehlt", murmelt er müde.

"Was denn?"

"Sex. Einfach bloß Sex haben. Ohne Schuldgefühle oder mit der Angst, es könnte das letzte Mal gewesen sein, wo wir so zusammen liegen." Ich kann nicht anders und küsse ihn sanft. In gewisser Weise verstehe ich ihn. Nein. Nicht nur in gewisser Weise. Ich verstehe ihn vollkommen. So vollkommen, dass für einen Bruchteil einer Sekunde ein betäubender Schmerz in meiner Brust entsteht. Zum Glück verschwindet er wieder so schnell, wie er gekommen war.

"Die haben dich beide nicht verdient. Nicht viele wissen was mit einem so fabelhaften Mann wie dir anzufangen. Glaube mir. Damit kenne ich mich aus."

"Ach? Tust du das?", fragt mich Ralf und lächelt leicht.

"Klar! Wenn ich mich mit was auskenne, dann ist das mit vögeln."

"Ein Ornithologe bist du auch noch?"

Ich verdrehe die Augen. "Sehr witzig!"

Ralf kichert und drückt mir einen feuchten Kuss auf die Stirn. "Danke", wispert er.

"Danke?"

"Ja. Danke für die wundervolle Lektion in Sachen gefühlloser Vogelkunde." Lachend schmeiße ich mich auf ihn. An meinen neuen Nachbarn könnte ich mich wirklich gewöhnen.
 

******

Kapitel 03 - Therapier mich

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 03 - Therapier mich (Ohne Adult)

Kapitel 03 - Therapier mich (Ohne Adult)
 

~Björn~

Unruhig wälze ich mich auf die andere Seite. Die Bettdecke klebt an meinen schweißnassen Körper. An Schlaf ist da gar nicht zu denken. Zwar habe ich das Fenster weit aufgerissen, aber es will einfach nicht abkühlen in dieser Muffbude!

Ich bin genervt. Da ich eh nicht schlafen kann, knipse ich mein kleines Licht neben dem Bett an und steige von der Matratze. Lesen. Lesen hilft immer. Vor meinem sehr überschaubaren Bücherregal bleibe ich stehen. Irgendwas blutrünstiges muss her! Eine Halloween Kurzgeschichten-Sammlung soll es sein. Mit dem Buch in der Hand werfe ich mich zurück auf mein Bett, und suche mir eine der vielen Geschichten heraus.

Binnen kürzester Zeit bin ich ganz in die Handlung vertieft, da höre ich was pfeifen. Habe ich mir das jetzt eingebildet? Da! Da war es schon wieder! "Bjööörn!" Ein Grinsen schleicht mir übers Gesicht. Das Buch fliegt in die nächste Ecke. Domi ist wieder da!

Ich sprinte zum Fenster und lehne mich über das Fensterbrett. "Domi!" Was freue ich mich ihn zu sehen. "Wieder im Lande?", frage ich lachend.

"Jepp. Darf ich hoch?"

"Klar!" Ich trete zur Seite, damit mein bester Freund zu mir ins Zimmer steigen kann. "Wie war der Familienurlaub?", ärgere ich ihn auch gleich.

"Ach hör auf!" Er verdreht die Augen. "Meine kleine Schwester hat nur geheult. Das Meer war voll mit Touris und vom Essen habe ich Dünnpfiff bekommen." Lachend schließe ich ihn in meine Arme. "Ach Alter. Du hast mir gefehlt."

"Du mir erst", flüstere ich und vergrabe meine Nase in seinem Nacken.

Leider schiebt er mich wieder von sich und plumpst auf mein Bett. "Haste was zu Knabbern da?" Ich deute unter mein Bett. "Peperoni Chips! Lecker!" Die Tüte raschelt und eine Handvoll Chips findet ihren Weg in Domis Mund. Ich schaue schnell weg. "Auch was?" Ich hocke mich neben ihn und greife ebenfalls in die Tüte. "Wo haste das Veilchen her?"

"Drei Mal darfst'e raten", knurre ich.

"Mann. Es wird Zeit, dass du hier raus kommst." Wie recht er doch hat! "Und? Was ist so vorgefallen, während ich Familienspaß genossen habe?"

"Nix." Ich zucke mit den Schultern. "Bis auf unseren neuen Nachbarn eine Straße weiter. Ein Homo."

"Echt?" Domi grinst dreckig. "Wie passend."

"Hör auf!" Sauer stehe ich wieder auf und verfrachte meinen Arsch auf den klapprigen Bürostuhl gegenüber meinem Bett.

"Was denn? Ich dachte ..."

"Ich bin nicht schwul", unterbreche ich ihn leise. Wenn das meine Alten mitbekommen! Die killen mich!

"Nicht?" Domi hebt eine Augenbraue und stopft sich noch mehr Chips in den Mund. "Und was war das, als wir zusammen am See gepennt haben?" Muss er das jetzt erwähnen?

"Das war nichts! Hab ich dir doch schon alles erklärt."

"Na dann ..." Beschämt mustere ich die Linien auf meinen Shorts. Dieser dämliche Ausrutscher! Wieso konnte ich meine Finger auch nicht bei mir behalten? "Ich stehe jedenfalls auf Frauen."

"Das weiß ich." Viel zu gut.

"Wollt's nur noch mal erwähnt haben." Er knäult die Chipstüte zusammen, steht auf und kommt auf mich zu. "Hey Björn. Es ist in Ordnung, wenn du ..."

"Bin ich aber nicht!", zische ich ihn an.

Entwaffnet hebt er die Hände. "Ist ja schon gut. Sorry, Mann. Ich dachte halt, wenn du es wärst, dann ist der neue Nachbar die Chance um ..."

Ich stehe ruckartig vom Bürostuhl auf und spanne die Muskeln an. "Wenn du nicht endlich damit aufhörst und deine Klappe hältst, dann verschwinde besser gleich wieder."

Das beeindruckt Domi nicht im Geringsten. Er legt bloß den Kopf schief und guckt mich gelangweilt an. "Was 'ne Begrüßung", sagt er nur und geht zum Fenster. "Wir reden weiter, wenn du wieder bei klarem Verstand bist. Halt dich Wacker. ... Auch wenn du heute richtig arschig bist, weißte das?" Und weg ist er.

Bitte! Soll er eben verschwinden. Er ist ja hier derjenige, der nicht aufhören kann, auf diesem beschissen-schwachen Moment herumzureiten!
 

Angesäuert setzte ich mich wieder auf mein Bett und grapsche mir die Wasserflasche, die daneben auf dem Boden steht. So 'ne Scheiße! Ich hatte echt gehofft, dass Domi nach seinem Urlaub vergessen hätte, was vor zwei Wochen passiert ist. Hat er aber leider nicht.

"Shit!" Ich drehe den Verschluss der Flasche zu und werfe sie vor mir auf den Teppich. "Warum reitest du noch darauf rum, du Vollidiot?" Doch noch mehr ärgert es mich, dass ich mich nicht zurückgehalten habe. Es ist ja noch nicht mal so, dass ich es unbedingt wollte. Ich war nur ... neugierig.

Deprimiert rolle ich mich auf meinem Bett ein und lösche das Licht. Mit meinem Fuß kicke ich die Chipstüte von der Decke und denke an den Abend von vor zwei Wochen zurück.

Es war Ferienbeginn. Domi und ich wollten zusammen draußen am See übernachten. Domi wohnt direkt dort, keine hundert Meter entfernt. Wie immer schlich ich mich abends aus dem Haus und lief zu ihm. Mit Schlafsachen und einem Haufen ungesunden Knabber- und Trinkkram machten wir uns auf den Weg runter zum See. Neben einem Baum schlugen wir unser Lager auf.

Es war wie immer. Wir alberten rum, schwammen im Dunkeln im See und futterten unseren ganzen Proviant mit einem Mal weg. Als wir dann nebeneinander dalagen, konnte ich nicht einpennen. Zu viel Süßkram, der in meinem Magen heiteres Achterbahnfahren spielte. Zudem war es sauwarm. Die Schlafsäcke dienten uns nur als Liegematte. Überhaupt daran zu denken, sich darin einzuwickeln, trieb uns schon den Schweiß auf die Stirn. Also lagen wir an der frischen Luft, nur bekleidet mit unseren Badeshorts, weil das einfach am bequemsten war.

Ich dachte wirklich, Domi schläft schon. Sonst hätte ich mich gar nicht so dicht an ihn herangewagt. Ich betrachtete ihn. Wie er dalag, im schwachen Licht des Mondes. Er ist Spieler in einer Fußballmannschaft, was er total ernst nimmt, auch wenn es nur ein kleiner Verein ist. Daher ist er auch sehr gut gebaut und durchtrainiert. Seine Bauchmuskeln zeichneten sich weich im blassen Licht ab und da tat ich es. Ich berührte ihn. Im festen Glauben, dass er schon schlafen würde.

Zärtlich fuhr ich die Linien seiner Muskeln nach, umkreiste seinen Bauchnabel und rutschte tiefer. Ich stoppte und schaute ängstlich in sein Gesicht. Er regte sich nicht. Und ehe ich mich versah, lag meine Hand in seinem Schoß. Oberhalb der Badehose, versteht sich, trotzdem wurde ich sofort hart. Es machte mir Angst, doch gleichzeitig beruhigte es mich auch irgendwie. Ich hatte hiermit die Bestätigung. Ich reagiere auch auf Männer.

"Alter, was wird das eigentlich, wenn es fertig ist?" Ich zuckte zusammen und riss panisch meine Hand aus Domis Schritt. Er sah mich an. Nicht sauer oder geschockt. Einfach nur neugierig und fragend.

Ich wich ihm aus, sagte, dass da eben ein Grashüpfer gewesen sei. "Und den musstest du unbedingt in meinen Schritt einmassieren?" Mein Gesicht wurde immer heißer. "Stehst du auf mich?"

"Nein!" Erschrocken setzte ich mich auf. "Tue ich nicht! Ehrlich!" Und das entsprach der Wahrheit.

"Und warum betatschst du mich dann?"

"Weiß nicht ..." Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Ich überlegte sogar kurz, ob ich nicht in den See springen sollte, um mich darin zu ersäufen. Ein Gedanke, den ich schon oft gehabt hatte ...

"Bist du etwa so einer? Ein Homo?" Mein Herz schlug schneller. Schmerzhaft schnell.

"Nein! Nein, bin ich nicht!"

"Sicher? Du, mir macht das nichts aus. Solange du mich nachts nicht heimlich begrabschst." Domi lachte leise. Er lachte! Das beruhigte mich. "Du kennst doch den Sohn von der Tante meiner Mutter?" Ich nickte verwirrt. "Der ist auch schwul."

"Und?"

"Was und? Ich wollte dir damit bloß sagen, dass es für mich keinen Unterschied macht, ob du lieber Mädels oder Jungs abschleppst. Hauptsache du lässt mich dabei aus dem Spiel."

"Ich stehe nicht auf dich. Ehrlich. Ich war nur ..."

"Neugierig." Ich nickte wieder und konnte sogar ein wenig lächeln. "Weißt du", sagte er seufzend und legte sich wieder hin. "Ich stehe ja auch ein bisschen Handaktion. Aber mit 'nem Kerl? Besser nicht!"
 

Nach diesem Abend redeten wir nur noch einmal über diesen Vorfall. Domi drückte mir so einen dummen Wisch in die Hand. Eine Hotline, wo ich mich ausquatschen kann und die mir auch Hilfe und Kontaktadressen vermitteln könnten, falls ich das möchte. Ich ging auf Abstand, sagte, dass das ein einmaliger Ausrutscher gewesen war und ich kein Bedürfnis nach irgendwelchen Kontaktadressen hätte. Er zuckte mit den Schultern und meinte, ich könne jederzeit zu ihm kommen und das war's. Er machte sich ab in den Urlaub und ich glaubte wirklich, damit sei das Thema gegessen. Ist es aber nicht. Wahrscheinlich macht sich der Trottel nur noch mehr Sorgen um mich, als sowieso schon.

Und als wäre das nicht genug, bin ich mir sicher, dass auch unser neuer Nachbar was spitz bekommen hat. So, wie er mich gestern Abend beim Pizzaessen angestarrt hat, ahnt er was. Genauso hatte mich früher auch mein Vater, mein richtiger Vater, angeschaut, wenn er wusste, dass ich mal wieder was ausgefressen hatte. Er wusste auf Anhieb, dass was mit mir nicht stimmte … "Nicht an Papa denken", flüstere ich und rolle mich mit dem Gesicht gegen die Wand. Ich wische mir über die Augen und versuche gleichmäßig zu atmen. Es klappt nicht. Es klappt nie. Meine Wangen werden feucht und ich presse mir das Kissen ans Gesicht, als alles wieder hochkommt. Wie so oft ...
 

***
 

~Ralf~

Es klingelt. Schnellen Schrittes eile ich zur Haustür und mache auf. "Morgen."

"Morgen mein geiler Nachbar." Tore grinst mich an und tritt in den Flur. "Hab Brötchen gekauft."

"Ich rieche es. Lecker." Die Tür fällt ins Schloss und sofort drängelt mich Tore gegen die Wand. Scheiß auf die Brötchen! Mit meinem Nachbarn zu knutschen ist viel besser.

Ich bin immer noch überrascht, wie gut er mir tut. Und nein, ich bin nicht wieder verliebt. Tore ist nett, amüsant und kann einen in Grund und Boden quasseln. Aber er ist auch ein hervorragender Zuhörer. Und verflucht gut im Bett. Apropos Bett! "Wann musst du zur Arbeit?", frage ich ihn.

"In zwei Stunden." Ich überlege.

"Quickie?"

"Ich dachte, du fragst nie!" Die Brötchentüte segelt zu Boden und noch ehe ich mich versehe, hocke ich auf meiner Couch und bekomme die Hose aufgeknöpft. Verdammt ist das geil! So unkompliziert und ohne viel nachzudenken. Einfach nur Sex, Sex, Sex. Und ich dachte, ich brauche Ruhe und Abstand. Pah!

"Tore?"

"Was?", raunt er mir von unten zu.

"Ohh! ... Du ... Du bist ..."

"Was bin ich?"

"Weiß nicht mehr ..." Wie will ich denn bei seinen Zungenkünsten noch nachdenken können?

Er lässt von mir ab und stellt sich vor mich. Im Nu steht er nackt vor mir und zieht ein Kondom aus seiner Jeans, die er danach einfach fallen lässt.

"Sag schon. Ich will es wissen."

Ich überlege. Was wollte ich ihm noch mal sagen? "Ah! Ich weiß es wieder."

"Fein." Er zieht das Gummi heraus und pustet dagegen.

"Du bist besser als jeder Therapeut."

"Was?" Er beginnt zu lachen und senkt die Hand. "Wie meinst du das jetzt?"

"Ich dachte, ich brauche mal Abstand von allem und jeden. Müsste mich einfach nur auf meine Arbeit konzentrieren. Doch das, was ich gebraucht habe, war einfach nur guter Sex."

Tore gluckst leise. Er hat wirklich ein schönes Lachen. "Siehst du?", meint er. "Ich war schon immer der Meinung, Sex löst alle Probleme." Tore kniet sich über mich.

"Dann therapier mich", knurre ich ihm erregt zu. "Ganz, ganz, oft."

"Nichts lieber als das", stöhnt er und senkt sich auf mich. Oh Mann!
 

"Willst du noch schnell duschen? Dann koche ich uns Kaffee."

"Ist gut." Tore schiebt mir seine Zunge in den Hals, saugt und beißt mich, so wie er es immer tut und steht dann auf. Nackt wie er ist, huscht er aus dem Wohnzimmer. Lächelnd schaue ich seinem Knackhintern nach, bis er um die Ecke gebogen ist.

Erleichtert und zufrieden lehne ich mich auf der Couch zurück und rolle mir das Verhüterli ab. Im Gästebad entsorge ich es und säubere mich grob von den noch vorhandenen Spuren. Nur in Shorts werkle ich in der Küche herum, bis Tore wieder auftaucht und mich von hinten umarmt. "Hey, Sexy Hexi", kichert er mir ins Ohr.

"Frühstück ist gleich fertig Schatz. Setzt dich doch schon mal." Das musste jetzt sein!

"Oh wie liebenswürdig, mein Engel. Du bist immer so zuvorkommend zu mir." Ich bekomme seine Lippen auf den Hals gepresst, dann lässt er mich wieder los. "Wir wären echt das perfekte Paar!"

"Sag das nicht zu laut. Sonst kommt mein Verstand wieder auf dumme Ideen." Mich in ihn zu verlieben, kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Zum Glück ist Tore überhaupt nicht mein Typ. Wie bereits erwähnt, ich verknalle mich immer nur in die süßen, kleinen Jungs. Leider.

"Was das Herz will, das will es eben. Aber mich schmink dir gleich ab." Er sieht mich schräg an und greift sich eins seiner mitgebrachten Brötchen.

"Gut zu wissen", seufze ich und setze mich ihm gegenüber. "Ich brauche Grenzen."

"Wirklich? Ich dachte, du durchbrichst sie eher."

"Dafür bist du doch der Experte, Mr. Direkt und auf den Punkt kommend."

"Das ich bis jetzt immer auf dem Punkt gekommen bin, habe ich dir zu verdanken." Lachend schüttle ich den Kopf. "Aber mal ohne Flachs", redet er weiter. "Dir geht es schon besser, oder?"

"Ja. Viel besser. Seit unserem 'Treffen', musste ich kein einziges Mal mehr an Dillan oder Kris denken."

"Das freut mich." Und mich erst. "So! Und jetzt frühstücken wir Darling. Hast du schon die Zeitung rein geholt? Ich muss unbedingt vor der Arbeit noch nachschauen, wie unsere Aktien stehen." Wieder schafft er es mich zum Lachen zu bringen. Wie gut, dass ich ausgerechnet hier her gezogen bin!
 

***
 

~Björn~

Die Sonne brennt auf mich nieder. Halb drei mittags und ich Schwachkopf rolle mit meinem Board über den Asphalt. Ich muss einen Schlag haben! Aber was tut man nicht alles, um von Zuhause fern zu bleiben. Lieber unter einem Hitzeschlag tot umfallen, als eine Minute länger in diesem Haus auszuharren, als nötig.

Außerdem habe ich ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen. Den kleinen Kiosk unten an der Hauptstraße. Dort kaufe ich mir die Wochenzeitschrift. Vielleicht sucht ja irgendjemand eine unausgebildete Arbeitskraft mit schlechten Schulnoten, die für viel Geld leichte Arbeit verrichten kann. Und morgen früh wache ich auf und es ist Weihnachten. Überall liegt Schnee und meine Adoptiveltern haben sich in Luft aufgelöst. Kann das Leben nicht herrlich sein?

"Hey Kumar." Ich lege ihm eins zwanzig auf den Tresen und wedle mit der Zeitung, die ich mir vorn aus dem Ständer genommen habe.

"Hey Bjorn." Innerlich schüttle ich mich vor lachen. Wie jedes Mal, wenn er meinen Namen versucht auszusprechen. Das Ö bekommt er echt nicht hin. "Nur die?"

"Ähm ... Was hast'n du für Eis da?" Bei der Hitze kann ich mir das mal gönnen. "Oder warte. Ich nehm mir ein Bier." Er gönnt mir einen schrägen Blick, sagt aber nichts. Recht so. Schließlich bin ich bald achtzehn. "Danke." Ich bezahle die wunderbar kühle Flasche und steige auf mein Skateboard. Jetzt noch ein schattiges Plätzchen gesucht und dann werden die Stellenanzeigen durchgegangen. Unter einem Baum werde ich fündig.

Mit meinem Schlüssel schnippe ich den Bierdeckel ab und trinke einen kräftigen Schluck, ehe ich die Zeitung vor mir ausbreite. Rasch überfliege ich die Anzeigen dort. Mein Traumjob ist nicht dabei, aber ich weiß, dass ich nicht wählerisch sein darf, was das betrifft. Ein, zwei Anzeigen stechen mir ins Auge, die ich mir herausreiße und in die Brieftasche stecke. Nachher werde ich dort mal anrufen, doch ich höre jetzt schon ihre Phrasen, mit denen sie mich immer abspeisen. Das ich ihnen zu jung bin, sind dabei noch die Netteren.
 

Gefrustet lehne ich mich gegen den dicken Baumstamm und schließe die Augen. Was mache ich nur, wenn ich bis zu meinem Achtzehnten noch nichts habe? Ich bleibe auf keinen Fall länger als nötig in diesem Haus. Vielleicht sollte ich es noch mal im Jobcenter versuchen. Oder auf dem Soziamt. Verdammt! Warum habe ich mich vor vier, fünf Jahren nicht auf den Hosenboden gesetzt, und gelernt? Hätte ich bessere Noten, sähe alles ganz anders aus.

Ich nehme noch einen großen Schluck aus der Flasche. Ich weiß, wieso ich nicht gelernt habe. Ich hatte andere Sorgen damals, als meine beschissenen Schulnoten. Doch wen interessieren die Sorgen eines Vollwaisen in der Arbeitswelt? Seit dem Unfalltod meiner Familie ist genug Zeit vergangen. Darüber müsste ich doch schon längst weg sein! Das waren original die Worte einer der Sozischlampen, denen ich noch immer unterstellt bin.

Was wissen die schon? Einen Scheiß wissen die! Die kümmert es ja nicht mal, dass mich mein liebenswürdiger Adoptivvater grün und blau schlägt. Muss ja meine Schuld sein, dass er mir eine scheuert. So verkorkst wie ich bin, was? Immer Ärger am Hals, schlechte Noten. Ich bin ein totales Versagerkind, das nur Dank des zuschlagenden Vaters was werden kann. Wenn überhaupt. Danke deutscher Rechtsstaat. Wenigstens einer, der mich regelmäßig fickt. "Prost!" Ich hebe die Flasche gen Himmel.

"Prost. Aber bist du nicht noch ein wenig zu jung, um dir am frühen Nachmittag die Birne mit Bier voll zu hauen?" Ich blinzle rüber zum Bürgersteig.

"Und du? Wieder dabei kleine Jungs zu verführen?" Ralf. Wie soll es auch anders sein? Der verfolgt mich anscheinend. "Stalkst du mich?"

"Klar, was denkst du denn. Hab ja auch nichts besseres zu tun, als dir beim Bier trinken zuzuschauen." Doof glotzend steht er da. Die Hände voll mit Einkauftüten.

"Was hast'n da?", frage ich ihn neugierig. Mein Bauch knurrt schon wieder.

"Och. Was man so braucht. Gemüse, Fleisch, Käse, Milch. Tiefkühlpizzen." Nun grinst er, als wüsste er, dass ich schon wieder halb am Verhungern bin. "Sind deine Blessuren wieder okay?"

"Geht so."

"Besser als nichts, hm? ... Ich mach mich dann mal wieder. Und trink nicht so viel. Das gibt einen hässlichen Bierbauch."

"Du musst es ja wissen", foppe ich ihn. Er lächelt bloß müde und trabt davon. Hm. Darauf ist er nicht angesprungen. Leider. Natürlich hat er keinen Bierbauch. Aber auf ein bisschen Zank mit ihm hätte ich mich jetzt gefreut. Das hätte mich wenigstens etwas abgelenkt von meinen Alltagssorgen. Doch was nicht ist ...
 

Mit zwei Schluckten ist die Flasche leer und schon stehe ich auf meinem Board und rolle neben ihm her. "Soll ich dir tragen helfen?" Skeptisch sieht er mich an.

"So? Du fliegst doch bloß wieder auf die Fresse und ich darf es wieder ausbaden."

"Quatsch! Solange du mir keinen Karton vor die Nase haust bekommt mich nichts so schnell vom Brett." Er bleibt stehen.

"Gut. Dann nimm."

"Was bekomme ich dafür?"

"Keinen Arschtritt." Ist er nicht lustig?

"Reicht mir nicht", antworte ich. "Da muss mehr drin sein."

"Einen Arschtritt?" Ich lege den Kopf schief. "Okay! Zwei Arschtritte. Höher gehe ich nicht."

"Du Perverser! Willst mir etwa den Hintern versohlen?" Zu meiner Freunde schaue ich zu, wie Ralfs Miene sich verfinstert. So ist es recht. Schon geht es mir besser.

"Verschwinde. Ehe ich dir wirklich noch eine verpasse." Und schon rauscht er davon. Ich bin natürlich schneller und fahre vorne weg.

In seiner Hofeinfahrt warte ich schon auf ihn. "Erster", lache ich und verschränke die Arme vor der Brust. "Hättest du mir mal bloß deine Tüten gegeben ..."

"Roll nach Hause, du Pimpf! Du gehst mir auf den Zeiger." Sauer dreht er sich von mir weg und geht auf die Haustür zu.

Wie hat er mich gerade genannt?!
 

~Ralf~

"Pimpf?! Ich bin kein Pimpf!" Ich verdrehe die Augen und stelle meine Einkauftüten ab, damit ich die Haustür aufschließen kann.

"Solange du dich wie ein kleiner, streitsüchtiger Pimpf verhältst, bist du auch einer", kontere ich und stoße die Tür auf.

"Du Arsch!", kreischt er ungehalten und rollt auf mich zu. Bevor ich überhaupt reagieren kann, hat diese kleine Kröte sich eine meiner Tüten geschnappt und haut mit ihr ab.

"Hey! Komm zurück!" So ein mieser kleiner ...

"Hol sie dir doch. Komm schon Opa!" Er lacht laut, fast schon irre und gibt Vollgas. Dabei schaut er immer wieder über seine Schulter. "Komm doch! Komm doch!" Sag ich doch. Er ist und bleibt ein unreifer, kleiner Pi... Oh Shit!

"BJÖRN!" Ich renne los. "BLEIB STEHEN!" Er hört nicht auf mich, lacht einfach weiter und achtet gar nicht auf die Kreuzung auf die er zurast.

"Hols dir!", giggelt er und rollt weiter.

"HALT AN!!!" Ich gebe Kit. Björn leider auch. "VOR DIR!", starte ich noch einen Versuch. Mit Erfolg. Endlich bemerkt er, dass er blindlings auf die Kreuzung zurast, doch zu spät. Aus den Augenwinkeln sehe ich ein hellblaues Auto auf ihn zurasen. "BJÖÖRN!"

Reifen quietschen. Eine Hupe ertönt. Zwei Meter. Ich bin gerade mal zwei Meter von ihm entfernt! Ich halte die Luft an und handle einfach. Der Aufschlag presst mir die zuvor angehaltene Luft aus den Lungen. Ich kippe auf die rechte Seite, weg von der Straße. Schmerz bohrt sich mir in die Seite. Vor mir schießt das Skateboard auf das hellblaue Auto zu und prallt dagegen. Meine Einkaufstasche fliegt im hohen Bogen über die Straße und verteilt ihren Inhalt kreuz und quer über den Asphalt.

"Björn?" Ich richte mich auf, wobei meine komplette rechte Seite schmerzhaft aufschreit. "Alles klar bei dir?" Besorgt schaue ich auf den kleinen Kerl in meinen Armen. Die Anspannung und der Schreck fallen mit einem Schlag von mir ab und ich spüre, wie meine Muskeln anfangen zu zittern. Das war verflucht knapp!
 

Der Autofahrer steigt aus seinem Auto. Leichenblass kommt er auf uns zu. "Du meine Güte!", stammelt er. "Oh Gott! Soll ich einen Krankenwagen rufen?"

"Ich denke nicht." Meine Rippen sagen was anderes, doch das muss warten. Ich mache mir viel mehr Sorgen um Björn, der noch immer erstarrt in meinen Armen hängt und mit leeren Blick das Auto fixiert.

"Sicher?"

"Sicher. Es ist noch mal alles gut gegangen." Vorsichtig setzte ich mich auf und drehe meinen Skateboard-Tyrannen zu mir herum. "Björn?" Er ist noch blasser, als der geschockte Autofahrer neben mir. Seine Pupillen sind ganz geweitet. Vielleicht ist ein Krankenwagen doch keine so schlechte Idee.

"Ralf ... Du hast ..." Björn schnappt nach Luft und kippt vorn über. Direkt gegen meinen Oberkörper.

"Oh je!" Der Autofahrer wird wieder aufgeregter. "Oh je! Oh je, oh je ...!"

Ich revidiere meine Entscheidung. "Krankenwagen", unterbreche ich ihn.

"Ja! Oh Gott! ... Ja ..." Mit zitternden Fingern wählt er den Notruf. Ich dagegen schaue mir Björn genauer an. Er scheint ohnmächtig zu sein. Sicher hat er einen Schock. Ansonsten hat er sich schon wieder das Knie aufgeschlagen. Ob ihm noch was anders wehtut, kann ich nicht beurteilen. "Der Krankenwagen kommt gleich", stottert der Autofahrer. "Mein Auto! Soll ich es wegfahren, oder ...?"

"Wollen Sie Anzeige erstatten?"

"Was? Wieso?"

"Ich frage nur. Falls Sie die Polizei informieren wollen ..."

"Nein!"

"Dann fahren Sie es neben ran und warten mit mir auf den Krankenwagen." Die sollten den Kerl auch mal besser unter die Lupe nehmen.

"Ist gut. Ja! In Ordnung." Oh weih. Hoffentlich kommt der Krankenwagen bald.
 

***
 

~Björn~

"Er hat nichts. Aber wir informieren besser seine Eltern."

"Ja, tun Sie das." Eltern? Reden die von meinen Alten?

Angestrengt stemme ich die Augenlider nach oben. "Nicht ..."

"Hey du Chaot. Wieder wach?" Nach mehrfachen Blinzeln erkenne ich Ralf, der neben mir hockt. "Ich weiß nicht wie viele Schutzengel du hast, aber die haben hervorragende Arbeit geleistet." Was quasselt er da?

"Was redest'n du da für'n Scheiß?", ächze ich.

"Dir geht es ja wirklich gut! Ein Glück. Und ich dachte schon, ich muss mich damit abfinden, dass mir ohne dein Gezeter und Gemecker hier viel zu langweilig wird."

"Alter? Du spinnst." Mühsam setzte ich mich auf. "Warum liege ich auf der Wiese?"

"Erinnerst du dich nicht mehr?"

Ich überlege und überlege. Ich wollte Ralf ärgern. Hab ihm 'ne Einkaufstüte geklaut und ... "Das Auto!" Ich wäre fast überfahren worden! "Du hast mich gerettet!"

"Eigentlich wollte ich nur meine Einkäufe retten, aber ... Ja gut. Ich habe dich gerettet." So ein Saftsack! Macht auch noch Scherze darüber!

"Danke", murmle ich und kann es noch immer nicht begreifen. Er hat mich kurz bevor ich mit dem herannahenden Auto zusammengeknallt wäre, vom Board gerissen und somit von einem ganz üblen Unfall gerettet.

"Der Notarzt meint, du hättest einen leichten Schock. Er hat dir aber was zur Beruhigung gegeben." Ich nicke nur und schaue mich um.

Rettungswagen und Notarzt stehen in der Straße. Der hellblaue Wagen steht mit angeschalteten Warnblinker an der Seite. Der Autofahrer sitzt wie ein Häufchen Elend daneben und wird untersucht. Nachbarn scharen sich im gebührenden Abstand um uns und gaffen blöd.

Ich drehe mich zu Ralf. "Warum hast du das getan?"

"Was?"

"Mich gerettet."

"Hätte ich dich vor das Auto fahren lassen sollen?"

Ich senke den Kopf. "Ich meine, weil ich davor so arschig zu dir war."

"Schon vergessen", winkt er ab.

"Und deine Einkäufe?"

"Tja ..." Ralf lässt den Blick über die Straße schweifen. "Gibt's heute eben keine Tiefkühlpizzen für mich." Er schaut mich an und beginnt zu grinsen.

Ich kann nicht anders und lächle ebenfalls. "Danke", wiederhole ich noch mal und umarme ihn einfach.

"Nicht der Rede wert", keucht er und zieht zischend Luft durch den Mund.

"Hast du dir weh getan?" Schnell lasse ich ihn wieder los und schaue ihn mir genauer an. Erst jetzt bemerke ich, dass er gar kein Oberteil trägt, und "Ein Verband?!"

"Hab mir zwei Rippen geprellt. Nichts Schlimmes."

"Nichts Schlimmes?!"

"Herr Stade?" Einer der Sanitäter steht vor uns. "Können wir uns noch mal unterhalten?" Ralf nickt und steht ächzend auf. Mein Magen krampft sich zusammen. Warum musste ich auch wieder so einen riesigen Haufen Scheiße bauen?! Wie mache ich das jemals wieder gut?
 

Ralf unterhält sich mit dem Sanitäter und kurz danach mit dem Autofahrer. Letzterer schaut dabei immer wieder zu mir rüber. Mir wird ganz unwohl. Und plötzlich ahne ich, was hier los ist.

Ich packe mir gegen die Stirn. Ich Trottel! Ich Vollpfosten! Ich dämlicher Idiot! Sicher haben die gerochen, dass ich was getrunken habe. Hektisch schaue ich mich um. Keine Polizei. Vielleicht kommt die noch. Was mache ich denn jetzt?

Wieder schaue ich rüber zu Ralf, der dem Autofahrer die Hand schüttelt und sich von ihm wegdreht. Mit ernster Miene kommt er auf mich zu. "Der zeigt mich an, oder?", frage ich Ralf sofort und stehe auf.

"Nein." Nein?! "Der Blechschaden an seinem Auto ist gering. Nur ein paar Kratzer. Dein Skateboard ist genau am Reifen aufgeschlagen."

"Und was wollten die dann eben von dir?"

"Ich soll dich anzeigen."

"Du? Mich?" Ich bereue es, dass ich eben aufgestanden bin. "Tust du's?" Verdient hätte ich es. Mehr als das.

"Nein." Er schüttelt den Kopf. "Lass uns zu mir gehen, ja? Dann reden wir." Ich stimme zu und laufe langsam neben ihm her auf sein Wohnhaus zu.

Anzeigen. Er soll mich anzeigen. Oh Mann! Das nächste Mal kaufe ich mir ein Eis, anstelle eines Bieres! Das schwöre ich!
 

~Ralf~

Ohne ein Ton zu sagen, schnappt sich Björn die Einkaufstüten, die noch immer vor meiner Tür stehen, und trägt sie mir in die Küche. Schon ein Wunder, wie nett er auf einmal sein kann. Liegt das an der Erwähnung einer Anzeige?

Ich deute ihm an, dass wir uns ins Wohnzimmer setzen sollten. Er folgt mir und setzt sich ganz kleinlaut auf meine Couch. "Der Notarzt hat deine leichte Fahne gerochen." Björn sieht unsicher zu mir auf. "Ich konnte ihn davon überzeugen, dass es nur ein Bier war. Außerdem denke ich nicht, dass bei der Blutuntersuchung was rauskommt."

"Blutuntersuchung?"

"Sie haben dir Blut abgenommen. Als du bewusstlos warst." Jetzt erst scheint er das dicke Pflaster zu bemerkten, dass ihm in der Armbeuge klebt. "Du hast doch nur eins getrunken. Oder?"

"Ja! Nur eins! Ich schwöre!"

"Gut. Dann kommst du wahrscheinlich noch mal davon." Nervös wischt er sich die Haare aus der Stirn. "Mach so einen Unsinn nie wieder. Hörst du?"

"Nie wieder."

"Du hast mir einen verdammten Schrecken eingejagt. Als das Auto auf die zukam und ... Eine Sekunde später und du wärst unter die Räder gekommen. Ist dir das klar?" Meine Worte waren wohl etwas zu dramatisch, denn er wird wieder kreideweiß um die Nase herum. Gleichzeitig steigen ihm Tränen in die Augen. "Nicht heulen. Ist doch alles gut ausgegangen." Ich ziehe ihn an mich. Er schmiegt sich in meine Arme und heult lautlos vor sich hin. Sicher noch der Schock, der ihm in den Knochen sitzt.

Ich kraule ihm den Rücken, spreche ihm beruhigende Worte zu und halte ihn so lange fest, bis er sich aus meiner Umarmung windet und mit dem Arm über die Nase wischt. "Ich hole dir mal ein paar Taschentücher", beschließe ich und stehe auf.

In der Küche greife ich mir ein Päckchen und reiche es Björn, da klingelt es an meiner Haustür. Als ich aufmache, steht da ein ganz aufgelöster Tore. "Oh Ralf! Ich hab's eben von der Inge gehört! Geht's dir gut?" Sorgenvoll schaut er an mir herab, entdeckt natürlich den Verband und hält die Luft an. "Ach du Scheiße!"

"Nur geprellt", beruhige ich ihn.

"Nur geprellt?! Was machst du denn für Sachen?" Tore rauscht mir in die Arme. "Springst einfach vor ein Auto. So was macht man doch nicht! Das ist doch keine Lösung!" Na der Vorstadtfunk funktioniert hier ja noch besser als gedacht.

"Komm erstmal rein", vordere ich ihn auf. Ich schließe die Tür. "Ich bin vor kein Auto gesprungen. Björn wäre fast mit seinem Skateboard vor eins gefahren. Ich bin ihm nach und habe ihn zur Seite gerissen."

"Björn?" Ich nicke zum Wohnzimmer. "Der? Den hast du gerettet?"

"Ja."

"Oh." Oh? Anscheinend hat der Kleine echt keinen guten Ruf hier in der Nachbarschaft. "Du bist ein Held!"

"Also das würde ich jetzt nicht sagen ..."

"Halt die Klappe!" Erneut zieht er mich in seine Arme und verpasst mir einen fetten Schmatzer. "Nett, hilfsbereit, gutaussehend und obendrauf noch ein selbstloser Held. Du bist einfach zu gut für diese Welt!"

Ähm ... Wie bitte?
 

******

Kapitel 04 - Ich weiß nicht, was es ist, aber ...

Kapitel 04 - Ich weiß nicht, was es ist, aber ...
 

~Björn~

Nervös schiele ich durch die offene Tür und beobachte die beiden Männer im Flur. Was hat denn dieser Tore mit Ralf zu schaffen? Sind die etwa ...? Unmöglich! Niemals! Ralf und Tore, das passt doch gar nicht! Aber wieso sieht es dann so aus, als würden die sich näher kennen? Wie sie dastehen, mitten im Flur, und so verdammt vertraut miteinander umgehen. Sie haben sich sogar geküsst! Das kann doch gar nicht sein! Ralf ist doch erst seit drei Tagen hier!

"Björn? Soll ich deine Eltern anrufen?" Ralf steht auf einmal vor mir.

"Nein", murmle ich. "Ich finde allein nach Hause." Außerdem bemerke ich es, wenn ich unerwünscht bin. Dennoch kann ich jetzt nicht einfach sauer abdampfen. "Ralf?"

"Hm?"

"Falls du was brauchst, Hilfe oder so, sag mir Bescheid." Das ist das Mindeste, was ich tun kann.

"Mal sehen. Ruh du dich ordentlich aus nach diesem Schrecken."

"Ist gut. Und Danke noch mal." Ich werfe Tore einen letzten, prüfenden Blick zu, dann verschwinde ich. Nur weg von hier!

Draußen sehe ich mein Board an einem Jägerzaun gelehnt stehen. Ich greife es mir und laufe nach Hause. Ich spüre richtig die prüfenden Blicke der Nachbarn auf mir. Wie sie heimlich hinter ihren halbgeschlossenen Gardinen nach mir Ausschau halten. 'Da, schaut her! Da ist er, der kleine Versager, der besoffen vor ein Auto rast.' Bestimmt wissen meine Alten schon Bescheid.

Doch als ich Daheim ankomme, ist alles wie immer. "Setz dich. Das Abendessen ist gleich fertig", ranzt mich meine Adoptivmutter an. Der Rest meiner 'Familie' sitzt auch schon am Tisch.

Nachdenklich setze ich mich an meinen Platz. Die Gespräche am Tisch interessieren mich nie. Heute besonders. Ich bin noch immer gedanklich in Ralfs Wohnzimmer. Sehe ihn und Tore im Flur stehen. Wie besorgt Tore aussah. Und wie sie sich geküsst haben. Das haben sie sicher nicht zum ersten Mal gemacht. "Björn!"

"Was?" Zuckend schaue ich auf.

"Herr-Gott-noch-mal! Höre zu, wenn man mit dir redet! Reiche deiner Mutter gefälligst den Teller!" Ich gehorche ohne ein Wiederwort. Meine Gedanken lenken mich zu sehr ab, als dass ich mich über die Sticheleien meiner Alten kümmern mag.

Nach dem Abendessen, verziehe ich mich gleich auf mein Zimmer, schließe ab und setzte mich auf mein Bett. Immer und immer wieder gehe ich die Momente durch, in denen ich auf diese verdammte Kreuzung zugerast bin. Wie ich mich zuerst gefreut habe, wie entsetzt Ralf von meinem 'Diebstahl' war. Doch dabei hatte er nur das Unglück kommen sehen, von dem ich noch nicht mal was ahnte. Erst, als er mir zurief, ich solle nach vorn schauen, da dämmerte es mir. Und als ich den Wagen vor mir sah, war ich so geschockt, dass ich mich gar nicht mehr bewegen konnte. Hätte Ralf nicht so mutig reagiert ... Ich will mir gar nicht vorstellen, was jetzt mit mir wäre. Ich läge wahrscheinlich im Krankenhaus und nicht in meinem Bett. Ich hasse zwar mein Leben, aber so mag ich dann doch nicht enden.

Hinter mir klackert etwas. Ein Stein, der gegen mein Fenster schlägt. Domi. Wer sonst bewirft mein Fenster mit Steinen? Niemand, außer er. "Kann ich hoch kommen?" Ich nicke. "Mann! Hast du das gehört? Da wäre vorhin beinahe einer vom Auto überfahren worden", ächzt er, als er noch halb im Fensterrahmen hängt.

"Ach, erzähl!"

"Ja! So ein kleines Kind hat mit einem Tretauto auf der Straße gespielt. Vorn an der Hauptkreuzung. Da raste ein Auto auf das Kleine zu und so ein Irrer hat sich vor das Auto geworfen. Um das Kind zu beschützen, oder so. Das ist gerade mal ein paar Stunden her. Voll krass ..." Kind?! Tretauto? Ich fange laut an zu lachen. Ja ernsthaft. Ich lache mir die Seele aus dem Leib. "Was ist daran so witzig?", will mein bester Freund verärgert wissen. "So etwas ist nicht lustig! Der Kerl, der sich vors Auto geschmissen hat, ist anscheinend schwer verletzt im Krankenhaus!"

"Krankenhaus?" Ich kugle mich auf dem Bett.

"Sag mal ... Hast du sie noch alle?! Über so was macht man sich nicht lustig!" Ich verstehe ja seinen Ärger. Aber ... Nein! Ich kann nicht mehr! "Du bist ein Arsch!" Domi will wieder abdampfen, doch ich halte ihn auf.

"Warte!", keuche ich und versuche mich zu beherrschen. "Ich bin das Kind mit dem Tretauto!"

"Hä?" Ein erneuter Lachflash durchschüttelt mich.
 

Ich wische mir die Tränen aus den Augen und dann berichte ich Domi alles. "Mir ist nichts passiert. Und Ralf geht es, bis auf zwei geprellte Rippen, auch gut."

"Scheiße", flüstert er und zieht mich in seine Arme. "Du hättest tot sein können!"

"Sag mir was Neues." Irritiert winde ich mich aus seiner Umarmung, und verdränge die merkwürdigen Gefühle dabei in mir.

"Und jetzt?"

"Wie, und jetzt?"

"Wie bedankst du dich bei diesem Ralf?"

"Keine Ahnung." Achselzucken meinerseits.

"Ist das nicht der Homo, von dem du mir erzählt hast?" Ich bejahe. "Du musst ihn ja mächtig gern haben. Und er dich erst."

"Was?!" So ein Müll! Was erzählt Domi da schon wieder?

"Heißt es nicht: Was sich liebt, das neckt sich?"

"Ich habe ihn nicht geneckt!" Das wird ja immer besser! "Außerdem hat er jemanden." Ich muss an diesen Tore denken. So ein Assi!

"Das stößt dir aber mächtig auf."

"Gar nicht!"

"Und warum guckst du dann so, als würdest du seinen Freund am liebsten abknallen? Oder warte! Wirf ihn doch vor ein Auto!"

"Ha ha! Wer ist jetzt unsensibel?"

"Tschuldige." Pha! Domi hat 'nen Knall! Aber einen ganz großen. "Sieht er gut aus?"

"Wer?"

"Dieser Ralf."

Ich überlege. Sieht dieser Opa gut aus? "Na ja. Er ist groß, ganz gut gebaut. Und für sein Alter hat er sich ganz ordentlich gehalten." Ich muss grinsen. Vielleicht ziehe ich ihn damit mal aus. 'Ey, du alte Socke! Siehst ja noch ganz ordentlich aus für dein Gruftialter.'

"Mensch ... Du hast Herzchen in den Augen." Gleich klatsche ich ihm eine!

"Halt die Klappe! Das stimmt doch überhaupt nicht!"

"Schon gut, schon gut!" Domi lacht vielsagend. Ich hätte nicht übel Lust, ihm wirklich eine zu verpassen. Ich und verknallt! Eher beginnt es mitten im Sommer zu schneien, als das ich mich in Ralf verknalle! "Aber egal, ob du was von ihm willst, oder nicht ... Guck nicht so böse! ... Du musst dich bei ihm für seine Rettungsaktion irgendwie erkenntlich zeigen."

"Ich habe aber nichts, womit ich mich erkenntlich zeigen könnte", seufze ich. "Ich könnte ihm ja die nächsten Einkäufe nach Hause schleppen."

"Nicht gut. Dann kommst du bloß wieder auf dumme Ideen." Na Danke auch! "Lass dir was anderes einfallen."

"Mal sehen." Domi hat wirklich recht. Irgendwas muss ich mir einfallen lassen für ihn.
 

~Tore~

Ralf ist fast am Einschlafen. Wer kann es ihm verübeln? Zudem ist der Film, den wir gerade in der Glotze schauen, nicht gerade spannend. Sanft kraule ich seinen Kopf und betrachte mir zum wiederholten Male den Verband. Er hat dem Kleinen das Leben gerettet. Was ihm dabei alles hätte passieren können. Ja, dieser Mann ist zu gut für diese Welt. Seine beiden 'Exen' wissen gar nicht, was sie sich entgehen lassen haben. Wäre ich nicht ich, würde ich ihn mir auf jeden Fall krallen. So viel ist sicher.

Björn. Dieser kleine Störenfried. Vorhin hat Ralf mir erzählt, wie er ihn kennengelernt hat. Das er ihn verarztet, und sogar eine Pizza spendiert hat. Ich sage es noch mal: Zu gut für diese Welt, mein heißer Nachbar. Umso schwerer fällt es mir, ihm das zu erzählen, was ich ihm erzählen will. Vielleicht sogar muss. Ich will nicht, dass er in Schwierigkeiten gerät, weil er nicht weiß, worauf er sich bei dem Kleinen einlässt.

Ralf regt sich. "Tore?"

"Was denn?"

"Ich sollte besser ins Bett. Diese Schmerzmittel machen mich ganz dusselig."

"Soll ich hierbleiben?" Wieder schiele ich zu seinem Verband.

"Wenn du willst. Aber mit Therapie is heute nicht." Müde grinst er mich an.

Ich lege den Kopf schief. "Meinst du, darauf wäre ich jetzt wirklich aus?" Er zuckt mit den Schultern. "Du legst dich jetzt ins Bett und ich kümmere mich darum, dass es dir gut geht. Kapische?"

"Ist gut", lacht er und steht stöhnend auf.

"Geht's?" Vorsichtig stütze ich ihn.

"Es Muss." Mein armer, tapferer Nachbar.
 

Am nächsten Morgen bin ich vor ihm wach. Wie gut, dass ich heute meinen freien Tag habe. Ich koche Kaffee, hole Brötchen und decke den Tisch. "Wow!" Ralf steht in der Tür. Beeindruckt beschaut er sich meine Arbeit. "Daran könnte ich mich gewöhnen."

"Gewöhne dich nicht zu sehr dran. Normal bin ich ein sehr egoistischer Mensch. Das hier mache ich nicht für jeden und bestimmt auch nicht jeden Tag."

"Was habe ich nur für ein Glück."

"Nicht wahr?" Ich ziehe ihm den Stuhl zurecht, damit er sich setzen kann. "Soll ich dich einschmieren? Mit der Salbe, meine ich."

"Nachher. Zuerst habe ich hunger."

"Sehr wohl, der Herr." Ich bediene ihn von vorn bis hinten, schenke ihm Kaffee ein und schneide ihm das Brötchen auf. Es fehlt eigentlich nur noch, dass ich ihm das Teil noch vorkaue. Mache ich natürlich nicht.

Nachdem ich auch mir ein Brötchen zurechtgemacht, und die halbe Tasse Kaffee mit einem Schluck gelehrt habe, räuspere ich mich und sage Ralf endlich was bei Björn so alles Sache ist. Er muss es wissen. Es fällt mir bloß schwer, den richtigen Anfang zu finden. "Björn ist ein wirklich spezieller Junge. Nicht wahr?", beginne ich ganz unverfänglich.

"Wem sagst du das? Er wirkt viel jünger, als er ist, finde ich."

"Stimmt." Noch schnell einen Schluck Kaffee, bevor ich weiter rede. "Das liegt an seinem Elternhaus."

Ralf schaut auf. "Du kennst ihn näher?"

"Na ja ... Ich tratsche nicht gern, aber man hört so einiges über ihn."

"Was denn?"

Ich fühle mich immer unwohler. Doch da muss ich jetzt durch. "Er lebt nicht bei seinen richtigen Eltern. Die sind vor sieben Jahren bei einem Autounfall gestorben."

"Oh. Das tut mir leid." Ralfs Gesichtsausdruck wirkt traurig.

"Ja ... Das war 'ne riesige Sache damals. Er lebte auch schon früher hier. Also mit seinen leiblichen Eltern und seiner kleinen Schwester. Deshalb nahmen ihn seine jetzigen Adoptiveltern auch auf. Allerdings ..."

"Was, allerdings?" Ralf hat aufgehört zu essen. Ihm scheint der Kleine am Herzen zu liegen. Und das, nach so kurzer Zeit. Ob das gut ist?

"Es wird viel über sie geredet. Anscheinend sind sie nicht so liebevoll, wie sie es vorgeben zu sein." Ralf runzelt die Stirn, sagt aber nichts. "Jeder weiß, dass Björns Adoptivvater ein sehr herrschsüchtiger Mann ist. Er sitzt im Stadtrat, hat viel Einfluss und ist sehr konservativ. Außerdem munkelt man, dass er ein Rechter ist."

"Ein Rechter? Und der hockt bei euch im Stadtrat?!"

"Offiziell ist er es natürlich nicht. Ist in einer kleinen regionalen Partei, die aber teilweise sehr extreme Ansichten hat. In einer Kleinstadt, die von pöbelnden und randalierenden Asylanten überschwemmt wird, kommen die Ansichten seiner Partei eben sehr gut an."

"Scheiße. Soll ich gleich wieder umziehen? Bestimmt fände er es nicht so toll, wenn er erfahren würde, dass in seiner Nachbarschaft ein Schwuler lebt."

"Zwei Schwule", korrigiere ich ihn. "Und das ich auf Männer stehe, weiß er nicht. Denke ich zumindest. Sonst hätte ich das schon zu spüren bekommen." Ganz sicher.

Ralf atmet tief ein und verschränkt die Arme. "Björn weiß, dass ich auf Kerle stehe. Und nachdem er uns gestern gesehen hat ..."

"Björn ist nicht dumm. Er hasst seinen Adoptivvater. Ganz bestimmt hockt er nicht mit ihm am Kaffeetisch und berichtet ihm von seinem Tag. 'Guten Abend Papa. Heute hat mich der Schwule aus unserer Nachbarschaft vor einem Unfall bewahrt.' Ich sehe ihn jetzt schon die Sense wetzen."

"Das ist nicht lustig."

"Siehst du mich lachen?" Ich atme durch. "Du hast doch gesagt, Björn sei verprügelt worden. Daher hat er sicher die Blessuren im Gesicht."

"Ja. Er meinte, er hätte sich mit jemanden geprügelt."

"Er hat ziemlich oft solche Verletzungen."

"Bei seinem großen Mundwerk auch kein Wunder."

Ich seufze laut auf. "Du verstehst es nicht, oder?" Ich sehe Ralf eindringlich an. "Sein Vater ist der Schläger."

Ralf zuckt zusammen. "Sein Vater?"

"Ja. Eben der. Das ist ein offenes Geheimnis."

"Und wieso macht niemand was dagegen?!", braust er unerwartet heftig auf.

"Was glaubst du, wie oft schon die Polente bei denen war? Aber dieser Mistsack hat gute Beziehungen, und Björn und sein Adoptivbruder sind garantiert keine Engelchen. Wer glaubt denen schon?"

"Das gibt's doch nicht! Dagegen muss man doch was tun!"

Hilflos zucke ich die Achseln. "Was soll man da großartig tun, wenn Polizei und Jugendamt nicht einschreiten?"

Ralf ballt seine Hände zu Fäusten. Das Thema regt ihn ganz schön auf, was aber auch nicht zu verübeln ist. Ich finde es selbst furchtbar. "Warum erzählst du mir das alles?", fragt er.

Soll ich es ihm wirklich sagen? Es ist wohl das Beste. "Weil ich mitbekommen habe, wie du ihn ansiehst."

Seine Augen weiten sich. "Ich?! Ganz sicher nicht! Er ist noch ein Kind!"

"Er ist fast achtzehn und verdammt attraktiv. Das musst du zugeben."

"Das ... Das hat doch damit nichts zu tun!"

"Hat es. Ralf? Ich sehe ihn fast tagtäglich mit seinem Skateboard hier vorbei flitzen. Ich erkenne einen gutaussehenden jungen Mann, wenn ich ihn sehe. Aus ihm wird mal ein wahrer Herzensbrecher."

"Deshalb muss ich ihn noch lange nicht anziehend finden!", druckst Ralf herum.

"Stimmt. Musst du nicht, weil du es schon längst tust."
 

~Ralf~

So ein Schwachsinn! "Er ist eine nervige Plage! Ja, es tut mir leid, dass er so was durchmachen muss, aber ich finde ihn nicht anziehend!" Das wäre ja noch schöner!

"Sag was du willst. Ich will nur nicht, dass du da in eine schwierige Situation segelst."

"Und die wäre?"

"Wenn Björns Adoptivvater spitz bekommt, wer du bist und dass du Kontakt zu seinem Adoptivsohn hast, könnte das ungemütlich werden."

"Oh Mann! Das gibt's doch nicht!" Der Appetit auf ein schönes Frühstück ist mir gehörig vergangen.

Klar tut mir das mit Björn leid. Und ich mache mir auch ein wenig Sorgen um ihn. Doch das hat nichts damit zu tun, dass ich mich in ihn 'verguckt' habe. Wenn das wirklich der Fall wäre, wüsste ich das. Im hoffnungslosen Verlieben bin ich nämlich der totale Experte. "Ich bin hier her gekommen, um abzuschalten. Mich nur auf mich und meine Arbeit zu konzentrieren. Und jetzt so was! Ich bin in eine scheiß Kleinstadt-Diktatur geraten!"

"Vorstadt-Diktatur", korrigiert Tore mich.

"Was auch immer!"

Das Frühstück bleibt größtenteils unberührt. Nach diesem Thema ist uns beiden der Hunger anscheinend vergangen. Da ich mich mit meinen geprellten Rippen schonen soll, hocke ich auf meiner Couch und spiele mit Tore Karten. Es ist fast zum Lachen, wenn mir dabei nicht die Rippen so verdammt wehtun würden.

Tore gewinnt praktisch immer. Kein großes Kunststück. Ich muss ständig über Björn nachgrübeln. Was glaubt Tore, hat er in meinem Blick gesehen zu haben? Ich habe keine Gefühle für diesen Skateboardraudi. Außer vielleicht ... Ja, was habe ich für Gefühle? Wenn ich an ihn denke, fühle ich nichts. Geht so etwas überhaupt? Nicht, dass er mir egal wäre. Ich würde es sogar verstehen, wenn ich sauer auf den Kleinen wäre. Schließlich ist er an meinen geprellten Rippen Mitschuld. Daran, dass meine halben Einkäufe ungenießbar auf der Kreuzung verrotten. Er ist Schuld daran, dass ich an nichts anderes mehr denken kann, außer an ihn.

"Ralf?"

"Was?"

"Du bist."

"Ach ja. ... Mau."

"Schon? Diesmal gewinnst wohl du." Denke ich tatsächlich nur an Björn? Seit meinem Einzug rauscht er ständig in meiner Nähe herum. Selbst Tore sorgt dafür, dass ich an ihn denken muss. Aber wenn ich an ihn denke, warum fühle ich dann nichts? Das ist doch nicht normal, oder?

Angestrengt horche ich in mich hinein. Nichts. Da ist wirklich nichts! "Ralf!"

"Hm?"

"Du bist wieder."

"Ich war doch eben ..."

"Vor fünf Minuten. Ich habe längst abgelegt."

"Oh." Ich lege meine letzte Karte auf den Stapel. "Mau mau."

"Du hast gewonnen!"

"Sieht so aus." Was fühle ich, verdammt noch mal?!
 

~Björn~

Die Tüten in meiner Hand rascheln. Sie sind schwer, aber es stört mich nicht. Endlich ist mir eingefallen, wie ich wenigstens ein klein bisschen Dankbarkeit zeigen kann. Ich backe für ihn eine Pizza! Was sonst?

Die Zutaten habe ich alle frisch gekauft. Zubereiten werde ich sie bei ihm. Zuhause mache ich das ganz sicher nicht. Deshalb schleppe ich das ganze Zeug zu ihm und klinge aufgeregt an seiner Haustür. Es dauert einen Moment, da öffnet er mir die Tür. "Björn?" Fragend schaut er auf meine Einkaufstüten.

"Überraschung! Hab eingekauft."

"Ich sehe es ..."

"Darf ich rein? Es ist so warm hier draußen. Nicht, dass was schlecht wird."

"Klar." Er tritt zur Seite. "Was soll das, wenn ich fragen darf?"

"Was wohl?", lache ich und schleppe alles in seine Küche. "Ich mache dir zum Dank die beste Pizza, die du jemals gegessen hast!"

"Das ist aber nett. Wusste gar nicht, dass du auch zuvorkommend sein kannst."

Mit aufkeimender Wut drehe ich mich um. Tore! Was sucht der hier? 'Was wohl, du Dummkopf?', schimpft mein Hirn.

Ich schlucke einen bissigen Kommentar runter und packe die Lebensmittel aus. "Du willst echt für mich eine Pizza machen? Wie kommst du darauf?" Ralf stellt sich neben mich und inspiziert den Inhalt der Tüten.

"Du magst doch Pizza. Und außerdem habe ich deine gestern auf der Straße verteilt", antworte ich kleinlaut. Tores Anwesenheit stört mich. Und zwar gewaltig!

"Wie lieb von dir." Lieb? Ich bekomme eine Gänsehaut. Das hat schon ewig niemand mehr zu mir gesagt.

"Was für ein Haufen Zeug! Das soll alles auf eine Pizza?" Jetzt grapscht auch noch Tore in meinen Einkäufen herum. Wieder schlucke ich meine Wut runter.

"Willst du auch mitessen?" Ich hasse mich für diese Frage. Aber ich kann Tore ja schlecht außen vor lassen.

"Wenn ich darf?"

"Warum nicht", murmle ich und klopfe die Verpackung des fertigen Pizzateigs auf die Arbeitsfläche. Mit einem Plopp geht sie auf.
 

Ralf holt das Blech aus dem Ofen, rollt Backpapier aus und ich verteile den Teig darauf. Unterdessen haben die beiden Schneidebretter rausgeholt und legen los. Ich kümmere mich zuerst um die Tomatensoße, verteile sie auf dem Pizzaboden und helfe danach bei dem Belag. Jeder nimmt sich nacheinander einfach was von den Zutaten. Wir schneiden, zerteilen, und bewerfen anschließend die Pizza damit und lachen dabei viel.

Auch wenn es mir anfangs nicht geschmeckt hat, dass Tore mit von der Partie ist, macht es mir nun fast gar nichts mehr aus. Es ist teilweise ganz lustig mit ihm. "Ich weiß zwar nicht, ob das Durcheinander auch schmeckt, aber ich wette, noch niemals hat jemand eine so überfüllte und bunt durcheinandergewürfelte Pizza gemacht", lacht Tore und bestaunt unsere Arbeit.

"Sicher nicht. Fehlt nur noch der Käse."

"Und das reichlich!", lache ich Ralf zu.

Die Pizza kommt in den Ofen. Im Wohnzimmer warten wir gespannt auf unser Essenswerk. Zum Ablenken spielen wir Karten. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Mal echt jetzt! Kartenspielen? Wie bescheuert ist das denn? Doch es macht Spaß. Ich verstehe mich immer besser mit Ralf und auch mit diesem Arsch Tore. Trotzdem stört er mich immer noch irgendwie ein wenig. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, aber es stößt mir sehr sauer auf, dass er neben Ralf sitzt. Hat das was mit Domis dummen Spruch zu tun? Das ich mich angeblich in ihn verknallt hätte?

Skeptisch mustere ich Ralf. So, dass es nicht auffällt. Zugegeben. Er sieht gut aus. Nicht nur für sein Alter. Die kurzen Stoppeln in seinem Gesicht stehen ihm. Die hatte er bei unserer ersten Begegnung noch nicht. Er ist größer als ich, hat breite Schultern, dafür aber schmale, fast schon feingliedrige Finger. Wie er die Karten hält ... an seinen Armen kann man die Venen erkennen. Irgendwie macht mich das jetzt an ...

"Die Pizza!", ruft Tore plötzlich. "Der Ofen piepst!" Jetzt höre ich es auch.

"Da bin ich aber mal gespannt, ob sie so gut schmeckt, wie sie ausgesehen hat", sagt Ralf zu mir und zwinkert mir zu.

"Ich auch", flüstere ich und laufe den beiden irritiert nach. Was waren das den eben für Gedanken?!
 

***
 

~Tore~

Entspannt lehne ich mich auf Ralfs Couch zurück und kraule meinen vollgegessenen Bauch. Björn ist vorhin gegangen. Mit der scheinheiligen Ausrede, er hätte noch was vor heute. Der Kleine hätte ruhig noch etwas bleiben können, finde ich. Erst recht wegen Ralf, der seinen Blick kaum von ihm lassen konnte. Er und nicht verknallt! Das ich nicht lache! "Eins muss man dem Pimpf lassen. Von Pizza hat er Ahnung", seufze ich zufrieden. Die Pizza war echt lecker.

"Hmhm." Ralf hört mir wieder nicht zu. Wetten? Das teste ich gleich mal.

"Weißt du, er hat mir angeboten, mir nachher einen zu blasen. Willst du zuschauen?"

"Hmhm."

"Geil! Machen wir 'nen Dreier?" Ich beuge mich näher zu ihm. "Du, ich und der Kleine in unserer Mitte?"

"Kling gut." Natürlich klingt das gut.

Gäbe es da nicht ein kleines, aber nicht unwichtiges Problem. "Du bist dir sicher?", frage ich Ralf.

"Hmhm."

"Auch wenn du keinen Schimmer hast, wovon ich rede?"

"Kann sein." Das gibt's nicht!

"Ralf!" Er dreht erschrocken seinen Kopf zu mir. "Du hörst mir nicht zu!"

"Doch. Ich höre dir zu."

"Echt? Und was habe ich eben gesagt?"

"Du wolltest noch Pizza?" Das gibt es doch echt nicht!

"Ich habe dir eben einen Dreier vorgeschlagen. Mit Björn. Und du hast zugestimmt." Grinsend schaue ich ihm zu, wie er erst kreideweiß, dann knallig rot wird.

"Habe ich nicht", verteidigt er sich.

"Doch, hast du. Weil du mir nicht zugehört hast." Ralf lässt den Kopf hängen. "Du hast an ihn gedacht. Stimmt's?"

"Vielleicht." Geknickt starrt er weiter in die Glotze.

"Über was grübelst du nach? Erzähle es mir."

Seufzend schaltet er den Fernseher auf stumm. "Ich muss ständig daran denken, was sein Adoptivvater mit ihm macht. Sein Auge ist noch immer ganz blau. Was, wenn es wirklich dieses Schwein war? Man muss doch was dagegen tun." Ralf, du hilfsbereiter Tollpatsch!

Ich lege meinen Arm um ihn. "Nur darüber denkst du nach? Sicher?"

Unschlüssig kaut er seine Unterlippe wund. "Nicht nur", gibt er sich geschlagen. "Nach deinen Worten heute Morgen, ich würde ihn so ansehen, als wollte ich was von ihm, muss ich mich ständig fragen, ob da was Wahres dran ist."

"Und? Ist es?"

Traurig sieht er mich an. "Ich will es gar nicht wissen", wispert er.

"Wie kann man so etwas nicht wissen wollen?"

"Ahnst du es nicht?" Ich verneine. "Es passiert schon wieder! Da ist wieder ein kleiner, hilfloser, verzweifelter Kerl, nein! Ein hilfloser, verzweifelter Junge! Ein Junge, dem ich helfen will. Und das ohne Hintergedanken. Aber du hast mir vor Augen geführt, dass es wieder von vorn beginnt. Falls ich mich wieder verliebe, dann stehe ich erneut als der Dumme da. Das will ich nicht."

"Dann lass es. Vergiss ihn und lass ihn sein Leben leben. Er wird bald achtzehn. Bestimmt sucht er dann das Weite, und lässt seine Adoptiveltern hinter sich."

"Kann sein."

"Er zieht weg und du bleibst hier. Bei mir", gluckse ich und beginne ihn zu küssen.

Er schiebt mich allerdings bald schon wieder von sich. "Und wieso hast du mir das heute Morgen dann alles erzählt? Seine Probleme? Dein Gefühl, ich würde was von ihm wollen? Damit hast du alles ins Rollen gebracht. Weißt du das überhaupt?"

"Tut mir leid." Das tut es wirklich. "Ich hatte nur das drängende Bedürfnis, dass du es wissen solltest." Ich sehe ihn lange an. Mustere sein Gesicht, seine dunklen, braunen Augen. In ihnen liegt so viel Ehrlichkeit, wie ich sie bis jetzt selten erlebt habe. Eigentlich nur ein mal in meinem Leben … "Ich mag dich sehr, du liebenswerter Trottel. Mein Lieblingsnachbar." Wir lachen leise. "Ich will nicht, dass hier irgendjemand verletzt wird. Weder du noch ich. Deshalb ..." Ich löse mich von ihm. "Deshalb gehe ich jetzt." Ich stehe auf.

"Das kapiere ich nicht."

"Du hattest recht. Du brauchst Abstand. Von deinen früheren Lieben und im Moment auch von mir. Denk in Ruhe über dein Problem nach. Ohne weitere Einmischung von mir."

"Ist gut", brummt er leise und sieht immer noch arg verwirrt aus.

"Wenn du bei irgendwas Hilfe brauchst, ruf mich an."

"Mach ich."

"Bleib sitzen, ich finde alleine raus."
 

Draußen in der warmen Nachtluft bleibe ich stehen und atme durch. In Ausreden erfinden war ich noch nie gut. Was soll's? Es ist besser, wenn ich Ralf jetzt allein lasse. Nicht wegen dem Grund, den ich ihm genannt habe. Ich musste aus diesem Haus raus. Weg von ihm. Dieses kleine, warme Gefühl, das mich eben gekitzelt hat, als ich ihn angesehen habe, das darf ich nicht zulassen. Ich darf nicht zulassen, dass sich da was anbahnt. Schließlich wollen wir das beide nicht. Außerdem habe ich die dumpfe Ahnung, dass er sich ohnehin für den kleinen Björn entscheiden würde, hätte er die Wahl. Auch wenn er es jetzt noch nicht weiß, oder besser gesagt, es versucht zu verdrängen.

Ich möchte, dass Ralf ein guter Freund wird. Mehr nicht. Ja, der Sex ist geil und wir können das vielleicht gern noch einige Male wiederholen. Doch mehr wird es niemals zwischen uns geben. "Auf nach Hause", sporne ich mich selbst an und laufe auf mein Häuslein gegenüber zu. Mein leeres, einsames Häuslein. Hoffentlich dauert es nicht mehr so lange, bis es nicht mehr leer und einsam ist. Bis ich nicht mehr leer und einsam bin.
 

******
 

Naaaa?! Gespannt, warum Tore so merkwürdig daherredet? Ihr dürft euch noch ein bisschen wundern, denn sein Geheimnis werde ich erst später lüften. xD

Kapitel 05 - Fette Igel unter meinem Schlafzimmerfenster

Kapitel 05 - Fette Igel unter meinem Schlafzimmerfenster
 

~Björn~

Ich rase dahin. In einem mörderischen Tempo. Doch ich habe keine Angst. Ich weiß, dass er auf mich aufpasst. Ich fühle mich sicher. "Schneller!", rufe ich und sause einen Zacken zügiger davon. Der kühle Wind fühlt sich so gut an! Mir ist heiß und ich schwitze wie verrückt. Die Abkühlung kommt wie gerufen.

"BJÖRN! ... BLEIB STEHEN! ... HALT AN!" Ich schaue mich um. Das kommt mir bekannt vor, bloß erkenne ich nichts. Alles um mich herum ist dunkel. Ich blicke nach unten. Erst jetzt bemerke ich, dass ich an meinem Board festgeschnallt bin. Entsetzt schaue ich vor mich. Das Auto! Ich rase volle Kanne darauf zu, kann aber nichts dagegen machen.

Ich halte mir die Hände vors Gesicht und spüre, wie ich falle. Ich schlage auf, aber mein Sturz wird gebremst. Weich, als ob ich auf ein Bett falle, plumpse ich in grünes, duftendes Gras und öffne die Augen. "Alles klar bei dir?" Ralf lächelt mich an. Direkt vor mir taucht sein Gesicht auf, das in helles Sonnenlicht gehüllt ist. War es eben nicht dunkel gewesen? "Das wäre beinahe schief gegangen. Aber ich bin ja da." Sanft fährt er mir mit seinen Fingern durchs Haar. In mir kribbelt alles. Wie schön sich das anfühlt. "Alles wird gut", haucht er mir zu. Ich glaube ihm. Bei ihm bin ich sicher. Er hat mich wieder gerettet.

Seufzend schließe ich die Augen und hebe meine Hand, lege sie in Ralfs Nacken und ziehe ihn zu mir hinab. "Björn ..." Sein Atem trifft auf meine Haut. So schön kühl ... Ob ich ihn küssen darf? "Björn ..." Ich strecke mich ihm entgegen, doch plötzlich ist er weg.

Ich höre hinter mir ein gehässiges Lachen und drehe mich um. "Meiner! Er gehört mihiiiir!", flötet eine gehässige Stimme. Tore! "Back ihm ruhig deine scheiß Pizza! Was anderes hast du ihm ja sowieso nicht zu bieten! Ahhhaha!!!"

"DAS IST NICHT WAHR!!!" Ich brülle diesem Mistsack an. "Nicht wahr!!! ... Nicht wahr ..." Von einem lauten Schreien werde ich wach. Es ist mein Eigener. Ich sitze in meinem Bett und starre die Wand gegenüber an. Das war ein Traum. "Bloß ein Traum", flüstere ich und knipse das Licht an.

Ich fasse es nicht. Habe ich das tatsächlich geträumt? "Ich wollte ihn küssen. Ich wollte Ralf wirklich ... Kacke! Domi, du Sack!" Daran ist nur er schuld! Er hat mir diese Scheiße eingeredet!

Sauer über diesen dämlichen Traum schlage ich die zerwühlte Bettdecke beiseite und stapfe ins Bad. Dort erleichtere ich mich und wasche mir die Hände. Meine Haut ist ganz feucht. Die Nacht ist wieder so scheiß-schwül warm, dass ich ganz erhitzt bin. Kühles Wasser, das ich über meine Unterarme laufen lasse, kühlt mich etwas ab. 'Was anderes hast du ja sowieso nicht zu bieten ...' Verflixter Traum, verschwinde!

Müde knurre ich mein Spiegelbild an. Weiße Spritzer bedecken das Glas. Mein dusseliger Bruder kann sich einfach nicht die Zähne putzen. Wieso träume ich so einen Müll? Klar habe ich nichts zu bieten. Doch muss ich mich deshalb auch noch in meinen Träumen selbst dissen? Und überhaupt, ich mag Ralf auch gar nichts bieten. Er interessiert mich nicht. Ich bin ihm dankbar, ja. Das ist jedoch schon alles. "Auch wenn dieser alte Sack verflucht gut aussieht ..."

Entsetzt über meine Worte, mustere ich mein Spiegelbild. Das habe ich eben nicht laut gesagt! Oder? Das liegt am Traum. An mehr nicht. Ich bin noch halb am schlafen. Das wird's sein. Genau!

Ich stelle das Wasser ab und laufe zurück in mein Zimmer, lösche das Licht und lege mich auf die Bettdecke. Nur nicht daran denken. Morgen ist die ganze Scheiße wieder vergessen!
 

Von wegen vergessen! Dieser Albtraum geistert mir selbst beim Frühstück noch im Kopf rum. Dabei liegt es nicht mal an dem, was genau ich geträumt habe, sondern an den Gefühlen, die ich dabei hatte. Sie lassen mich einfach nicht los! Als Ralf auf mich nieder geschaut hat, wirkte es so beruhigend auf mich. Und auf eine andere, merkwürdige Art auch erregend. Sein Atem, den ich immer noch spüren kann, wenn ich die Augen schließe und daran denke. Das Gefühl, ihn gleich zu küssen ...

AHHH! Es ist zum verrückt werden! Ich bin eventuell schwul. Na ja. Wohl eher bi. Schön und gut. Damit kann ich leben. Aber das! Verliebt in einen alten, mürrischen Kerl, der mich für einen Pimpf hält, dass ist kaum zu ertragen!

Ich würge den Happen Brot runter, den ich gerade am kauen bin. Verliebt?! Ich?! Das habe ich eben nicht gedacht! Das war nur eine Umschreibung der Begebenheiten. Nichts weiter! Ehrlich nicht! Wirklich! 'Und wieso schlägt dein Herz gerade so verflucht schnell, als würdest du einen Dauerlauf hinlegen?'

"Scheiße", ächze ich.

"Björn!" Oh. Stimmt ja. Ich bin nicht allein. Meine Adoptivmutter sieht verbissen-böse auf mich hinab. "Nimm am Essenstisch nicht solche Wörter in den Mund!" Ich könnte noch ganz andere Dinge in den Mund nehmen. Gerne auch auf dem Küchentisch. Ich muss leise lachen. "Was gibt es da zu lachen?"

"Nichts." Ich lasse es. Es gibt nur Ärger, wenn ich ihr von meinem Kopfkino erzähle. Obwohl ... Ihren entsetzten Gesichtsausdruck wäre es wert.

"Sei froh das dein Vater schon auf der Arbeit ist", droht sie mir, oder versucht es viel mehr. Jetzt werde ich doch sauer.

"Er ist nicht mein Vater. Mein Vater ist beschissen-tot!"

"Björn! Nicht in diesem Ton!"

Ich pfeffere das Stück Brot, welches ich in der Hand halte, vor mir auf den Teller und stehe auf. Ich habe die Nase so was von gestrichen voll! "Fick dich! Du und dein prügelnder Affe von Ehemann!" Ich höre sie hinter mir wüste Beschimpfungen rufen. Drohungen, sie würde jetzt meinen Alten anrufen und dann Gnade mir Gott und all diesen Scheiß, den sie immer vor sich her labert. Soll sie doch! Soll er mir dafür heute Abend wieder die Fresse polieren! Es soll's versuchen ...
 

Ich laufe dorthin, wo ich immer hin laufe, wenn ich mal wieder Zoff zu Hause hatte, oder mir alles über den Kopf wächst. Immer die Straße entlang, bis ich ins Feld komme. Von da aus geht ein kleiner Schotterweg an einer Baumreihe entlang. An einer dicken Tanne biege ich ins Dickicht ab und schlage mich bis zu dem Baumstumpf vor, der hier mitten in den Sträuchern steht. Darauf lasse ich mich nieder. Ruhe, angenehmer Schatten und frische Luft. Herrlich!

Zu meinem Pech helfen diese Tatsachen nicht darüber hinweg, dass mein Leben langsam aber sicher droht abzustürzen. Wie stelle ich es bloß an, von hier wegzukommen? Klar. Weg bin ich schnell. Ein Bahnticket und auf nimmer Wiedersehen. Und dann? Einen Job zu finden ist nicht leicht. Für mich erst recht. Dazu kommt das Wohnproblem. Domi würde mich ein paar Nächte lang aufnehmen, doch dann? Ich kann ihm nicht ständig auf die Pelle rücken. Er wohnt auch noch bei seinen Eltern und hat in nächster Zeit nicht vor sich was Eigenes zu suchen. Andere Freunde habe ich kaum. Jedenfalls keine, die mich bei sich aufnehmen würden. Bleibt nur noch das Soziamt. Und wo die mich dann hin stecken, darüber mag ich gar nicht erst groß nachdenken. Ich will keinesfalls auf der Straße wohnen, und was ich dort machen müsste, um zu überlegen, darüber will ich auch nicht wirklich nachdenken, aber was, wenn mir keine andere Wahl bleibt?

Ich seufze und verdränge mein Hauptproblem. Mein anderes Problem: Ralf. Zwar ist dieses Problem nicht so dringlich, wie meine anderen beiden, aber dennoch so groß, dass ich mir darum auch Gedanken mache. Denn das, was ich da vorhin so dahin gedacht habe, dass muss ernsthaft überdacht werden, nicht?

Woher nehme ich die Gewissheit, ich wäre in Ralf verknallt? Eigentlich habe ich keine Gewissheit. Fühle ich was für Ralf? Tief in mir? Vielleicht. Hat Domi an meinen verwirrenden Gedanken Schuld? Ich meine, ich müsste es doch am besten wissen. Doch wie ich es drehe und wende, ich finde keine Lösung. Wenn ich an Ralf denke, dann ... beginne ich zu lächeln. 'Du Dummkopf! Das ist deine Antwort!' "Bitte nicht!"

Ich verberge das Gesicht in meinen Handflächen. Also stimmt es? Fühle ich etwas für diesen alten Sack? Für diesen anfangs mürrischen Kerl, der mich schon zwei Mal aufgepäppelt, durchgefüttert und sogar vor einem Zusammenstoß mit einem Auto gerettet hat, obwohl ich ihn ständig geärgert habe? "Das gefällt mir nicht", erkläre ich dem großen Mistkäfer, der vor mir auf dem Boden umher krabbelt. "Ganz und gar nicht." Es gibt Angelegenheiten, die einfach alles verkomplizieren. Ob man will, oder nicht.
 

~Ralf~

Ihn vergessen. Abstand zu allem. Nachdenken. Was soll ich denn noch alles machen, he? Ich sollte mich auf meine kommende Arbeitsstelle vorbereiten! Meine Unterlagen sortieren, mich durch die mir geschickten Infos wühlen. Vielleicht sogar mal dort vorbeifahren, um allen hallo zu sagen und sie mit etwas Leckerem auf meine Seite ziehen. Aber ich sollte definitiv nicht in meiner Bude hocken und nachgrübeln, warum Tore sich seit gestern Abend nicht mehr bei meldet, oder warum Björns Gesicht ständig vor meinem geistigen Auge auftaucht und mit ständig meine ich auch ständig.

Als Tore gestern Abend weg war, wollte ich mir seine Worte zu Herzen nehmen. Ich dachte nach und beschloss, Björn aus meinem Denken zu verbannen, was selbstverständlich nichts genutzt hat. Nach diesem Verbannen, drängt er sich mir stärker auf denn je. Immer wieder muss ich an unser erstes Zusammentreffen denken. An seine verflucht kurzen Jeans. An sein überhebliches Grinsen. Seine leuchtenden Augen, die so aussehen, als hätten sie schon viel erlebt. Im krassen Gegensatz dazu sein fast schon kindisch-vorpubertäres Verhalten.

Das wiederum brachte mich dazu, zu überlegen, wieso er so ist. Weil er schon so viel erlebt hat? Weil er bei jedem die Klappe so weit aufreißt, einen beschimpft, um damit auf Abstand zu gehen? Will er sich dadurch vor etwas schützen? Und was könnte ich tun, um dies zu ändern? Hinter seine Fassade zu blicken und den wahren Björn hervor zu kitzeln? Ihn bei mir haben. Ihn vor seinem Adoptivvater beschützen und ... Ich atme laut aus. "Das gibt's nicht!" Daran ist nur Tore Schuld! Er und seine Spekulationen!

Grimmig schaue ich auf die Uhr. Siebzehn Uhr durch. Demnach ist Tore sicher schon zu Hause. Ein Blick aus dem Küchenfenster bestätigt meine Vermutung. Sein Wagen steht vor der Garage. Am liebsten würde ich rüber zu ihm gehen und ihm gehörig den Marsch blasen. 'Und danach was anderes ...' Keine schlechte Idee. So komme ich am ehesten von meinen dümmlichen Überlegungen los. Dann mal nichts wir rüber!
 

Als Tore mir öffnet, scheint er nicht überrascht zu sein, dass ich ihn besuche. Er bittet mich hinein und deutet in seine Küche. "Und? Hast du nachgedacht?"

"Ja", antworte ich. "Sehr viel sogar."

"Darf ich fragen, was dabei herausgekommen ist?"

"Darfst du." Wir setzten uns an den Tisch. "Ich werde keine weiteren Gedanken mehr an den Kleinen mehr verschwenden! Er war mir egal, bis zu dem Zeitpunkt, in dem du mir einreden wolltest, dass ich mehr von ihm wolle."

"Das heißt?"

"Das heißt, dass da nichts ist. Nur das, was du mir ins Hirn gepflanzt hast."

"Ah so. Dann ist ja gut. Wenn du meinst ..." Er glaubt mir nicht. Soll er doch! Hauptsache ich bin mit mir selbst im Reinen. "Wolltest du mir noch was sagen?"

Stirnrunzelnd beäuge ich meinen Nachbarn. Hat er das Selbe im Sinn wie ich? Sieht so aus. "Ich dachte, wir könnten unsre Nachbarschaftsbeziehung noch etwas vertiefen", raune ich ihm zu und grinse anzüglich.

"Du sorry, aber ich habe noch was vor heute." Da habe ich anscheinend falsch gelegen. "Ein anderes Mal, ja?"

"Na gut. Dann viel Spaß mit dem was du vorhast." Ich stehe wieder auf und verlasse die Küche.

"Ralf! Warte doch!" Seine Hand greift nach meiner Schulter. "Bist du jetzt sauer?"

"Sauer? Nein."

"Sicher?"

"Du hast was vor und gut ist. Wir sind ja kein Paar, oder so was", rede ich mich raus. Ich gebe es nicht zu, mir selbst am aller wenigsten, doch ich bin ein bisschen gekränkt von seiner Abweisung.

"Ja, wir sind kein Paar", murmelt er und sieht mich so merkwürdig an. "Es geht nicht."

"Was geht nicht."

Tore wendet sich von mir ab. "Geh lieber. Wir bereden das ein anderes Mal, ja? Dann erkläre ich dir alles." Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf.

"Tore? Geht es dir auch wirklich gut? Brauchst du bei was Hilfe?" Wieso ist er denn so komisch heute?

"Nein. Ehrlich gesagt geht es mir nicht gut. Danke für dein Angebot, aber dabei kannst du mir nicht helfen. Nicht mehr." Ich kapiere nun gar nichts mehr. Seit gestern Abend eigentlich schon nicht mehr, wenn ich recht überlege.

Ich gehe auf Tore zu, der wieder im Türrahmen der Küche steht, und lege meinen Arm um ihn. "Tore ..."

"Du musst mich nicht bemuttern", lacht er erstickt. Heult er?! "Ich kann heute nicht mit dir darüber reden. Will es auch nicht, weil ... Es ist kompliziert." Kompliziert. Das kenne ich nur zu gut.

Ich drehe ihn zu mir um, und noch ehe er sich versieht, habe ich ihn an mich gedrückt. Beruhigend streichle ich ihm den Rücken. Was hat er denn bloß?
 

Nach ein paar Minuten hat er sich wieder gefangen und flüchtet aus meiner Umarmung. Verschämt lächelnd wischt er sich mit dem Handrücken über das Gesicht. "Danke, Herr Nachbar", brummelt er. "Aber geh jetzt."

"Kann ich dich wirklich alleine lassen?" Ich mache mir immer größerer Sorgen um ihn.

"Kannst du." Er holt tief Luft, sieht mich an und ... küsst mich. "Danke Ralf. Ich werde dir alles erklären. Zu gegebener Zeit. Ja?"

"Ist gut", antworte ich leise und lächle ihn an. "Wehe wenn nicht! Dann waren wir mal gute Nachbarn."

"Idiot!" Ich kassiere einen nicht ernst gemeinten Faustschlag gegen die Brust. "Hau ab jetzt!"

Als ich aus der Tür bin, sehe ich Tore noch mal aufmunternd an und laufe die kleine Auffahrt bis zum Gartenzaun entlang. Die ganze Vorstadt-Sache wird ja immer verzwickter. Und ich dachte, in der Stadt wäre das Leben schon kompliziert.

Ganz in Gedanken, was ihn so fertig macht, bemerke ich das leise schabende Geräusch zunächst gar nicht. Erst als ich über die Straße laufen will und deshalb nach rechts schaue, sehe ich eine Bewegung auf mich zukommen. Björn!

Er rollt langsam auf seinem Skateboard dahin, den Kopf gesenkt und ... er ist verletzt!

Mir sticht der Schreck in die Glieder, als ich das bemerke. "Björn!" Eilig laufe ich auf ihn zu und er rollt mir direkt in die Arme. "Scheiße!"

"Ralf?" Verwirrt hebt er mir den Kopf entgegen. "Was machst du denn ...? Ich bin doch gar nicht ..." Ich schlucke mehrmals hart. Soll ich raten, wer ihn so verprügelt hat?

"Komm mit." Ich zerre ihn einfach hinter mir her. Da er immer noch auf dem Skateboard steht, eine einfache Sache. "Warte hier. Ich hole nur schnell meine Autoschlüssel." Ich sprinte ins Haus und kralle meinen Schlüsselbund aus der Schale. Björn erscheint im Flur. "Ich habe doch gesagt, du sollst am Auto warten."

"Warum?" Sein typisch störrischer Blick zeigt sich.

"Wir fahren jetzt zur Polizei."

"Was?! Nein!"

"Doch!" Ich will ihn ein zweites Mal schnappen und mit mir ziehen, doch er weicht mir flink aus. "Björn! Du musst dieses Arschloch anzeigen!", rede ich auf ihn ein.

"Muss ich nicht! Das war nur eine dumme Prügelei. Nichts Aufregendes."

"Eine Prügelei?! Lüge mich doch nicht an! Das war dein Adoptivvater!" Er zuckt zusammen. "Ich hab also recht?" Wut brandet in mir auf. "Wir fahren jetzt zur Polizeistelle und dann zeigen wir ihn an." Beschlossene Sache. Doch anscheinend nur für mich.

"Ich werde mit dir nirgends hinfahren, du beschissener Homo! Du willst mich doch nur irgendwo hin schleifen, wo du dich an mich ranmachen kannst!" Mir klappt der Unterkiefer nach unten. So ein kleiner ...

Sauer schnappe ich mir sein Handgelenk und ziehe ihn zu mir in den Flur. Die Haustür fliegt laut zu, als ich ihn gegen die Wand drängle. "Ich will dir doch nur helfen", zische ich und versuche ruhig zu bleiben, und ihn nebenbei auch irgendwie zu beruhigen, was schwer ist, so sauer, wie ich gerade bin.

"Helfen?! Leck mich! Das willst du doch. Gib's zu! Na los." Auffordernd, beinahe überheblich, blitzen mich seine Augen an. "Komm schon du Homo! Leck mich endlich." Was für ein störrisch-überheblicher Blick. Doch wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass er nur ein verängstigter und verletzter Junge ist. Aber nicht nur das. Da ist noch etwas anderes, etwas, das ich nicht greifen kann. Ich weiß nur, dass dieses etwas in mir auslöst, dass vielleicht besser versteckt geblieben wäre.

'Wie scharf er aussieht, in seinem Trotz und seiner Wut', denke ich noch, da knallt mir die Sicherung ganz raus. Ich kann es ganz genau hören. In meinem Hirn knallt es laut. Doch nicht nur dort. Ich umfasse Björns Kopf mit beiden Händen, vielleicht etwas zu fest angesichts seiner Verletzungen, aber das ist mir gerade total egal. Und dann tue ich was, das ich bei klarem Verstand niemals getan hätte. Ich küsse ihn.

Mit einem Mal ist meine ganze Wut verraucht. Ich schmecke metallisches Blut, salzige Tränen und spüre weiche Lippen gegen meine gepresst. Und es fühlt sich so gut, so richtig an. Ich merke, wie Björn unter meinem Griff erschaudert, mir für einen winzig kurzen Moment entgegenkommt, sogar richtig locker lässt, dann aber erstarrt und zu dem trotzigen Jungen wird, den ich kennengelernt habe. Sein Widerwillen macht sich bemerkbar und in mir kommt Scham auf. Was tue ich hier gerade?! Ich küsse einen Minderjährigen! Einen verletzten Minderjährigen!
 

Abrupt lasse ich ihn los. Mein Herz rast und Björn atmet schnell. Mit großen Augen schaut er zu mir auf. Was er gerade denkt, oder fühlt, kann ich nicht sagen. Und auch wie lange wir so dastehen und uns anstarren, weiß ich nicht. Vielleicht sind es Minuten, Stunden, doch wahrscheinlich sind es bloß wenige Sekunden, bis es ein zweites Mal knallt. Bis Björn mir eine knallt, um genau zu sein. Seine Handfläche trifft die linke Seite meines Gesichtes. "DU WIDERLICHER HOMO!", brüllt er mich an, schubst mich von sich und rennt mit seinem Skateboard unterm Arm davon.

Ich brauche einen kurzen Augenblick, um richtig zu begreifen, was da eben passiert ist. "Björn ... Björn!" Ich nehme die Beine in die Hand und renne ihm nach. Er will doch nicht wieder nach Hause? Zu seinem schlagenden Vater? Dorthin werde ich ihn auf keinen Fall mehr gehen lassen! "BJÖRN!" Weit komme ich nicht. Tore versperrt mir den Weg. "Lass mich! Ich muss ... BJÖRN!" Vergebens versuche ich meinem Nachbarn zu entkommen und rangle mit ihm, aber er hält mich unerbittlich fest.

"Lass ihn gehen, verdammt! Du machst die ganze Nachbarschaft scheu!" Er glaubt ja gar nicht wie egal mir die Nachbarschaft in diesem Moment ist! "Ralf! Beruhige dich. Er ist schon längst weg."

"Wo wohnt er?", schnauze ich ihn an. "WO?"

"Das werde ich dir jetzt ganz bestimmt nicht sagen", zischt er und verfrachtet mich in meine Wohnung. "Was war denn los, verflucht? Björns Geschrei hat man ja bis sonst wohin gehört!" Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und laufe unruhig im Flur auf und ab. "Ralf?"

"Wir haben uns geküsst!", bricht es aus mir heraus. "Ich hab ihn ... Einfach so!" Ich packe mir an die Stirn. "Was habe ich mir dabei bloß gedacht?!"

"Mal ganz ruhig. Du hast Björn geküsst? Wieso? Ich dachte, du empfindest nichts für ihn?"

"Tue ich doch auch gar nicht! ... Glaube ich." Oh Gott! Das ist eine Katastrophe! Schlimmer noch als die Sache mit Dillan oder Kris.

"Mensch, Mensch, Mensch", seufzt Tore und kratzt sich das Kinn. "Was machst du nur für Sachen?"

"Wenn ich das wüsste", antworte ich mit schwacher Stimme und sinke gegen die Wand. "Wenn ich das nur wüsste ..."
 

~Björn~

Meine Hände zittern, als ich den Schlüssel in meiner Zimmertür umdrehe. Dabei rutscht mir das Skateboard aus der Hand. Rückwärts laufe ich auf mein Bett zu und lasse mich drauf fallen. Er hat mich geküsst!

Mir ist kotzübel. Ich fühle mich wie erschlagen. Ich schäme mich. Aber nicht wegen dem Kuss. Ganz und gar nicht. Nein. Ich schäme mich für meinen Ausbruch danach. Wie konnte ich ihn so anbrüllen? Ihn beschimpfen und ihm außerdem noch eine Knallen? Was ist da nur in mich gefahren?

Ich berge mein Gesicht in den Händen, welches ich aber gleich wieder mit einem schmerzhaft zischenden Laut loslasse. Stimmt. Da war noch was. Schwankend komme ich wieder auf die Beine und schleiche ins Bad. Dort säubere ich mir das Gesicht und klebe mir ein behelfsmäßiges Pflaster auf die aufgeplatzte Haut meiner linken Wange. Das war ein Volltreffer.

Ganz wie vorausgesagt, hat mich mein Alter kurz und klein geprügelt, nachdem er wieder Zuhause war. Ich wollte mich wehren, wie so oft, konnte es aber nicht. In diesen Momenten bin ich wie ausgewechselt. Klein und jämmerlich. Danach bin ich abgehauen. Ich habe gar nicht darauf geachtet, wohin es mich verschlägt. Zufall, oder war es mein Unterbewusstsein, das mich ausgerechnet in die nächste Straße hat abbiegen lassen, in der Ralf wohnt? Keine Ahnung. Was auch immer es war, ich hab's verbockt und damit alles nur noch schlimmer gemacht.

Weshalb musste er mich aber auch unbedingt zu den Bullen schleifen wollen? Warum hat er mich nicht wie die beiden Male zuvor in sein Bad gesteckt und mich verarztet? Dann wäre jetzt alles gut. Ich wäre bei ihm, würde seine Berührungen über mich ergehen lassen, würde das Gefühl genießen, umsorgt zu werden, und gut is. Dafür bin ich in den Genuss etwas ganz anderem gekommen.

Ich betrachte mich im Spiegel und greife mir an die Lippen. Er hat mich geküsst. Ich spüre diesen Kuss noch immer. Der erste Kuss meines Lebens. Ja, lacht mich ruhig aus. Aber wer sollte mich auch schon küssen wollen? Ich, der Versager, der nie was auf die Reihe bekommt? Der Schulidiot. Der, der immer nur schlechte Noten schreibt und dessen Adoptivvater niemand im Dunkeln begegnen will? Mein Adoptivbruder und ich werden hauptsächlich deshalb von den anderen liebenswerten Bürgern unseres Städtchens gemieden. Weil mein Alter ein Tyrann ist. Nur Ralf ist nicht so.

Klar. Er ist erst hier her gezogen und kennt meinen Adoptivvater und seine Fäden ziehenden Machenschaften noch gar nicht. Aber trotzdem. Er hat sich Sorgen um mich gemacht. Wollte mir helfen, indem er mich zur Polizei bringen wollte. Und ich? Ich schreie ihn an, verpasse ihm eine Ohrfeige und haue ab. Dabei war der Kuss doch so ... "Björn?!" Ich zucke zusammen. Meine Adoptivmutter steht im Bad. "Ab mit dir! Ich will baden." Ohne sie anzusehen rausche ich aus dem Raum und schließe mich erneut in meinem Zimmer ein. Ich hasse dieses Haus!

Ich will hier raus. Ich will … zu ihm.
 

***
 

~Ralf~

Endlich kühlt es ab. Wie ruhig es Nachts ist in der Vorstadt ist. Nur die Grillen zirpen draußen. Mit offenem Fenster zu schlafen war kaum möglich in meiner alten Wohnung. Zu viel Lärm, zu viel Smog. Hier ist es schon viel angenehmer. 'Nicht alles ist angenehmer', denke ich bitter und drehe mich auf den Rücken. Jetzt ist an Schlaf vorerst nicht zu denken. Dabei musste ich seit bestimmt einer Minute nicht mehr an Björn denken.

Eigentlich brauche ich mir gar keine Gedanken mehr um ihn zu machen. Mit meiner Kuss-Aktion dürfte ich ihn erfolgreich vergrault haben. Er wird keinen Fuß mehr in meine Straße setzten. Dessen bin ich mir fast sicher. Ich sollte froh sein, bin es aber nicht. Ständig denke ich an diesen verdammten Kuss! Auch wenn er ihn nicht erwidert hat (höchstens ganz, ganz kurz, doch das kann ich mir auch nur eingebildet haben), war er unbeschreiblich. Wie muss es dann erst sein, wenn wir uns richtig küssen würden?

Über mich selbst sauer, werfe ich mich auf die Seite. Was denke ich da schon wieder?! Schluss damit jetzt! Das wird niemals passieren! Niemals! Und auch wenn es passieren würde, darf es nicht passieren. Nicht solange Björn noch minderjährig ist. 'Er ist fast achtzehn. Minderjährig ist er damit so gut wie kaum noch.' Klappe Hirn! Was mischst du dich da wieder ein? Denke lieber mal darüber nach, wie ich am besten einschlafen kann!

Es ist zum Verzweifeln. Erst Dillan, dann Kris und jetzt das! Womit habe ich das verdient? Ich will das nicht mehr, ich kann es nicht mehr und ich werde das auch nicht mehr hinnehmen! Mit der Nachdenkerei ist jetzt Schluss! Ich werde jetzt einschlafen und ab Morgen fängt für mich ein männerfreies Leben an. Keine Liebeleien, kein Sex und auch keine was-wäre-wenn-Grübelei mehr. Nichts! Nada! Niente! Nur ich. Ich, ich, ich und nochmals ich. Und das für eine lange Zeit. Das ist das Einzige, was ich zur Zeit brauche. Ab Morgen bin ich ein total selbstsüchtiger, egoistischer Mann! Jawohl!

Fest presse ich die Augenlider zusammen und zähle Schäfchen. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, sechzehn ... Halt! Vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebtze... Was war das? Irgendwas raschelt draußen. Vielleicht Waschbären. Gibt es hier welche? Oder vielleicht ein Igel. Ich mag Igel.

Ein Igel, der unter meinem Fenster herum raschelt, zwei Igel, die unter meinem Fenster herum rascheln, drei Igel, die ... Da ist es schon wieder! Das ist kein Igel. Dazu ist es zu laut. Oder es müsste ein ganz besonders fetter Igel sein. Plötzlich ein Klackern. Leise, aber ich habe es genau gehört. Als ob jemand an meinem Fensterrahmen ... "Ralf?" Da ist wer! "Bist du wach?" Und nicht irgendwer. Es ist Björn! "Ralf? Ich komme in dein Schlafzimmer, ja?" Warte mal … Er will was?!
 

******
 

Fies hier zu enden, was? Aber um euch die Zeit bis zum nächsten Kapitel zu verkürzen, könnt ihr ja die fetten Igel unter Ralfs Schlafzimmerfenster zählen.

Ein fetter Igel unter Ralfs Schlafzimmerfenster. Zwei fette Igel unter Ralfs Schlafzimmerfenster. Drei noch fettere Igel … Mal sehen, auf wie viele Igel ihr bis dahin kommt. *gg*

Kapitel 06 - Nichts als die Wahrheit

Kapitel 06 - Nichts als die Wahrheit
 

~Björn~

Um in Ralfs Schlafzimmer einzusteigen braucht es nicht viel Geschick. Dafür aber Mut. Mut, und dem widerstehen des Drangs, wieder ganz schnell von hier abzuhauen.

Schon bevor ich direkt vor seinem Fenster gestanden habe, konnte ich sehen, dass Ralf im Bett liegt. Allein. Was mich sehr beruhigt hat. Nicht auszudenken, wenn Tore bei ihm gewesen wäre. Ich habe ihn eine Zeit lang beobachtet. Habe ihm zugeschaut, wie er sich unruhig im Bett herum gewälzt hat. Also ergeht es ihm genauso wie mir. Ich konnte auch nicht einschlafen und bin zu dem Entschluss gekommen, mich noch heute Nacht bei Ralf für mein Verhalten zu entschuldigen. Anders finde ich keine Ruhe und ich will es aus der Welt schaffen, ehe Ralf so richtig sauer auf mich wird.

Ich schlage mich durch das dünn bewachsene Gebüsch und lege meine Hände auf den Fensterrahmen. Jedoch traue ich mich nicht, hier einfach hineinzuklettern. "Ralf? ... Bist du wach?" Ich weiß, dass er noch wach ist. Er regt sich, sagt aber nichts. "Ralf? Ich komme in dein Schlafzimmer, ja?" Ich stoße mich vom Boden ab und schwinge mich über den Fenstersims nach innen. Im Schlafzimmer gelandet, bleibe ich unschlüssig an Ort und Stelle stehen.

Endlich setzt sich Ralf auf, lässt das Licht jedoch aus. "Björn? Was suchst du hier?"

"Tut mir leid für mein Eindrin... für meinen Einbruch, aber ich muss mit dir reden. Ganz dringend." Unruhig knete ich mir die Finger wund. "Darf ich mich zu dir setzen?"

"Warum? Um mich von dir Pimpf wieder als widerlicher Homo betiteln zu lassen?" Das hat gesessen. Verdient habe ich es alle mal.

"Nein. Ich wollte mich für mein Verhalten vorhin entschuldigen. Es war falsch von mir. Ich habe überreagiert."

Ralf sieht mich an. Sehr lange. Jedenfalls kommt es mir so vor, als könne ich seine Blicke auf mir spüren. Plötzlich seufzt er und fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. "Schön zu hören", brummt er. "Und wieso der plötzliche Sinneswandel?"

"Darf ich?" Ich zeige auf sein Bett. Er nickt. Vorsichtig setzte ich mich an den Rand der Matratze und starre gerade aus. Schaue den Büschen zu, wie sie in der seichten nächtlichen Brise hin und her schaukeln, während Ralf noch immer hinter mir liegt. "Ich habe mich erschrocken. Das war alles. Ich wusste nicht, wie ich reagieren soll, deshalb ..."

"Deshalb hast du das getan, was jeder tun würde, wenn ein Kerl ihn küsst. Ihn angebrüllt und geschlagen." Zögernd drehe ich meinen Kopf zu Ralf. Er hat sich inzwischen auf die Decke gesetzt und trägt bloß eine Boxershort. Er ist richtig gut in Form. Das sehe ich auch in dem wenigen Licht hier drinnen. "Björn?" Schnell schaue ich wieder aus dem Fenster. Ralf seufzt erneut und schwingt die Beine aus dem Bett. Mit klopfenden Herzen sehe ich im Augenwinkel, wie er sich neben mich setzt. "Sag mir endlich die Wahrheit."

"Die Wahrheit? Ich hab dir die Wahrheit gesagt!"

"Die ganze Wahrheit", fügt er an.

"Was meinst du?", frage ich ängstlich. Ich kann mir schon denken, was er meint. Ich wünschte aber, ich würde mich irren.

"Ich bin nicht blind, Björn. Und auch kein gefühlloser Ochse." Ich kralle meine Finger in die Bettdecke unter meinen Händen. "Wenn dich der Kuss angeekelt hätte, wenn du ... auf Mädchen stehen würdest, dann säßest du jetzt ganz sicher nicht bei mir. Im Dunkeln auf meinem Bett." Mein Herz klopft immer schneller. Ich fühle mich ertappt und nackt. Schutzlos.

Soll ich ihm alles erzählen? Kann ich ihm vertrauen?
 

~Ralf~

Es ist gewagt. Ich weiß. Aber sein Blick eben ... Ich bin mir sicher, dass da mehr ist, als er zugeben mag. Das er hier ist, um sich bei mir zu entschuldigen, sagt eigentlich schon alles. Wie ich schlussendlich damit umgehen werde, das weiß ich noch nicht.

"Was willst du hören? Alles? Von Anfang an?"

"Wenn du es mir erzählen möchtest, dann ja. Gerne." Um ihn aufzumuntern, greife ich seine Hand, die sich in meine Zudecke gekrallt hat. Ein gewagtes Manöver, denn ich kann Björn noch immer nicht richtig einschätzen. Doch er lässt es zu, dass ich seine verkrampften Finger löse und beruhigend über seinen Handrücken streichle.

"Meine Eltern und meine kleine Schwester kamen bei einem Unfall ums Leben. Das war vor sieben, fast acht Jahren." Das Selbe hat mir Tore erzählt. "Ich hätte damals mit im Auto sitzen sollen, aber ich wollte nicht. Ich habe gebrüllt und mich dagegen gewehrt in das Auto zu steigen. Ich wollte lieber Fernsehen gucken." Björn lacht freudlos auf. "Sie haben mich dann einfach Zuhause gelassen und ich saß glücklich vorm Fernseher während sie ..." Ich drücke seine Hand fester. "Ich hätte mit ihnen sterben sollen. Dafür werde ich jetzt bestraft." In mir zieht sich alles zusammen. Das denkt er wirklich?

"Sag so etwas nicht und denke es noch nicht mal. Es war gut, dass du nicht in diesen Wagen gestiegen bist."

"Gut?! Was war daran gut?", braust Björn auf und dreht sein wütendes Gesicht zu mir. "Ich habe meine Eltern angebrüllt! Kurz bevor sie gestorben sind! Meine kleine Schwester hat deswegen geweint! Ich hätte mit ihnen sterben sollen! Ich hätte in dieses verflixte Auto ...!" Ich schlinge meine Arme um Björns bebenden Körper und presse ihn an mich. Kein Widerstand. Er lässt sich gegen mich fallen und kämpft mit sich. "Ich bin schuld", schluchzt er. "Ich habe es verdient, dass mein Leben so scheiße ist."

"Das hast du nicht", wiederhole ich und wünsche mir, dass er mir diesmal glaubt.

"Hätte ich sie nicht angeschrien, wäre mein Vater sicher aufmerksamer gefahren. Bestimmt hat er sich noch aufgeregt über mich."

"Das weißt du nicht."

"Doch! Dann hätte mein Vater besser aufgepasst und hätte vielleicht noch bremsen können, als dieser beschissene Hirsch auf die Straße gesprungen ist." Ein Hirsch ... So ist das also passiert.

"Manchmal kann man nicht mehr bremsen. Auch wenn man konzentriert und aufmerksam fährt." Mir selbst war schon mal ein Wildschwein vor die Karre gerast. Ich habe es zwar bloß angefahren, aber mein Kühler ist danach Schrott gewesen. "Und der Autofahrer, dem du beinahe reingerasselt wärst, hätte auch nicht mehr bremsen können. Er hat es versucht, aber er hat trotzdem dein Skateboard erwischt."
 

Björn sagt nichts mehr dazu, klammert sich weiterhin an mich, versucht wieder zu Atem kommen und sich zu beruhigen. Erst als er das geschafft hat, spricht er leise weiter. "Sie haben mich in ein Heim gesteckt, nachdem mich Abends die Polizei mitgenommen hat. Die ganze Story muss sich wie ein Lauffeuer in unserem Ort verbreitet haben. Keine Woche später landete ich bei meinen jetzigen Adoptiveltern. Sie haben mich von Anfang an nur benutzt."

Ich runzle die Stirn. "Wie meinst du das?"

"Mein Alter kandidierte zu der Zeit als Bürgermeister. Da kam ich ihm gerade recht." Mich überläuft es eiskalt. Was ist das nur für ein Schwein? "Geholfen hat es ihm nicht, dafür ist er seit Jahren ein hohes Tier im Stadtrat. Man kann eben nicht jeden bestechen."

"Hat er wirklich so viel Einfluss?" Ich kann es mir noch immer nicht so recht vorstellen, dass alle nach der Pfeife dieses Wiederdings tanzen.

"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er viele Leute hinter sich stehen hat", murmelt Björn noch, dann wird er ganz still. Nur die Grillen zirpen fleißig draußen vor sich hin. Fast glaube ich schon, Björn sei in meinen Armen eingeschlafen, doch dann regt er sich und setzt sich auf. "Ich geh dann mal besser", wispert er mit kratziger Stimme.

"Du musst nicht gehen." Björn schaut mich teils verwundert, teils hoffnungsvoll an. "Bleib hier."

"Das kann ich nicht annehmen." Er ringt sichtlich mit sich. Ich kann ihm richtig ansehen, dass er gern auf mein Angebot eingehen würde.

"Doch, das kannst du. Ich würde mich dabei viel besser fühlen, wenn ich wüsste, dass du nicht bei deinem Adoptivvater bist." Er kaut sich auf der Unterlippe herum, nickt schließlich und steht auf.

Rasch hat er sich bis auf Shirt und Unterhose ausgezogen und krabbelt unter meine Decke. Das lässt mich lächeln. "Sehr mutig von dir, sich in das Bett eines 'Homos' zu legen", schmunzle ich nicht ohne Hintergedanken. Er soll nicht mehr an die Vergangenheit denken. Ich glaube, das hat er schon viel zu lange und zu oft getan. Irgendwann muss man geradeaus blicken. Das weiß ich wahrscheinlich am besten.

"Bevor ich vor dir Angst habe, habe ich eher Angst vor den Grillen da draußen." Mein Plan scheint aufzugehen. Nun hört er sich wieder wie ganz der alte, freche Björn an.

"Wirklich? Ich könnte schließlich im Traum über dich herfallen."

"Würdest du nicht."

"Was macht dich da so sicher?"

"Versuchs und ich breche dir die Nase." Lachend lege ich mich neben ihn. Er ist ein ganz schönes Früchtchen! "Ralf?"

"Hm?"

"Du wolltest die ganze Geschichte hören, nicht wahr?"

"Sie ist noch nicht vorbei?", frage ich nach. Irgendwie habe ich mir schon gedacht, dass da noch was ist. Und wenn ich raten müsste, wüsste ich auch schon, was er mir noch zu 'beichten' hat.

"Nicht ganz", flüstert er und dreht sich zu mir herum. Seine Augen spiegeln das schwache Licht von draußen wieder. "Vor einiger Zeit da ist mir was aufgefallen."

"Und was?"

"Ich war mit Domi, meinem besten Freund Campen. Und da ..."

"Verstehe", brumme ich. Wusste ich es doch! Er soll mir den Rest ersparen. Ich will nichts davon hören, wie er mit seinem besten Freund rumgemacht hat.

"Tust du das?"

"Ich denke. ... Deine Reaktionen auf mich haben mir schon alles verraten." Jetzt bin ich mir vollkommen sicher! Björn kann nicht damit umgehen, dass er auf Männer steht. Er muss erst lernen, damit klar zu kommen, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sicher nicht leicht, bei so einem Vater.

Björn setzt sich auf, wobei ihm die Decke bis zu den Hüften rutscht. Nicht hinsehen! "Und was hat sie dir verraten?", fragt er mich leise. Nun hat er wieder seinen typischen Ton drauf. Leicht angesäuert und einen Hauch arrogant. Wie habe ich das vermisst!

"Du hast gemerkt, dass es dir ganz kribbelig wird, wenn du bei deinen Freund bist und du ..."

"Nein!", unterbricht er mich rüde. "Also nicht ganz." Ich runzle die Stirn. Keine Ahnung, ob er es sieht. "Domi ist ein gut aussehender Junge, weißt du? Er hat eine Freundin, ist bei allen beliebt und trotzdem bin ich sein bester Freund. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr, auch wenn wir uns oft zanken." Was sich liebt, das neckt sich, oder wie war das noch mal? "Als ich Domi dann sah, im Mondlicht, seine Bauchmuskeln und die weiche Haut ..." Björn schluckt und sieht mich an. Ich weiß, was jetzt kommt. Hören sich alle 'Aha-Erlebnisse' nicht gleich an? "Ich stehe nicht auf Domi. Er zieht mich nicht an, aber in diesem Augenblick ist mir aufgefallen, dass ich auch Jungs anziehend finde."

"Auch?" Ich widerstehe dem Drang mich ebenfalls aufzusetzen.

"Ja, auch. Ich mag auch Mädchen, so ist das nicht." Es ist ja doch ganz anders, als ich dachte.

"Dann bist du bi?"

"Ich denke ja."

"Du denkst?" Jetzt setze ich mich doch auf. Ich muss Björn direkt in die Augen schauen.

"Ich könnte es mir vorstellen, es mit einem Mann zu tun. Ich hatte auch schon Träume ..." Beschämt schaut er weg.

"Besser bi als nie, was?", lache ich, um ihm seine Befangenheit zu nehmen.

Klappt aber nicht. "Das ist nicht lustig!"

"So meinte ich das doch auch gar nicht", winke ich ab.

"Tzäh! Besser bi, als homo!" Na also, sag mal ...! Ich wäre jetzt echt stinkig, würde Björn nicht leise kichern. "Habe ich dich wieder beleidigt?"

"Fast", gebe ich zu.

"Shit! Und ich dachte, das hätte gesessen." Hat man dazu noch Worte?
 

***
 

~Björn~

Für 'nen Kerl hat der echt lange Wimpern. Seine Nase macht einen leichten seitlichen Bogen, als ob sie schon mal gebrochen gewesen wäre. Doch man sieht es kaum. Es steht ihm sogar irgendwie. Und seine Lippen ... Diese Lippen, die sich so toll angefühlt haben auf meinen. Sie sind ganz rosig und sehen total weich aus. Sein Dreitagebart ist mittlerweile eher ein Fünftagebart. Aber es steht ihm ebenso wie die leicht gebogene Nase. Die kleinen Stoppeln sind nicht blond, wie seine Haare. In der Morgensonne schimmern sie rötlich. Sicher hat Ralf auch rote Haare unter seinen blonden versteckt. Vorsichtig gehe ich meiner Vermutung nach und sehe sie binnen Sekunden bestätigt. Unter seinem dunkelblonden Deckhaar schimmern sie ebenfalls so rot wie seine Bartstoppeln.

Es ist lustig, vor ihm wach zu sein. Und auch schön. So kann ich ihn ganz ungeniert anstarren und einer näheren Begutachtung unterziehen. Ganz zaghaft lüpfe ich die Decke. Kräftiger Oberkörper und weiter unten glitzern feine Härchen unterm Bauchnabel hervor. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Wie bei Domi zuvor, spüre ich das Verlangen danach, die Haut dort anzufassen. Die Festen Muskeln darunter zu befühlen und die Festigkeit zu genießen. Nur ist dieses Verlangen ist diesmal viel stärker als zuvor bei Domi.

Ob ich es tun soll? Ihn anfassen und über seine Haut zu wandern? Was, wenn er dabei wach wird? 'Und wenn schon? Er wird dich sicher nicht aus dem Bett schmeißen.' Woher die Gewissheit darüber kommt, kann ich nicht sagen, aber ich werde auf Nummer sichergehen.

Deshalb schließe ich die Augen und rutsche vorsichtig näher an ihn ran. Ich tue so, als würde ich noch schlafen, schiebe meinen Arm über seinen Bauch und halte die Luft an. Ralf rührt sich nicht. Ich werde mutiger und kreise mit der Handfläche über die herrlich warme Haut. Es fühlt sich sogar noch besser an als gedacht! Wie sagte er letzte Nacht noch gleich? Ich hätte bei Domi gemerkt, dass ich ganz kribbelig werde? Nun, bei Domi hatte ich das nicht gemerkt. Ich war höchstens aufgeregt und besorgt, er könnte mein Tun bemerken, was er ja auch hat. Jetzt aber spüre ich dieses Kribbeln in mir.

Es tobt wie bescheuert in meinem Bauch und auch mein Herz scheint davon angesteckt worden zu sein. Wie eine Sommergrippe, bei der man im Bett liegt, Herzrasen hat, und es einem ganz flau im Magen wird. Ich kann nicht anders und schiebe mich noch näher an Ralf, bis ich halb auf ihn liege, meine Nase gegen seinen Oberarm drücke und seinen Duft einsauge. Gott! Am liebsten würde ich jetzt da hineinbeißen, die salzige Haut dort schmecken und an ihr saugen!

Vielleicht hätte ich das auch getan, würde Ralf sich nicht gerade knurrend auf die Seite drehen. Mir zugewandt bleibt er liegen und schlingt einen Arm um mich. Fest gegen seine Brust gepinnt, registriere ich erst jetzt, in was für eine Lage ich mich mal wieder manövriert habe. 'Na toll! Und jetzt?' Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als so liegen zu bleiben, bis Ralf sich wieder umbettet. Derweil kann ich meine Position ja ausnutzen und seinen Rücken erforschen. Hi hi!
 

Null Plan, wie spät es eigentlich ist, aber ich muss wieder eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, ist das Bett, bis auf mir, leer. Es duftet allerdings unheimlich gut nach Kaffee und ... erschnuppere ich da etwa Waffeln?!

So schnell wie jetzt, bin ich schon lange nicht mehr aus dem Bett gesprungen. Schlingernd komme ich in der Küche an, wo Ralf herumwerkelt und siehe da! "Waffeln!" Mir kullern fast die Augen raus. Die hatte ich ja ewig nicht mehr!

"Morgen. ... Und? Gut geschlafen neben dem 'Homo'?" Wer reitet jetzt auf dem Thema rum? Wehe er sagt noch mal was dazu, wenn ich ihn so nenne!

"Sehr gut sogar!", frohlocke ich und stibitze mir ein Eck von einer der schon fertigen Waffeln.

"Ich habe es gemerkt." Er lacht leise, während eine Kelle voll Waffelteig im Waffeleisen landet.

"Wie meinst du das?", frage ich ihn kauend.

"Hm ... Wie sage ich es am besten?" Ralf kneift die Augen zusammen und glotzt nachdenklich gegen die Küchendecke. Ich folge seinem Blick, doch da hängt nichts, dass ihm beim Denken weiterhelfen könnte. "So ruppig und gehässig du tagsüber bist, so anschmiegsam und verschmust bist du nachts."

Ich schlucke die restliche Waffel hinunter. "Du hast sie ja nicht mehr alle!" Eingeschnappt grapsche ich mir gleich zwei der leckeren Waffeln und trolle mich zum Küchentisch. Dann hat er es doch bemerkt. Fuck!

"Jetzt schmoll nicht. Ist doch okay." Okay?! "Frisst du die gleich so, oder darf ich dir noch Puderzucker oben drauf streuen?"

"Buddersugger", schmatze ich, was ihn zum Lachen bringt. Hm ... Das ist sogar noch viel schöner, als ihn auf Hundertachtzig zu bringen. Und wieder stellt sich bei mir dieses Bauchkribbeln ein. "Du Ralf?", frage ich ihn, nachdem ich runtergeschluckt habe."

"Was denn?"

"Was meintest du eigentlich gestern Nacht damit, ich hätte ein Kribbeln gespürt bei Domi?"

Überrascht sieht er mich an und zupft die nächste Waffel aus dem Eisen. "Na ja. Ich dachte, du hättest dich in ihn verliebt."

"Verliebt?! Ich?! In Domi?!"

"Wäre das so abwegig?", fragt er mich und setzt sich zu mir an den Tisch.

"Klar! Ich bin nicht in ihn verliebt! Ich bin ..." Mir fällt fast die Waffel aus der Hand. "Ich WAR noch nie wirklich in jemanden verliebt."

"Dann entschuldige ich mich für diese Vermutung. War ja nur so ein Gedanke."

"Schon gut." Ich starre auf den Teller mit den verdammt leckeren Waffeln nieder. Mit einem Mal ist mir der Appetit darauf vergangen, denn plötzlich weiß ich, was das Bauchkribbeln und dieses ungesunde, schnelle Herzschlagen zu bedeuten hat. Wie konnte ich nur so blind sein nachdem ich mir gestern so viele Gedanken darum gemacht habe? Ich bin tatsächlich in Ralf verliebt! Es führt kein Weg daran vorbei. Oder eher: Der Weg bringt mich immer wieder zu ihm.

"Schmecken sie dir? Ich habe richtige Vanille dran gemacht."

"Ja, sie sind lecker." Ralf lächelt mich an, zupft sich ein Eck Waffel ab und steckt sie sich in den Mund. Er hat sich heute Morgen rasiert. Das fällt mir eben erst auf. Ebenso seine braunen Augen. Wie sie mich fixieren und ansehen ...

Ich blinzle und schaue schnell wieder auf meinen Teller. Fuck! Fuck, Fuck, Fuck! Was mache ich denn jetzt? In so einer Situation war ich noch nie. Keine Ahnung, was man tut, wenn man in so einer Lage ist. Shit!
 

~Ralf~

Ich könnte mich totlachen! Wie zerknittert Björn morgens aussieht. Na ja. Ich springe auch nicht taufrisch und wie aus dem Ei gepellt aus dem Bett, doch bei Björn sieht das richtig niedlich aus. Wie er noch immer ein bisschen Schlaf in den Augen hat. In seinen blauen Augen. Und die schwarzen Haare, die ihm in die Stirn hängen. Wie er sich kleine Stückchen von der Waffel reißt und sie sich zum Mund führt. Seinem weichen süßen Mund. Bestimmt schmeckt er jetzt nach Vanille und Zucker ...

Ahh, was denke ich denn da wieder! Hatte ich mir gestern Abend nicht etwas geschworen? Keine Gedanken mehr an so was! Nicht jetzt und auch nicht in den nächsten Monaten! Oder besser noch: Nicht in den nächsten Jahren! Liebe ade! Willkommen sorgenfreies, einfaches und gemütliches Leben ohne Rumgrübelleien und ohne einem gebrochenen Herzen!

"Weißt du eigentlich schon was du machen willst, wenn du achtzehn bist?", frage ich ihn ganz belanglos, um auf andere Gedanken zu kommen und schenke mir Kaffee ein.

"Ich werde mir irgendwo einen Job suchen. Dann sehe ich weiter."

"Und solange bleibst du noch bei deinen Adoptiveltern wohnen?"

"Nee!" Björn schüttelt heftig den Kopf. "Nach gestern ganz sicher nicht mehr. So lange halte ich es da nicht mehr aus."

"Schon einen Plan wo du wohnst?" Er kann doch nicht einfach kopflos und ohne Plan von Zuhause abhauen.

"Domi würde mich für ein paar Nächte aufnehmen. Wenn ich Glück habe, solange, bis ich achtzehn bin. Derweil werde ich schon etwas anderes finden." Macht der Witze? Wie will er denn eine Wohnung finden ohne Job? Auch mit ist es schwer genug. Allein meiner Firma habe ich es zu verdanken, dass ich so schnell eine freie Wohnung bekommen habe. Sonst würde ich wahrscheinlich heute noch suchen.

Da sieht man mal wieder, dass Björn im Grunde noch ein kleiner Junge ist, der keine Ahnung vom Leben hat. "Und du meinst, du schaffst das?", frage ich ihn bemüht darum, meine Stimme neutral klingen zu lassen.

"Natürlich schaffe ich das!", braust er auf. Jetzt ist er doch aufgebracht.

Na schön. Dann macht es den Bock auch nicht fett, wenn ich weiter nachbohre. "Hast du wenigstens eine Ausbildung?"

"Nein", murmelt er sichtlich beschämt.

"Und was machst du gerade? Zuhause herumsitzen?" Den letzten Satz hätte ich besser weglassen sollen.

"Es sind Ferien! Vergessen?"

"Habe ich nicht", erwidere ich. "Dann gehst du noch zur Schule?"

"Ja ... Da ich noch nicht Volljährig bin, haben die mich in eine Berufsschulklasse gesteckt. Aber wenn ich achtzehn bin, sehen die mich da nie wieder."

"Darf ich dich noch fragen, was du für einen Schulabschluss hast?"

Genervt lässt Björn den Rest der Waffel auf den Teller fallen und lehnt sich zurück. Die Stuhllehne knarrt dabei, so fest knallt er dagegen. "Hauptschule. Bin gerade so durchgekommen", mault er und steht auf. "Muss mal pissen." Weg ist er.

"Uff." So leid es mir tut, aber damit wird er keinen großen Stich landen. Das heißt, wenn ihm niemand hilft, dann sitzt er in ein paar Wochen auf der Straße. Es sei denn ...
 

Die Badezimmertür knallt zu und Björn stapft zurück an seinen Platz. "Noch weitere Fragen über meine ruhmreiche Laufbahn als Versager?" Herausfordernd starrt er mich an. Doch ich sehe ihm an, dass eine große Menge Enttäuschung und auch Angst in seinen Augen steht.

"Hast du einen Berufswunsch?", möchte ich von ihm wissen und stehe auf, um Waffelnachschub zu holen.

"Einen Berufswunsch? Was soll mir das bringen? Mich nimmt eh keiner in meinem Traumberuf."

"Also hast du einen?", harke ich weiter nach.

"Früher mal", gibt er leise zu. "Da lebte meine Familie noch." Wieder ein schwieriges Thema, wie mir scheint.

Ich setze mich an den Tisch, stelle den wieder gefüllten Teller in die Mitte und warte ab. Björn greift sich noch eine Waffel und trinkt dann einen Schluck Kaffee. "Meine Mutter hat in der Stadt als Goldschmiedin gearbeitet. Früher war ich oft nach der Schule bei ihr, weil der Laden indem sie gearbeitet hat, nur zwei Querstraßen von meiner Schule entfernt liegt. Ich habe ihr oft dabei zugeschaut, wie sie kleine Anhänger oder Ringe gefertigt hat." Er greift sich an den Hals, an dem er eine kleine dünne Silberkette trägt. "Das hier habe ich mal gemacht. Es sollte ein Dinosaurier werden, aber man erkennt ihn kaum." Ich kneife die Augen zusammen und fixiere den kleinen, silbernen Anhänger. Mit viel Fantasie kann man erahnen, was das Motiv darstellen soll. "Sie hat ihn mit mir zusammen gemacht. Es war total katastrophal, aber auch lustig. Damals wollte ich genau das machen. Ich wollte Goldschmied werden." Sorgfältig verstaut Björn den Anhänger wieder unter seinem Shirt.

"Ist das immer noch dein Wunsch?"

Freudlos lacht Björn auf. "Ist das nicht egal? Mit meinem Notendurchschnitt und meinem Ruf nimmt mich sowieso niemand als Lehrling. Ich könnte ja den Juwelier ausrauben."

"Das weißt du nicht, wenn du es nicht einfach wagst."

"Du schwingst gern große Reden, was?" Ich bleibe ihm eine Antwort schuldig und krame stattdessen mein Handy hervor.

"Gibt es den Juwelier noch, indem deine Mutter gearbeitet hat?"

"Ja ... Was hast du vor?"

"Seine Nummer heraussuchen und dann rufst du da an und bittest um ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum. Und wer weiß? Vielleicht erinnert sich der Inhaber ja noch an dich." Ich bin guter Dinge und finde meine Idee ziemlich gut. Leider findet das Björn wohl nicht.

"Ich ruf da doch nicht an!", zetert er mich an und tippt sich mit dem Zeigefinder an die Stirn. "Da mache ich mich doch zum Vollaffen!"

"Quatsch! Fragen kostet nichts und meist sind kleine Läden immer froh darüber, einen Praktikanten für Lau einzustellen."

"Für Lau? Du meinst, ich würde dafür noch nicht mal Kohle bekommen?" Ich bin ehrlich erschüttert über diese Frage.

Ich vergesse kurz die Suche nach dem Jubiliere und seiner Telefonnummer und schaue Björn ernst an. "Das Praktikum soll dafür sorgen, dass du dich beweisen kannst. Vielleicht springt dabei sogar eine Ausbildungsstelle raus. Was zählt es da schon, dass man zu Anfang keine Kohle bekommt?"

Björn senkt den Kopf. "Wenn der mein Abschlusszeugnis sieht, schmeißt der mich sowieso hochkant raus."

Ich seufze auf und lege das Handy beiseite. "Versuch es wenigstens. Was hast du zu verlieren?" Björn zuckt mit den Schultern. Gut. Dann eben anders. "Wir frühstücken jetzt fertig, dann fahre ich dich da hin. Sich persönlich vorzustellen macht immer mehr Eindruck." Den verdatterten Gesichtsausdruck meines kleinen Plagegeistes ignoriere ich einfach mal. Ein Tritt in seinem Hintern tut ihm mal ganz gut. "Noch etwas Puderzucker auf deine Waffel?"
 

******

Kapitel 07 - Versuch macht Klug

Kapitel 07 - Versuch macht Klug
 

~Björn~

"Das kratzt!"

"Das überstehst du schon."

"Aber ich bekomme keine Luft mehr in dem Teil!" Verzweifelt zerre ich an diesem verfluchten Kragen, der mir den Hals wund scheuert und mir die Luft zum Atmen nimmt. Warum habe ich mir dieses Hemd nur aufschwatzen lassen?

"Kann es sein, dass du nervös bist und bloß eine Ausrede suchst, da jetzt nicht reinzugehen?" Dummer Homo! Ralfs Hand landet auf meinem Oberschenkel. Mein Puls beschleunigt sich und der kratzende und enge Kragen ist für einige Momente vergessen. "Hey, das bekommst du hin. Du kennst den Inhaber doch."

Ich versuche nicht an die warme Hand auf meinem Bein zu denken und schaue rüber zu Ralf, der neben mir auf dem Fahrersitz hockt. "Das ist doch schon Jahre her. Er erinnert sich bestimmt gar nicht mehr an mich."

"Glaube ich nicht", meint Ralf und hat dabei diesen dusseligen altklugen Gesichtsausdruck drauf. "Dich kann man gar nicht mehr vergessen. Das weiß ich besser als jeder andere." Wumm, wumm, wumm. Mein Herz durchbricht bald meine Brust.

"Wenn du meinst", nicke ich einfach, weil mir partout kein geeigneter Spruch dazu einfallen will, und öffne die Autotür.

"Viel Glück!", ruft mir Ralf noch nach, ehe ich die Tür wieder hinter mir zuschmeiße. Wenn der Chef erfährt, wie ich in der Schule war, dann brauche ich kein Glück mehr, sondern ein Wunder. Und zwar ein ganz dickes!

Nervös laufe ich auf die Ladentür, die ich noch so verdammt gut kenne, zu und male mir jede mögliche Situation aus, die passieren könnte. Jede einzelne davon ist nicht gerade erbaulich. Am besten, ich denke nicht weiter nach, sondern bringe es einfach hinter mich. Ralf zuliebe. Jeder andere, der mir das hier vorgeschlagen hätte, hätte ich sofort unangespitzt in den Boden gerammt. Es tut mir jetzt schon leid, dass ich ihn enttäuschen muss, aber mal ehrlich: Wer nimmt mich schon? Und sei es auch nur als unbezahlte Hilfskraft.

Noch einmal atme ich tief durch und lege meine Hand auf die Türklinke. Wie oft hatte ich die schon in der Hand? Unzählige Male, doch noch niemals war ich dabei so nervös wie heute. Als ich eintrete, versetzt mich die Türglocke über mir in alte Zeiten zurück. Ich muss mich arg zusammennehmen. Das Gesicht meiner Mutter taucht vor meinem inneren Auge auf, wie sie mich immer angelächelt hat, wenn ich nach der Schule hier hinein gerannt kam. 'Hallo Liebling. Na? Was habt ihr denn heute alles gelernt?'

"Guten Morgen. Kann ich Ihnen weiterhelfen?" Neben mir taucht ein älterer, ergrauter Mann auf. Ich erkenne ihn auf Anhieb wieder. Das ist der ehemalige Chef meiner Mutter.

"Guten Morgen. Mein Name ist Björn Nes... Kollemann." Fast hätte ich mich mit dem Nachnamen meiner verhassten Alten vorgestellt. Sobald ich achtzehn bin, nehme ich meinen richtigen Namen wieder an! "Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht ..."

"Kollemann?" Der alte Herr beginnt zu strahlen. "Du bist Ritas Sohn! Der kleine Björn!" Er weiß doch noch wer ich bin. Gut, dass ich mich richtig vorgestellt habe.

"Ja, der bin ich", antworte ich ihm.

"Ah wie schön dich mal wieder zu sehen! Wie geht es dir?"

"Ganz gut", lüge ich und lächle Herrn Friesmann, so heißt der Juwelier, an.

"Schön zu hören! Was führt dich zu mir?"

"Ähm … Ich wollte Sie etwas fragen."

"Es ist also geschäftlich?", schmunzelt er.

Ich nicke. "So ungefähr."

"Na dann komm mal mit nach hinten. Dort ist es ruhiger." Er klopft mir auf die Schulter und zieht mich mit sich nach hinten in die Werkstatt. Dort sitzen drei Leute, zwei Frauen und ein Mann, die gerade an kleinen Schmuckstücken arbeiten. Dort hinten, an dem Tisch in der Ecke, da saß immer meine Mutter ...

Wir betreten einen kleinen Seitenraum. Das ist das Büro, wenn ich mich recht erinnere. "Setz dich doch."

"Danke." Ich fasse neuen Mut. Vielleicht hat Ralf ja recht gehabt und fragen kostet nichts. Aber wie fange ich an? "Ich werde bald achtzehn und ..."

"Achtzehn? Wie die Zeit vergeht!" Herr Friesmann setzt sich mir gegenüber an seinen Schreibtisch.

"Ja, die vergeht ziemlich schnell." Mal mehr, mal weniger schnell.

"Acht Jahre sind es jetzt her, nicht wahr?" Ich weiß was er damit meint. Deshalb nicke ich. "Es war so furchtbar. Deine Mutter war so eine liebe und fürsorgliche Frau."

"Ja, das war sie."

"Wohnst du noch hier?"

"Ja. Sogar noch im selben Stadtteil."

"Ach wie schön!" Wirklich schön. Wenn er wüsste, wie schön das ist.

"Weshalb ich hier bin", versuche ich erneut Herrn Friesmann mein Anliegen zu erklären. "Ich wollte fragen, ob ich vielleicht ein Praktikum bei Ihnen machen könnte." Gleich mit der Tür ins Haus fallen. Supi Björn!

"Ein Praktikum?" Ich bejahe und lächle den ehemaligen Chef meiner Mutter an. "Eigentlich spricht nichts dagegen, aber ..." Aber? Ich wusste es! Es gibt immer ein aber! "Bist du nicht schon etwas zu alt, um nur ein Praktikum zu machen?" Ich senke den Kopf. So musste es ja kommen! "Möchtest du nur mal in den Beruf schnuppern, oder ...?"

"Ich suche eine Ausbildungsstelle", unterbreche ich Herrn Friesmann. Supi Björn! Zum zweiten Mal schlitterst du auf die Kacke zu.

"Ach so ist das! Du lernst noch."

"Nicht so ganz ..."

"Welchen Abschluss hast du denn?" Und da kommt schon die Frage, die unausweichlich mein Leben ruiniert.

"Hauptschule", flüstere ich und kann Herrn Friesmann nicht mehr in die Augen blicken.

"Hauptschule? Ja aber wie ...? Früher warst du doch immer so ein fleißiger Junge! Deine Mutter hat immer in den höchsten Tönen von dir ... Ach so. Ich verstehe." Hä? "Der Unfall." Perplex schaue ich nun doch wieder auf und sehe Herrn Friesmann heftig nicken, als müsse er sich seine eigenen Gedanken bestätigen. "So was kann einen ganz schön aus der Bahn werfen. Wir waren selbst alle ganz geschockt von dem Tod deiner Familie." Ich atme tief ein und aus. Meine Augen fangen an zu brennen. "Wann möchtest du denn mit dem Praktikum anfangen?"

"Bitte?"

"Wäre dir schon am Montag recht?"

"Ähm ... Ja. Ja, natürlich!" Ich darf wirklich ein Praktikum machen?

"Fein! Dann sei bitte um viertel vor neun in der Früh hier, ja? Dann besprechen wir alles weitere."

"Ich werde da sein", antworte ich noch immer ganz verdattert.

Ich habe eine Praktikumsstelle! Hier! Wo ich früher mit meiner Mutter meist den halben Nachmittag verbracht habe. 'Oh Mann ...'
 

~Ralf~

Endlich geht die Ladentür des Juweliers auf und Björn kommt heraus. Seinen Gesichtsausdruck kann ich allerdings nicht deuten. Ist das ein gutes, oder schlechtes Zeichen? "Und?", frage ich ihn ganz aufgeregt, als er wieder neben mir sitzt. "Wie war es?"

"Ich soll am Montag um viertel vor neun hier sein", flüstert er wenig begeistert.

Doch davon lasse ich meine Freude über sein erfolgreiches Gespräch nicht nehmen. "Echt? Ist ja klasse!" Ich klopfe ihm aufs Bein. "Ich habe doch gewusst, dass das klappt!" Na ja. So sicher war ich mir jetzt auch nicht, doch gehofft habe ich es. Björn lächelt schmal. "Freust du dich denn gar nicht? Das ist deine Chance!"

"Kann sein", murmelt er, schnallt sich an und lässt den Kopf sinken.

"Was ist denn? Warum siehst du so zerschlagen aus?"

Er beißt auf seiner Unterlippe rum, seufzt gedehnt und schaut mich plötzlich ein wenig sauer an. "Was meinst du denn, warum ich so 'zerschlagen' aussehe? Ich muss bald dort arbeiten, wo meine Mutter jahrelang gesessen hat und Schmuck designt hat."

"Oh ..." Darauf hätte ich auch selbst kommen können.

"Ja, oh! Alles in diesem Schmuckladen hat mich an sie erinnert. Und ich darf dort den ganzen Tag verbringen." Seine Hände kneten sich gegenseitig. Ich ergreife sie und zwinge Björn somit, damit aufzuhören. "Ich mache mir keine Sorgen darum, dass ich das Praktikum nicht hinbekomme", redet er leise weiter, "sondern darum, dass ich es nicht packe, auf den ehemaligen Platz meiner Mutter zu schauen und dabei ruhig zu bleiben. Eben da drinnen zu sein, da zu stehen, wo ich früher immer gewesen bin ... Das war kein schönes Gefühl."

Ich kann ihn verstehen. Sehr gut sogar. Aus ähnlichen Gründen bin ich aus meiner ehemaligen Heimatstadt geflohen. Wegen vergangenen Geschehnissen, die viel zu sehr schmerzen, als dass man ständig daran erinnert werden möchte. "Du wirst das packen", rede ich auf ihn ein. "Und ganz sicher würde es deiner Mutter gefallen, dass du jetzt dort arbeitest, wo sie früher ihren Schmuck designt hat. Dass du in ihre Fußstapfen treten willst, sozusagen."

"Das sagst du doch jetzt bloß nur so."

"Tue ich nicht. Wenn du mein Sohn wärst, wäre ich richtig stolz auf dich."

Björns Kopf ruckt zu mir herum. "Wenn ich dein Sohn wäre?"

"Das war doch nur hypothetisch", winke ich mit klopfenden Herzen ab. Kann es sein, dass ich meine Worte eben nicht gerade sehr geschickt gewählt habe?

"Hypothetisch?" Ich nicke. "Klasse! Das siehst du also in mir? Eine Art hypothetischer Sohn?"

"Nein!", beteuere ich ihm. Leider zu spät.

"Ach, leck mich!" Sauer verzieht Björn das Gesicht und zieht seine Hände unter meiner hervor, ehe er aus meinem Auto springt.

"Björn!" Nicht schon wieder! "Warte!" Ich verlasse ebenfalls meinen Wagen und renne ihm nach. Er verschwindet in einem der vielen kleinen Gässchen, die es hier gibt. Ich eile hinterher und beschleunige das Tempo. Nach einem kurzen Sprint erwische ich ihn schließlich, ziehe ihn zurück und drücke den kleinen Ausreißer rechts gegen eine Hauswand.

"Lass mich los!" Björn versucht sich aus meinem Griff zu befreien. Vergebens. So leicht kommt er mir diesmal nicht davon!

"Erst nachdem du mir gesagt hast, was jetzt schon wieder los ist", knurre ich ihn an. Meine Worte können ihn doch nicht so sehr verletzt haben, dass er wieder vor mir davonlaufen möchte. Es sei denn ... "Rede mit mir und renne nicht schon wieder kopflos durch die Gegend!" In mir keimt eine leise Vermutung auf, von der ich hoffe, dass sie nur ein Hirngespinst ist.

Björn strafft sich und legt einen giftigen Gesichtsausdruck auf. Wut funkelt in seinen Augen. Das gefällt mir nicht. Ich will nicht, dass er mich so anschaut. Und das mir es nicht gefällt, dass er wütend auf mich ist, gefällt mir noch viel weniger. "Ist es das, was du in mir siehst? Den kleinen, armen Nachbarjungen? Den hilflosen Jungen, der keine Eltern mehr hat? Dem du den Vater ersetzen willst? Hältst du mich als deinen scheiß Ersatzsohn?!"

"Spinnst du?", zische ich und lasse ihn los. "Ich will keinen Sohn! Das habe ich nie gesagt! Ich wollte dich nur aufbauen!"

"Ach wie nett von dir! Und wie uneigennützig!" Er stößt sich von der Wand ab und schnaubt mich verächtlich an.

"Was ist so furchtbar daran, dass ich dir helfen will? Kannst du mir das mal sagen? Und warum regst du dich eigentlich so auf? Was wäre so schlimm daran, wenn ich dich als eine Art Sohn ansehen würde?" Kaum ausgesprochen, könnte ich mir sofort dafür auf die Zunge beißen. Doch ich muss es wissen und muss ihn provozieren, damit er endlich Klartext mit mir spricht.

Es scheint zu wirken. "Was daran so schlimm wäre?", keift er mich an und reißt sich dabei die Knöpfe am Kragen seines Hemdes auf, das ich ihm heute Morgen für das Gespräch ausgeliehen habe. "Ich will für dich was ganz anderes sein! Ich will für dich kein armer, kleiner Knilch sein! Ich will für dich viel mehr sein! Ich will, dass du mich ..." Er bricht ab, sieht mich erschrocken an und schluckt schwer, als ihm klar wird, was er da gerade im Begriff war zu sagen. "Scheiße Mann!" Björn sinkt in die Knie. Und ich? Ich stehe nur da und schaue auf ihn hinab. Kann es selbst nicht richtig fassen, was da gerade passiert ist.

Ich habe es geahnt! Alles spricht dafür, dass sich Björn in mich verliebt hat.

Mist!
 

***
 

~Ralf~

Besorgt schiele ich immer wieder aus dem Fenster. Keine Spur von Björn. Ich weiß auch nicht wohin er gegangen ist, nachdem wir wieder bei mir Zuhause angekommen sind.

Kommentarlos hat er sich vorhin von mir auf die Beine ziehen, und danach auf den Beifahrersitz verfrachten lassen. Als ich in der Hofeinfahrt gehalten habe, ist er einfach ausgestiegen und langsam davongelaufen. Ich habe ihn gehen lassen und war sogar ganz froh darüber, dass er etwas Abstand gesucht hat. Nicht nur er braucht Zeit zum Nachdenken.

Aber alles Nachdenken hat auch mal ein Ende, finde ich. Und da es schon fast dunkel draußen ist, mache ich mir langsam Sorgen um den Kleinen. Was, wenn er zu seinen Adoptiveltern gegangen ist? Sicher werden sie ihn nicht mit offenen Armen empfangen haben, nachdem er die ganze Nacht und den halben Tag lang verschwunden gewesen ist. Falls sie es überhaupt bemerkt haben. So sehr ich es hasse, wie sie mit ihm umgehen und sich nicht um ihn kümmern, aber es wäre diesmal sicher das Beste, sie hätten seine Abwesenheit nicht bemerkt.

Etwas knackt im Haus. "Björn?" Wie auf Kommando stehe ich vom Sofa auf und laufe in den Flur. Keiner zu sehen. Weder vor der Haustür noch am offenen Fenster meines Schlafzimmers. "Jetzt reicht es!", beschließe ich und gehe zum Telefon. Es tutet ein paar Mal, dann höre ich Tores Stimme. "Hey. Ich bin's. Kannst du rüber kommen? ... Jetzt. ... Danke." Ich lege auf und schreite zurück zur Haustür. Kaum habe ich sie geöffnet, kommt Tore mir auch schon entgegen.

"Hallo du Hübscher", grinst er. "Mit was kann ich dir denn dienen?"

"Komm erstmal rein", antworte ich und suche die Straße ab, ob Björn nicht doch dort irgendwo herumlungert. Wieder Pech. Kein ratterndes Skateboard. Kein süßer, kleiner Wirrkopf, den ich plötzlich mehr vermisse, als mir lieb ist.

Mit einer Flasche Cola pflanze ich mich zusammen mit Tore auf das Sofa und beginne ihm alles zu erzählen, was seit gestern Abend geschehen ist. Auch von meinem Schwur, mich nicht mehr zu verlieben und auch von meiner Befürchtung, dass Björn dabei ist sich in mich zu verlieben, wenn er es nicht schon längst ist. "Und du? Willst du deinen Schwur immer noch einhalten, jetzt wo Björn eventuell doch ...?"

Fassungslos fixiere ich Tores Gesicht. "Darum geht es doch gar nicht!"

"Raff es endlich Ralf. Es geht einzig und allein nur darum", sagt er und sieht mich nun so an, als wäre ich hier der Doofie, der von nix eine Ahnung hat. "Müssen wir das wieder durchkauen?"

"Nein, das ist nicht nötig, da ich nichts von Björn will." Entschlossen biege ich den Rücken durch.

"Belüge dich ruhig selbst, aber findest du nicht, dass das unfair gegenüber Björn ist?" In aller Seelenruhe nippt Tore an seinem Glas Cola.

"Wieso soll es unfair ihm gegenüber sein?"

"Du machst ihm Hoffnungen." Ich soll was machen? "Zieh nicht so ein Gesicht! Ich meine das ernst."

"Dann erkläre es mir. Mit was soll ich ihm Hoffnungen gemacht haben?"

Tore hebt seine Hände und zählt an seinen Fingern alles auf, mit was genau ich Björn angeblich Hoffnungen geweckt haben soll. "Du hast ihn dazu gebracht, sich dir anzuvertrauen, hast ihn bei dir schlafen lassen, hast ihm Frühstück gemacht, ihn aufgebaut was seine Zukunft angeht, ihm sogar zu einer Praktikumsstelle verholfen! Aber was noch wichtiger ist: Du hast ihm das Leben gerettet. Erinnerst du dich noch daran? Dass alles hast du für ihn getan. In noch nicht mal einer Woche. Du brauchst mir also nicht zu erzählen, du hättest keine Gefühle für ihn. Das wusste ich nämlich schon, bevor du es auch nur geahnt hast." Am liebsten würde ich diesen Besserwisser jetzt einfach rausschmeißen, tue es aber nicht. Hat er etwa recht? Ganz tief in meinem Inneren kenne ich die Antwort, aber ich verschütte sie wieder unter all dem Ballast, der sich in mir aufgestaut hat. "Lass die Vergangenheit, Vergangenheit sein", flüstert Tore. "Gegen die eigenen Gefühle kann man sowieso nichts machen. Das weiß ich vielleicht sogar noch besser als du." Nun werde ich hellhörig.

"Ich denke darüber nach", verspreche ich ihm. "Allerdings nur, wenn du mir endlich erzählst, was da letztens mit dir los war." Ganz bestimmt hat sein Kommentar eben was mit seinem komischen Verhalten von neulich zu tun. Noch so etwas, das mir auf das Gemüt drückt.

Tore atmet tief ein und stellt das Glas auf den Tisch vor uns. "Gut, ich erzähle es dir. Aber mach dich auf einiges gefasst." Da bin ich aber mal gespannt.
 

~Tore~

Ich versuche mich zu entspannen und überlege, wo ich am besten anfangen soll. Ganz von vorn erscheint mir am plausibelsten, auch wenn die ganze Erzählung dadurch an Länge gewinnt. Aber wir haben ja Zeit.

Ich ziehe ein Knie an meinen Oberkörper ran und lehne mich auf dem Sofa zurück. Nachdenklich bette ich mein Kinn darauf und fange leise an zu reden. "Meine Mutter ist vor knapp einem Jahr gestorben. Sie war ein sehr religiöser Mensch und ging jeden Tag in die kleine katholische Kirche ganz unten am Langerweg. Seit mein Vater gestorben war, war dies praktisch alles für sie. Deswegen ging ich zu dem Pfarrer dort und besprach mit ihm das Nötige für die anstehende Gedenkfeier und die anschließende Beisetzung. Er kam nach diesem ersten Treffen sogar zu mir, um mit mir über meine Mutter zu reden und um mehr über sie zu erfahren, was er in die Rede mit einbringen wollte. Wir redeten aber nicht nur über sie. Wir quatschten im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt. Das tat mir gut und half mir mit dem Tod meiner Mutter umgehen zu können. Weißt du, auch wenn meine Mutter sehr konservativ war, hatte sie mir niemals Vorwürfe über meinen Lebenswandel gemacht. Das ich schwul bin, hatte sie ziemlich locker aufgenommen. Sie wollte nur nicht, dass ich vor ihr darüber rede, was heißt, sie wollte nicht wissen, was genau ich mit den Männern anstelle. Das brachte sie dann doch nicht über sich. Aber das war in Ordnung für mich und ich habe sie deshalb nie verurteilt. So war sie eben.

Das erzählte ich dem Pfarrer alles, Oskar heißt er, als wir zusammen in meiner Küche saßen, Kaffee tranken und uns wirklich auf Anhieb richtig gut miteinander verstanden. Erst schob ich es darauf, dass der Grund dafür sein Job war, in dem er sich das Gejammer der Leute anhören, und den Verständnisvollen mimen musste. Aber in mir wuchs die Erkenntnis, dass seine Freundlichkeit und das Leuchten in seinen Augen nicht nur von der Freude an seinem Beruf herrührte. Es interessierte ihn wirklich, wie es mir ging und schien sich tatsächlich gern mit mir zu unterhalten. Von Minute zu Minute kamen wir uns immer näher ..." Ich mache eine kurze Pause und schenke mir einen Schluck Cola nach. Mein Hals ist wie ausgedorrt. Immer wenn ich an Oskar denke, schnürt er sich zu und meine Brust schmerzt wie verrückt.

"Du willst mir doch jetzt nicht etwa sagen, dass du mit 'näher gekommen' das meinst, was ich denke, das du meinst?", fragt mich Ralf mit leiser Stimme.

"Doch", antworte ich mich räuspernd. Scheiß Kohlensäure! "Genau das meine ich damit." Ralf öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder. "Wir standen schon fast an meiner Haustür und waren dabei uns zu verabschieden, als plötzlich seine Lippen auf meinen lagen."

"Warte mal. Er hat dich geküsst? Nicht du ihn?"

"Genau so war es", antworte ich. Meine Lippen kribbeln. Ich kann diesen Kuss noch immer spüren ...

"Krass."

"Ja, das dachte ich auch." Ein Grinsen schlüpft über meine Mundwinkel. Allerdings nur kurz. "Zu Anfang dachte ich: Geil! Du knutschst hier wirklich mit einem Pfarrer rum, der zudem noch total scharf aussieht! Was für eine irre Chance! Aber dann ... Dieser Kuss fühlte sich so gut, so richtig an. Ehe ich mich versah, standen wir beide nackt im Flur und stolperten ins Schlafzimmer. Die Nacht war ... Wow. Wahnsinn. Unbeschreiblich." In Gedanken reise ich tiefer in die Vergangenheit zurück, schmecke und rieche ihn, spüre, wie er sich in mir bewegt und wie er leise meinen Namen stöhnt. Mich überläuft es heiß. Doch gleich darauf legt sich wieder diese eiskalte Decke über mich, als mir bewusst wird, dass Oskar nicht bei mir ist. Vielleicht wird er es nie mehr sein ...

Ich muss mich regelrecht dazu zwingen ruhig zu bleiben und weiter zu reden. "Auf eine irre Nacht, folgte ein furchtbarer Morgen. Oskar sah mich gar nicht an, schämte sich offensichtlich für das, was passiert war, und verschwand einfach. Bis zur Beerdigung meiner Mutter sahen wir uns nicht mehr, was mich fast durchdrehen ließ. Ich traute mich allerdings auch nicht, mich bei ihm zu melden. Ich hatte furchtbare Angst vor seiner Reaktion. Dass er mich vielleicht anschreien und verteufeln würde. Ich hatte sogar Albträume, ich wäre an einem Pfahl gefesselt und um mich herum brannte Feuer. Oskar stand davor und las aus der Bibel vor." Ich muss selbst über meinen Traum lachen. Dass ich danach schweißgebadet aufgewacht bin, erwähne ich besser nicht. "Dann, als der Tag der Beisetzung gekommen war, erlebte ich die ganze Messe über ein wahres Wechselbad der Gefühle. Trauer, Sehnsucht, Erregung, Liebe ... Es wurde mir während der Messe erst so richtig bewusst. Ich hatte mich wirklich in Oskar verliebt. Wie er dastand, mit seinem Messgewand. Es war so surreal! Ich saß ganz vorn auf der Kirchbank, umgeben von meiner Familie, die alle um meine Mutter trauerten und ich konnte nur daran denken, dass ich mich tatsächlich in diesen Pfarrer dort verliebt habe.

Ich wusste nicht was ich tun sollte. Sollte ich ihn ansprechen? Und wenn, wann? Und was sollte ich sagen? Schließlich machte wieder er den ersten Schritt. Beim Leichenschmaus kam er auf mich zu, tat mir noch mal sein Beileid kund und meinte leise zu mir, er würde mich am Abend besuchen. Wieder kämpften die verschiedensten Gefühle in mir um die Oberhand. Ich wollte lachen und schreien vor Freude darüber, dass Oskar mich besuchen kommen wollte. Aber das konnte ich natürlich nicht. Ich sah meine Schwester, wie sie mit verlaufenen Make-up mitten im Raum stand und ich bekam riesige Gewissensbisse. Doch was sollte ich dagegen tun? Es war Zufall, dass das alles gerade jetzt geschah. Dass alles gleichzeitig über mich hereinbrach. Ich riss mich am Riemen und zwang mich regelrecht dazu, nicht ständig zu Oskar zu schielen.

Es klappte irgendwie und als ich ihm am Abend die Tür öffnete, in sein trauriges Gesicht blickte, da wusste ich es. Das was zwischen mir und Oskar passiert war, würde nie wieder passieren. Das bestätigte sich auch recht schnell. Er sagte mir, dass er das mit uns niemals geplant hatte und dass er viel darüber nachgedacht hätte. Es fiel im sichtlich schwer, aber er gestand mir, dass er Gefühle für mich hatte. Gefühle, die er als Pfarrer nicht haben durfte, meinte er." Ich fasse mir an die Brust. Herzschmerz, ein gebrochenes Herz. Glaubt mir, das gibt es wirklich und es ist furchtbar und kaum zu ertragen.

"Und dann?", fragt Ralf leise aber dennoch neugierig nach. "Das hört sich doch danach an, als gäbe es eine Chance, dass ihr doch noch irgendwie ..." Ralf sieht mich fragend an.

Ich lache freudlos auf. "Ja, das glaubte ich zunächst auch. Der kleine Silberstreif am Horizont, sozusagen. Doch was er dann zu mir sagte, dass hatte sich nicht mehr so gut angehört. Ganz im Gegenteil. Oskar hatte um eine, wie er es sagte, kurzzeitige Versetzung gebeten. Er ist momentan in irgendeinem Drittweltland und tut was weiß ich was. Und das schon seit über elf Monaten. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört." Ich schaue auf meine Hände, die das Colaglas umklammert halten. "Langsam denke ich, er wird nie wieder zurückkommen. Vielleicht hat er das von Anfang an geplant und sein Weggang ist nicht nur für einen kurzfristigen Zeitraum. Vielleicht hat er mich auch von Anfang an belogen und ist jetzt in einer anderen Stadt." Mir brennen die Augen, weshalb ich das Glas abstelle und mir mit Zeige- und Mittelfinger darüber streiche. "Vielleicht sehe ich ihn nie wieder."

Neben mir knarzt die Couch leise und dann legen sich Ralfs Arme um mich. "Das tut mir so leid", sagt er und streichelt mir über den Oberarm. "Bist du dir sicher, dass er nie wieder zurückkommt?"

"Ich weiß es nicht." Ich zucke mit den Schultern. "Nach fast einem Jahr weiß ich fast gar nichts mehr." 'Kommst du denn wieder?', hatte ich ihn gefragt.

'Irgendwann. … Ja, sicher.' Das jedenfalls hatte er zu mir gesagt. Daran hallte ich noch immer fest. Dass er irgendwann doch wieder zurückkehrt. "Danach habe ich mich versucht abzulenken", erzähle ich weiter, "Mal erfolgreich, doch meist weniger erfolgreich."

Ralf runzelt die Stirn und denkt kurz nach, ehe er tief einatmet und mich fragt: "Dann hast du in Wahrheit nicht bloß mich von meinem Liebeskummer abgelenkt, sondern ich ebenfalls dich von deinem Pfarrer?"

"Ja", gebe ich zu. "Allerdings hast du mich etwas zu gut abgelenkt. Nach elf Monaten, da bekomme ich manchmal das Gefühl, die Liebe zu Oskar würde abflauen." Ich ziehe die Nase hoch. Ralf drückt mich fester an sich. "Dann sucht mich jedes Mal das schlechte Gewissen heim. Ich liebe ihn noch immer, Ralf. Auch wenn wir zusammen im Bett gewesen sind. Doch du kamst mir plötzlich so nahe ... Ich musste das mit uns beenden. Verstehst du mich jetzt?" Ralf nickt. "Außerdem bist du ja eh bald vergeben", scherze ich schmal lächelnd und klopfe ihm auf den Oberschenkel. Er verzieht bloß das Gesicht. Der Sturkopf will also noch immer nicht mit mir Klartext darüber reden. Dann tue ich das mal für ihn. "Ralf? Wenn du ihn wirklich liebst und er dich auch, dann steht dir nicht selbst im Weg. Tu dir und Björn das nicht an. Und bevor du mir wieder ausweichen willst, oder los meckerst, denk daran: Ich weiß wovon ich rede." Ich bin den Tränen nahe. Schon wieder.

"Ach Tore. Ich bin mir doch selbst noch gar nicht sicher, was ich tun soll", meint er leise und beugt sich zum Tisch vor, wo er für mich ein Taschentuch aus der dort stehenden Box klaubt. "Ich denke, ich muss das erst für mich ausmachen."

"Mach das aber nicht zu lange mit dir aus. Versprich mir das." Ralf knurrt irgendwas Unverständliches, was mich zum Grinsen bringt.

"Hast du schon Mal versucht deinen Pfarrer bei diesem katholischen Verein ausfindig zu machen?" Der Herr lenkt wieder ab. Na schön. Lassen wir das Thema 'Ralf + Björn = Liebe' für heute.

"Machst du Witze?", fahre ich ihn an und steige auf sein Ablenkungsmanöver ein.

"Nein." Ralf sieht mich todernst an.

"Was soll ich da auch großartig fragen? Hallo, ich möchte nur mal nachfragen, ob sie mir eventuell sagen könnten, wo mein süßer Pfarrer gerade ist? Die gemeinsame Nacht war nämlich so wundervoll, dass er mir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht? Sicher nicht!"

"So würde ich an deiner Stelle auch nicht fragen", kichert Ralf und auch wenn mir gar nicht danach zumute ist, stimme ich in sein Kichern mit ein. "Aber mal im Ernst, da muss doch was zu machen sein."

"Ich wüsste nicht was. Oskar ist zur Zeit für mich unerreichbar." Unerreichbar. Ja, das ist er. Nicht nur die unzähligen Kilometer die wir sicher voneinander entfernt sind, trennen uns. Es ist Oskars ganzes Denken, sein Beruf, wenn man das so nennen kann. Das steht wie eine unüberwindbare Barriere zwischen uns.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man und ich bin noch nicht gewillt sie jetzt schon unter Tonnen voller staubiger Erde zu begraben. Aber falls das wirklich so ist, dass die Hoffnung das Letzte ist, was stirbt, was kommt dann danach? Wenn die Hoffnung gestorben ist? Ehrlich gesagt, ich habe keine Lust das jemals herauszufinden und ich bete (ja ich bete tatsächlich dafür!), dass ich das niemals herausfinden muss.
 

******
 

Na? Überrascht? Also ich war es, als ich da plötzlich einen Pfarrer im Kopf hatte. ^^“

Kapitel 08 - Schnee, mitten im Sommer

Der Titel sagt es schon, oder? Endlich fängt es an zu schneien! ^^
 


 

Kapitel 08 - Schnee, mitten im Sommer
 

~Björn~

Grob wische ich mir über meine verdammte Nase, die einfach nicht aufhören will zu laufen.

Das war ja mal wieder so was von klar gewesen! Habe ich was anderes erwartet? Nein! Aber ich habe zumindest gehofft, es wäre unbemerkt geblieben, dass ich weg gewesen bin. Falsch gehofft. Wieso nur haben sie es gerade diesmal mitbekommen, wo es mir sowieso schon so dreckig geht? Sonst hatte ich doch auch meist Glück.

Ach, egal! Die wichtigste Frage lautet doch, warum ich mich deshalb immer wieder aufrege. Dabei habe ich doch gar keine großen Erwartungen in sie. Hatte ich noch nie und werde ich auch nie. Das alles ist ohnehin bald Geschichte. In zwei Wochen können sie mir gar nichts mehr! Doch so lange kann ich nicht mehr warten.

Wütend stopfe ich wahllos irgendwelche Kleidungsstücke in meine große Sporttasche. Während ich das tue, halte ich immer mal wieder inne, kneife die Augen zusammen und halte mir den Bauch. Dieser dämliche Wichser! Sein Knie ist zielsicher unterhalb meines Bauchnabels gedonnert. Ich wage es erst gar nicht mein Shirt hochzuschieben und nachzuschauen, ob es schon blau ist. Bestimmt ist es das, aber darüber zu jammern oder zu klagen bringt mir jetzt eh nichts. Ich muss zusehen, dass ich alles Wichtige in meine kleine Tasche gepackt bekomme. Das ist alles was noch zählt: Meine Chance von hier loszukommen und nie wieder hierher zurück zu müssen.

In meiner Wut über meine beschissenen Adoptiveltern habe ich sogar den peinlichen Moment heute Vormittag in der Stadt für einige Augenblicke vergessen. Na ja, bis jetzt. Nun kommt alles wieder hoch, und es hilft mir nicht gerade, mich besser zu fühlen.

Ralf und ich haben keinen Ton mehr miteinander gewechselt, nachdem ich diese dämlichen Sachen losgelassen habe. Einerseits bin ich froh darüber, andererseits hätte ich mir wirklich gewünscht, er hätte etwas dazu gesagt. Egal was. Ob er gerafft hat, was mir aus Versehen und teils auch aus Enttäuschung da rausgerutscht ist? Hat er kapiert, dass ich ihn mehr mag, als mir lieb ist? Falls ja, werde ich mich gleich wahrscheinlich zum Volldeppen machen. Aber eine andere Wahl habe ich nicht. Außer die, hier zu bleiben, oder zu Domi zu gehen, aber bevor ich auch nur noch eine Sekunde als nötig hierbleibe, penne ich doch lieber auf der Straße! Nie wieder werde ich auch nur einen Fuß zurück in dieses Haus setzen! Das schwöre ich.

Ich stopfe hastig einen Stapel Shirts in die Sporttasche, da klopft es plötzlich an meine Zimmertür. Irritiert schaue ich auf. Das hat es noch nie! Hier wird nicht angeklopft, sondern gleich, ohne Rücksicht auf Privatsphäre, das Zimmer gestürmt, wenn man so blöd ist und nicht abgeschlossen hat. Diesmal war ich so blöd, hätte aber auch nicht damit gerechnet, dass heute nochmal jemand von denen Idioten was von mir will. "Ja?" Unsicher starre ich auf meine Tür, die sich langsam öffnet. "Kalle?" Perplex schaue ich in das Gesicht meines Adoptivbruders.

"Du willst abhauen. Hab ich Recht?" Wow! Zwei ganze Sätze auf einmal und das aus seinem Mund.

"Was geht's dich an?", fahre ich ihn an und greife mir ein paar Jeans, die nicht allzu verranzt aussehen. "Wills'te mich jetzt verpetzen?"

"Nein", murmelt er und schließt leise die Tür hinter sich. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er einmal hier drinnen bei mir gewesen war. "Ich wollte auch schon weg. Hat aber nie geklappt."

Ich vergesse meine schon halb gefüllte Tasche und schaue Kalle mit großen Augen an. "Das wusste ich gar nicht."

Er zuckt mit den Schultern und sieht sich in meinem Zimmer um, ehe er wieder mich fixiert. Seine Augen sehen aus wie tot. Gebrochen und leer. Mich überläuft es eiskalt und ich überlege, wie alt er eigentlich ist. Kalle dürfte nur ein Jahr jünger als ich sein, aber er sieht so abgestumpft aus, als hätte er zehn Leben hinter sich. "Pass auf, dass er dich nicht findet", flüstert er und dreht sich um.

"Warte mal!" Ich springe auf und halte ihn fest. "Was soll das heißen?"

"Das willst du nicht wissen." Er entwindet sich mir und schlüpft wendig durch die kaum geöffnete Tür.

Mein Herz donnert wie bescheuert in meiner Brust herum. Was ist so schlimm, dass er es mir nicht sagen will? Ich fasse mir zaghaft an die schmerzende Stelle auf meinem Bauch. Kann es denn noch was Schlimmeres geben als das und falls ja, musste Kalle das über sich ergehen lassen?
 

~Ralf~

Bei jedem noch so leisesten Laut von draußen schrecke ich auf und schaue gebannt aus meinem Schlafzimmerfenster. Es ist mittlerweile schon nach ein Uhr Morgens, doch von Björn ist noch immer nichts in Sicht. Er wird doch hoffentlich nicht sein Praktikum schmeißen wegen unserer kleinen Auseinandersetzung heute Vormittag? Das darf er nicht und eigentlich glaube ich auch nicht daran, dass er so dumm ist sich diese Chance entgehen zu lassen. Aber was wenn doch?

'Bitte komm zurück zu mir', denke ich in die Stille der Nacht hinein. Jedoch, so sehr ich zwar hoffe, dass Björn wieder zu mir kommt und ich mit ihm alles klären kann, so sehr habe ich auch Panik davor. Was sage ich ihm, wenn er mir gesteht, dass er Gefühle für mich hat? Was sage ich überhaupt zu ihm? Das ich ihn etwa auch ...? "Fuck!" Ich dresche ein paar mal auf meine Matratze ein. "Damit sollte doch endlich Schluss sein!" Diese Gefühlsverwirrungen brauche ich nicht mehr! Das habe ich doch gestern noch beschlossen. Und jetzt? Jetzt liege ich schon wieder in meinem Bett und denke über den selben Scheiß-Kram nach, über den ich immer nachdenke: Über aussichtslose, herzzerpflückende und völlig ins Chaos stürzende Liebeleien. 'Diesmal ist es aber vielleicht anders', flüstert mir ein leises Stimmchen zu. "Ja, ja. Das denke ich doch jedes verfluchte Mal", schnauze ich die leise Stimme in mir an.

Draußen raschelt was. Ich ignoriere es und beschließe, mich keinen Hoffnungen oder Wunschträumen mehr hinzugeben. Björn kommt heute Nacht ganz sicher nicht mehr. Ich habe ihn unwissentlich verletzt mit meinem Sohn-Gequatsche und dann noch seine Andeutung, er wäre in mich verlie... Ich zucke zusammen. Da ist wirklich was draußen! Und wieder hört es sich an, wie ein extrem fetter Igel. Vielleicht ist es ja der selbe fette Igel, der letzte Nacht vor meinem Fenster herumgeschlichen ist? Ich hasse mich dafür, dass ich schon wieder meinen Gefühlen nachgebe, mich aufsetze und mich zum Schlafzimmerfenster drehe, in der Hoffnung, dass "Björn?" Meine Haut kribbelt. Da steht er tatsächlich!

"Hey", murmelt er leise und sieht mich unschlüssig an. "Kann ich?" Ich nicke und beobachte ihn, wie er zuerst eine schwer aussehende Sporttasche in mein Schlafzimmer wuchtet und dann selbst über den Fenstersims klettert. Bei diesem Anblick fange ich an erleichtert zu grinsen, obwohl ich es gar nicht möchte. Fast schon gerate ich in Versuchung, ihm ein 'Willkommen Zuhause' zuzurufen, schließlich geht er bei mir schon fast tagtäglich ein und aus. Zum Glück kann ich mich noch gerade so beherrschen, und halte meine Klappe.

Unentschlossen bleibt er vor seiner Tasche stehen und mustert den Boden vor seinen Füßen. "Schön, dass du da bist", sage ich leise und bemerke wie er leicht zusammenzuckt.

"Wirklich? Obwohl ich dich schon wieder so angeschrien habe?"

"Anders kenne ich dich gar nicht", scherze ich und steige aus meinem Bett. Langsam laufe ich auf ihn zu. "Was ist das?" Ich deute auf die Tasche.

"Bin Zuhause ausgezogen", antwortet er achselzuckend.

Ich schlucke schwer. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen, oder ob ich mir Sorgen machen soll. "Und wohin gehst du jetzt?"

"Mal sehen. Irgendwo hin. Egal." Er zuckt mit den Schultern. "Domi nimmt mich vielleicht für ein paar Nächte au...hauf!" Björn erstarrt in meinen Armen zur Salzsäule. Vielleicht hätte ich ihn nicht an mich ziehen sollen, doch ich konnte nicht anders.

"Du gehst nirgendwo hin. Bleib hier." Ich schiebe es auf mein erschöpftes Hirn, das sich nach Schlaf sehnt. Das muss als Entschuldigung für meine eben gestellte Bitte dienen.

"Darf ich denn?", fragt er mich erstickt und entspannt sich ein wenig.

"Natürlich darfst du." Zaghaft legen sich seine Arme um meinen Rücken.

Ich schließe die Augen und höre mein Herz laut schlagen. Und plötzlich ist er da. Der Moment, in dem ich mir selbst eingestehe, dass ich in den wenigen Tagen, in denen ich hier bin, Gefühle für den kleinen Störenfried entwickelt habe. 'Du lernst es nie', schimpft mich mein Gewissen. 'Das wird dich noch um den Verstand bringen.' Dann wird es das eben. Dagegen anzukämpfen wäre genauso falsch und genauso aussichtslos.
 

***
 

~Ralf~

Sonntag halb zehn in der Früh. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und für mich ist es ganz ungewohnt tagsüber einer solchen Stille ausgesetzt zu sein. Daran könnte ich mich gewöhnen. Ebenfalls könnte ich mich an den warmen Körper neben mir gewöhnen, der die linke Seite meines Bettes besetzt hält. Björn liegt auf dem Bauch, hält das Kopfkissen fest umklammert und man kann nur seine Nase unter dem schwarzen Haarwust erkennen. Er atmet ruhig und murmelt hin und wieder leise vor sich hin. Ich bin erst vor fünf Minuten aufgewacht, bringe es aber noch nicht über mich, aufzustehen. Viel lieber schwebe ich in der Stille dahin und betrachte den schlafenden Körper neben mir.

Dann ist es also beschlossen. Björn bleibt erstmal bei mir. Immer noch tobt ihn mir der Kampf zwischen Verstand und Gefühl. Wenn ich die Sporttasche anschaue, die gegenüber vor meinem Kleiderschrank liegt, bekomme ich Panik und gleichzeitig freue ich mich. Es ist zum wahnsinnig werden! Auf was lasse ich mich da wieder ein? Björn ist ein Teenager! Ein (verzeih mir Björn) labiler, bisexueller Teenager. Was da auf mich zukommen wird, darüber wage ich gar nicht erst nachzudenken.

Seufzend drehe ich mich auf die Seite und mustere meinen neuen Mitbewohner. Ihn mit durchzufüttern wird nicht das Schwierigste sein. Ihn allerdings auf Abstand zu mir zu halten aber schon. Außerdem müssen wir reden. Sehr dringend sogar. Gestern Abend war das unmöglich. Uns beiden ging viel zu viel im Kopf herum. Also, Ralf. Wie stellst du dir das hier vor? Solange er noch keine Achtzehn ist, ist er tabu für mich. Ein Schlag durchfährt mich. Ich denke hier doch nicht gerade wirklich darüber nach, wann ich mit ihm ...?

Ich schließe die Augen und drehe mich auf die andere Seite. Dass das nichts bringt, habe ich fast schon vorhergesehen. Mein Rücken glüht allein von dem Wissen, dass Björn hinter mir liegt. Als könnte ich seine abstrahlende Körperwärme fühlen. 'Es bringt nichts, mich dagegen zu wehren.' Tore hat recht, auch wenn es mir nicht schmeckt. Nur bezweifle ich, dass es diesmal anders laufen wird. Auch falls Björn überhaupt was in diese Richtung für mich empfindet, er ist jung und unerfahren. Bald wird er feststellen, dass er sich ausprobieren muss und Erfahrungen sammeln will, die ich ihm nicht bieten kann, erst recht, weil er auch auf Frauen steht. 'Ich sollte es einfach auch mich zukommen lassen.' Was anderes wird mir nicht übrig bleiben. Und wie gesagt, ich weiß ja noch nicht mal, ob der Kleine sich tatsächlich in mich verguckt hat. Selbst wenn das der Fall sein sollte, wer sagt mir denn, dass er nicht bloß von mir schwärmt, weil ich ihm so oft aus der Patsche geholfen habe?

Mein Bauch beginnt mächtig zu ziehen. Ein ekeliges, schmerzhaftes Ziehen, das mich kalt erschaudern lässt. Allein der Gedanke, so könnte es sein, macht mich fertig. Wieder ein Beweis, dass er mir mehr als nur ans Herz gewachsen ist. Verdammt! Es beginnt schon wieder! Ich sage es doch.

Ich ruckle mich unglücklich in Rückenlage und mustere meine Schlafzimmerdecke. An entspanntes Sonntagmorgendösen ist jetzt nicht mehr zu denken. Gibt es hier auch einen Bäcker, der Sonntags geöffnet hat?
 

~Björn~

Ein dumpfer Laut lässt mich wach werden. Hörte sich wie eine Haustür an. Sind meine Alten schon weg? Wie spät ist es eigentlich? Mühsam stemme ich meine Augenlider nach oben und stelle fest, ich bin ja gar nicht Zuhause. Sofort fällt mir alles wieder ein. Ich bin bei Ralf! Er hat mich gebeten bei ihm zu bleiben und ... Mein Kopf ruckt nach rechts. Das Bett ist leer. Dann ist es Ralf gewesen, der das Haus verlassen hat.

Langsam drehe ich mich auf den Rücken und ächze dabei laut. Au, mein Nacken! Ich muss mich irgendwie verrenkt haben. Ganz vorsichtig setze ich mich auf und massiere mir die verspannten Muskeln. Eine heiße Dusche wird das sicher richten.

Da Ralf nicht da zu sein scheint, lasse ich mir Zeit und genieße das prasselnde Wasser auf meiner Haut. So entspannt (sehen wir mal von meinem Nacken ab) war ich schon lange nicht mehr. Endlich habe ich es geschafft und bin meiner Adoptivfamilie entflohen. Und das sogar noch zwei Wochen vor meiner eigentlich geplanten Flucht. 'Pass auf, dass er dich nicht findet.' Was Kalle damit gemeint hat? Trotz des warmen Wassers bekomme ich eine Gänsehaut. Wird er mich hier finden? Wird er mich überhaupt suchen? Wie dem auch sei, ich muss die nächsten beiden Wochen über aufpassen. Ich werde ja sowieso nicht viel hier sein, da ich ab morgen mein Praktikum antreten werde.

Ich stelle das Wasser ab und trete aus der Dusche. Ein Praktikum. So langsam freue ich mich doch darauf, Erinnerungen hin oder her. Und wahrscheinlich ist das wirklich meine einzige Chance, endlich auf eigenen Beinen stehen zu können. Meine Mutter hätte es sicher gefreut, wenn sie wüsste, dass ich dort arbeite, wo sie jahrelang Schmuck designt hat.

Tja, bleibt nur noch eins: Ralf. Läuft da etwas zwischen uns? Mag er mich? Weiß er inzwischen, dass ich ihn mag? Ich meine, so richtig mag. Hat er mich deshalb gebeten zu bleiben, oder hätte er mich erst gar nicht gefragt, wenn er wüsste, dass ich ihn "Liebe." Wie komisch sich das Wort anhört, wenn man es laut ausspricht. Es fühlt sich merkwürdig an. Wie lange habe ich es schon nicht mehr ausgesprochen? Mindestens seit acht Jahren nicht mehr. Ich hab dich lieb, sagte meine Mutter immer zu mir. Mein Vater sagte es kaum, da er ein sehr ernster Typ war, aber ich wusste immer, dass er mich auch lieb gehabt hatte. 'Außer an diesem einen Abend ...' Ich verlasse die dusche und ziehe ich mir eins der sauberen Handtücher aus dem Badezimmerschrank. Nicht daran denken!

Halbherzig trockne ich mich ab, richte mir die Haare und wickle mir das Handtuch um die Hüfte. Meine Klamotten liegen noch in der Tasche. Nachdenklich schlurfe ich ins Schlafzimmer und krame in meinen Sachen herum. Kurze Hose, Shirt und Unterwäsche fliegen neben mir auf den Boden. "Du bist ja schon wach." Ralf!

"Ja", antworte ich und stehe auf. "Morgen."

"Morgen ..." Ralf starrt mich an. Verlegen kratze ich mich am Unterarm und fühle mich plötzlich so nackt. Kein Wunder. Ich hab ja auch bloß ein Handtuch um. "Ich hab Brötchen gekauft ... Also wenn du magst ...?"

"Ja. Gern ... Ich ziehe mich nur schnell an."

"Ja! Zieh dich an!" Wie ein Roboter, der gerade etwas zu viel Spannung abgekommen hat, dreht Ralf sich um und schwub, weg ist er. Was war denn das? Muss ich das jetzt verstehen?
 

Angezogen betrete ich die Küche. Ralf stellt gerade die volle Kaffeekanne auf den Tisch und lächelt mich merkwürdig an. "Setz dich." Ich nicke und plumpse auf einen der Stühle. "Und? Gut geschlafen?"

"Ja. Na, ja. Mein Nacken ist ein bisschen verspannt." Er tut mir immer noch weh.

"Wirklich? Zeig mal." Verdattert schaue ich Ralf dabei zu, wie er um den Tisch herumgeht und sich hinter mich stellt. "Hier?"

"Ja, da neben, da so irgendwie", brabble ich ganz konfus, denn Ralfs Hände liegen warm und prickelnd auf meinen Schultern und kneten meine Muskeln fest durch.

Ich hab keine Ahnung was ich machen soll. Noch nicht mal, ob ich es wagen kann, einzuatmen. Wie eine Salzsäule sitze ich am Frühstückstisch und lasse Ralfs Massage über mich ergehen, wobei ich nicht gerade behaupten kann, dass sie mir nicht gefällt, aber seine knetenden Hände machen mich nervös. Sehr nervös sogar. "Wird es besser?" Woher soll ich das wissen?

"Etwas." Ich kann ja schlecht nein sagen.

"Du bist ja extrem steif!"

"Bin ich das?" Jetzt wo er es sagt ... Oh Fuck! Hoffentlich bemerkt er es nicht!

"Ja, ich muss ganz schön fest zupacken, um deine Muskeln ein wenig zu lockern. Tut es weh?"

"Nein." Ich wünschte, er würde mich ganz wo anders fest anpacken. Ohhh! Andere Gedanken! Klappt nur nicht. Meine Fantasie geht mit mir durch und ich kann sie nicht mehr steuern, auch wenn ich es versuchen würde. Ich kann nicht dagegen an, daher versuche ich es auch gar nicht mehr, sondern sehe nur zu, dass Ralf nichts davon mitbekommt.

"Es wäre vielleicht besser, wenn ich dich im Liegen durch die Mangel nehmen würde." Gute Idee. "Dann könnte ich die Verspannungen viel schneller lösen." Was er nicht sagt. "Ins Bett?" Jetzt? "Wir können aber auch auf die Couch." Eigentlich ist es mir egal wo, sogar der Küchentisch sieht bequem genug aus, um "Steh mal auf und folge mir." Äh … Echt jetzt?

"Ralf?"

"Ja?" Ich stehe wie befohlen auf und bin nun ganz dicht vor ihm. Seine Bartstoppeln sind schon wieder zu sehen. Die kleinen roten Stoppeln fangen das Sonnenlicht ein und funkeln ganz merkwürdig. "Was denn?"

"Weiß nicht", flüstere ich, schaue ihm in die Augen und schlucke hart. Ralf setzt zu einer Antwort an, bleibt aber still.

Irgendetwas passiert gerade, ich kann bloß nicht sagen was. Mein Herz schlägt so schnell, dass es mir in den Ohren dröhnt und meine Knie werden weich wie Gummi. Meine Haut überzieht ein warmes, erwartungsvolles Prickeln. Auf was sie so gespannt wartet, bleibt mir unerschlossen. Vielleicht das Selbe, was mich weiter unten 'anspannt'?

Ralf leckt sich über die Lippen. Scheiße, sieht das heiß aus! "Ich denke", sagt er leise "wir sollten ... Also im Bett könnte ich deine Haut massieren ... Deinen Nacken! Deinen Nacken könnte ich da ... Ach, scheiß drauf!" Hä?

Wahmm! Es trifft mich volle Kanne, und damit meine ich, Ralf trifft mich volle Kanne. Vor mir dreht sich alles, denn: Ralf küsst mich!

Ich versteife mich total und andere Stellen werden sogar noch steifer, als sie ohnehin schon waren, nach der Massageattacke. Ralfs Lippen bewegen sich auf meinen, und ich habe, ehrlich gesagt, keinen Schimmer, was ich im Gegenzug mit ihnen machen soll. Ebenso meine Hände. Lege ich sie auch um Ralfs Rücken, so wie er es bei mir gerade macht, oder lasse ich sie einfach weiterhin nutzlos neben meinem Körper baumeln? Noch ehe ich mich entscheiden kann, was ich denn jetzt mit Mund und Händen tue, endet der Kuss auch wieder. Mit großen Augen schauen wir uns an. Warum hat er aufgehört?
 

~Ralf~

Mein Herz klopft noch immer wie bescheuert, mein Bauch füllt sich mit kitzelndem Ungeziefer, die meine Nervenenden zum Kribbeln bringen, als würde ich in Brenneseln liegen. Scheiße! Das ist er, der Moment ohne Wiederkehr!

In Björns Gesichtsausdruck kann ich absolut nichts ablesen. Hat ihm der Kuss gefallen? Landet gleich wieder seine Hand in meinem Gesicht? Fühlt er das Selbe wie ich? Spürt er, dass das kein einfacher Kuss war, sondern mehr? "Was soll das?", fragt er mich auf einmal leise. Er scheint nicht das Gleiche wie ich zu fühlen. Verflucht! Was hab ich da schon wieder angerichtet?

Ich muss mich räuspern, um ihm antworten zu können. "Ich ..."

"Mach das noch mal." Was soll ich? "Bitte." In meinem Kopf rauscht es laut. Meint er damit, ich soll ihn noch mal küssen? "Oder willst du nicht?"

"Doch!" Und wie ich das will! "Willst du denn diesmal auch?" Er nickt kaum merklich, doch das reicht mir.

Ich ziehe seinen Körper zu mir und presse meine Lippen auf seine. Er seufzt leise und berührt mich zaghaft an den Seiten. Dennoch liegt er ziemlich versteift in meinen Armen und sein Mund bleibt eher unbeteiligt bei unserem Kuss. Das muss ich ändern.

Zuerst öffne ich meine Lippen ganz leicht, sauge an seiner Unterlippe und schiebe somit meine Oberlippe zwischen seine. Er stutzt kurz, kommt mir dann aber ein Stück weiter entgegen, wenn auch nicht viel. Er wirkt total unsicher und schüchtern. 'Das ist doch ganz und gar nicht seine Art.' Und mit einem Mal dämmert es mir: Björn hat noch gar keine Erfahrung in diesen Dingen! 'Wäre es dann nicht besser, hier zu unterbrechen?' Die Frage wartet noch darauf beantwortet zu werden, da öffnet sich aber auf einmal Björns Mund. Nicht viel, aber es reicht, um meine Entscheidung zu treffen.

Vorsichtig taste ich mich mit meiner Zunge vor und fahre mit ihr an seinen weichen Lippen entlang. Björn erschaudert in meinen Armen und schiebt seine Hände nun ganz um mich. Auf meinem Rücken wandern sie ziellos umher und verbrennen mich regelrecht und endlich erwidert er meinen Kuss, bewegt seine Lippen gegen meine und lässt mich seine Mundhöhle erobern.

Mir wird ganz schwindelig. Am liebsten würde ich ihn packen und hochheben, ihn ins Schlafzimmer tragen und dann auf mein Bett werfen, damit ich ihm noch viel, viel mehr zeigen kann. Aber das tue ich nicht, denn Björn ist noch nicht volljährig. 'Und küssen? Ist das, was wir hier gerade tun gesetzeswidrig?' Bitte nicht! Dazu ist es viel zu schön ... Und weil ich das leise Stimmchen in meinem Kopf höre, dass der Kuss schnell zu was anderem führen könnte wenn ich nicht aufpasse, löse ich mich behutsam von Björn.

Seine Augen öffnen sich. Aus unergründlichen blauen Seen schaut mich an und leckt sich verlegen über die Unterlippe. Bei diesem Anblick wäre es beinahe schon wieder um mich geschehen. Was mache ich denn jetzt? Wäre Björn Tore, dann wüsste ich es, aber so? Ich muss unglaublich aufpassen, was ich tue.

Björn mustert mich, als ginge ihm was ähnliches wie mir durch den Kopf. Er weiß auch nicht wie er auf diese Situation reagieren soll. 'Ich stelle mich an wie ein Teenager!' Es ist fast schon lachhaft, aber was soll ich tun? Am besten gar nichts.

Björn lächelt mich verschämt an und nimmt seine Arme von mir, bleibt aber dicht vor mir stehen. "Der Kaffee riecht so gut. Magst du auch eine Tasse?" Kaffee? Wie kann er jetzt nur an Kaffee denken?

"Ja", nicke ich trotz meiner sich überschlagenen Gedanken. "Frühstücken wir." Was würde ich jetzt dafür geben, Tore hier bei mir zu haben! Ich muss mit ihm reden! Dringend!
 

Björn geht um den Tisch herum, nimmt die Kaffeekanne und schenkt uns beiden ein, ehe er sich wieder auf seinen Platz setzt und so tut, als wäre eben rein gar nicht passiert. Wie kann er nur so ruhig bleiben?

Weil ich noch immer nicht weiß was ich tun soll, setzte ich mich ihm gegenüber und trinke einen hastigen Schluck. Fuck! Ist der Kaffee heiß! "Alles klar?" Ich nicke und stelle die Tasse wieder ab. "Vorsicht heiß", scherzt Björn. Gibt's denn so was? Ich will ihm einen dummen Kommentar entgegenblaffen, so was wie: Ach, auch schon gemerkt? Oder: Das hättest du mir auch eher sagen können, doch mit bleiben alle Worte im Halse stecken, und das nicht wegen des heißen Kaffees.

Von wegen, Björn tut so, als wäre nichts passiert! Seine Birne ist rot wie eine Tomate und man merkt ihm ganz deutlich an, dass er sich durch das Frühstück zwingt, weil er wie ich auch nicht weiß, wie es nun weiter geht. Immer wieder schielt er zu mir, erschrickt, wenn er merkt, dass ich zurückschaue und schmiert sich hektisch sein Brötchen. Minutenlanges Marmeladen-verteilen trifft es wohl besser, aber da mir auch nichts anderes einfällt, was unsere Lage verbessern könnte, mache ich es ihm nach und widme mich ganz meinem Brötchen.

Die folgenden Minuten ziehen sich wie Kaugummi. Keiner von uns beiden sagt ein Wort. Es herrscht peinliches Schweigen, wobei wir uns gelegentlich kurz ansehen und dann wieder schnell weggucken. So unbeholfen war ich ja noch nicht mal in der Zeit, in der mir klar wurde, dass ich schwul bin! Es kommt sogar erst wieder Leben in die Bude, als wir gemeinsam den Tisch abräumen, allerdings fällt auch da kein einziges Wort zwischen uns. Nur die Küchenuhr tickt laut vor sich hin, was mir fast den letzten Nerv kostet.

Ich bin gerade dabei, die klebrigen Marmeladen-Brötchen-Krümel in den Mülleimer zu kratzen, da sehe ich in den Augenwinkeln Björn neben mir auftauchen. "Der ist auch noch dreckig", sagt er leise und hält mir seinen Teller hin. Ich stelle meinen sauber gekratzten Teller auf die Arbeitsplatte und schnappe mir Björns, als sich dabei unsere Finger berühren.

Stocksteif bleibe ich in halb gebückter Stellung stehen unsd glotze zu Björn hinauf. Der hat den Mund offen und ... Der Teller rutscht aus unseren Fingern und schlägt auf dem Küchenboden entzwei, doch das registrieren wir beide kaum noch. Zu sehr sind wir miteinander beschäftigt, uns gegenseitig die Luft aus den Lungen zu saugen.

Ich schiebe Björn gegen den Kühlschrank und noch bevor ich es verhindern kann, sind meine Hände unter sein Shirt gefahren und befummeln dort die warme Haut. Die Geräusche die der Kleine dabei macht, lassen meine untere Hälfte heftig zusammenfahren. Björn reibt sich an mir, biegt sich meinen Händen entgegen und geht selbst auf Erkundungstour. Die Berührungen an meinen Seiten lasse ich nur zu gern zu, doch dann wagt er sich tiefer und schlüpft in meinen Hosenbund. Ich hasse es aber "Nicht Björn." Als hätte mich eine Tarantel gestochen weiche ich von ihm zurück. Jetzt steht er ganz bedröppelt da und sieht mich verwirrt an. "Wir dürfen das nicht", versuche ich ihm meine Reaktion zu erklären.

"Und warum nicht?" Seine Stimme hört sich traurig an, obwohl ich einen trotzigen Unterton heraushören kann.

"Du bist minderjährig."

"Ah so." Erleichtert atme ich aus. Er scheint es verstanden zu haben. "Ich bin also doch nur ein kleiner Junge für dich!" Björn stößt sich vom Kühlschrank ab und rast aus der Küche. Oh oh!

"Björn!" Ich eile ihm nach und komme kurz nach ihm im Schlafzimmer an, wo er umherliegende Dinge von sich in die Tasche stopft. "Jetzt warte doch mal! Was tust du da?"

"Ich packe!" Der Reißverschluss zirpt laut. "Tschüss!"

"Nix da, du bleibst!" Ich versperre ihm den Weg und mache mich im Türrahmen breit. Björn knurrt sauer und dreht sich um. Er will anscheinend aus dem Fenster flüchten. Nichts wie ihm nach! "Halt!" Ich erwische ihm am Arm, noch bevor er am Fester angekommen ist.

"Lass mich los du Homo!" So ein kleiner Trotzkopf! Warum führt beinahe jeder Kuss zwischen uns dazu, dass er mich anbrüllt?
 

~Björn~

Ich könnte heulen. Ich war so dumm! Warum habe ich auch nur eine Sekunde daran geglaubt, er könnte doch mehr für mich empfinden als bloße Hilfebreitschaft? "Ich werde dich nicht gehen lassen", keucht er, während wir miteinander rangeln. Händeringend versuche ich mich aus seinem Griff zu befreien, um entweder zum offenen Fenster, oder zur Schlafzimmertür zu gelangen.

"Du Lügner!", brülle ich und lasse die Tasche fallen, damit ich meine Fingernägel in seine Arme schlagen kann.

"Au! ... Ich habe dich nicht angelogen!" Keine Chance. Trotz schon einiger blutenden Schrammen lässt mich dieser verfluchte Homo nicht los.

"Erzähl keinen Scheiß! ... AHHH!" Plötzlich legen sich seine Arme um mich, legen sich fest um meinen Bauch und dann werde ich hochgehoben. Ich stemme mich gegen ihn, trete wild um mich und treffe ihn sogar ziemlich häufig, aber auch jetzt hilft mir das nichts. Als hätte er jegliches Schmerzempfinden ausgeschaltet. "LASS MICH RUNTER! LOSLASSEN HAB ICH GESAGT!", schreie ich zappelnd.

"Nein! Erst hörst du kleiner Giftzwerg mir zu!" Giftzwerg?!

In mir brodelt es und ich raste beinahe aus vor Wut. "AHHHH!!!" Ich greife hinter mich und probiere sein Gesicht zu fassen zu bekommen, aber dann werde ich abrupt losgelassen. Ich keuche überrascht auf, als ich auf der Matratze lande. Die Überraschung hält nicht lange an und ich robbe mich vorwärts. Die Tür ist so nahe!

"Bleib liegen."

"Leck mich!"

Ralf lacht auf. "Wo und wie lang?" Ich vergesse die Tür und werde immer wütender.

"Pisser!" Ich drehe mich um, damit ich ihn direkt anschauen kann und schnappe mir eins der Kopfkissen. "Als ob du mich lecken willst!" Mit voller Wucht schleudere ich ihm das Kissen entgegen, lasse es aber nicht los.

"Glaub mir, wenn du endlich volljährig bist, bist du fällig. Dann lecke ich dich wo und solange du willst." Meine Ohren fangen an zu glühen. Meint er das ernst?

"Lügner", zische ich und treffe mit dem Kissen sein Gesicht. Diesmal aber nicht so fest.

"Ich bin kein Lügner und ich wüsste nicht, dass ich dich jemals angelogen hätte." Mein Bauch zieht sich zusammen. Ralf setzt ein Knie auf das Bett, dann das andere und kommt langsam auf mich zu gerutscht. Ich kann mich nicht bewegen vor Aufregung. Wie er mich ansieht. So komisch ... "Was würde ich dafür geben, dass wir eben in der Küche einfach hätten weitermachen können. Aber das könnte mich in Schwierigkeiten bringen. Verstehst du?" Allmählich dämmert es mir.

"Ich sag es keinem", flüstere ich. Ralf schüttelt den Kopf und bleibt zwischen meinen angezogenen Beinen hocken. "Du vertraust mir nicht." Die Wut kehrt zurück.

"Darum geht es nicht."

"Worum dann?" Ist er tatsächlich so kleinlich, oder meint er es ernst mit meinem Alter?

"Das kann ich dir nicht sagen. Noch nicht." Das soll ich glauben? Diese scheinheilige Ausrede?

"Du kannst es mir nicht sagen, weil du mich eigentlich doch gar nicht willst!" Ich umklammere das Kissen wieder fester und hole aus. Ein mal, zwei mal, bis Ralf wohl genug davon hat, es sich schnappt, als es wieder auf ihn zufliegt, und es am anderen Ende festhält. Wir rangeln miteinander um die Besitzrechte des Kissens. Ich rapple mich dabei auf und zerre mit all meiner Kraft daran. "Lass los!"

"Lass du los!" Giftiges Blickduell. "Ich warne dich Björn. Lass den Scheiß und glaube mir doch endlich!"

"Ich glaube keinem Homo!"

"VERDAMMT BJÖRN! HÖR ENDLICH MIT DIESER SCHEIßE AUF!" Ich zucke erschrocken zusammen. Meine Ohren klingeln, so laut war Ralf gerade. "Hör auf mich Homo zu nennen! Das ist nicht mehr witzig!"

"Das war auch nie witzig gemeint", kontere ich.

"Du kannst manchmal ein echtes Arschloch sein, hat dir das schon mal jemand gesagt?" Mir klappt der Unterkiefer nach unten. Wie hat er mich eben genannt? Ein Arschloch?

Ich bin noch zu geschockt von seiner Beschimpfung und kann daher gar nicht reagieren, als er das Kissen aus meinen Händen reißt, dann aber selbst erschrocken aufschreit.

Durch unser Gerangel ist es ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden und der letzte Ruck hat es zum Zerreißen gebracht. Unzählige weiße Gänsefedern fliegen hoch in die Luft und verteilen sich um uns herum. Es schneit! Mitten im Sommer!

Ich strecke meine Hand nach den Federn aus, aber was fange ich ein? Ralfs Hand, die sich auf meine offene Handfläche legt. Ich senke den Kopf und schaue ihn an. Weiße Federn schmücken sein Haar. Meins sicher auch, aber was soll's? "Tut mir leid. So war das nicht gemeint."

"Das tat weh", krächze ich.

"Das tun mir deine Beschimpfungen auch." Prompt fühle ich mich schlecht. Er hat recht. Ich war immer mies zu ihm, nicht immer, aber sehr oft. Doch er? Er hat mir Mut gemacht nach einem Praktikumsplatz zu fragen. Hat mich gebeten bei ihm zu bleiben und hat mir sogar das Leben gerettet.

"Ich bin ein Arschloch", sage ich leise und senke die Hand, die Ralf noch immer in Beschlag hält.

"Nur manchmal." Ein freches Grinsen umspielt seine Mundwinkel. Ich kann nicht anders und muss ebenfalls anfangen zu lächeln. "Vertragen wir uns wieder?" Ich nicke, weil ich keinen Ton mehr herausbekomme. Meine Kehle ich wie zugeschnürt, weil ich mich für meinen Auftritt eben zu schämen beginne. "Komm her." Ich werde an Ralfs breiten Brustkorb gezogen.

Sofort kuschle ich mich an ihn und ignoriere das Kitzeln der Gänsefedern dabei. "Ich liebe dich, Ralf." Nun ist es raus und mir wird ganz schwindelig.

Wie sagte mein Vater immer? Entweder fliegen oder abstürzen. Irgendwann steht man immer vor diesen beiden Möglichkeiten. Ich hoffe nur, der Aufprall, sollte er denn unvermeidlich sein, ist nicht allzu hart.
 

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Kapitel 09 - Fliegen oder abstürzen?

Kapitel 09 - Fliegen oder abstürzen?
 

~Ralf~

Gebannt schaue ich auf die noch immer herabsegelnden Federn. Mittlerweile bedecken sie fast mein gesamtes Bett. Eine Schneedecke, sozusagen. Eine Gänsefeder-Schneedecke. Aber wieso denke ich über so einen Nonsens nach? Scheiß auf die Federn! Scheiß auf die Sauerei, die Björn und ich eben auf meinem Bett veranstaltet haben!

Auf was ich allerdings nicht scheiße, sind die eben gefallenen Worte seitens Björns. 'Ich liebe dich, Ralf.' Mir ist das Herz stehen geblieben. Selbst jetzt, ein, zwei Minuten später, schlägt es noch ungleichmäßig in meinem Brustkorb herum. Er liebt mich. Er hat es tatsächlich gesagt. Wie es mir dabei geht? Wie sollte es mir denn dabei gehen? Sollte ich Luftsprünge machen? Ihm das Selbe sagen? Aufstehen und gehen?

Ich schließe die Augen und horche in mich rein, doch das Einzige was ich höre und spüre ist Björn, der in meinen Armen liegt und sich keinen Millimeter bewegt. Atmet er überhaupt noch? Vorsichtig senke ich den Kopf und drehe ihn leicht nach links, bis ich mit meiner Nase in Björns Haaren eintauche. Er erschaudert, bewegt sich ansonsten noch immer nicht. "Björn?"

"Ja?" Seine Stimme ist dünn und unsicher. Er hat Angst vor meiner Reaktion, was ich verstehen kann. Wenn mich nicht alles täuscht war das gerade seine erste Liebeserklärung, die er je jemanden gemacht hat.

"Ich ..." 'mag dich.' Nein! Das kann ich ihm unmöglich sagen! Nicht, weil ich ihn nicht enttäuschen will, sondern weil es gelogen wäre. "Ich ..."

"Erspare es dir", unterbricht er mich und löst sich von mir. Erneut wirbeln einige Federn auf. "Ich wollte es dir bloß sagen. Das ist nur fair nach dem, was du wegen mir durchmachen musstet und was ich dir an den Kopf geworfen habe. Ist schon gut, wenn du nicht das Gleiche für mich ..."

"Ich liebe dich auch." Ganz erschrocken von meinen Worten, starre ich Björn an, dessen Kopf zu mir hoch zuckt und mich ebenfalls sprachlos anstarrt.

Da habe ich die laut ausgesprochene Antwort auf meine ständigen Überlegungen. Sich seine Gefühle selbst einzugestehen ist ja meist eine gute Sache, aber diesmal macht mir das ganz schön Angst, nicht nur, weil Björn noch so verdammt jung ist. Falls mir wieder das passiert, was immer passiert, wenn ich mich in jemanden verliebe, dass könnte ich nicht wieder durchstehen. Erneut kommen mir meine zuvor zu Bruch gegangenen Liebschaften in den Sinn und lassen alle Ängste in mir hochsteigen. Bei Kris war es schon verdammt furchtbar gewesen. Von Dillan ganz zu schweigen, aber "Ralf?" Ich blinzle zu Björn, der mich stirnrunzelnd anschaut. "Du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen." Er nun wieder. Typisch Björn. Doch er bringt mich wieder zum Grinsen.

"Nein, muss ich nicht. Es ist nur, mit der Liebe hatte ich bis jetzt immer nur Pech."

"Oh." Er denkt kurz nach, wobei seine Hand meine fester umfasst. "Mit mir wirst du kein Pech haben", sagt er mit einem vollkommen überzeugten Unterton, lässt meine Hand los und umarmt mich, bevor sein Mund meinen einfängt.

Wie gern würde ich das glauben und ich tue es sogar fast, als sich unsere Zungen das erste Mal treffen und sich scheu aneinander rantasten.
 

~Björn~

Glaubt er mir? Oh Mann! Wie soll er mir das glauben, wenn ich mir insgeheim selbst nicht traue. Ich bin so ahnungslos in Liebesdingen, wie eine Fliege in Dezimalrechnung. 'Ich werde alles dafür tun, dass ich Ralf nicht enttäusche. Nicht noch mal.' Ich schließe die Augen und lasse einfach mich gehen. Ich will darüber jetzt nicht nachdenken, und Ralfs Lippen lassen es sowieso nicht zu, dass ich weiter darüber nachgrüble.

Ganz langsam rutschen wir zur Seite, bis wir auf dem mit Federn bedeckten Bett liegen. Ralf schiebt sich halb auf mich und streichelt mir durch die Haare. Auf meinem Kopf bildet sich eine Gänsehaut. Ein ungewöhnliches Gefühl. 'Als würde ich fliegen.' Was ich ja auch tue, im übertragenen Sinn. Ralf hat mich nicht abstürzen lassen. 'Er liebt mich auch.' Das kommt erst jetzt so richtig in meinem Hirn an. Wow!

"Pfft!" Ich öffne die Augen, weil Ralf gegen meinen Mund pustet und sich von mir wegdreht. "Pffahh!"

"Was denn?" Habe ich was falsch gemacht?

"Die Federn", prustet er und fummelt sich am Mund rum. Ich muss anfangen zu lachen. "Sehr ... pfffff ... lustig!"

"Zeig her." Ich schiebe seine Hand weg und pflücke ihm das kleine Federchen aus dem Mundwinkel. "Da ist sie."

"Mistding!" Er schnappt sich den Übeltäter, rollt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und lässt ihn neben uns auf die Matratze fallen. Danach mustert er sein Bett. "Schon eine Ahnung, wie wir die Sauerei wieder wegbekommen?", fragt er mich und greif sich eine Hand voll Federn, die er auf mich herabregnen lässt.

"Hey! ... Keine Ahnung! Mit dem Staubsauger vielleicht?"

"Hm." Ralf sieht gar nicht glücklich aus.

"Es tut mir leid", wiederhole ich. "Es ist meine Schuld, dass das Kissen gerissen ist."

"Ach was. Ich hab ja auch daran gezogen."

"Aber bloß weil ich so ein Vollidiot war." Weswegen haben wir uns noch mal gestritten?

"Ja ... Stimmt schon irgendwie." Ich lasse den Kopf hängen. "Jetzt guck nicht so", schmunzelt Ralf. Seine Finger legen sich unter mein Kinn. "Du bist eben sehr hitzköpfig."

"Hitzköpfig?" Ich knirsche mit den Zähnen.

"Nicht wieder sauer werden!"

"Werde ich schon nicht", flüstere ich, grapsche mir eine Hand voll Federn und drücke sie in Ralfs dämlich grinsendes Gesicht.

Prustend dreht er den Kopf weg, Federn fliegen und ich kann mich kaum noch halten vor lachen. "Na warte!", kreischt er und stürzt sich auf mich. Es kleben lauter Federn auf seinem Mund, den er mir ganz hinterhältig aufdrückt.

"Hmm!" Halbherzig versuche ich ihn von mir runter zu drücken und presse meine Lippen aufeinander. Zum Glück endet Ralfs Attacke wieder genauso schnell, wie sie begonnen hat. Trotzdem kleben mir nun ein paar Federn an den Lippen, die ich mit den Fingern versuche zu entfernen.

Frech grinst er mich von oben herab an. "Mein kleiner Hitzkopf", gluckst er. In meinem Bauch stellt sich ein warmes Kribbeln ein. Die Federn sind vergessen. Ich bin sein Hitzkopf? SEIN Hitzkopf? "Machen wir hier erstmal sauber, ja?" Wenn es sein muss.

"Okay." Das warme Gefühl in meinem Bauch, das plötzlich auftritt, bringt mich ganz durcheinander.

Sich zu verlieben, ist eine komische Sache, sage ich euch!
 

***
 

~Ralf~

Gedankenverloren stehe ich vor meinem Kleiderschrank. Eigentlich wollte ich mir nur schnell ein Shirt aus dem Schrank holen, aber nun starre ich schon seit gefühlten Ewigkeiten meine aufeinandergestapelten T-Shirts an und denke nach. Was für ein komischer, verwirrender Tag!

Er war schön, keine Frage, aber dennoch weiß ich nicht so recht, was ich von den ganzen Geschehnissen halten soll. Björn lächelt seit dem Vorfall im Bett nur noch, was mich natürlich freut, keine Frage, aber bei mir bleibt noch immer ein unschöner Nachgeschmack im Mund. Ich will es nicht, trotzdem ist er da. Hoffentlich vergeht das bald, denn auch wenn ich heute Morgen noch was anderes behauptet habe, möchte ich das mit Björn. Das wurde mir den Tag über immer klarer. Und falls es wieder schief geht, kann ich mich ja noch immer in ein Kloster einweisen lassen. Oder ich mache es wie Tores Pfarrer und schwöre allen fleischlichen Gelüsten ab. 'Lieber sterbe ich!'

Ich raufe mich zusammen und wähle endlich ein Shirt aus, das ich mir überziehe. "Tut das noch weh?" Björn!

Überrascht drehe ich mich zur Badezimmertür um. "Kaum", antworte ich ihm und ziehe mir das Shirt ganz über den Oberkörper.

"Dann ist die Prellung fast verheilt?" Wieder steht Björn bloß mit einem Handtuch um den Hüften in meinem Schlafzimmer. Die pure Versuchung! Nur nicht dran denken, Ralf! Allerdings fallen mir auch sofort die dunklen Flecken auf, die seinen Bauch zieren. Ich brauche gar nicht fragen, wer ihm das angetan hat. Nie wieder! Ich werde nicht zulassen, dass dieses Arschloch ihn jemals wieder anfasst!

"Sieht so aus. ... Und bei dir?" Ich deute auf seinen Bauch.

"Hm? Ach, halb so wild. Ich bin das doch gewöhnt." Er zwingt sich ein Lächeln ab. Es scheint ihn verlegen zu machen, also sage ich nichts mehr.

"Willst du dich jetzt umziehen?", frage ich ihn, um ihn einerseits abzulenken, und mich im Übrigen ebenfalls. Das Ziehen in meiner Leistengegend will einfach nicht verschwiden.

"Ja. Ich wollte früh schlafen gehen, wegen Morgen."

"Sehr löblich", lächle ich. Morgen ist sein erster Praktikumstag. "Ich stelle gleich den Wecker, damit wir nicht verschlafen. ... Soll ich dich fahren?"

"Wenn du magst?"

"Klar", lächle ich, setze mich auf's Bett und drehe am Wecker herum. "Ist halb sieben zu spät?"

"Nee. Das reicht."

"Gut." Der Wecker ist schnell eingestellt. Verrichteter Dinge schaue ich rüber zu Björn, der in seiner Tasche herumwühlt. "Vielleicht wäre es besser, du legst deine Sache in meinen Schrank. In der Tasche zerknittert doch alles."

"Das geht schon. Ist eh nicht viel."

"Egal. Ich räume dir morgen Vormittag ein paar Fächer leer, dann kannst du" mir bleibt der Rest im Hals stecken.

"Was kann ich?"

Ich drehe meinen Kopf zur Seite. "Dein Zeug, das kannst du dann da rein legen", nuschle ich und fixiere meinen Bettpfosten. Wieso? Weil Björn einfach sein Handtuch hat fallen lassen und sich nun vor meinen Augen anzieht. Macht er das extra? Will er mich wieder provozieren, so wie bei unserem Kennenlernen?

"Von mir aus. Wenn dich das glücklich macht", antwortet er mir, als wäre es das normalste auf der Welt, sich vor mir auszuziehen. "So! Dann mal ab ins Bett! Hoffentlich kann ich auch einschlafen. Ich bin ganz aufgeregt!" Ich riskiere einen Blick. Endlich ist er angezogen und läuft um das Bett herum.

"Wird schon schief gehen", muntere ich ihn auf und stehe auf. "Ich schau noch etwas Fern. Oder macht dir das was aus?" Stirnrunzelnd verneint er leise. "Gute Nacht."

"Nacht ..." Ich muss hier raus, sonst kann ich mich nicht mehr zurückhalten!
 

~Björn~

Enttäuscht blicke ich Ralf hinterher, der leise die Tür hinter sich schließt. Er will Fernsehen gucken? Jetzt? Ich verstehe zwar nicht viel von Liebesangelegenheiten, aber geht es ihm denn nicht genauso wie mir? Will er denn nicht bei mir sein?

Meine Laune sinkt auf den Tiefpunkt. Dabei war der restliche Tag doch so schön gewesen! Ich rolle mich zur Seite und ziehe mir die Decke über den Kopf, auch wenn mir kurz danach verdammt heiß wird. Hab ich wieder was falsch gemacht? Und wenn ja, was? Ich reiße die Augen auf. "Scheiße! So kann ich nicht einschlafen!" Die Decke fliegt und mit einem Satz bin ich aus dem Bett. Das muss ich jetzt klären! Sofort!

Aufgeregt und leicht säuerlich - Ralf könnte ja mal die Klappe aufmachen und mir sagen, was ihn schon wieder stört - laufe ich zum Wohnzimmer. Ich bin noch nicht richtig drin, da bleibe ich wie angewurzelt stehen. "Ralf?"

"Björn ... Björn? AHH!" Ich weiß nicht was ich tun soll, schaue von Ralfs Schoß in dessen Gesicht und wieder zurück. "Ich dachte du schläfst!", kreischt er und reißt eins der Kissen an sich, mit dem er seine Blöße bedeckt.

"Wollte ich ja auch, aber ich konnte nicht!", schreie ich zurück. "Bist du deswegen aus dem Schlafzimmer geflohen?" Ich deute auf das Kissen. "Um zu wichsen?" Trotz des schwachen Lichtes, das von einer kleinen Lampe in der Ecke stammt, kann ich sehen, wie Ralf dunkelrot anläuft.

"Du hast doch angefangen!"

"Ich?" Müsste ich mich nicht daran erinnern, wenn ich DAS da gemacht hätte?

"Ja! Du bist nackt vor meiner Nase herumgehopst. Da musste ich ja flüchten!" Was soll ich gemacht haben?

Stimmt das? Habe ich vorhin ... "Oh Fuck", krächze ich und laufe nun meinerseits rot an. "Ich hab vorhin im Schlafzimmer ... Du warst da und ..." Zum Glück ist der Türrahmen gleich in Reichweite. Ich muss mich festhalten, damit ich nicht in die Knie gehe. "Das war nicht beabsichtigt!" Ganz und gar nicht!

"Du hast das nicht gemerkt?"

"Nein!" Mein Kopf pulsiert unangenehm und ist kochend heiß. Ich hab vor Ralf blank gezogen! "Sorry. Ich geh pennen." Nix wie weg hier!

So schnell mich meine wackligen Beine tragen, flitze ich zurück ins Schlafzimmer, werfe die Tür hinter mir zu und krieche wieder unter die Decke, wo ich mich zu einer kleinen Kugel einrolle. "Das ist mir so scheiße peinlich", wimmere ich ins Kopfkissen. "Warum hab ich das getan?" Mein Hirn muss einen Totalaussetzer gehabt haben. Anders kann ich mir das nicht erklären.

"Björn?" Schritte nähern sich.

"Geh weg!" Er soll bloß nicht in meine Nähe kommen!

"Mir ist es auch peinlich, dass du mich dabei erwischt hast." Wenigstens etwas.

"Das hilft mir auch nicht." Ich höre ihn leise seufzen und dann senkt sich die Matratze. "Lass mich! Wehe du ziehst mir die Decke weg!"

"Stell dich nicht so an. Ich hab doch weggeguckt."

"Und?"

"Hallo? Du hast mich ganz gesehen. Voll und ganz", lacht er. Der hat Nerven!

Über mir raschelt es. Keine Sekunde später wird es hell. "Mir ist kalt!", kreische ich und zerre die Decke wieder runter.

"Bei fünfundzwanzig Grad ist dir kalt?"

"Leck mich du ... Idiot!" Jetzt hätte ich beinahe wieder Homo zu ihm gesagt.

"Du beleidigst mich schon wieder."

"Ich hab nicht Homo gesagt! ... Mist!"

"Decke her jetzt!" Ralf nutzt meine momentane gedankliche Abwesenheit aus und zieht mit einem Ruck die Decke weg. Und so fies wie er ist, wirft er sie gleich ganz vom Bett.

"Scheiße Mann! Zieh dir was an!" Der is ja immer noch nackt!

"Warum?"

"Warum? Das war deine Regel! Es läuft nix, bevor ich nicht achtzehn bin." Hat er das etwa vergessen?

"Hier läuft ja auch nix. Ich sitze nur hier." Ich knirsche mit den Zähnen und rücke auf die andere Seite des Bettes. "Mach doch nicht so einen Aufstand."

"Zieh dir was an!"

Wieder lacht er. "Und wie hast du dir das vorgestellt, wenn wir ans Eingemachte gehen wollen?"

"Das hat damit nichts zu tun!"

"Doch, hat es." Du mieser ... "Gut, ich ziehe mich wieder an und dann schlafen wir." Ich blinzle zu ihm rüber. Ist das Thema damit wirklich gegessen? "Aber wenn du volljährig bist, kommst du mir nicht mehr so leicht davon", wispert er mir mit dunkler Stimme zu. Mein Gesicht fängt an zu brennen, woraufhin er anfängt zu lachen. Arsch!
 

***
 

~Ralf~

"Viel Glück."

"Danke." Björn regt sich nicht. Das kommt mir irgendwie bekannt vor.

"Willst du nicht aussteigen?", frage ich ihn und schaue auf seine verknoteten Hände. Heute Morgen war er noch so souverän, meinte, das schaffe er schon, doch jetzt? "Björn?"

"Was?"

"Steig schon aus. Du wirst sehen, es wird viel besser als du es dir vorstellst. Versuche nicht an die schlimmen Zeiten in deiner Vergangenheit zu denken. Ab jetzt an wird alles besser."

"Meinst du?"

"Ganz sicher." Es klingt abgedroschen, doch so meine ich es wirklich und ich werde alles dafür geben, dass es auch so eintritt.

Björn nickt, noch immer ganz abwesend, aber wenigstens schnallt er sich nun ab. "Holst du mich ab?"

"Klar. Schick mir eine SMS um wie viel Uhr ich hier sein soll und ich bin da."

"Danke." Er schenkt mir ein scheues Lächeln und beugt sich zu mir. Ein zaghafter Kuss und draußen ist er.

Vor mich hingrinsend warte ich, bis er im Ladeninneren verschwunden ist und fahre los. "Das packst du. Darauf gehe ich jede Wette ein."

Mein Weg führt mich wieder direkt nach Hause. Ich muss heute unbedingt den ganzen Zettelkram durchgehen, den mir meine neue Firma geschickt hat. Aus irgendeinen Grund bin ich letzte Woche damit gar nicht fertig geworden.

Von der Innenstadt bis zu mir nach Hause geht es schneller, als vorhin die Fahrt in die Stadt. Der Berufsverkehr staut sich zum Glück in die andere Richtung. Als ich zuhause ankomme, und in die Hofeinfahrt einbiegen möchte, sehe ich Tores Auto gegenüber in seiner Auffahrt stehen. Er ist heute daheim? Das wirft meine Pläne für den Tag komplett über den Haufen. Ich muss mit ihm reden und da Björn noch eine Weile nicht hier sein wird, ist das die Gelegenheit dazu!

Ich stelle meinen Wagen ab und laufe über die Straße. Dann klingle ich und warte. Noch einmal tippe ich auf den Klingelknopf, da höre ich Tores schlurfende Schritte auf mich zukommen. "Hey", brummt er mich an.

"Wie siehst du denn aus?" Tores Gesicht ist total zerknautscht. Er hat Augenränder bis zu den Kniekehlen und seine Haut sieht aschfahl aus. "Hast du getrunken?"

"Ja. Gestern Abend."

"Allein?"

"Hätte ich dich einladen sollen?" Ich seufze laut aus. "Komm rein." Tore schlurft wieder von Dannen, ich hinterher.

"Geht es dir echt so scheiße, dass du dich schon alleine betrinken musst?", frage ich ihn in der Küche und stelle mich neben ihn an die Küchenzeile. So wie es aussieht möchte er Kaffee kochen. Gut so. Den hat er auch bitter nötig.

"Wenn du schon so fragst: Ja, mir ging es so scheiße, dass ich mich mit einer Flasche billigen Fusels in meinem Bett die Birne zugeschüttet habe." Autsch!

"Warum hast du mich nicht angerufen?"

"Weil du gerade genug mit deinem Leben zu tun hast. Außerdem, darf ich mir es nicht mal gönnen, einmal im Montag Frust zu saufen?"

"Trinken ist auch keine Lösung", belehre ich ihn, grinse aber.

"Nicht trinken ist aber auch keine", erwidert er grimmig und holt zwei Tassen aus dem Schrank. "Eigentlich müsstest du mich doch verstehen. Was bei dir gerade für ein Durcheinander abgeht, das schreit doch auch nach der Flasche." Ich weiß nicht was ich sagen soll. Oder besser gesagt: Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. "Oh nein", wispert er und schnappt nach Luft.

"Was denn?"

"Tu nicht so unschuldig! Dir steht es ganz genau ins Gesicht geschrieben! Du hast gevögelt! Etwa mit Bj..."

"Nein! ... Also, nicht direkt."

"Was dann?" Tore lässt den Kaffee, Kaffee sein und stellt sich dicht vor mich. "Erzähl schon!"

"Björn und ich wir sind uns zwar näher gekommen, aber ..."

"Wie nahe?"

"Nicht so nahe, wie wir beide uns gekommen sind, aber schon verdammt nahe. Na ja. Vielleicht sind wir uns doch näher gekommen als du und ich, auf eine andere Weise, eine viel intensivere", stammle ich.

"Stopp mal! Wie meinst du das?"

Ich schaue Tore an, blicke direkt in seine braunen Augen. Er ahnt es. "Ich habe es ihm gesagt. Das große Wort, das mit L anfängt."

"Du hast es ihm gesagt?", fragt er mich leise, ungläubig.

"Ja. Nachdem er es mir gesagt hat."

"Wahnsinn! ... Endlich!" Fest schlägt mir Tore auf die Schulter. "Ich hab schon gedacht, dass mit euch wird nie was! Und dann springt Björn auch noch als erster über seinen Schatten. Ha! Nicht zu fassen!" Noch einmal klatscht er mir gegen die Schulter und dreht sich dann zum Kaffee um, den er an den Tisch trägt. Irgendwie komme ich mir nun ein Wenig verarscht vor.

Das frage ich ihn auch. "Willst du mich verarschen?"

"Nein. Wieso?"

"Du tust ja gerade so, als wären wir beide komplett unfähig!" Ohne Scheiß, aber ich fühle mich gekränkt.

"Seid ihr ja auch." Tore zuckt unschuldig mit den Schultern.

"Danke auch!", blaffe ich ihn an.

"Was denn? Jetzt ist doch alles paletti, oder nicht?"

"Nein, ist es nicht!", schnauze ich ihn an und hocke mich ihm gegenüber an den Tisch.

"Wo drückt der Schuh diesmal?"

"Nicht in diesem Ton!" Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Der Beziehungsvollprofi? Ich schlucke meine Wut diesbezüglich runter. Tore darauf anzusprechen brächte auch nichts außer dass ich ihn damit traurig stimme. In einen Pfarrer verknallt zu sein, der nicht zu den Gefühlen steht, die er ebenfalls für Tore hegt, ist sicher verdammt schwer zu bewältigen.

"Gut, lieber Ralf. Sag mir, welches Wehwehchen dich jetzt bedrückt." Vollpfosten!

"Liegt das nicht auf der Hand?" Tore zuckt unwissend mit den Schultern und schüttelt den Kopf. "Ich bin verdammt nahe dran, mich strafbar zu machen."

"Willst du wen umbringen?"

"Ach Himmel Herrgott noch mal, Tore! Björn ist siebzehn!"

"Ach scheiß auf den Herrgott im Himmel noch mal! Das weiß ich!" Die Tasse, die Tore eben noch in der Hand gehalten hatte, knallt laut auf den Tisch.

"Tut mir leid, aber es ist eben so. Ich kann das nicht."

"Björn vögeln?" Kein Wunder, dass der Pfarrer Reißaus genommen hat. Bei seiner vulgären Aussprache. ... Das war gemein!

"So in etwa", brumme ich leise.

"Wann wird er denn achtzehn?"

"In zwei Wochen."

"Dann warte solange."

"Kann ich nicht."

"Also wenn du Notstand hast, dann ..."

"Tore!" Grimmig schiele ich zu ihm rüber. "Das meinst du sowieso nicht ernst."

"Wenn es dich vor einer Straftat schützt, mache ich gerne meine Beine für dich breit." Er grinst mich dreckig an.

"Ich will Björn und du willst deinen Oskar. Punkt. Und im Moment können wir beide nicht das haben, was wir wollen."

"Mit einem klitzekleinen, nicht unbedeutenden Unterschied", flüstert Tore traurig. "Björn will dich auch." Oh Mist! Ich bin schon wieder ins Fettnäpfchen getreten!

"Scheiße Tore! Das tut mir so leid!"

"Spar es dir. Im Grunde hast du ja recht, aber in meiner Lage kann ich nichts Negatives an deiner Situation sehen." Sichtlich gekränkt steht er auf und läuft auf den Kühlschrank zu. "Freue dich doch einfach. Ihr mögt euch, findet euch gegenseitig anziehend und habt euch auch noch ineinander verliebt, was ihr beide euch auch eingesteht. Mehr braucht es nicht. Zwei Wochen! Zwei lächerliche Wochen und ihr könnt all das machen, was man macht, wenn man frisch verliebt ist ... Ach Scheiße!" Ich zucke zusammen. Tore hat mit der Faust auf die Arbeitsfläche geschlagen und lehnt nun mit der Stirn gegen den wieder geschlossenen Kühlschrank.
 

Ich betitle mich zum wiederholten Male als Riesenarschloch, das hab ich wenigstens mit Björn gemeinsam, und stehe auf. "Hey. Entschuldige." Vorsichtig nehme ich ihn in den Arm. "Das wird schon wieder." Der Spruch gehört verboten, aber mir fällt partout nichts besseres ein.

"Und wie soll das wieder werden?", schluchzt Tore und dreht sich in meinen Armen um.

"Wenn er dich ebenso sehr mag wie du ihn, treibt ihn die Sehnsucht schon wieder zu dir. Daran musst du nur glauben." Hoffentlich glaubt er meinen Worten, denn ich tue es nicht. Ausweglose Liebesgeschichten sind mein trauriges Spezialgebiet. Ich wünsche es ihm so sehr, dass sein Pfarrer erkennt, wie toll Tore ist, und dass man gegen die Liebe nichts machen kann. Auch das weiß ich nur zu gut.

"Das würde ich ja gerne, aber langsam gebe ich auf."

"Sag das doch nicht!"

"Wieso? Gerade du müsstest es doch besser wissen!" Er reißt sich von mir los und setzt sich an den Küchentisch.

"Ja, das tue ich. Aber seit Kurzem weiß ich auch, dass es auch anders kommen kann. Manchmal will einen das Leben nicht bei den Eiern packen und zudrücken. Manchmal streichelt es sie auch."

Tore springt auf meinen doofen Scherz an und lächelt schmal. "Schöne Umschreibung. Auch wenn es sich eher so anfühlt, als würde das Leben mir die Eier gleich ganz abreißen."

Ich setze mich neben ihn und denke nach. "Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, sich mit ihm in Verbindung zu setzen?"

"Soweit ich weiß, nicht."

"Und wenn du in der Kirche nachfragst? Sicher hat er doch einen Vertreter. Der müsste doch Bescheid wissen."

"Und was soll ich dem sagen?"

"Keine Ahnung." Ich zucke mit den Schultern. "Vielleicht, dass du dich noch mal bei ihm bedanken möchtest, wegen der schönen Trauerfeier." Tore denkt einen Moment darüber nach, scheint sich aber nicht sicher zu sein. "Soll ich das für dich tun?"

Überrascht sieht er mich an. "Das würdest du?"

"Klar." Beschlossene Sache! "Du hast dir die ganze Zeit über mein Gequassel und Gejammer angehört, jetzt tue ich auch mal was für dich!"

Tore denkt darüber kurz nach, schüttelt dann jedoch den Kopf. "Danke", flüstert er. "Es ist wirklich lieb von dir, dass du das für mich machen willst, aber ich glaube, das würde nichts bringen."

"Bist du dir sicher?"

"Ja … Wenn Oskar nicht allein wegen seinen Gefühlen zu mir zurück kommt, dann hat es ohnehin keinen Sinn." Ich will widersprechen, doch ich tue es nicht. In gewisser Weise verstehe ich ihn. Aber manchmal muss man handeln, und nicht darauf warten, dass der Pfarrer von alleine zu einem kommt.
 

***
 

~Ralf~

Die Schrift verschwimmt vor meinen Augen. Wie lange hab ich jetzt vor diesem dämlichen Bildschirm gesessen? Lange genug, finden meine Augäpfel. Sie brennen, als hätte ich drei Tage lang durchgearbeitet. "Ich bin echt nichts mehr gewohnt", brummle ich mir selbst zu.

Ich gähne herzhaft, und sehe aus den Augenwinkeln, dass mein Handy blinkt. Ich schaue erst gar nicht drauf, wer mich da anruft. "Ja?"

/Ich bin's./ Björn!

"Hey! Na, schon Feierabend?" Ich schiele auf die Uhr. Kurz nach zwei erst.

/Um halb drei/, antwortet er mir leise.

"Gut, ich fahr gleich los." Irgendwie hört er sich komisch an. "Alles in Ordnung?"

/Ja .../ Das klingt aber nicht so.

"Wirklich?"

/Ja! Ich bin nur müde./ Ich muss schmunzeln. Wir sind wohl beide aus der Übung.

"Du hast es ja bald geschafft. Bis gleich."

/Ist gut. ... Lieb dich./ Aufgelegt.

Mit großen Augen starre ich mein Handy an, während mein Herz Saltos schlägt. "Ich dich auch."
 

Vor dem Juweliergeschäft bleibe ich stehen. Björn steht schon parat und lächelt mich an. "Und? Warst du auch schön brav?"

"Ha ha." Er setzt sich und ich düse wieder los. "War ganz okay."

"Das heißt?"

"Na ja. Ich durfte viel sauber machen. Kehren, die Vitrinen abstauben ... Aber zum Schluss hat mir Magda gezeigt, wie die Glieder einer Kette gemacht werden. Aber das wusste ich schon."

"Du Streber", lache ich und kassiere einen genervten Blick. "Sorry. Ich wollte dich nur ein bisschen foppen. Du siehst echt fertig aus."

"Danke." Mein armer Björn.

"Bock auf 'ne kleine Extratour, oder bist du dafür schon zu kaputt?", frage ich ihn.

Er runzelt die Stirn. "Und wohin?"

"In die Kirche." Ich unterdrücke ein Grinsen. Die Fragezeichen über seinem Kopf kann ich mir bildhaft vorstellen.

"Was wollen wir da?"

"Ich hab da was zu erledigen", sage ich bloß und setze den Blinker. "Geht auch ganz schnell."
 

~Björn~

Ralf verhält sich merkwürdig. Was will er denn in einer Kirche? Ich lasse mich mal überraschen, denn ich habe das Gefühl, dass er mir eh nichts verraten wird.

"Hier müsste es sein." Wir biegen auf einen kleinen Parkplatz neben der Kirche ein. "Willst du mit rein?"

"Besser, als im Auto hocken zu bleiben", erwidere ich und steige aus. Drinnen in der Kirche ist es angenehm kühl. "Und jetzt?"

"Weiß ich auch nicht so genau." Toll! "Eigentlich habe ich gehofft, hier wäre jemand."

Ich kichere leise, was an den hohen Kirchenmauern jedoch lauter nachhallt, als gedacht. "Meinst du, der Pfarrer wohnt hier?" Ralf zuckt mit den Schultern.

"So genau habe ich darüber nicht nachgedacht. Wo geht man denn hin, wenn man einen Pfarrer sucht?" Da überfragt er mich ebenfalls.

"Ins Pfarramt", ertönt es vor uns. Neben dem Alter steht ein alter, gedrungener Mann, der uns zulächelt. "Oder Sie lassen sich telefonisch einen Termin geben."

"Oh. Danke", sagt Ralf zu dem kleinen Mann und läuft auf ihn zu. "Aber vielleicht können Sie mir auch weiterhelfen."

"Möglicherweise kann ich das. Ich bin hier der Küster." Ich laufe hinter Ralf her, bleibe aber vor den zwei Stufen, die zum Altar führen, stehen. Darf man da überhaupt hinauf?

"Der Pfarrer, der vorher hier war, Oskar … Äh ..."

"Ah. Sie meinen Pfarrer Leiermann? Was möchten Sie über ihn wissen?"

"Haben Sie eine Ahnung, wo er sich gerade aufhält? Ein Freund von mir hat gesagt, dass er sich zur Zeit im Ausland aufhält, aber kann man ihn dort erreichen?"

Der Küster runzelt die Stirn und scheint über Ralfs Frage nicht sehr froh zu sein. "Wieso wollen Sie mit ihm reden? Wir haben einen Pfarrer, der ihn vertritt. Der kann Ihnen sicher ..."

"Es geht um nichts Religiöses", unterbricht Ralf den Küster. "Es ist eine Privatangelegenheit. Da kann der neue Pfarrer meinem Freund auch nicht weiterhelfen." Die Sache wird ja immer verworrener.

"Wenn Sie mir ihren Namen sagen, kann ich Pfarrer Leiermann vielleicht eine Nachricht zukommen lassen. Doch ich kann es Ihnen nicht versprechen."

Ralf knirscht mit den Zähnen. "Na schön. Lassen Sie ihm ausrichten, Tore bräuchte dringend einen Rat von ihm, in einer Sache, die er und der werte Herr Pfarrer das letzte Mal besprochen haben. Auf Wiedersehen, und danke für Ihre Mühen." Ralf dreht sich um, greift meinen Arm und zerrt mich im Stechschritt aus der Kirche raus.

Im Auto komme ich wieder zu Atem und glotze verdattert zu ihm rüber. "Was, bitte schön, war das?!", möchte ich von ihm wissen. "Was hat Tore mit dem Pfarrer zu schaffen? Und warum lässt er etwas über dich an ihn ausrichten?"

Ralf klammert sich am Lenkrad fest. "Ich glaube, ich hab grade Scheiße gebaut", flüstert er.

"Könntest du mich mal aufklären?" Auch wenn ich dachte, verworrener geht's nicht, ich muss mich eines Besseren belehren lassen. "Ralf?"

"Tore und der Pfarrer, Oskar, die beiden hatten was miteinander. Deshalb hat sich Oskar versetzen lassen, und Tore geht es von Tag zu Tag mieser deswegen." Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt!

"Das ist nicht dein Ernst?! Tore und der Pfarrer?"

"Er killt mich, wenn er herausbekommt, dass ich dem Küster eben gesagt hat, er solle ihm etwas ausrichten! Ich hätte erstmal nachdenken sollen!" Ralf wirkt total mitgenommen und schlägt auf das Lenkrad ein.

"Beruhige dich doch!" Ich fange seine Hände ein. "Das muss Tore ja nicht wissen. Und wer weiß? Vielleicht meldet sich dieser Pfarrer Leiermann ja bei ihm." Wie absurd! Tore und ein Pfarrer! Das ist ja noch verrückter, als die Sache mit mir und Ralf.

"Ja, vielleicht", murmelt Ralf und startet den Wagen. "Ich hoffe es. Tore geht es wirklich mies."

Den Rest der Fahrt über wechseln wir kein Wort mehr miteinander und hängen unseren eigenen Gedanken nach. Meine drehen sich ebenfalls um Tore, allerdings sicher um etwas anderes, als bei Ralf. Wenn Tore schon die ganze Zeit über verknallt in diesen Pfarrer ist, heißt das, er und Ralf haben gar nichts am Laufen gehabt?

Möglicherweise sollte ich darüber mal mit Ralf sprechen, aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst, dass mir die Antwort darauf nicht sonderlich gefallen wird. Und mal ehrlich: Wie kann ich schon mit Tore mithalten? ... Oh Fuck! Was ist, wenn ich nur die Notlösung bin? Wenn Ralf eigentlich Tore will, er ihn aber nicht haben kann, weil der nicht von seinem Pfarrer loskommt? 'Scheiße! Bin ich wirklich nur der Notnagel für Ralf? Ein Ersatz für Tore?!'
 

******

Kapitel 10 - Aufgeflogen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 10 - Aufgeflogen (Ohne Adult)

Kapitel 10 - Aufgeflogen (Ohne Adult)
 

~Björn~

Frisch geduscht verlasse ich das Badezimmer und erschnüffle: Abendessen! Mein Bauch knurrt auf Kommando und ich beeile mich mit dem Anziehen. In der Küche dann die Ernüchterung. Tore ist da.

"Hy", grüße ich ihn schmal.

"Hallo Kleiner! Und? Wie war dein erster Arbeitstag? Haste dich mit Gold und Geschmeide behängt?"

"Mal nicht neidisch werden", kontere ich nicht gerade sehr einfallsreich. Man kann es mir aber auch nicht verübeln, angesichts meines Konkurrenten.

Ralf stellt gerade die Gläser hin. Drei Stück, was heißt, dass Tore mitisst. Scheiße! Der soll verschwinden! Andererseits ... Ich laufe um den Tisch herum und schmiege mich an Ralf. "Duschst du das nächste Mal mit mir?", flüstere ich ihm zu, jedoch laut genug, dass es Tore auch mitbekommt.

Ralf sieht mich dagegen an, als habe ihn eine Kuh in den Schritt getreten.* "Wenn du magst", flüstert er zurück und mustert mich fragend.

"Natürlich mag ich." Ich grinse ihn an und mopse mir einen Kuss.

Tore, der schon am Tisch sitzt, kichert leise. "Love is in the air", singt er und schenkt sich ein Glas voll Wasser ein. Wenn man ihn so sieht, meint man gar nicht, dass er Liebeskummer hat.

Seufzend löse ich mich von Ralf und setze mich ebenfalls an den Tisch. Eigentlich mag ich gar nicht mehr sauer oder eifersüchtig auf Tore sein. Irgendwie habe ich ihn ja ganz lieb gewonnen, erst recht, nachdem ich von seinem Liebeskummer weiß, aber es behagt mir nicht, dass er hier ist. Noch immer geht mir die Frage durch den Kopf, ob ich nur der Trostpreis für Ralf bin. Falls ja, dann muss ich was dagegen tun. Ich muss Ralf beweisen, dass ich besser bin als Tore. Nur wie? "Björn? ... Bjöhööörn?"

"Hä?" Ich schaue auf in Tores fragendes Gesicht.

"Das heißt wie bitte, und außerdem wollte dein Göttergatte wissen, was du trinken möchtest."

"Egal."

"Egal haben wir nicht", sagt Ralf.

"Wasser bitte."

"Wie höflich. Ralf scheint ja einen guten Einfluss auf dich zu haben." Mit dem Spruch hat Tore wieder Minuspunkte bei mir gesammelt. "Jetzt guck doch nicht so böse."

"Mach ich doch gar nicht", verteidige ich mich. "Bin bloß müde." Eine von Tores Augenbrauen wandert nach oben. "Müde also ...?"

"Genau. ... Guten Appetit." Ohne weiter auf ihn, oder seinem weiterhin fragenden Blick zu achten, schaufle ich mir den Teller voll Nudeln.

Es scheint zu helfen, denn er und Ralf sind bald in einer Unterhaltung versunken, die mich nicht ganz ungewollt von mir, außen vor lässt. So kann ich die zwei in aller Ruhe studieren. Wie verhält sich Tore, und vor allem Ralf? Eigentlich kann ich nichts Außergewöhnliches erkennen. Bis darauf, dass Ralf immer wieder meinen Blick sucht, mich dann anlächelt, und sich wieder Tore zuwendet.

Was hat das nun wieder zu bedeuten? Wünscht er sich im Stillen, dass ich nicht hier wäre, und er so ungestört mit Tore was auch immer machen könnte? Oder ist es eher andersrum? Und wie bekomme ich heraus, welches von den beiden Möglichkeiten es ist? Ich überlege und überlege, da zucke ich schon heftig zusammen. Etwas hat mich am Bein berührt! Nicht etwas, sondern Ralf!

Verdattert starre ich ihn an, der auf seinem Teller herumstochert und in sich hineingrinst. Einigermaßen von dem kleinen Schrecken erholt, wiederholt sich das Ganze wieder. Füßelt der mit mir?!

Um das herauszufinden, rutsche ich mit meinem Fuß nach vorn und versuche sein Bein zu erwischen. Ich erwische tatsächlich ein Bein! Allerdings: "Hey! Hör auf mich zu treten!" Das war Tores Bein! Mein Gesicht wird heiß und Ralf brüllt laut los vor Lachen. "Hä?" Tore schaut von mir zu ihm. "Alles klar bei dir?"

"Schon gut!", kichert Ralf und greift zu seinem Glas. "Nix. Vergiss es." Ich versinke immer weiter in meinem Küchenstuhl.

"Wartet mal! Befummelt ihr euch etwa unter dem Essenstisch?" Erwischt! "Boha! Da kann einem ja der Appetit vergehen!"

"Jetzt mach mal halblang, Tore. Du hast schon ganz andere Sachen AUF dem Essenstisch gemacht", meint Ralf. Mir bleibt das Herz stehen. Heißt das etwa doch, dass ...?

"Das ist was anderes."

"Inwiefern?"

"Ich war dabei beteiligt."

"Nicht nur du."

Tore lacht anzüglich über Ralfs Worte. "Bei manchen Leuten macht es mir nichts aus, wenn sie nackt und verschwitzt auf meinem Essenstisch liegen." Das war eindeutig!

Die Nudeln, die ich eben noch gegessen habe, wollen ganz schnell wieder raus, denn mein Magen dreht sich um und zieht sich zusammen. Ich springe vom Stuhl auf und eile aus der Küche. Das muss ich mir nicht geben! Im Flur fackle ich erst gar nicht lange und steige in meine Schuhe. Ich muss hier raus!

"Björn! Was hast du denn?" Ralf ist mir nachgelaufen und ist keinen Meter weit von mir entfernt.

"Bleib weg von mir!", schreie ich ihn an.

"Björn?" Nun steht auch noch Tore im Flur. Direkt neben Ralf.

Ich versuche mich zusammen zu reißen, öffne die Haustür, doch bevor ich hinaus spurten kann, hat mich Ralf schon am Arm gepackt. "Hiergeblieben, junger Mann!"

"Lass mich los!"

"Verdammt noch mal, Björn! Fängt das schon wieder an?" Ich knirsche mit den Zähnen und versuche mich weiterhin aus seinem Griff zu befreien. Es klappt aber nicht. "Was ist denn schon wieder? Hatten wir nicht was miteinander ausgemacht?"

"Das war, bevor ich wusste, dass du in Wirklichkeit gar nicht mich willst, sondern IHN!" Ich zeige auf Tore, der uns mit offener Klappe anschaut.

Nun ist es raus. Klasse Björn. Ich hab mal wieder alles vermasselt, aber für einen Rückzug ist es jetzt zu spät. Was hätte ich auch davon? Jetzt, wo ich weiß, dass Ralf doch eigentlich Tore will, anstatt mich. Jetzt ist doch eh alles egal.

Scheiße, das tut so weh!
 

~Ralf~

Ich dämlicher Vollidiot! Ich habe Björn noch gar nichts von Tore und meinem 'Kennenlernen' erzählt.

Wahrscheinlich hat er sich schon vorher zusammengereimt, dass da was zwischen meinem Nachbarn und mir gelaufen ist, und unser unüberlegter Wortwechsel in der Küche hat es ihm auch noch bestätigt. Dennoch ist das kein Grund, wieder einfach abzuhauen.

Da ich aber weiß, dass liebevolle Worte bei Björn in dieser Verfassung gar nichts nutzen, ziehe ich ihn unbarmherzig zurück ins Haus. "Mitkommen!", befehle ich ihm. Und an Tore gerichtet: "Du bleibst hier und isst weiter." Es ist mir lieber, wenn er erstmal hier bleibt. Nur für alle Fälle. Ich zerre Björn mit mir, und verfrachte ihn ins Schlafzimmer. Die Tür schließe ich vorsichtshalber ab. 'Zurück auf Anfang.'

Björn sieht mich griesgrämig an. Doch ich erkenne, dass er verletzt ist. Sehr sogar. Verletzt und unsicher. Was tue ich jetzt? Auf ihn einreden? Auch das hatten wir schon alles, und auch wenn es das letzte Mal gut ausgegangen ist, gehe ich diesmal kein Risiko mehr ein. Er soll kapieren, dass ich ihn will, und dass er nicht mehr unsicher zu sein braucht. Jedenfalls nicht was meine Gefühle zu ihm angeht.

Mit verschränkten Armen steht er vor dem Bett und sieht nun auf den Boden, anstatt zu mir. Er atmet schwer und man merkt, dass er jetzt lieber wo anders sein würde. "Ich habe mit Tore geschlafen", unterbreche ich die Stille zwischen uns. "Nicht nur einmal." Björn zuckt wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

"Dann willst du ihn wirklich", wispert er. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine falsche Feststellung natürlich, doch genau das glaubt er.

"Ich hab nie mehr von ihm gewollt, als das, was ich von ihm bekommen habe."

"Und von mir willst du das nicht."

"Das habe ich dir schon erklärt."

"Erkläre es mir nochmal. Warum fickst du Tore, aber mich nicht?" Ich werde wütend. Wir drehen uns hier im Kreis! Immer wieder, wenn Björn irgendwas aufregt, oder aus der Bahn wirft, fängt alles wieder von vorne an.

"Schluss jetzt!" Ich laufe auf Björn zu und umfasse sein Gesicht. "Tore ist nur ein Freund für mich. Er will jemand anderen, und das weißt du."

"Das hat nichts zu heißen", krächzt Björn. "Vielleicht ..."

"Nichts, vielleicht! Ich will dich, Björn! Ganz allein dich, und keinen anderen sonst."

"Warum hast du dann mit Tore geschlafen? Und wann? Kannten wir uns da schon?"

"Ja, wir kannten uns da schon, aber seit ich weiß, dass ich dich liebe, habe ich ihn nicht mehr angerührt."

"Wirklich?"

"Wirklich!"

"Schwöre es mir."

"Ich schwöre", flüstere ich ihm zu, umfasse sein Gesicht, was er zum meiner Freude auch zulässt, und küsse ihn. Hoffentlich glaubt er mir jetzt.

Anscheinend schon, denn nach dem Kuss nickt er kaum sichtbar und die kleinen Zornesfalten zwischen seiner Stirn glätten sich leicht. "Warum hat Tore eigentlich mit dir ...? Also, wenn er doch verliebt ist?"

Ich seufze und umarme Björn. "Das ist kompliziert", erwidere ich.

"Dann erkläre es mir." Wir setzten und aufs Bett, und dann beginne ich ihm alles zu erzählen. Die Sache mit Dillan und Kris, meinen Umzug hier her und auch das Kennenlernen zwischen Tore und mir. "Dann habt ihr euch bloß getröstet?", fragt er abschließend.

"Ja, wir wollten uns einfach bloß trösten." Darauf ist es schlussendlich hinausgelaufen.

Björn nickt nachdenklich, strafft sich dann aber und sieht mich eindringlich an. "Das nächste Mal lässt du dich von mir trösten. Kapiert?"

"Nichts lieber als das", lache ich und verpasse meinem eifersüchtigen Jungspund einen Kuss. "Nur damit du es weißt: Das heißt aber auch, dass du dich ebenfalls von keinem anderen außer mir trösten lässt, klar?"

"Klar wie Kloßbrühe", schwört er, springt mich im Sitzen an, sodass wir zusammen ausgestreckt auf der Matratze landen. Hoffentlich ist er bald Volljährig! Dann tröste ich ihn jede Nacht, ob er traurig ist, oder nicht.
 

***
 

~Björn~

"Wie war es heute?"

"Super!" Gut gelaunt steige ich in Ralfs Auto, der, wie schon die vergangenen Tage, vor dem Laden steht und auf mich wartet. "Ich durfte heute das Gold einer älteren Dame abwiegen, das sie verkaufen wollte. Du glaubst nicht, wie viel die bekommen hat!"

"Wie viel?"

"Darf ich nicht verraten. Betriebsgeheimnis. Aber so viel Geld auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen." Ich grinse Ralf schräg an.

"Dann solltest du es auch für dich behalten. Dein Chef muss dir ja schon sehr vertrauen, wenn er dich nach einer Woche schon beim Geldzählen dabei hat."

"Kann sein", antworte ich ein wenig verlegen. Das habe ich selbst auch schon gedacht. Die erste Woche meiner Praktikumszeit verging wie im Flug. Kaum zu fassen, aber heute ist schon Montag.

"Das freut mich für dich."

Wir fahren durch die Stadt, in der heute wirklich viel los ist und ich kann einfach nicht aufhören zu grinsen. So gut wie heute ging es mir schon ewig nicht mehr. Ich bin von meinen miesen Adoptiveltern weg (die mich bis jetzt noch nicht gefunden haben, falls sie mich überhaupt suchen), Ralf neben mir ist mein Freund und dank dem Praktikum habe ich endlich eine Perspektive im Leben. Besser kann es nicht werden! Jetzt fehlt nur noch ein fester Ausbildungsvertrag.

Zuhause springe ich schnell unter die Dusche und ziehe mir was Bequemes an. Heute Abend sind Ralf und ich ganz ungestört. Das hat er mir gestern versprochen, nachdem Tore uns den Abend fast vermiest hätte. Ich freue mich auf einen faulen Abend, nur wir beide auf der Couch und sonst nichts! Und vielleicht läuft ja ein Bisschen was zwischen uns. Hehe.

Vor mich hinpfeifend verlasse ich das Schlafzimmer und betrete die Küche. "Was hältst du davon, wenn wir uns was bestellen? Ich habe keine große Lust auf Kochen."

"Pizza?" Oh yummie!

"Was sonst?", lacht Ralf und reicht mir die Bestellkarte.

Es dauert keine zwanzig Minuten und das Essen steht schon vor der Tür. Mit den Kartons bepackt rase ich ins Wohnzimmer, wo Ralf gerade mit der Fernbedienung in der Hand vor der Couch steht. "Essen wir hier?"

"Wenn du willst."

"Will ich!" Wir verfrachten unsere Ärsche auf die Couch und Ralf schaltet endlich die Glotze an. An ihn gelehnt verputze ich ein Stück nach dem anderen, bis nichts mehr geht. "Ich platze gleich!"

Ralf wirft ebenfalls seine Schachtel auf den Tisch und legt einen Arm um meine Schultern. Ich lehne mich sofort gänzlich an ihn und genieße seine Nähe. "So lässt es sich aushalten", murmle ich und schließe die Augen. Ich bin schon wieder total kaputt! Anscheinend muss man sich erst ans Arbeiten gewöhnen.
 

~Ralf~

Folter! Geduldsprobe hoch zehn! Hormonstau! Wann wird Björn noch mal achtzehn? Ihn so an mich gelehnt zu haben, bringt mein Blut total in Wallung. 'Ich muss an was asexuelles denken', trichtere ich mir ein. Nur an was? Kampfhaft hefte ich meinen Blick auf den Fernseher, aber irgendwie hilft es nicht.

Das wird auch nicht besser, als ich runter in Björns Gesicht schiele. Er ist eingeschlafen, hat die Augen geschlossen und sieht aus wie ein Engel. Das sage ich ihm vielleicht lieber nicht. Vorsichtig streichle ich ihm durchs Haar, das ihm vorne überhängt und klemme es ihm hinter das Ohr. Die schwarzen Strähnen sind noch etwas feucht vom Duschen, glänzen aber seidig. Ich vergrabe meine Nase darin und noch ehe ich es verhindern kann, berühren meine Lippen seine Stirn und tupfen sanfte Küsse auf die Haut.

"Ralf?" Jetzt ist er wach geworden. "Was tust du da?"

"Nichts", lüge ich.

Björn ist ja nicht blöd und durchschaut mich sofort. "Von wegen!" Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Was hast du gemacht?"

"Willst du das wirklich wissen?"

"Ja!"

"Also gut", gluckse ich. "Ich habe an deinem Haar geschnuppert und dich geküsst." Björns verwirrt-verlegener Ausdruck lässt mich noch mehr kichern. "Und ich habe mir gedacht, wie süß du doch aussiehst, wenn du schläfst", füge ich hinzu, ersticke aber jeden eventuell empörten Widerspruchs seinerseits im Keim, da ich ihm meine Lippen nun auf seinen süßen Mund drücke.

Als wir uns wieder voneinander trennen, hat er seinen Einwand gegenüber meiner Äußerung vergessen. "Wofür war der denn?", fragt er mich leise.

"Muss ich denn einen Grund haben, um dich zu küssen?" Er schüttelt mit halbgeschlossenen Augen den Kopf. "Ins Bett?" Björn wirkt verblüfft. "Nicht das! Du siehst müde aus."

"Ach so. ... Ja, schlafen wäre nicht schlecht", sagt er leise und steht auf. In seiner Stimme spiegelt sich leichte Enttäuschung.

Ich stehe auch auf, lösche das Licht und schalte den Fernseher aus, bevor ich ihm folge. "Björn?" Er sitzt schon auf dem Bett und stellt sich den Wecker. "Ich würde alles dafür geben, um jetzt mit dir 'ins Bett zu gehen'."

"Willst du noch auf bleiben?" Oh Mann! Irgendwie missverstehen wir uns die ganze Zeit!

"Nein! Damit meinte ich jetzt das andere ins Bett gehen. Du verstehst?"

"Oh. ... Das weiß ich doch. Das hast du mir doch schon in aller Deutlichkeit erklärt. Aber doof finden darf ich das, oder?"

"Darfst du. Mir geht es nämlich genauso." Wir fangen an zu lachen. Wenigstens ist er nicht wieder sauer. Bei ihm weiß ich nie, wann ich ins nächste Fettnäpfchen trete.

Ich lösche noch die restlichen Lichter, bis nur noch das kleine Lämpchen auf Björns Betthälfte leuchtet. Langsam werde ich auch müde. Das Gestarre auf den Monitor war etwas zu viel heute, aber ich bin fertig damit, mich für meine kommende Arbeitsstelle vorzubereiten. Ich lege mich ins Bett und dann wird es dunkel. "Gute Nacht", brummelt Björn neben mir und rückt sich unter der Decke zurecht.

"Nacht." Ruhe kehrt ein. Das Einzige, das man hört, sind unsere leisen Atemgeräusche und das Zirpen der Grillen draußen im Gras. Trotz meiner Müdigkeit halten mich diese leisen Geräusche wach. Nicht weil sie laut sind und mich stören, sondern weil mich urplötzlich eine unheimliche Unruhe überfällt. Ich muss an Tores Worte denken. Wäre er in meiner Situation, läge er jetzt nicht einfach so da und würde Däumchen drehen. 'Das kann ich nicht machen!', versuche ich mir einzutrichtern. Leider interessiert das meine Libido gerade recht wenig. Ich kann Björns abstrahlende Körperwärme regelrecht fühlen. Sie wird immer heißer, scheint mich zu verbrennen und gleichzeitig verheißungsvoll zu sich zu locken.

Ich drehe meinen Kopf zur Seite und schaue ihn an. Bis auf die dunklen Umrisse seines Haarschopfs erkenne ich nicht viel. "Was ist?" Ich zucke zusammen.

"Du bist noch wach?", frage ich leise.

"Du doch auch. Warum siehst du mich an?" Das hat er bemerkt?

"Ich habe nachgedacht."

"Über was?"

'Ob ich jetzt einfach alle Vorsicht über Bord, und über dich herfallen soll', denke ich mit schmerzhaft klopfenden Herzen. Sagen tue ich jedoch: "Über dich und über uns."

"Das heißt genau?" Mein Puls beschleunigt sich nochmal um das Doppelte. Björn dreht sich zu mir und im schwachen Licht glaube ich fast, seinen fragenden Blick zu sehen.

Anstatt ihm zu antworten, rutsche ich näher zu ihm heran und schiebe meinen Arm auf seine Hüfte. Björn keucht leise und ich spüre, wie er leicht zittert. Hat er Angst? Wohl kaum, denn er rückt ebenfalls dichter an mich und legt vorsichtig eine Hand in meinen Nacken. Unsere Lippen finden sich wie zwei Magneten.

Tausend kleine, bunte Lichter explodieren hinter meinen Augenlidern und ich keuche auf. Berauscht von Björns gierig erwiderten Kuss, drehe ich mich auf ihn, sodass er unter mir liegt. Ich weiß, es ist falsch, obwohl es doch irgendwie richtig ist ... Ach! Ich weiß eigentlich gar nichts mehr! Nur, dass Björn das hier genauso will, wie ich. Das sagt mir sein Kuss ebenso, wie seine Hände, die über meinen Rücken kratzen, und sein Körper, der sich mir willig entgegenstreckt.

Das war's. Ich kann mich nicht mehr dagegen wehren. Scheiß auf diese paar Tage, bis Björn volljährig ist! Danach ist er noch immer der selbe Björn, oder? Er ist noch immer der Björn, der gerade unter mir liegt und sich nach meinen Berührungen sehnt. Es macht keinen Unterschied. Nicht den Geringsten ...
 

~Björn~

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, so aufgeregt bin ich. Wie auch immer das jetzt passieren konnte, ich bin froh, dass es passiert ist. Ralf hat allem Anschein nach seine Meinung geändert, und ich werde einen Teufel tun, und ihn davon abhalten.

Ich fühle Ralfs Gewicht auf mir, seine Hände, die mir über den Oberkörper streicheln und seine Zunge, die sich durch meine Lippen schiebt. Ein erregendes Gefühl. Dahin ist meine vorige Müdigkeit. Das Blut schießt in untere Regionen und ich reibe mich ungeduldig gegen Ralfs festen Bauch. Fieberhaft überlege ich, wie ich am besten und am schnellsten meine Hose dazu bekomme, sich von meinen Beinen zu schälen, ohne dass ich meine Finger von Ralf lösen, oder mich gar ganz von ihm trennen muss. Wie ich das anstellen soll, bleibt mir weiterhin ein Rätsel. Vielleicht löst sich das Problem ja von alleine, wer weiß?

Was ich aber tun kann, ist an Ralfs Rücken nach unten zu wandern, und ihm die Schlafanzughose runter zu schieben. Prickelnd rasen mir kleine Nadelstiche das Rückgrat hinunter, als meine Handflächen die warmen Hügel entlangfahren. Ralf stöhnt auf und lässt mich ungehindert tiefer vordringen. Ich werde immer aufgeregter und fühle schon bald den Ansatz seiner Oberschenkel. Dort halte ich inne und gleite langsam Richtung Körpermitte. Soll ich? Ich bin mir nicht sicher, also lasse ich meine Hände dort wo sie sind.

Zu meinem Bedauern endet nun unser Kuss. "Björn? Ich kann es doch nicht. Noch nicht." Ich hab's mir schon fast gedacht.

"Und was machen wir hiermit?" Ich hebe mein Becken an, um ihm zu zeigen, was ich meine. "Kalt duschen hilft da auch nicht mehr." Zärtlich streicheln seine Hände meine Seiten entlang.

"Tu dir keinen Zwang an", raunt er mir zu und küsst meinen Hals.

"Aber ... ist das nicht das Gleiche?" Ich verstehe den Sinn seiner Logik nicht dahinter.

"Ich denke nicht." Ralf saugt wieder an meinem Hals, nun an der kleinen Vertiefung in der Mitte, was mich ganz durcheinander macht.

Er meint also, ich solle mich selbst erleichtern? Hier und jetzt? Während er auf mir liegt und mich nass lutscht? Sorry, aber das kommt mir strange vor. "So geht das nicht, Ralf." Ich ziehe die Hände aus seiner Schlafanzughose und schiebe ihn langsam aber bestimmt an den Schultern von mir. "Das fühlt sich komisch an."

"Magst du es nicht, wenn ich dich hier küsse?" Ich blinzle einige Male, bis ich verstehe, was er meint.

"Doch! Aber ich kann nicht ..." Ich hole tief Luft. "Ich kann mir keinen runterholen, wenn du auf mir liegst!" Ich bin weiß Gott nicht auf den Mund gefallen, aber das zu sagen, war mir peinlich.

"Kommst du nicht ran?" Oh Fuck!

"Darum geht's nicht!" Angesäuert strample ich mich unter Ralf hervor. "Warten wir einfach, okay?" Ich bete darum, dass er nicht weiter darauf eingeht und drehe mich auf die Seite, und somit ihm den Rücken zu.

"Verstehe. Es ist dir peinlich." Ich schlucke verlegen. "Das muss es nicht." Ralf legt sich neben mich und zieht mich an seine Brust.

"Willst du mich jetzt dazu überreden?"

"Nein, aber ich weiß nur zu gut, wie unbequem es ist, damit einzuschlafen." Etwas hartes drückt sich gegen mein Steißbein. Was das ist, darüber muss ich nicht lange nachgrübeln.

Ralfs Arm, der eben noch um meinen Oberkörper geschlungen war, drängt sich nun zwischen uns. Bilder tauchen in meinem Kopf auf, die mir eine lebhafte Vorstellung von dem geben, was sich hinter meinem Rücken gerade abspielt. Und als Ralf leise keucht und seine Stirn gegen meinen Hinterkopf schmiegt, da kann ich einfach nicht anders.

Ich drehe mich herum und verschließe seinen Mund.
 

*
 

~Ralf~

Ein Schauer nach dem anderen erfasst mich. Aber so schön es eben noch war, das schlechte Gewissen sucht mich heim. Was habe ich nur getan? 'Nichts!', versuche ich mir einzureden. 'Du hast dir einen von der Palme gewedelt. Mehr nicht.' Tore würde mir uneingeschränkt zustimmen und ich versuche mein Gewissen genau damit zu beruhigen. Es ist nichts Schlimmes passiert. Björn wollte es ebenso wie ich. "Ralf? Hast du was zum Säubern da?"

"Warte." Ich atme tief ein und bekomme meinen Körper langsam wieder in den Griff. Umständlich ziehe ich mir die Schlafanzughose wieder hoch und steige aus dem Bett, ehe ich ins Badezimmer laufe. Das Licht anzuschalten traue ich mich nicht. Ich will mich nicht im Spiegel sehen. Will nicht sehen, wie mich mein Spiegelbild schuldbewusst anschaut.

"Hier." Zurück im Schlafzimmer reiche ich Björn ein Handtuch.

"Danke." Unbekümmert, so scheint es, tupft sich Björn die Spuren der vergangenen Minuten vom Bauch und ebenfalls vom Bett. "Willst du dich nicht hinlegen? Alles wieder sauber." Noch immer habe ich mein Handtuch in der Hand, habe es aber noch nicht benutzt.

"Sofort", murmle ich und säubere mich ebenfalls. Die Handtücher fliegen in irgendeine Ecke. Darum kümmere ich mich morgen.

Als ich mich hinlege, plagen mich noch immer Gewissensbisse. Das wird auch nicht besser, als sich Björn halb auf mich legt und zufrieden aufseufzt. "Machen wir das jetzt öfter?", fragt er mich leise und streichelt meinen Bauch.

"Wir werden noch so vieles miteinander machen. Doch zuerst steht dein großer Geburtstag an." ab morgen sind es noch sechs Tage! Solange muss ich mich noch im Zaum halten.

"Dann war das heute eine Ausnahme, richtig? Du fühlst dich schlecht deswegen." Es ist erstaunlich, dass Björn das trotz allem mitbekommen hat. "Das musst du aber nicht", meint er leise und richtet sich auf. Sein Kopf schwebt über meinem. "Es ist ja auch gar nichts passiert. Wir haben hier bloß gelegen. Mehr nicht."

Ein Lächeln legt sich auf meine Mundwinkel. "Wenn du das sagst, dann wird es so gewesen sein." Ich höre Björn lachen. Er bettet seinen Kopf wieder auf meine Brust und ich atme erleichtert auf. Wieso mache ich so eine Aufhebens darum? Wir haben doch alles geklärt. Und was soll in einer Woche schon großartig passieren?
 

***
 

~Ralf~

"Ich mach schon auf!" Ich komme gerade vom Badezimmer Richtung Küche gelaufen, als es klingelt. Wer auch immer das ist, er kommt zum falschen Zeitpunkt. Björn und ich haben verschlafen und ich muss ihn in zehn Minuten in die Stadt fahren. Doch all die Hektik deswegen verfliegt mit einem Schlag, als ich die Tür öffne und sehe, wer da vor mir steht.

"Guten Morgen. Sind sie Ralf Stade?" Ich nicke benommen.

"Wie kann ich Ihnen helfen?", frage ich, obwohl ich mir die Antwort darauf denken kann.

"Wir sind hier, weil uns anonym mitgeteilt wurde, dass sich ein als vermisst geltender Junge bei ihnen aufhält. Wissen Sie etwas darüber?" Das muss Karma sein. Ganz sicher! Weil wir gestern Abend im Bett ... "Herr Stade?"

"Sie meinen bestimmt Björn. Ja, er ist hier. Kommen Sie doch rein." Ich bitte die zwei jungen Beamten in meine Wohnung. "In der Küche." Ich weise ihnen den Weg. Einer der Polizisten geht voran, der andere bleibt hinter mir. Ich komme mir wie ein Schwerverbrecher vor.

Ich spähe an dem breiten Rücken des Polizisten vor mir vorbei in die Küche. Als Björn ihn sieht, wird er ganz käsig und lässt beinahe seine Tasse fallen. "Björn Nesgen?"

"Ja?" Erschrocken wechselt sein Blick zwischen mir und dem Polizisten.

"Herr Stade? Ich würde mich gern mit Ihnen unter vier Augen unterhalten." Der Beamte hinter mir schiebt mich ins Wohnzimmer, weg von Björn und dem anderen Polizisten, der sich gerade zu ihm an den Tisch setzt. "Können Sie mir sagen, warum Björn Nesgen bei Ihnen ist?" Ich nicke abwesend und setze mich auf die Couch. Hier haben wir noch gestern Abend gesessen und ... "Herr Stade?"

"Ja, das kann ich. Ich habe Björn aufgenommen, weil er von Zuhause abgehauen ist." Ich schaue den Beamten direkt an und hoffe, dass er erkennt, dass ich nicht lüge. Das können die doch, oder? Darin werden Polizisten doch sicher ausgebildet.

"Hat er Ihnen das erzählt?"

"Ja. Er hat es dort nicht mehr ausgehalten." Nichts an der Miene des Polizisten verrät mir, ob er mir glaubt. "Sein Adoptivvater schlägt ihn."

"Und das wissen Sie so genau?"

"Das ist hier in der Nachbarschaft ein offenes Geheimnis. Ich musste Björn schon einige Male verarzten, weil dieser A... dieser Unmensch ihn verprügelt hat." Erkenne ich so etwas wie Betroffenheit im Gesicht des Polizisten?

"Warum sind Sie dann nicht zu uns gekommen?"

"Das wollte ich, aber Björn hat sich dagegen gewehrt." Und wie er das hat ...

"Und da dachten Sie, Sie könnten Björn einfach mal so bei sich wohnen lassen? Wie das auf Außenstehende wirkt, wissen Sie?"

"Hätte ich ihn auf der Straße sitzen lassen sollen?" Der Polizist sieht mich unbeeindruckt an und wartet auf weitere Erklärungen von mir. "Er stand mit einer gepackten Tasche auf der Straße und wolle Gott-weiß-wohin gehen! Was meinen Sie, was passiert wäre, wenn ich ihn einfach hätte gehen lassen? Er hat keine Ausbildung und kein Geld." Ich schaue den jungen Beamten eindringlich an. "Muss ich Ihnen als Polizist wirklich erklären?" Noch immer keine Reaktion von meinem gegenüber. Langsam werde ich sauer. "Was soll das eigentlich alles hier? Björn wird am Sonntag achtzehn, und dann kann er machen was er will." Dann können wir alles machen, was wir wollen. Das muss der Polizist aber nicht wissen.

"Das ist ja alles schön und gut", brummt er. "Das ändert aber nichts an dem Sachverhalt, dass Björn als vermisst gilt und er sich widerrechtlich bei Ihnen aufhält." Mir fällt alles aus dem Gesicht. Nicht, weil ich Angst vor den rechtlichen Konsequenzen habe.

"Heißt das etwa, dass Sie ihn zurück zu seinen Adoptiveltern bringen wollen?"

"Das Ehepaar Nesgen sind die Erziehungsberechtigten, und solange Björn noch nicht volljährig ist, wird er dort bleiben müssen." Ich balle meine Hände zur Faust, was dem Polizisten nicht entgeht. "Es ist nur noch für eine Woche" Will der mich beschwichtigen?!

"Eine Woche?", frage ich spitz. "Wissen Sie, was dieser Irre bis dahin mit ihm macht?!"

"Wir werden ihren Anschuldigen diesbezüglich gerne nachgehen und dem Jugendamt Bescheid geben, aber in einer Woche wird da nicht mehr viel passieren." Das kann doch nicht wahr sein!

"Nein!", sage ich entschieden. "Ich lasse ihn nicht dorthin zurückgehen."

"Ihnen wird keine andere Wahl bleiben." Ich schüttle den Kopf. "In welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zu Björn Nesgen?" Meine Kiefer drücken sich fest gegeneinander. Das kann doch nicht wahr sein!
 

******
 

* Vielleicht hängt ihm ja auch ein Igel im Schritt. Wer weiß?! Oo
 

Ich weiß, ihr steht alle schon mit gewetzten Messern vor meiner Haustür und verlangt lautstark nach dem nächsten Kapitel, und ich kann euch verstehen, aber ihr müsst euch noch ein wenig gedulden. Nicht lange, ich verspreche es. Also steckt die Messer weg, ja? Büüüüüüüüdde *Hundchenaugen mach* :o3

Kapitel 11 - Mein kleines Geheimnis

Kapitel 11 - Mein kleines Geheimnis
 

~Björn~

"Du hast deinen Eltern einen riesigen Schrecken eingejagt. Sie suchen dich schon überall."

Ich verschränke meine Arme vor der Brust. Der Schreck, den ich eben noch hatte, als die zwei Bullen hereingeschneit kamen, weicht langsam der kochenden Wut in mir. "Ach, tun sie das?" Der Polizist nickt. "Hat mein Alter keinen Spaß mehr, meinen

Adoptivbruder zu verprügeln? Suchen Sie mich deshalb? Weil er mal wieder etwas Abwechslung braucht?" Das einschleimende Lächeln des Polizisten verschwindet. "Wann ist es 'meinen Eltern' denn aufgefallen, dass ich nicht mehr da bin?"

"Ähm ... was?" Ich könnte über diesen uniformierten Clown loslachen, wenn ich nicht so sauer wäre.

"Wann mein Alter seinen fetten Arsch von der Couch geschoben hat, und mich als vermisst gemeldet hat?", versuche ich es noch einmal unverblümt. Perplex zuckt der Typ vor mir die Schultern. "Eigentlich kann es mir ja egal sein", sage ich und zucke nun ebenfalls mit den Schultern. "Die sind für mich gestorben. Und falls Sie und ihr Freund denken, dass ich mich brav von Ihnen zu denen zurück kutschieren lasse, dann haben Sie sich geschnitten. Ich bleibe hier bei Ralf." Hoffentlich war das jetzt deutlich genug und die Sache hat sich damit erledigt.

"Das geht leider nicht. Deine Eltern ..."

"Adoptiveltern", berichtige ich ihn.

"Deine Adoptiveltern haben das Sorge- und Bestimmrecht für dich, bis du achtzehn bist."

"Und? In sechs Tagen bin ich achtzehn. Wo liegt das Problem?" Der Bulle strafft sich und wirkt nun gar nicht mehr so verwirrt und handzahm wie noch vor wenigen Momenten.

"Wir haben die Pflicht dich zu deinen Adoptiveltern zurück zu bringen", ranzt er mich im Befehlston an.

Doch davon lasse ich mich ganz bestimmt nicht einschüchtern. "Schön für euch. Ich bleibe bei Ralf." Damit basta! "Ich habe keine Lust mehr auf Prügel. Ich weiß, das ist euch allen scheißegal, genau wie dem Jugendamt, aber ..."

"Das ist uns nicht scheißegal!" Huch. Der Bulle wird aufmüpfig. Irgendwie niedlich. Ob der schwul ist ...? "Hör zu. Wir fahren zusammen zu deinen Adoptiveltern und regeln das. Was hältst du davon?"

"Wollt ihr zwei die paar Tage bis zu meinem Achtzehnten meine Bodyguards spielen?" Stirnrunzeln. "Das müsstet ihr nämlich, denn mit reden is bei denen nicht. Was glaubt ihr, was passiert, wenn ihr wieder weg seid? Dann landet seine Faust in meinem Gesicht. So war es schon immer und keinen interessiert es."

Der Polizist seufzt. "Darf ich?" Er deutet auf die Brötchen. Jetzt bin ich derjenige, der perplex ist und nickt. "Und wie ist es dazu gekommen, dass du jetzt hier bei Herrn Stade wohnst?"

"Er hat mich aufgenommen", antworte ich wahrheitsgemäß.

"Einfach so?"

"Einfach so." Stimmt ja auch. "Ralf hat mitbekommen, was bei mir Zuhause läuft und so kam eins zum anderen. Wenn ich nicht hätte bei ihm bleiben können, wäre ich schon längst irgendwo anders. Bei meinen Alten bleibe ich auf keinen Fall mehr. Lieber schlafe ich unter einer Brücke."

"Und ähm ... musst du irgendwas tun, damit du hier wohnen darfst?" Das fragt er jetzt doch nicht wirklich?!

"Wenn Sie meinen, ob ich für Ralf meinen Arsch hinhalten soll, dann nein, muss ich nicht!" Das ich es gerne würde, ist 'ne andere Geschichte. "Er hilft mir. Dank Ralf habe ich eine Praktikumsstelle bekommen und mir geht es endlich wieder gut." Dabei fällt mir ein, ich habe mich dafür noch gar nicht richtig bei ihm bedankt. "Wenn er nicht wäre, säße ich jetzt auf der Straße, weil ich es bei meinen prügelnden Adoptiveltern nicht mehr aushalte."

Nachdenklich kaut der Polizist auf dem Brötchen herum, schluckt es runter und fragt mich: "Kannst du beweisen, dass er dich schlägt?"

"Ich habe noch ein paar blaue Flecken", antworte ich und hebe mein Shirt an. "Die hat er mir zuletzt verpasst." Der Bulle zieht scharf die Luft ein, obwohl die Flecken gar nicht mehr so schlimm aussehen, wie noch vor einer Woche. "Aber was bringt mir das? Wie soll das beweisen, dass er uns verprügelt?"

"Uns? Also schlägt er auch deinen Adoptivbruder?"

"Ja. Kalle muss auch oft dran glauben." Er nickt, zupft sich ein weiteres Stück vom Brötchen ab, steckt es sich in den Mund und steht auf. Fragend schaue ich ihm nach und sehe, wie er im Wohnzimmer verschwindet.

Soll ich hinterher? Was soll das? Vielleicht kommt er ja gleich mit seinem Kollegen zurück, um mich zu meinen Adoptiveltern zurück zu bringen. Lieber sterbe ich, als dass ich jemals wieder einen Schritt über die Türschwelle dieses Hauses setze!

So leise es geht stehe ich auf, halte erschrocken inne, weil ein Stuhlbein über den Boden schabt und lausche, aber niemand scheint es mitbekommen zu haben. Auf Zehenspitzen laufe ich zur Küchentür und spähe rüber ins Wohnzimmer. Die Bullen stehen mit dem Rücken zu mir und unterhalten sich. Ralf aber erblickt mich, sieht mich fragend an und runzelt die Stirn. Ich hebe meinen Zeigefinger an die Lippen und drehe mich um. Ich muss hier raus, ehe es zu spät ist, und sie mich zu meinen Adoptiveltern fahren!
 

~Ralf~

Untätig bleibe ich sitzen, als ich sehe, wie Björn durch die Haustür verschwindet. In mir tobt der Kampf zwischen ihm hinter herrufen und weiterhin still sitzen bleiben. Letzteres gewinnt den Kampf. Bevor sie ihn wieder zu seinen Adoptiveltern stecken, lasse ich ihn lieber gehen. Ihm wird schon nichts geschehen. Hoffe ich zumindest.

"Wie es aussieht, ist Björn freiwillig bei Ihnen", meint der Polizist, der eben noch mit Björn gesprochen hat. "Und die blauen Flecken auf seinem Oberkörper weisen auf schon leicht verheilte Schläge hin."

"Das sage ich doch schon die ganze Zeit über! Ich habe Björn weder entführt, noch in meiner Wohnung festgehalten!" Böse funkle ich die Beamten an.

"Das ändert aber nichts daran, dass Herr Nesgen seinen Sohn sucht", sagt nun der andere Polizist und macht dabei einen sehr pflichtbewussten Eindruck.

"Falls er ihn schlägt, können wir ihn doch nicht wieder zurückbringen!" Ein Lichtstreif am Horizont! Björn muss während seinem 'Verhör' den Beamten von seiner misslichen Lage überzeugt haben.

Die beiden sehen sich an, fechten einen stummen Schlagaustausch aus, denn hoffentlich die richtige Seite des Gesetzes gewinnt. "Dann reden wir nochmal mit ihm. Das muss sich doch klären lassen", höre ich den anderen Polizisten seufzen. Endlich scheint auch er umgestimmt zu sein! Wenn auch nur ein wenig. "Herr Stade?" Ich werde wieder aufgefordert, ihnen zu folgen. Doch in der Küche die für mich nicht ganz so große Überraschung. "Wo ist er?"

Ich stelle mich neben die beiden und spiele den Unwissenden. "Björn?", rufe ich und tue überrascht. "Björn?!" Wir durchsuchen meine Wohnung, aber von meinem Kleinen ist natürlich nichts zu sehen. "Er muss getürmt sein!", schreie ich die beiden Polizisten an.

"Haben Sie davon gewusst?"

"Woher denn?", lüge ich, was ich unter dem Deckmantel aus Wut und Sorge gut verbergen kann. "Wir müssen ihn suchen! Wer weiß, wohin er jetzt geht, und an wen er womöglich gerät!" Ich muss sehr überzeugend in meiner Rolle als aufgebrachter 'Ersatzvater' sein, denn die Beamten nicken einträchtig.

"Eine Ahnung, wohin er unterwegs sein könnte?"

"Nein, habe ich nicht. Björn hat nie was von Freunden oder sonstigen Bekannten erzählt." So ganz stimmt das nicht, fällt mir gerade ein. War da nicht was mit seinem besten Freund gewesen? Bei ihm wollte er doch zuerst unterkommen. Aber das werde ich denen bestimmt nicht auf die Nase binden. Falls er dorthin geht, dann hetzte ich ihm die Polizei nicht noch hinterher.

"Weit kann er ja noch nicht gekommen sein. Herr Stade, Sie bleiben hier. Im Falle Björn wieder zurückkommt, dann melden Sie sich bei uns." Ich nicke, wobei ich ihnen ansehen kann, dass sie mir das diesmal nicht abnehmen. "Vorerst wird Ihnen nichts zur Last gelegt, aber das kann sich auch ändern." Sie drehen sich um und verschwinden eilig durch meine Wohnungstür.

Seufzend fahre ich mir mit einer Hand übers Gesicht. "Mensch Björn. Was machen wir denn jetzt?"
 

***
 

~Ralf~

Unruhig tigere ich durch meine Wohnung. Immer wieder betrete ich das Schlafzimmer und spähe aus dem Fenster. Ich habe es weit geöffnet, für den Fall, dass Björn wieder zurückkommt, was ich allerdings bezweifle. Ich an seiner Stelle würde mich vorerst auch nicht mehr hier sehen lassen wollen.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon nach siebzehn Uhr ist. Vorhin habe ich bei Björns Chef angerufen und ihn krankgemeldet. Nicht auszudenken, wenn er noch seine Praktikumsstelle verlieren würde, nur weil sein Adoptivvater auf einmal nach ihm sucht! "Er macht alles kaputt", murmle ich traurig. Wenn dieser Kerl so weiter macht, dann zerstört er Björns komplettes Leben. Aber solange ich da bin, werde ich das zu verhindern wissen. Komme was wolle!

Zum gefühlten millionsten Mal schleiche ich zum Schlafzimmerfenster, spähe hinaus, sehe aber weder Björn noch die Polizeistreife, die immer mal wieder durch die Straßen fährt. Hartnäckige Typen sind das! Als es plötzlich an der Tür klingelt, zucke ich erschrocken zusammen und nehme die Beine in die Hand. Es wird doch nicht ...? "Tore!" Bin ich froh ihn zu sehen! "Komm rein."

"Auf eins kann man sich immer verlassen: Der Dorffunk funktioniert bei uns einwandfrei." Er grinst mich schmal an und läuft an mir vorbei in den Flur.

"Du hast schon davon gehört?"

"So in etwa. Die Polente, die hier Streife fährt, ist auch nicht zu übersehen." Just in diesem Moment fährt der weiß-blaue Streifenwagen wieder unsere Straße hinauf.

"Das ist alles eine große Katastrophe!", jammre ich und laufe mit Tore zusammen ins Wohnzimmer. "Björn ist abgehauen."

"So?"

"Ja. Man wollte ihn zurück zu seinen Adoptiveltern bringen, aber das ist natürlich undenkbar! Er konnte unbemerkt aus dem Haus fliehen, während die zwei Polizisten sich unterhalten haben. Ich habe es mitbekommen, ihn aber nicht aufgehalten." Schuldbewusst schaue ich Tore an. "Ich konnte nicht anders."

"Schon gut. Ich kann das verstehen." Ich fühle mich sofort etwas besser. "Du hast sicher Angst um ihn."

"Und wie! Wenn ich bloß wüsste, wo er ist. Ob es ihm gut geht, und er dort in Sicherheit ist." Das zerfrisst mich langsam!

"Wie gut, dass es den Dorffunk gibt! Manchmal ist der richtig nützlich", grinst Tore und schiebt mir einen kleinen Zettel zu. "Dorffunk wäre in diesem Fall zwar zu viel gesagt. Sagen wir eher, ein geheimer Dorffunk."

"Was ist das?" Neugierig nehme ich ihn an mich und falte ihn auf.

"Der lag in meinem Briefkasten."

Mit klopfenden Herzen überfliege ich die Zeilen auf dem Stück Papier. "Mein Kumpel ist Zelten und wartet auf Besuch wenn sich die Sonne verabschiedet. Domi." Ich ziehe die Stirn kraus. Den Namen habe ich schon mal gehört. "Domi ist Björns Kumpel, richtig?"

"Ja."

"Und was sagt mir der Rest des Briefes? Wo zeltet Björn?"

"Das sagt dir noch gar nicht so viel. Dafür brauchst du den zweiten Hinweis." Jetzt wird es langsam albern! "Das hier lag in dem Brief. Das Blatt einer Magnolie."

"Das erkennst du?" Tore nickt.

"Wer hier wohnt, der kennt den Ort, wo die große Magnolie steht. Und dort kann man hervorragend zelten." Er kramt einen weiteren Zettel hervor. "Hier ist die Wegbeschreibung. Hab sie dir extra angefertigt." Ich bin sprachlos. "Ich muss sagen, die zwei haben sich ganz schön Mühe gegeben. Wie in einem Spionagefilm." Aber echt!

Ich mustere die Wegbeschreibung, die von Tore stammt. "Ich gehe gleich los!", beschließe ich, als ich mir sicher bin, mir den Weg merken zu können. Allzu schwer ist das nicht.

"Warte! Du kannst jetzt nicht gehen!"

"Warum nicht?"

"Erst wenn sich die Sonne verabschiedet. Da steht's doch! Du kannst erst heute Nacht weg." Ich schüttle den Kopf und fange an zu lachen.

"Das ist nicht wahr, oder? Mein minderjähriger Freund, der sich irgendwo unter einer Magnolie vor der Polizei versteckt, erwartet mich Nachts in einem Zelt? Und ich dachte, mit meinem Umzug wäre es endlich vorbei mit den verrückten Liebesaktionen."

"Was ist daran schon verrückt?", fragt mich Tore grinsend. "Jedenfalls nicht verrückter als die Liebe ohnehin schon ist." Welch wahre Worte!

"Und wir beide haben definitiv in der verrückten Liebeslotterie den Hauptpreis gewonnen", brumme ich.

"Yeah! Wir sind echt arm dran." Ich greife Tores Hand und drücke sie. "Hör auf mich zu bemitleiden. Du und Björn seid im Moment wichtiger."

"Red nicht!" Ich ziehe ihn, wie so oft, an mich. "Wenn das hier vorbei ist, dann tue ich alles, damit du und dein Pfarrer euch endlich wiederseht."

"Bin mal gespannt, wie du das anstellen willst", seufzt Tore und lehnt sich an mich.

Dass ich schon was angestellt habe, das verrate ich ihm lieber nicht. Das kann ich immer noch, wenn mein Auftritt in der Kirche letztens kein voller Fehlschuss war. Falls der neue Pfarrer die Nachricht überhaupt weiterleitet.

Ich muss grinsen. "Wir sind wirklich in einem Spionagefilm." Tore grinst ebenfalls. Wenn der wüsste!
 

~Björn~

Regungslos gehe ich in die Hocke. Schon wieder ein Polizeiwagen! Solange es hell ist, bleibe ich lieber in dem Zelt, das Domi mir aufgebaut hat. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen! Es war reines Glück, dass niemand mitbekommen hat, wie ich zu ihm bin, und wie er mir danach das Zelt hier her geschleppt, und aufgebaut hat.

Bleibt noch zu hoffen, dass er die besprochene Nachricht an Tore weiterleiten konnte, ohne dass es aufgefallen ist. Wer weiß schon, was die Bullen alles überwachen? Und wer weiß schon, was mein Alter alles überwachen kann? Bestimmt war es einer seiner 'Parteikameraden', der mich verpfiffen hat. Und dann musste er ausgerechnet die Polizei einschalten, um Ralf damit auch noch ans Bein zu pinkeln. Das es genauso gelaufen ist, da verwette ich meinen Arsch drauf!

Ich krieche wieder rückwärts in mein Zelt zurück und lege mich auf die Decke, die mir Domi ebenfalls überlassen hat. Das Zelt hat er in einem Gebüsch aufgebaut. Wie er das geschafft hat, möchte ich zu gern wissen, aber es ist so hervorragend getarnt. Hier kann ich erstmal bleiben. Sind ja nur fünf Nächte. "Fünf Nächte ohne Ralf", denke ich laut nach. Meine Brust schnürt sich zu. Dass ich jemals einen anderen Menschen als meine Eltern und meine kleine Schwester so sehr vermissen würde, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Aber so ist es. Er fehlt mir. Er wüsste genau was zu tun ist. Vielleicht ist er ja auch sauer auf mich, weil ich einfach getürmt bin. Aber wäre dem so, hätte er mich dann nicht aufgehalten? Ich seufze laut. Im Moment weiß ich gar nichts mehr. Ich will nur noch, dass die sechs Tage ganz schnell vorbeigehen, und ich endlich mein Leben so leben kann, wie ich möchte. 'Und das Björn keinen Ärger bekommt wegen mir.'
 

Ich muss während meiner Nachtgrübelei eingepennt sein, denn als ich aufwache, ist es dunkel. "Ralf!" Wenn er die Nachricht bekommen hat, ist er sicher schon hier!

Ich rapple mich auf und winde mich aus dem Zelt. Gar nicht so leicht im Dunklen. Mir schlagen ständig Äste ins Gesicht und pinkeln muss ich auch. Unter leisen Flüchen schaffe ich es erst aus dem Zelt und dann auch aus dem Gebüsch hinaus. Draußen auf der Wiese vor dem See, schlage ich mir den Staub und den Dreck von der Hose. Bevor ich mich erleichtere, schaue ich mich um. Noch steht niemand unter der Magnolie, doch als ich nach dem Austreten wieder auf die Wiese trete, sehe ich einen dunklen Schatten vor dem dicken Baumstamm stehen. Ist er es? Es gibt nur einen Weg das herauszufinden.

Leise schleiche ich in einem Bogen um den See entlang, sodass ich mich von mir aus gesehen links der Gestalt nähere. Je dichter ich ihr komme, desto sicherer werde ich mir: Das ist er! "Ralf?" Er ruckt herum, bleibt ansonsten aber stehen.

"Björn?"

"Ja."

"Oh Gott sei Dank!" Ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie ich plötzlich in eine feste Umarmung gezogen werde. "Ich dachte schon, ich wäre falsch."

"Bist du nicht", murmle ich gegen seine Schulter. "Wartest du schon länger?"

"Etwa eine halbe Stunde." Wieso habe ich ihn dann vorhin nicht gesehen?

"Ich bin eingeschlafen. Tut mir leid."

"Egal. Können wir irgendwohin, wo wir nicht gleich gesehen werden? Vielleicht fahren noch Streifenwagen in der Gegend herum." Guter Einwand.

Ich schleife ihn zu meinem Zelt, bleibe aber mit ihm davor stehen. Es ist dunkel genug. Hier entdeckt und keiner so schnell. "Und wo schläfst du?"

"Hier." Ich schiebe ein paar Äste zur Seite. "Domi hat mir sein Zelt aufgebaut. Perfekt getarnt."

"Oh Mann!" Ralf lacht leise auf. "Nicht zu glauben."

Ich beiße mir auf die Unterlippe. "Ich hab dir Ärger bereitet." Entschuldigend blicke ich zu ihm auf.

"Hast du nicht. Wärst du nicht abgehauen, hätte ich mich mit den Polizisten angelegt. Niemals hätte ich es zugelassen, dass sie dich mitnehmen." Zärtlich streift sein Daumen über meine linke Kinnpartie. Mein Bauch fängt Feuer. Ich stelle mich auf Zehenspitzen und verschränke meine Arme hinter Ralfs Nacken.

"Danke", hauche ich und presse meine Lippen auf seine. Er erwidert den Kuss und zieht mich ebenfalls an sich. "Aber was soll ich jetzt machen?"

"Was hattest du denn vor?"

"Hier bleiben, bis sie mich nicht mehr zwingen können, zu denen zurück zu gehen." Einen besseren Plan habe ich noch immer nicht.

"Dann machen wir das so."

"Echt?"

"Die Nächte sind warm genug, sodass ich keine Angst haben muss, dass du mir erfrierst, und das Versteck sieht auch gut aus. Und um Proviant habe ich mich auch gekümmert", lacht er und lässt mich los. Erst jetzt bemerke ich den Träger eines Rucksacks, den Ralf auf seiner rechten Schulter trägt. "Das ist alles haltbar. Auch bei der momentanen Hitze. Wasser kann ich dir morgen Abend noch mehr bringen. Eventuell deponierst du ein paar Flaschen im Wasser, dann bleiben sie kühl." Mir wächst ein Klos im Hals. Dass er so viel für mich tut kann ich immer noch nicht ganz glauben. Für mich ist das immer wieder wie ein Wunder.

Ich sage nichts dazu, kann ich auch gar nicht, weil der Kloß sich nicht herunter schlucken lässt, und deute ihm an, mir zu folgen. Hinein in das Gebüsch und damit in mein Zelt, geht es schneller als vorhin das Hinauskommen. Ich rutsche bis hinten hin, damit Ralf genügend Platz hat um ebenfalls ins Innere zu robben. "Hier hast du dich also den ganzen Tag lang versteckt?" Ich bejahe leise. Er legt den Rucksack in eine Ecke und hockt sich neben mich. "Hübsch hier. Was kostet es monatlich an Miete?" Ich fange an zu lachen. Der Kloß verschwindet.

"Das ist nur eine Übergangswohnung, bis ich bei meinem Freund einziehen kann."

"Du hast einen Freund? Schade. Wenn du Single wärst, würde ich mich jetzt an dich ranmachen." Hört, hört!

"Für dich mache ich eine Ausnahme", gluckse ich und klettere rittlings auf Ralfs Schoß.

Seine Hände legen sich auf meinen Rücken und mir schießt es kribbelnd in den Unterleib. "Was würde denn dein Freund dazu sagen?"

"Keine Ahnung. Fragen wir ihn doch." Wieder treffen sich unsere Lippen. Diesmal länger und zärtlicher.

Ralfs Zunge begehrt Einlass und als ich sie ihr gewähre, keuchen wir beide leise auf. Ich rutsche mit meinen Händen unter sein Oberteil. Ralf tut es mir gleich und kratzt mit den Fingernägeln hauchzart über meine Wirbelsäule. Blitze schlagen dort ein, wo er mich berührt und versengen mir die Haut. Unser Kuss wird verlangender und ich japse leise auf, weil mir die Luft wegbleibt. Kann ich es wagen und versuchen, Ralf zu Mehr zu überzeugen?

Ich sauge noch einmal an seiner Unterlippe, ehe ich mich über sein Kinn nach unten küsse. Es schon wieder ein paar Tage her, seitdem er sich das letzte Mal rasiert hat. Es kratzt leicht an meinen Lippen. Ein wirklich heißes Gefühl und ich muss mir unwillkürlich vorstellen, wie es sich anfühlen würde, wenn er damit zwischen meinen Beinen auf Tauchstation geht. Dabei kommt mir eine Idee.

Ich lege eine feuchte Spur abwärts, komme aber nur bis zu Ralfs Kragen. "Was wird das, wenn es fertig ist Björn?" Zwei Finger schieben sich unter mein Kinn und heben es nach oben. Wir können uns nicht direkt ansehen, aber ich spüre, dass sein tadelnder Blick auf mir ruht.

"Nach was sieht es denn aus?", frage ich retour.

"Nach etwas, das wir eigentlich auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollten."

Ich atme laut aus und gebe klein bei. Ralf ist und bleibt wohl oder übel stur in dieser Sache. Dennoch ... "Ich dachte, jetzt, da es eh egal ist, wäre es okay."

"Es ist nicht egal, Björn. Was das betrifft, bin ich noch mal mit einem blauen Auge davon gekommen." Ich bekomme einen leichten Schrecken. Dann hat er doch Ärger bekommen, weil er mich bei sich aufgenommen hat?

"Was war denn?", harke ich nach. "Hast du jetzt eine Anzeige am Hals?"

"Nein, das nicht." Das erleichtert mich. "Dank deiner Aussage. Das hätte aber auch anders ausgehen können." Oh je. Sofort fühle ich mich unwohl. Ich muss mich beherrschen! Und es ist nicht mehr lange hin bis zu meinem Geburtstag.

"Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen. Hätte ich das gewusst, dann wäre ich erst gar nicht erst zu dir ..."

"Stopp mal. Ich wollte, dass du bei mir bleibst. Vergessen? Und das will ich immer noch." Mein Herz bricht schon wieder alle Geschwindigkeitsrekorde. "Nur müssen wir ab jetzt sehr vorsichtig sein. Auch wegen deinem Vater." Ich nicke leicht.

"Und was dann? Was, wenn er mich auch nicht in Ruhe lässt, selbst wenn ich endlich volljährig bin? Und Kalle! Er ist auch noch da!" Ich sacke leicht in mir zusammen. Das schlechte Gewissen stürmt erneut auf mich ein.

"Die Polizei weiß doch Bescheid", meint Ralf.

"Und wenn die nix tun?"

"Dann tun wir etwas." Warme Hände legen sich auf meine Wangen. "Mach dir keine Sorgen mehr. Bald ist alles überstanden." Nicht ganz.

"Alles, außer mein Praktikumsplatz. Den dürfte ich jetzt verloren haben, nachdem ich heute nicht aufgetaucht bin." Ob ich jemals wieder so eine Chance bekomme, bezweifle ich. Nicht mit meinem miesen Schulabschluss.

"Darüber mach dir mal keine Sorgen. Das habe ich schon geklärt."

Überrascht schaue ich auf. "Echt?"

"Ja."

"Wie?"

"Na wie wohl? Ich habe dich krankgemeldet." Mir fällt ein Stein vom Herzen.

"Dann ist alles okay? Ich kann weiterhin das Praktikum machen?"

"Sobald du wieder 'gesund' bist."

Wie gesagt: Es ist ein Wunder! "Oh Danke Ralf!" Ich falle ihm um den Hals. Damit hat er nicht gerechnet. Er verliert das Gleichgewicht und zusammen fallen wir auf den Schlafsack, der mir als Bett dient.

"Au!"

"Hast du dir weh getan?", frage ich sogleich. Ich bin relativ bequem gelandet, nämlich auf ihn drauf.

"Geht schon", krächzt er. "Unter dir zu liegen macht den Schmerz erträglich." Mein Gesicht beginnt zu glühen.

"Hör mit dem Süßholzgeraspel auf. Das steht dir nicht." Bitte lass ihn nicht an meiner Stimme erkennen, dass das mir jetzt irgendwie peinlich war.

Ich höre ihn leise lachen. Unterdessen haben sich seine Hände auf meine Seiten gelegt. "Wir können auch tauschen, wenn dir das lieber ist. Dich unter mir zu haben, ist sicher noch heißer." Poff! Bestimmt glühe ich jetzt wie ein mutiertes, rotes Glühwürmchen.

Ich weiß partout nichts darauf zu erwidern, weshalb ich mein Gesicht auf seinen Oberkörper lege und etwas von ihm hinunterrutsche. "Du stellst ja sowieso nichts mit mir an. Ob ich jetzt auf dir, oder unter dir liege." Ralf seufzt nur. Froh, dass mein Sprachzentrum wieder funktioniert, fummle ich den Schlafsack und die extra Decke unter uns hervor. "Bleibst du über Nacht?"

"Wenn ich darf?" Am liebsten würde ich ihm für diese Frage die Zunge herausstrecken. Aber weil Ralf das nicht sehen kann, kneife ich ihm in die Seite. "Au! ... Mehr." Das lasse ich jetzt auch mal lieber unerwidert.
 

***
 

~Ralf~

"Und er hockt jetzt bis Ende der Woche in diesem Zelt?"

"Ja."

"Krass." Tore schüttelt lachend den Kopf.

"Was denn?"

"Es wundert mich nur, dass du dabei mirmachst."

"Habe ich denn eine andere Wahl? Ich lasse ihn nicht mehr zurück zu seinen Adoptiveltern. Und solange er nicht bei mir bleiben kann, ist er in seinem Versteck besser aufgehoben."

"So spricht ein wahrer, verliebter Mann!" Ich schließe die Augen und fahre mir mit der Handfläche übers Gesicht.

"Ich komme mir dabei ja selbst total blöde vor. Ich weiß, es ist eigentlich falsch und ein total pubertäres Verhalten, aber ich kann nicht anders."

Tore legt den Kopf schief und tätschelt mir das Knie. "Man macht dumme und unüberlegte Sachen, wenn man verliebt ist. Und ich hätte an deiner Stelle genauso gehandelt."

"Du würdest deinen Pfarrer in einem Zelt im Park verstecken?" Sofort bereue ich den Spruch. Ein sensibles Thema, und ich rühre immer wieder darin herum. "Sorry."

"Das muss dir nicht leid tun. Wenn es Oskar wäre, dann würde ich ihn auch vor der Polizei verstecken. Und wer weiß? Vielleicht muss ich das ja irgendwann mal."

"Und wieso?", will ich wissen und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

"Wer weiß, was dieser Kirchenverein mit ihm anstellt, wenn die herausbekommenen, was wir zwei ... du weißt schon", flüstert er mir zu.

"Du spinnst!"

"So wird man mit der Zeit. Der Liebeskummer macht einen verrückt." Mein armer Tore. "Aber bei dir hat das ja bald ein Ende. Noch fünf Tage, richtig?" Ich nicke. "Solange ist er dein kleines Geheimnis", kichert er. "Wie romantisch. Haben wir nicht morgen Vollmond? Was macht ihr eigentlich die ganze Nacht über in eurem Zelt?"

"Sehr witzig. Wir schlafen. Was sonst?"

"Du kannst einfach nicht aus deiner Haut."

"Nein, kann ich nicht. Ich will mir nichts zu Schulden kommen lassen." Tore seufzt und schüttelt den Kopf. "Ich kann's nicht Tore. Stell dir mal vor, die Polizei kommt wieder. Sie stellt mir Fragen über Björn und mich, und ich muss lügen. Was dann?"

"Dann lügst du."

"Das würden die bemerken." Ich kann nicht lügen. Nicht gut zumindest. Und gerade nicht bei einem solchen heiklem Thema.

"Ist ja schon gut. Ich bin erstmal froh, dass ihr euch überhaupt näher gekommen seit. Den Rest schafft ihr im Nullkommanichts." Tore schnippst mit den Fingern. "Und weißte was?"

"Was?"

"Ich organisiere eine fette Party für euch!" Lachend schüttle ich den Kopf. "Doch, doch! War der Kleine schon mal in einem Schwulenclub?"

"Bitte nicht!" Alles, nur das nicht! "Von diesen Clubs habe ich die Nase voll!"

"Aber Björn bestimmt nicht. Er ist noch so jung und neugierig."

"Gerade deshalb soll er da nicht hin", grummle ich.

Tore verpasst mir eine angedeutete Ohrfeige. "Du würdest ihm verbieten in einen Club zu gehen?"

"Nein. Aber du weißt doch, was da abgeht."

"Und? Du bist doch dabei."

"Ich weiß nicht ..." In mir regt sich die Angst. "So viele junge Kerle ..." Ich muss an Dillan und Kris denken.

"Du musst lernen, ihm zu vertrauen."

"Leichter gesagt als getan. Mit diesen jungen Hüpfern kann ich nicht mithalten."

"Ralf? Raff es endlich. Björn liebt dich und du kannst viel, viel mehr geben, als diese jungen Hüpfer, die nur Sex wollen. Glaube mir."

Ihm glaube ich ja, aber "Was ist mit Björn? Er ist jung, will sich vielleicht austoben. Was dann? Soll ich ihn lassen?" Das er außerdem auch auf Frauen steht, macht die Sache auch nicht leichter.

"Könntest du damit leben, dass er sich 'austobt'?"

"Nein." Wie könnte ich das?

"Dann lass ihn sich gefälligst genug bei dir austoben!"

Ich atme tief ein, traue mich gar nicht die nächste Frage zu stellen. "Und wenn er mich dann verlässt, weil ich ihm zu eintönig werde?"

"Dann sag ihm tschüss und auf nimmer wiedersehen." Geschockt schaue ich zu Tore auf. "Was? Wenn er mit anderen vögeln will, dann liebt er dich auch nicht."

"Scheiße Tore! Erst redest du auf mich ein, ich soll mir keine Sorgen machen, und mich auf Björn einlassen, und jetzt rätst du mir, ihn gehen zu lassen?"

Fassungslos höre ich, wie Tore anfängt zu lachen. "Mensch Ralf! Hör auf dir über ungelegte Eier Gedanken zu machen. Außerdem bin ich mir sehr sicher, dass du ihm im Bett alles geben kannst, was er braucht. Das weiß ich schließlich aus Erfahrung." Na toll! "Hast du auch so einen Kohldampf wie ich?" Er steht auf und sucht meine Küche auf. Warum muss ich eigentlich immer alle durchfüttern?
 

Mit ein Paar belegten Broten setzen wir uns an den Küchentisch. Thema ist und bleibt Björn, doch wie man es dreht und wendet, so wie es jetzt ist, ist es wahrscheinlich wirklich am besten. Meine Angst, Björn könnte bald die Schnauze von mir altem Sack voll haben, konnte mir Tore allerdings nur bedingt nehmen.

Wenn ich so an meine Drang und Stoßzeit (besonders an die Stoßzeit *hust*) denke, kann ich mir kaum vorstellen, dass ich Björn genüge. Er ist jung, möchte sicher Erfahrungen sammeln und sich ausprobieren. Was ich tun werde, falls dieser Fall eintreten sollte, weiß ich noch nicht. Wie gesagt, verbieten kann ich es ihm nicht, will es auch auf der einen Seite gar nicht, aber allein der Gedanke daran, ein anderer Kerl, oder auch eine andere Frau würde ... "Ralf?"

"Ja?"

"Denkst du schon wieder über die Sache nach?"

"Welche Sache?", versuche ich abzulenken.

"Die Sache mit dem Fremdenverkehr deines Schatzipupsis." Wie konnte dieser Typ nur einen Pfarrer ins Bett bekommen? "Rede mit ihm darüber. Dann hast du Klarheit."

"Und wenn ich nur ins Wespennest steche?"

"Dann steche zu. Du wirst eh nicht drumherum kommen, im Falle der Fälle."

"Hm."

"Hör jetzt auf dir dein hübsches Köpfchen zu brechen und besinne dich auf die akuten Probleme." Weise Worte. "Hast du schon eine Idee, was du ihm zum Geburtstag schenkst?" Oh Shit! "So, wie du mich gerade anguckt, also nicht", gluckst Tore.

"Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken."

"Dann solltest du das mal tun. Denn ..." An meiner Haustür klingelt es. "Besuch."

Ich stehe auf und laufe zur Tür. Tore folgt mir. Ist da jemand neugierig?

Als ich die Tür öffne, steht ein älterer Mann vor mir. Ich mag ihn auf Anhieb nicht. Er sieht unsympathisch aus und sein dicker Bauch schiebt sich mir unangenehm nahe. "Ja?" Was will der von mir?

"Sind sie dieser Ralf Stade?"

"Der bin ich", antworte ich in keinem besonders netten Tonfall.

Der Typ baut sich vor mir auf. Sein Gesichtsausdruck verheißt nichts Gutes. "Wo ist mein Sohn?!"
 

******

Kapitel 12 - Versteckspiele

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 12 - Versteckspiele (Ohne Adult)

Kapitel 12 - Versteckspiele (Ohne Adult)
 

~Björn~

"Langweilig ... Laahahangweilig ..." Wenn Ralf heute Abend zu mir kommt, bitte ich ihn, mir beim nächsten Mal ein Buch oder irgendwas anderes mitzubringen, mit dem ich mir die Zeit vertreiben kann. Die Minuten in diesem Scheiß-Zelt ziehen sich wie Kaugummi!

Um wenigstens ein bisschen den Tag herumzubekommen, versuche ich zu schlafen, aber man kann sich ja denken, dass das keine längerfristige Lösung ist. Zur Mittagszeit tun mir sämtliche Knochen weh und mein Nerv-Pegel ist so hoch, dass ich nicht weiß wohin mit meiner Wut. "Ich will zu Ralf!" Oder in den Schmuckladen. Ganz egal. Hauptsache, ich kann hier weg!

Ob ich mich vielleicht ungesehen zu Ralf schleichen kann? Die Polente kann doch nicht ewig hier herumfahren. Die haben doch sicher noch was anderes zu tun, als einen flüchtigen Jungen zu suchen. Leider ist die Polizei nicht mein einziges Problem, aber vielleicht schaffe ich es ja bis zu Ralf, wenn ich vorsichtig bin?

Leise rutsche ich durch den Zelteingang und spähe durch die Büsche. Alles ruhig. Soll ich es wagen? Ich könnte mich durch die bewachsenen Flächen neben den Feldwegen bis zur Hauptstraße durchschlagen. Von da an ist es nicht mehr weit, bis zu Ralfs ... Ich erstarre. Da war gerade ein Geräusch! Und zwar das von schnellen Schritten.

Mein Herz klopft wie wild, als ich mich im hintersten Eck des Zeltes verstecke und die Luft anhalte. Wer ist das? Und vor allem: Hat dieser jemand mich gesehen? Eigentlich ist das so gut wie unmöglich, es sei denn, er hätte direkt auf mein Versteck geschaut, und dass auch nur von dem richtigen Standpunkt aus. Die Möglichkeit besteht also, dass man mich hier entdeckt.

Es raschelt! Ganz in der Nähe meines Zeltes! Panisch schnappe ich mir eine volle Wasserflasche. Egal wer das ist, sollte er auch nur versuchen mich hier raus zerren zu wollen, bekommt er die Pulle auf den Kopf! Und dann nichts wie ab durch meinen vorbereiteten Fluchtweg im hinteren Zeltabschnitt.

Adrenalin pumpt durch meinen Körper. Ich hebe die Flasche und starre gebannt auf den Eingang meines Verstecks. Die Person kommt immer näher! "Björn?"

"Ralf?" Erleichtert lasse ich die Falsche fallen. Der Zelteingang schiebt sich auseinander. "Oh Ralf!" Mir fallen eine Millionen Tonnen Geröll vom Herzen.

"Psst!" Er legt mir die Hand auf den Mund. "Leise!" Ich nicke, dann lässt er mich wieder los.

Hektisch schließt er den Zelteingang hinter sich und horcht angestrengt nach draußen. Ich versuche ebenfalls etwas zu hören, kann aber nichts Verdächtiges ausmachen.

Ralf atmet leise aus und dreht sich zu mir. Fragend schaue ich ihn an. "Dein Adoptivvater war vorhin bei mir."

"Was?!"

"Psssst!"

"Tschuldige. ... Was wollte er?", frage ich leise.

"Ist das nicht offensichtlich?"

"Scheiße. Hat er dir was angetan?" Besorgt fasse ich nach seinem Arm.

"Nein. Und hätte er es versucht, wäre es mir nur gelegen gekommen." Ralfs Miene wird finster.

"Das hätte uns nur noch mehr Probleme bereitet."

"Glaube ich nicht. Tore war dabei."

"Oh." Ich will es nicht, aber Eifersucht macht sich in mir breit. Ich hocke hier herum, während Tore bei Ralf sein kann! Und alles wegen meinem beschissenen Adoptivvater. "Ich hasse ihn!"

"Wen? Tore?"

"Nein. Meinen Alten!" Traurig lehne ich mich an Ralfs Schulter. Er zieht mich fester an sich und legt einen Arm um mich. "Was hat er gesagt?"

"Er hat mir gedroht, er würde mich anzeigen, wegen Kindesentführung, wenn ich dich nicht 'herausrücke'." Ralf lacht freudlos auf. "Als seist du ein entlaufender Hund." Treffender Vergleich.

"Viel mehr bin ich auch nicht für ihn", flüstere ich. "Hat jemand mitbekommen, wie du zu mir gelaufen bist?"

"Ich glaube nicht. ... Ich konnte einfach nicht bis heute Abend warten."

"Darüber bin ich froh." Ich drehe meinen Kopf, damit ich Ralf anschauen kann. "Bleibst du noch etwas?"

"Natürlich. Ich kann erst wieder her weg, wenn es dunkel ist." Er grinst mich an. "Mein kleines Geheimnis." Ich runzle die Stirn, muss allerdings ebenfalls grinsen. "Tore hat dich so betitelt. Und irgendwie stimmt das ja auch." Sie reden also über mich. Soll mir das jetzt gefallen? "Tore war echt sauer. Er hat sich tierisch über deinen Adoptivvater aufgeregt."

"Du nicht?"

"Doch", antwortet er leise. "Aber ich habe nicht so viele Fluchwörter wie er benutzt um meiner Wut Luft zu machen." Trotz der bedrückenden Nachricht, fange ich an zu lachen. "Nicht so laut", schmunzelt Ralf und patscht mir die Hand auf den Mund.

"Chongud", murmle ich, höre aber nicht auf zu kichern.

"Er wird dich mir nicht wegnehmen ... Keiner wird das." Über meinem Kopf ploppen zahllose Fragezeichen auf.

Ich schiebe Ralfs Hand von meinem Mund. "Wer soll mich dir denn noch wegnehmen können? Die Polizei?"

Ralf schluckt und lächelt verlegen. "Genau. Die Polizei." Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass noch mehr hinter diesem Satz steckt?
 

~Ralf~

Björns Blicke versengen mich. Warum ist mir auch nur dieser dämliche Satz herausgerutscht? "Da ist doch noch mehr. Du verschweigst mir was." Björn setzt sich auf und rutscht vor mich. "War noch was mit meinem Alten?"

"Nein. Er hat nur auf dicke Hose gemacht." Auch wenn der Schrecken über sein Auftauchen am Anfang groß war, jetzt finde ich es nur noch lächerlich. Sollte er sich noch ein mal in Björns oder meine Nähe wagen, dann zeige ich ihm, wie man sich als Unterlegener fühlt.

"Verdammt Ralf! Rede mit mir!"

Na schön. Was soll's? Irgendwann hätte ich es sowieso angesprochen. "Warst du schon mal in einem Schwulenclub?"

"Nein", antwortet er verwirrt.

"Willst du in einen?" Björn sieht mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. "Tore hatte die Idee, dich an deinem Achtzehnten in einen zu schleppen. Als Überraschung."

"Oh. ... Und das bereitet dir Sorgen?" Ja, weil ich nicht will, dass andere Kerle auf dich aufmerksam werden, oder noch schlimmer: Du auf sie.

"Ein klitzekleines Bisschen."

Seine Stirn legt sich in Falten. "Wieso?"

"Dort geht es nicht immer ganz jugendfrei zu, und die Kerle sind aufdringlich und ..."

"Warte mal! Du glaubst doch nicht noch immer, ich würde dich für den Erstbesten sitzen lassen?!" Nein, aber für einen, der jünger ist, und viel mehr mit dir gemeinsam hat als ich alter Knochen. "Das ist doch nicht zu fassen!" Björn schüttelt den Kopf. "Wir machen das alles hier doch nicht aus Jux und Tollerei durch! Ich hätte mich auch in den nächstbesten Zug setzen können, und irgendwohin abtauchen können, aber nein! Ich bleibe hier, weil du hier bist! Weil ich dich liebe, verdammt noch mal!" Ich komme gar nicht mehr aus dem Grinsen raus. "Findest du das lustig?", empört sich mein kleiner Dickschädel.

"Nein, aber ich hatte es ganz vergessen, wie scharf es mich macht, wenn du dich aufregst."

Sein Gesicht verfärbt sich rot, und er murmelt ein leises "Idiot", in seinen nicht vorhandenen Bart. Vielleicht bin ich wirklich ein Idiot, aber nach meinen ganzen Liebespleiten kann ich einfach nicht ganz aus meiner Haut.

"Verzeih mir, aber ich frage mich hin und wieder, was du überhaupt an mir findest." Es tut weh, dies zuzugeben.

"Du machst Scherze? Das Selbe könnte ich dich fragen. Was findet ein Mann wie du an so einem schwächlichen Typen wie mir?" Minderwertigkeitsgefühle lassen grüßen. In der Beziehung passen wir anscheinend wunderbar zusammen.

Ich strecke meine Hände nach seinen aus und halte sie fest. "Du bist nicht schwächlich."

"Du weißt, wie ich das meine", flüstert er. "Im Gegensatz zu dir bin ich ein kleiner Junge. Ohne Perspektiven im Leben, hättest du mir nicht eine gegeben."

"Und ich fühle mich wie ein alter Knacker, der Angst hat, dir nicht zu genügen, oder mit dir Schritt halten zu können. Das ist auch nicht besser."

Björns Augen blitzen vergnügt auf. Was kommt wohl als Nächstes? "Falls das passieren sollte, bin ich gern gewillt, dir eine Gehhilfe zu besorgen." Boha!

"Na warte!" Ich ziehe ihn zu mir, überwältige ihn und werfe ihn nieder auf die Isomatte. Björn windet sich lachend unter mir. Und das so laut, dass ich aus reinem Selbstschutz die Lautstärke mit einem Kuss dämpfen muss. Ich will ja nicht, dass man uns hier findet.
 

***
 

~Tore~

Ungeduldig und nervös klopft mein Zeigefinger auf die Tischplatte. Mein Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet. Direkt auf Ralfs Wohnung. Er ist noch immer unterwegs. Hoffentlich ist er gut bei Björn angekommen.

Ich zwinge meinen Finger still zu halten und wische mir übers Gesicht. Vor Einbruch der Dunkelheit wird er auch ganz sicher nicht mehr nach Hause kommen, was in frühstens sieben Stunden der Fall sein wird. Wozu dann hier sitzen und auf ihn warten? Ich könnte in der Zwischenzeit etwas viel sinnvolleres anstellen.

In mir blitzt ein Gedanke auf. Sofort setze ich meinen Hintern in Bewegung und laufe zu einem meiner Küchenschränke. Bingo! Eine kleine Schachteln Pralinen ist noch da. Und zwar die Guten von Lindt. "Perfekt!"

Mir der Pralinenschachtel bepackt, verlasse ich mein Haus und laufe schnurstracks auf ein kleines Häuschen zu, das eine Querstraße weiter vorn steht. Dort schlängle ich mich durch den wackeligen Jägerzaun und halte auf die Haustür zu. Geduldig warte ich, dass mein Klingeln bemerkt wird. Wie immer dauert das eine Weile.

"Oh, Sie sind es!", werde ich begrüßt, als sich die schwere Holztür endlich öffnet. "Guten Tag Tore."

"Hallo Frau Krämer", grüße ich die alte Dame zurück. "Wie geht es Ihnen denn heute?" Ich setze mein charmantestes Lächeln auf.

"Ach die Hüfte, Sie wissen? Die bringt mich noch ins Grab."

"Sagen Sie doch so etwas nicht." Sie lacht mich breit an. "Hier. Die sind für Sie."

"Aber Herr Bielmayer! Sie sollen mir doch nicht immer so viel Hüftgold mitbringen." Das sagt sie immer, ergreift die Schachtel jedoch jedes Mal, als wäre sie gerade am Verhungern. "Kommen Sie doch rein. Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt. Möchten Sie eine Tasse?"

"Gerne", lächle ich und betrete ihr bescheidenes Reich.

Frau Krämer ist eine alte Bekannte meiner Mutter. Ihr Mann hatte früher eine kleine Imkerei mit dem besten Honig in der Umgebung. Leider ist er vor drei Jahren verstorben, und somit ist auch die leckere Honigquelle versiegt, doch ich besuche die alte Dame trotzdem hin und wieder. Und das nicht nur, weil sie mit meiner Mutter befreundet war und sie für mich wie eine Art Großmutter geworden ist.

Die Küche ist klein und sieht auch genau so aus, wie man sie bei einer Frau ihres Alters erwarten würde. Die Küchenmöbel sind in einem schrecklichen Siebzigerjahre-olivgrün, aber dennoch gut gepflegt. An den Fenstern hängen selbst gehäkelte Gardinen und auf dem Tisch liegt eine geblümte Tischdecke aus diesem abwischbaren Plastikzeugs. Ein Hauch von Zitrone liegt in der Luft. Frau Krämer hat wohl vor kurzem geputzt. Außerdem duftet es nach dem versprochenen Kaffee.

"Setzen Sie sich. Der Kaffee ist gleich durch." Mir wird eine Tasse vor die Nase gestellt, sowie ein Kännchen voll fetthaltiger Kaffeesahne. Da muss ich jetzt durch.

Geduldig warte ich, bis sich die alte Frau Krämer ebenfalls gesetzt hat. Dabei ächzt sie und klammert sich an der Tischplatte fest. Ich schaue dem Ganzen bloß zu, denn will man ihr zur Hilfe eilen, wird sie fuchsig. Mit ihren krummen Fingern öffnet sie geschickt die Pralinenschachtel und nascht gleich zwei davon. Ich muss grinsen, was ihr zum Glück nicht auffällt.

"Haben Sie schon gehört? Das mit dem Kleinen Nesgen?" Oh. Die Tratschrunde wird heute ja sehr früh eröffnet. Das kommt mir nur gelegen.

"Nein", antworte ich scheinheilig. "Was denn?"

"Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass Björn angeblich bei ihrem Nachbar gegenüber wohnen soll?" Das hat sich ja schnell herumgesprochen. "Ich habe ihn sogar vor ein paar Tagen bei diesem ... Wie heißt ihr Nachbar noch gleich?"

"Ralf", helfe ich ihr auf die Sprünge.

"Ah ja! Ralf Stade!" Wie immer weiß sie bestens Bescheid. "Der kleine Nesgen saß bei ihm im Auto. Ich weiß ja nicht, was das zu bedeuten hat, aber für den Jungen freut es mich." Interessant.

"Und wieso?"

"Na weil ... Moment! Der Kaffee ist durch." Ich sacke in mir zusammen. Ich mag keinen Moment warten! Trotzdem tue ich es, schaue Frau Krämer zu, wie sie den Kaffee in eine Thermoskanne umschüttet, dabei die Hälfte verschüttet, und endlich wieder zu mir an den Tisch kommt. "So! Wo war ich?"

"Bei Björn und Ralf", helfe ich ihr nach, damit sie endlich den losen Faden wieder aufnehmen kann, an dem ich zappelnd hänge.

"Genau! Der Junge hat Glück, sage ich Ihnen. Wir wissen ja beide, dass der Herr Nesgen einen an der Schüssel hat." Sie hebt ihren Zeigefinger zum Kopf und lässt ihn kreisen. Ich nicke. Und ob ich das weiß. "Der Schweinehund hat diesem ... diesem Ralf, richtig?"

"Richtig."

"Na ja, der hat diesem Ralf die Polizei ins Haus geschickt."

"Wirklich?" Ich tue ganz empört.

"Wenn ich es Ihnen doch sage! Sie sollten den kleinen Nesgen wieder zu diesem Sauwanzt zurück schleifen, aber wissen Sie, was der gemacht hat?"

"Was denn?"

"Er ist abgehauen!" Sie fängt an zu lachen und schüttet sich Kaffee in ihre Tasse.

"Und wo ist er jetzt?" Ich halte die Luft an.

"Das kann ich Ihnen nicht sagen." Uff! "Aber bestimmt steckt dieser ... ähm."

"Ralf."

"Ja! Dieser Ralf dahinter. Der scheint den Jungen ganz schön zu mögen." Oh sie ahnt, wie sehr er den Jungen mag?

"Ist das schlecht?", hake ich vorsichtig nach. Frau Krämer weiß nicht, dass ich schwul bin, und das muss sie auch nicht wissen, sonst weiß es bald die ganze Nachbarschaft.

"Warum soll das schlecht sein?" Ich zucke mit den Schultern. "Wenn dieser ... Ralf den kleinen Negsen da rausgeholt hat, dann hat er vollkommen richtig gehandelt." Ich nicke wieder und rühre nachdenklich in meinem Kaffee herum. Ich wette, bald kommen die ersten Gerüchte über Ralf und Björn hoch. Wenn sie es nicht schon längst sind.

"Ihr Nachbar muss der Polizei so einiges verraten haben", fährt sie fort, womit ich nicht gerechnet habe. Vielleicht lohnt sich mein Besuch bei ihr ja noch mehr, als ich vermutet habe. "Die Ilse hat mich vor einer halben Stunde angerufen." Die Ilse? Oho. Brandaktuelle News vom Kleinstadtfunk. Ilse weiß Bescheid. Denkt sie zumindest. "Die Grünen waren heute Mittag beim alten Nesgen."

"Wann genau?"

"So um eins, halb zwei." Das heißt, nach seinem Drohbesuch bei Ralf. "Die haben den kleinen Kalle mitgenommen." Gut dass ich gerade weder einen Schluck Kaffee im Mund habe, noch die Tasse festhalte. Beides wäre nicht gut ausgegangen.

"Wohin mitgenommen?"

"Na mitgenommen. Wo bringt man Kinder hin, die Zuhause ihre Fänge bekommen?"

"Zum Jugendamt", murmle ich.

"Kann sein. Jedenfalls hat der alte Ekel jetzt Besseres zu tun, als den kleinen Björn zu suchen. ... Wissen Sie. Damals haben wir auch mal was hinter die Löffel bekommen, aber da hatten unsere Eltern auch immer einen Grund zu. Aber das, was dieser Sauwanzt da gemacht haben soll, dass ist nicht in Ordnung." Sie starrt ihre Tasse an, die sie umklammert hält, und schüttelt nachdenklich den Kopf.

"Nein, das ist ganz sicher nicht in Ordnung." Ich lehne mich gegen die Rückenlehne des Küchenstuhls.

"Bin ja mal gespannt, was das noch für Auswirkungen auf seine politische Karriere haben wird. Wählen wird ihn wohl keiner mehr", lacht Frau Krämer. "Und von seinen 'netten Parteikameraden' darf er sich auch keine Unterstützung erwarten. Die halten sich doch lieber bedeckt, damit nicht noch Licht auf ihre dunklen Machenschaften fällt. Ein einziger krimineller Haufen ist das! Ein Skandal! Wissen Sie, was ich gehört hab? ..." Sie spricht weiter und ich nicke, tue so, als würde ich gespannt zuhören, was ich aber nicht tue. Die Machenschaften dieser oder jener Partei interessiert mich gerade herzlich wenig. Es gibt wichtigeres zu erledigen.

Ich muss Ralf eine Nachricht mit diesen sehr erfreulichen Neuigkeiten zukommen lassen! Und ich habe da schon einen Plan, wie ich das hinbekomme ...
 

~Ralf~

Björns Haare kitzeln meine Nase. Ich puste sie weg, doch sie fallen gleich wieder auf mein Gesicht. "Was tust du denn da?", brummt er müde.

"Deine Haare kitzeln mich."

"Hm ..." Er ruckelt herum, doch das macht das Problem auch nicht besser. Da hilft nur eins. Ich drücke mein Gesicht einfach in den weichen Haarschopf. Björn fängt an zu kichern. "So wird das nichts", meint er und richtet sich auf. "In diesem Zelt ist einfach zu wenig Platz."

"Eigentlich ist das doch gut." Ich zwinkere ihm zu.

"Auf einem großen, bequemen Bett zu liegen ist aber besser." Wo er Recht hat, hat er Recht.

"Nicht mehr lange", verspreche ich ihm. "Wir haben es bald geschafft."

"Ja ... Aber es macht mich wahnsinnig! Es ist so langweilig, wenn man hier allein herumhocken muss. Ich will wieder mit nach Hause." In meinem Bauch stellt sich ein warmes Gefühl ein. Er betrachtet mein neues Heim schon als sein Zuhause.

"Das möchte ich auch, aber es geht nun mal nicht anders. Außerdem ist alles besser, als wieder zu deinen Adoptiveltern zu müssen, oder?" Er nickt. "Siehst du? Also komm her. So unbequem ist es hier auch nicht." Letzte Nacht ging es ja auch.

Björn kuschelt sich wieder an mich. Diesmal liegt sein Gesicht neben meinem auf dem Kissen. Viel besser!

Wir schauen uns an. Björn findet das anscheinend lustig, denn seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. "Was denn?"

"Kitzelt dich noch was?" Ich verneine. "Echt nicht?"

"Nein." Was hat er denn?

"Komisch."

"Was ist komisch?"

"Ich dachte bloß gerade, vielleicht war ja nicht mein Haar dran schuld, dass dich etwas kitzelt." Hä? "Da krabbelt eine Spinne auf deiner Wange herum."

"Wo?!" Ich setzte mich auf. Glaubt jetzt nicht, ich hätte Angst vor Spinnen, aber in meinem Gesicht will ich sie nicht unbedingt krabbeln haben.

"Warte, ich mach sie dir weg." Vorsichtig nimmt Björn das Krabbelvieh mit seiner Hand auf und zeigt sie mir. "Ganz klein. Siehst du?"

"Wirf sie aus dem Zelt." Björn lacht auf. "Mach schon! Stell dir vor, die krabbelt in deinen Mund, oder in deine Ohren. Dann lachst du nicht mehr."

"Ja, ja ..." Er grinst mich frech an, ehe er auf den Ausgang zurobbt.

"Hast du eben 'ja, ja' zu mir gesagt?" Diese Jugend von heute!

"Entspann dich, ich hab doch nur ... AHHH!"

"Björn?" Von seinem Schrei alarmiert, drehe ich mich zu ihm herum. "Hat dich die Spinne gebissen? ... Björn?"
 

~Björn~

So ein mieses ...! "DU ARSCH!"

"Na na na. Sei mal nicht so laut." Oh oh. Ich schaue durch die Büsche. "Keine Angst. Hier ist niemand. Mach mal Platz."

"Was ist denn ...?" Ralfs Kopf erscheint neben mir. "Tore? Was machst du denn hier?" Das wüsste ich auch gern. "Spinnst du?! Wenn wir auffliegen!"

"Falls ihr auffliegt, dann sicher nicht wegen mir, Mr. Ich schrei die Welt zusammen. Und jetzt weg da! Ich will auch mal gucken, wo ihr euch den ganzen Tag über so herumtreibt. Oder gibt es da was zu sehen, was ich nicht sehen darf, hä?"

"Davon träumst du nur", schnauze ich ihn an.

"Ich? Wohl eher du, was?" So ein …!

Ralf und ich rutschen wieder zurück ins Innere des Zeltes, und Tore schiebt sich gleich hinterher. Dachte ich noch, zu zweit wäre es eng in dem stickigen Zelt, weiß ich nun: Zu dritt ist es noch viel enger! Luft!

"Mensch Tore! Was hast du hier zu suchen?", fragt Ralf ihn ein weiteres Mal.

"Und woher weißt du, wo wir sind?", setze ich nach.

"Ach Leute. Wenn ich etwas herausbekommen will, dann bekomme ich es auch heraus."

"Alles?" Ralf hebt eine Augenbraue nach oben.

"Ja, alles."

"Wenn du meinst ..." Spielt Ralf gerade auf den Pfarrer an? Sieht so aus.

"Wie dem auch sei", fährt Tore verwirrt fort. "Ich habe deinen Kumpel Domi gefragt."

"Und der hat es dir verraten?" Er sollte doch dichthalten!

"Ja hat er." Tore grinst uns überlegen an. "Weil ich gute Neuigkeiten habe!"

"Mein Alter ist abgekratzt?" Das wären echt mal gute Neuigkeiten.

"Fast." Äh was? "Kurz nachdem dieser Assi vor Ralfs Tür einen Aufstand geprobt hat, war die Polizei bei ihm. Und jetzt ratet mal was die gemacht haben!"

"Sag schon!", fordert ihn Ralf auf.

"Die haben Kalle da rausgeholt und allem Anschein nach haben deine lieben Adoptiveltern jetzt mächtigen Ärger am Hals." Das sind keine gute Neuigkeiten. Das sind großartige Neuigkeiten!

"Und wo ist Kalle jetzt?"

"Das weiß ich noch nicht genau, aber das lässt sich sicher auch herausfinden. Jedenfalls dürfte keiner dieser Bande jetzt noch nach dir suchen. Dazu haben sie sicher keinen Nerv mehr für. Und ich denke auch nicht, dass die Polizei dir noch hinterherjagt. Für vier Tage werden die dich sicher nicht ins Heim stecken." Ich glaube es nicht. Ist es wirklich vorbei? "Na? Wer hat mich jetzt lieb?" Tore strahlt uns an und breitet die Arme aus. Ich kann nicht anders und schmeiße mich ihm entgegen.

Damit hat keiner gerechnet, am wenigsten ich, aber ich schnappe mir Tores Gesicht und drücke ihm einen fetten Schmatzer mitten auf den Mund. Dieser sieht mich danach so verdattert an, dass ich anfangen muss zu lachen. "Guck nicht so! Was Ralf kann, kann ich schon lange."

"Hab's gemerkt", flüstert Tore und räuspert sich.

"Dann könnten wir doch jetzt eigentlich nach Hause gehen, oder was meinst du?" Ralf sieht mich an. "Wollen wir?"

"Da fragst du noch?" Langsam müsste er mich doch wirklich besser kennen.
 

***
 

~Björn~

"Nicht die Augen aufmachen! ... Warte ... Waaaarte." Zappelnd hocke ich auf dem Bett und halte mir die Hände vors Gesicht.

"Wann darf ich denn gucken?"

"Wenn du magst ... JETZT!" Aufgeregt reiße ich die Hände beiseite und öffne die Augen. "ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG!!!" Ralf steht vor dem Bett. Auf seinen Händen trägt eine große Torte bestückt mit einem Lichtermeer aus Kerzen. Ich brauche gar nicht zählen, um zu wissen, dass es achtzehn Stück sind. "Los, auspusten!" Ich hole tief Luft und blase die kleinen Flammen allesamt aus. "Hast du dir was gewünscht?"

Mit dem Zeigefinger stibitze ich mir ein wenig von der lecker aussehenden Sahne. "Nö", schmatze ich. "Was soll ich mir den wünschen? Ich habe doch alles was ich will." Ich tunke noch einmal in die Sahne, doch nicht für mich. Ich strecke mich und halte meinen vollgeschmierten Finger vor Ralfs Nase. "Sag Ah!"

"Ah!" Mir schwirrt der Kopf. Ralfs Zunge schlängelt an meinem Finger auf und ab. Bilder kommen in mir auf. Sehr, sehr schmutzige Bilder. Ab jetzt darf ich die auch haben, beziehungsweise ausleben.

Die Vorfreude übermannt mich. Ich erobere mir meinen Finger wieder zurück, schnappe die Torte und stelle sie neben mir auf das Bett. "Komm her!" Ralf setzt sich auf die Bettkannte. "Doch nicht so." Um ihm zu zeigen, wie ich das meinte, lege ich meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn auf mich. "Vielleicht habe ich doch einen Wunsch", wispere ich, als er ganz auf mir liegt.

"Den hast du nicht allein." Ralfs Lippen legen sich auf meine. Ich lasse mich fallen und begrüße seine Zunge, die meine anstupst, nachdem sie meinen Mund erobert hat. Sie schmeckt nach Sahne …

Eine Hand schlüpft unter mein Shirt, schiebt es ein Stückchen höher und streichelt auf meinem Bauch umher. Ich biege mich ihr entgegen, greife nach ihr und verschränke meine Finger mit Ralfs. Endlich keine Zurückhaltung mehr. Ich dirigiere seine Hand tiefer, bis zum Bund meiner Shorts und lasse sie wieder los. Heiße Wellen treffen meinen Körper, denn Ralf tut das, was ich mir schon immer so sehr gewünscht habe: Er berührt mich ohne das leiseste Zögern, streift an meiner Shorts entlang nach unten und kratzt über meine Leiste.

Ich keuche auf und öffne die Augen. Ralf sieht mich direkt an. "Jetzt?", fragt er mich. Ich nicke, unfähig etwas sagen zu können, weil ich plötzlich total nervös werde. Habe ich gleich wirklich Sex?! "Wie wäre es, wenn ich dir erstmal meine Blaskünste zeige?" Blitze schießen in meinen Unterleib und atemlos schaue ich Ralf dabei zu, wie er langsam tiefer rutscht, und erst vor meinem Schoß innehält.

Ich lasse meinen Kopf nach hinten kippen und schließe die Augen. Ich bin total aufgewühlt und aufgeregt! Doch das ist noch gar nichts, was in mir vorgeht, als mir meine Shorts von den Beinen gezogen wird, und ich entblößt vor ihm liege.

Mein Herz rast so unwahrscheinlich schnell, dass ich es sogar hören kann. Ich spüre Ralf unmittelbare Nähe, spüre seine Blicke wie sanfte Berührungen. Als sich dann plötzlich eine Hand auf meinen Unterbauch legt, zucke ich erschrocken zusammen. "Das wird dir gefallen, Björn. Genieße es." Daran zweifle ich keine Sekunde, doch um das hier zu genießen, müsste ich erstmal meinen Körper in den Griff bekommen. Oder wäre das genau das Falsche? Ich habe keine Ahnung. Im Moment weiß ich wirklich gar nichts mehr.
 

*
 

~Ralf~
 

Kein schlechtes Gewissen mehr. Keine Gewissensbisse. Endlich können wir das tun, was wir schon seit so langer Zeit tun wollen.

Nur langsam kommt mein Süßer wieder von seinem Höhentrip runter. Er atmet angestrengt und keucht dabei leise. Seine Haut glänzt feucht. Ein heißer Anblick. Ich erhebe mich von meinen Knien und lege mich neben ihn. Seitlich, den Kopf auf einen Arm gestützt, beobachte ich ihn gespannt. Noch immer hat er die Augen geschlossen. Zärtlich kraule ich über seinen Bauch, den eine Gänsehaut ziert. "Oh Mann!", keucht er und sieht mich mit halb geöffneten Augen an.

"Gut, was?"

Er lacht angestrengt. "So könnte mein Geburtstag ... immer anfangen!"

"Nur deinen Geburtstag? Tut mir leid, aber so lange werde ich das nächste Mal ganz sicher nicht mehr warten können."

Björn sieht mich an. Geschmeidig dreht er sich zu mir und schiebt sein oberstes Bein zwischen meine. "Die restlichen Tage über, machen wir eben andere Dinge ..."

"Du willst wirklich, dass ich dir nur einmal im Jahr einen Blow Job verpasse?"

"Nein!"

"Hast du doch eben gesagt", gluckse ich.

"Ach, so meinte ich das doch gar nicht."

"Da bin ich aber froh ..." Ich beuge mich zu ihm und fange seine Lippen ein. Im Nullkommanichts liegt er unter mir und fummelt an meinen Klamotten herum. "Noch nicht genug?"

"Niemals", keucht er. "Niemals wieder ..." Just in diesem Moment klingelt jemand an der Haustür. "Wer ist das?"

"Scheiße", knurre ich. "Tore und Domi." Björn macht große Augen. "Ich habe sie zum Frühstück eingeladen."

"Ach Menno!" Jetzt schmollt mein Süßer.

"Sorry. Ich wusste ja nicht, dass der Tag so beginnen würde." Das besänftigt Björn auch nicht. "Wir machen nachher weiter, ja?"

"Habe ich eine andere Wahl?" Ich fürchte, die haben wir beide nicht. Aber ab heute an können wir jede freie Minute damit verbringen, 'weiter zu machen'. Und das entschädigt unser abgebrochenes Stelldichein ungemein, finde ich.
 

******
 

Haaaappyyy Bööööööörthdäääyyyyy tooooooo youuuuuuuuuuu, Häääääppy Bööhöhöhöhöööörthdääääääyyy tohoho youuuuuuu!!! Ja, so hört es sich wirklich an, wenn ich singe :-S

Im nächsten Kapi geht es dann weiter mit Björns Geburtstag. Freut euch schon mal drauf, denn danach geht es rasant weiter. ^^
 

Also bis zum nächsten Mal

Kapitel 13 - Liebeskummer vs. Liebestrunkenheit

Kapitel 13 - Liebeskummer vs. Liebestrunkenheit
 

~Björn~

"Bitte komm doch mit!"

"Was will ich denn da?" Domi windet sich und macht einen nervösen Eindruck. "Da sind doch nur Schwule."

"Na das will ich doch hoffen", lacht Tore auf, der sich neben mich stellt und Domi zuzwinkert. "Sonst hätten wir da auch nichts zu suchen." Warum ist Tore noch mal hier? Um mich zu nerven und meinen besten Freund zu vergraulen?

"Bitte Domi. Ich bin da doch auch zum ersten Mal. Und heute ist mein Geburtstag. Komm doch mit." Ich ziehe einen Schmollmund und mache traurige Hundeaugen. Bei Ralf würde das garantiert funktionieren. "Büüüüde", setze ich winselnd nach. Fuck! Ich schwöre, wenn ich könnte, würde ich jetzt mit dem Schwanz wedeln. ... Wieder etwas, was nur bei Ralf ziehen würde, fürchte ich.

Doch meine Bemühungen ziehen bei meinem Kumpel nicht. Domi schüttelt den Kopf. "Lieber nicht Björn. Du wirst mit Ralf beschäftigt sein, nicht dass mir das was ausmacht! Ich freue mich für dich, ehrlich! Aber ich habe keine große Lust dort alleine herumzustehen und mich von Typen anbaggern zu lassen. Geht ihr mal alleine. Ich komme morgen Abend noch mal bei dir vorbei, ja?" Mein bester Freund lächelt mich flehend an. Das kann er so gut, dass ich einknicke. Was brächte es mir, wenn ich ihn dazu zwingen würde, mit uns mitzukommen? Wahrscheinlich hat er sowieso recht, und ich werde mich nur mit Ralf vergnügen. Sehr wahrscheinlich sogar.

"Okay", gebe ich schlussendlich nach. "Dann fahren wir nur zu dritt." Domi umarmt mich, flüstert mir ein Sorry zu, und verabschiedet sich von uns. Ich muss echt bald mal wieder nur was mit ihm unternehmen. Jetzt, wo mein Leben endlich ruhiger geworden ist, schulde ich es ihm sogar. Er war immer für mich da, hat mir dabei geholfen, mich vor meinen Adoptiveltern und der Polente zu verstecken und geht dann noch so super damit um, dass ich jetzt mit einem Kerl zusammen bin. Domi ist wirklich ein guter Freund.

"Da das jetzt geklärt ist, ziehe ich mir schnell was anderes an, dann können wir los", meint Ralf, drückt mir einen Kuss auf und rauscht ins Schlafzimmer.

Ob ich mich auch umziehen soll? "Du bist heiß genug", grinst Tore mich an. Kann der Gedanken lesen? "Nein, aber ich bin gut im Raten." Jetzt habe ich Angst!

Tore, der wieder am Tisch sitzt, schenkt sich ein Glas Cola nach. Ich setzte mich ihm gegenüber und hadere mit mir. Soll ich ihn fragen? Seit gestern Abend geistert mir diese Idee im Kopf herum. Einerseits will ich ihn dringend fragen, andererseits aber auch nicht. Ich kann ihn jetzt schon lachen hören, wenn ich ihm bitte, mit mir darüber zu reden. Außerdem wird es keine weitere Gelegenheit mehr dazu geben, bevor ... "Was hast du auf dem Herzen, Kleiner?" Shit! Hat der zu viel Astro-TV intus, oder wieso hat er plötzlich hellseherische Kräfte?

"Nichts Wichtiges", lüge ich, traue mich aber nicht, Tore dabei anzuschauen.

"Ach nein? Und warum knetest du deine Finger, als wolltest du sie dir selbst brechen?" Uh! Treffer versenkt.

Okay. Ich wollte ja sowieso mit ihm darüber reden. Also Augen zu und durch! "Kann ich dich was fragen, Tore?"

"Klar", antwortet er mit einem überheblichen Grinsen auf den Lippen. Der Typ bringt mich noch zur Weißglut!

Ich schlucke meinen Ärger runter und überlege, wie ich meine Frage formulieren könnte, ohne dass sie total kindisch klingt. Eigentlich hatte ich mir die richtigen Worte schon zurechtgelegt, nun wollen sie mir jedoch partout nicht einfallen. "Wie ist es?", stelle ich meine weiß-Gott nicht sehr einfallsreiche Frage.

"Wie ist was?" Tore runzelt die Stirn. Daran bin ich selbst schuld. Warum frage ich auch so blöd?

"Der Sex zwischen Männern", presse ich aus meine Kehle und wappne mich gegen den Sturm, den ich losgetreten habe.

"Geil." ... Uhm ... What?!

"Ähm ja ... Aber wie ..." 'stelle ich es im Bett am besten an, damit ich nicht wie ein völliger Idiot und Anfänger dastehe?' Ich kann es nicht laut aussprechen!

"Wie? Na ja. Einer ist aktiv, der andere passiv und dann ..."

"Wie es funktioniert, weiß ich", unterbreche ich ihn. "Ich will nur wissen, ob ..."

"Es weh tut." Ich nicke verschämt. Es gibt angenehmere Dinge, über die ich mit Tore plaudern könnte. Das Wetter, zum Beispiel. "Das kommt drauf an", sagt er nachdenklich.

"Auf was?"

"Auf einiges." Super Antwort! "Wenn dein Partner auf die gröbere Gangart steht, kann es schon mal unangenehm werden. Oder wenn er dich dich ohne Vorbereitung nimmt. Oder er ist einfach nur ein Arsch, der bloß auf sein eigenes Vergnügen aus ist." Ich schlucke hart. Das sind mir zu viele Oder und zu viele Horrorvorstellungen! "Falls du dir aber Sorgen machst, dass es dir mit Ralf nicht gefallen wird, dann machst du sie dir umsonst. Ralf ist gut im Bett. Das weiß ich aus Erfahrung." Tore zwinkert mir zu. Zu viel Information, mein Lieber. Darüber mag ich nichts hören.

"Es wird also nicht weh tun?"

Er zuckt mit den Schultern. "Ralf passt schon auf. Da bin ich mir sicher." Daran zweifle ich kein Stück.

"Also fühlt ES" ich mache eindeutige Bewegungen mit meinen Fingern "sich eigentlich gut an?"

Tore lehnt sich auf dem Stuhl zurück und leckt sich über die Lippen. "Und wie." Aha.

"Aber nur, wenn es nicht weh tut." Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie etwas, das einem normal Schmerzen bereitet, sich irgendwie gut anfühlen kann.

"Anfangs zieht es ein bisschen, und es ist ungewohnt. Logisch. Aber du wirst sehen, oder besser gesagt, du wirst fühlen, dass es Stellen an und in dir gibt, die dich Sterne sehen lassen werden." Hn ... Sterne? "Hey Kopf hoch. Ralf ist kein Arsch. Er weiß, was er tut."

"Und genau da liegt das eigentliche Problem", sage ich leise, mehr zu mir selbst, doch natürlich hat Tore das mitbekommen.

"Aha! Daher weht der Wind? Du denkst, weil du keine Erfahrung hast, wird es Ralf nicht gefallen?", fragt er mich lachend. So ein blöder Arsch! "Mach dir da mal keine Gedanken. Ralf bekommt schon was er will." Hä? "Und zwar dich, du Dussel." Hä?!

"Ich wäre dann soweit. Können wir?" Ralf steht im Türrahmen. Heilige Scheiße! Hat er etwas mitbekommen?!

Tore steht auf und läuft an Ralf vorbei. "Dann mal los ihr zwei Hübschen!", ruft er und Ralf tapst ihm hinterher. Ich folge den beiden unauffällig und beobachte Ralf. Er macht nicht den Eindruck, als habe er was von unserer Unterhaltung mitbekommen. Das beruhigt mich ungemein. Nicht auszudenken, hätte er was davon gehört. Ich würde mich in Grund und Boden schämen!
 

Wir fahren heute Abend mit Tores Flitzer. Unser Zielort ist das Industriegebiet. Dort soll ein riesiger Club sein. Einer, in dem nur Kerle tanzen, wenn ihr versteht, was ich meine, oder wie Domi vorhin ängstlich festgestellt hat: lauter schwule Kerle.

Ich bin aufgeregt. Ich war noch nie in so einem Club, geschweige denn, in einer 'normalen' Diskothek. Und das, was Tore mir heute beim Essen alles über diesen Club erzählt hat zu dem wir nun unterwegs sind, hilft mir auch nicht dabei, mich zu entspannen. Dort muss es ganz schön abgehen ... "Hast du deinen Ausweis dabei?", fragt Tore und schaut mich im Rückspiegel kurz an.

"Ja."

"Gut. Die kontrollieren immer ganz genau." Ich werde noch nervöser.

"Alles in Ordnung?" Ralf, der neben mir sitzt, ergreift meine Hand. Unsere Finger verschränken sich ineinander und ich nicke schwach. Er lacht leise. So ein Idiot! Bestimmt weiß er, was in mir vorgeht. "Ich war auch aufgeregt, als ich das erste Mal in einem Schwulenclub war", berichtet er mir auch sogleich. "Aber keine Sorge, ich weiche dir keinen Millimeter von der Seite." Ralf grinst mich an. Und ich? Ich seufze und lehne mich an seine Schulter. Ich bin zu nervös, um etwas darauf zu erwidern.

Sanft reibt Ralfs Daumen auf meinem Handrücken hin und her. Es mag bescheuert klingen, aber diese kleine Geste hilft, um mich langsam zu beruhigen. Was soll auch groß passieren? Ich bin erwachsen, habe Ralf (und Tore) an meiner Seite, und bin endlich meine Stiefeltern los.

Und plötzlich kann ich es kaum noch erwarten, endlich in diesen Club zu kommen. Ich will feiern! Meine Unabhängigkeit, dass Ralf und ich zusammen sind, und dass wir heute Abend das erste Mal ... Na ihr wisst schon. Das erste Mal eben.

Tja, und prompt bin ich wieder nervös. Was, wenn ich es vergeige? Was, wenn es für Ralf nicht schön wird? Oder wenn ich zu früh komme und ihm damit alles vermassle?! Oh Mann! Ich muss aufhören, mir darüber den Kopf zu zerbrechen!

Hoffentlich haben die genug Alk dort im Club. Ich muss locker werden.
 

***
 

~Ralf~

"Zwei Bier! Eins alkoholfrei!" Der Barkeeper nickt mir zu, was ich so deute, dass er meine Bestellung trotz der lauten Musik verstanden hat.

"Bier? Ich will was anderes!" Björn zieht eine beleidigte Miene.

"Nachher", beschwichtige ich ihn, wobei ich jedoch nicht vorhabe, ihn sich wahllos volllaufen zu lassen. Natürlich weiß ich, was er mit dem Alk bezwecken möchte. Vorhin am Eingang war er so aufgeregt gewesen, dass er kaum seinen Ausweis aus dem Geldbeutel ziehen konnte. Aber in meiner Gegenwart wird sich nicht besoffen. Da kann er noch so einen süßen Schmollmund ziehen.

Ich reiche ihm seine Bierflasche und ziehe ihn von der Theke weg. Am Rand suche ich uns ein sicheres Plätzchen, wo Björn erst mal verschnaufen kann. Tore ist schon kurz nach Betreten des Clubs auf der Tanzfläche verschwunden. Vorhin, nach dem Aussteigen, hat er mir seinen Autoschlüssel in die Hand gedrückt und gemeint, wenn wir nachher nach Hause fahren, wird er zu besoffen zum Fahren sein. Nicht nur mein Kleiner möchte sich also betrinken, aus einen anderen Grund zwar, doch das Endergebnis läuft auf das Selbe hinaus: Gefühlsunterdrückung.

Aber im Gegensatz zu Björn lasse ich Tore seinen Willen. Was soll ich auch schon großartig tun? Mich mit ihm zu zanken, weil er sich ein bisschen von seinem Herzschmerz ablenken möchte, bringt ihm seinen Pfarrer auch nicht zurück. Ich weiß das. Diese Phasen habe ich auch schon mehr als einmal durchmachen müssen, wie der ein oder andere vielleicht noch weiß. Also bleibe ich nüchtern, gönne Tore seine Drinks und passe auf, dass Björn nicht zu viel von diesen hat.

"Wollen wir auch tanzen?", frage ich ihn.

Björn schaut hinüber zur Tanzfläche und nickt schließlich. "Lass mich aber nicht los!"

"Niemals!", schmunzle ich, stelle die Bierflaschen einfach neben hin und ergreife seine Hand. Dann mal ab ins Gestöber.

Es dauert nicht lange, und wir stehen mitten zwischen den Tanzenden. Mein Kleiner sieht noch nervöser aus, als sowieso schon und klammert sich an mich, als drohe er zu ertrinken, sobald er mich loslässt. Ich kann es ihm nicht verübeln. Manche starren ihn an, als wären sie hungrige Haie. "Locker bleiben!", rufe ich ihm zu und lege meine freie Hand auf seinen Hintern. Björn zuckt zusammen, drückt sich dann aber noch dichter an mich. Sein Blick schwirrt jedoch weiterhin durch den vollen Club. Es wird Zeit, dass er sich auf uns konzentriert, und nicht auf die anderen Kerle.

"Björn?"

"Hm?" Er schaut mich noch immer nicht an.

"Bjöhörn?" Noch immer keine nennenswerte Reaktion von seiner Seite aus. Dann eben anders.

Ich lasse seine Hand los und zwinge ihn mich anzusehen, indem ich sein Kinn festhalte. Endlich sieht er mir in die Augen. Und als er das tut, verschließe ich seine Lippen.

Die Aktion wirkt. Björn, der zuerst leicht überrascht von meiner Attacke war, seufzt leise, und wird zusehends lockerer. Die anderen Kerle kümmern ihn nicht mehr. Zu meiner Freude baggert ihn auch niemand an, was wohl an unseren verschlungenen Armen, und unseren sehr miteinander beschäftigten Mündern liegt.

"Happy Birthday", wispere ich gegen seine geöffneten Lippen und reibe meinen Unterleib leicht gegen seinen. "Hoffentlich gefällt dir dein Geschenk, das du nachher auspacken darfst." Ich denke, die Beule, die ich ihn spüren lasse, dürfte Björn verdeutlichen, welches Geschenk ich im Genaueren meine. Wie es scheint tut er das auch. Er läuft rot an und dahin ist seine mühsam beschworene Lockerheit. Wetten, ich bekomme das auch ein zweites Mal wieder hin?
 

~Tore~

"Beneidenswert." Seufzend schaue ich Ralf und Björn zu, die sich auf der Tanzfläche verliebt aneinander schmiegen und sich dabei halb auffressen. "Ich will das auch."

"Abwarten Schätzchen. Du findest auch noch den Richtigen." Dass ich den schon längst gefunden habe, binde ich dem Barkeeper mal nicht auf die Nase. Was mischt der sich da eigentlich auch ein?

"Machst du mir noch einen?" Ich wedle mit meinem leeren Glas. Wenn er schon vor mir herumlungert, kann er ja wohl auch seine Arbeit machen, und mir nachschenken.

"Klar, Schätzchen." Warum der Typ mich immer Schätzchen nennt, möchte ich gern mal wissen. Wir sehen uns heute zum ersten Mal. Muss so ein Tick von ihm sein. Wahrscheinlich nennt er jeden Schätzchen, in der Hoffnung auf mehr Trinkgeld oder einer anderen Vergütung aus Naturalien.

Wie dem auch sei, der Barkeeper tut auf jeden Fall seinen Job und schiebt mir anstandslos ein gefülltes Glas hin. "Danke." Brennend rinnt die bernsteinfarbene Flüssigkeit meine Kehle hinab, ehe ich mich wieder zur Tanzfläche drehe. "Och darf das den wahr sein? Pärchenfotos? Echt jetzt?" Nicht zu glauben, aber Ralf und der Kleine stehen in enger Umarmung zwischen all den Party machenden Typen und schießen Selfies. Deprimierend. Wirklich deprimierend. "Noch einen ... oder nein. Einen Doppelten. Nein! Zwei Doppelte!" Wenn schon, denn schon. So kann ich wenigsten meine trübseligen Gedanken und mein trauriges Herz ertragen. Halbwegs. Björn und Ralf zu sehen, macht es sogar noch schlimmer. Natürlich freue ich mich mit ihnen. Aber es ist furchtbar, wenn man gern das Selbe hätte, dieses Glück einem jedoch verwehrt bleibt. Es ist zum Kotzen! Hoch die Gläser. "Noch mal vollmachen."

"Hey Tore, alter Haudegen! Was denn mit dir los?", donnert eine brummende Bassstimme hinter mir. Eine Hand patscht auf meinen Rücken und neben mir erscheint Alois, ein langjähriger Bekannter meinerseits.

"Hi Loisl", begrüße ich ihn. "Alles was nicht festgebunden ist." Lalle ich? Glaube schon.

Er lacht und lehnt sich, genau wie ich, mit den Unterarmen auf den Tresen.

"Der Wievielte ist das schon?" Ich zucke mit den Schultern und drehe das halbleere Glas im Kreis herum. "Kummer?" Ich nicke. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Seit ich Oskar kennengelernt habe, war ich nicht mehr so viel in der Szene unterwegs und hatte auch wenig Kontakt zu meinen Freunden. Keinen Antrieb. Es gibt Wichtigeres. Und was reizt einen schon an diesem ganzen Szenegedöhnse, wenn man den Einen gefunden hat? Gar nichts, sage ich euch.

Alois mustert mich, winkt einen der Barkeeper heran und bestellt sich ein Bier. Sag bloß, er will sich jetzt neben mir häuslich einrichten?! "Geht es um einen Kerl?" Ich lache traurig auf. "Verstehe", murmelt Alois ganz entgegen seiner sonstigen Art. "Willst du reden?"

"Nicht wirklich. Es würde nichts bringen." Darüber geredet habe ich schon viel zu viel. Es reicht, wenn Ralf davon weiß. Meine Freunde müssen davon nichts mitbekommen. Zumal sie Oskar kennen. Vorstadt eben. Nicht auszudenken, wenn das die Runde machen würde!

"Aber saufen bringt was?" Alois zeigt auf die mittlerweile wieder leeren Gläser vor mir.

"Halbwegs", antworte ich und seufze. "Ich komm schon damit klar ... Irgendwann." Lüge!, schallt es in meinem Kopf. Damit werde ich niemals klarkommen. Diese ganze Kirchen-Sache ist einfach nur unfair! "Bring mir gleich wieder Nachschub!" Und der Barkeeper soll sich gefälligst beeilen!
 

***
 

~Ralf~

Sanft schmuse ich über Björns Lippen. Sein Körper presst sich mir entgegen, seine Hände haben sich schon vor geraumer Zeit unter mein Oberteil geschoben, und wandern in langsamen Kreisen auf meinem Rücken umher. Ich dagegen massiere seinen festen Hintern durch die Jeans hindurch und genieße es, wie er deswegen immer wieder leise keucht. Man kann dies zwar nicht hören, aber dafür fühle ich seinen Atem auf meiner Haut. Er verbrennt mich fast habe ich das Gefühl. Aber auf eine angenehm erregende Weise.

Björn hat längst seine Nervosität abgelegt. Ich glaube sogar, dass er mit mir anzugeben versucht. Immer, wenn doch mal jemand den Versuch startet, sich an uns heranzupirschen, legt Björn besitzergreifend seine Arme fester um mich, und schneidet mir die Luftzufuhr ab, indem er seine Zunge in meinen Mund schiebt. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, und es ehrt mich sogar, aber ich denke eher, dass er der Grund für die ständigen Baggerversuche ist. Demnach müsste ich eigentlich mit ihm angeben. Aber irgendwie tue ich das ja, so wie ich ihn an mich drücke und seinen festen Hintern in Beschlag nehme.

Was mich daran allerdings am meisten freut ist, dass Björn nicht das geringste Interesse an den anderen Typen hier zu haben scheint. Ja, haltet mich für bekloppt, aber die Angst, er könnte irgendwann denken, wegen mit etwas verpasst zu haben, sprich sich in fremden Betten auszutoben, hallt immer noch in mir nach. "Ralf?"

"Ja?" Fragend schaue ich hinab in Björns Gesicht. Seine Wangen sind ganz getötet.

"Ist was?" Ich verneine und frage, wie er darauf kommt. "Du hast eben so abwesend gewirkt."

"Hab nur nachgedacht", sage ich, was ja auch stimmt.

"Über Tore?" Ich nicke einfach. Über ihn mache ich mir natürlich auch noch Gedanken. Wie kann ich ihm bloß helfen, nachdem er mir immer mit Rat und Tat zur Seite stand? "Der scheint sich hier gut zu unterhalten", weckt mich Björn erneut aus meinen Überlegungen.

"So?" Björn deutet hinter mich und dreht uns ein Stück, sodass ich ebenfalls sehen kann, was er entdeckt hat. Und der Anblick ist nicht von schlechten Eltern. Tores Zunge hängt verflucht tief in dem Hals eines gutaussehenden Kerls.

"Ich dachte, Tore wäre verliebt? Warum knutscht er dann mit einem anderen herum?"

'Ablenkung', schießt mir in den Sinn. Laut sage ich: "Bestimmt ist er hacke dicht." In beidem liegt sehr wahrscheinlich die Wahrheit. "Komm." Ich schiebe Björn ein Stück von mir und nehme seine Hand in meine. Er zögert keine Sekunde, sondern folgt mir, bis wir vor Tore und seinem zweibeinigen Dauerlutscher stehen. "Tore?" Ein bisschen unangenehm ist es mir schon, einfach dazwischen zu gehen. Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mein lieber Tore keinen mehr will, außer Oskar, und damit er sich morgen nicht mies fühlt, wenn er neben dem Dauerlutscher aufwacht, opfere ich mich, und verdränge das Unwohlsein.

"Raaaaliiii!" Rali? Bestimmt meint er Ralfi. "Willsu mitmahen?"

Um Gottes Willen "Nein!"

"Ochhh ... Bjöön gann au mimahen." Im Augenwinkel sehe ich meinen Süßen heftig mit dem Kopf schütteln. "Menno!" Tore verknotet seine Arme im Nacken seines Dauerlutschers. "Ich wollt eu doch Osgar vorschtelln." Oskar? "Mein Schaasi." Er strahlt sein Gegenüber breit an. Das soll Oskar sein?

Björn stutzt genauso wie ich. "Bist du Oskar?", frage ich Tores Tanzpartner.

"Nein. Aber er nennt mich den ganzen Abend schon so." Innerlich verdrehe ich die Augen. Tore hat eindeutig zu viel gesoffen!

"Okay Tore", richte ich mich wieder an meinen Nachbarn. "Wir bringen dich besser nach Hause."

"Nein! Ich magg bei Osgar bleibn!"

"Das ist nicht dein Oskar."

"Doch! Guck doch!" Jetzt klammert er sich noch fester an den Kerl, den er für Oskar hält. Dann eben anders.

"Tschuldige Mann, aber Tore scheint dich zu verwechseln. Wir bringen ihn wieder nach Hause."

"Ihm scheint es aber bei mir zu gefallen", erwidert dieser rotzfrech und leckt demonstrativ über Tores Ohrläppchen. Der kichert wie ein Schulmädchen und schiebt seine Hände in die Hose des dreisten Kerls.

"Was machen wir denn jetzt?" Hilfesuchend schaue ich Björn an. Vielleicht hat der ja eine Idee.

"Lass mich mal machen", sagt er überzeugt und tritt an mir vorbei. Mir quellen fast die Augen über als ich sehe, wie er sich an den Dauerlutscher-Typ heranmacht und ihn süffisant angrinst. Als er ihm etwas ins Ohr flüstert, was ich nicht verstehen kann, knallt mir fast eine Sicherung raus. Doch egal was mein Süßer diesem Arsch ins Ohr gewispert hat, es wirkt und er lässt auf der Stelle Tore los.

"Hee!" Tore versteht die Welt nicht mehr. "Osgar!"

"Das ist nicht Oskar", erkläre ich meinem Kumpel erneut und ziehe ihn zu mir.

"Doch! ... Mein Osgar!" Tränchen glitzern in seinen Augenwinkeln. Oh je. Besoffen und weinerlich. Das wird eine lange Heimfahrt.

"Würde Oskar mit einem anderen außer dir rummachen?", frage ich ihn und mustere haargenau das Treiben Björns und diesem Schmierlappen.

"Nein."

"Na also. Das kann gar nicht Oskar sein." Langsam versteht Tore, dass das vor ihm nicht sein geliebter Pfarrer ist. Jetzt bin ich derjenige, der von Tore umklammert wird. Er schluchzt so wehleidig, dass ich gar nicht anders kann, als ihm tröstend den Rücken zu tätscheln. "Björn? Wir fahren."

"Okidoki", trällert mein Kleiner und entwindet sich einem sehr verärgerten Dauerlutscher. "Man sieht sich ... nicht." Der war fies, mein Schatz. Kichernd ergreift Björn meine Hand und schmiegt sich an mich, während ich mit dem anderen Arm Tore mit mir schleife.
 

Am Auto bugsieren wir ihn auf die Rückbank und schnallen ihn gut an. Kaum sitzt er, kippt sein Kopf nach vorn und ist eingeschlafen. Doch kein Geheule und Gejammer auf der Heimfahrt. Dennoch: "Mann oh Mann. Wir hätten ein Auge auf ihn halten sollen."

"Ja", murmelt Björn und beugt sich nach vorn, um in Tores Gesicht blicken zu können. "Armer Kerl." Vorsichtig wischt er ihm eine Haarsträhne hinter die Ohren. "Langsam fange ich an diesen Arsch von Pfarrer zu hassen."

"Sag so etwas nicht", bitte ich ihn.

"Und warum nicht? Haut einfach ab, weil er keine Eier in der Hose hat!" Er schließt die Autotür und geht um den Wagen herum.

Seufzend steige ich ein. Björn setzt sich auf den Beifahrersitz, weswegen ich das Gespräch wieder aufnehme. "Für ihn ist das nicht so leicht. Jedenfalls stelle ich es mir so vor."

"Pfff! Ausreden!"

Björn weiß anscheinend nicht, was es für einen Mann in diesem Beruf bedeutet, sich zu verlieben. Gerade, wenn man sich in jemanden des gleichen Geschlechts verliebt. "Oskar müsste alles aufgeben", fahre ich fort. "Er müsste bei Null anfangen, falls er sich dazu entschließt, bei Tore zu sein."

Björn sieht mich an. "Ehrlich? Ganz bei Null? Wie ein Schulabgänger, so mit Ausbildung und so?" Seine Ausdrucksweise lässt mich schmunzeln.

"Ja. So mit Ausbildung und so."

"Krass." Ja. Voll krass ...

Den Rest der Fahrt über bleibt es still im Auto. Jeder hängt seinen Gedanken nach und Tore schläft seinen Rausch aus. Zuhause angekommen, hilft mir Björn dabei, ihn in sein Haus zu tragen. Erleichtert atme ich aus, als wir ihn in seinem Bett haben. "Und jetzt?" Björn blickt auf den bewusstlosen Tore nieder. "Sollen wir ihn ausziehen? Er kann ja schlecht in seinen Klamotten schlafen."

"Ich mach das schon. Geh du ruhig schon mal rüber." Ich drücke Björn meine Haustürschlüssel in die Hand. Seinen hat er bestimmt wieder vergessen.

"Wie du meinst. Wenn du aber in fünfzehn Minuten nicht zurück bist, komme ich und schaue nach, was ihr hier veranstaltet." Ich lege den Kopf schief und hebe eine Augenbraue. "Was denn?", fragt Björn unschuldig. "Ich wollte es nur gesagt haben." Gemächlich verlässt er Tores Wohnung.

Er glaubt doch nicht wirklich, dass ich etwas mit Tore anstelle? 'Björn ist noch immer eifersüchtig', schmunzle ich in mich hinein. 'Goldig.'

Ich beeile mich (nicht, dass mein Schatz sich unnötige Sorgen macht), ziehe Tore bis auf die Unterhose aus und packe ihn unter die Decke. Dabei wird er plötzlich wach und guckt mich mit kugelrunden Augen an. "Wieder unter den Lebenden?", lache ich ihn an.

"Ralf?" Er versucht sich aufzusetzen, doch ich drücke ihn zurück ins Bett.

"Schlaf lieber noch ein bisschen. Es ist spät." Tore schaut sich verwirrt um. "Du bist zuhause in deinem Bett."

"Ach ja ..." Immer noch ganz schön benebelt, der Gute.

"Schalf gut. Ich geh dann mal. Björn wartet auf mich." Ich kann es gar nicht erwarten, endlich wieder bei ihm zu sein. Sein Geburtstag ist noch nicht vorbei. ... Noch lange nicht.

"Sei lieb zu Björn", murmelt Tore.

"Klar bin ich das." Was meint er denn damit?

"Gut ... Nicht weh tun ..." Und wieder ist er weggepennt. Ich grinse. Verstehe einer sein trunkenes Geschwätzt.

Ich mache mich auf den Heimweg, doch zuerst schreibe ich Tore noch schnell eine Nachricht, dass er sich morgen bei mir melden soll. Ihm noch eine Packung Aspirin dazuzulegen, um ihn damit zu foppen, verkneife ich mir. Der Arme hat schon genug gelitten.
 

******
 

Na? Gedacht, in diesem Kapitel geht es schon ans Eingemachte bei Ralf und Björn? Falsch gedacht. Das gibt’s erst im nächsten. Ihr müsst also noch ein bisschen warten. ;-)

Kapitel 14 - Schmelzender Schnee

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 14 - Schmelzender Schnee (Ohne Adult)

Tadadaaaa! Das finale Kapitel von Ralf und Björn.

Das heißt aber nicht, dass hier schon Feierabend ist. Nein, nein. Es gibt noch einiges zu erzählen. Vielleicht könnt ihr euch schon denken, um wen es dabei geht. Am Ende werdet ihr es auf jeden Fall erkennen. ;-)

Ich wünsche euch ein schönes, langes Pfingstwochenende. Man liest sich ^^

Eure Fara
 


 

[U[Kapitel 14 - Schmelzender Schnee (Ohne Adult)
 

~Björn~

Unruhig tigere ich im Schlafzimmer umher. Nein, ich mache mir keine Sorgen, dass Ralf irgendwelche Dummheiten anstellt. Dazu ist Tore viel zu besoffen. Als ob da was geben würde! Außerdem vertraue ich Ralf. Nein, das ist es nicht, was mich nervös herumrennen lässt. Vielmehr beschäftigt mich eine ganz andere Sache.

Zum wiederholten Male knipse ich die Deckenbeleuchtung im Schlafzimmer aus und checke die Lichtverhältnisse. Nur die kleine Nachttischlampe auf Ralfs Betthälfte brennt. Hell genug ist das allemal. Vielleicht zu hell? 'Das kann ich nicht!' Das große Licht geht wieder an. 'Ralf soll den ersten Schritt machen! Ich pack das nicht ... Oh Fuck!'

Mit ausholenden Schritten laufe ich zum Bett und setzt mich drauf. Nachttischlampe wieder aus. Vielleicht gehe ich lieber ins Wohnzimmer und tue so, als wäre heute ein Tag wie jeder andere. Der weitere Verlauf des Abends wird schon früh genug zeigen, wohin die Reise führt.

Ich stehe wieder auf, Deckenbeleuchtung aus, ins Wohnzimmer, Licht an und ab auf's Sofa. Dort halte ich es jedoch auch nicht lange aus. "Ach Mensch! Das ist zum Wahnsinnig werden! Ich stelle mich an, wie eine verkappte Jungfrau!" 'Ich bin eine verkappte Jungfrau', erinnert mich mein Hirn. Der Gedanke erschreckt mich. Aber ich will es doch! Seit Tagen denke ich an nichts anderes mehr. Ich habe so sehr auf diesen Tag hin gefiebert, dass ich es kaum noch ausgehalten habe. Und jetzt würde ich am liebsten den Schwanz einziehen und wegrennen.

Das, was heute Morgen passiert ist, hat mir bloß gezeigt, dass ich doch nicht so cool bin, wie ich gerne wäre. Es hat mir natürlich gefallen, was Ralf mit mir angestellt hat, aber ich kam mir so unfähig vor. Wie kann Ralf dabei denn überhaupt Spaß haben? 'Dann muss ich eben dafür sorgen, dass er welchen hat!', mahne ich mich selbst. Und es hilft.

Entschlossen stehe ich wieder auf, eile aus dem Wohnzimmer, bremse scharf ab, flitze zurück (Licht vergessen auszuschalten), verlasse das Wohnzimmer wieder, schlüpfe ins Schlafzimmer, Deckenlicht an, dann zum Bett, Nachttischlampe an, zurück zur Tür, Deckenbeleuchtung aus und dann wieder zum Bett zurück. Ich bin ganz aus der Puste, als ich mir mein Shirt über den Kopf ziehe und es einfach auf den Boden schmeiße. Die Hose folgt, ebenso die Boxer.

Nackt und unsicher stehe ich vor dem Bett. Ich verbanne alle erneut aufkeimenden Stimmen in mir, die mir hiervon abraten, und mir einflüstern wollen, dass ich am besten alles Ralf überlasse. Zum Teufel mit diesen Stimmen!

Ich klettere auf das Bett und probiere mich in eine halbwegs gute Pose zu legen. Aber wie ich es auch versuche, mich drehe und wende, ich komme mir albern dabei vor. Nicht zuletzt , weil mein kleiner Freund da unten herumhängt, als ginge ihn das alles nichts an. Wäre es nicht sinnvoller, wenn er wenigstens halbwegs Interesse zeigen würde? Ich fahre mir übers Gesicht. Soll ich es doch abblasen und auf Ralf warten? "Nein!" Jetzt bin ich schon so weit gekommen, da bekomme ich dieses 'kleine' Problem auch noch hin!

Ich lege mich der Länge nach nieder und starre gegen die Decke, während ich mich selbst anfasse und "Scheiße!" Meine Hand ist schweinekalt! So wird das nix. Also reibe ich meine Hände aneinander und puste sie an. Nach einer Weile lege ich sie testend auf meinen Bauch. Hm ... nicht berauschend, aber halbwegs warm.

Noch einmal gemütlich in die Decke gekuschelt, ziehe ich die Beine an und fange an, mich selbst zu betatschen. Leider klappt es nicht so, wie ich es gerne hätte. Klar habe ich mir des öfteren einen runtergeholt, aber da war ich immer schon spitz, bevor ich zur Tat geschritten bin. Was nun? Ralf ist bestimmt gleich hier, weshalb ich nicht mehr viel Zeit habe, um eine spontane Erektion zu hoffen. Da hilft wohl nur noch Kopfkino. Und welcher Hauptdarsteller wäre dafür besser geeignet, als mein großer, gut gebauter Ralf? Ebend! Niemand anderer sonst.

Die Zimmerdecke verschwindet, stattdessen sehe ich dunkelrot. Ich versuche mir Ralf vorzustellen, und es gelingt mir auf Anhieb. Meine Gedanken wandern zu heute Morgen zurück. Ich rufe mir in Erinnerung, wie Ralfs Lippen sich angefühlt haben, wie seine Hände mich berührt haben und wie geil mich das gemacht hat. Es funktioniert. In meinem Unterleib fängt es mächtig an zu kribbeln.

Was Ralf heute Abend mit mir wohl macht? Wird er mir zuerst wieder einen blasen, oder wird er mich gleich ... Ich reiße die Augen auf. Hoffentlich nicht! Ich meine, da gehört doch ein wenig Vorbereitung dazu, oder? Sicher wird er nicht einfach über mich herfallen. So etwas macht Ralf nicht. Ganz bestimmt nicht.

Meine Augen fallen wieder zu und ich entspanne mich. Wenn er mir schon keinen bläst, könnte ich das ja auch machen. Der Gedanke gefällt mir und bringt mich zum Keuchen, als ich mir vorzustellen versuche, wie das wohl sein wird. Allein die Vorstellung beschert mir eine Gänsehaut.

Ein gedehntes Stöhnen entwindet sich meiner Kehle. Die Vorstellung heizt mir richtig ein. Eigentlich könnte ich jetzt aufhören, aber die Bilder in meinem Kopf nehmen mich so gefangen, dass ich mich immer weiter und schneller massiere. Ich darf nicht kommen! Ich will doch für Ralf …

"Björn?" Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ist er schon da? "Was machst du da?" Ich zucke mit den Augen Richtung Schlafzimmertür und da steht er. "Das ist aber gemein von dir. Ich wollte doch mitmachen." Schlagartig werden meine Wangen heiß.

"Du bist schon da?" Ich nehme die Hand aus meinen Schoß und versuche mich zuzudecken, ohne Erfolg, da ich ja auf der Decke drauf liege. Notgedrungen schließe ich meine Beine, verberge damit meine Körpermitte, obwohl ich doch gerade das wollte. Ralf zeigen, dass ich ihn will. Hier und jetzt. Und dass ich es kaum noch erwarten kann. Aber woher sollte ich wissen, dass das nicht halb so toll ist, wie ich es mir zuvor ausgemalt hatte, sondern eher peinlich?

Ralf grinst sich derweil noch immer einen ab. "Soll ich wieder gehen?", fragt er mich amüsiert.

"Nein!", rufe ich ein wenig zu panisch als beabsichtigt. Er hat doch nicht ernsthaft vor, mich jetzt alleine zu lassen? Vor allen Dingen SO.

"Okay", meint er schmunzelnd und kommt langsam auf mich zu. "Wenn ich bleiben soll, dann sag mir doch, was ich hier und jetzt für dich tun kann." Mein Gesicht entflammt erneut. Ich traue mich gar nicht ihn anzuschauen, und erst recht nichts zu sagen. "Nun Björn?"

Ich räuspere mich und ziehe die Beine noch ein Stückchen dichter an mich heran. "Muss ich dir das wirklich sagen?", wispere ich und schlucke hart.

"Das wäre schön", sagt er ebenso leise wie ich zuvor.

Also schön. Es ist ja nicht so, als hätte ich es ihm noch niemals gesagt.

Ich lecke mir nervös über die Lippen und schaue ihn an. Wie locker er dasteht. So sicher und selbstbewusst. Ich weiß nicht warum, aber diese Sicherheit überträgt sich plötzlich auf mich.

Ich lege mich zurück auf's Bett, strecke die Beine aus und klopfe leicht neben mir auf die Matratze. "Komm endlich zu mir, Ralf." Für einen Bruchteil einer Sekunde legt sich ein Schleier über Ralfs Augen, dann geht ein Ruck durch seinen Körper. Er überwindet die letzte Distanz zwischen uns und legt sich neben mich. Ich drehe mich seitlich zu ihm und schlinge einen Arm um seinen Nacken, ehe ich mich ihm entgegenstrecke und seine Lippen einfange. Und auf einmal fühlt sich alles ganz einfach an …
 

~Ralf~

Dieser Anblick bleibt bestimmt ewig in meinen Kopf eingebrannt. Björn mit geschlossenen Augen, sein Gesichtsausdruck spiegelt völlige Erregung, während er sich selbst berührt. Und dann sein knallrotes Gesicht, als er mich bemerkt hat. Mein kleiner, süßer Hitzkopf. Ich liebe dich von Tag zu Tag mehr.

Von Zurückhaltung ist jetzt jedoch keine Spur mehr zu spüren. Björn drängelt sich an mich, zieht mich gleichzeitig mit nach unten und bietet mir seine Zunge zum Spielen an. Als könnte ich da nein sagen! Frech stupst sie meine Zunge an und lockt mich in ihr Reich. Seine geschickten Finger schieben sich unterdessen unter mein Oberteil, schieben es an meinem Oberkörper hinauf und stoppen, als es nicht mehr weitergeht. Kurzerhand übernehme ich den Rest und reiße mir das störende Kleidungsstück über den Kopf. Sofort treffen sich unsere Münder wieder und machen dort weiter, wo sie unterbrochen worden sind.

Es dauert nicht lange, da macht mein Kleiner damit weiter, mich aus meinen Klamotten zu pellen. Diesmal ist es meine Hose, die er aufknöpft und über meinen Hintern schiebt. Ich hebe mein Becken an und runter ist sie. Ein beherzter Kick, und sie landet auf dem Boden neben dem Bett.

Trotz des brennenden Verlangen in mir, will ich Björn genügend Zeit geben und keinesfalls etwas überstürzen. Deswegen bleibe ich halb auf ihm liegen, streichle über jeden Zentimeter Haut, den ich erreichen kann und verteile saugende Küsse auf seinem Gesicht, auf seinem Hals und besonders hinter seinen Ohren, wo die Haut meines Lieblings so wundervoll zart ist. Björn kichert leise, denn er ist an dieser Stelle leicht kitzelig. Das gefällt mir und dieses Wissen werde ich schamlos ausnutzen ... Später. Jetzt widme ich mich erst mal wieder seinem Hals, sauge an der bereits feuchten Haut und wandere hinab zwischen Björns Schlüsselbeine, an die Vertiefung genau unterhalb seines Halses. Ich liebe diese Stelle. Und als ob mir das nicht schon genug Freude bereiten würde, bekomme ich auf meiner Kopfhaut auch noch eine Gänsehaut, weil sich Björns Finger in mein Haar graben, nicht fest, aber fest genug, dass es mich leise zum Schnurren bringt.

Küssend bahne ich mir einen Weg nach unten, wobei ich eher trödle als hetze. Ich koste jede Stelle an Björns Oberkörper, warte jede Reaktion von ihm ab, und lasse sie mir, im wahrsten Sinne des Wortes, auf der Zunge zergehen.

Björn wir zunehmend unruhiger, je tiefer ich komme, und als meine Zunge in seinem Bauchnabel verschwindet, stöhnt er wimmernd auf. Neugierig blicke ich zu ihm auf und just in diesem Moment öffnet er ebenfalls seine Augen. Dunkel sind sie. Die Lust in ihnen feuert meine zusätzlich an. Kurz überlege ich, ihm zu geben, was er sich ersehnt, verwerfe den Gedanken allerdings gleich wieder. Je erregter mein Kleiner ist, desto besser. Schließlich mag ich ihm ungern Schmerzen bereiten.

Ich setzte mich auf und übergehe ganz bewusst seinen fassungslosen und flehenden Blick, den er mir zuwirft. "Es geht gleich weiter", verspreche ich ihm und öffne das kleine Kästchen neben meiner Nachttischlampe. Dort finde ich, was ich brauche. Unter Björns wissbegierigen Blick öffne ich die Tube und gebe etwas davon auf meine Finger. Man merkt ihm sofort an, dass er schon wieder nervös wird. "Dreh dich auf den Bauch." Ich werde gleich dafür sorgen, dass er sich schnellstmöglich wieder entspannt.

Als er mit dem Rücken mir zugewandt daliegt, schnell atmet und seine Finger ins Kopfkissen krallt, beuge ich mich hinab und verpasse ihm einen sanften Kuss zwischen den Schulterblättern. "Keine Angst Björn. Ich fange langsam an." Er nickt, doch seine Aufregung will nicht weichen.
 

~Björn~

Ich kann gerade so verhindern, dass das Zittern in mir nach außen dringt. Mein Herzschlag steigt ins Unermessliche an und ich würde mich am liebsten unter dem Bett verstecken, doch gleichzeitig auch hier liegen bleiben und mich Ralf anvertrauen. Wenn diese scheiß Angst nur nicht wäre! Dagegen helfen auch Ralfs Worte nicht wirklich. Ich weiß ja, dass ich im Vertrauen kann, aber sag das mal meinem Blutdruck und meinen Muskeln, die sich total verkrampfen! Und nur deswegen zucke ich furchtbar zusammen, als ich Ralfs Hände auf meinen Pobacken fühle, woraufhin er innehält, noch bevor überhaupt was passiert ist. Ich könnte mich auf der Stelle dafür ohrfeigen! "Mach weiter", krächze ich, traue mich jedoch nicht, ihn anzuschauen. Gut, dass ich mein Gesicht im Kopfkissen vergraben kann.

"Bei meinem ersten Mal hatte ich auch Angst", erklärt er mir leise und beginnt meinen Hintern zu massieren. Durch das Gel eine feuchte Angelegenheit. "Ich hatte meinem Partner verschwiegen, dass ich noch eine Jungfrau war, was ich nicht hätte tun sollen."

"Wieso?", frage ich nach, obwohl ich mir die Antwort schon denken kann.

"Es war furchtbar gewesen. Dafür aber auch sehr kurz." Ralf lacht. "Er hatte gar nicht mitbekommen, dass ich gar nicht gekommen bin."

Ich wage es kaum, ihn zu fragen, aber "Hat es weg getan?"

"Ja", antwortet er prompt und jetzt kann ich ein kurzes Zittern nicht mehr verhindern. "Aber aus Schaden wird man klug und nun weiß ich, wie man es richtig macht." Sorry Ralf, doch das beruhigt mich noch immer nicht. "Entspann dich Björn. Wir müssen nichts übereilen." Ich atme laut aus. Er hat recht. Ralf ist der Letzte, der mir weh tun möchte, und eigentlich will ich es ja auch.

Ich schließe die Augen, rücke das Kopfkissen zurecht und versuche mich treiben zu lassen. Es funktioniert. Nicht sofort, aber dank den sanften Berührungen entspanne ich mich nach und nach. Ralf ist wirklich geschickt dabei, mir den Druck zu nehmen, wobei ich gestehen muss, dass sich unten zwischen meinen Beinen ein ganz anderer Druck aufbaut. Einer, der mir viel besser gefällt …
 

***
 

~Tore~

Noch bevor ich richtig wach bin, spüre ich das dumpfe Wummern in meinem Schädel. Mein Mund ist trocken und fühlt sich an, als hätte ich heute Nacht mein Kopfkissen aufgegessen. Ich traue mich gar nicht, die Augen aufzuschlagen. Das hier riecht verdammt nach einem dicken, fauchenden Kater.

So vorsichtig es geht, drehe ich mich auf die Seite, mit dem Gesicht weg vom hellen Fenster und stöhne, als mein Schädel droht zu explodieren. "Au", knurre ich und ziehe die Bettdecke über meinen Kopf. Dadurch ausreichend geschützt, hoffe ich zumindest, stemme ich die Augenlider nach oben. Gar nicht gut, aber da muss ich jetzt durch, es sei denn, ich bleibe die nächsten Jahre einfach in meinem Bett liegen. Ein echt verlockender Gedanke ...

Mühsam halte ich meine Augen geöffnet und starre gegen das blase, schimmernde Grau der Zudecke. Wie bin ich bloß in diese höchst unerfreuliche Situation geschliddert? Was ist das Letzte, an das ich mich noch erinnern kann? Da kommt mir gleich Björns Geburtstag in den Sinn. Wir waren im Club, ich saß an der Bar. Aha. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Loisl war da und ... ab da verblasst alles hinter einem weißen Alkoholschleier. Für einen kurzen, absurden Moment glaube ich Oskar gesehen zu haben. Was für ein Unsinn! Eher gefriert die Hölle zu oder der Papst segnet die Homoehe ab. Pfha! Themenwechsel bitte. Mir geht es schon mies genug, auch ohne dieses leidige Religionsgewäsch!

Um den trüben Überlegungen zu entkommen, quäle ich mich mit schweren Gliedern und dickem Kopf aus meinem Bett. Eine Dusche wird meinen vielleicht Kater verscheuchen. Hoffen wir das Beste.
 

Nach der Dusche geht es mir tatsächlich wieder etwas besser. Zwar sind meine Augen noch arg verquollen und meine Schläfen pochen weiterhin, aber immerhin bin ich wach und kann mich anziehen, ohne ohnmächtig zu werden. Kein Witz. Ist alles schon vorgekommen. Vom Komaschlaf in den Katerschlaf, sozusagen.

Zurück im Schlafzimmer wühle ich mir bequeme Kleidung aus dem Schrank und schlüpfe hinein. Dabei fällt mir ein kleiner Zettel auf, der neben meiner Nachttischlampe liegt. "Von Ralf", murmle ich und muss grinsen. "Morgen Suffkopf. Wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast, komm doch rüber zu uns frühstücken. Dein Heimfahrservice." Kaum hat der Kerl einen Freund, wird er frech oder was? Hm ... Aber das mit dem Frühstück hört sich verlockend an. Außerdem bin ich zu neugierig, ob bei den beiden endlich was gelaufen ist. Und falls ja, dann freue ich mich jetzt schon darauf, den kleinen Hitzkopf Björn damit zu Foppen. Vielleicht wird das doch kein so schlechter Tag heute.

Dann tausche ich meine Jogginghose doch lieber mal mit einer Jeans. Ich will ja nicht wie der größte Penner da drüben aufschlagen, auch wenn ich mich annähernd wie einer fühle.

Wieder umgezogen, schlüpfe ich in ein Paar Turnschuhe, greife meinen Haustürschlüssel und will gerade losmarschieren, da sehe ich einen Schatten vor meiner Haustür. Da das Glas, das in ihr eingesetzt ist, milchig-grün ist, erkenne ich meinen Besucher nicht. Bestimmt ist es Ralf, der nachschauen möchte, ob ich nicht doch an einer Alkoholvergiftung krepiert bin. "Das ist aber nett von dir", lache ich, als ich die Tür aufreiße. "Hattest wohl Angst, dass ich Toho...t ... bin ..." Es klimpert laut. Das war mein Haustürschlüssel, der mir vor Schreck und einem einsetzenden tauben Gefühl aus den Fingern geglitten ist.

"Hallo Tore", begrüßt mich eine sanfte und doch so stark anmutende Stimme. "Wie schön, dich endlich wiederzusehen."

Mir klappt der Mund auf, doch mein sowieso nur sparsam arbeitendes Hirn braucht eine Weile, um den Namen meines Besuchers zu formen. "Oskar?"
 

******
 

Okay, das gekürzte Kapitel ist leider etwas kurz, aber dafür hatten die beiden eine Menge Spaß zusammen. Das kann ich euch sagen ^_-

Ralf hat endlich jemanden, der ihn auch liebt, und nicht nur als Freund oder als (sorry Kris) Lückenbüßer sieht. Und Björn hat sowieso alles Gute dieser Welt verdient, finde ich.

Tja, doch bei aller Freude, geht es danach volle Kanne weiter. Tore und Oskar. Mann, Mann, Mann. Was haben mir meine Kerle da bloß eingebrockt? Einen Pfarrer?! Tore, wie kannst du nur?! Und ich konnte zusehen, wie ich ihn und seinen geilen Geistlichen durch diese verfahrene Situation bringen konnte.

Ich hatte mich am Anfang ein bisschen schlau gemacht, und ich muss sagen, es ist echt ein ganz schöner Zirkus nötig, wenn ein Pfarrer der Liebe wegen aus dem Verein aussteigen möchte. Ob es am Ende klappt? Keine Ahnung, ich weiß von nichts. ^^“

Kapitel 15 - Gefunden und zurückgekommen

Kapitel 15 - Gefunden und zurückgekommen
 

~Ralf~

Gibt es was schöneres, als mit seinem Liebling im Arm aufzuwachen, nachdem man eine unglaublich schöne Nacht mit ihm verbracht hat? Nein, gibt es nicht. Jedenfalls nicht für mich, wie ich gerade feststelle.

Ich weiß nicht genau, wie spät es ist. Die Sonne scheint und es leicht nebelig draußen, worauf ich schließe, dass es noch ziemlich früh am Morgen ist. Ich frage mich, warum ich schon so zeitig wach bin. Müssen die Glückshormone sein, denn ich bin weder müde noch erschöpft. Ich fühle mich gut und erholt und bin, wie bereits erwähnt, unfassbar glücklich.

Björn liegt auf meinem rechten Arm, mir seitlich zugewandt und schläft immer noch tief und fest. Seine ruhigen Atmengeräusche bringen mein Herz zum rasen. Zärtlich kraule ich ihm durchs Haar. Er zuckt leicht mit der Nase, rührt sich jedoch nicht. Ich kann es nicht lassen und mache weiter damit, treibe es sogar auf die Spitze und schmuse mit meinen Lippen über seine Stirn. Er murmelt etwas und bewegt sich nun doch. Ich drehe mich zu ihm herum und setze kleine Küsschen auf seine Nase. "... Ralf ...?" Ich muss schmunzeln. Jetzt habe ich ihn doch geweckt.

"Guten Morgen", wispere ich und wechsle von seiner Nase zu seinem rechten Auge. Ich fühle die leichten Bewegungen darunter.

"Was tust du da?" Mein Schatz hört sich noch ganz schön müde an.

"Mit dir Schmusen."

"Jetzt? Mitten in der Nacht?"

"Die Sonne scheint." Er windet sich aus meiner Umarmung, blinzelt verschlafen und reibt sich mit dem Handballen über die Augen. Da ich nicht mehr an sein Gesicht herankomme, liebkose ich seine nackte Brust.

Björn kichert. "Es ist noch viel zu früh", sagt er und legt sich wieder hin.

"Hierfür?", frage ich und gleite tiefer. Das Keuchen, das er mir daraufhin schenkt, ist wahnsinnig sexy.

"Für alles." Och Mann! "Dafür haben wir doch noch nachher Zeit." Er patscht mir auf den Hinterkopf. Nicht fest, aber ich gebe nach.

"Versprochen?" Björn nickt, dann fallen ihm die Augen wieder zu. "Darf ich dich noch was fragen?"

"Was denn?"

"Was hast du dem Kerl im Club gestern eigentlich ins Ohr geflüstert?" Diese Frage brennt schon seit gestern in mir.

"Welchem Kerl?", will Björn wissen und gähnt dabei.

"Na diesem Typen, den Tore für Oskar gehalten hat."

"Ach der ..." Er beginnt zu grinsen. "Ich sagte: Willst du dir wirklich die Bude vollkotzen lassen, wenn du ihn mit nach Hause nimmst? Dann nimm doch lieber mich mit. Ich weiß bessere Sachen mit meinem Mund anzustellen, als mir noch mal das Essen durch den Kopf gehen zu lassen." Ich fange an zu lachen. Björn und seine große Klappe. Aber wehe, es wird ernst. Was dann passiert, das habe ich gestern Nacht erfahren dürfen. Seine schüchterne Seite ist einfach bloß sexy. Daran zu denken macht mich gleich wieder scharf ... "Darf ich jetzt weiterschlafen?", fragt er mich allerdings und gähnt ein weiteres Mal.

"Darfst du", 'erlaube' ich ihm und stehe auf. Ich muss dringend ins Bad, bevor noch jemand anderer aufgeweckt wird.

Auf den Weg dorthin, greife ich mir noch schnell mein Handy. Ich muss jemanden eine Nachricht schreiben. 'Irgendwo da draußen wartet jemand auf dich Ralf. Vergiss mich und halte nach diesem jemand Ausschau.' Ich kann Dillans Worte noch ganz genau hören.

Er hatte recht. Auch wenn ich damals nicht im Traum daran geglaubt habe, dass dieser jemand so schnell in mein Leben treten würde, und vor allem, wer dieser jemand sein würde, hatte Dillan recht mit dem, was er gesagt hatte. Nur mit einem nicht. Ich werde Dillan niemals vergessen. Man vergisst nicht die Menschen, die man einst geliebt hat. Und genau deswegen schicke ich ihm jetzt eine SMS.

'Ich habe ihn gefunden.'
 

***
 

~Tore~

"Schmeckt dir der Kaffee?"

"Sehr köstlich. Danke." Oskar lächelt mich an und stellt die Tasse vor sich auf den Tisch, nachdem er davon getrunken hat.

"Das freut mich." Ich lächle zurück. Unter dem Tisch jedoch, zwicke ich mir zum bestimmt zehnten Mal in den Handrücken. Au! Kein Traum. Oskar sitzt mir tatsächlich gegenüber am Küchentisch. Ich glaube es noch immer nicht so recht, halte es für einen Traum oder für Einbildung, für reines Wunschdenken oder für die Nachwirkungen des Alks gestern. Aber es sind keine Anzeichen zu erkennen, dass das hier nicht real ist. Oskar ist hier, bei mir und trinkt meinen Kaffee. "Seit wann bist du wieder da?", frage ich ihn nervös, weil ich nicht weiß, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Das ich ihm am liebsten um den Hals fallen, ihn küssen und an mich drücken würde, hilft mir leider auch nicht weiter.

"Seit gestern", antwortet er. "Ich bin nachmittags am Flugharfen angekommen."

"War der Flug anstrengend?"

"Nein. Er war eigentlich recht erholsam."

"Das freut mich." Kann es sein, dass ich mich wiederhole?

"Und wie ist es dir ergangen?"

Scheiße, denn du warst nicht bei mir. "Ganz gut."

"Freut mich." Hey! Oskar hat meine Platte geklaut! Aber ich kann es ihm nicht verübeln. So verkrampft, wie das hier gerade abläuft, wundert es mich sowieso, dass er noch nicht geflohen ist. Wir drucksen beide um das unausweichliche Gespräch herum, dass wir dringend miteinander führen müssen. Das ist uns beiden klar und dennoch will keiner den Anfang machen. Aus Angst? Von meiner Seite aus auf jeden Fall. Ich habe Angst, dass Oskar das verleugnet, was zwischen uns war, oder besser gesagt, noch immer zwischen uns ist, denn wenn ich seine Blicke richtig deute, ist da definitiv noch einiges zwischen uns. Doch was nützt es mir, wenn Oskar sich dem weiterhin verschließt? Ich fürchte mich so sehr davor, ihn ein weiteres Mal zu verlieren. Diesmal vielleicht für immer. Und er hat sicher vor den Konsequenzen Angst, die sich daraus für ihn ergeben, falls das mit uns rauskommt. Ein schwuler Pfarrer. Ha! Öfter mal was Neues. Okay, jetzt werde ich gemein. Zu meiner Verteidigung, Sarkasmus ist für mich schon immer der beste Weg, um mit etwas fertig zu werden, dass ich nicht beeinflussen kann.

"Du bist braun geworden." Und weiter mit den Belanglosigkeiten. Bravo Tore!

"Ja, kann gut sein. Es war sehr sonnig und warm dor..."

"Ich habe dich vermisst", unterbreche ich ihn flüsternd, weil ich endlich Schluss machen will, mit diesem dämlichen Kaffeeklatschgeplaudere und es auch schlichtweg nicht mehr aushalte. Ich sehe, wie Oskar schluckt und meinem Blick ausweicht. Das tut weh, aber ich habe mit so etwas schon gerechnet. "Ich freue mich, dass du wieder hier bist", rede ich mit leiser Stimme weiter. Seine Hand hält die Kaffeetasse umfasst. Wie gerne würde ich meine auf sie legen, ihm zeigen, dass ich für ihn da bin, auch wenn er es war, der geflohen ist. "Ich habe jeden Tag auf dich gewartet." Er muss das wissen. Ich muss es ihm sagen, solange ich es noch kann. Solange er mich noch bei sich sein lässt. "Ich musste jeden Tag an dich denken."

"Ging mir genauso", sagt er so leise, dass ich glaube, mich verhört zu haben. Hat er das eben wirklich gesagt? "Du warst mein erster Gedanke nach dem Aufwachen und der letzte vor dem Einschlafen." In meinem Kopf dreht sich alles. Ist das wahr?

"Wirklich?"

"Wirklich", antwortet er und schiebt die Tasse von sich. "Ich habe sehr, sehr lange nachgedacht in der Zeit, in der ich weg war." Lange ist gar kein Ausdruck! Fast ein ganzes Jahr lang. So lange war er nämlich verschwunden.

"Also bist du jetzt wieder hier, weil du zu einem Ergebnis gekommen bist?" Ich bekomme Panik. Ist das hier jetzt etwa das Ende? Verleugnet er sich und seine Gefühle jetzt endgültig und will einen Schlussstrich unter alledem ziehen?

"Ich denke, das bin ich." Oskar nickt, als müsse er sich selbst davon überzeugen.

"Und wie sieht das aus?" Eigentlich will ich nicht fragen. Aber ich muss.

"Lass mich bitte zuerst etwas ausholen." Wenn er drauf besteht. Ich nicke und richte mich auf das Schlimmste ein. "Weshalb ich um diese 'Auszeit' gebeten habe, ist dir ja bewusst." Oh ja! Das ist mir mehr als bewusst. "Um ehrlich zu sein ..." Oskar hält inne, atmet tief ein und trinkt dann doch noch einen Schluck Kaffee, als wolle er sich Zeit verschaffen. "Es war eine Flucht. Nicht vor dir! Eher vor mir." Ich runzle die Stirn. Und ich dachte, er sei wegen mir abgehauen, und weil er damit nicht umgehen kann, dass wir beide in der Kiste gelandet sind. "Ich wusste schon vorher, dass ich Homosexuell bin." Beinahe scheint es, als schäme Oskar sich für sein Geständnis, aber mich überrascht es, ehrlich gesagt, gar nicht. "Das weiß ich schon ziemlich lange, und du bist auch nicht der erste, mit dem ich geschlafen habe." Jetzt ist es an mir, einen Schluck Kaffee zu trinken.

Es nicht nicht so, dass ich mir das nicht schon vorher gedacht habe. Oskar hatte Erfahrung. Das war nur allzu offensichtlich. Nur das er es so offen zugibt, lässt mich hoffen. Keine Ahnung warum, aber ich habe plötzlich das Gefühl, dass noch nicht alles verloren ist. "Das habe ich mir fast gedacht", sage ich, stelle die Tasse ab und stehe auf.

Oskar rührt sich und sieht mich erschrocken an. "Bitte bleib sitzen!" Hat er Angst vor mir? Ich zögere. Ich wollte mich doch nur neben ihn setzen und ihn stützen, weil ich das Gefühl habe, dass er das jetzt braucht. "Nachher", flüstert er, als habe er meine Gedanken erraten. Also setze ich mich wieder und warte erneut darauf, dass er weitererzählt.

Oskar lächelt mich dankbar an, schiebt seine Hand in die Mitte des Tisches und bietet mir seine Handfläche an. Ohne zu zögern ergreife ich sie. So warm und weich … Glück durchströmt mich. Das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes. "Es begann, als ich 16 war. Ich traf mich mit Jungs. Meist waren sie älter als ich. Wir verbrachten viel Zeit zusammen, feierten, tranken und dann führte irgendwann eins zum anderen. Mir wurde schnell bewusst, dass ich auf Männer stehe, und na ja ... ich hatte meinen Spaß mit ihnen und sie mit mir." Will ich wissen, welchen Spaß sie im genaueren hatten? Ich glaube nicht. "Da ich aber im katholischen Glauben erzogen worden bin, bekam ich schnell Gewissensbisse. Ich wusste, dass das, was ich tat, in den Augen der Kirche, meiner Eltern und meiner Bekannten verwerflich war, und dass ich dafür, bildlich gesehen, in der Hölle landen würde. Deshalb hinterfragte ich mich und mein Handeln, mit dem Ergebnis, dass ich nicht so sein wollte. Glaube jetzt nicht, dass das eine leichte Entscheidung gewesen war. Ich nahm meinen Glauben sehr ernst, nehme ich immer noch, aber früher ... Das waren ganz andere Zeiten damals. Schwul zu sein, das sah beinahe jeder den ich kannte, als eine Krankheit an und ich glaubte dem. Ich war der festen Überzeugung, dass mit mir etwas nicht stimmte, oder das ich auf die Probe gestellt wurde." Oskar macht ein trauriges Gesicht. Ich drücke seine Hand, was er erwidert und weiterspricht. "Ich wollte nicht als krank und pervers abgestempelt werden, also wendete ich mich allem ab. Ich unterdrückte diese Gefühle in mir, brach mit meinen Freunden und mit allem, was mich in Versuchung bringen könnte. Ich machte mein Abi, konzentrierte mich einzig und allein darauf, und studierte schließlich Theologie, mit dem Ziel Pfarrer zu werden." Oh Mann! Ziel erreicht, würde ich sagen. Jetzt haben wir den Schlamassel. "Hätte ich damals jemanden wie dich kennengelernt, wäre es vielleicht ganz anders gekommen." Hm?

"Wie meinst du das?"

Oskar sieht mich endlich wieder an und lächelt sogar. Mein Herz macht einen Sprung. "Hätte ich schon damals das gefühlt, was ich jetzt fühle, dann wäre mir bewusst geworden, dass so etwas nicht krank oder pervers ist. Das daran nichts Falsches ist." Hat er mir gerade seine Entscheidung mitgeteilt? Kann das sein?
 

Ich traue mich nichts zu sagen, starre Oskar einfach bloß an. So viele Fragen tauchen in meinem Geist auf. "Wenn ich eines gelernt habe in meinem Leben, dann das, dass Liebe niemals krank oder pervers ist. Ob man nun hetero ist, oder homo." Liebe? Habe ich eben richtig gehört?

"Liebe?", frage ich nun laut und halte die Luft an. Spürt er, wie feucht meine Handfläche gerade wird? "Sagtest du gerade, Liebe?" Oskar nickt. "Das heißt, du ... du liebst ... mich?" Das er etwas für mich fühlt, wusste ich ja schon, aber das er mich tatsächlich lieben würde, daran wollte ich noch nicht mal zu hoffen wagen.

"Warum sonst bin ich wieder hier?"

"Wegen mir?" Ich muss ihn einfach fragen. Ich raffe es noch immer nicht so richtig.

"Ja, wegen dir. Weil du mich gerufen hast."

Ich will was sagen, halte aber stockend inne. Ich soll ihn gerufen haben? "Wie, gerufen?", frage ich schließlich nach. Träume ich doch? Wie kann er wissen, dass ich Nacht für Nacht seinen Namen geflüstert habe, in der Hoffnung, er würde es mitbekommen, und wieder zu mir zurückkehren?

"Mir wurde gesagt, du hättest nach mir gefragt. Bei dem Küster unserer Kirche. Er meinte, du bräuchtest mich." Sicher starre ich gerade selten dämlich aus der Wäsche, denn selbst Oskar stutzt und leckt sich nervös über die Lippen. "Hast du das etwa nicht?"

"Nein. Ich war drauf und dran, mich nach dir zu erkundigen, aber ich wusste nicht wo ich anfangen sollte." Es ist fast schon lächerlich. Der Küster! Das ich selbst nicht darauf gekommen bin! Aber wie zum Teufel (ja, zum Teufel!) ist es möglich, dass dieser Küster ihm von mir erzählt hat? Und vor allem, wie kam er darauf?

"Das ist ja komisch", meint Oskar und runzelt die Stirn. Wie wahr!
 

***
 

~Björn~

So entspannt war ich schon lange nicht mehr. Entspannt und ausgepowert. Aber auf eine gute Weise. Ich muss grinsen. Weshalb ich so ausgepowert bin, dass muss ich nicht noch extra erklären, oder?

Unbeschwert drehe ich mich auf die Seite und kuschle mich in die Bettdecke. In meinem Hintern zieht es leicht, aber es tut nicht sonderlich weh. Eher weckt es heiße Erinnerungen an letzte Nacht. Der untrügliche Beweis dafür, dass Ralf und ich wirklich miteinander geschlafen haben. Ich seufze und reibe mich an der herrlich weichen Decke. Ich muss nicht erst die Augen aufmachen, um zu wissen, das Ralf schon längst nicht mehr im Bett liegt. Es duftet nach Kaffee und nach Ofenbrötchen. Echt lecker, doch in mir regt sich ein ganz anderes Verlangen, als das nach einem schnöden Frühstück.

Kurz überlege ich, ob ich Ralf zu mir rufen soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Ein anderer drängt sich mir auf. Er lässt meinen Unterleib himmlisch kribbeln und was ganz anderes aufwachen. Ich reibe fester gegen die Bettdecke, klemme sie zwischen meine Beine und stelle mir vor, sie wäre Ralf. Es dauert nicht lange, und ich bin steinhart. Ich finde, es wird Zeit, den Grund für meine Morgenlatte aufzusuchen.

Nackt wie ich bin, steige ich aus dem Bett und visiere die Küche an. Schon vom Flur aus kann ich Ralfs breiten Rücken erblicken. Die Erregung in mir pusht mich schneller vorwärts. Ralf hantiert an der Arbeitsfläche herum, bemerkt mich somit also gar nicht. Leise tapse ich über den gefliesten Boden und schiebe die Arme um Ralfs Oberkörper, als ich bei ihm angekommen bin. Sein warmes Lachen schenkt mir einen warmen Schauer. Ich liebe ihn so sehr!

"Endlich wach?", fragt er mich glucksend.

"Und wie", hauche ich und stoße mit dem Becken gegen seinen runden Hintern. "Hatten wir heute Morgen nicht noch was vor?" Soweit ich mich erinnern kann, war das was von wegen Morgensex und so.

"Du willst, dass wir es jetzt tun?"

"Warum nicht", antworte ich und greife ungeniert in Ralfs Schritt. "Gleich hier und jetzt. Auf dem Boden, der Arbeitsplatte oder auf dem Küchentisch. Egal wo." Ich platze gleich! War ich jemals in meinem Leben so scharf gewesen?

Ralf schmunzelt und lässt das los, was auch immer er gerade in der Hand hatte, und greift nach mir. Seine Hände legen sich erst auf meine Tailie, gleiten dann weiter hinab und streicheln über meine Beckenknochen. "Bist du nackt?"

"Ja", raune ich ihm ins Ohr und lecke daran. "Mach mit mir, was du willst …" Und das am besten sofort!

"Kaum hatte der Grünschnabel einmal Sex, wird er unersättlich, was?" Ich zucke total erschrocken zusammen. Da ist jemand hinter mir!

Ich reiße die Augen auf und drehe den Kopf nach hinten. "Tore!" Ich erstarre, ehe mir bewusst wird, dass er alles mitangehört, und vor allem, alles mitangesehen hat! Der Kerl hat gesehen, wie ich hier nackt und erregt rein spaziert bin! "DU ARSCHLOCH!"

Panisch schiebe ich mich zwischen Ralf und die Küchenzeile. Tore grinst sich einen ab und schlürft an seinem Kaffee. "Warum hast du nicht gesagt, dass du hier bist?!"

"Und mir die Show entgehen lassen?" Ich bring ihn um! "Außerdem bist du direkt an mir vorbeimarschiert. Du hättest mich eigentlich sehen müssen. Warst wohl so spitz, dass du am erblinden warst, hm?" Mir schießt die Röte ins Gesicht.

"Bring mich hier raus", murmle ich Ralf zu und bette mein Gesicht gegen seine Brust. "Schnell!" Ist das peinlich! Nein! Das ist noch peinlicher als peinlich. Das ist die Mutter aller Peinlichkeiten! Ach, was sage ich? Die Großmutter aller Peinlichkeiten samt Kinder und Enkelkinder!
 

~Ralf~

Beschützend nehme ich meinen Schatz fest in die Arme. "Hoch mit dir, dann trage ich dich zurück ins Schlafzimmer." Er gehorcht und schlingt seine Beine um mich.

"Tschau Björn! War nett von dir, dass du mich so herzlich Willkommen heißt." Ich verdrehe die Augen. Muss Tore noch einen draufsetzen? Aber wenigstens hat er mal gelacht. Als er heute Morgen für meiner Haustür gestanden hatte, sah das noch ganz anders aus. Ihn bedrückt etwas (ich ahne was oder besser gesagt, wer ihm auf der Seele liegt), doch bevor wir miteinander sprechen konnten, tauchte mein kleiner Nacktfrosch hier auf.

Apropos Nacktfrosch. Ihn trage ich nun ins Schlafzimmer und gebe ich der Tür einen Schubs, sodass sie hinter uns ins Schloss fällt. Behutsam setzte ich Björn auf dem Bett ab. Er krabbelt bis zur Mitte und wickelt sich in die Decke ein. Seine Wangen schimmern immer noch rötlich. "Ich will sterben", jammert er und vergräbt sein Gesicht in den Daunen.

"Ach was. Tore sieht das locker."

"Ich aber nicht", nuschelt Björn. "Er hat meinen Ständer gesehen!"

"Dann haben wir ja was gemeinsam." Das hätte ich nicht sagen sollen. Björns tödlicher Blick richtet sich auf mich. "Beruhige dich. Das nächste Mal passe ich besser auf." Er brummt mürrisch und kippt seitlich aufs Bett. "Im Übrigen denke ich, hat er ganz andere Dinge im Kopf, als deinen nackten Prachtkörper."

"Und was?"

"Weiß ich noch nicht. Aber er wirkte arg mitgenommen."

"Du meinst, es geht wieder um den Pfarrer?"

"Darauf wette ich."

Björn zieht die Decke nun ganz vom Gesicht und mustert mich. "Dann geh zu ihm. Ich bleibe so lange hier und versuche die Zeit zurückzudrehen."

"Tu das", lache ich und mopse mir einen Kuss von meinem Schatz. "Und wenn er weg ist, komm ich zu dir. Splitterfasernackt ..." Ich zwinkere ihm zu und lasse meinen kleinen Schatz im Schlafzimmer zurück. An der Vorstellung hat er noch eine Weile zu knabbern.

"Und? Hat sich dein Liebling wieder beruhigt?" Tore grinst mich an.

"Halbwegs", grinse ich zurück. "Reite besser nicht mehr darauf herum. Es ist ihm furchtbar peinlich."

"Keine Sorge. Reite du ihn mal lieber, damit das in Zukunft nicht mehr vorkommt."

"Sehr witzig!" Ich setzte mich ihm gegenüber und schenke mir einen Schluck Kaffee ein. "Soll ich fragen, oder erzählst du mir von selbst, warum du nach deinem Saufexzess gestern, plötzlich wieder total nüchtern bist, und noch vor dem Mittag bei mir aufschlägst?"

"Dein versprochenes Frühstück hat mich gelockt", meint er lapidar und beißt demonstrativ in eins der Brötchen. "Lecker!" Ich lege den Kopf schief, sage allerdings nichts. Er soll mal schön selbst das Mündchen aufmachen. Denn dazu ist er doch bei mir vorbeigekommen, nehme ich mal stark an. "Was?"

"Nichts." Ich zucke mit den Schultern und schnappe mir die Sonntagszeitung. Interessiert überfliege ich die Meldungen und warte. Na komm schon! Sag, was dich bedrückt, du olle Suffnase!

"Oskar ist wieder da." Raschelnd senke ich die Zeitung. Hab ich das eben richtig verstanden? Tores Mundwinkel umspielt ein schmales Lächeln. "So habe ich bestimmt auch aus der Wäsche geguckt, als er wie aus dem Nichts vor mir stand", sagt er und legt das angebissene Brötchen zurück auf seinen Teller.

"Noch mal von vorn", japse ich. Die Nachricht übertrifft sogar noch die heutige Schlagzeile der Zeitung! "Oskar ist wieder hier, und er war bei dir?"

"Ja. Heute Morgen, gerade, als ich zu dir rüber wollte."

"Habt ihr geredet?"

"Ja."

"Und, wie kam es dazu? Warum ist er wieder hier? Seit ihr jetzt zusammen, oder ...?!"

"Immer langsam", unterbricht mich Tore. "So einfach ist das nicht." Natürlich! Seit wann ist die Liebe auch einfach? Wäre ja noch schöner. "So direkt haben wir nicht darüber gesprochen. Aber das werden wir noch, hoffe ich."

"Über was habt ihr denn dann geredet?" Ich platze gleich vor Neugier!

"Oskar liebt mich", flüstert Tore und bekommt strahlende Augen.

"Das ist doch klasse! Er liebt dich, du liebst ihn. Dann müsste doch alles klar sein." Oder etwa nicht?

"Du vergisst da was. Er ist immer noch ein Pfarrer."

Ich lasse die Schultern hängen. "Oh." Wie konnte mir das nur entfallen? "Und jetzt?"

"Ich weiß es nicht", gesteht er. "Wir reden heute Abend noch einmal, doch er ist sich selbst noch nicht sicher, was er tun soll."

Laut ausatmend falle ich gegen die Stuhllehne. "Schöne Scheiße."

"Und wie." Tore starrt geknickt auf seinen Teller. "Im Endeffekt liegt alles an ihm. Es ist seine Zukunft, die er für mich aufgeben würde, und ich kann nicht von ihm verlangen, dass er das tut. Vor allem, weil wir uns streng genommen noch gar nicht so lange kennen."

"Aber er ist zurückgekommen, und er hat dir gesagt, dass er dich ebenfalls liebt. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder nicht?"

"Ja, ist es", bestätigt er. "Aber weißt du, was komisch an der Sache war?"

"Was denn?"

"Oskar wurde eine Nachricht überbracht. Angeblich war sie von mir."

"Echt?" Oh oh ...
 

~Tore~

Also doch! Ralf steckt hinter dieser dubiosen Nachricht! Das sehe ich ihm an seiner Nasenspitze an. "Weißt du etwas darüber?", will ich von ihm wissen und durchbohre ihn mit meinem Blick.

"Na ja ... weißt du ... Ich wollte es dir nicht sagen, aber ich war mal mit Björn in der Kirche und traf da ganz zufällig den Küster." Zufällig, hm? "Na ja ... Da dachte ich, einen Versuch ist es doch wert."

"Einen Versuch?"

Ralf seufzt und knetet sich die Finger wund. "Dir ging es schlecht, und ich wollte dir helfen."

"So so." Helfen wollte er.

"Ja! ... Ach Mann! Er wollte mir nicht sagen, wo sich Oskar aufhält, da habe ich ihm gesagt, dass du dringend mit ihm sprechen musst." Geknickt schielt Ralf mich an. "Ist Oskar jetzt sauer auf dich? Falls ja, dann sage ich ihm, dass das auf meinem Mist gewachsen ist!"

"Er ist nicht sauer", beruhige ich ihn. "Und ich bin es auch nicht." Es ist tatsächlich so. Ich bin Ralf sogar dankbar dafür. "Willst du auch wissen, wieso ich es nicht bin?" Ralf nickt. "Oskar sieht es als eine Art Zeichen."

"Wie, Zeichen?" Ralf schaut fragend drein. "So eine Art göttliches Zeichen?"

"Ja, so in der Art", bestätige ich ihm und beschließe, ihm alles von vorn zu berichten. Von da ab, als Oskar mir von der Nachricht erzählt hat.
 

"Das ist ja komisch", murmelte Oskar, schaute ratlos drein, fing dann jedoch zu lächeln an. "Als ob eine höhere Macht dabei im Spiel gewesen war", sagte er und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken. "Und dann auch noch zum genau richtigen Zeitpunkt." Ich verstand nicht, wie er das meinte und fragte nach. "Ein paar Tage, bevor mir diese Nachricht überbracht worden ist, lag ich Nachts auf meiner Pritsche und wieder einmal warst du alles, an das ich denken konnte. Was soll ich tun? Wann soll ich wieder zurück? Und wenn ich zurück bin, was passiert dann? Ich beschloss, nicht weiter darüber nachzugrübeln und es in andere Hände zu legen." Ich brauchte gar nicht nachzufragen, welche Hände er damit im Sinn gehabt hatte. "Und prompt erreichte mich dein Ruf."

Ich senkte den Kopf und starrte unsere verschlungenen Hände an. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, gelangte aber zu dem Entschluss, dass egal aus welchem Grund er nun wieder bei mir war, es war mir recht. Wenn er dazu ein Zeichen gebraucht hatte, um den Mut zu haben sich dem zu stellen, was auf ihn zukommen könnte, dann sollte es eben so sein.

"Solange er hier bleibt, und wir eine Lösung finden, kann er weiter an eine göttliche Fügung oder an ein Zeichen glauben", schließe ich meine Erzählung.

Ralf stürzt die Lippen und denkt nach. "Sagst du ihm, dass ich derjenige war, der mit dem Küster gesprochen hat?"

"Ich denke schon."

"Wird er seine Entscheidung dann nicht bereuen?" Zwischen Ralfs Augen entstehen zwei kleine Falten.

"Falls ja, dann wäre er besser in diesem Drittweltland geblieben." Es ist hart, dies zuzugeben, aber so sieht es nun mal aus. "Wenn er nur deswegen zurückgekommen ist, weil er glaubt, Gott oder sonst wer habe das 'entschieden', dann kann ich damit nicht leben."

Ralf nickt und führt seine Kaffeetasse zum Mund. "Kluge Entscheidung. Ich würde in dieser Situation wahrscheinlich nicht so überlegt handeln, was meine Vergangenheit schon zu oft bewiesen hat. Aber wenn du mich fragst, wäre Oskar erst gar nicht zurückgekommen, würde er nichts für dich empfinden. Vielleicht ist es wirklich so, und er hat diese Nachricht als kleinen Tritt in den Hintern gebraucht." So sehe ich das auch, oder hoffe es viel mehr. Und weil die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt, und meine Hoffnung musste schon sehr viel durchmachen, halte ich daran fest, dass es Oskar nichts ausmachen wird, dass die Nachricht von Ralf kam.

"Dein Oskar ist wieder da?" Björn steht im Türrahmen. Diesmal ist er angezogen. "Echt jetzt?"

"Du hast ihm von mir und Oskar erzählt?" Ich grinse Ralf an.

"Ja ...", brummt er. "Sorry, aber ich konnte es ihm nicht verheimlichen."

"Schon gut. Nicht so schlimm." Natürlich hat er es Björn erzählt. Warum auch nicht? Der Kleine plaudert ganz bestimmt nichts aus. "Er stand heute Morgen ganz plötzlich und ohne Vorwarnung vor meiner Tür", berichte ich Björn, der langsam auf den Tisch zugeht und sich neben Ralf setzt.

"Wow. Du musst ganz schön glücklich sein."

"Teils, teils." Björn runzelt die Stirn. "Lass es dir von Ralf erklären", grinse ich und stehe auf. "Danke für das Frühstück. Ich mach mich mal wieder rüber. Ich will Oskar nicht verpassen." Doch vor allem möchte ich jetzt allein sein. Darüber zu reden hat geholfen, aber auf einmal wird mir das hier zu viel. Mein Kopf ist sowieso schon zum Platzen voll. Ich brauche Ruhe.
 

~Björn~

Nachdenklich schaue ich Tore hinterher. Ralf ist ebenfalls aufgestanden und begleitet ihn bis zur Tür. Ich kann ihre leisen Stimmen hören, verstehe aber nicht, was sie sagen.

Oskar ist also wieder da. Ich freue mich für Tore. Gleichzeitig bin ich neugierig darauf, wie es weitergehen wird mit den beiden. Ralf hat mir ja schon erklärt, dass das nicht so einfach sein wird. Erst recht nicht hier. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn das raus kommt. Unser Pfarrer ist schwul! Ich kann sie jetzt schon hören, wie sie sich ihre Mäuler zerreißen. Auch wenn Tore und ich nicht immer einer Meinung sind, und uns gelegentlich öfter in den Haaren liegen, das hat er auf keinen Fall verdient. Das hat keiner verdient.

"Oh man." Ralf ist zurück und setzt sich wieder neben mich.

"So schlimm?"

"Wie man es nimmt." Er beißt in sein Brötchen und fixiert dabei einen unsichtbaren Punkt vor sich. Als er den Bissen heruntergeschluckt hat, sieht er mich an. Sagen tut er erst mal nichts, legt bloß sein Brötchen weg und nimmt meine Hand, die neben dem Teller liegt. "Das mit uns ist schon schwierig, obwohl du endlich volljährig bist, aber das mit Tore und Oskar, das ist noch mal einige Nummern schärfer."

"Kann ich mir denken." Ich drücke Ralfs Hand. Wir wissen beide nur zu gut, wie scheiße so ein Versteckspiel ist. "Hat Oskar denn dazu was gesagt? Steht er zu Tore?"

"Er liebt ihn, hat er ihm heute Morgen gestanden, aber wie es weitergehen soll, wissen beide noch nicht."

"Scheiße."

"Ja … Große Scheiße." Wieder wird es still. Die Küchenuhr tickt leise und der Kühlschrank brummt. "Ich würde ihnen so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie." Ich nicke. "Es gäbe eigentlich nur eine Lösung."

"Welche?"

"Wegziehen."

"Das wäre wohl das Einfachste." Ich würde es auch so machen. Aber was weiß ich schon? Vor ein paar Wochen noch, wollte ich vor meinen Adoptiveltern fliehen, und mir war relativ egal, wohin. Und ich würde es immer wieder machen wollen, sobald ich es nicht mehr aushalten würde. Vorausgesetzt natürlich, Ralf kommt mit mir.

"Tore müsste sich einen neuen Job suchen", denkt Ralf laut nach.

"Das stellt für ihn doch bestimmt kein Problem da." Der Idiot findet doch überall Anschluss.

"Denke ich auch, aber Oskar muss sich trotzdem seiner Kirche stellen." Ralf seufzt. "Warum ist die Welt nur so scheiße?"

Ich muss grinsen. Ein eher trauriges Grinsen. Eins, das sagt: Ich weiß ganz genau was du meinst. "Weil die Welt so beschissen ist und aus viel zu vielen engstirnigen Arschlöchern besteht."

"Amen." Jetzt ist es Ralf, der meine Hand drückt.

Ich lehne mich an seinen Oberarm. "Ich bin so froh, dass du hier her gezogen bist." Wie sehr, dass fange ich eigentlich jetzt erst so richtig an zu begreifen.
 

******

Kapitel 16 - Zurückgelassen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 16 - Zurückgelassen (Ohne Adult)

Zufälle gibt es immer wieder. Grade jetzt, wo wir zu Tore und Oskar kommen, musste ich mal wieder im Fernsehen mitansehen, wie die liebe katholische Kirche über Homosexuelle denkt. (Nicht alle natürlich. Ich kenne auch Ausnahmen) Doch es ist echt traurig, wenn man hört, dass es eine 'Niederlage für die Menschheit' sein soll, jetzt, wo in Irland gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen. Da reißt mir die Hutschnur!

Hätte ich das eher gewusst, kämen die in der Story hier nicht ungeschoren weg. Òó Man muss sich wirklich fremdschämen, dass solche menschenverachtenden Aussagen in aller Öffentlichkeit breitgemacht werden, und dass von einer Kirche die Nächstenliebe predigt, selbst aber ihre eigenen Sünden schön unter das Messgewand kehren. Jetzt weiß ich auch, warum der so lang ist …

*seufz* Ich könnte mich jetzt echt stundenlang über diese Verlogenheit auslassen, aber über den Punkt, mich über die Kirche furchtbar aufzuregen, bin ich zum Glück schon seit ein paar Jährchen hinaus. Obwohl es wirklich schwer ist, ruhig zu bleiben, wenn die wieder solche Sätze in die Welt hinaus plärren.
 

Und weil ich das jetzt unbedingt loswerden wollte, gibt es das nächste Kapitel schon heute. Es handelt sich dabei um einen kleinen Rückblick, wie sich Tore und Oskar begegnet sind.

Als ich dabei war, das Ende des 17. Kapitels zu schreiben, fiel mir auf, dass ich nicht weiterschreiben konnte, nicht, bevor ich die Anfänge der beiden auf Papier gebannt habe. Mir fehlten die Bilder in meinen Kopf, damit ich mir die zwei richtig vorstellen konnte, sowie deren Beziehung zueinander. Wenn ich schon Probleme damit hatte, dann ihr doch bestimmt auch. Und weil ich nicht will, dass euch ebenfalls die Hintergrundgeschichte der beiden fehlt, kommt dieses rückblickende Kapitel nun vor dem 17ten Kapitelchen. ^^

Viel Spaß, trotz der ernsten Worte zu Anfang.

Eure Stephie, die jetzt trotz dem Vorsatz, sich nicht zu sehr aufzuregen, Bauchschmerzen hat.

In diesem Sinne: Amen.
 


 

Kapitel 16 - Zurückgelassen (Ohne Adult)
 

"Sollen wir uns um den Blumenschmuck kümmern, oder möchten Sie ihn selbst aussuchen?"

"Machen Sie das bitte", antworte ich. Darum will ich mir nicht auch noch Gedanken machen müssen.

"Irgendwelche Wünsche was die Farbe oder die Blumen betrifft?"

"Weiße Rosen." Was weiß ich? Weiß ist immer gut für Beerdigungen, oder? "Meine Schwester wollte ein Herz vor den Sarg mit roten Rosen. Den Text für die Schleife habe ich allerdings noch nicht. Dafür müsste sie sich selbst bei Ihnen melden."

"In Ordnung. Dann werde ich das erst einmal so weitergeben." Ich bedanke mich bei dem Bestatter, schüttle ihm die Hand und verlasse beinahe fluchtartig das Bestattungsinstitut. Nur weg von hier!

In meinem Auto sortiere ich zuerst meine wirren Gedanken, ehe ich es starte und losfahre. Ich muss noch zum Pfarrer. Ein Weg, den ich ungern antrete. Ich habe nichts am Hut mit Kirche oder Religion, auch wenn meine Mutter eine fleißige Kirchgängerin war. Wegen ihr bin ich zwar getauft worden, und musste durch den zähen Kommunions- und danach auch durch den Firmungsunterricht, aber für mich war das alles nur ein notwendiges Übel. Als ich volljährig wurde, trat ich aus der Kirche aus. Meine Mutter war darüber nicht sonderlich begeistert gewesen, doch sie nahm es hin. Genau so, wie sie meine Vorliebe für das männliche Geschlecht hinnahm. Trotz allem, was manchmal zwischen uns stand, sie war immer für mich da gewesen, wenn ich in Schwierigkeiten steckte.

Ich wische mir über die Augen. Ich kann es nicht fassen, dass sie auf einmal nicht mehr da sein soll. Es kam so plötzlich, so unvorbereitet, obwohl sie seit dem Tod meines Vaters immer wieder über ihren eigenen Tod nachgedacht hat. Ich wollte es nicht wahrhaben, oder besser gesagt, ich konnte mir nicht vorstellen, dass auch sie auf einmal sterben könnte. Als hätte sie es vorausgesehen …
 

Ich habe mich mit dem Pfarrer im Pfarrheim verabredet. Dort angekommen, prüfe ich kurz mein Gesicht, kontrolliere, dass meine Augen nicht verheult aussehen. Tun sie zum Glück nicht. Ich steige aus und marschiere auf den Eingang zu.

Das Pfarrheim ist relativ groß und besitzt neben einem Treff für Jugendliche auch einen großen Saal, den man für Geburtstage oder dergleichen mieten kann. Das Büro des Pfarrheims liegt genau neben diesem Saal. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch klopfe ich an die Tür. "Herein!", ruft eine weibliche Stimme. "Guten Tag."

"Hallo", grüße ich zurück. "Ich hatte einen Termin bei Pfarrer Leiermann. Wegen der Beerdigung meiner ... Mutter." Shit! Nicht heulen!

"Ach her je! Hat er Ihnen nicht Bescheid gesagt?"

"Nein. Was ist denn?"

"Pfarrer Leiermann ist etwas dazwischen gekommen. Er wollte Sie anrufen, und absagen." Auch das noch!

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Nichts. Kein Lebenszeichen. "Der Akku ist leer", stelle ich fachmännisch fest.

"Warten Sie ..." Sie kramt in den herumliegenden Unterlagen herum. Sehr ordentlich ist die Gute nicht. "Pfarrer Leiermann hatte einen neuen Termin aufgeschrieben ... Ah! Hier steht es." Sie hebt den Kopf, schielt aber mit ihrer bebrillten Nase nach unten auf den Zettel. "Heute Abend um sechs bei Ihnen? Ginge das?"

"Ich bin zu Hause", seufze ich. Da muss ich jetzt wohl durch.

"Fein! Dann sage ich dem Herrn Pfarrer Bescheid, ja?"

"In Ordnung. Danke und auf Wiedersehen."

"Wiedersehen!", trällert mir die unordentliche Sekretärin hinterher. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf den Heimweg zu machen und auf den Pfarrer zu warten. Womit habe ich das verdient?

Ich schließe die Tür leise hinter mir und greife mir an die Stirn. Mein Hirn fühlt sich wie eine weiche, umher schwimmende Masse an. Wieso bleibt eigentlich immer alles an mir hängen? Nadine, meine Schwester, hat alles mir überlassen. Sie liegt zuhause bei ihrem Mann und ihren drei Söhnen und heult sich die Seele aus dem Leib. Natürlich kann ich sie verstehen. Schließlich ist es auch ihre Mutter, die gestorben ist, aber ich könnte wirklich ein wenig Hilfe gebrauchen. Und jemanden, der mir zuhört ...

Meine Glieder fühlen sich schwer wie Blei an, als ich mich aufraffe, und den Flur entlang laufe. Ich bin so in meinen Gedanken vertieft, dass ich die hastigen Schritte vom Eingang her gar nicht richtig mitbekomme. Erst als es zu spät ist, und ich um die Ecke biege, fängt es in meinem Kopf an zu rattern und ich denke noch: 'Pass auf, da kommt wer', aber zu spät. Ich stoße mit der Person, die es so eilig hat, zusammen.

"Auch du liebe Zeit!", keucht dieser jemand und packt mich an den Armen, weil ich zu schwanken anfange. "Es tut mir leid! Ich habe Sie gar nicht gesehen!"

"Schon okay", murmle ich, verwirrt darüber, dass der Kerl mich noch immer festhält. Ich bin beinahe versucht, mich einfach gegen ihn fallen zu lassen. Ich fühle mich plötzlich so kraftlos ...

"Tore? Sind Sie das?" Jetzt hat mich die Verwirrung endgültig gepackt. Woher kennt der Kerl meinen Namen?

"Ja, der bin ich. Woher wissen Sie, wie ich heiße?" Erst jetzt schaue ich mir den Typen genauer an. Blondes Haar, grau-grüne Augen. Ein kleines Grübchen am Kinn. Er ist größer als ich und ziemlich gut gebaut. Nicht schlecht, aber ich bin nicht wirklich in Flirtlaune. "Kennen wir uns?" Ich bin mir sehr sicher, dass wir das nicht tun, denn an jemanden wie ihn würde ich mich erinnern. Ganz sicher.

"Nicht direkt", antwortet der Kerl mir grinsend. Was für eine angenehm ruhige Stimme ... "Ihre Mutter hat mir viele Bilder von Ihnen gezeigt." Meine Mutter?

"Sie kannten meine Mutter?" Oh je! Bitte keine Beileidsbekundungen!

"Ja, ich kannte sie. Sie war sehr oft bei mir." Ich schlucke. Das kann nur eins bedeuten. Ich stehe gerade unserem Pfarrer gegenüber!

"Pfarrer Leiermann?"

"Der bin ich", lacht dieser. "Wie schön, dass ich Sie noch erwischt habe. Sie sind nicht an ihr Telefon gegangen, da habe ich mich beeilt, rechtzeitig hier zu sein." Wie lieb ist das denn?

"Mission geglückt", schmunzle ich. Ja wirklich! Das erste Mal seit Mutters Tod bringe ich so etwas wie ein Lächeln zustande. Es fühlt sich ungewohnt an. Leider werden bei dem Gedanken meine Augen wieder feucht. Ich versuche es zu kaschieren, doch Pfarrer Leiermann bemerkt das natürlich sofort. Pfarrer scheinen eine Antenne dafür zu haben.

"Kommen Sie mit in mein Besprechungszimmer", schlägt er mir vor und legt eine Hand in mein Kreuz. Es ist nicht zu glauben, aber es geht mir allein dadurch schon besser. Verrückt!
 

Er führt mich in einen kleinen Raum, in dem zwei gemütlich aussehende Sessel stehen, dazwischen ein kleiner runter Eichentisch und an der Wand dahinter steht ein riesiges Bücherregal. Das obligatorische Kreuz, das über der Tür hängt, übersehe ich geflissentlich. Ich mochte das noch nie. Für mich ist es bloß ein Abbild für Folter und Tod in einer Zeit, in der noch die Römer das Sagen hatten. Noch schlimmer finde ich es allerdings, wenn daran noch der dürre, geschundene Jesus hängt. Wie kann man sich so etwas um den Hals hängen? Nun ja, für manch andere bedeutet dieses Symbol sehr wahrscheinlich was ganz anderes, wie für meine Mutter, zu ihren Lebzeiten ...

"Setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee oder Wasser?"

Ich lasse mich auf einen der Sessel fallen. "Einen Tee, wenn es keine Umstände macht." Etwas Alkoholisches wäre mir jetzt lieber, doch das sage ich besser nicht. Und auf Messwein habe ich schon mal gar keinen Bock.

Pfarrer Leiermann nickt mich freundlich an und geht an einen kleinen Schrank, der neben der Tür steht. Als er ihn öffnet steht da doch tatsächlich ein Wasserkocher und eine kleine Kaffeemaschine! Wasser gibt es dort auch. Er setzt das Wasser auf und drückt auf den Knopf, damit es warm wird. Danach stellt er zwei Tassen raus und kramt in einer Box nach Teebeuteln. "Ich hätte Pfefferminze da, grünen Tee, eine exotische Mischung, keine Ahnung was da drinnen ist, und Kamille."

"Ähm ... Pfefferminze bitte."

Pfarrer Leiermann lacht. "Den mochte Ihre Mutter auch immer."

"Ich weiß", flüstere ich und sinke tiefer in den Sessel.

Um mich von der wieder hochkommenden Trauer in mir abzulenken, beobachte ich Pfarrer Leiermann, wie er die Teebeutel aus der Box zupft. Ich bin überrascht, wie jung er ist. Sind Pfarrer nicht immer alte Knochen mit einem stets tadelnden Ausdruck im Gesicht? Ich jedenfalls, kenne nur diese Sorte. Doch Pfarrer Leiermann müsste so ungefähr in meinem alter sein, vielleicht zwei, drei Jahre älter. Mehr aber nicht. Außerdem scheint er wirklich nett zu sein.

Je ein Teebeutel wandert in die beiden Tassen, dann dreht sich der Pfarrer zu mir herum, bleibt aber an den Schrank gelehnt stehen. Ich schaue sofort weg. Hat er bemerkt, wie ich ihn gemustert habe? "Ihr Tod kam sehr plötzlich", sagt er leise und ich kann seinen Blick auf mir spüren. "Ich konnte es erst nicht glauben. Sie war noch so fit." Er schüttelt den Kopf. Der Wasserkocher pfeift. In aller Ruhe brüht er den Tee auf und kommt mit den beiden Tassen zu mir. "Zucker?"

"Nein, danke." Die Tassen wandern auf den kleinen Eichentisch, dann setzt sich Pfarrer Leiermann mir gegenüber.

"Sie haben sie gefunden, nicht wahr?", fragt er mich und lehnt sich zurück. Woher weiß er das?

"Ja, habe ich", gebe ich zu. "Ist wohl das Stadtgespräch gerade."

"Die Leute sind neugierig."

Ich lache auf. "Das ist die Untertreibung des Jahres!", rufe ich, werde aber sofort wieder ernst.

Traurig greife ich nach meinem Tee und spiele mit dem Teebeutel. "Wir sind eine relativ kleine Vorstadt. Hier kennt jeder jeden. Es ist ganz klar, dass darüber geredet wird, wenn jemand stirbt."

"Getratscht trifft es besser."

"Ihre Mutter war bei den Gemeindemitgliedern sehr beliebt. Sie meinen es sicher nicht böse, wenn über ihren plötzlichen Tod geredet wird."

Ich stelle die Teetasse wieder ab und schaue Pfarrer Leiermann an. "Können Sie das bitte lassen? Mich ständig zu siezen?" Es nervt mich, dass er das tut. Keine Ahnung wieso, aber wenn er mich duzten würde, wäre es mir lieber.

"In Ordnung", sagt er. "Ich bin Oskar." Er hält mir seine Hand hin.

"Tore", antworte ich und ergreife sie. Es ist komisch, aber als ich sie berühre, überkommt mich wieder dieses beruhigende Gefühl, wie zu Anfang, als er mich in dieses Zimmer hier geführt hat. Das, und noch etwas anderes, dass ich hektisch versuche zu verdrängen. Mit meinen Gefühlen geht es seit Tagen mit mir drunter und drüber. Ich kann mir selbst nicht mehr trauen. Der kurzzeitig empfundene Verlust, als sich unsere Hände wieder trennen, ist der beste Beweis dafür.

"Hast du dir schon überlegt, wie die Trauerfeier aussehen soll?" Ich schüttle den Kopf.

"Meine Mutter hat das irgendwo schriftlich festgehalten. Welche Lieder gesungen werden sollen und so. Das muss ich erst suchen." Mir wird leicht übel. "Seit mein Vater gestorben ist, war sie total darauf fixiert. Wie alles ablaufen soll, welche Passagen vorgelesen werden sollen. Ich hielt das immer für verrückt, aber jetzt bin ich sogar froh darum." Ich schlucke hart und greife nach dem Tee. Obwohl er noch heiß ist, trinke ich hastig davon. "Das ist doch furchtbar, oder?", frage ich Oskar erstickt. "Dass ich froh darum bin, dass meine Mutter ihre eigene Beerdigung vorgeplant hat."

"Ist es nicht", sagt er ruhig. "Sie wusste, wie schwer es ist, sich nach dem Tod einer geliebten Person um das alles kümmern zu müssen. Sie wollte es dir und deiner Schwester leichter machen."

"Sie hat mir dir darüber gesprochen?" Ich blinzle, weil meine Augen feucht werden. Mist!

"Ja, sehr oft. Sie hat deinen Vater sehr vermisst." Ich nicke. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie selbst nach der Trauerzeit nur noch in schwarz herumgelaufen ist.

Ich seufze und starre das Kreuz über der Tür an. "Sicher bist der festen Überzeugung, dass die zwei jetzt zusammen sind, wo auch immer das sein mag."

"Natürlich", nickt er. "Der Gedanke ist doch recht tröstlich. Am Ende wieder mit der Person vereint zu sein, die man geliebt hat. Mit allen Verwandten und Freunden."

"Kann sein", murmle ich und schlürfe am Tee.

"Du bist nicht gläubig, nicht wahr?"

"Nein." Ich habe keinen Grund zu lügen. Bestimmt hat meine Mutter ihm davon auch erzählt. "Damals schon hielt ich diese ganzen Bibelgeschichten für langweilige Märchen. Mein Vater las mir immer die Märchen der Gebrüder Grimm vor und danach meinte er, das sei alles nur erfunden. Also dachte ich, dass alles erfunden ist, was mir damals vorgelesen wurde. Auch das religiöse Zeug. Na ja ... und als ich älter wurde, fand ich diesen ganzen religiösen Kram für total abwegig." Nervös schiele ich rüber zu Oskar. Ist er jetzt sauer, dass ich so ehrlich war?

Überraschenderweise grinst er. "Weißt du was ich denke?", fragt er mich. Ich verneine. "Es ist egal, ob man daran glaubt oder nicht, solange man überhaupt an etwas glaubt."

Wieder schafft er es, dass ich lächeln muss. "Und das aus dem Mund eines Pfarrers!", empöre ich mich gespielt.

"Ich meine ja nur, deiner Mutter hat es geholfen, an Gott zu glauben. Sie hatte immer die Hoffnung in sich, dass sie eines Tages wieder mit deinem Vater zusammen ist. Das hat sie aufrecht gehalten." So habe ich das noch gar nicht gesehen.

Ich trinke den letzten Rest des Tees aus und stelle die leere Tasse zurück auf den Tisch. "Gibt es schon einen Termin für die Beisetzung?", möchte ich wissen. "Der Bestatter hat gefragt."

"Ja, den gibt es. Samstag, wenn ich mich recht erinnere. Um halb elf beginnt die Kirche und danach die Trauerfeier auf dem Friedhof." Samstag also. Noch fünf Tage.

"Dann muss ich zusehen, dass ich den Umschlag finde, den meine Mutter zurechtgelegt hat", denke ich laut nach.

"Soll ich dir dabei helfen? Ich war oft bei ihr."

"Das würdest du tun?"

"Natürlich. Und wenn wir ihn gefunden haben, bereden wir auch gleich alles."

"Danke", flüstere ich. "Alleine würde ich bestimmt ewig dafür brauchen." Und ich muss da nicht alleine durch.
 

***
 

Auf meiner Arbeitsstelle habe ich mir gestern für den Rest der Woche Urlaub genommen. Nur deswegen kann ich am Dienstag Morgen um halb neun in dem kleinen Häuschen meiner Mutter stehen, und in ihren Schubladen wühlen. Um elf Uhr will Pfarrer Leiermann ... ähm Oskar vorbeikommen. Ich wollte schon etwas früher hier sein, und schon mal dort suchen, wo meine Mutter sicher nicht ihren Lieblingspfarrer haben möchte. Im Schlafzimmer. In ihren Schränken war nichts, auch unter dem Bett im Bettkasten war kein Umschlag in Sicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Dort hatte sie früher immer unsere Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke versteckt. Ich wusste immer vorher, was meine Schwester und ich bekommen haben.

Ich versuche es als nächstes in ihrer Nachttischschublade. Fehlanzeige. Dann vielleicht auf Papas Seite. Und Bingo! "Na wer sagt es denn?" Vorsichtig öffne ich die Lasche des Umschlags und spähe hinein. Ich erkenne Mamas Handschrift. Schnell mache ich den Umschlag wieder zu und laufe in die Küche. Dort landet er auf dem Küchentisch. Besser, ich mache das, wenn Oskar hier ist. Dazu fehlt mir alleine die Kraft. Wieder geht mir durch den Kopf, dass ich eventuell Nadine noch mal anrufen sollte. Die ganze Last der Trauerfeier auf meinen Schultern zu haben, setzt mich ganz schön unter Druck. Was, wenn es meiner Schwester nicht gefällt? Was, wenn ich was Wichtiges vergesse, trotz Mamas Notizen? Ich greife zum Festnetztelefon. Es klingelt nicht lange. /Mama?/ Ich schließe die Augen und unterdrücke ein Seufzen.

"Nein. Ich bin es." Ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung. Sie will es immer noch nicht wahr haben, dass Mama tot ist. "Hör mal, der Pfarrer kommt gleich hier her, um alles für die Messe zu bereden. Willst du nicht doch herkommen?" Nadine schnieft und brabbelt mir ein Nein ins Ohr. "Gut, wie du willst. Falls du deine Meinung noch änderst, komm einfach vorbei."

/Mal sehen./ Aufgelegt. Mal sehen? Das ich nicht lache! Ich verwette meinen Hintern darauf, dass sie nicht vorbei kommt. Meine Schwester wälzt sich viel lieber in ihrem Selbstmitleid. Aber warum rege ich mich eigentlich noch auf? So war sie schon immer. Jedes Mal, wenn wir einen Todesfall in der Familie haben, dreht sie vollkommen am Rad. Sonst war es immer unsere Mutter, die einen kühlen Kopf bewahrt hat, und alles was zu regeln galt, auch geregelt hat. Jetzt bin anscheinend ich derjenige, der da durch muss.

Dann mal los. Weiter mit den Trauervorbereitungen, doch zuvor mache ich in der Zwischenzeit ein wenig Ordnung, nicht, dass das nötig wäre, meine Mutter achtete immer auf Sauberkeit, aber ein bisschen ist seit ihrem Tod liegen geblieben. Außerdem hilft es mir beim Abschalten.

So vergeht die Zeit wie im Flug, und als ich zufällig auf die Uhr im Wohnzimmer schiele, ist es bereits halb elf. Bevor Oskar hier aufschlägt, setze ich mal schnell Wasser und Kaffee auf. Je nachdem, was er trinken möchte. Danach geht es wieder ans Putzen. Ich wische gerade den Staub vom Esszimmerschrank, da klingelt es bereits.

Wie erwartet ist es Oskar, der vor der Tür steht. "Komm rein", bitte ich ihn und trete zur Seite. "Du weißt sicher wo die Küche ist."

"Ich kenne mich hier aus", antwortet er und lächelt mich an. Ich folge ihm und komme nicht umhin, ihm dabei auf den Hintern zu starren. Nur für einen kurzen Augenblick, doch ich fühle mich schuldig dabei. Ich glotze einem Pfarrer im Haus meiner kürzlich verstorbenen Mutter auf den Hintern! Ich hab sie nicht mehr alle, obwohl Oskars Kehrseite wirklich nicht von schlechten Eltern ist ... Konzentriere dich Tore!

"Möchtest du Tee oder Kaffee? Wasser müsste auch noch irgendwo sein."

"Einen Kaffee bitte."

Ich stelle alles auf den Tisch und setze mich ihm gegenüber. "Wie ich sehe, hast du schon gefunden, was du gesucht hast." Er deutet auf den Umschlag.

"Ja, habe ich. Ging schneller als gedacht." Hoffentlich geht er jetzt nicht wieder. Er war ja zum Suchen gekommen. "Bleibst du trotzdem noch?"

Oskar runzelt die Stirn. "Natürlich. Wir müssen doch noch die Messe besprechen." Ach stimmt ja! Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Ich war so auf den Umschlag fixiert, dass ich das Wichtigste vergessen habe. "Hast du schon hineingesehen?"

"Nein. Ich konnte nicht."

Oskar trinkt einen Schluck, stellt die Tasse dann ab und nimmt den Umschlag in die Hand. "Soll ich das machen?"

"Wenn es dir nichts ausmacht." Fast flehend schaue ich ihn an. Er lächelt mich beruhigend an und öffnet die Lasche. Das leise Aneinanderreiben von Papier ist zu hören, als er die Blätter herauszieht.

Er überfliegt die geschrieben Zeilen, nickt hin und wieder und legt sie nacheinander neben sich. "Der hier ist sicher nur für deine Augen bestimmt", sagt er plötzlich und reicht mir das letzte Blatt von den beschriebenen Seiten.

Ich nehme ihn Oskar mit feuchten Fingern ab. "Ihr letzter Wille?" Perplex schaue ich von dem Stück Papier auf direkt in Oskars Gesicht. "Das hat sie einfach so auf ein Stück Karopapier geschrieben?" Ich fasse es nicht!

"Solange es handschriftlich verfasst ist, ist es gültig", klärt mich Oskar auf.

Ich lege das Blatt vor mir auf den Tisch und knete nervös meine Finger. "Ich will das nicht lesen. Nicht jetzt."

"Du wirst nicht drum herum kommen." Ich atme tief ein und wieder aus. "Ich kann ihn dir auch vorlesen, wenn ich darf?"

Ich verziehe meinen Mund. "Dann lese ich ihn lieber selbst", blaffe ich ihn an, versuche aber zu lächeln. Oskar lächelt zurück. Das gibt mir aus irgendeinen Grund genug Kraft, um die ersten Zeilen des Testamentes zu lesen.

Am Ende des Geschriebenen, wische ich mir über die Augen und versuche den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Als es mir gelingt, klammere ich mich an meine Kaffeetasse. "Alles in Ordnung?" Oskar scheint besorgt zu sein. Oder er tut nur so, weil ein Pfarrer eben Mitgefühl zeigen muss. Wie auch immer, es hilft mir. Er setzt sogar noch einen obendrauf und legt seine Hand auf meinen linken Unterarm. Beruhigend drückt er ihn leicht und sieht mich abwartend an.

"Sie hat veranlasst, dass ich das Haus bekomme. Da steht auch eine Adresse, von einem Notar, bei dem sie das alles hinterlegt hat."

"Also doch kein handgeschriebenes Testament."

"Nein." Ich schüttle den Kopf. "Das hier hat sie verfasst, damit meine Schwester und ich Bescheid wissen." Mehr nicht. Kein: Ich liebe euch, oder: Trauert nicht um mich. Nichts dergleichen. "Ich fasse es nicht", flüstere ich. "Sie wollte, dass ich das Haus bekomme?"

"Willst du es nicht?" Ich zucke mit den Schultern. "Das musst du ja nicht sofort entscheiden", sagt er, womit er recht hat. Zuerst liegen dringendere Angelegenheiten an.

Ich wende mich von der Betrachtung dieser To-Do-List ab und versuche nicht weiter darüber nachzudenken. "Und hast du alles, was du für die Messe wissen musst?", frage ich Oskar.

"Was die Wünsche deiner Mutter betreffen ja."

"Gut." Ich nicke und bin beruhigt.

"Aber was ist mit deinen Wünschen?" Ich runzle die Stirn. "Möchtest du, dass ich etwas bestimmtes über sie sage? Irgendeine Episode aus deiner Kindheit, schöne Momente, die ihr zusammen erlebt habt?"

Ich schüttle den Kopf. "Nein ... Na ja, bis auf die Tatsache, dass ich ihr immer viel Ärger gemacht habe, sie es mir aber nie richtig übel genommen hat."

"Das ist schön. So eine Mutter hat nicht jeder."

"Ja ..." Meine Gedanken wandern an den Tag zurück, als ich ihr gebeichtet habe, dass ich schwul bin. "Sie hat sich ständig Gedanken um mich gemacht. Sie wurde nicht schnell wütend, und wenn, dann nur aus Sorge darüber, was andere Leute über uns denken könnten. Mir war das schon immer schnuppe, solange sie nur über mich herzogen, aber wenn es um meine Familie geht, da werde ich wütend."

"Verständlich."

"Darin sind wir uns gleich", grinse ich. "Als ich ihr erzählt habe, dass ich schwul bin und auf Kerle stehe, da hat sie ..." Ich verstumme. Jetzt habe ich mich verplappert!

Ich schaue Oskar an, der meinem Blick jedoch weder geschockt noch angeekelt erwidert. Er wirkt noch nicht mal überrascht. "Schau nicht so erschrocken. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du homosexuell bist."

Ich atme laut aus. "Das hätte ich mir denken können", murmle ich. "Und? Hat sie bei dir für mich um mein Seelenheil gebeten?"

"Nein", sagt er ungerührt. "Eher im Gegenteil. Sie hat von dir geschwärmt." Was hat sie?

"Das sagst du jetzt nur, weil du nicht willst, dass ich etwas Schlechtes von ihr denke."

"Tore? Unterstellst du gerade einem Pfarrer, dass er lügt?" Schluck!

"Nein!" Oh Fuck! Nimmt er mir das jetzt übel? "Es tut mir leid! Wirklich, aber ..." Sein lautes Lachen unterbricht meinen gestotterten Erklärungsversuch. Mir fällt die Kinnlade runter. Der Kerl lacht mich aus! "Das ist fies!", gluckse ich, weil ich inzwischen ebenfalls lachen muss. Oskars Lachattacke ist ansteckend. "Hör auf!"

"Kann nicht."

"Och Mann!" Ich patsche ihm mit der Handfläche leicht auf den Arm. "Ist ja gut jetzt."

"Entschuldige. Du sahst eben nur so lustig aus, wie du versucht hast, dich herauszureden."

"Ausgerechnet ich gerate an einen hundsgemeinen Pfarrer. War ja wieder typisch." Grinsend lehnt sich der Herr Pfarrer zurück und nippt an seiner Tasse. "Dann hast du keine Vorurteile gegen mich?", möchte ich von ihm wissen.

"Warum sollte ich das?" Da fragt er noch?

"Weil ich schwul bin und dazu noch ein Ungläubiger. Alles Dinge, die ein katholischer Pfarrer doch eigentlich verteufeln müsste."

"Ich verteufle niemanden", schmunzelt er. "Höchstens vielleicht den Teufel selbst, aber sonst bin ich ziemlich vorurteilsfrei. Jeder muss selbst wissen, welchen Weg er im Leben einschlägt. Und solange dabei kein anderer Verletzt oder hintergangen wird, ist das für mich in Ordnung." Was für ein liberaler Pfarrer.

"Hätte ich einen Pfarrer wie dich damals im Reliunterricht gehabt, würde ich heute vielleicht ein klein bisschen anders über die Kirche denken", sinniere ich.

"So? Wie war denn der Pfarrer in deiner Schule?"

"Furchtbar!" Mit leichtem Grauen erinnere ich mich an meine Schulzeit zurück. "Der Typ konnte überhaupt nicht mit Kindern. Er schrie, wenn jemand von uns auch nur den kleinsten Mucks machte, oder schlug mit der Faust gegen die Tafel. Einmal hatte er seinen Schlüsselbund nach uns geworfen, doch zum Glück niemanden erwischt."

"Ach du liebe Zeit!" Oskar schüttelt den Kopf. "Auch Pfarrer sind nicht unfehlbar. Kein Mensch ist unfehlbar, auch wenn er vielleicht die besten Absichten dabei hat." Sehr höflich ausgedrückt, wie ich finde.

"Schon, aber jemand, der Kinder unterrichtet, sollte doch wenigstens dafür qualifiziert sein." Schön wäre es, oder? "Unterrichtest du auch?"

"Nein", lächelt Oskar. "Das machen besser die qualifizierten Lehrer." Ich lächle ebenfalls. "So! Dann fangen wir besser mal an, den Ablauf der Trauerfeier zu besprechen."

"Ist gut", nicke ich und trinke meine Kaffeetasse leer. Was bin ich froh, dass Oskar ein so netter und unkomplizierter Zeitgenosse ist. Mit einem anderen Pfarrer, zum Beispiel dem, der mich damals versucht hatte zu unterrichten, würde ich sicher gleich aus dem Fenster springen. Blöd nur, dass die Wohnung ebenerdig liegt.
 

***
 

"Hui! Es ist ganz schön spät geworden!" Ich bin richtig erschrocken eben, als ich aus dem Küchenfenster geschaut habe. Der Himmel ist schon ganz rot.

"Abendrot. Wie schön."

"Das Selbe dachte ich eben auch", antworte ich Oskar und strecke mich. Die Küchenstühle sind auf die Dauer recht unbequem. "Möchtest du noch was?" Ich deute auf den Kuchen, den ich uns vorhin als Mittagessenersatz beim Bäcker geholt habe.

"Nein danke. Ich muss auf meine Linie achten."

"Du? Unter dem weiten Messgewand sieht man die doch gar nicht", feixe ich und grinse frech.

"Aber ich sehe sie, wenn ich morgens in den Spiegel schaue." Ist da etwa jemand eitel? Oskar wird mit immer sympathischer.

"Okay, überredet. Keinen Kuchen mehr für Sie, Herr Pfarrer." Demonstrativ ziehe ich den Teller mit dem restlichen Kuchenstückchen zu mir und genehmige mir noch eins. Oskar lacht und ich lecke mir genüsslich über die Lippen. "Hmmm ..."

"Iss nur. Du kannst es auch vertragen." Oh! Ein Kompliment von Hochwürden persönlich! "Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen", meint er und steht seufzend auf.

"Hab ich dich zu lange aufgehalten?" Das angebissene Stück Streuselkuchen landet auf meinem Teller, ehe ich ebenfalls aufstehe, um Oskar zur Haustür zu begleiten.

"Nein, nein", winkt Oskar ab. "Es war ein schöner Tag."

"Fand ich auch ... Bis auf den Grund deiner Anwesenheit." Oskar legt seine Hand auf meine Schulter. Eine tröstende Geste, die in mir jedoch ganz andere Gefühle weckt. Ich ignoriere sie. Seit Mamas Tod bin ich total durcheinander, ich hatte es schon mal erwähnt, nicht? "Das du hier warst, hat mir sehr geholfen."

"Das freut mich." Oskar lächelt. Seine Hand ruht weiterhin auf meiner Schulter.

"Ich meine das ernsthaft!"

"Daran zweifle ich doch gar nicht", erwidert er und lässt mich wieder los. Wie unangenehm kalt sich die Stelle nun anfühlt. Mich fröstelt es für einen winzig kleinen Moment lang, dann geht es wieder.

Ich habe dies wirklich ernst gemeint. Oskars Anwesenheit, mit ihm alles zu besprechen, über meine Mutter zu reden und zum Schluss sogar noch über ganz andere Themen, hat mir unheimlich gut getan. Lange habe ich nicht mehr so viel mit jemanden geredet. Vor allem ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, oder darauf achten zu müssen, was ich sage. Meine Art kommt nicht bei jedem gut an, und meine Meinungen haben schon oft Streit vom Zaun gebrochen. Aber nicht bei Oskar. Er hat mich ernst genommen und ist auf das eingegangen, was ich gesagt habe. Und wieder einmal schießt mir durch den Kopf, dass es sein Beruf ist, der ihn so sein lässt. Vielleicht hat er insgeheim ja gedacht, was für ein Idiot ich doch bin, doch das glaube ich nicht wirklich. Wenn ich in Oskars Augen sehe, weiß ich, dass er mir nichts vor macht. Wir haben uns wirklich auf Anhieb gut verstanden. Verrückt! Der Kerl könnte tatsächlich ein guter Freund für mich werden. 'Leider nicht mehr ...' Wo kam der Gedanke denn jetzt her?

Wo auch immer er herkam, ich schüttle den Gedanken ab und begleite Oskar noch bis zur Haustür, doch bevor er sie öffnet, um hinaus zu gehen, dreht er sich noch einmal zu mir um. "Deine Mutter hat dich sehr geliebt", sagt er leise zu mir.

Ich zwinge mir ein Lächeln ab, obwohl mir gar nicht danach zumute ist. Aus zweierlei Gründen nicht ... "Sie hat immer viel von dir erzählt, und ich kann sie verstehen. Du bist wirklich ein toller Mensch."

"Danke", antworte ich ihm mich räuspernd. "Das ist nett von dir." Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich habe das dumme Gefühl, dass meine Wangen anfangen zu glühen.

"Das muss dir nicht peinlich sein", grinst Oskar und kommt einen Schritt auf mich zu.

"Ist es nicht!", wehre ich mich halbherzig und versuche einen grimmigen Blick aufzusetzen. Es misslingt wohl, denn Oskar grinst noch breiter. "Es war nur ein langer Tag."

"Das glaube ich dir. Es ist hart jemanden zu verlieren, dem man sehr nahe stand." Ich nicke und studiere die Dielen unter meinen Füßen. "Tore, ich ... also ..." Stirnrunzelnd beende ich das Studium der Holzmaserung und hebe den Kopf an. Stand Oskar eben auch schon so dicht vor mir?

"Was denn?", frage ich ihn, weil er nicht weiter spricht, mich stattdessen bloß merkwürdig ansieht. "Oskar? ... Ist alles in Ordnung mit dir? Langsam bereitest du mir Sorgen." Was um alles in der Welt hat er denn? In mir wächst leise Angst. Hat er so was wie einen Anfall?

Ich strecke meine Hand aus, möchte nach seinem Arm greifen, aber soweit kommt es gar nicht. Denn ehe ich ihm meine Hand auflegen kann, hängt plötzlich mein Gesicht zwischen seinen Händen. "Was ...?" Weiter komme ich nicht. Mein Mund wird verschlossen. Von Oskars!

Ich erstarre zur Salzsäule. Geschieht das hier gerade wirklich? Küsst mich gerade ein Pfarrer?

Ich keuche auf, versuche mich von ihm zu lösen, weil ich irgendwie das dumme Gefühl habe, ich hätte was falsch gemacht, aber Oskar packt mich fester, schiebt mich gegen die Wand und presst seinen Körper gegen meinen. Ich weiß noch immer nicht wie mir geschieht, mein Körper allerdings schon.

Meine Arme schlingen sich um Oskars Rücken und ich drängle mich ausgehungert an ihn. Eine leise Stimme in meinem Kopf macht sich bemerkbar, dass das hier nicht okay ist, dass ich hiermit alles aufs Spiel setze, was da zwischen uns an diesem einen Tag gewachsen ist, aber sie verstummt, als ich das spüre, was zwischen Oskars Beinen gerade anwächst. Er will es! Warum soll ich es dann nicht wollen? Ich bin auf dem besten Wege, es mit einem Pfarrer zu treiben! Das glaubt mir kein Mensch!
 

*
 

Da liegt er. Oskar. Der Pfarrer. Unglaublich, aber es ist wahr. Wir haben letzte Nacht miteinander geschlafen. Wie es genau dazu gekommen ist, kann ich nicht sagen. Das Einzige, das ich sagen kann ist, dass es unglaublich schön war. Beinahe zu schön. Vielleicht sogar zu schön um wahr zu sein? Ich weiß es beim besten Willen nicht.

Nachdenklich liege ich neben ihm und betrachte sein schlafendes Gesicht. Er sieht wirklich gut aus. Und ich weiß nun aus erster Hand, dass er tatsächlich auf seine Figur achtet. Doch es ist nicht nur sein Aussehen, dass es mir gerade so gut wie unmöglich macht, meinen Blick von ihm abzuwenden. Das Kribbeln in meinem Bauch, das Verlangen ihn zu küssen und mein wummerndes Herz sind der Grund dafür. Eindeutiger geht es wohl nicht mehr. Ich bin auf dem besten Wege, diesen Kerl neben mir in mein Herz zu schließen. Mehr, als wahrscheinlich für ihn oder auch für mich gut ist.

Wie ich damit umgehen soll? Auch das entzieht sich meinem Wissen. Ich hatte noch nie was mit einem Pfarrer. 'Oskar ist ein Pfarrer ...' Das Kribbeln in meinem Bauch flaut ab. Stattdessen regt sich Sorge in mir. Ich habe urplötzlich Angst davor, dass er aufwacht, habe Angst vor seiner Reaktion. Ich überlege, wie ich dem entgehen kann. Bis auf aufstehen, duschen und schon mal Frühstück machen, fällt mir nichts ein. Also tue ich das einfach und gebe Oskar Zeit, für was auch immer er sie brauchen könnte.

Leise schnappe ich mir ein paar Kleidungsstücke und schleiche aus dem Zimmer. Im Bad atme ich erleichtert auf. Wie surreal!

Auch nach der Dusche legt sich das sorgenvolle Gefühl nicht. Mit wild klopfenden Herzen öffne ich die Badezimmertür. Ein Blick in mein ehemaliges Zimmer genügt, um erleichtert festzustellen, dass Oskar noch immer schläft. Dann gehe ich mal Frühstück machen. Ich setze Kaffee auf und durchforste die Schränke nach etwas Essbaren. Der Kuchen hat über Nacht draußen gestanden, weshalb er jetzt hart wie ein Brett ist. Den kippe ich lieber gleich in den Biomüll. Schade drum, doch gestern habe ich gar keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet. Ich hatte ja auch etwas viel Besseres zu tun …

Den Tisch eingedeckt, ich habe sogar noch ein paar Scheiben Toast im Tiefkühler gefunden, gieße ich den Kaffee in die Thermoskanne um und beginne mit dem kargen Mal. Auf Oskar zu warten halte ich für unsinnig. Und ihn wecken möchte ich auf gar keinen Fall, obwohl sich alles in mir danach sehnt, wieder zu ihm zu gehen.

Also sitze ich da, denke über den vergangen Tag nach, ohne nach Möglichkeit an die Folgen zu denken, die sich mir nur allzu sicher und allzu schnell offenbaren werden, und bemerke gar nicht, dass Oskar die Küche betreten hat. Erst als er sich räuspert, schaue ich erschrocken auf. Fix und fertig angezogen steht er da. "Guten Morgen", sage ich zu ihm und lächle ihn willkommen an. Allerdings ziert dieses Lächeln nicht lange mein Gesicht.

Oskars Gesichtsausdruck sagt schon alles: Reue, Verlegenheit, Angst. Dazu muss er mich noch nicht mal direkt anschauen, was er auch nicht tut, sondern bloß den Küchenboden mit seinen herumirrenden Augen studiert. Ich schlucke hart und wende den Blick ab. "Ich habe Frühstück gemacht", erkläre ich unnötiger weise, weil ich nicht weiß, was ich sonst zu ihm sagen soll. "Setz dich doch."

"Nein Danke." Bamm! Ich fühle mich, als habe mich gerade ein Linienbus überrollt. "Ich muss los ... Ins Pfarrheim ... Bin schon viel zu spät", stottert er und fährt sich nervös mit den Fingern durch die Haare, ehe er sich auf den Absatz herumdreht, und in den Flur hinaus flüchtet. Die Haustür wird geöffnet, dann wieder zugeschlagen. Er ist weg. Geflüchtet vor mir, vor unserer gemeinsam verbrachten Nacht.

"Und jetzt Tore?", frage ich mich selbst und schiebe den Teller vor mir in die Mitte des Tisches. Hunger habe ich jetzt keinen mehr. Sein Abgang war eindeutig, oder? Er bereut es, mit mir geschlafen zu haben. Obwohl er ja erst alles in Gang gesetzt hat. Wahrscheinlich sucht er jetzt nach Ausflüchten, gibt mir die Schuld an allem. "Ich sollte ihn schleunigst vergessen", rate ich mir. Leider habe ich das dumme Gefühl, dass das gar nicht so leicht wird.
 

***
 

Meine Schwester schnäuzt in ihr Taschentuch. Immer wieder schluchzt sie auf. Musik erklingt. Ich halte ihr mein Gesangbuch hin. Reine Schau. Sie wird nicht mitsingen. Eben so wenig wie ich. Im Playback singen bin ich einsame spitze.

Vorsichtig schiele ich hoch zu Pfarrer Leiermann. Nicht Oskar. Ich darf nicht an Oskar denken, sondern muss mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass der Mann dort hinter dem Alter ein einfacher Pfarrer ist, der die Trauerfeier meiner Mutter begleitet. Mehr nicht.

Ich starre wieder auf die Noten in meiner Hand. Wem lüge ich hier etwas vor? Da vorn steht Oskar. Der Mann, mit dem ich vor wenigen Tagen im Bett war. Der Mann, in den ich mich ... Oh Gott! Ich kann es nicht fassen und will es auch gar nicht wahr haben, aber ich habe mich in ihn verliebt!

Vorhin, als er die Kirche betrat, sich hinter den Altar stellte und die vielen Gesichter in der Kirche angeschaut hat, da wusste ich es. Eigentlich wusste ich es schon vorher, aber nachdem ich ihn das erste Mal nach diesem grauenhaften Morgen wieder vor mir hatte, da konnte ich es nicht mehr leugnen.

Und als sein Blick für wenige Sekunden auf mir gehaftet hatte, da schien die Welt still zu stehen. Ich liebe dich, Pfarrer Oskar Leiermann. Und dafür sitze ich gerade in meiner ganz persönlichen Hölle. Umringt von meiner Familie, meiner Schwester, die immer wieder zusammenzubrechen droht und deiner unmittelbaren Nähe, deiner Stimme, die jede Faser meines Körpers erfasst, sitze ich hier und verbrenne.

Die Musik verstummt. Um mich herum stehen alle auf. Oskar tritt hinter dem Altar hervor. Wie gut er aussieht. Selbst unter diesem weiten Messgewand. Ich sauge seinen Anblick geradezu in mir auf. Wieder ertönt Orgelmusik. Oskar und die Messdiener kommen herunter und laufen zwischen den Sitzbänken entlang auf den Ausgang zu. Jetzt geht es auf den Friedhof. Nadine harkt sich in mir ein. Langsam zockeln wir hinter den Messdienern her. Meine Schwester kann nun gar nicht mehr aufhören zu heulen, und auch in mir kommt die Trauer hoch. Gleich kommt meine Mutter unter die Erde. Ich muss mich kurz an einer der Kirchenbänke festhalten, damit ich nicht beginne zu schwanken. In mir geht alles drunter und drüber. Mein ganzer Körper spielt verrückt.

Draußen scheint die Sonne. Ich höre Vögel zwitschern. Es könnte so ein schöner Tag sein ... "Ich will nicht", jammert Nadine. "Ich kann nicht."

"Du musst. Das müssen wir alle", brumme ich barsch. Es tut mir leid, dass ich sie so anfahre, aber ich habe mit mir selbst zu kämpfen. Sie klammert sich noch fester an meinen Arm und ich halte sie. Das ist das Einzige, das ich im Moment für sie tun kann. Tröstende Worte bedeuten einen Scheiß. Das bringt niemanden wieder. Wie ich es gehasst habe, am offenen Grab meines Vaters ihre scheinheiligen Beileidsbekundungen zu hören. Den Meisten sah man an, dass sie dies nur sagten, weil man das eben bei einer Beerdigung sagt. Heuchler!

Ich bekomme Kopfschmerzen. Dennoch laufe ich mit meiner Schwester im Schlepptau hinter dem Tross her, der Richtung Friedhof marschiert. Und jedes Mal, wenn ich dabei Oskars Rücken zu sehen bekomme, stolpert mein Herz. Was mache ich nur? Wie soll ich das durchstehen? Ich bin hin und hergerissen zwischen der Trauer um meiner Mutter und dem brennenden Verlangen nach Oskar. Ich komme mir vor, als säße ich in einem völlig durchgedrehten und furchtbaren Traum fest. Als ob ich die in den vergangenen Tagen nicht schon genug gehabt hätte!

Irgendwie schaffe ich es bis zum Friedhof. Mittlerweile habe ich meinen Arm ganz um Nadine gelegt. Nachdem sie aus der Ferne den Sarg, der in der Trauerhalle steht, erblickt hatte, wäre sie mir beinahe zusammengesackt. Ich muss sie regelrecht neben mir herschieben, damit sie weiter vorwärts geht. "Willst du dich setzen?", frage ich sie und nicke zu den wenigen Stühlen, die links und rechts neben dem Sarg und den Kränzen stehen. Sie verneint und bleibt vor dem Sarg stehen. Mit zittrigen Fingern nimmt sie den Zweig, der in einem mit Weihwasser gefüllten Gefäß liegt, und benetzt damit den Sarg. Ihn zu berühren traut sie sich nicht, so wie es manch andere aus unserer Familie tun. Ich vollziehe das gleiche Ritual, dann setzten wir uns zusammen endlich auf die Stühle. Meine Knie wollen nicht mehr. Sie sind weich wie Butter.

Nachdem sich der Großteil der Leute einen Platz gesucht haben, geht die Trauerfeier weiter. Ich höre nicht, was Oskar sagt. Es sind wahrscheinlich die Dinge, die meine Mutter vor ihrem Tod bestimmt hatte. Ich versuche nicht zu oft auf Oskar zu starren, betrachte stattdessen die Blumen. Anders weiß ich mir gerade nicht zu helfen. Es ist einfach nur total surreal …
 

***
 

Irgendwie habe ich es geschafft, und die Beerdigung überstanden. Meine Schwester ist standhaft geblieben, sogar, als sie den Sarg in die Erde abgelassen haben. Jetzt muss ich nur noch den Tröster überstehen, der ausgerechnet im Pfarrheim stattfindet. Selbstredend ist Oskar auch anwesend. Er steht bei meiner Schwester, der ihr die Hand hält und verständnisvoll dreinschaut, während sie ihm ihr Herz ausschüttet. Ich beneide sie ...

"Tore?" Ich drehe mich halb um die eigene Achse. Frau Krämer!

"Hallo Frau Krämer", begrüße ich Mamas Bekannte. Die beiden hatten immer ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zueinander. "Ich habe Sie noch gar nicht gesehen heute."

"Ich habe mich dezent im Hintergrund gehalten", meint sie leise, wobei sie sich dicht zu mir rüber beugt. Die alte Dame hört schwer, und wenn sie flüstert, dann hört man es meist schon von weiter weg. "Auf diesem Wege mein herzliches Beileid, Tore. Ich wollte mich am Grab nicht aufdrängen."

Ich lächle sie an. "Danke." Sie ist eine der wenigen, deren Beileid nicht geheuchelt ist. "Haben Sie schon etwas gegessen? Kaffee oder Kuchen?"

"Ich bin versorgt, danke. Aber wenn Sie mir ihren Arm leihen würden?"

"Natürlich." Ich geleite Frau Krämer sicher bis zu ihrem Platz, der bei einer Reihe anderer Damen ist, die in etwa ihr Alter haben. Alles rüstige Frauen, deren Männer alle schon unter der Erde liegen. Wahrscheinlich hat sich meine Mutter deshalb so gut mit ihnen verstanden, obwohl sie noch um einige Jährchen jünger als Frau Krämer und ihre Bekannten war.

Ich lasse die fleißig miteinander quasselnden Frauen wieder alleine und mische mich unter die anderen Trauergäste. Hier und da nickt mir jemand zu. Ich nicke zurück. "Tore?" Wieder spricht mich jemand an. Doch diesmal würde ich mich gerne verkriechen, vor demjenigen davonrennen, auf der anderen Seite jedoch einfach nur in seine Arme fallen.

Langsam drehe ich mich um und erblicke Oskar vor mir. Er wirkt wieder nervös, kann es aber ganz gut verstecken. "Danke für die einfühlsame Trauerfeier", sage ich zu ihm. Eigentlich habe ich von dem ganzen Zauber kaum was mitbekommen, aber das ist auch wieder so was, was man tun muss. Sich beim Pfarrer für seine mitfühlenden Worte bedanken.

Oskar lächelt mich an. Ein gespieltes Lächeln. Ich kenne sein richtiges Lächeln schon viel zu gut. Ich träume jede Nacht davon, wenn ich mal keine Albträume habe, wie er mich beschimpft, und mich beschuldigt, ihn verdorben zu haben. "Gerne doch", erwidert er und schaut sich um. Wir stehen nicht direkt bei den anderen, die sich inzwischen alle am Buffet gütlich tun, sondern ein wenig abseits. "Bist du heute Abend zuhause? In dem Haus deiner Mutter meine ich."

"Was?" Habe ich mich eben verhört?

"Ich würde gern zu dir kommen und mit dir reden." Die anderen um uns herum lösen sich in Luft auf.

"Ich bin da", flüstere ich atemlos. Wieder lächelt Oskar, nickt und läuft an mir vorbei. Ich kann sein Rasierwasser riechen und schließe die Augen. Oskar kommt nachher zu mir!
 

***
 

Zuhause, beziehungsweise in dem Haus, in dem ich groß geworden bin, laufe ich unruhig von einem Zimmer ins andere. Oskar hat sich noch nicht blicken lassen. Seit seinem Versprechen, mich heute Abend zu besuchen, leide ich unter noch größeren Gefühlsschwankungen, als sowieso schon. Während des restlichen Trösters war es besonders schlimm. Oskar direkt vor meiner Nase, die beinahe greifbare Trauer, die über allem hing, gepaart mir der Neugier, warum er mich sprechen möchte und der Sehnsucht nach ihm. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, was darin endete, dass ich mich auf meinem Sitzplatz zurückzog, und versuchte nicht aufzufallen. Außerdem plagten mich erneut Gewissensbisse. Ich saß während der Beerdigung da, und konnte nur noch an Oskar denken. Schlimmer geht es doch kaum!

Auch jetzt fühle ich diese Schuld in mir. Ich kann es nicht abstellen, so sehr ich mich auch darauf freue, dass Oskar mit mir reden möchte. Die Aufregung wächst von Minute zu Minute. Was er mir bloß zu sagen hat! Hoffentlich nichts Schlechtes. Verständlich also, dass ich nervös aufspringe, als es an der Haustür klingelt.

Bevor ich sie öffne, atme ich tief aus und wieder ein und käme mir mit den Fingern grob das Haar zurück. "Hallo", begrüße ich Oskar und lächle ihn an, doch wieder kann ich es nicht lange aufrecht erhalten. Der Ausdruck in seinen Augen sagt alles. Er hat mir definitiv nichts Gutes zu sagen. "Komm rein", bitte ich ihn und trete zur Seite. "Wollen wir in die Küche?"

"Nein", lehnt Oskar ab und bleibt mitten im Flur stehen. Meine Brust schnürt sich zu. Das bedeutet ja dann wohl, dass er bei mir nur einen kurzen Besuch eingeplant hat. Am liebsten würde ich wegrennen und mich irgendwo verkriechen, nur um nicht das zu hören, was er im Begriff ist mir zu sagen. Aber ich schätze, da muss ich jetzt durch. Ich versuche mich innerlich dagegen zu rüsten und meine Mimik ungerührt aussehen zu lassen. Das ist das Einzige, das ich tun kann, fürchte ich.

Oskar betrachtet die alte Garderobe meiner Mutter, sucht sichtlich nach den richtigen Worten. Als er sie gefunden hat, sieht er mich traurig an. Mein Herz wird ganz schwer, und jede Faser meines Körpers drängt mich dazu, ihn in meine Arme zu ziehen. Doch natürlich verweigere ich mich diesem Drang. "Tore, das mit uns ... Das was passiert ist ..." Oskar leckt sich nervös über die Lippen und kann meinem Blick nicht mehr stand halten. Ich dagegen starre ihn weiter an und verbiete mir jede Regung. "Das hatte ich nicht geplant. Es ist passiert und es war auch schön. Sogar sehr schön, aber ..." Nun sieht er mich wieder direkt an. "Ich habe viel nachgedacht die letzten Tage. Über dich, über mich, über das, was passiert ist. Ich habe dich gern Tore, mehr als vielleicht gut für mich ist." Meine Maske fällt. Stück für Stück. Bedeutet das etwa, dass ...? "Ich habe Gefühle für dich, die ich nicht haben darf." In meinem Kopf summt es so laut, als startet dort ein Jumbojet. Ich bekomme keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Seine Worte werden von dem startenden Jet durcheinandergewirbelt, ergeben keinen Sinn mehr für mich, hinterlassen nur einen süßen-herben Nachgeschmack. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung?

"Und das bedeutet?", frage ich ihn geradeheraus.

"Das bedeutet, dass ich gehe", antwortet er leise. "Ich habe gestern um eine kurzzeitige Versetzung gebeten." Mich trifft der Schlag. Im wahrsten Sinne. Nun weiß ich, was dieser Spruch wirklich bedeutet. Es ist wie ein fester Schlag direkt in die Magengrube, der hinauf wandert, und einem das Herz zusammenquetscht, als wäre es eine überreife Frucht.

"Du gehst weg? Wegen mir?" Ich muss mich an dem Türrahmen hinter mir festhalten. Der Boden schwankt plötzlich. Ich will nicht dass er geht! Ich weiß, es ist idiotisch und würde sowieso nichts bringen, auch wenn er hier bliebe, aber ich will ihn wenigstens in meiner Nähe wissen. Wir hätten uns aussprechen können, und Freunde werden können. Ja, das klappt nie, aber vielleicht hätte es das bei uns.

Oskars Adamsapfel hüpft auf und ab. "Größtenteils wegen mir", flüstert er.

"Und wohin? Für wie lange?"

"Das weiß ich noch nicht." Ich hole tief Luft. Mir meiner Fassung bin ich völlig am Ende.

"Wann gehst du weg?"

"Morgen." Schlag Nummer zwei. Heftiger sogar noch als der erste.

"Morgen schon?" Ein eisiges Band legt sich um mein Herz. "Kommst du denn wieder?"

"Irgendwann. … Ja, sicher."

"Irgendwann?", krächze ich und kann es einfach nicht glauben. Das muss ein böser Traum sein! Meine Augen werden feucht, auch wenn ich krampfhaft versuche es zu unterdrücken. Ich kann nicht. Mir geht es beschissen und es tut so weh!

Oskar weicht meinem Blick aus und dreht sich halb zur Haustür. "Es tut mir leid Tore", sagt er noch, dann öffnet er sie. "Es tut mir so leid."

Meine Glieder sind schwer wie Blei. Ich kann nur zuschauen wie er aus dem Haus, aus meinem Leben verschwindet. Ich greife mir an die Brust und starre auf die geschlossene Haustür, die vor meinen Augen verschwimmt, als meine Tränen endgültig die Oberhand gewinnen. Oskar ist weg. Er hat mich einfach zurückgelassen und mir fehlt die Kraft, um ihm nachzulaufen und ihn an seinem Weggang zu hindern …
 

******
 

Sicher hasst ihr Oskar jetzt, oder? Nehmt es ihm nicht übel. Er ist ja wieder zurückgekommen.

Wie es mit den beiden jetzt schlussendlich weitergeht, erfahrt ihr wieder im nächsten Kapitel.

Also bis dann. ^^

Kapitel 17 - Etwas wagen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 17 - Etwas wagen (Ohne Adult)

Moin Leute.

Leider habe ich gestern total versemmelt, das nächste Kapitel hochzuladen. Ich war so vertieft ins Schreiben, dass ich alles um mich herum vergessen habe. Selbst eure Reviews haben darunter gelitten. -__-“ Aber das habe ich jetzt alles nachgeholt. ^^
 

Bevor es losgeht, noch einen Link für euch, den ich gerne weitergeben möchte. Es hilft vielleicht, ein Zeichen zu setzen und denen in Berlin zu zeigen, dass es endlich Zeit für eine Wende wird! https://www.openpetition.de/petition/online/endgueltige-gleichstellung-der-homo-ehe
 


 

Kapitel 17 - Etwas wagen (Ohne Adult)
 

~Tore~

Viertel nach sechs. Noch kein Lebenszeichen von Oskar.

Ich werde langsam nervös und bekomme zugegebenermaßen ein bisschen Angst. Macht er wieder einen Rückzieher? Ist er klammheimlich abgehauen und kommt diesmal nie wieder zurück? Eigentlich schätze ich Oskar nicht so ein, aber was weiß ich schon? Im Moment bin ich ein reines Nervenbündel, das keinen klaren Gedanken fassen kann. Beinahe wie damals, als er nach der Beerdigung meiner Mutter bei mir war. Damals habe ich auch auf ihn gewartet, ohne richtig zu wissen, was auf mich zukommt.

Ich knäule den Putzlappen in meiner Hand zusammen und schließe die Augen. Wenigstens meine Wohnung glänzt jetzt von oben bis unten. Wenn ich nervös bin oder auf etwas warte, putze ich meistens. Dabei muss ich nicht groß nachdenken und es lenkt mich ab. Allerdings ist das schlecht, wenn es nicht mehr viel zu putzen gibt, weil man schon den ganzen Tag über wie ein Besessener den Putzlumpen geschwungen hat.

Mir tun langsam echt alle Glieder weh. Also lasse ich den Putzlappen, Putzlappen sein und ziehe mich ins Wohnzimmer zurück. Zwanzig nach sechs. Die Zeit kriecht heute nur so dahin, und gleichzeitig rast sie an mir vorbei. Komisch. Oskars Auftauchen hat sogar Auswirkungen auf das Raum-Zeit-Kontinuum. Ich drehe wie ein Satellit um ihn herum, dabei würde ich viel lieber mit Volldampf gegen ihn knallen ... Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Was denke ich da schon wieder?

Mit einem unruhigen Grummeln im Bauch setze ich mich auf meinen Lieblingssessel und starre immer wieder zur Haustür. Er muss doch bald mal kommen! Oskar wollte eigentlich nur nachschauen, ob in der Kirche und bei ihm zuhause alles in Ordnung ist. Dauert das so lange? Wieder überlege ich, ob ich ihn anrufen soll, aber ich verbiete es mir zum wiederholten Male. Ich mag nicht aufdringlich sein, oder ihn gar bedrängen.

Ich wende seufzend den Blick von der Tür und gucke meinen Fernseher an. Er ist ausgeschaltet. Noch. Ein Knopfdruck auf die Fernbedienung, und schon berieselt mich das früh abendliche TV-Programm. Ich bleibe bei den Simpsons hängen. Das Einzige, dass man sich um diese Uhrzeit anschauen kann, es sei denn, man steht auf gestellte 'Realityshows' mit leihenhaften Darstellern.

Von den Simpsons kenne ich beinahe alle Folgen. Diese hier ist neuer, sprich, sie ist im Breitbildformat. Dennoch kenne ich sie. Homer hat einen Drink von Moe bekommen, der seine Erinnerung an den vorigen Abend ausgelöscht hat. Jetzt versucht er händeringend sich zu erinnern, weil Marge und die Kinder verschwunden sind. Ich weiß natürlich schon wie es ausgeht. Eine Überraschungsparty auf einem Boot mit Duff-Men, von dem Homer glaubt, Marge hätte ihn mit ihm betrogen. Hat sie natürlich nicht.

Nur mit mäßigem Interesse verfolge ich das Geschehen auf dem Bildschirm. Es lenkt mich ab, wenn auch nicht so erfolgreich wie meine Putzorgie. Oskar, wo bleibst du? Homer steht gerade auf der Brücke und wird von seinen Schwägerinnen hinunter geschubst. Er fällt und beginnt sich zu erinnern. Just in diesem Augenblickt piepst mein Handy, das noch draußen im Flur liegt.

Homers Sturz ist vergessen. Wie ein geölter Blitz springe ich auf und spurte zu meinem Handy. Eine SMS. "Von Oskar!" 'Es tut mir leid. Ich schaffe es heute Abend nicht mehr. Meine Vertretung möchte noch einiges mit mir besprechen.' Ich beiße mir auf die Unterlippe. Zu sagen, ich sei enttäuscht, wäre die pure Untertreibung. "Scheiße!" Mein Handy donnert auf die Garderobe. "Er kommt nicht." Ich lasse mich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. Habe ich es nicht ganz tief in mir drinnen geahnt? Dass sich Oskar niemals für mich entscheiden wird, sondern für DIE?

Das taube Gefühl in meiner Brust lässt mich schwanken. Ich will nicht schon wieder darüber nachdenken, über die Kirche, die einem mit ihren Dogmen das Leben schwer macht, solange man dies zulässt. Bei Oskar ist es natürlich etwas anderes, aber auch irgendwie nicht ... Argh! Hör auf damit, Tore! Nicht wieder den Kopf darüber zerbrechen, es bringt doch sowieso nichts.

Ich stoße mich von der Wand ab und gehe unsicheren Schrittes zurück ins Wohnzimmer, schalte den Fernseher aus und laufe in mein Schlafzimmer. Dort falle ich wie ein gefällter Baum ins Bett. Ich kann nicht mehr. Irgendwann ist es auch für mich zu viel. Ein Jahr lang warten und hoffen. Dann die Freude, ihn wiederzusehen. Doch statt einer endgültigen Gewissheit bloß wieder quälende Ungewissheit. Und nun versetzt er mich, obwohl wir doch so dringend miteinander reden müssen. 'Ich bin ihm nicht wichtig. Nicht so wichtig wie DIE!'

Ich drücke das Gesicht ins Kissen unter mir. "Ich bin ihm einfach nicht wichtig genug."
 

***
 

~Tore~

Wirre Träume quälen mich. Ich weiß, dass ich träume, aber ich verharre zwischen wachwerden und weiter träumen. Einen Zustand, den ich oft habe. Ich renne auf etwas zu, kann aber nicht erkennen, auf was genau. Ich weiß bloß, dass ich viel zu langsam bin, und es mir entwischt. Neben mir rauscht ein Zug entlang. Er ist schnell genug. Mit ihm könnte ich es schaffen, wenn ich mich doch nur an ihm festhalten könnte! Die verschwommenen Gesichter der Fahrgäste darin, starren mich anklagend an. Einige von ihnen erheben sogar den Zeigefinger und wedeln mit ihm hin und her, als sei ich ein kleiner Schuljunge, der etwas angestellt hat, und dies gefälligst sein zu lassen hat.

Ich werde wütend. "Ihr könnt mich mal! Ihr wisst doch gar nichts über mich!", brülle ich über das Tosen des Zuges hinweg. Der Schaffner findet das nicht allerdings nicht besonders lustig. Es missfällt ihm, dass ich seine Gäste anbrülle. Er hängt sich halb aus dem fahrenden Zug, bläst die Backen auf und pustet in seine Schaffnerpfeife. Sie hört sich an wie eine Klingel, stelle ich belustigt fest. Immer wieder klingelt dieses Ding munter drauf los, wobei die Backen des verärgerten Schaffners immer dicker werden.

Schließlich rauscht das Zugende an mir vorbei. Der Zug wird immer kleiner und verschwindet hinter dem Horizont. Ich werde langsamer und bleibe stehen. Weiter zu laufen macht keinen Sinn mehr. Aber dann … Es klingelt immer noch. Wie kann das sein? Verwirrt schaue ich mich um. Ich stehe in einer Kirche. Sind das die Glocken im Turm? Nein. Das kann nicht sein. Wieder klingelt es. Ich drehe mich um und schaue zur großen Holzpforte hinter mir. Sie besteht aus einer Flügeltür. Die von mir aus gesehene linke Seite steht offen. Eine dunkle Silhouette steht dort. Ihr Arm ist nach links ausgestreckt. Fast sieht es so aus, als klingle er an der Kirchentür. 'Das sieht nicht nur so aus', stelle ich fest. 'Da klingelt wirklich jemand!'

Ich schrecke auf.

Ich liege in meinem Bett. Noch immer auf dem Bauch, wie ich bemerke. Beinahe hätte ich mir das Kreuz ausgehebelt, so abrupt bin ich aufgeschreckt. Wirr angle ich nach dem Lichtschalter, finde ihn, und schalte das Licht an. Stöhnend presse ich meine Augenlider zusammen. Was für ein verrückter Traum!

Ich schiele auf die Uhrenanzeige auf meinem Wecker. Halb zwölf erst. Warum bin ich wach geworden? Wegen dem Traum? Und plötzlich weiß ich es wieder, denn meine Klingel ertönt. Das Klingeln war nicht nur in meinem Traum. Da ist jemand an meiner Haustür!

Ich kratze meinen armen Körper von der Matratze und laufe den Flur entlang auf die Haustür zu. Da ich noch nicht ganz wach und bei mir bin, frage ich mich noch nicht mal, wer das sein könnte, sondern öffne einfach die Tür. "Ja?" Ich schiele durch den offenen Türspalt. Es ist dunkel und ich erkenne meinen Besucher nicht sofort.

"Es tut mir leid, dass ich dich noch störe, aber ich musste dich sehen." Ich blinzle. Mehrmals.

"Oskar?" Ich öffne die Tür noch ein Stückchen weiter, damit Licht auf ihn fällt.

"Kann ich reinkommen?" Mein Herz macht einen Sprung. Dann jedoch erinnere ich mich wieder daran, dass er mich vorhin versetzt hat. Wegen IHNEN.

"Um diese Uhrzeit?", frage ich ihn und würde mich am liebsten sofort selbst Ohrfeigen dafür.

Oskar wirkt unsicher, hält meinem Blick nicht stand. "Ich dachte, wir könnten jetzt noch miteinander reden."

"Mitten in der Nacht?" Mein Herz schreit mich an, ihn doch einfach an mich zu ziehen, doch mein verletzter Stolz hindert mich daran.

"Es tut mir leid", entschuldigt er sich erneut. "Ich bin nach dem Gespräch gleich zu dir gefahren, weil ich dich einfach sehen musste. Das es so spät ist, habe ich erst gar nicht bemerkt. Ich komme morgen noch mal." Oskar lächelt mich an und wendet sich zum Gehen.

"Nein! Warte!" Ich erwische ihn am Oberarm und halte ihn fest. "Bleib. ... Bitte." Ich kann ihn nicht gehen lassen! Zwar bin ich immer noch gekränkt, doch er ist jetzt hier. Das ist alles was zählt, nicht wahr?
 

Ich führe ihn ins Wohnzimmer. "Du hast ja ganz schön umgeräumt. Die Wohnung ist kaum wieder zu erkennen", meint er und setzt sich auf die Couch. Ich nehme wieder mit dem Sessel vorlieb, obwohl ich mich viel lieber neben ihn setzen würde. Doch aus irgendeinem Grund traue ich mich das nicht. Oder besser gesagt, ich traue der ganzen Situation nicht. "Sieht gut aus. So hell. Das gefällt mir. Kein Vergleich zu vorher."

"Mutters Möbel haben mich zu sehr an sie erinnert", erkläre ich ihm. "Nadine hat sich das meiste unter den Nagel gerissen. War mir aber ganz recht." So musste ich nur wenig wegschmeißen.

"Das ist schön", lächelt Oskar, atmet dann tief ein und sieht mich an, nachdem er das undekorierte Wohnzimmer genug bewundert hat. "Ich wollte dich nicht versetzen."

"Schon okay", lüge ich.

"Nein, ist es nicht. Du hast jedes Recht, sauer auf mich zu sein. Schließlich müssen wir dringend eine Lösung finden." Dem pflichte ich uneingeschränkt bei.

Aber "Gibt es die überhaupt? Die eine Lösung, die all das beseitigt, das zwischen uns steht?" Das laut auszusprechen, schmerzt. Die Wahrheit ist bitter genug, sie aber auch noch auszusprechen, ist noch schlimmer. Es macht alles noch realer als es sowieso schon ist.

"Wenn wir sie suchen, finden wir sie", sagt Oskar leise, dennoch optimistisch.

"Und du bist tatsächlich bereit dazu?"

"Natürlich." Er sieht mich beinahe erschüttert an.

"Auch, wenn du bis zum Äußersten gehen müsstest?" Ich muss es wissen! Steht er zu mir? Zu unseren gegenseitigen Gefühlen?

"Du meinst, wenn ich mein Amt niederlegen müsste?" Ich nicke schwach. "Wenn du dazu bereit wärst, ebenfalls mit mir zusammen zu sein, mit allen eventuellen Problemen und Konsequenzen, dann ja. Dann würde ich das tun." Ich traue mich kaum zu atmen. Hat er das gerade wirklich gesagt? "Willst du trotz diesem Risiko mit mir zusammen sein?"

"Ja", antworte ich heiser, weil ich es immer noch nicht ganz glauben kann. "Ich liebe dich. Mit oder ohne Probleme und Konsequenzen." In meiner Brust tanzt mein Herz Tango. Möchte er es tatsächlich wagen?

Mein ganzer Körper steht unter Strom, als Oskar von der Couch aufsteht und auf mich zukommt. Vor mir geht er in die Knie und nimmt meine Hände in seine. Jetzt erst fällt mir auf, dass ich sie in meine Hose gekrallt hatte. "Ich liebe dich auch." Ich klammere mich regelrecht an seine Hände und bin froh, dass ich sitze. Er hat es gesagt! Ganz direkt und eindeutig!

"Bekommen wir das hin? Meinst du, wir finden eine Lösung?" Das beschäftigt mich noch immer. Nach all den Monaten, die ich mit Grübeln verbracht habe, scheint es mir fast unmöglich eine Lösung für unser … sagen wir … Dilemma zu finden.

"Wenn wir es wirklich wollen, bekommen wir das auch hin." Oskar sagt das so überzeugend, dass ich anfange, ihm fast schon zu glauben. "Es wird schwer und sicher nicht einfach, aber ich weiß, dass wir das können. Ich habe genug überlegt und gewartet Tore. Jetzt bin ich bereit, mich dem zu stellen." Mein Herz taumelt. Wäre da nur nicht immer noch mein Verstand, der skeptische Zwischenrufe in mein Ohr brüllt und meint, dass sich das alles viel zu schön anhört, um wahr sein zu können Und dazu hat er auch allen Grund.

"Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss", sage ich leise. "Wegen der Nachricht, die du angeblich von mir bekommen hast."

"Was ist damit?" Oskar sieht zu mir auf. Seine Augen strahlen so eine Wärme aus, dass es mich heiß überläuft. Trotzdem fühle ich mich immer noch so verdammt unsicher und ängstlich. Er dagegen strotzt nur so von Ruhe und Kraft. Wo nimmt er das nur her? Er ist doch derjenige, der alles riskiert.

"Ich weiß, woher die Nachricht kommt", beginne ich ihm zu erklären.

"Tatsächlich?" Ich nicke. "Woher?"

"Mein neuer Nachbar, Ralf. Ich habe ihm von dir erzählt."

"Du hast dich jemanden anvertraut?"

"Keine Sorge! Er schweigt!" Ist er jetzt sauer?

"Das meine ich damit nicht", schmunzelt er. "Ich bin bloß froh, dass du jemanden zum reden hast."

"Das bin ich auch", flüstere ich. Ich kann wirklich froh sein, dass Ralf gegenüber eingezogen ist. Nicht nur ich, wohlgemerkt. "Jedenfalls war er es, der mit dem Küster gesprochen hat. Er ist in die Kirche, ohne mir davon zu sagen, und hat ihm erzählt, dass ich dringend mit dir reden muss." Es ist raus. Oskar kennt nun die Wahrheit über die mysteriöse Nachricht. "Ich hatte nichts damit zu tun. Wenn Ralf nicht gewesen wäre, dann ..."

"Dann wäre ich vielleicht etwas später zurückgekehrt, aber ich wäre auf jeden Fall zu dir zurückgekommen", beendet Oskar meinen Satz, nicht ganz so, wie ich ihn beendet hätte.

"Wirklich?" Er bejaht. "Und was ist mit dem Zeichen?"

"Was soll mit ihm sein?"

"Na das war doch gar keins."

Oskar lacht leise und richtet sich auf, sodass wir auf Augenhöhe sind. Er ist so nah ... "Wer sagt denn, dass das kein Zeichen war?", fragt er mich und umfasst mein Gesicht. Ich widerspreche ihm nicht. Wieso auch? Ihm ist es egal wie es zu der Nachricht oder dem Zeichen gekommen ist. Dann sollte es mir auch egal sein, oder?

Wir schauen uns in die Augen. Meine Unsicherheit löst sich in Luft auf. Er ist hier, bei mir. Das ist alles was zählt. Oskar überbrückt die wenigen Zentimeter, die uns noch trennen, und küsst mich. Alle Anspannung fällt von mir ab. Seit langer Zeit, so habe ich das Gefühl. Und es ist herrlich, nein! Befreiend!

Oskar küsst mich erst noch sanft, fast so, als müsse er sich erst wieder erinnern, wie man küsst, dann wird er jedoch immer mutiger. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und öffne für ihn meinen Mund. Oskar seufzt leise und seine Zunge schlüpft in meine Mundhöhle. Unser erster Kuss, nachdem er geflüchtet ist, und es fühlt sich so schön, so richtig an!

Übermütig werfe ich mich auf ihn. Oskar schmunzelt, packt mich und zieht mich vom Sessel runter. Wir landen auf dem Boden, ich rittlings auf seinem Schoß. Ich kichere nun ebenfalls, weil es mir vorkommt, als würden gerade Tonnen von Geröll von meiner Brust rutschen. Ich bin so glücklich und froh, dass ich es gar nicht glauben kann, wie viele Sorgen und Kummer seit Monaten auf mir gelastet haben. Ich fühle mich plötzlich so leicht, dass ich glaube zu schweben! Ich schwebe zusammen mit Oskar!

Ich umarme ihn besitzergreifend und drücke mich fest an seinen Oberkörper. 'Geh nie wieder weg', denke ich, weil ich mich nicht traue es laut zu sagen.

Unterdessen wandern Oskars Lippen an meinem Kinn hinab, schmusen über meinen Hals bis zu meinen Schultern, dann wieder hinauf, wo er an meinem Ohr stoppt. "Darf ich heute Nacht bei dir bleiben?", möchte er wissen.

"Da fragst du noch?" Oskar klopft mir auf die Hüfte, woraufhin ich von ihm runter steige, jedoch neben ihm sitzen bleibe. Oskar hingegen steht auf und hält mir einladend die Hand hin. Ich ergreife sie und lande in seinen Armen. "Und jetzt?", frage ich ihn grinsend.

"Da fragst du noch?", lacht er leise und zieht mich mit sich. Direkt ins Schlafzimmer. Dieses Mal habe ich nichts dagegen. Das hier ist jetzt mein Schlafzimmer, nicht mehr das meiner Mutter.

Ich drehe mich zu Oskar herum und kreuze meine Hände hinter seinen Nacken. Worte sind unnötig. Wir versinken in einen tiefen Kuss. Langsam entkleiden wir uns gegenseitig, bis wir uns nackt gegenüberstehen. Kein einziges Mal habe ich dabei die Augen geöffnet, habe nur gefühlt und seinen erhitzen Körper an meinem gespürt. Jetzt aber kann ich nicht mehr warten, öffne die Augen und blicke geradewegs in Oskars. Das Grau-Blau seiner Augen sieht dunkler aus als sonst. Der Glanz in ihnen sagt alles.

Ich lasse ihn keine Sekunde aus den Augen, nehme seine Hände und geleite ihn zum Bett. Als ich mit den Kniekehlen an die Matratze stoße, setze ich mich darauf und schaue erst jetzt an seinem Körper hinab. Mit den Fingerspitzen zeichne ich den Weg nach, wandere über seine Brust, seine Seiten und über seinen Bauch, bis ich stoppe, genau vor seinem Bauchnabel.

Wie oft habe ich mir das hier vorgestellt? Viel zu oft, stelle ich fest, als ich an das vergangene Jahr zurückdenke. Es ist, wie nach einer langen Reise nach Hause zu kommen, als läge ich nach ewigem Heimweh endlich wieder in meinem eigenen Bett. Ich habe ihn so sehr vermisst!
 

******
 

Zum Schluss nochmal ein paar Worte und einen Link von mir.

Ich weiß, es ist ein schwieriges Thema, und ich mag gar nicht lange darüber schreiben und erklären, besonders, weil es sich über Glaubensfragen unendlich viel diskutieren lässt. Und ich möchte auch keine großartigen Diskussionen anfachen, eben weil es so viele Meinungen gibt. Außerdem dürfte mein Standpunkt klar sein. ^_-

Für alle, die es interessiert, was überhaupt geschieht, wenn ein Pfarrer eine Beziehung eingehen möchte, habe ich hier einen Link, der mir hilfreich zur Seite stand, auch wenn ich in meiner Story nicht bis ins Detail darauf eingehe. http://www.wir-sind-kirche.de/?id=665&id_entry=5414

Kapitel 18 - Zerplatzte Seifenblase

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 18 - Zerplatzte Seifenblase (Ohne Adult)

Kapitel 18 - Zerplatzte Seifenblase (Ohne Adult)
 

~Ralf~

"Bin schnell duschen!"

"Beeil dich aber. Das Essen ist gleich fertig!"

"Jaha!" Es rumpelt. Das war die Badezimmertür. Ich grinse und schüttle dabei leicht den Kopf. Orkan Björn rauscht durchs Haus. Ist das nicht schön?

Ich stelle die Herdplatte auf die schwächste Stufe und räume das Besteck auf den Tisch. Kaum zu glauben, aber seit Björns achtzehnten Geburtstag sind schon eineinhalb Wochen vergangen. Heute ist schon Mittwoch. Unser Alltag ist super eingespielt, trotz der kurzen Zeit, und mein neuer Job macht mir ebenfalls viel Spaß. Björn beginnt ab übernächste Woche seine Ausbildung im Schmuckladen. Passend zum Beginn des ersten Lehrjahres. Gestern in der Mittagspause war er sogar in der Fahrschule und hat sich über die Kosten für den Führerschein informiert. Mir ist beinahe die Kinnlade runter gerasselt, als ich gesehen habe, was man für einen Lappen heutzutage hinblättern muss. Die Kosten kann er unmöglich alleine stemmen. Gut, dass ich noch genug von meiner Abfindung habe. Fehlt nur noch ein zweites Auto, oder im Notfall ein Roller, womit ich Björn zwar nur ungern über die Straßen brettern sehe, aber vielleicht haben wir ja Glück und finden einen guten Gebrauchtwagen. Ihr seht, bei uns stehen alle Ampeln auf Neubeginn. So gut wie, jedenfalls.

"Ralf?!"

"Ja?"

"Es ist kein Shampoo mehr da!"

"Ich bring dir welches." Komisch. Hatte ich die neue Flasche nicht schon ins Bad gebracht?

Ich rühre noch mal schnell die Soße um, damit sie nicht anbrennt, und durchsuche dann die Einkaufskörbe, die noch halb gefüllt auf der Küchenzeile herumstehen. Nichts von dem Shampoo zu sehen. Wahrscheinlich habe ich sie auf dem Weg zum Bad irgendwo stehen lassen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Weg dorthin zurück zu laufen und nach der Flasche zu suchen. Irgendwo muss sie ja sein, und allzu weit weg kann ich sie nicht gestellt haben.

Ich latsche über den Flur, überfliege alles und verfolge meinen Weg zurück, doch nichts. Im Schlafzimmer das Selbe. "Björn?" Ich betrete das Bad. "Das Shampoo muss hier irgendwo sein."

"Ich brauche es nicht mehr", säuselt Björn links neben mir, und ehe ich mich versehe, hängt er auch schon an mir und leckt mir mit seiner Zungenspitze über den Hals.

"Was wird das?", lache ich und drehe mich zu ihm herum.

"Nichts", gluckst er. Sein nackter und noch immer feuchter Körper presst sich an mich. Sein Haar duftet frisch und fruchtig. Also war das Shampoo gar nicht verschwunden?

"Hast du mich etwa angelogen?"

"Vielleicht ..." Er ist und bleibt ein Frechdachs, was sich auch gleich wieder bestätigt, denn seine weichen Lippen streifen über mein Kinn. Ihr Ziel ist klar.

"Björn?"

"Hm?"

"Das Essen brennt an."

"Mir egal", haucht er, ehe sein Mund meinen verschließt. Ich gebe nach. Ich kann gar nicht anders. Trotzdem behalte ich im Hinterkopf, dass ich einen Topf auf dem Herd stehen habe. Wir sollten uns besser beeilen.
 

*
 

"Kannst du alleine stehen?" Er schwankt bedrohlich, nickt aber. Vorsichtig lasse ich ihn los. "Dusch dich nochmal ab und dann komm essen." Ich gebe ihm einen leichten Klaps auf seinen Hintern und verlasse das Bad. Sein leises Lachen bringt mich zum Seufzen. Hätten wir heute Abend doch nur Zeit für uns!

In der Küche wasche ich mir fix die Hände und stelle danach die Töpfe auf den Tisch. Kaum fertig, kommt Björn in die Küche geschlurft. "Ich hab richtig Kohldampf!", sagt er und setzt sich an den Tisch.

"Kein Wunder", grinse ich. Er schenkt mir einen frechen Augenaufschlag und haut sich den Teller mit Nudeln voll. "Ja, iss nur. Du bist noch im Wachstum."

"Ey! Gar nicht wahr!" Ich grinse mir eins ins Fäustchen. Er ist immer so verdammt niedlich, wenn er sich aufregt.

"Ich rede nicht von deiner Körpergröße", erkläre ich ihm und setze mich ihm gegenüber.

"Von was da...?" Eben hat es bei ihm klick gemacht. "Du nun wieder", brummt er und greift nach der Soßenkelle. Ich foppe ihn einfach zu gerne.

~Björn~

Mann! Ich falle auch immer wieder darauf rein! Seine ständigen Anspielungen verstehe ich meistens immer viel zu spät. Und er lacht sich darüber halb tot. Nicht laut, aber ich sehe, dass er innerlich am brüllen ist. Na warte, Freundchen. Dich krieg ich auch noch!

"Schmeckt's?", fragt mich Ralf, nachdem ich ein paar Gabeln voll Nudeln vertilgt habe.

"Lecker", schmatze ich und lecke mir über die Mundwinkel. Natürlich bemerke ich Ralfs Blicke dabei. In mir reift ein Plan. Da ich mein Vergnügen schon hatte (auch wenn's für meinen Geschmack viel zu kurz war), nehme ich mal stark an, dass Ralf, der nichts von seinen Massagekünsten hatte, ein klein wenig Druck haben könnte. Und so kriege ich ihn!

Wieder führe ich eine Gabel voll Nudeln zum Mund, drehe sie, und lasse sie langsam aus meinen Mund gleiten. "Hmm ..." Die sind aber auch gut! Noch einmal über die Lippen lecken, die Mundwinkel dabei nicht vergessen und ... oh je! Da ist wohl was daneben gegangen. Macht nix, wozu habe ich einen Daumen. Mit dem Daumen über die Unterlippe, Daumen in den Mund und einmal saugen bitte. Aber nicht zu schnell. Schön langsam und nicht vergessen die Zunge einzusetzen.

Aus den Augenwinkeln habe ich während dieser Aktion Ralf voll im Blick. Ans Essen denkt er gerade weniger. Es klappt! Ich lecke noch ein paar mal über meinen Daumen, ich will ja nicht, dass der voll mit Soße ist, und piekse wieder in die Nudeln. "Die Soße ist wirklich cremig. Ist da Sahne dran?"

"Äh ... ja!"

"Schmeckt man. Die geht direkt auf die Hüften." Ich kann förmlich sehen, wie vor Ralf geistigen Auge mein nacktes Fahrgestell aufploppt. "Wenn mein Arsch fett wird, bist du dran schuld."

"Bis dein Arsch fett wird, wird es noch etwas dauern, du Spargeltarzan." Höi!

"Bin ich dir etwa zu dünn?", frage ich ihn zickig. Ich weiß, was für eine Wirkung meine giftigen Blicke auf ihn haben.

"Das nicht, aber ..."

"Aber was?"

"Ein paar Kilos mehr auf den Rippen täten dir auch nicht schlecht." Boha! Mein Plan ist vergessen. Findet Ralf mich etwa wirklich mich zu dürr?!

Ich lasse meine Gabel fallen und verschränke die Arme vor der Brust. "Zufällig finde ich mich nicht zu dünn!"

"Reg dich doch nicht auf. Das Gewicht kommt mit dem Alter automatisch." Demonstrativ fasst er sich an den Bauch. Das er alles andere als fett ist, muss ich nicht noch extra erwähnen. Was mich allerdings stört, ist der Teil mit dem Alter.

"Wunderbar!", rufe ich. "Ich bin dir zu dürr und zu jung. Weißt du was? Ich ziehe bei Domi ein. Solange, bis ich alt und fett bin. Vielleicht bin ich dir ja dann recht!" Ich stehe auf und drehe mich wütend um. Ich muss hier raus, sonst sage ich in meiner Wut noch etwas, das Ralf verletzen könnte. Und das will ich ganz und gar nicht, auch wenn ich ihm gerade gerne den Hals umdrehen würde. Doch bevor ich aus der Küche gestürmt bin, fängt dieser Idiot lauthals an zu lachen. Okay. Er will es nicht anders. "Was ist so lustig?!", keife ich ihn an und drehe mich in seine Richtung. "Ralf!"

"Sorry Süßer, aber das hast du verdient." Hä? "Mit deiner Zungen- und Daumenakrobatik hast du mich ganz schön auflaufen lassen wollen, hm?" Ralf grinst noch immer. Er hat es mitbekommen?!

"Fuck! Du merkst auch alles!" Und wieder lacht er. Diesmal muss ich jedoch mitlachen. Reumütig setze ich mich wieder an meinen Platz. Ich war wohl doch ein klitzekleines bisschen zu aufbrausend gewesen. Schon wieder.

"Inzwischen kenne ich dich schon ganz gut, mein Süßer." So so ... Tut er das?

"Dann bin ich dir nicht zu dürre?", frage ich ihn.

"Bist du nicht", antwortet er. "Und jetzt iss. Ich hab noch was vor mit dir heute Abend."

"Was denn?" Ich kann mir schon denken, WAS er mit mir vor hat ...

"Wir besuchen Tore."

"Oh." Da habe ich aber komplett daneben gelegen. "Warum?" Aber vor allem: "Müssen wir?" Ich wäre viel lieber mit Ralf alleine.

"Ja, wir müssen. Wir sind eingeladen."

"Hat er Geburtstag?"

"Nein. Er möchte uns Oskar vorstellen." Er will was?

"Echt?"

"Echt."

"Geil!"

Ralf grinst. "Ich dachte, du kennst Oskar schon."

"Flüchtig. Immer wenn ich in die Kirche musste, habe ich ihn notgedrungen gesehen. Aber geredet habe ich mit ihm noch nicht."

"Dann bin ich ja nicht der Einzige", meint Ralf. Wir lächeln uns an und essen weiter.

Heute werden wir also Tores Pfarrer kennenlernen. Was ihn endlich dazu bewogen hat? Die vergangenen Tage hat sich unser lieber Herr Nachbar ziemlich rar gemacht. Wahrscheinlich hat er die Zeit mit seinem Liebsten genossen und die Zeit nachgeholt, in der sie sich nicht gesehen haben. Ralf und ich haben auch nichts anderes gemacht, wenn wir zusammen waren. Jede gemeinsame Minute ist kostbar, und bei den beiden Gegenüber müssen diese Minuten noch kostbarer sein, als es sie vielleicht für Ralf und mich sind. Eigentlich unvorstellbar für mich. Jede noch so kleine Sekunde zusammen mit Ralf ist für mich ein Traum.

Für Tore und Oskar ist es sicher nicht leicht. So wie zu Anfang bei Ralf und mir. Was bin ich froh, dass wir uns nicht mehr verstecken müssen! Jetzt können uns alle mal, und wir können immer und jeder Zeit miteinander tun was wir wollen. Na ja, nicht jeder Zeit, aber eben, wenn wir zusammen sind. Und wir brauchen uns vor niemanden mehr zu rechtfertigen. Anders als Oskar, wenn das mit ihm und Tore rauskommt. Aber es fällt mir ehrlich gesagt schwer, deswegen traurig zu sein, obwohl es das auf jeden Fall ist. Dazu geht es mir einfach viel zu gut. Nach langer, langer Zeit mal wieder.

Die Arbeit im Schmuckladen gefällt mir richtig gut. Anders, als ich mir erst gedacht habe, suchen mich keine schlimmen Erinnerungen von meiner Mutter heim. Klar war es erst mal schwer dort zu sein, aber es wird besser. Es macht mir wirklich Spaß. Nur, dass Ralf dabei nicht in meiner Nähe sein kann, nervt. Domi meinte, dass sei normal wenn man ineinander frisch verliebt ist. Bei ihm und seiner Freundin ist es auch so gewesen. Da wäre man am liebsten Tag und Nacht bei dem anderen. Ich frage mich, ob diese 'frisch verliebt Phase' jemals abflaut. Falls ja, dann hoffe ich, dass sie sich damit noch ein wenig Zeit lässt, denn obwohl wir uns hin und wieder angiften, ist es doch ganz schön reizvoll. Wie bei unserem Kennenlernen. Nur, dass die Versöhnungen danach ziemlich anregend sind, jetzt, wo wir endlich dürfen.

"Auch noch einen Schluck Kaffee?" Ralf wedelt mit der Kanne.

"Gern." Wir lächeln uns an. Sofort bekomme ich wieder dieses wahnsinnige Bauchkribbeln.

Mal überlegen, mit was ich Ralf als nächstes ärgern kann. Hihi.
 

***
 

~Tore~

Ich bin aufgeregt. Obwohl ... Aufgeregt ist noch viel zu harmlos ausgedrückt. Ich bin richtig nervös und meine Hände sind feucht. Ich bin fast schon panisch! "Jetzt zappel doch nicht so."

"Kann nicht anders", erkläre ich mein ständiges Fingerdrücken und Fußwippen.

"Eigentlich müsste ich nervös sein. Ich bin doch derjenige, der heute deine Freunde kennenlernt."

"Meinen Nachbarn und seinen Partner", korrigiere ich Oskar.

"Ich dachte, dein Nachbar und sein Partner wären deine Freunde?"

"Ja, sind sie ja auch, aber ... Ach ich weiß auch nicht!" Ich bin total neben mir, und daran, ruhig sitzen zu bleiben, ist jetzt erst recht nicht mehr zu denken.

Ich stehe auf und laufe rüber in die Küche. Oskar folgt mir. "Hey. Mach dir deinen Kopf."

"Mach ich aber."

"Sie wissen aber doch schon länger von mir, hast du mir gesagt."

"Tun sie."

"Und bis jetzt haben sie niemanden von uns erzählt. Laut deiner Überzeugung werden sie das auch nicht."

"Werden sie nicht."

"Also, was soll dann heute Abend groß passieren?" Ich zucke mit den Schultern. "Na siehst du? Hör auf dir Sorgen zu machen und komm her." Seufzend gleite ich in Oskars Arme. "Wenn ich mir keine Sorgen mache, dann musst du das auch nicht. Ich vertraue deinem Urteil."

Er hat ja recht. Ich habe keinen Grund für meine Aufregung. Meine beiden Nachbarn werden nicht überall herumrennen, und das mit Oskar und mir breittreten. Nichts dergleichen wird passieren, und dennoch kann ich mir nicht erklären, wieso es mich so fertig macht, dass Ralf und Björn meinen geliebten Oskar heute kennenlernen. Vielleicht, weil es unsere Beziehung irgendwie offiziell macht, und damit all den Problemen, die auf uns zukommen werden, die Türen öffnet.

Mir wäre es wirklich lieber, wenn Oskar und ich weiterhin nur zu zweit blieben. Schwachsinnig, ich weiß. Aber ich würde noch so gern etwas länger in dieser verliebten Blase schweben, in der wir seit gut einer Woche sitzen. Nur wir beide. Allein zweisam sein. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das mit dem heutigen Abend ein Ende haben wird. Wieso ich so fühle, weiß ich selbst nicht. Es ist wie eine Art Vorahnung. Ein echt komisches und beängstigendes Gefühl.

"Ich guck mal, ob die Getränke genug gekühlt sind", beschließe ich und lasse Oskar los, weil mich plötzlich wieder die Unruhe packt.

"Tu das", schmunzelt er. "Und ich gehe mal zur Haustür."

"Du willst gehen?" Erschrocken drehe ich mich zu ihm um. Hat er doch vor, das ganze abzublasen?

"Nein. Aber deine Nachbarn, Schrägstrich, Freunde sind auf dem Weg zu uns." Er zeigt aus dem Fenster. Tatsächlich! Sie kommen schon über die Straße gelaufen!

"Ich mach auf!", halte ich Oskar auf und husche an ihm vorbei. "Setz dich!" Ich höre ihn seufzen. Ja, ich weiß doch wie bescheuert ich mich aufführe! Lass mich doch!

Bevor Ralf oder Björn klingeln können, reiße ich die Tür auf. Ralf zuckt zusammen und glotzt mich wie eine Mondkuh an. "Wow. Automatischer Türöffner?"

"Äh ... Ja. Kommt rein." Ralf runzelt die Stirn und tritt an mir vorbei.

"Nabend Tore. Alles klärchen?" Ich lächle Björn verkniffen an und sehe zu, dass er schleunigst im Haus verschwindet. Als die Tür vor mir ins Schloss fällt, atme ich tief ein. Hoffentlich hat sie niemand eintreten sehen!

Shit! Langsam glaube ich echt, dass ich an Verfolgungswahn leide.

"In die Küche", deute ich den beiden an und lasse ihnen den Vortritt. Mein Magen grummelt, als ich ihnen nachlaufe und nach ihnen die Küche betrete.

Oskar steht schon da, lächelt breit und streckt die Hand nach Ralf aus. "Hallo. Ich bin Oskar."

"Ralf", stellt sich mein Nachbar vor. "Und das ist Björn." Stolz legt Ralf seinen Arm um seinen Kleinen, während Oskar dann ebenfalls seine Hand ergreift.

"Wir kennen uns schon, glaube ich", meint Oskar zu ihm.

"Ja, vom Sehen." Björn nickt und lächelt leicht.

"Und du bist also der berühmte Oskar. Tore hat ständig nur von dir geredet." Ahh!

"Ach was Ralf!", gehe ich dazwischen und sende ihm giftige Blicke zu, die ihm klar machen sollen, dass er darüber nicht mit Oskar reden soll. "Das hab ich gar nicht! ... Setzt euch doch." Stuhlbeine werden herumgerückt. "Mögt ihr was trinken?"

"Setzt dich doch auch erst mal", meint Oskar zu mir und rückt den Stuhl neben seinem nach hinten, damit ich Platz nehmen kann. Also gut. Angespannt setzte ich mich neben Oskar. Björn und Ralf setzen sich uns gegenüber. "Tore hat mir auch schon viel über euch erzählt. Er hat mir gesagt, dass wir euch die Nachricht zu verdanken haben, die mir den letzten Anstoß gegeben hat, wieder zurück zu kommen."

"Tore hat dir davon erzählt?" Ralfs Blick huscht kurz zu mir, dann wieder zu Oskar. "Ich hoffe, du bist deswegen nicht sauer gewesen."

"Auf keinen Fall. Diese Nachricht hat mir erst bewusst gemacht, dass es keinen Sinn hat, davon zu laufen." Oskar ergreift meine Hand, die verkrampft in meinem Schoß liegt. "Egal wie lange ich weggeblieben wäre, es hätte sich nichts nichts verändert. Weder an meinen Gefühlen, noch an der Situation, in der wir uns befinden." Ich senke den Kopf. Was würde ich dafür geben, wenn wir dieses Thema bis ans Ende unserer Tage totschweigen könnten! Nur leider geht das nicht. Nicht, wenn wir zusammen bleiben wollen.

"Ist es denn echt so schwer, dass ihr beide zusammen sein könnt?", fragt Björn in die Runde. "Ich weiß ja, dass die Kirche solche Menschen wie wir es sind, nicht gerne sieht, aber wir leben doch nicht mehr im Mittelalter."

"Ja, das wissen wir, aber sag das denen!", fauche ich unbeabsichtigt laut. Drei erstaunte Augenpaare ruhen auf mir. "Tschuldigung", murmle ich. "Das regt mich nur so auf."

"Verständlich", meint Ralf und nickt. "Habt ihr schon überlegt, wie ihr weiter machen wollt?" Ich atme tief durch. Welch unterhaltsames Gespräch für ein erstes Kennenlernen! Ich ahnte ja, dass dieses Thema aufkommen würde, doch gleich zu Anfang? Das wird mir fast zu viel gerade. "Ist die Frage zu persönlich?", fragt Ralf, als hätte er meine Gedanken gelesen.

"Wir wissen es noch nicht", antwortet Oskar ungeachtet dessen. "Wir versuchen es erst einmal geheim zu halten. Bis dahin hoffe ich, dass wir einen Weg für eine gemeinsame Zukunft gefunden haben." Wieso hört sich das in meinen Ohren bloß so selbstbetrügerisch an?

Weil es das ist. Es kann nicht funktionieren, es sei denn, Oskar gibt sein bisheriges Leben auf, was ich unmöglich von ihm verlangen kann. Auf der anderen Seite jedoch, können wir uns auch nicht ewig verstecken. Und genau das ist es, was mir der Besuch von Ralf und Björn vor Augen hält. Oskar und ich werden nicht ewig unter uns sein können. Nach den wundervollen Abenden, die wir beide miteinander verbracht haben, die schönen Stunden zu zweit und die noch schöneren Stunden danach im Bett, dringt langsam aber sicher die reale Welt zu uns. Wir werden uns entscheiden müssen, oder besser gesagt, Oskar wird es tun müssen. Sie, oder ich. Und das bereitet mir die meiste Angst. Was, wenn ich ihm bald nicht mehr reiche, oder noch schlimmer, er nach Wochen, Monaten oder Jahren glaubt, einen Fehler begangen zu haben, nachdem er sich für mich entschieden hat?

"Das bedeutet, ihr habt eine gemeinsame Zukunft?", möchte Ralf von uns wissen. Die Frage kommt so überraschend, dass ich erst mal meine Gedanken sortieren muss. Aber sie passt. Haben wir eine Chance, auf eine gemeinsame Zukunft?

"Ja", antwortet Oskar im überzeugten Tonfall und drückt meine Hand. Die Angst in mir weicht ein kleines bisschen und ich klammere mich an das Gefühl der Hoffnung, das nach diesem einen kleinen einfachen Wort in mir aufkommt. Oskar hat sich entschieden, bei mir zu bleiben. Doch wieso kann ich dem Frieden nicht trauen?

"Wie schön! Das freut mich!" Ralf strahlt bis über beide Ohren, und für einen winzigen Augenblick könnte ich glatt daran glauben, dass alles gut verlaufen wird. Ich versuche daran festzuhalten, was nicht leicht ist. Aber es ist schön, dass Ralf sich so sehr für uns freut. Mein neuer Nachbar ist wirklich zu einen meiner besten Freunde geworden. Nicht nur ein Nachbar, wie ich fälschlicher weise vorhin zu Oskar gesagt habe. Falls es hart auf hart kommen sollte, können wir uns auf ihn und Björn verlassen. Darüber bin ich mir vollkommen sicher, und es beruhigt mich. Dennoch: Die Unruhe in mir bleibt. Wie lange wird das zwischen Oskar und mir noch geheim bleiben? Wie lange wird es noch gut gehen, ehe die gnadenlose Welt da draußen über uns hereinbricht?
 

***
 

~Tore~

"Sag mir Bescheid, wenn ich was für dich und deinen Bruder tun kann, ja?"

"Ist gut." Björn nickt und versucht zu lächeln, aber man merkt ihm an, dass das Thema ihn immer noch sehr belastet. Ist ja auch kein Wunder. Sie haben seinen Bruder in ein Heim gesteckt und bis jetzt haben sie Björn noch nicht zu ihm gelassen. Und das nur, weil das Verfahren gegen seinen Adoptivvater noch nicht angelaufen ist. Ralf hat schon ein paar Mal dort angerufen, aber keinen Erfolg gehabt, wie die beiden uns vorhin erzählt haben. Björn tut mir leid, aber wie ich mitbekommen habe, könnte Oskar etwas dagegen unternehmen. Er kennt wohl den Leiter und ist manchmal in diesem Heim, um bei Problemen zu helfen, oder um mit den Jugendlichen zu sprechen.

Das ist auch so etwas, was Oskar nicht mehr machen dürfte, wenn er sich dazu entschließen würde, das Amt als Pfarrer niederzulegen. Soweit ich weiß, darf ein Pfarrer während seiner Laisierung, sprich seiner 'Rückversetzung' keinerlei Tätigkeiten nachgehen, die mit Seelsorge und dergleichen zu tun haben. Und falls es herauskommen würde, dass Oskar schwul ist, dann ließe man ihn bestimmt sowieso nicht mal mehr in die Nähe dieses Kinderheims. Man lässt doch keinen schwulen Pfarrer alleine mit einem hilflosen Jugendlichen! Klischeedenken, ich weiß, doch so ist es leider nun mal. Ich weiß, dass er seine Tätigkeit liebt. Frau Krämer spricht immer in den höchsten Tönen von ihm. Er hat ihr damals sehr geholfen, als ihr Mann gestorben ist. Bei mir war es ja nicht anders. Oskar ist da, wenn er gebraucht wird. Sei es beruflich oder privat. Selbst wenn er bis spät Abends noch bei jemanden ist, Trauerarbeit oder dergleichen geleistet, kommt er immer mit einem Lächeln zu mir und ist weder gehetzt noch mürrisch. Oskar ist diese eine große Ausnahme. Er steht nicht nur hinter seinem verstaubten Altar und zitiert aus der Bibel, sondern hilft wo er kann, und wenn ich nur daran denke, ihm das wegzunehmen, bekomme ich große Gewissensbisse. Ich kann es nicht verhindern, doch ich gebe mir teilweise die Schuld, dass Oskar jetzt in dieser Zwickmühle steckt. Obwohl wir beide daran 'Schuld' sind. Die wahren Schuldigen sind für mich jedoch diese Kuttenträger in Rom. Warum machen sie es einem so schwer?!
 

"Tschau Tore." Ralf drückt mich an sich. "Es war ein schöner Abend."

"Ja, finde ich auch. Danke, dass ihr rüber gekommen seid."

"Jederzeit wieder", lacht er und klopft mir auf den Rücken. "Wie wäre es, wenn wir am Wochenende gemeinsam grillen?" Ein heißer Ball entzündet sich in meinem Bauch. "Keine Sorge. Niemand wird Oskar zu Gesicht bekommen, dafür sorgen wir schon." Sieht man mir meine Angst so sehr an?

"Wenn ich mich mal einschalten könnte", meint Oskar neben mir. "Erstmal: Grillen ist gebongt. Und zweitens: Ich kann grillen mit wem und wann ich will. Keiner kommt da auf falsche Gedanken." Seinen Optimismus hätte ich gern! "Nichts spricht gegen einen Abend mit Freunden."

"Okay. Dann Grillen am Samstag Abend, ja?"

"Machen wir", antworte ich auf Ralfs Frage. Unwohl ist mir dabei allerdings schon, doch da Oskar damit einverstanden ist, will ich nichts dagegen sagen. Und eigentlich fände ich einen Grillabend richtig toll. Wenn da nur nicht diese eine Sache wäre ...

"Bis dahin habe ich die Terrasse Blickdicht." Ralf zwinkert mir zu und ich bringe es nicht fertig, ein Grinsen zu unterdrücken. "Man sieht sich. Tschüss, und schlaft gut." Wieder ein Zwinkern, dann legt er Björn den Arm um die Schultern. "Wir werden es auf jeden Fall." Und siehe da, Björn wird rot.

"Viel Spaß", schnurre ich den beiden zu und fühle mich endlich wieder ein Stück weit wie der alte Tore. Wenn ich Björn ärgern kann, ist der Tag gerettet. Na ja, Tag ist gut. Viel ist davon nicht mehr übrig.

Als ich die Haustür hinter ihnen geschlossen habe, drehe ich mich zu Oskar. Der lächelt mich an und streckt eine Hand nach mir aus. Ich ergreife sie und lasse mich an seinen Oberkörper ziehen. Mit geschlossenen Augen bette ich den Kopf auf seine Brust. "Es war wirklich ein schöner Abend", sagt er leise.

"Ja."

"Du hast dir umsonst Sorgen gemacht."

"Reib's mir noch unter die Nase." Oskar lacht und tupft mir seinen Mund auf den Kopf. "Bleibst du hier?"

"Natürlich." Im Prinzip hätte ich ihn das gar nicht fragen müssen. Oskar schläft jede Nacht bei mir, seitdem wir nach der langen Zeit wieder zueinander gefunden haben, wenn ihr versteht, was ich meine.

Zu zweit räumen wir noch schnell die Küche grob auf und machen uns danach bettfertig. Ich bekomme noch immer wildes Herzklopfen, wenn ich Oskars Kram, den er in meinem Bad deponiert hat, sehe. Am Abend nach unserer gemeinsamen Nacht, tauchte er mit einer Tasche in der Hand bei mir auf. "Für den Notfall", meinte er. "Könnte ja sein, dass es jemanden auffällt, wenn ich zu dir komme, und Tags drauf wieder gehe und dabei die selben Klamotten wie am Vortag trage." Wie hätte ich dem widersprechen können?

Nun hat er, neben einigen Wechselkleidungsstücken, auch eine Zahnbürste, einen Rasierer und alles was dazu gehört bei mir untergebracht. Wir sind wirklich ein völlig anderes Paar, als es andere sind. Na ja ... Ralf und Björn sind ebenfalls nicht wie andere Pärchen. Aber dann doch irgendwie schon. Jetzt, wo Björn volljährig ist, ist nichts mehr Verwerfliches an ihrer Bez... "Träumst du schon?" Oskar holt mich aus den Gedanken.

"Nee ... Ich musste gerade nur über etwas nachdenken."

"Hm ... Du siehst niedlich aus, wenn du nachdenkst." Ich werde gegen das Waschbecken gedrückt. Oskar ist mir plötzlich ganz nah. Ich kann seinen heißen Atem auf meinem Gesicht spüren, ehe seine Lippen auf meine treffen.

Ich glaube, wir sind hiermit bettfertig genug ...
 

***
 

~Tore~

Ein penetrantes Piepsen weckt mich. Mein Wecker. Ich stelle ihn aus, nachdem ich mich vergewissert habe, dass Oskar ebenfalls wach ist. Er sieht mich aus müden, verquollenen Augen an. "War ein bisschen zu spät gestern", brumme ich mit rauer Stimme.

Oskars Mundwinkel ziehen sich nach oben. "Aber es war schön." Dem kann ich nur beipflichten.

Ich drehe mich ganz zu meinem Mann um und schiebe den Arm unter seinen hindurch. Mein Gesicht verberge ich an seiner Brust. "Nicht wieder einschlafen", wispert er und krault meinen Nacken.

"Du bist aber so gemütlich." Er lacht, schiebt mich jedoch leider von sich. "Och man."

"Ich muss aufstehen." Ich seufze und drehe mich auf den Rücken. Oskar schlurft zum Schrank, wo er seine Kleidung deponiert hat. "Kann ich die anderen Sachen bei dir lassen?"

"Klar. Stopfe sie zu der anderen Dreckwäsche." Er nickt und verschwindet aus meinem Schlafzimmer. Kurz danach schlägt die Badezimmertür zu.

Müde wische ich mir über's Gesicht. Halb fünf. Was für eine unmenschliche Zeit zum Aufstehen. Oskar geht extra so früh. Weswegen, muss ich nicht erst erklären. Der einzige Haken ist, wenn ihn jemand sieht, fragt er sich bestimmt, warum der Pfarrer so früh bei mir ist. Zwar fährt Oskar immer mit dem Rad und benutzt einen Schleichweg durch die Büsche, ehe er es in dem hinteren Teil meines Gartens abstellt, doch wie man es angeht, immer bleibt dieses Restrisiko. Es ist zum Schreien!

Die Bettdecke fliegt von mir. Jetzt, wo ich schon mal wach bin, kann ich auch aufstehen und Kaffee aufsetzen. Gesagt getan. Ich decke den Tisch und höre der leisen Musik im Radio zu. Im Hintergrund wird gerade die Dusche ausgestellt. Oskar dürfte gleich aus dem Bad kommen. Und so ist es auch. "Was für ein Service", grinst er, als er die Küche betritt.

"Ich kann doch meinen Mann nicht ohne was zu Essen aus dem Haus schicken."

"Stimmt. Das wäre ja auch ein Skandal." Oskar umschlingt meine Hüfte und ich verschränke meine Finger hinter seinem Nacken.

"Sehe ich auch so", flüstere ich, bevor wir uns küssen. Ein lautes Knacken treibt uns wieder auseinander. "Kaffee ist fertig."

Oskar setzt sich, während ich die Kanne hole. "Was machst du heute?", frage ich ihn.

"Heute kommt ein junges Paar vorbei, um die Taufe ihrer Tochter zu besprechen."

"Wie schön." Noch ein armes Kind, das in die Fänge der Kirche gerät. Ich bin echt verbittert. Was könnte mein Leben so schön sein. Ich habe den Mann meiner Träume bei mir, in meinem Job läuft es gut, aber nein! DIE machen uns das Leben unnötig schwer. "Das ist so unfair!", platzt es aus mir heraus.

Oskar guckt mich verwundert an. "Die Taufe?", fragt er mich stirnrunzelnd.

"Was? ... Nein!", winke ich ab. "Wieso verbietet man euch, mit dem Menschen zusammen zu sein, den man liebt? Selbst wenn ich eine Frau wäre, wäre es dir nicht erlaubt, offiziell eine Partnerschaft mit mir einzugehen. Was soll falsch daran sein?" Mein Puls rast. Oskar und ich haben noch nicht wirklich darüber gesprochen, haben viel lieber unsere gemeinsame Zeit miteinander genossen. Aber jetzt muss ich das einfach raus lassen.

Oskar legt das Brot weg, das er sich eben geschmiert, aber noch nicht hinein gebissen hat, und sieht mich nachdenklich an. "Gar nichts ist falsch daran, es ist aber nun mal so, dass ein Pfarrer die Aufgabe hat, sich ganz um seine Gemeinde zu kümmern. Wir dienen Gott." Ich mache einen sarkastischen laut, den ich einfach nicht zurückhalten kann.

"Und dafür gebt ihr euer Glück auf."

"Tore ..." Oskar ergreift meine Hand, drückt sie fest und streichelt mit seinem Daumen über meinen Handrücken. "Für viele ist genau das die Definition ihres Glücks. Ich dachte lange Zeit, dass das auch für mich gilt, aber dann kamst du. Ich muss nichts aufgeben. Wir finden einen Weg. Das habe ich dir doch versprochen."

"Und welcher Weg soll das sein? Wir dürfen in ihren Augen nicht zusammen sein. Wahrscheinlich dürftest du noch nicht mal meine verfluchte Hand halten!" Wütend ziehe ich sie unter seiner hervor, was mir augenblicklich leid tut. Ich atme ein paar mal tief ein und versuche mich zu beruhigen. Es bringt nichts, Oskar anzuschreien. Er kann ja auch nichts dafür.

Ich höre Holz über den Boden kratzen. Oskar ist aufgestanden, geht nun um den Tisch herum und zieht sich einen Stuhl heran, um sich neben mich zu setzen. "Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht so anschreien", flüstere ich und lehne mich an ihn.

"Es ist in Ordnung, wenn du sauer bist. Ich bin ja auch nicht zufrieden mit der Situation. Aber es geht erst mal nicht anders."

"Ich weiß." Resigniert versuche ich zu lächeln und kraule Oskar über die Wange. "Iss lieber und geh, bevor es noch heller wird", sage ich zu ihm und greife mir auch eine Scheibe Brot. Meine Wut bringt uns nicht weiter. Und seien wir mal ehrlich. Auch wenn mir dieses Versteckspiel nicht passt, so ist es doch tausend Mal besser, als wieder alleine hier zu hocken, und sich zu fragen, ob ich Oskar jemals wiedersehen werde. Er ist hier, bei mir. Das ist alles was zählt, auch wenn die Situation, in der wir stecken, nicht perfekt ist.
 

Nach dem Frühstück, das wir weitestgehend schweigend verbracht haben, begleite ich Oskar noch bis zur Hintertür, die in den kleinen Garten führt, der hinter dem Haus liegt. "Weißt du schon, wie spät es heute wird?", möchte ich wissen.

"Ich denke, ich werde kurz nach dir hier sein."

"Okay." Oskar kennt meine Arbeitszeiten schon auswendig. Sie sind ja auch nicht schwer zu merken. Er dagegen kann nie wirklich abschätzen, wie lang sein Arbeitstag wird. "Dann bis heute Abend." Ein Abschiedskuss, dann ist er nach draußen verschwunden und stiehlt sich davon. So, wie er es jeden Tag macht. "Und ich mache mich auch mal fertig für die Arbeit." So, wie ich es jeden Tag mache, bis wir uns wiedersehen.

Heimlich.

Damit niemand mitbekommt, dass der Pfarrer einen Mann liebt.
 

******

Kapitel 19 - Zwischen Himmel und Hölle

Kapitel 19 - Zwischen Himmel und Hölle
 

~Ralf~

"Hilfst du mir? ... Tore? ... Tore!"

"Hm?"

"Ob du mir dabei hilfst, das Grillgut zu holen", wiederhole ich und schaue abwartend und leicht genervt auf meinen Nachbarn hinab.

"Oh ja! Klar!" Das war auch nicht anders zu erwarten gewesen, was auch gut ist, denn ich muss dringend ein paar Worte mit ihm wechseln.

Ich laufe vor und Tore folgt mir, während sich Björn und Oskar weiter um die Glut kümmern. In der Küche bleibe ich vor dem Kühlschrank stehen und hole die Tüte vom Metzger heraus. "Stellst du mal den Ofen an?"

"Hm?"

"Den Ofen! Stell ihn an." Ich zeige mit dem Finger drauf, weil Tore heute irgendwie auf der Leitung steht und einfach nicht von ihr runter will. Zeichensprache funktioniert da besser, wie mir sogleich bewiesen wird. Ich lege die Metzgertüte auf die Arbeitsplatte und hole die beiden Knoblauchbaguettes aus dem Tiefkühler. "Die kannst du gleich reinschieben. Vorheizen ist Energieverschwendung." Mit den arschkalten Baguettes in der Hand drehe ich mich zu Tore, doch der steht da und starrt schon wieder Löcher in die Luft. "Verdammt Tore!" Er zuckt sichtlich zusammen und glotzt mich erschrocken an. "Was ist denn los mit dir heute?" Eigentlich wollte ich ihn nicht so barsch auf sein Verhalten ansprechen, aber bei ihm hilft heute anscheinend nur die Hammermethode. Tore zuckt mit den Schultern und senkt den Kopf. Oh, oh. Da ist was gewaltig faul!

Ich kümmere mich kurzerhand selbst um die Baguettes, lege sie aufs Blech und schließe die Ofentür. Mit verschränkten Armen lehne ich mich dagegen und lasse Tore nicht aus den Augen. Er hat schon wieder diesen abwesenden Gesichtsausdruck. "Rede mit mir", fordere ich ihn auf. Seine Augen zucken zu mir. "Was ist passiert?" Das etwas passiert ist, dessen bin ich mir vollkommen sicher. Sonst kann Tore nie die Klappe halten, und Björn hat er heute auch noch nicht auf die Palme gebracht. Sehr verdächtig.

Er atmet tief ein, sagt aber nichts. "Ich gehe nicht eher hier weg, bist du mit mir geredet hast.

"Dann verkohlen die Baguettes und das Fleisch setzt Schimmel an", sagt er scherzhaft, jedoch ohne seinen sonstigen Biss in der Stimme.

"Mir egal", kontere ich. "Dann essen wir eben gegrillte Bananen." Tore verzieht das Gesicht. "Was hat Oskar getan?" Ich hoffe, diese Frage lockt ihn aus der Reserve. Tut sie.

Tore schluckt und schüttelt den Kopf. "Gar nichts", sagt er und stellt sich neben mich. "Ich bin das Problem."

Ich runzle die Stirn. "Du hast was angestellt? Bist du etwa ...?"

"Nein! Niemals!" Tore schüttelt heftig den Kopf. "Es geht um diese Sache. Du weißt schon. Diese Kirchensache."

"Verstehe", nicke ich. Diese Kirchensache also. Wer hätte das auch denken können?

"Gar nichts verstehst du", keift Tore mich an. "Dieses Versteckspiel, dieses ewige herumschleichen in den eigenen vier Wänden! Ich will das nicht mehr!" Tore erhebt die Stimme. Da hat sich einiges angestaut wie mir scheint.

"Und wie ich das verstehen kann. Ich hatte Björn auch ständig vor meiner Nase und musste mich zurückhalten", erinnere ich ihn.

"Ja, aber du wusstest, dass das bald ein Ende haben würde. Ich weiß das nicht. Ich weiß rein gar nichts!" Tore beißt sich auf die Unterlippe. "Vielleicht ändert sich das ja nie, und wir müssen ewig aufpassen, dass man uns nicht erwischt." Er senkt den Kopf und sieht total verzweifelt aus. "Ich weiß nicht, ob ich das schaffe Ralf. Es macht mich noch kaputt. Es macht unsere Beziehung kaputt, ehe sie überhaupt richtig angefangen hat."

Ich trete an ihn heran, möchte ihn umarmen, aber er dreht sich von mir weg. Daher bleibe ich vor ihm stehen und wage keinen weiteren Versuch mehr, ihn zu trösten. "Hast du mit ihm darüber geredet?", frage ich stattdessen, und hoffe, dass ihm wenigstens reden hilf.

"Nein. Werde ich auch nicht."

"Aber wenn du so unglücklich darüber bist wie es gerade läuft, dann musst du das!" Seine Gefühle zu unterdrücken bringt gar nichts. Im Gegenteil.

"Und dann?", fragt er mich und sieht mich wütend an. "Was soll das bringen? Oskar kann nichts daran ändern, oder besser gesagt, ich will nicht, dass er alles aufgibt, nur weil ich herumzicke. Das würde er mir irgendwann mal vielleicht nicht mehr verzeihen können."

"Das heißt, lieber bist du unglücklich, als Oskar zu verlieren?"

"Ja."

"Dieses Gefühl kenne ich viel zu gut." Dillan und Kris kommen mir in den Sinn, doch ich fühle mich nicht mehr schlecht dabei, wenn ich daran zurückdenke. All diese vergeblichen Versuche, die große Liebe zu finden, haben mich zwar verletzt, aber sie haben mich schlussendlich hier her geführt. Zu Björn und zu Tore. Und ich bin froh darüber. Sehr froh. "Ich weiß aber auch, dass es nichts bringt, sich etwas vorzumachen und alles zu schlucken", beende ich meine Gedanken laut.

"Ich habe aber keine andere Wahl", krächzt Tore erstickt. "Es ist seine Entscheidung. Nicht meine. Außerdem sind wir erst zusammen gekommen. Ich kann Oskar ja sogar verstehen, dass er noch abwarten möchte, trotzdem ..." Er atmet laut ein und wieder aus. "Ich will ihn nicht verlieren ..."

"Du liebst ihn wirklich sehr, hm?"

"Natürlich! Du würdest für Björn doch auch alles tun. Hast du sogar schon."

"Wie wahr", seufze ich. Es gibt schönere Erinnerungen, die Björn und ich miteinander teilen. "Doch wenn ich Oskar wäre, und Björn du, dann würde ich alles tun, damit es dir gut geht. Und dass es dir nicht gut geht, dass sieht ein Blinder."

"Nur Oskar nicht", flüstert Tore und läuft aus der Küche. So schnell, dass ich gar nichts mehr sagen kann.

"Oh Mann", stöhne ich. Eigentlich habe ich geglaubt, jetzt, wo die zwei erst mal zusammen sind, würden sich alle anderen Probleme schon regeln lassen. Doch da habe ich wohl falsch geglaubt. "So ein Mist!"
 

Bepackt mit der Metzgertüte, laufe ich zurück zur Terrasse. Tore sitzt auf seinen Platz, Oskar neben ihn, der den Arm um ihn gelegt hat und gerade Tores Schläfe küsst. Tore lächelt und sieht total verknallt aus, aber das hält nur kurz an, dann guckt er wieder nachdenklich auf den Tisch vor sich. "Wer will was?", frage ich in die Runde und geselle mich zu Björn, der ungeduldig mit der Grillzange spielt.

"Ich will meine Hähnchenbrust!", ruf er und reißt mir förmlich die Tüte aus der Hand. "Und ein, zwei Bauchspieße." Mit seinem neugierigen Stupsnäschen linst er in die Tüte. Meine Haut prickelt. Wie heiß er mich gerade macht!

"Bauchspieße bekommst du nachher im Bett", wispere ich gegen sein Haar, sodass nur Björn es versteht.

Er schaut mich fragend an. "BAUCHspieße?"

"Ist doch ziemlich in der Nähe", grinse ich und reibe über Björns untere Bauchhälfte. Er verdreht die Augen und verpasst mir mit der Grillzange einen Knuff. Ich lache bloß und lege die ersten Würstchen auf den Grill. Immer wieder schiele ich dabei rüber zu Tore und Oskar. Jetzt halten sie Händchen. Ich verstehe nicht, wieso Tore nicht mit ihm über das, was ihn belastet, redet. Wenn sie zusammen sind, sehen sie so glücklich aus. Sind sie ja sicherlich auch, aber wenn Tore nicht bald seinen Mund auf macht, dann könnte das übel werden. Das Schlimmste, was passieren könnte wäre, dass Oskar doch einen Rückzieher macht, wenn Tore auf eine Veränderung pocht. Insoweit verstehe ich meinen Nachbarn sogar.

Ich kenne Oskar zwar noch nicht so gut, und auch wenn er ein netter und verständnisvoller Mann ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen, ob er, falls es hart auf hart kommt, auf Tores Seite ist. Das würde meinen Nachbarn das Herz brechen. Und je länger er damit wartet, seinem Kummer Luft zu machen, desto schlimmer wird es. Um das zu verhindern, kann ich nur eins tun, fürchte ich: Selbst mit Oskar reden.

Aber soll ich das? Soll ich mich wieder einmischen? Das erste Mal hat es doch ganz gut funktioniert. ... Oder?
 

~Tore~

Oskars Daumen reibt über meinen Handrücken. Verträumt schaue ich ihm dabei zu. Unterdessen unterhält er sich mit Björn, der sich immer wieder am Kartoffelsalat bedient. Ich kann gar nicht genau sagen, über welches Thema sich die beiden eigentlich genau unterhalten. Mir ist das auch relativ egal, solange er das mit seinem Daumen weiterhin tut.

Ralf steht neben uns und wendet das Grillgut. Nach unserer Meinungsverschiedenheit wirkt er ebenfalls nachdenklich. Vielleicht sollte ich mich bei ihm entschuldigen. "Die ersten Würstchen sind durch. Wer will?" Ralf sieht uns nacheinander fragend an.

Oskar hebt ihm seinen Teller entgegen. "Du auch?" Ich nicke und bekomme ebenfalls eine. Hunger habe ich zwar keinen, aber was soll's.

Oskars Hand lässt meine los. Kälte schlüpft unter meine Haut. Ich schüttle dieses Gefühl ab und piekse mit der Gabel ins Würstchen. 'Es ist alles gut', rede ich auf mich ein. 'Oskar ist doch bei mir.' Es hilft nicht. Mein Bein schiebt sich von ganz alleine rüber, bis ich an Oskars stoße. Sobald ich die Wärme spüre, die von seinem Bein ausgehen, werde ich wieder ruhiger. Fuck! Was ist nur los mit mir! Sobald ich nicht mehr seine Nähe spüre, werde ich unsicher. Und es wird immer schlimmer. Von Tag zu Tag. Immer wieder schwanke ich zwischen Glück und Furcht, Himmel und Hölle, und das so extrem, dass ich habe langsam echt das Gefühl habe, durchzudrehen. Irgendwas stimmt doch nicht mit mir!

"Du hast gar keinen Salat." Björn hält mir das Salatbesteck hin. Wieder nicke ich nur und schaue zu, wie er mir was vom Kartoffelsalat auf den Teller macht.

"Die Baguettes müssten auch fertig sein", meint Ralf und steht auf. Ich schaue ihm nach. Soll ich hinterher? Mich bei ihm entschuldigen für mein Verhalten?

Die Entscheidung wird mir mehr oder weniger abgenommen, denn Björn springt auf und läuft ihm nach. "Hab den Senf vergessen!", ruft er und weg ist er.

"Schmeckt es dir nicht?"

"Hm?" Oskar deutet auf meinen Teller. Ich habe noch keinen Bissen zu mir genommen. "Doch, doch. Ich warte noch auf Ralf und Björn", lüge ich. Dass mir mein Bauch schmerzt, und ich gar keinen Appetit habe, erwähne ich nicht. Mir geht es echt mies.

"Dann warte ich mit dir", sagt Oskar und legt das Besteck neben seinem Teller ab. "Der Garten ist schön. Nicht so groß wie deiner, aber man hat genügend Platz."

"Ja." Was interessiert mich der Garten? Und auf Smaltalk habe ich jetzt auch keinen Nerv. Es tut mir leid Oskar, aber in mir findest du heute keinen guten Gesprächspartner. Ich bin so froh, dass Björn und Ralf wieder auftauchen. Sie plaudern gleich drauf los, oder besser gesagt, Björn plaudert. Ralf schaut mich traurig an. Ich versuche zu lächeln. Ob es funktioniert, weiß ich nicht.

"Dann guten Appetit", sagt Björn schließlich und schneidet das Baguette an. Der Knoblauchgeruch lässt meinen Magen völlig umdrehen. Dabei mag ich Knoblauch eigentlich. Keine Ahnung, warum mir plötzlich so schlecht wird, doch die Wurst auf meinem Teller macht es auch nicht besser. Mein Herz schlägt auf einmal verdammt schnell und mir wird eiskalt, trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich anfange zu schwitzen. Mir wird speiübel.

"Entschuldigt mich", krächze ich, springe auf und rase Richtung Toilette.
 

~Ralf~

"Tore?" Oskar lässt das Baguette fallen, das er gerade in der Hand hält und steht auf.

"Lass ihn", halte ich ihn auf, bevor er hinter ihm her rennen kann. Er hält tatsächlich inne, und lässt Tore laufen.

"Was hat er denn?", fragt er mich schließlich, schaut jedoch noch immer hinter Tore her.

"Das sagt er dir besser selbst." Nein, ich werde mich nicht einmischen!

Aber ich glaube, ich habe schon zu viel gesagt, denn Oskar setzt sich wieder und starrt mich fragend an. "Hat er mit dir geredet?"

"Über was soll er mit mir geredet haben?", frage ich scheinheilig nach.

"Über uns", meint Oskar seufzend. "Tore geht es mies. Wegen mir." Er lässt den Kopf hängen, aber nur kurz, denn die Geräusche, die aus dem Badezimmer kommen, könnten eindeutiger nicht sein. Tore geht es zum Kotzen. Und das meine ich wortwörtlich. "Ich muss zu ihm", japst Oskar.

Björn aber ist schneller und springt auf die Beine. "Ich mach das schon! Bleib du hier. Tore möchte sicher nicht, dass du ihn so siehst." Wie dankbar ich Björn gerade bin!

Eben in der Küche konnte ich nicht an mir halten, und musste ihm von dem Gespräch erzählen, das Tore und ich zuvor miteinander geführt hatten. Und da Björn der Meinung ist, dass ich unbedingt mit Oskar reden muss, scheint er auch genau das im Sinn zu haben, weshalb er sich zurückzieht und mir das Feld überlässt. Also gut. Dann rede ich mit Oskar, auch wenn es mir nicht gefällt. Er hat anscheinend sowieso schon einen Verdacht. Weshalb sonst hat er mich eben gefragt, ob Tore mit mir geredet hätte? Und weil es Tore noch schlechter geht, als ich anfangs angenommen habe, ist es wohl wirklich das Beste, ich erzähle ihm von Tores Sorgen.

Oskar stiert noch immer ins Haus hinein und scheint hin und hergerissen zu sein. "Tore macht sich Vorwürfe", beginne ich frei heraus zu erzählen.

"Vorwürfe?" Nun wandert Oskars Blick zu mir, doch sie haben nicht an Sorge verloren. Eher im Gegenteil. "Weshalb?"

Wo soll ich nur beginnen? Und wie? "Tore kommt nicht damit klar, dass ihr euch verstecken müsst." Jetzt ist es raus. Lange um den heißen Brei reden war noch nie meine Stärke. Oskar seufzt und nickt. Er hat es schon geahnt. Gut. Das spricht für ihn. "Er will dir nur nichts davon sagen, weil er Angst hat, das könnte deine Entscheidung beeinflussen, was deinen Beruf angeht, und das du es ihm irgendwann übel nehmen wirst, falls du deswegen für ihn alles aufgibst."

"Darüber muss er keine Angst haben. Und übel nehmen werde ich ihm auch nichts."

"Diese Bedenken hat er aber. So sehr, dass er jetzt über der Kloschüssel hängt." Es tut mir leid, es so drastisch auszudrücken, aber es ist die Wahrheit. Tore hat seine Sorgen runtergeschluckt, und jetzt kommen sie aus ihm heraus.

Oskars Adamsapfel hüpft auf und ab. Plötzlich schlägt er mit der Faust auf den Gartentisch. Ich zucke zusammen. Der wehrte Herr Pfarrer kann ja ganz schön impulsiv sein. Doch so überraschend dieser Ausbruch eben auch kam, so schnell ist er wieder verschwunden.

Oskar wischt sich übers Gesicht. "Kann ich dich was fragen, Oskar?"

"Natürlich."

"Falls es soweit kommen würde, und du dich entscheiden müsstest, Tore oder dein Beruf, wie würdest du dich entscheiden?"

Er sieht mir direkt in die Augen. "Auf jeden Fall für Tore", sagt er ohne zu zögern. Ich sehe ihm an, dass er es aufrichtig meint. Bewundernswert.

"Hast du es ihm auch mal gesagt?"

"Ich dachte, das weiß er."

"Tut er nicht", kläre ich Oskar auf. "Sage es ihm. Damit es ihm besser geht und er sich eurer Beziehung sicher sein kann. Ich denke, er braucht diese Bestätigung, um nicht völlig an allem zu verzweifeln."

"Du meinst, weil er befürchtet, dass ich wieder verschwinde."

"Ja", antworte ich unverblümt.

"Hat er dir das gesagt? Das er das befürchtet?"

"Nicht direkt, aber alles spricht dafür, findest du nicht?"

Oskar atmet tief ein. "Ehrlich gesagt, habe ich so etwas schon vermutet. Tore wurde mit jedem Tag verschlossener. Ich habe gehofft, dass er zu mir kommen würde, sobald er es nicht mehr aushält, aber dem scheint nicht so."

"Tore hat Angst dich zu verlieren. Eher würde er weiterhin seinen Kummer in sich fressen, als zu riskieren, dass du dich von ihm abwendest oder eines Tages ihm die Schuld dafür gibst, dass du deinen Beruf aufgegeben hast, falls du das in Erwägung ziehst." Ich mustere Oskar gründlich. Er sagt nichts dazu, weshalb ich mich weiter vorwage. "Soll ich dir sagen, was ich an deiner Stelle tun würde?"

"Was denn?"

"So schwer es mir fallen täte, aber ich würde zwischen Tore und dem Pfarrerdasein wählen. Beides geht nicht. Sorry, dass ich so direkt bin, aber seien wir mal ehrlich. Was die Kirche angeht, sind wir noch gar nicht weit vom Mittelalter entfernt. Da hatte Björn letztens vollkommen Recht, finde ich." Falls Oskar mich jetzt hasst, dann ist das eben so. Ich tue das für Tore. Und so gern ich es anders sehen würde, es geht nicht.

"Weißt du, wann ich das letzte Mal so richtig durchgeschlafen habe?", fragt er mich auf einmal, was mich kurz stutzen lässt.

"Wann?", will ich verdutzt wissen. Der Themenwechsel wirft mich leicht aus der Bahn.

"Das war die Nacht, bevor ich Tore das erste Mal gegenübergestanden habe."

"Nachdem du zurückgekommen bist?"

"Nein. Vor der Beerdigung von Tores Mutter." Meint er das ernst? "Seitdem liege ich stundenlang wach und denke nach."

"Über Tore?"

"Sicher. Aber auch über mich und schlussendlich über uns. Es raubt mir den Schlaf, weil ich krampfhaft nach einer Lösung suche, die es aber wahrscheinlich gar nicht gibt. Jedenfalls keine, in der ich alles haben kann."

"So sehe ich das auch", nicke ich. "Das ist schade."

"Ja, das ist es." Oskar lächelt mich traurig an. "Ich liebe, was ich tue, aber Tore liebe ich noch mehr."

"Dann sag ihm das. Und zwar bald." Er nickt. "Und egal was kommt, Björn und ich sind da." Zusammen werden wir das Mistgabel schwingende Dorffolk schon bezwingen. Gegen uns wird ja auch schon unter der Hand getuschelt.

"Danke Ralf", sagt Oskar mit leiser Stimme. "Jetzt weiß ich, warum Tore so von dir schwärmt." Ich lächle verlegen. Ob Tore ihm von unserem kleinen Tête-à-Tête erzählt hat?

Drinnen geht die Badezimmertür auf. Es ist Björn, der sich wieder zu uns gesellt. "Vielleicht solltest du doch zu ihm", sagt er zu Oskar, der daraufhin aufsteht, und geht.

"Wie geht es ihm?"

"Beschissen", antwortet mir Björn. "Die beiden sollten sich echt mal aussprechen."

"Das werden sie jetzt ganz bestimmt auch machen." Das heißt, wenn Tore die Klappe aufbekommt, und sich endlich Luft macht.
 

~Tore~

Mir ist immer noch ganz schwindelig, als ich mich mit einer Hand am Waschbecken festklammere und mit der anderen nach dem Wasserhahn greife. Obwohl ich meinen gesamten Mageninhalt entleert habe, geht es mir noch immer miserabel. Scheiße! Wenn das so weiter geht, bekomme ich noch ein Magengeschwür vor lauter Sorgen und Kummer! Ich muss wieder runter kommen! Es ist doch alles in Ordnung. Kaum der Rede wert. Ich habe was ich will: Oskar. ... 'Ja du hast ihn. Im stillen Kämmerlein kannst du bei ihm sein.' Ein Schwall kaltes Wasser landet in meinem Gesicht. Schluss mit diesen Gedanken! Ich will endlich glücklich sein!

Als ich mich hinunterbeugen will, um meinen Mund auszuspülen und den bitteren Geschmack meiner Magensäure zu vertreiben, höre ich Schritte links neben mir. "Komme gleich", krächze ich.

"Lass dir Zeit." Oskar!

Ich schaue erschrocken auf. Oskar steht neben mir und schließt die Tür der kleinen Gästetoilette. "Geh bitte wieder. Ich bin gleich wieder draußen." Ich schalte das Wasser aus und versuche mich aufrecht hinzustellen, aber meine Beine sind so wackelig, dass sie mir beinahe einknicken, doch Oskar fängt mich auf und stützt mich.

Nun hänge ich in seinen Armen und fühle mich gleich wieder beschissener. Er soll gehen! Er soll mich so nicht sehen! "Setz dich lieber", rät er mir und schiebt mich zur Toilette, deren Sitz er runter klappt und mich darauf niederdrückt. Ich kann nichts dagegen machen, weil ich krampfhaft einen weiteren Übelkeitsanfall niederzukämpfen versuche. Oskar geht vor mir in die Hocke und nimmt meine Hände in seine. Wie warm sie sind. Meine sind eiskalt. "Es tut mir so leid", flüstert er und sieht zu mir auf.

"Geht schon wieder", sage ich mich räuspernd. "Ich weiß auch nicht, woher das eben kam." Ich versuche zu lächeln, gebe aber bestimmt eine armselige Figur dabei ab. "Hab anscheinend was falsches gegessen."

"Du musst nach keiner Ausrede für deinen Zustand suchen, Tore. Dir geht es wegen mir so schlecht." Keine Frage. Eine einfache Feststellung. Wieder wird mir übel und mein Herz beginnt viel zu schnell zu schlagen. Er weiß es!

Oskars Hände wandern an meinen Armen hinauf und legen sich auf meine Oberarme, wo sie mich nicht fest, aber bestimmt festhalten. Sanft zieht er mich zu sich, doch ich versteife mich augenblicklich. "Nein, nein! Es ist nicht wegen dir!", dementiere ich heftig, möchte mich von ihm lösen, weil mir seine Nähe plötzlich so falsch vorkommt, doch er drückt mich wieder an sich und spricht weiter.

"Es tut mir leid, dass ich nach unserer ersten gemeinsamen Nacht abgehauen bin", sagt er leise. "Ich war zu feige, mich meinen Gefühlen dir gegenüber zu stellen." Ich halte die Luft an, wage es nicht zu atmen. "Ich habe dich mit allem allein gelassen, obwohl ich ahnte, dass ich dir ebenfalls mehr bedeute, als eine einmalige Bettgeschichte." Klar tut er das! Und das sage ich ihm auch, drücke meine Nase in seinen Nacken und hole Luft. Langsam entspanne ich mich wieder und auch die Übelkeit flaut ab. "Und jetzt, wo ich wieder hier bin, verlange ich auch noch von dir, dass du dich wegen mir versteckst. Es ist kein Wunder, dass du dich schlecht fühlst."

"Das macht mir nichts aus", lüge ich, weil ich muss. Ich will ihn nicht verlieren. Nicht nochmal.

"Bitte mach mir nichts vor, Tore. Und dir bitte auch nicht. Ich bin nicht blind, auch wenn ich gehofft habe, dass du damit für eine Weile klar kommst."

"Das tue ich doch."

Oskar seufzt, löst sich ein Stück von mir und umfasst mein Gesicht. Seine Augen blicken besorgt. Das tut weh. Er soll nicht so gucken. "Es ist in Ordnung", flüstert er und lächelt leicht. "Verberge es nicht vor mir und schlucke deine Sorgen nicht runter."

"Ich will dich doch nur nicht zu etwas drängen", schniefe ich.

"Du drängst mich zu nichts. Ich bin freiwillig bei dir." Oskar bringt es doch wirklich zu Stande, mich zum Lachen zu bringen.

Lange hält es nicht an. "Ich habe Angst Oskar", flüstere ich. "Dass wir keinen Weg finden, und dass du deswegen dein Amt niederlegst, die Leute herausbekommen, wieso du es getan hast, und sie dann all ihren Hass auf dich abladen. Und dann hasst du mich irgendwann, und ich hasse mich auch, weil ich dir dein Leben versaut habe." Ich atme ein paar mal tief ein. Ich habe es laut ausgesprochen. Leider kann ich nicht behaupten, dass ich mich jetzt besser fühle.

Oskar sieht mich lange an. Traurig? Mitfühlend? Ich weiß es nicht. "Ich werde dich nicht hassen", beginnt er leise weiterzureden. "Und falls es so kommt, dass ich noch mal von vorn Anfangen muss, und dass ich mein Amt niederlegen muss, dann ist es eben so. Ich liebe dich, und egal was geschieht, ich will bei dir sein. Komme was wolle. Ich bleibe bei dir. Ich kann doch gar nicht mehr ohne dich. Hörst du?" Der Druck in meiner Brust nimmt kurz zu, dann verschwindet er mit einem Schlag und mir ist, als könne ich wieder atmen. Ich bin so froh über seine Worte, dass mir die Selbigen abhanden gekommen sind. "Und wer sagt denn, dass der Weg, den wir suchen, nicht genau der ist, den wir gerade beschreiten?"

Ich runzle die Stirn. "Wie meinst du das?", frage ich ihn verwirrt.

"Du kennst doch den Spruch, alle Wege führen nach Rom?" Ich bejahe. Noch verwirrter, als zuvor. "Du bist mein Rom." Was? Oskar grinst schief und schüttelt den Kopf, sieht mich danach aber wieder an. "Ich weiß um die Doppeldeutigkeit dieses Satzes, aber er stimmt. Egal was ich das letzte Jahr über getan habe, immer wieder lande ich bei dir."

"Bei mir?"

"Ja", sagt er und leckt sich über die Lippen, ehe er weiter redet. "Seit einem Jahr gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. … Nein, das stimmt nicht ganz." Oskar schüttelt den Kopf. Ich kann nur weiter die Stirn runzeln. "Du erinnerst dich, dass ich früher oft bei deiner Mutter war?"

"Ja. Davon hast du mir erzählt."

Wieder lächelt Oskar, diesmal aber ohne Traurig zu wirken. Das erleichtert mich so sehr, dass ich ebenfalls anfange zu lächeln. "Sie hatte mir doch mal ein Foto von dir gezeigt", fährt er fort. "Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Darauf warst du abgebildet, zusammen mit deiner Schwester. Du hattest einen Anzug an und hast bis über beide Ohren gelacht."

Ich erinnere mich. "Das muss am fünfzigsten Geburtstag von meiner Mutter gewesen sein", denke ich laut nach. Mir fällt nämlich kein anderer Anlass ein, an dem ich mal im Anzug durch die Gegend gelaufen bin.

"Ich weiß nicht, dass hat sie mir nicht erzählt, aber was ich noch weiß ist, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte, auf das Foto zu starren. Ich hatte nur noch Augen für dich."

Ich schaue Oskar überrascht und auch leicht geschmeichelt an. "Ist das wahr?" Er nickt. Ich ringe nach Fassung. Das ich ihm damals schon aufgefallen bin, hätte ich niemals für möglich gehalten, doch jetzt kommt es mir sogar plausibel vor. Meine Mutter zeigte ständig Bilder von meiner Schwester und mir herum.

"Ist das schlimm?", fragt mich Oskar.

"Nein! Gar nicht! Es ... es ist ... schön!" Ich kneife die Augen zu. "Das war jetzt blöd ausgedrückt."

"Ich weiß, wie du das meinst", schmunzelt Oskar und setzt dazu an, mich zu küssen, doch ich halte ihn auf.

"Lass mich erst den Mund spülen."

"Oh. ... In Ordnung."

Oskar hilft mir beim Aufstehen, wobei meine wackeligen Beine endlich wieder ihren Dienst tun, und wartet, bis ich mir den bitteren Geschmack aus dem Mund geschafft habe. "Geht es dir wieder besser?", möchte er wissen.

"Ja." Und wie gut es mir wieder geht! Oskars Worte haben mir klar gemacht, dass ich mir gar keine Sorgen machen brauche, dass er mich verlässt. Er liebt mich, verdammt nochmal, und er will an meiner Seite sein!

"Schön", sagt er und schiebt mich mit dem Hintern ans Waschbecken. "Darf ich dich jetzt küssen?"

"So lange und so oft du willst." Und von mir aus auch auf dem Gäste-WC meines Nachbarn.
 

***
 

~Tore~

"Macht's gut." Ralf klopft mir auf die Schulter.

"Ihr auch", wünsche ich ihm und seinem Björn, ehe Oskar und ich in die Nacht entschwinden.

Was für ein schöner Abend! Hätte ich gar nicht mehr für möglich gehalten, nach diesem Anfang. Ich bin so froh, dass Oskar und ich miteinander gesprochen haben. Endlich ist dieser merkwürdige Druck in mir weg, der sich in mir Tag für Tag aufgebaut hatte. Diese Angst, Oskar ein weiteres mal zu verlieren. Ich kann etwas gelöster in die Zukunft schauen, trotz unserer geheimen Beziehung. Wir gehören zusammen. Und das sieht auch Oskar so.

Auf der Straße ist es totenstill. Noch nicht mal in den Häusern rings um uns herum brennt Licht. Die Straßenlaterne hinter uns ist auch seit einigen Nächten defekt. Wir sind allein im Dunkeln und nur die Grillen zirpen in den Gräsern. Langsam schlendern wir auf die andere Straßenseite zu. In meinem Kopf herrscht herrliche Ruhe, seit langem mal wieder, da spüre ich Oskars Finger, die sich vorsichtig in meine Schieben. Mein Puls rast und ich schaue mich um. "Keiner da und es ist stockdunkel", raunt Oskar neben mir. Ich entspanne mich wieder. Er hat recht. Das Selbe dachte ich eben ja auch.

Ich umfasse seine Hand und betrete mit ihm den Bürgersteig auf meiner Seite der Straße. Wir lassen uns Zeit und ich fummle am Knauf des Türchens, das meinen Vorgarten vom Fußgängerweg trennt, herum. Ich benehme mich wie ein Teenager, aber ich will Oskars Hand nicht loslassen. Es hat so etwas verbotenes ... "Herr Pfarrer?!" Wie vom Blitz getroffen fahre ich zusammen und reiße mich von Oskar los. "Sie sind es ja wirklich!", krakeelt eine volle Altweiberstimme rechts neben uns. Erschrocken drehe ich den Kopf in ihre Richtung und stelle erleichtert fest, dass sie noch zu weit entfernt ist, als dass sie unsere verflochtenen Finger gesehen haben könnte.

"Frau Bunte. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen", begrüßt Oskar sie und geht auf diese furchtbare Frau Bunte zu. Er nimmt ihre Hand und lächelt freundlich. "So spät noch unterwegs?"

"Das Selbe könnte ich Sie fragen", lacht sie und hört sich dabei an wie ein Schulmädchen. Ich versuche mich unsichtbar zu machen, klappt nur leider nicht. Frau Bunte hat mich schon im Visier. "Ist bei Ihnen wieder jemand gestorben?", fragt sie mich 'besorgt', und stürmt auf mich zu.

"Nein." Ich lege ein Lächeln auf und versuche nicht so auszusehen, als habe man mich gerade beinahe beim Händchenhalten mit dem Pfarrer erwischt.

"Wir waren grillen. Zusammen mit Freunden." Oskar geht dazwischen.

"Ach wie schön! Das Wetter ist ja perfekt dazu."

"Nicht wahr?" Und noch einmal: Ich wünschte, ich wäre unsichtbar. Tratsch auf dem Bürgersteig ist das Letzte, was ich will. Vor allem, da ich weiß wie das ausgeht. Morgen früh weiß die halbe Vorstadt, dass der Herr Pfarrer abends grillen war. Zusammen mit mir. "Und Sie?", fragt Oskar die gute, alte Frau Bunte. "Wohin sind Sie unterwegs?"

"Nach Hause. Ich war bei der Liesel. Wir haben uns verplaudert und auf einmal war es draußen dunkel!" Frau Bunte lacht schrill. "So allein ist das schon unheimlich." Sie rückt immer dichter an Oskar heran. Innerlich verdrehe ich die Augen. Beispring ihn doch gleich! Dann hätte ich wenigstens einen Grund, dir die Augen auszukratzen ...

"Soll ich Sie schnell nach Hause begleiten?" Bitte?!

"Würden Sie das tun?" Würde er?!

"Natürlich." Sie lacht wieder und drängelt sich an mir vorbei, Oskar im Schlepptau.

"Einen schönen Abend Ihnen noch, Tore."

"Danke ..." Fassungslos schaue ich den beiden nach. Erst bin ich wütend, aber das hält nicht lange an. Oskar ist nur nett zu der alten Schachtel. Es ist eben nicht immer von Vorteil, wenn man einen so gutmütigen und hilfsbereiten Mann hat.

Ich trolle mich ins Haus und kicke meine Schuhe von den Füßen. Solange Oskar unterwegs ist, die olle Schachtel zu ihrem Hexenhaus zu begleiten, gehe ich mich schnell im Bad austoben.

Frisch umgezogen hole ich mir eine Flasche Wasser aus der Küche und stehe vor der Wahl, Bett oder Couch? Die Couch gewinnt. Eingemummelt in eine dünne Wolldecke döse ich im Dunkeln vor mich hin, weil ich zu faul bin, das Licht anzuschalten, bis ich höre, wie die Hintertür aufgeschlossen wird. Ich schaue auf. Oskar schiebt sich leise hindurch und schließt sie wieder hinter sich. Er denkt sicher, dass ich schon im Bett liege. He he.

Auf leisen Sohlen tapst er durchs Wohnzimmer. Ich kann die Umrisse seiner Gestalt sehen. Sie kommt auf mich zu. Als er neben mir ist, seufze ich leise. Er bleibt stehen. "Würden Sie mich zum Bett begleiten Herr Pfarrer? Es ist mir so unheimlich im Dunkeln", säusle ich.

Oskar lacht. "Das mache ich doch gerne für Sie." Der Schatten kommt auf mich zu, und schon berührt mich etwas am Arm.

"Sie sind ein wahrer Gentleman Herr Pfarrer."

"Du wirst es nicht glauben, aber das hat mir heute schon mal jemand gesagt." Was er nicht sagt ...
 

******

Kapitel 20 - Anbetungswürdig

Die Story neigt sich langsam aber sicher ihrem Ende entgegen. Es wird noch ein Bonuskapitel mit Ralf und Björn geben, aber dann ist (erstmal) Schluss.

Na ja, noch ist es nicht soweit, und es kommen noch 3 Kapitel, in denen noch einiges passiert. ^^
 

Viel Spaß beim anbetungswürdigen Kapitel 20

Eure Fara
 


 

Kapitel 20 - Anbetungswürdig
 

~Tore~

Soll ich?

Soll ich es wirklich wagen?

Was, wenn es schief geht?

Vielleicht wird ja einer skeptisch und beginnt nachzuhaken. Vielleicht geraten wir unter Beobachtung, falls wir es nicht schon längst sind. Und es könnte ja auch sein, dass Oskar gar nicht möchte, dass ich es tue. Aber eventuell freut er sich ja auch. Wahrscheinlich bemerkt er mich sowieso nicht. Wer weiß das schon?

Mein Wecker zeigt halb neun an. Wenigstens aufstehen könnte ich mal, oder? Mich duschen und anziehen, frühstücken und dann entscheide ich, ob ich mich an einem Sonntag Morgen wahrhaftig in die Kirche wagen soll.

Doch auch nach besagter Dusche und dem Frühstück kann ich mich noch nicht entscheiden. Neun Uhr. Langsam wird es Zeit für eine Entscheidung. Um halb beginnt die Messe, und wenn ich nicht will, dass alle Augen auf mich gerichtet sind wenn ich zu spät in die Kirche platze, muss ich bald mal los. Ich räume schnell das dreckige Geschirr weg und ziehe meine Schuhe an. Ich kann ja mal loslaufen und falls ich kein gutes Gefühl bei der Sache habe, laufe ich einfach vorbei und 'gehe spazieren'. Das hört sich doch nach einem guten Plan an!

Draußen kann ich schon von weitem die Kirchenglocken läuten hören. Kommt herbei, ihr Schäfchen. Määhh! Versteht mich jetzt nicht falsch. Eigentlich finde ich das immer recht entspannend. Man sitzt gemütlich beim Frühstück und in der Ferne läutet es. Gerade sonntags, wenn man sich nicht hetzen muss, genieße ich diese leisen Glockenschläge in der Ferne. Doch heute will sich die Entspannung einfach nicht einstellen. Ich bin nervös. Eingefleischten Kirchgängern wird sehr wahrscheinlich auffallen, dass ich mich auch mal wieder unter ihnen mische. Ich muss also geschickt vorgehen, mich von hinten anpirschen, wenn die Frommsten unter ihnen schon in den ersten Reihen sitzen, und mich dann hinter dem Pulk ins Innere der Kirche vorwagen und mir einen Platz ganz hinten sichern. So laufe ich am wenigsten Gefahr, Argwohn auf mich zu ziehen.

Belächelt mich nur, aber in einer kleinen Gemeinde geht so etwas schon während der Messe durch die Reihen. 'Na der war ja schon ewig nicht mehr da!', murmelt es dann garantiert hier und da. Ich hasse es!

Warum ich mir das überhaupt antue, weiß noch nicht mal ich. Die Idee kam mir ganz spontan, nachdem Oskar aus meinem Bett entschwunden war. Ich dachte unwillkürlich an früher, wie mich meine Mutter jeden Sonntag aus dem Bett geschmissen hatte, und so lange am herumzetern war, bis ich geschniegelt und gestriegelt in meinem feinsten Anzug in der Küche stand, um mit ihr loszumarschieren. In der Kirche musste ich mich dann arg zusammennehmen, dass ich nicht wieder einpenne. Der Pfarrer war ja so schnarchig! Ich habe es gehasst! Doch als ich dabei war, in der Vergangenheit zu 'schwelgen', begann ich mich zu fragen, wie Oskar wohl so ist, wenn er da oben steht. Ich habe ihn zwar schon auf der Trauerfeier meiner Mutter erlebt, aber war etwas komplett anderes. Außerdem habe ich da auf ganz andere Dinge geachtet, als auf die Trauerfeier.

Mich hatte also die Neugier gepackt und jetzt bin ich hier: Auf den Weg zur Sonntagsmesse, was ich seit ewigen Zeiten nicht mehr getan habe.

Es sind noch mehr Leute unterwegs, und ich passe auf, dass ich ihnen nicht zu nahe komme, bis ich nicht unweit von mir entfernt Frau Krämer erblicke. Die Arme zockelt auf dem Gehweg herum, stützt sich schwer auf ihrem Gehstock ab und sieht so aus, als könne sie Hilfe gebrauchen. Ich ringe mit mir. Wäre das jemand anders, würde ich die Schultern zucken und weitergehen, doch bei ihr kann ich das nicht. Ich lege einen Zahn zu und geselle mich an ihre Seite. "Guten Morgen Frau Krämer", grüße ich sie.

Sie bleibt stehen und blinzelt zu mir auf. "Tore? Was machen Sie denn an einem Sonntagmorgen schon so früh unterwegs?"

"Spazieren gehen", lüge ich. "Ich dachte, heute ist so ein schönes Wetter, das muss ausgenutzt werden." Sie runzelt die Stirn, sagt aber nichts. Mein Pech ist, dass sie mich ziemlich gut kennt. Ich gehe mal nicht eben einfach so spazieren. Aber sei es drum, ich lasse mir nichts anmerkten und biete ihr meinen Arm an. "Soll ich sie begleiten?"

"Sie? Mich?" Ich nicke. "Na wenn Sie im Schneckentempo spazieren gehen wollen, dann sage ich nicht nein", lacht sie und harkt sich bei mir ein.

"Ihre Hüfte wieder?", frage ich und nicke Richtung Gehstock.

"Die auch", antwortet sie seufzend. "Aber mein linkes Knie macht mir heute Morgen ebenfalls zu schaffen. Alt werden ist eine Last!"

"Das schaffen Sie schon", will ich sie aufmuntern doch sie lacht sarkastisch auf.

"Kommen Sie erstmal in mein Alter, Tore. Dann reden wir weiter." Diese Art von Gesprächen führen wir fast immer, wenn wir uns miteinander unterhalten. Na ja, vielleicht hilft es ihr, sich über die Last des Älterwerdens zu beschweren. Jedoch komme ich nach ein paar Metern im Schneckentempo ins Grübeln.

Sonst plaudert Frau Krämer doch immer wie ein Wasserfall, aber heute ist sie so schweigsam wie ein Fisch. "Ist alles in Ordnung mit Ihnen Frau Krämer? Sie sind so still heute." Ich bin wahrhaftig besorgt!

"Ach Tore", wimmert sie und wird noch langsamer als sowieso schon. "Stellen Sie sich vor, meine Nichte kam am Mittwoch vorbei und meinte, es sei besser, wenn ich in ein Pflegeheim ginge."

"Oh." Ich kann mir denken, dass Frau Krämer dieser Vorschlag sehr aufgeregt haben muss, aber ich finde dies eigentlich ganz vernünftig. Wenn es ihr weiterhin so schlecht geht, kann sie sich bald nicht mehr selbst versorgen. "Und das wollen Sie nicht, oder?"

"Um Gottes Willen, nein!", ruft sie empört. "Ich gehe doch nicht in so ein stickiges Altenheim, in dem ich ruhig gestellt werde, und bis zum Ende meiner Tage dahinsieche! Auch wenn ich vielleicht nicht mehr viele Tage bis dahin habe, möchte ich diese wenigstens mit Würde verbringen."

"Das kann ich verstehen. Ihre Nichte war sicher nicht erfreut darüber."

"Nein", flüstert sie. "Sie macht sich Sorgen um mich. Trotzdem werde ich nicht aus meinem Haus ausziehen! Erst, wenn mich jemand in einem schwarzen Sack dort hinaus trägt!" Die Vorstellung ist vielleicht nicht gerade die Schönste, aber dennoch muss ich schmunzeln. Es spiegelt zu gut Frau Krämers Dickschädel wieder. Andererseits werde ich auch zornig. Wenn sich ihre Nichte so große Sorgen um sie macht, warum hilft sie ihr dann nicht?

"Sie wissen ja, wenn Sie Hilfe brauchen rufen Sie mich an, ja?", sage ich nachdenklich zu ihr.

Frau Krämer lacht leise. "Das weiß ich Tore." Ihre Hand, die sich an meinem Unterarm festhält, greift beherzter zu. "So, da wären wir", erklärt sie plötzlich. "Den Rest schaffe ich allein."

"Ach was, ich begleite sie noch bis hinein." Die Chance!

"Ich muss ja ein schreckliches Bild abgeben, wenn Sie mich schon bis in die Kirche begleiten wollen", schnarrt sie.

"Tun Sie nicht", versichere ich ihr. "Aber vielleicht gehe ich heute auch mal in die Kirche."

Frau Krämer ist sichtlich erstaunt, doch dann nickt sie. Oh Fuck! Ahnt sie was?! Hat es sich schon herumgesprochen, dass der Pfarrer oft bei mir ist?! "Verstehe", grinst sie und mir wird ganz flau im Magen. "Der Tod Ihrer Mutter ist beinahe ein Jahr her." Oh ...

"Ja!", nicke ich. "Genau." Uff!

"Finde ich sehr anständig von Ihnen Tore." Wenn sie wüsste, wie 'anständig' ich in Wirklichkeit bin ...
 

Kurz vor der hintersten Bankreihe lasse ich Frau Krämer los. Sie hat eine Bekannte entdeckt und bahnt sich mit stoischer Beharrlichkeit einen Weg zu ihr. Es fehlte noch, dass sie einem der anderen Kirchgänger ihren Stock gegen die Wade schlägt, damit sie schneller vorankommt. Die Vorstellung bringt mich zum Grinsen. Meine gute, alte Frau Krämer.

So unauffällig es geht, schlüpfe ich gleich auf die hinterste Bank. Während sich die Kirche langsam füllt, bleibe ich dort regungslos sitzen und tue so, als sei ich gar nicht da, und siehe da, ich habe Glück. Keiner beachtet mich weiter und als die Kirche sich gefüllt hat, sitzt neben mir nur ein übellauniger Jugendlicher, der die Arme überkreuzt hat und mit dem linken Fuß über die Kniepolster schabt. Eindeutig ein Pflichtgänger. Macht wohl bald die Firmung, der Gute. Begeistert scheint er darüber nicht zu sein. Das macht ihn mir gleich sympathischer.

Orgelmusik ertönt, die Kirchentür geht zu. Vorn erscheint eine Seitennummer. Die Messe beginnt.

Alle stehen auf, ich natürlich ebenfalls, und blättern in ihren Gesangbüchern herum. Ich tue nur so, schlage irgendeine Seite auf und höre dem Orgelspieler zu. Entgegen meiner Meinung gegenüber der Kirche, finde ich die Orgelmusik sogar recht schön. Sie hat so was dramatisches. Als alle beginnen den Text zu singen, bewege ich einfach nur die Lippen. Meine Augen bleiben starr geradeaus gerichtet, dorthin, wo Oskar gleich erscheinen wird. Ich bekomme eine Gänsehaut. Wenn die ganzen Leute um mich herum über Oskar und mich Bescheid wüssten! Was würden sie tun? Oh, ich kann mir lebhaft vorstellen, was sie tun würden. Ich kann ihre Stimmen geradezu hören, wie sie uns beschimpfen, uns verteufeln und aus der Kirche schmeißen. Ich kann sogar den Schmerz dabei in Oskars Augen sehen, und es bereitet mir erneut Magenschmerzen. Meine Beine kribbeln und in meinem Nacken stellen sich sämtliche Härchen auf. Panik kriecht in mein Herzlein.

Ich muss hier raus! Sie werden merken, wie ich Oskar anschaue, werden ihre Schlüsse ziehen und Oskar wird es verletzten. Das kann ich ihm nicht antun! Ich klappe das Gesangbuch zu, lege es auf die Bankreihe vor mir, aber als ich mich aus dem Staub machen möchte, verstummt die Musik und es wird ruhig in der Kirche. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls ruhig stehen zu bleiben. Es sei denn, ich will, dass alle mitbekommen, wie ich mich hinausstehle. Scheiße!

Ich halte mich vorn an der Bank fest und halte den Kopf jedoch gesenkt. Sicher steht Oskar schon vorn hinterm Altar und es dauert in der Tat nicht lange, da ertönt seine Stimme.

Mein Kopf hebt sich von ganz alleine. Alle Gedanken an eine Flucht sind vergessen. Oskars Stimme, seine Präsenz da oben, das alles lässt mich innehalten. Er strahlt so eine Würde aus. So eine Gelassenheit und Ruhe.

Gewissensbisse. Da sind sie wieder. Bisher kannte ich nur alte, verstaubte Pfarrer, welche nur verschnarchte Stellen aus der Bibel predigten. Ganz anders Oskar, der die Gemeinde freundlich anlächelt und sich erst mal ganz in Ruhe und ohne Hast dort vorn sortiert, was mich kurz grinsen lässt. Wie kann ich all den Leuten diesen Mann wegnehmen?

'Weil es dein Mann ist, und weil er bei dir sein will.' Danke Hirn. Wenigstens einer behält hier einen klaren Kopf und denkt mit. Es scheint sogar mein Herz davon zu überzeugen, das eben noch so ängstlich war, denn es schlägt augenblicklich schneller und lässt mich daran zurückdenken, was Oskar mir gestern gesagt hat. Er bleibt bei mir, egal was passiert. Ich werde ihm nicht reinreden, seinen Beruf aufzugeben, doch daran hindern werde ich ihn auch nicht. Es ist seine Entscheidung. Punkt. Und mal ehrlich! Seit wann interessieren mich andere Leute? Wenn es für Oskar okay ist, dann doch wohl für mich auch, oder? Für mich war schon immer jeder, der schlecht über mich geredet hat, nicht mal so viel wert, wie der Dreck unter meinen Fingernägeln. Sie alle hier, mit ihren hässlichen Vorurteilen, können mir gestohlen bleiben!

Einzig was zählt, ist, dass Oskar und ich glücklich sind. Und das sind wir. Wenn ich allein daran denke, was wir zwei gestern Nacht alles miteinander getan haben … Meine Wangen werden heiß. Jetzt nur nicht daran denken!

Ich konzentriere mich auf das goldene Kreuz auf dem Gesangbuch vor mir. Wie hübsch. Ist das echtes Gold?
 

Die Messe verläuft eigentlich genau so, wie ich sie noch aus meiner Jugendzeit in Erinnerung habe. Bis auf Oskar natürlich, der weder steif wirkt, noch in irgendeiner Form mit erhobenen Zeigefinger vor der Hölle warnt. Macht man das heutzutage nicht mehr? Er hat sogar den ein oder anderen Scherz auf den Lippen. Vielleicht ist der ganze Verein ja tatsächlich lockerer drauf als früher. Zweifelsohne nicht in allen Dingen, aber es wäre wünschenswert, würde sich das noch steigern.

Wieder stehen alle auf. Jetzt gibt's Futter! Ich stand noch nie auf diese pappigen Hostien. Wäre da ein bisschen Plätzchenteig drauf, immer her damit! Aber so trocken kleben die bloß am Gaumen fest, und ich glaube nicht, dass der Leib Christi schmeckt, wie ein Stück Pappkarton. Nun ja ... Ich bin auch nicht scharf drauf, zu wissen, der wohl schmecken täte. Oskars Leib ist mir da schon viel lieber.

In meinem Körper setzt ein leichtes Kribbeln ein. Eigentlich will ich nicht, aber die Versuchung, jetzt nach vorn zu gehen und mich vor Oskar zu stellen, die ist wirklich groß. Der grantige Jugendliche neben mir ist auch schon aus der Bankreihe getreten und übt sich im ihr-könnt-mich-alle-mal-Blick. Die Versuchung ist zu groß, deswegen stelle ich mich hinter den Jugendlichen, noch bevor ich es richtig überdacht habe. Wenigstens bin ich der Letzte, der auf seine Hostie wartet. Wunderbar!

Es geht langsam voran, was mir sehr gelegen kommt. In dieser Zeit kann ich Oskar mit den Augen ausziehen, und gleichzeitig hinter dem biestigen Jugendlichen ungesehen Deckung suchen, falls mich deswegen der Blitz treffen sollte.

Schritt für Schritt komme ich ihm näher. Er hat mich noch immer nicht bemerkt, aber das ist auch nicht verwunderlich. Er hat nur Augen für diese Pappdinger und denjenigen, dem er sie aushändigt.

Noch zwei Leute vor mir. Dazu gehört auch Mr. geht mir alles am Arsch vorbei. Meine Haut prickelt und ich werde immer aufgeregter. Wie wird Oskar reagieren? Wird er es überhaupt, oder kann er seine Reaktion überspielen? Ich werde es gleich erfahren, denn als der Letzte vor mir an Oskar vorbei tritt, bin ich an der Reihe. Ich überlege noch, ob ich mich, wie manche, hinknien soll, oder ihm einfach die Hände hinhalten soll, entscheide mich dann doch für die unauffälligere Variante. Also Patschehändchen nach vorn, Hostie rein, Oskars Reaktion abwarten. "Der Leib Christi", sagt er leise und sieht mich endlich an. Ein Flackern erscheint in seinen Augen, sodass ich lächeln muss, allerdings so, dass es möglichst niemanden auffällt, und er, er stutzt kurz, grinst dann jedoch auch und streift mit seinen Fingern über meine Fingerkuppen. Etwas zu langsam und zu bedacht, als dass es Zufall sein könnte. Oskar ist nicht sauer!

"Amen", antworte ich brav, so wie ich es im Kommunionsunterricht eingetrichtert bekommen habe, trete zur Seite, mache den Hofknicks, wie es sich gehört, und trabe zurück auf meinen Platz. Dabei fühle ich beinahe körperlich, wie mir Oskar nachschaut. Aber vielleicht ist es auch der ans Kreuz geschlagene Jesus, der den Kopf schüttelt über meine Dreistigkeit, den Pfarrer während der Messe anzuflirten. Soll er doch! In meinem Kopf machen Oskar und ich gerade nämlich noch viel 'schlimmere' Dinge, als uns bloß anzulächeln und unsere Finger aneinanderreiben zu lassen.

Auf meiner Bank knie ich mich hin und falte die Hände. Anstatt allerdings zu dem großen Meister da oben zu beten, bete ich Oskar an, sauge seinen Anblick auf, bewundere seinen breiten Rücken.

Ist es wirklich so egoistisch von mir, wenn ich ihn nur für mich möchte? Will das nicht jeder, der verliebt ist? Sein Herzblatt bei sich haben, ohne dabei an andere denken zu müssen? Pfarrer gibt es doch wie Sand am Meer, aber Männer, die ich liebe, die gibt es nicht hinter jeder Sanddüne. In Wahrheit gab es vor Oskar nur zwei Stück, von denen ich behaupten kann, sie so sehr geliebt zu haben, wie ihn. Ralf hätte auch einer von ihnen sein können, hätte ich nicht zuvor Oskar kennengelernt. Dessen bin ich mir ziemlich sicher. Björn darf das natürlich niemals erfahren! Ich habe manchmal das Gefühl, dass er immer noch eifersüchtig ist. Hin und wieder, nicht oft, aber ich bekomme die giftigen Blicke mit, die er mir zuwirft, wenn ich seinem Ralf zu nahe komme. Die Blicke werden zwar immer seltener, aber sie sind nicht zu leugnen.

Ich atme durch und setzte mich wieder hin. Fertig gebetet. Also, was nun? Ich schaue vor zum Hochaltar, wo Maria steht, die den kleinen nackten Jesus im Arm hält. Als Kind habe ich sie oft angestarrt, habe überlegt, ob sie wirklich so aussahen, und wenn ja, woher der Bildhauer wusste, wie er sie darzustellen hatte, nach so langer Zeit. 'Ihr beide kommt auch ohne Oskar aus, nicht wahr?' Sind sie auch vor ihm und werden es auch nach ihm. Genau wie die ganzen Leute um mich herum. Es wird ein neuer Pfarrer kommen, sollte es soweit kommen, dass Oskar seinen Beruf aufgibt.

Nein, ich werde mir keine Vorwürfe mehr machen! Und ich werde auch die Gewissensbisse aus meinem Bauch verbannen. Schluss damit! 'Oskar gehört zu mir, und egal was passiert, ich bin an seiner Seite.'
 

***
 

~Tore~

Nach der Kirche warte ich draußen auf Frau Krämer. Etwas abseits stehend, lehne ich gegen die kleine Sandsteinmauer, welche das Kirchengelände zur Hälfte einfasst. Laut plappernd strömen die Leute aus der Kirche hinaus, laufen, oder steigen in ihre Autos, um ja schnell wieder nach Hause zu kommen. Die gute, alte Frau Krämer taucht auch endlich auf, und steigt schnaufend die Stufen nach unten. Ich eile zu ihr. "Na?", frage ich und grinse sie an, während ich ihr meinen Arm anbiete. "Soll ich Sie wieder begleiten?"

Sie lacht und schüttelt den Kopf. "Müssen Sie nicht. Ich habe einen Fahrer." Sie deutet auf einen rüstigen Mann, der neben ihr aufragt. "Der Paul fährt mich." Der Paul lächelt selig. Aha, daher weht also der Wind. Nun, an Frau Krämer beißt sich der Paul sein teures Kunstgebiss aus. Sie liebt ihren verstorbenen Mann immer noch wie am ersten Tag ihrer Begegnung, und ist auf keinen Fall auf ein Tête-à-Tête mit einem anderen Kerl aus.

"In Ordnung Frau Krämer. Dann einen schönen Sonntag Ihnen noch."

"Ihnen auch Tore." Halt suchend klammert sie sich am Paul fest. Ich drehe mich um, stiefle Richtung Heimweg, als sie mir noch hinterher ruft, dass sie gestern einen Blumenstrauß auf das Grab meiner Eltern gebracht hat. Ich bedanke mich bei ihr und trete den Heimweg an. Dabei fange ich mich an zu schämen. Durch die ganze Aufregung um Oskar, habe ich beinahe vergessen, dass bald der Todestag meiner Mutter ist. Ich sollte morgen Abend mal am Grab vorbeischauen, und alles herrichten, sonst geht noch das Gerede los, ich ließe ihr Grab verwahrlosen. Zum Glück schaut Frau Krämer immer mal danach und unterrichtet mich, sobald etwas im Argen liegt. Manche alten Witwen können ganz schön gehässig sein, wenn es um die Grabpflege geht, und posaunen das überall hinaus.

Zuhause angekommen, schäle ich mich aus den Klamotten und werfe mich in etwas Bequemeres. Halb zwölf schon. Bis Oskar hier auftaucht, dauert es noch eine Weile. Ich öffne die Tür zum hinteren Garten und lasse frische Luft hinein, dann durchforste ich den Kühlschrank, genehmige mir in der Zwischenzeit einen Joghurt und überlege, was ich uns denn mal kochen könnte. Ich werde recht bald von meiner Türklingel davon abgehalten. Soll ich raten, wer das ist? Natürlich ist es nicht Oskar, der hängt noch im der Kirche rum, es ist Ralf. "Hey du da", grinst er mich an und tritt ein.

"Moin", grüße ich ihn und kratze den letzten Rest des Joghurts aus dem Becher, während ich ihn eintreten lasse. "Was gibt's?"

"Wollt ihr zum Essen rüber kommen? Es ist noch genug von gestern über." Wie passend. "Du hast ja kaum was gegessen."

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. "Das stimmt doch gar nicht. Du hast nur zu viel eingekauft." Ralf brummt. "Oskar ist noch nicht da, aber wenn er kommt, frage ich ihn."

"Cool." Mein Nachbar lehnt sich gegen die Arbeitsplatte der Küchenzeile. "Wieder alles in Ordnung bei euch?"

"Ja. Das weißt du doch." Er war gestern doch Zeuge dieses ganzen Durcheinanders.

"Ich frage ja nur. Nicht, dass du wieder einen Rückfall hattest", meint er mit einem leicht besorgten Unterton.

"Hatte ich nicht", kläre ich ihn auf. "Und damit du es weißt, ich war heute Morgen sogar in der Sonntagsmesse."

"Ach?"

"Ja, ach." Ich bin ein klein wenig stolz darauf, dass ich es durchgezogen habe, und da raus gekommen bin, ohne große Blessuren, einem weiteren Kollaps oder gar ohne von einem Blitzschlag dahingestreckt zu werden.

"Du hast dich wirklich in die Höhle des Löwen vorwagt." Ich nicke grimmig. So schlimm war es jetzt auch nicht. "Und dir geht es noch immer gut?"

"Ja, mir geht es sogar hervorragend."

Ralf grinst mich an. "Wie das?"

"Weil Oskar zu mir gehört, mit oder ohne Kirche", antworte ich und strahle dabei bestimmt wie ein Honigkuchenpferd.

"Endlich hast du es kapiert!", atmet Ralf erleichtert auf.

"Das ist Oskars Verdienst." 'Ich bleibe bei dir. Ich kann doch gar nicht mehr ohne dich.' Mehr Bestätigung brauche ich nicht. "Er will bei mir sein. Das ist alles was zählt. Und alles andere wird sich weisen."

"Schön, dass du deinen Optimismus wiedergefunden hast. Oskar ist ein netter, ehrlicher Typ. Er wird dich bestimmt nicht verletzen."

"Denke ich auch", antworte ich. "Wenn, dann wäre es eher anders herum", murmle ich nachdenklich.

"Glaube ich auch nicht", sagt Ralf ganz überzeugt.

Leider muss ich seine Überzeugung gleich dämpfen, denn da gibt es noch etwas, das ich mit Oskar noch nicht besprochen habe. "Oskar weiß noch nichts von den Männern, mit denen ich mich das letzte Jahr über getröstet habe. Und dass wir beide zusammen im Bett waren, mehr als einmal, wie du weißt, habe ich ihm auch noch vor ihm verschwiegen." Ralf stürzt die Lippen. "Was?", frage ich ihn. "Sag schon, was du davon hältst."

"Davon, dass du es ihm überhaupt sagen willst?"

"Ja", nicke ich.

"Hm." Ralfs linker Fuß wippt auf und ab. "Ich an deiner Stelle würde ihm auf jedem Fall das mit den anderen Kerlen sagen. Das war ja nichts von Bedeutung."

"Und das mit uns?" Nervös blicke ich meinen Nachbarn an. "Hatte das mit uns Bedeutung?" Eigentlich möchte ich seine Meinung dazu gar nicht wissen. Er ist und bleibt ein guter Freund für mich. Daran ändert sich nichts. Dennoch fürchte ich seine Antwort darauf. Egal wie sie ausfallen wird.

"Tore? Wir kennen die Antwort darauf doch längst. Wieso sonst haben wir 'damit' aufgehört?" Ich schlucke hart. "Ich liebe Björn. Mit ihm ist es vollkommen anders, als mit dir. So muss es dir doch auch mit Oskar gehen."

"Ja", bestätige ich. "Mit ihn ist es ... vertrauter."

"Genau. Wir waren uns doch einig, dass wir uns einfach nur gegenseitig getröstet haben. Sag es Oskar, oder lass es. Wenn es dir zu schwer auf der Seele liegt, rate ich dir, sag es ihm, bevor du wieder kotzen musst."

Ich lege knurrend den Kopf schief. "So direkt musstest du das jetzt nicht ausdrücken."

Ralf lacht auf. "Doch, musste ich. Sonst fängst du nur wieder damit an, dir unnötige Gedanken zu machen." Bin ich wirklich so schlimm? "Vertraue auf deinen Oskar. Er nimmt große Risiken für dich in Kauf, weil er dich liebt. Denke bloß immer daran, dann wird das schon."

Grinsend atme ich tief durch. "Was würde ich nur ohne dich machen?", frage ich Ralf und umarme ihm. "Nur damit du es weißt: Das hier ist jetzt keine Anmache."

"Idiot!" Ralf Körper bebt vor Lachen und ich werde dabei so fest gedrückt, dass mir fast die Luft wegbleibt.

Wie lieb ich Ralf doch gewonnen habe. Es ist kaum zu glauben. Mit ihm kamen Veränderungen in mein Leben. Gute Veränderungen. Und ich habe nicht vor, mir diese wieder nehmen zu lassen.
 

Als Ralf mich wieder los lässt, macht er sich gleich wieder auf dem Heimweg. "Kommt einfach rüber."

"Machen wir", verspreche ich ihm, und begleite ihn noch bis zur Tür. "Bis nachher."

"Bye." Ich bleibe hinter der wieder geschlossenen Tür stehen und schaue gedankenverloren der verschwommenen Gestalt Ralfs durch das Türglas nach. Ich habe ihm echt einiges zu verdanken. Wegen ihm ist Oskar jetzt bei mir, er wäscht mir den Kopf, falls es nötig ist und dank ihm kann ich meine Gedanken in gerade Bahnen lenken. Wie kann ich das nur wieder gut machen? Irgendetwas wird mir schon noch einfallen. Vielleicht etwas, dass ihm und Björn gemeinsam Freude bereitet. Hm ...

Ich tüftle nachdenklich an den ersten Ideen, laufe somit völlig in Gedanken den Flur entlang, da donnere ich gegen etwas Großes. Ich erschrecke mich beinahe zu Tode! "Heilige Scheiße noch eins!", rufe ich und taumle zurück. Als ich aufschaue, um zu erfahren, gegen was ich da plötzlich gerannt bin, gucke ich direkt in Oskars Augen. "Was machst du denn hier?", frage ich verdutzt und versuche mein wild bollerndes Herz zu beruhigen. "Du bist aber früh." Oskar muss durch die offene Hintertür gekommen sein, sodass ich ihn gar nicht reinkommen gehört habe. Mein abwesender Geist tat sein Übriges.

Ich atme noch einmal tief durch und beruhige mich langsam wieder. Mein Pfarrer guckt mich aus unergründlichen Augen an. "Das passt ja, dass du so früh heute bist", plaudere ich drauf los. "Lass uns gleich los gehen. Ralf hat uns zum Resteessen eingeladen, und ... Ahh!" Wieder erschrecke ich mich. Hört das heute denn gar nicht mehr auf?

Oskar hat mich so mir nichts dir nichts gepackt und gegen die Wand geschoben. Sein schwerer Körper drückt mich dagegen. Die Stimmung schlägt um. Meine Haut beginnt zu prickeln und Oskars Aftershave vernebelt mir den Kopf. "Wir gehen jetzt nirgendwohin", sagt er mit dunkler Stimme, was bei mir heiße Schauer auslöst, die in meinem Bauch starten und in meinem Schoß einschlagen.

"Wir gehen nicht?", frage ich leise nach. Oskar schüttelt leicht den Kopf. "Und was tun wir stattdessen?" Diese Frage beantwortet er mir mit einem Kuss. Mehr muss er dazu auch nicht sagen ...

Schon oft durfte ich erfreut feststellen, wie flink Oskars Finger sein können, doch das, was er jetzt mit ihnen anstellt, grenzt schon an Lichtgeschwindigkeit. Ich kann gar nicht so schnell gucken, wie er mir das Oberteil abgestreift, und die Hose hinunter geschoben hat. Ich werfe meinen Kopf stöhnend in den Nacken, als er in meine Unterhose greift und mich begehrlich zu streicheln beginnt. Seine Lippen liegen derweil auf meinem Hals. Verräterische Klänge verraten mir, dass er sich ebenfalls die Hose aufknöpft.

"Ich bin fast wahnsinnig geworden, als du vor mir gestanden hast", keucht Oskar und knabbert an meinem Ohrläppchen.

"Du hast es gut kaschiert", gluckse ich.

"Das sah nur so aus. Ich wäre dir am liebsten gefolgt. Ich konnte kaum meine Gedanken im Zaum halten." Ist es irgendwie verwerflich, dass mich das freut? Okay, und anmachen tut es mich auch.

"Unkeusche Gedanken während der Predigt ... Pass lieber auf, dass du wegen mir nicht in der Hölle landest."

Oskar lacht gegen meine feuchte Haut. "Wenn, dann nehme ich dich mit." Huiiii! "Ohne dich gehe ich nirgends mehr hin." Mein Herzlein schlägt Saltos. Und ich Dummkopf mache mir Sorgen, dass er mich wieder verlassen könnte. Wie absurd mir das nun vorkommt!
 

Alles in allem wurde es eine ziemlich schnelle aber keineswegs üble Nummer, die Oskar und ich im Flur vollzogen. Oskar war richtig unbeherrscht. Diese neue Seite am ihm gefällt mir außerordentlich gut. Hoffentlich zeigt er sie mir ab jetzt öfter.

"Also ... wenn das jetzt ... jedes Mal so ... endet, dann ... gehe ich ab heute ... jeden Tag in ... die Messe", keuche ich und hänge immer noch wie erschlagen in Oskars Armen. Nur langsam kann ich meine Oberschenkelmuskel entkrampfen und von Oskars Hintern nehmen, mit denen ich mich an ihm festgeklammert habe. Sie sind ganz wackelig, als ich wieder den Boden unter den Füßen habe, doch Oskar hält mich sicher.

"Mach das", schmunzelt er und küsst meine Stirn. "Was hattest du vorhin gesagt? Resteessen bei Ralf?"

"Hä?" Ich bin noch ganz leer in der Birne.

"Du wolltest mit mir weg. Zum Resteessen zu Ralf und Björn." Oskar grinst breit.

"Ah ja. Da war was", erinnere ich mich langsam.

"Gehen wir? Ich hab Hunger." Kein Wunder.

Oskar lässt mich los, vergewissert sich aber zuvor noch, ob ich alleine stehen kann. Kann ich. An die Wand gelehnt schaue ich ihm nach, wie er im Gehen seine restliche Kleidung abstreift und im Badezimmer verschwindet. Hat man dafür noch Worte?

"Oskar? Warte doch auf mich!" Jetzt aber schnell! Wir wollen doch nicht zu spät zu unseren Nachbarn kommen.

Na ja ... Vorher gründlich duschen muss allerdings noch sein. Besser, ich helfe Oskar dabei.
 

******

Kapitel 21 - Kalle

Kapitel 21 - Kalle
 

~Ralf~

"Alles klar. Danke. ... Wir melden uns. … Pfhuu." Langsam lasse ich die Atemluft aus meinem Mund entweichen, als ich den Telefonhörer auf den Tisch vor mir lege. Das es jetzt so schnell geht, hätte ich nicht gedacht. "Björn?"

"Ja?"

"Kommst du mal bitte?" Ich muss es ihm sofort sagen.

"Was denn?" Nur mit einem Handtuch um die Hüften kommt er aus dem Badezimmer geschlichen. Er rubbelt sich die Haare trocken und guckt mich fragend an.

"Oskar hat gerade angerufen", beginne ich und klopfe neben mir aufs Bett, auf das ich mich eben gesetzt habe.

"Ist was passiert?"

"Schon … irgendwie."

Björn lässt die Hand mit dem Handtuch sinken und wirkt erschrocken. "Jetzt sag nicht, die haben herausgefunden, dass er und Tore …?"

"Nein" unterbreche ich ihn. "Es geht um Kalle." Ein Ruck geht durch Björns Körper, doch er sagt kein Wort. "Oskar hat es hinbekommen. Wir dürfen heute Abend zu ihm."

"Heute schon?" Ich nicke. "Echt jetzt?"

"Ja. Du darfst ihn besuchen." Ich lächle ihn an, doch Björn wird auf einmal ganz blass und sinkt auf die Matratze. Na nu? "Doch keine gute Neuigkeit? Ich dachte, du wolltest so schnell wie möglich zu ihm?"

"Ja schon, aber das kommt so plötzlich." Seine Augen irren im Raum umher. "Was sage ich denn zu ihm?" Hilfesuchend stoppt sein Blick bei mir.

Ich zucke mit den Schultern. "Hast du noch nicht darüber nachgedacht?"

"Nein. Das wollte ich tun, sobald es so weit ist." Typisch Björn. Immer mit dem Kopf voran, und erst wenn er durch die Wand ist, überlegt er sich, warum er das überhaupt getan hat.

"Vielleicht musst du ja gar nichts zu ihm sagen" überlege ich. "Ihr habt doch noch nie viel miteinander gesprochen."

"Ralf! Kalle ist im Heim! Wegen mir!"

"Quatsch! Er ist im Heim, weil euer asozialer Adoptivvater euch geschlagen hat!" Was redet er sich denn jetzt wieder ein? "Björn, hör zu." Ich greife nach seiner Hand. "Kalle ist dort besser aufgehoben. Ihm wird geholfen und ihm wird ein Weg gezeigt, wie er alleine zurecht kommen kann. Und wir sind doch auch noch da. Wenn er Hilfe braucht, kann er sich bei uns melden. Darüber haben wir doch schon gesprochen." Das haben wir sogar ziemlich lange. Ich hatte auch schon darüber nachgedacht, ihn zu uns zu holen, was aber eher unmöglich zu bewerkstelligen sein wird. Das Jugendamt ließe ihn sicher nicht bei uns bleiben.

"Ich hab trotzdem auf seine Reaktion Angst, wenn er mich sieht", flüstert Björn und lässt die Schultern hängen. "Ich war selbst schon mal in einem Heim, zwar nicht lange, aber ich weiß, wie man sich dort fühlt. Aber es ist nicht nur das. Ich bin abgehauen, habe ihn dort zurückgelassen und ich wette, in der Zeit wo mich der Alte gesucht hat, hat Kalle all seinen Zorn zu spüren bekommen."

"Ach Schatz" seufze ich und ziehe Björn an meine Brust. "Was hättest du denn tun sollen?"

"Gleich zu den Bullen gehen sollen, so wie du es mir geraten hast."

"Das hätte ihn dort auch nicht wesentlich schneller raus geholt." Und hätte Björn womöglich auch noch ins Heim befördert.

"Ich habe gar nicht an ihn gedacht, Ralf. Als ich bei dir war, habe ich keinen einzigen Gedanken an Kalle verschwendet", flüstert er erstickt. "Ich bin fruchtbar. Ein Egoist!"

"Das bist du nicht. Hör bitte auf dir ständig Vorwürfe zu machen. Wir fahren heute Abend zu ihm, dann kannst du ihm alles erklären, ja?" Björn nickt schwach. Ich drücke ihn noch eine Weile an mich und streichle durch sein feuchtes Haar. Dann wird es langsam Zeit für uns. "Die Arbeit ruft." Für uns beide.
 

***
 

~Björn~

Heute auf der Arbeit habe ich gar nichts zu Stande bekommen. Meine Ausbilderin war, glaube ich, leicht angesäuert. Ich erzählte ihr kurzerhand, was heute Abend auf mich zukommt, da wurde sie wieder ruhiger und machte mir sogar Mut. Natürlich weiß sie, genau wie alle Anderen auch, über meine ehemalige 'Familien'situation Bescheid. Sie wissen von meinem prügelnden Adoptivvater, und entgegen meiner Befürchtungen, haben sie deshalb keine Vorurteile gegen mich. Ich habe wirklich geglaubt, wenn sie davon wüssten, würde ich meine Ausbildung schmeißen müssen. Dem war aber nicht so, und ich bin so froh darüber, weil mir die Arbeit wirklich Spaß macht.

"Bis Morgen Björn", ruft mir Sybille, meine Ausbilderin, hinterher.

"Ja, bis morgen!"

"Und Kopf hoch! Das wird schon." Ich lächle sie dankbar an und verlasse den kleinen Schmuckladen.

Ralf steht schon neben seinem Auto auf einem der Parkplätze am Straßenrand. Er winkt mir zu. Mein Magen grummelt und spielt auf der Stelle verrückt. Es wird langsam ernst. "Bereit?", fragt er mich.

"Nein. Aber ich muss da jetzt durch." Ralf seufzt, sagt jedoch nichts, und steigt ein. Mit wackeligen Knien setze ich mich auf den Beifahrersitz.

Die Fahrt vergeht schweigend. Nur das Radio trällert Musik in unsere Gehörgänge, und als es plötzlich verstummt, bemerke ich erst, dass wir angekommen sind. "Da wären wir", meint Ralf unnötig.

"Mir ist schlecht." Und wie!

Ralfs Hand schließt sich um meine. Ich halte mich an ihr fest, spüre die Wärme und atme tief ein. Wenn Ralf bei mir ist, werde ich das schon irgendwie überstehen.

Gemeinsam laufen wir auf den Eingang zu. Das Heim ist ziemlich groß. Ein älterer Mann kommt uns entgegen, der uns freundlich anlächelt. "Nett hier", sagt Ralf. "Und so groß."

"Hmhm." Wieder klammere ich mich an Ralfs Hand. Mögen die hier doch denken was sie wollen.

Vor einer halb offen stehenden Tür, auf der in Großbuchstaben ANMELDUNG steht, bleiben wir stehen. Ralf klopft leise an und späht durch den Türschlitz. "Ja?" Dröhnt es von innen.

Ralf zieht mich mit in den Raum. "Guten Abend. Ralf Stade. Wir sind hier, um Kalle Nesgen zu besuchen." Eine ältere Frau mit Brille sitzt hinter einem vollgestopften Schreibtisch. Sie mustert uns. Insbesondere unsere verflochtenen Hände. Ich will gar nicht wissen, was die gerade denkt.

"Ach ja", schnarrt sie. "Kalles Bruder?"

"Genau."

Sie nickt wie ein Wackeldackel und steht auf. "Folgen Sie mir." Im Stechschritt marschiert sie an uns vorbei. Wir haben Mühe ihr zu folgen. Gut, dass sie eine so penetrante Parfümspur hinterlässt. Wie erschnüffeln uns einfach den Weg. Sie scheucht uns eine Etage höher und bringt uns in eine Art Spielzimmer. Wo sind wir den hier gelandet?! "Warten Sie hier. Ich hole Kalle." Und weg ist sie.

"Puh!" Ralf fährt sich durchs Haar. "Was war das denn für eine?"

"Keine Ahnung", murmle ich und plumpse auf einen der Stühle. Er ist unbequem und viel zu klein. Eindeutig ein Kinderstuhl.

Ralf grinst mich blöde an. "Es war damals echt hart an der Grenze, aber wenn ich dich jetzt so sehe, fühle ich mich beinahe wirklich pädophil." Ich lege den Kopf schief und beherrsche mich, ihm nicht den Mittelfinger zu zeigen. Das stachelt ihn nur noch mehr an, wie ich inzwischen weiß. "Ach Björnilein. Ich will dich doch nur aufheitern."

"Klappt aber nicht", grummle ich und strecke die Beine von mir. Viel bequemer. Ralf geht neben mir in die Knie. Es knackt laut. Jetzt muss ich doch grinsen. "Pass auf, dass dir die Hüfte nicht bricht, alter Mann." Uh! Das gefährliche Glitzern in seinen Augen erheitert mich nun aber echt! "Die brauchst du noch", setze ich leise hinzu und zupfe an seinem Oberteil.

"Mal sehen, ob ich die noch brauche", schmollt Ralf und steht auf. Spielverderber.

Er zieht sich einen Stuhl heran, einer in Normalgröße, und setzt sich neben mich. Ich lehne meinen Kopf gegen seinen Arm. In dieser Höhe erreiche ich genau seinen Ellenbogen, der so gar nicht bequem ist. Trotzdem bleibe ich so. "Ich bin froh, dass du mit mir hier her gekommen bist", sage ich leise zu ihm und starre zur Tür. Ich hab Angst, dass sie sich bald öffnet, und Kalle vor mir steht.

"Klar komme ich mit. Ist doch selbstverständlich." Ralf legt seinen Arm um mich und ich kann meinen Kopf gegen seine Seite drücken. Das ist viel besser, als sein Ellenbogen.

"Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll", gestehe ich.

"Begrüße ihn erst mal. Frage ihn, wie es ihm geht."

"Toll! Wie soll es ihm hier schon gehen?" Ich schaue mich im Raum um. "Hier liegen Kinderspielzeuge herum!"

"Meinst du, die zwingen ihn, damit zu spielen?", lacht Ralf.

"Nein, aber ... Ach ich weiß auch nicht!" Ich werde wieder unruhig und stehe auf. "Die ganzen fremden Leute hier! Und die ganzen Heimbewohner! Kalle konnte noch nie gut mit anderen, und jetzt ist er umzingelt von ihnen!"

"Er bleibt doch nicht für lange hier. Er wird auch bald volljährig."

"Und dann?"

"Bis dahin wird er wissen, was er möchte, und wie er dort hin kommt. Und ich sage es noch mal: Uns gibt es auch noch." Ja, ja. Nur befürchte ich, dass er mit uns gar nichts zu tun haben möchte. ... Oder? "Setzt dich Björn. Du machst mich auch schon ganz hibbelig." Na schön. "Nicht wieder auf den Kinderstuhl." Ralf schüttelt grinsend den Kopf. Ich gebe nach und setze mich ganz anständig an den Tisch. Die Hände gefaltet und den Blick zur Tür. Als diese kurze Zeit später aufgeht, halte ich die Luft an.
 

Kalle kommt herein. Ich glotze ihn nur an und knete meine Finger wund. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. "Ich bin wieder unten. Wenn Sie gehen, melden Sie sich bitte wieder ab", näselt die Brillenfrau von der Anmeldung und lässt uns mit Kalle allein.

"Hallo Kalle", begrüße ich ihn nervös und bin erstaunt, dass ich überhaupt ein Wort herausbekomme.

"Hey." In seiner gewohnten Art schlurft er an den Tisch heran und setzt sich uns gegenüber. "Wie geht's?"

Ich schlucke. Er wirkt weder sauer noch wütend. "Ähm. Gut. Und dir?"

Er zuckt mit den Schultern. "Es geht", sagt er und knibbelt an seinen Fingern herum.

"Du hast eine neue Frisur", stelle ich fest. "Sieht gut aus."

"Ja, die haben mich zum Friseur geschickt. Waren ihnen wohl zu lang, meine Zotteln."

"Sie waren wirklich ziemlich lang", sage ich, was mir so belanglos und unsinnig vorkommt, dass ich am liebsten loslachen möchte. Scheiße, was für eine dämliche Situation! Dabei interessiert mich doch nur eins. Ich sammle all meinen Mut. Ich muss es wissen. "Wie erging es dir, nachdem ich weg war? Hat er dich wieder …" Ich kann es nicht laut aussprechen.

"Ob er mich geklatscht hat?" Ich nicke schwach. "Klar. Was denkst du denn?" Ich senke den Blick, weil ich ihm nicht mehr in die Augen schauen kann. Ich fühle mich so schuldig. So verflucht schuldig.

"Es tut mir leid", sage ich leise. "Es tut mir so leid."

"Was tut dir leid?", fragt er mich verwundert.

"Na das ich dich da alleine gelassen habe." Was glaubt er denn, was mir leid tun würde? "Er hat dich verprügelt, weil ich abgehauen bin!"

"Der hätte auch so zugelangt. So war er doch schon immer." Wieder zuckt er mit den Schultern. "Kennst ihn doch. Außerdem hast du doch in letzter Zeit das Meiste abbekommen." Ich werde immer kleiner auf meinem Stuhl. Er hat recht. Kalle hat sich immer verkrümelt, aber das hat ihn auch nicht vor den Schlägen bewahrt.

'Pass auf, dass er dich nicht findet', hallen mir Kalles Worte von damals, als ich abgehauen bin, im Kopf nach. "Was hat er mit dir gemacht", frage ich ihn leise. "Du hast mir gesagt, dass ich aufpassen soll, dass er mich nicht findet, bevor ich zu Ralf bin. Und dass ich nicht wissen will, was er dann mit mir macht." Kalle senkt den Kopf. Nun sieht er wieder genau so aus, wie früher. So, wie ich ihn in Erinnerung habe. Klein und darauf bedacht, sich unsichtbar zu machen. "Sag es mir Kalle. Ich muss es wissen."

"Wieso? Was bringt es dir, wenn du es weißt? Es ist vorbei, Björn. Du bist jetzt weg, und ich bin hier. Er kann uns nichts mehr." Kann er das wirklich nicht? Sehr wahrscheinlich nicht, aber was passiert, wenn dieses Arschloch sich wieder herauswinden kann? Wenn Kalle zurück muss?

"Kalle, bitte sag es mir. Ich muss es einfach wissen." Viel zu lange habe ich mir vorgestellt, was er mit Kalle angestellt haben könnte. Das muss aufhören!

Kalle lacht freudlos auf und guckt mir kurz in die Augen, ehe er anfängt zu erzählen. "Wenn du es unbedingt hören willst", sagt er trotzig. "Es fing alles kurz nach meinem Einzug bei denen an. Man hatte mich aus meiner Familie geholt weil meine leibliche Mutter in nichts unserem Adoptivvaters nachstand. Sie trank, und wenn sie trank, bekamen ich und meine Schwester in regelmäßigen Abständen die verschiedensten Haushaltsgegenstände um die Ohren gefeuert." Meine Kiefer pressen sich zusammen. Kalle hat Zeit seines Lebens Prügel bekommen. Ich hatte wenigstens eine Familie, die mich geliebt hat, bevor ... Nicht an sie denken! Ich konzentriere mich wieder auf Kalle, der ausdruckslos auf den Tisch starrt. "Ich habe sie gehasst. Tue ich noch immer. Deshalb war ich froh, dass ich dort raus gekommen bin. Ich war erst fünf. Meine Schwester war schon acht. Wir kamen aber in kein Heim, sondern man stopfte uns gleich in eine Pflegefamilie. Dort war es zwar nicht wirklich schön, aber uns schlug niemand und wir bekamen ordentliches Essen. Ich dachte, wenn es so bleibt, dann wird alles gut. Bis man mich von dort wegbrachte. Ohne meine Schwester." Kalle schluckt und lächelt traurig, beinahe verschämt. "Ich hab geheult wie ein Schlosshund", krächzt er. "Aber es brachte nichts. Ich kam zu unseren lieben Adoptiveltern. Anfangs war es noch nicht so schlimm. Er beschimpfte mich, verjagte mich aus dem Wohnzimmer, wenn er seine Ruhe vor der Glotze haben wollte."

"Ich erinnere mich." Wenn der alte Sack Fußball glotzen wollte, mussten wir das Feld räumen. "Sein Fernsehabend war ihm heilig." Wir lachen. Freudlos, aber wenigstens können wir es.

"Mit den Jahren wurde ich aufmüpfig. Ich sah nicht ein, warum ich immer für ihn springen musste, wenn er was wollte." Oh ja! Wir waren seine Laufburschen. So lange, bis wir nicht mehr mitmachten, und uns in der Gegend herumtrieben, nur um von da weg zu kommen. "Meine erste Ohrfeige fing ich mir ein, weil ich nicht raus wollte, um seine dämliche Zeitung rein zu holen. Ich sagte: Hol sie dir doch selber, du fauler Sack! Peng! Hatte ich eine."

"Das hast du ihm gesagt?" Ich grinse. So lange ich mich erinnern kann, hat Kalle kein einziges Wort mit im gewechselt, außer die Nötigsten. Na ja, mit mir ja auch nicht. Ich hätte es wahrscheinlich einfach mal versuchen sollen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber ich konnte nicht. Ich trauerte zu sehr. Um meine Familie, um mich, um mein Leben ...

"Mitten ins Gesicht", kichert Kalle. "Der hat geglotzt die eine Dampfwalze, bevor er mir eine gewachtelt hatte." Nicht nur sein Blick war der einer Dampfwalze ... "Ab dann an hielt ich zwar die Klappe, aber vom ersten Schlag ist es nicht weit bis zum Zweiten." Ich weiß, wie er das meint. Mit jedem Mal, wo man seine Fänge bekommt, wird es 'Alltäglicher'. "Bis du kamst, ließ er all seine Wut an mir aus."

"Dieses Arschloch", knurre ich. "Hoffentlich versauert er im Knast!" Und die anderen Häftlinge zeigen ihm, wie schön es ist, hilflos gegenüber eines Größeren und Älteren ausgeliefert zu sein.

"Hoffe ich auch", flüstert Kalle. "Er hat mich im Keller eingesperrt", meint er plötzlich. "Nachdem ich das erste Mal abgehauen bin, hat er mich an der Bushaltestelle aufgegabelt und ins Auto gezerrt. Danach landete ich im Keller und ..." Kalles Hände ballen sich zu Fäusten. "Ich musste über eine Woche lang da unten bleiben. Ohne Toilette oder sonst was."

"Was?!" Bei allem, was ich mir vorher ausgemalt habe, aber das hätte ich niemals für möglich gehalten! "Dieses miese Schwein!", brause ich auf. "Der gehört doch in die Klapse!" Ich rege mich so auf, dass ich aufstehe und ein paar Schritte umher gehe. "Warum hast du mir denn nichts gesagt?"

"Warum hätte ich das machen sollen?", fragt mich Kalle, sieht mich jedoch immer noch nicht an. "Wir sind uns schon immer aus dem Weg gegangen. Ich dachte, du hast genug andere Probleme, die hatten wir beide. Was hätte es uns genutzt, wenn ich dir noch von dem Keller erzählt hätte?"

Am liebsten würde ich meine Faust gegen die erstbeste Wand schlagen. Ich bin so wütend! "Björn?" Ralf ist ebenfalls aufgestanden und kommt zu mir gelaufen.

"Lass mich bitte!", zische ich und weiche ihm aus. Ich will jetzt keine beruhigende Worte hören, oder von ihm getröstet werden. Ich will um mich treten! Irgendjemanden verprügeln! Ich muss mir Luft machen! Da ich das aber nicht kann, umklammere ich meinen Oberarm mit einer Hand und drücke die Fingernägel fest in die Haut. Wie lange ist es her, dass ich mir auf ähnliche Weise Luft machen musste? Sicher ist das schon einige Monate her.

Ich spüre Ralfs besorgten Blick auf mir ruhen, aber ich ignoriere ihn. Stattdessen setze ich mich wieder, lasse meinen Arm los und fühle das kribbelnde Brennen an den Stellen, an denen sich die Fingernägel eingedrückt haben. Es beruhigt mich. Wie immer, wenn ich auf diese Weise den Druck in mir abbaue. "Du hast recht", sage ich leise zu Kalle. "Es ist vorbei." Vorsichtig schiebe ich meine linke Hand über den Tisch und stupse mit den Fingern gegen Kalles noch immer geschlossene Faust.

Er zuckt zusammen, lässt sie jedoch liegen. "Ich bin kein Homo", meint er trocken.

"Und? Ich versuche dich ja auch nicht anzumachen."

Endlich sieht er mich an. "Also stimmt es? Du bist schwul?"

"Ähm ... Eher bi."

Kalle runzelt die Stirn. "Aber du bist doch mit dem da zusammen?" Sein Kopf ruckt in Ralfs Richtung, der mit der Äußerung 'dem da' nicht ganz zufrieden zu sein scheint.

"Der da heißt Ralf", grinse ich. "Und ja, ich bin mit ihm zusammen."

"'Kay", meint Kalle. "Nich mein Ding, aber wenn er gut zu dir ist ..."

"Ist er." Ich lächle Ralf an. Er sieht angespannt aus. "Ich liebe ihn." Seine Mundwinkel zucken nach oben. Na wer sagt es denn?

"Cool", findet Kalle. "Da hattest du ja Glück."

"Das hast du sicher auch bald. Und falls du irgendwas brauchst, Hilfe oder so, kannst du dich jeder Zeit bei uns melden." Ich greife in meine Hosentasche. Dort ziehe ich den Zettel raus, auf dem ich all unsere Telefonnummern und unsere Adresse aufgeschrieben habe, und reiche sie Kalle. Zu meiner Erleichterung nimmt er ihn, sieht ihn sich kurz an, nickt, und steckt ihn sich ein.

"Mal sehen, ob das überhaupt nötig ist", sagt er dann allerdings.

"Auch falls nicht, egal. Ruf einfach an." Das habe ich befürchtet. Er will unsere Hilfe nicht. "Wir können ja auch nur miteinander reden."

Kalle fängt an zu lachen. "Reden? Wir? Das haben wir noch nie. ... Außer heute, ja, aber was haben wir uns schon zu sagen?"

Hilflos zucke ich mit den Schultern. "Irgendwas findet sich immer", lasse ich nicht ganz einfallsreich vom Stapel.

"Fuck Björn! Lassen wir das." Jetzt bin ich derjenige, der den Kopf senkt. Er hasst mich doch! "Wenn wir uns unterhalten, dann erinnern wir uns bloß gegenseitig an die ganze Scheiße. Werde glücklich mit deinem Lover und vergiss die letzten Jahre."

"Ich will sie aber nicht vergessen", flüstere ich. "Und ich darf sie auch nicht vergessen." Auch wenn es furchtbar war, diese ganzen Erlebnisse haben mich zu Ralf geführt. Sie haben mich büßen lassen, für das, was ich meinen Eltern angetan habe. "Außerdem fühle ich mich furchtbar, dass du hier hockst, und es mir so gut geht."

Kalle verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich zurück. Es wirkt fast überheblich, so wie er mich angrinst. Als wüsste er was ... "Die haben meine Schwester gefunden", lässt er auch schon die Bombe platzen. "Nächste Woche komm ich zu ihr."

Ich halte die Luft an. "Echt?"

"Ja. Sie war auch schon hier. Sie lebt in Augsburg. Zusammen mit ihrem Mann, drei Kindern und vier Pferden." Mir donnert die Kinnlade runter.

"Echt?"

"Ja, immer noch echt", grinst Kalle. "Es war schön, sie wieder zu sehen. Ich freue mich schon darauf, zu ihr zu fahren."

"Scheiße, wie mich das freut!", rufe ich erleichtert. "Aber ruf mich trotzdem an, ja?"

"Mal sehen." Kalle zuckt mit den Schultern. Der ändert sich wohl nie. Na ja, ein wenig hat er sich schon verändert. Und ich bin mir sicher, dass das nur der Anfang war. Für uns beide.
 

***
 

~Tore~

"Tschau."

"Tschau. Und beeil dich." Mir wird ein Lächeln geschenkt, dann noch ein Kuss, und weg ist er. Verträumt schaue ich Oskar nach, wie er sein Rad durch die Büsche schiebt, und in ihnen verschwindet. Die zweige rascheln und wippen noch ein wenig, dann wird es still. Hoffentlich vergeht die Zeit bis heute Mittag schnell! Da heute mein freier Tag ist, kommt Oskar zum Mittagessen, oder besser gesagt, zum Spätmittagessen, denn bis er es schaffen wird, bei mir zu sein, dürfte es spät werden. Dennoch ist es immer einer der besten Tage der Woche!

Ich zwinge mich regelrecht, die Hintertür wieder zu schließen, und wandere durch mein Wohnzimmer hinaus in den Flur, hinein in meine Küche. Mal schauen, was noch an Essbaren da ist. Ansonsten muss ich noch einkaufen fahren. Viel ist wirklich nicht mehr da. Mist! Dabei hatte ich gehofft, heute nicht aus dem Haus zu müssen.

Seufzend donnere ich die Kühlschranktür zu und suche meine Autoschlüssel. Ich könnte zwar auch laufen, aber dazu bin ich heute viel zu faul. Mit dem Schlüssel in der Hand, der Geldbörse in der Hosentasche und dem Handy in der anderen, verlasse ich mein Häuslein und laufe völlig in Gedanken zu meiner Garage. Ich wuchte das Tor auf. Es quietscht hässlich und kracht oben in die Halterung. Ich glaube, darum müsste ich mich auch bald mal kümmern ... "Tore?"

"Ja?" Ich drehe mich um. "Frau Krämer! Was machen Sie denn hier?" Das Garagentor ist vergessen. Ich laufe die Einfahrt runter und öffne das Eisentor, damit Frau Krämer es nicht aufwuchten muss.

"Wollen Sie weg?", fragt sie mich schnaufend und hält sich dabei an der Steinmauer fest.

"Ich wollte einkaufen. Brauchen Sie auch etwas?" Wenn sie schon mal hier ist, kann ich auch fragen.

Sie überlegt. "Kann ich mitfahren?", fragt sie mich.

"Äh klar! Natürlich." Warum auch nicht? Es überrascht mich bloß ein bisschen. Sonst drängt sie sich nie auf, wobei aufdrängen etwas zu dramatisch klingt. Sie möchte niemanden zur Last fallen, und meinst muss ich lange auf sie einreden, bis sie Hilfe annimmt. "Warten Sie hier. Ich fahre den Wagen schnell raus, damit sie besser einsteigen können." Gesagt, getan. Ächzend und stöhnend steigt Frau Krämer in mein Auto. Ich werde aber einen Teufel tun, um ihr zu helfen. Das ließe ihr Stolz nicht zu.

"Uff!", schnauft sie und knallt die Beifahrertür zu. "Das wäre geschafft."

"Dann mal los. Wohin möchten Sie?"

"Falls es ihnen nichts ausmacht, würde ich gern in den Tegut." Tegut? Der ist aber ganz schön weit vom Schuss.

"Kein Problem", erwidere ich trotzdem und rolle aus der Ausfahrt. Ich bin eben zu gut für diese Welt! Oskar wäre stolz auf mich. "Haben Sie etwa gerochen, dass ich einkaufen wollte?", frage ich Frau Krämer.

Sie fummelt gerade am Gurt herum, solange, bis es klick macht und sie sich geschafft gegen den Sitz fallen lässt. Jetzt hängt sie da, wie ein auf die Seite gefallener Käfer. "Ich wollte zu Ihnen", gibt sie zu. "Zum Reden."

"Ist wieder was passiert?" Soll sie doch in ein Altenheim?

"In gewisser weise ja." Oh je. "Ich weiß nicht, ob ich das mit Ihnen im Auto bereden sollte, daher ..."

"Nur raus damit. Ich kann fahren und reden." Nicht nur Frauen sind multitaskingfähig. Auch schwule Männer haben das im Blut.

"Das Thema könnte Sie aufregen."

Ich grinse in mich hinein. Sie verwechselt mich anscheinend mit eine ihrer vielen Klatschfreundinnen. "Ich schaffe das schon", sage ich zu ihr. "Während dem Autofahren aufregen ist doch beinahe so etwas wie ein Volkssport in Deutschland."

Sie lacht und rückt sich auf dem Sitz zurecht. "Also schön", japst sie und sitzt endlich aufrecht. "Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie vorher nicht gewarnt." Ach Frau Krämer. Wie gut, dass es in einer kleinen Vorstadt immer viel zu tratschen gibt. "In der Nachbarschaft geht ein Gerücht um", beginnt sie leise. Warum sie Gerüchte immer im Flüsterton preisgibt, bleibt mir ein Rätsel. Uns hört ja schließlich keiner hier drinnen. "Ich habe gehört, dass sich einige wundern."

"Über was denn?", frage ich nach und bremse, weil so ein Vollidiot vor mir abbiegen will, ihm aber die Blinkanlage völlig fremd zu sein scheint.

"Über den werten Herr Pfarrer", höre ich Frau Krämer neben mir sagen. Die Info braucht ein paar Sekunden, bis sie von meinen Ohren ans Gehirn gelangt ist, und dieses es dann verarbeitet, und die richtigen Schlüsse daraus gezogen hat. Wie gut, dass ich noch immer auf der Bremse stehe! Mir sackt das Blut in die Füße, schießt aber sofort wieder nach oben. Mir wird mit einem Schlag schlecht. "Er ist oft bei Ihnen, oder?", harkt sie nach.

Hinter mir hupt es. Das Auto, über das ich mich eben noch aufgeregt habe, ist längst ab gebogen, doch ich stehe immer noch auf der Straße. Ich reagiere Automatisch, setzte den Blinker und fahre ebenfalls in die Seitenstraße. Dort halte ich am Fahrbahnrand an. "Sehen Sie! Ich habe Sie gewarnt", schnarrt Frau Krämer. "Also stimmt es, nicht wahr?"

"Wir sind Freunde!", krächze ich. "Wir reden viel miteinander." Oh Scheiße! Was mache ich denn jetzt? Für den Fall, dass jemand mir Fragen darüber stellt, was es mit Oskars ständigen Besuchen bei mir auf sich hat, hatte ich mir eigentlich Ausreden einfallen lassen. Gute Ausreden, aber sie wollen mir partout nicht einfallen. Vor mir drehen sich die Armaturen und am liebsten würde ich aus dem Wagen steigen und rennen, so schnell ich kann. Frau Krämer weiß etwas! Aber nicht nur das. Es wird schon über uns geredet!

"Tore? Sie müssen mir nichts vormachen", sagt sie leise. "Ich habe gesehen, wie Sie ihn ansehen." Oh verflucht! Wir sind geliefert! "Alles in Ordnung? Brauchen Sie frische Luft?" Frau Krämer beugt sich zu mir und schaut mich ehrlich besorgt an. "Ich hätte Ihnen das lieber doch nicht im Auto sagen sollen", seufzt sie. "Warten Sie!" Sie kramt in ihrer Handtasche herum. "Hier! Trinken Sie einen Schluck."

Perplex starre ich auf die kleine Flasche Klosterfrau Melissengeist, den sie mir vor die Nase hält. "Ich kann das nicht trinken", erwidere ich. "Ich fahre."

"Im Moment fahren Sie nicht, und der eine Schluck wird uns schon nicht umbringen." Überredet. Ich habe gerade sowieso ganz andere Sorgen, als in eine Alkoholkontrolle, oder in einen Autounfall verwickelt zu werden. Zwei große Schlucke dieses widerlichen Gesöffs, das reicht. Ich muss mich beherrschen, dass ich nicht mein Auto vollkotze. Wäh, ist das Widerlich!

"Danke", fiepse ich und huste. "Boha!" Mich schüttelt es regelrecht durch.

"Gut, was? Das bringt die grauen Zellen in Schwung!"

"Nicht nur die", hechle ich, während ich mir über den Bauch reibe.

"Nun stellen Sie sich mal nicht so an." Gott sei Dank packt sie das Zeug wieder in ihre Tasche. Allein der Geruch bringt mich zum Würgen. "Ein Bonbon? Dann riecht man es nicht so."

Werthers Original. Das soll gegen eine Alkfahne helfen? Ich schaue erst das goldene Bonbon an, dann Frau Krämer. Ich kann nicht anders und fange an zu lachen. Wie absurd! "Gott!", schnaufe ich. "Ich träume, oder?"

"Ich fürchte nicht", sagt meine alte Bekannte und drückt mir das Bonbon in die Hand. "Einige der Nachbarn stellen schon die wildesten Vermutungen an."

"Tun sie das?" Der Melissengeist will wieder raus.

"Leider ja." Die arg mitgenommene Ledertasche Frau Krämers knistert. Sie drückt mir ihren krummen Fingern darauf herum, als wäre ihr das Gespräch ebenfalls unangenehm. "Darf ich direkt sein?"

"Wie direkt?"

"So direkt, dass ich Sie jetzt fragen werde, ob Sie eine ... nun ja ... romantische Beziehung mit dem Herrn Pfarrer haben." Willkommen zurück Melissengeist.

Ich reiße die Fahrertür auf und übergebe mich. Dahin ist der Melissengeist. Kein Wunder. Er stammt ja auch von den Klosterfrauen. Für die muss ich der Teufel persönlich sein, denn ich schlafe mit einem ihrer Leute.

"Entschuldigung", krächze ich mit schwacher Stimme und finde in der Seitentasche der Tür einen Pack Taschentücher, ziehe mir ein Tuch raus, mit dem ich mir den Mund abwische.

"Ich hatte also recht", schließt Frau Krämer aus meiner Kotzattacke.

Zu leugnen hat keinen Sinn. Ich will es auch gar nicht. Dazu fehlt mir die Kraft. "Hassen Sie mich jetzt?" Ich traue mich gar nicht sie anzuschauen.

"Sie hassen? Sie müssten mich doch inzwischen besser kennen, Tore!" Tut sie nicht?

"Ja aber, ich habe mit Oskar ... also ich bin mit ihm ..." Mein Bauch zieht sich erneut zusammen. Ich atme tief ein, damit ich mich nicht schon wieder vor Frau Krämer erbrechen muss. Dafür entkommt mir ein Rülpser. "Verzeihung." Ich will ein Erdloch, in dem ich mich verstecken kann. Sofort!

"Sie sind ein netter junger Mann Tore. Ein netter junger schwuler Mann." Ich drehe langsam meinen Kopf zu ihr rüber. "Ihre Mutter, Gott habe sie selig, hat mir schon längst erzählt, dass sie lieber Männer statt Frauen mögen." Ich glaube, ich brauche noch einen Schluck Klosterfrauengeist ...

"Das hat sie Ihnen gesagt?"

"Natürlich", nickt sie. "Wir haben viel über Sie geredet." Auch das noch! "Sie hatte immer Angst, dass sie dadurch in Schwierigkeiten geraten, oder irgendwelchen ... ähm ... schwulen Dingen zum Opfer fallen." Schwulen Dingen? Ich will lieber nicht wissen, was sie damit meint. "Wüsste sie, dass Sie und der Pfarrer zusammen sind, würde sie das sicher unheimlich glücklich machen und erleichtern." Na wenigstens etwas. "Und falls Sie jetzt Angst haben, dass ich ihr Geheimnis ausplaudere" ich spitze die Ohren "ich werde es für mich behalten, genau wie Ihre Vorliebe für Männer." Sie lächelt mich an und ich habe plötzlich das Gefühl, dass eine große Last von mir fällt.

Leider gibt es da noch etwas, das auf mir lastet. "Und die Gerüchte?", frage ich nach. "Die werden ganz bestimmt nicht weniger werden."

"Gegen die kann ich nichts machen", meint sie bedauernd. "Aber ich kann neue in die Welt streuen."

"Frau Krämer! Sie wollen lügen?" Meine Güte! Ich kannte die Gute bis jetzt ja gar nicht richtig!

"Wer spricht denn hier von Lügen?", winkt sie ab. "Ich will doch nur den Herrn Pfarrer und seinen Liebsten schützen." Ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn ich sie jetzt küssen würde?
 

******

Kapitel 22 - Wenn es dicke kommt, dann richtig

Ich glaube, ab diesem Kapitel werden mich einige Leser unter euch hassen. -____-“ Leider ist es nicht mehr zu ändern, also durchatmen liebe Fara. Augen zu und durch. >__<
 


 

Kapitel 22 - Wenn es dicke kommt, dann richtig
 

~Ralf~

"Geh vor." Ich halte Björn die Tür auf. Er tritt zu allem entschlossen an mir vorbei, so schnell, dass ich Mühe habe, ihm hinterher zu kommen. Vor der großen Infotafel in der Halle bleibt er stehen. "Und? Wohin?"

"Ich glaube, zum Passwesen", murmelt er.

Das sehe ich aber anders. "Nein. Zum Standesamt."

Björn stutzt und dreht sich zu mir. "Zum Standesamt?"

Ich fange an zu grinsen. "Die sind für Namensänderungen zuständig."

"Ach so", brummt er.

"Dachtest du etwa ...?"

"Was?! Nein!" Ich muss noch immer grinsen.

"Du willst mich gar nicht heiraten?", schmolle ich und spiele beleidigte Leberwurst.

"Hör auf zu spinnen!"

"Och ..."

"Wieso? Willst du?"

"Was?! Nein!", äffe ich ihn nach. Björn guckt grimmig und widmet sich wieder der Tafel. Ich verkneife mir einen weiteren Kommentar. Es steht ein wichtiger Gang für ihn an, da muss ich ihn nicht noch zur Weißglut treiben, auch wenn ich gerne würde. Irgendwie sind wir immer noch leicht maso veranlagt. Hm ... Aber was kann ich dafür, wenn unsere Versöhnungen immer so exquisit sind?

"Ich hab den Weg", verkündet Björn und trabt los. Ich zockle hinterher und darf den ganzen Zettelkram halten. Björns Geburtsurkunde, Ausweis und allerlei Zettelkram, der seine damalige Adoption dokumentiert. All das haben wir von der Polizei ausgehändigt bekommen, nachdem sie Björns Adoptivvater einkassiert haben. Seine Adoptivmutter war nicht gerade erfreut darüber, dass sie das alles rausrücken musste. "Hier ist es", flüstert Björn und bleibt vor einer der vielen Türen stehen. "Standesamt."

"Klopf an." Björn nickt und hämmert fest gegen die Tür.

"Herein!" Wieder geht Björn vor. "Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?" Ein wirklich sehr beschäftigt wirkender Mann sitzt uns an einem Schreibtisch gegenüber, rückt seine Brille zurecht und guckt uns genervt an. Wie höflich.

"Ich bin Björn Nesgen. Ich will meinen alten Nachnamen wieder annehmen."

"Waren Sie verheiratet?" Nicht lachen Ralf!

"Nein, war ich nicht", knurrt Björn, bleibt dennoch ziemlich gefasst. "Ich bin in einer Adoptivfamilie aufgewachsen, und vor kurzem achtzehn geworden. Ich will den Namen nicht mehr."

"Hn ... Setzen Sie sich doch erst mal. ... Und Sie sind?" Damit meint er mich.

"Ralf Stede. Ich bin Björns Partner." Der Standesamtheini nickt wissend. Och, mehr nicht? Ich hätte wenigstens einen leicht geschockten Blick erwartet.

"Haben Sie Ihre Geburtsurkunde dabei? Personalausweis?"

"Ja, haben wir", sage ich und schiebe den Kram über den Schreibtisch. "Da sind auch die Adoptionsunterlagen dabei."

"Sehr schön", murmelt der Typ und beschaut sich alles ganz genau. "Und als welchem Grund wollen Sie wieder Ihren alten Nachnamen?" Ich hab's geahnt. Namensänderungen bekommt man nicht so einfach. Jetzt kommt es auf Björn an. Er muss den Typen überzeugen, damit er auch alles in die Wege leitet.

"Ich will nicht mehr Nesgen heißen." Na los Björn! Sag ihm schon warum du nicht mehr so heißen möchtest. "Diese 'Menschen', die mich adoptiert haben, haben mir das Leben zur Hölle gemacht."

"Das mag ja sein, aber ..."

"Sein Adoptivvater hat ihn geschlagen, psychisch nieder gemacht und hat ihn eingesperrt", gehe ich dazwischen. "Dieser Nachname wird ihn ein Leben lang daran erinnern, deshalb will er seinen alten, richtigen Nachnamen wieder annehmen." So macht man das, mein Schatz. Auch wenn es schwer fällt.

"Na schön", murmelt der Kerl uns gegenüber. "Wenn das so ist, dann dürfte einer Namensänderung nichts im Wege stehen." Bin ich erleichtert! Bestimmt nicht so erleichtert wie Björn, aber ich freue mich für ihn. Wenn er nicht immer wieder diesen Namen hören muss, wird er hoffentlich bald damit abschließen können.
 

Nachdem alles in die Wege geleitet ist, dürfen wir wieder verschwinden. "Wir melden uns. Sie bekommen eine Urkunde, mit der Sie alle Dokumente wie Personalausweis und Führerschein neu beantragen können", klärte uns der Beamte auf, bevor wir uns auf den Heimweg machten.

"Meinst du, das dauert lange?", fragt mich Björn, als wir im Auto sitzen.

"Keine Ahnung. So drei Wochen sicher." Bei mir ging es die Neubeantragung meiner Dokumente schneller, da ich schon alles von meinem damaligen Wohnort geregelt hatte.

"Hm. ... Meinst du, ich habe da meinen Führerschein schon?"

"Kommt drauf an, wann du deine Prüfung machst. Wie weit bist du denn?"

"Ich brauche noch die Überlandfahrt und die Nachtfahrt. Theoriestunden habe ich schon alle."

"Echt?"

"Jepp." Er hängt sich ja mächtig rein.

"Und wie sieht es aus? Kannst du die Bögen?"

"So gut wie. Is einfach." Ich muss lächeln. Björn hatte zwar miese Noten, aber wenn er will, kann er eine Menge. Er kann sich so viel einprägen, dass ich ihn wirklich dafür bewundern muss.

"Steht schon ein Termin für die Schriftliche an?"

"Nö. Besprechen wir das nächste Mal."

"Fein. Wenn du jemanden zum Üben brauchst ..."

"Frage ich auf keinen Fall dich", grinst er. "Du müsstest den Kram eigentlich auch noch mal lernen, bei deinem Fahrstil."

"Das stimmt doch gar nicht!" Also so was!

"Und ob. Du fährst zum Beispiel immer falsch im Kreisel."

"Quatsch!" Ich und falsch fahren. Pha!

"Du blinkst beim Hinfahren."

"So macht man das ja auch."

"Eben nicht. Beim Hinausfahren blinkt man, und zwar schon rechtzeitig, damit der, der in den Kreisel will, weiß, dass du raus fährst."

"Kann nicht sein", grummle ich.

"Wenn wir nach Hause kommen, zeige ich dir das."

"Klugscheißer." Björn kichert.

"Was bekomme ich, wenn ich recht habe?"

"Meine Handfläche, die direkt auf den Hintern donnert."

"Abgemacht." Hä?!

Ich sage nichts mehr dazu, weil ich befürchte, dass mein Kleiner mit dem Kreiselgefahre recht hat. Ich verspreche mir selbst, mich zu bessern, und vielleicht auch mal in seine Bögen zu gucken, wenn ich Zeit habe, und fahre Richtung Heimat.

Zuhause angekommen, rolle ich gerade in die Garage, als ich hinter mir Tores Wagen sehe, der ebenfalls in seine Hofeinfahrt fährt. "Der ist aber früh", meint Björn, der ihn auch entdeckt hat.

"Tore hat heute seinen freien Tag."

"Was'n Zufall!", lacht mein Schatz. Wir haben heute nämlich ebenfalls frei, damit wir alle Beamtengänge erledigen können. "Wollen wir rüber gehen?"

Verblüfft stelle ich den Motor aus. "Du willst zu Tore?"

"Warum nicht? Ich will wissen, ob sich was bei seinem Pfarrer getan hat." Neugieriges Aas!

"Er hätte uns bestimmt schon davon erzählt", überlege ich laut.

"Stimmt. Aber ich will ihm von meiner Namensänderung erzählen!" Ratzfatz springt Björn aus dem Auto und läuft rüber zu unserem Nachbarn.

Ich bin immer noch ganz verblüfft. "Irre ich mich, oder freunden die sich echt langsam an?" Mein Auto gibt keine Antwort, also steige ich auch aus und folge Björn.

Der ist schon fleißig dabei, und hilft Tore einen Haufen Einkaufstüten ins Haus zu schleppen. "Hast du den Supermarkt ausgeraubt?", grinse ich, als ich die Unmengen an Lebensmitteln sehe.

"Fast", antwortet Tore. "Ich dachte, vielleicht kaufe ich ein paar Notrationen, falls ich die nächsten Wochen nicht mehr aus dem Haus komme." Was? Er deutet meinen fragenden Gesichtsausdruck richtig, nickt wortlos Richtung Haustür und verschwindet ins Innere.

Ich habe Glück, denn das Auto ist schon leer. Daher schließe ich die Heckklappe und beeile mich.

"Tore?" In der Küche finde ich ihn. Ebenso Björn, der seine neugierige Nase in die Tüten steckt.

"Darf ich mir hiervon eins nehmen?" Björn wedelt mit einer Packung Eis am Stil herum.

"Klar."

"Danke." Björn ist glücklich. Hauptsache einer. Tore ist total fahl im Gesicht.

"Was ist los? Was meintest du mit Notration?"

Die Verpackung des Eises raschelt. Tore packt die angebrochene Packung in den Kühler, während Björn mit dem Plastik seines Eises kämpft. "Ich war mit Frau Krämer, einer alten Bekannten meiner Mutter, unterwegs. Ich helfe ihr manchmal, weil sie alleine ist und nicht mehr so kann, wie sie gerne würde."

"Das ist aber nett von dir", schmatzt Björn und fällt auf einen der Küchenstühle.

"Äh ... ja. Kann sein", druckst Tore und setzt sich nun auch. Wo die zwei schon mal sitzen, setze ich mich zu guter Letzt auch an den Tisch. "Sie wollte mit mir reden. Über mich und ... Oskar." Björn hört auf, an seinem Eis herumzukauen und auch ich halte die Luft an. "Sie weiß es. Doch nicht nur das. Die Leute reden schon."

"Scheiße!", ruft Björn, hält sich dann jedoch schnell die Hand vor den Mund, weil er dabei das halbe Eis in der Küche verteilt hat. "Und jetzt?"

"Keine Ahnung", sagt Tore leise. "Ich muss auf Oskar warten und hören, was er dazu sagt."

"Na toll. Es war aber abzusehen, dass es auffällt", bin ich der Meinung. "Wie geht es dir?"

"Nicht so toll, aber irgendwie bin ich auch erleichtert. Frau Krämer will zwar versuchen, den Schaden klein zu halten, aber das wird kaum möglich sein, fürchte ich."

"Ja, ja. Wenn du hier einen Schnupfen hast, reden sie oben im Städtchen schon von deinem Tod." Björn muss es ja wissen. Mit den Vorstadtgepflogenheiten bin ich noch nicht ganz vertraut. Jedenfalls nerven sie mich schon jetzt.

"So ist es", flüstert Tore. "Da ist aber noch was." Er sieht mich eindringlich an. "Ihr beide seit auch immer noch davon betroffen."

Björn lacht auf, verstummt aber wieder. "Ehrlich gesagt, ist mir das egal", erkläre ich. "Björn ist achtzehn, und wenn sie mich für einen perversen alten Kerl halten, geht mir das auch am Arsch vorbei."

"Schon, aber sie wissen, dass ihr unsere Freunde seit. Die zählen einfach bloß eins und eins zusammen." Nun liegt es an mir, Scheiße zu sagen. "Hoffentlich passiert Oskar nichts."

"Was soll ihm denn passieren?", frage ich Tore.

"Herrn Nesgens Parteikameraden zum Beispiel. Björns Adoptivvater ist zwar seines Amtes enthoben, aber seine Parteiidioten laufen immer noch hier herum."

"Die haben gerade genug damit zu tun, ihr Image wieder aufzupolieren", meint Björn. "Die müssen aufpassen, dass sie nicht ganz aus dem Stadtrat fliegen."

"Sicher?"

"Da bin ich mir sogar sehr sicher. Domis Onkel arbeitet doch für die Stadt. Der erzählt Domi immer was da grad so los ist, weil er weiß, dass ich sein Kumpel bin. Da ist eine Menge Aufruhr wegen meinem Sack von Adoptivvater, sag ich euch. Die können froh sein, wenn sie Zeit zum Atmen haben."

"Bleibt noch abzuwarten, ob das jemand von den Kirchenheinis mitbekommt. Falls ja, dann werden sie Oskar deswegen ganz bestimmt befragen, und ich glaube nicht, dass er lügen wird." Tore mag Recht haben.

"Das Einzige, was sie dann tun können, ist, ihn vom Amt zu entheben. Mehr aber auch nicht." Was wollen sie ihm groß anhaben können? Für ihn beten, dass er in der Hölle schmort? Tore sieht nicht so aus, als hätte ich ihn mit meinen Worten beruhigen können. Er sitzt da wie ein Häuflein Elend. "Warte doch erst mal, bis Oskar wieder hier ist. Dann rede mit ihm. Er wird schon wissen, was zu tun ist", versuche ich es erneut und habe Erfolg dabei.

"Ja, das ist wahrscheinlich besser", sagt er und lächelt schmal. "Könnt ihr so lange bei mir bleiben? Ich will nicht alleine sein."

"Klar. Aber nur, wenn ich noch ein Eis bekomme." Mit erhobener Augenbraue schaue ich zu meinem kleinen Raufbold rüber. Manchmal denke ich, Björn ist doch noch nicht volljährig und befindet sich immer noch im Wachstum, so, wie er ständig nur am futtern ist.
 

***
 

~Tore~

Kaffeesatz schwimmt in meinem Kaffee. Nur ein paar Krümel. Sie drehen ich im Kreis, tauchen wieder unter und verschwinden. "Stimmt was mit dem Kaffee nicht?", fragt Ralf, der ihn eben gekocht hat.

"Ne, ne. Schmeckt gut." Wen stören schon ein paar Kaffeesatzkrümel?

Ich trinke einen Schluck und stelle die Tasse wieder vor mir auf den Tisch. Björn ist so lieb, und räumt meinen Einkauf weg und Ralf sitzt da, beobachtet mich und spielt Glucke. Im Radio dudelt Musik, die Björn leise mit summt. "Mach dir keine Gedanken. Das wird schon", sagt Ralf zum gefühlt hunderten Mal. Ich nicke und lächle schwach. Um mich mache ich auch keine Sorgen, sondern um Oskar.

Ich schaue auf die Uhr. Halb sechs. Wieso kommt er nicht? Hatte er nicht gesagt, dass er früher heim kommt? Und plötzlich höre ich sie. Die Hintertür! Ich springe auf und eile in den Flur rüber zum Wohnzimmer. "Oskar?" Überrascht sieht er mich an und betritt das Wohnzimmer. "Endlich bist du da!" Ich falle ihm um den Hals.

Er umarmt mich fest. "Hast du es etwa schon gehört?", fragt er mich leise.

"Du weißt davon?" Ich löse mich ein Stück von ihm, damit ich ihn anschauen kann. "Hat dir deshalb jemand Ärger gemacht?" Bitte nicht! Nicht meinem Oskar!

Er runzelt die Stirn. "Wieso Ärger? Von was sprichst du?"

Ich will antworten, stelle aber eine Gegenfrage. "Von was sprichst du?" Wenn wir nicht vom selben Thema sprechen, dann soll er zuerst mit der Sprache rausrücken.

"Von Frau Krämer." Hä? Also doch!

"War sie bei dir?"

"Nein. Ich war bei ihr. Sie hat mich angerufen, aber ... Ich war zu spät." Jetzt kapiere ich gar nichts mehr.

"Wie, zu spät? Was ist denn?"

Oskar seufzt und schiebt mich zur Couch. "Setz dich." Ralf und Björn stehen im Türrahmen. Oskar nickt ihnen zu, während ich auf die Couch falle. Er setzt sich neben mich und greift nach meiner Hand. Was wird das denn jetzt?

"Mensch Oskar! Was hast du denn? Du tust ja gerade so, als ob jemand gestorben wäre!" Ich schüttle lachend den Kopf, doch Oskar bleibt ernst. Meine Mundwinkel rutschen nach unten. "Was ist passiert?", frage ich ihn. Das ungute Gefühl in mir schwillt an.

"Frau Krämer, sie ist heute Nachmittag verstorben", antwortet er leise.

"Verstorben?" Oskar bejaht leise. "So ein Unsinn! Ich war doch heute Morgen noch mit ihr unterwegs!"

"Sie hatte einen Herzinfarkt. Heute Nachmittag um dreizehn Uhr rief sie mich an, und bat mich vorbeizukommen, weil es ihr so schlecht ging. Sie würde keine Luft mehr bekommen und ihr sei schlecht. Ich informierte den Rettungswagen, weil sie es partout nicht wollte, aber als ich ankam, da war es schon zu spät." Ich ziehe meine Hand unter Oskars hervor und stehe auf. "Sie wollte mir noch etwas sagen, meinte sie." Ich kann mir vorstellen, was sie ihm sagen wollte. "Es tut mir leid, Tore. Ich weiß, dass du sie gern hattest."

Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar und laufe vor dem kleinen Wohnzimmertisch auf und ab. "Sie war eine Freundin von meiner Mutter", murmle ich. "Ich hab sie nur besucht weil ... Sie war immer so alleine, nachdem ihr Mann und meine Mutter ..." Ich bleibe stehen. Meine Augen brennen. Ich hatte die alte Dame wirklich gern. "Sie wusste, dass ich schwul bin", flüstere ich erstickt und schaue Oskar an, der aufgestanden ist, und auf mich zu läuft. "Und sie wusste auch das mit uns." Meine Kehle schnürt sich zu. Hören die schlechten Nachrichten denn nie auf?!
 

~Ralf~

Ich ziehe Björn mit mir zurück in die Küche. Ich glaube, Tore und Oskar brauchen Zeit für sich und möchten keine Zuschauer dabei.

"Oh man. Immer kommt alles auf einmal", seufzt mein Kleiner. "Warum ist das so?"

"Das habe ich mich auch schon oft gefragt." Wenn dir das Leben in die Eier tritt, dann richtig. Das durfte ich schon so oft am eigenen Leib erfahren. Doch manchmal lohnt sich auch alle Mühe und jedes Eiertreten. Björn und ich sind der beste Beweis dafür, und ich hoffe inständig, dass es sich bei Tore und Oskar auch lohnen wird. "Noch Kaffee?"

"Nee. Da ist Kaffeesatz drinnen."

"Oh. Mit der Maschine kenne ich mich nicht aus. Sorry." Ist mir gar nicht aufgefallen.

"Was machen wir denn jetzt?", fragt Björn. "Sollen wir gehen?"

"Erst mal nicht. Warten wir hier, dann sehen wir weiter. Vielleicht brauchen uns die beiden noch." Leise setzen wir uns wieder an den Küchentisch und warten ab. Ich lege meinen Arm um Björn und tausche meine Nase in sein Haar.

"Vielleicht wäre es besser, wenn wir nicht mehr so oft zu Tore gehen. Nur für ein paar Wochen lang, bis sich alles beruhigt hat. Oder was meinst du?"

"Wieso denn?", will ich von ihm wissen.

"Du hast doch gehört, was Tore gesagt hat. Diese Frau Krämer meinte, die reden über uns und projizieren das auf ihn und vor allem auch auf Oskar. Über uns können sie von mir aus auch denken was sie wollen, aber für Oskar ist das nicht einfach." Wie lieb von ihm, dass er sich solche Gedanken macht.

"Lassen wir Oskar entscheiden", überlege ich.

"Ist gut. ... Ich hol mir noch ein Eis." Björn entwindet sich meinem Arm und läuft rüber zum Kühlschrank.

"Bring mir auch eins mit." Der macht einem richtig den Mund wässerig mit seinem Eisgelutsche. Auf zweierlei Art ...

Still hocken wir am Küchentisch, lutschen unser Eis, und hören den leisen, kaum verständlichen Stimmen zu, die vom Wohnzimmer zu uns vordringen. "Glaubst du, Tore stand dieser Frau Krämer sehr nahe?"

"Keine Ahnung", antworte ich. "Ihr Tod scheint ihm jedenfalls ziemlich nahe zu gehen."

"Oskar übernimmt bestimmt ihre Beerdigung."

"Kann sein." Wenn er bis dahin noch Pfarrer ist. "Sind deine Eltern und deine Schwester eigentlich auch hier beerdigt?" Ich werfe den leeren Eisstiel in meine leere Kaffeetasse, und drehe mich zu Björn.

Der kaut abwesend auf seinem Holzstil herum. "Ja", murmelt er schließlich. "Sind sie."

"Warst du mal da?" Er schüttelt den Kopf. "Auch nicht während der Beerdigung?" Wieder ein Kopfschütteln. "Wollen wir heute Abend mal hingehen?"

Nun dreht er sich ebenfalls zu mir und guckt mich entgeistert an. "Warum? Was will ich da?"

"Einfach nur da sein", antworte ich ihm.

"Nützt doch eh nix!" Der Eisstiel flieg auf den Küchentisch und Björn springt auf. "Muss mal wo hin." Das nächste, das ich höre, ist die Tür vom Badezimmer.

Ich lehne mich zurück und puste laut. Mit dieser Reaktion habe ich fast schon gerechnet. Soll er erst einmal darüber nachdenken. Ich fände jedoch, dass ihm ein Besuch am Grab seiner Familie gut tun würde. Wahrscheinlich nicht sofort, aber später bestimmt.

"Ralf? Du bist ja noch da." Tore steht plötzlich in der Küche, gefolgt von Oskar, der ihm eine Hand auf den Rücken gelegt hat.

"Ja, Björn ist auch noch da. Wir wollten nicht gehen, ohne zu fragen, ob du noch etwas brauchst."

Tore schüttelt den Kopf. "Oskar ist ja da", sagt er und lehnt sich an ihn.

Draußen geht die Badezimmertür wieder auf. "Sollen wir auf Abstand gehen?", höre ich Björn fragen. Er hat sich ja schnell von meinem Vorschlag beruhigt. Das ist gut.

"Abstand?" Tore dreht sich zu ihm um. "Magst du mich etwa nicht mehr?" Ich muss grinsen. Tore ist einfach nicht unter zu kriegen.

"Abgesehen davon, dass ich dich noch nie leiden konnte ..."

"Du gefühlloser Zwerg!" Björn streckt ihm die Zunge raus.

"Björn meinte, weil die Leute sonst noch mehr über euch reden, wenn sie sehen, dass ihr mit der alten Schwuchtel und ihrem jungen Lover herumhängt", erkläre ich den beiden.

"Wenn es euch nur darum geht, dann macht euch darüber mal keine Sorgen. Ich kann mir meine Freunde selbst aussuchen. Und wenn es eine alte Schwuchtel ist", sagt Oskar und grinst dabei. "Bin ja selbst eine."

"Willkommen im Club", lache ich und stehe auf. "Dann lassen wir euch mal alleine. Und falls was ist ..."

"Schrei ich laut um Hilfe", beendet Tore meinen Satz.

"Genau." Ich umarme ihn kurz, mach das Selbe mit Oskar und schnappe mir dann meinen jungen Lover. "Auf nach Hause." Und dann, vielleicht, auf den Friedhof.
 

~Tore~

Die Haustür schließt sich.

Ich drehe mich in Oskars Arm um und kuschle mich an seine breite Brust. "Was machen wir denn jetzt?", frage ich ihn leise.

"Essen. Mein Bauch knurrt." Wie kann er in so einer Situation an Essen denken? Das frage ich ihn auch. "Mit leerem Magen denkt es sich noch schlechter, als mit vollem. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns was schönes kochen." Gesagt, getan.

Keine fünf Minuten später stehen wir in der Küche und schnipseln drauf los. Was das Endergebnis sein wird, weiß ich noch nicht. Ist auch egal, finde ich, denn Hunger verspüre ich immer noch nicht.

"Weißt du schon, wann Frau Krämers Beisetzung sein wird?"

"Ich denke mal am Samstag. Da wäre noch ein freier Termin. Aber das muss ich mit ihren Angehörigen bereden."

"Mit ihrer Nichte?"

"Du kennst sie?"

"Nur von Frau Krämers Erzählungen. ... Ich kann sie nicht leiden."

Oskar schmunzelt. "Wenn du sie nicht kennst, wie kannst du sie dann nicht leiden?"

"Sie wollte die alte Dame ins Altenheim stecken. Letzte Woche erst."

"Hm. Manchmal ist das nicht das Schlechteste."

Mir fällt beinahe die Tomate aus der Hand. "Nicht das Schlechteste?! Weißt du, wie es da drinnen zugeht?"

"Stell dir vor, das weiß ich. Ich bin oft in Altenheimen." Oh. "Nicht mehr lange, und sie hätte sich wahrscheinlich nicht mehr selbst versorgen können. Oder stell dir vor, sie hätte den Herzinfarkt überlebt, und wäre bettlägerig geworden. Was dann?" Er hat nicht ganz unrecht. Trotzdem.

"Das hätte sie dennoch nicht gewollt. Sie sagte mir, sie will erst aus ihrem Haus raus, wenn man sie in einem schwarzen Sack dort hinausträgt." Ich hebe den Kopf und schaue aus dem Fenster. "Mission erfüllt", flüstere ich und schnipple weiter. Doch nicht lange, dann rutscht mir das Messe raus der Hand und landet neben dem Schneidebrett. Mir kommen schon wieder die Tränen, die ich mir mit dem Unterarm wegwische.

Oskar drückt mich wieder an sich. "Es ging ganz schnell Tore. Sie hat sicher nicht viel gemerkt." Ich nicke bloß und atme Oskars Duft ein, der mich schnell wieder beruhigt. "Es ist, wie du gesagt hast, sie konnte bis zum Schluss in ihrem Zuhause bleiben. Jetzt ist sie bei ihrem Mann und deiner Mutter."

Ich löse mich wieder von Oskar, wische mir die Augen trocken und sehe ihn an. "Manchmal vergesse ich, dass du an das ganze Zeug glaubst."

Oskar lächelt. "Ja, ich glaube an das ganze Zeug. Na ja ... nicht an alles."

"Nicht?" Jetzt bin ich aber baff. "An was glaubst du denn nicht?"

"Ich glaube zum Beispiel nicht an einen rachsüchtigen Gott, der uns jeden Fehler und jede begangene Sünde vorhält und uns dafür bestraft. Ich glaube, dass er uns, mit all unseren Fehlern, so liebt, wie wir sind. Er sieht in unserer Seele. Sieht, ob wir ehrlich sind, sieht die Liebe in uns." Trotz dieses, für mich, absurden Themas, lächle ich.

"Also kommen wir laut deines Glaubens in den Himmel, obwohl wir schwul sind und diese sündhaften Dinge miteinander im Bett tun?"

"Natürlich. Diese sündhaften Dinge, sind doch bloß Ausdruck unserer Liebe." Er zieht mich gänzlich in seine Arme. "Und daran ist nichts sündhaftes."

Ich schlucke. "Und was ist mit dem, was wir mit anderen Männern gemacht haben? Die wir nicht geliebt haben?" Ich weiß ja, dass auch Oskar seinen Spaß gehabt hatte, bevor er sich entschied, Pfarrer zu werden.

"Jugendsünden", lacht er. "Die gelten nicht." Grinsend verpasst er mir einen Nasenstupser und wendet sich wieder dem Gemüse zu. Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche nicht daran zu denken, dass meine 'Jugendsünden' noch gar nicht so lange her sind.

Nicht, dass ich glauben würde, deshalb in der Hölle zu landen. Ich habe Angst, dass Oskar mich dafür zur Hölle schickt. Ich muss es ihm beichten! Aber nicht jetzt. Jetzt haben wir andere Probleme. Weit größere und dringlichere.
 

***
 

~Björn~

Ich befürchte, dass ich Ralfs Hand viel zu fest halte, und dass sie ihm schon weh tut, aber ich kann nicht anders. Mein Herz pocht, meine Beine sind weich wie Gummi. Und es wird mit jedem Schritt schlimmer. "Ich will nicht", krächze ich zum bestimmt schon zwanzigsten Mal. Dabei sind wir noch gar nicht weit gekommen.

"Ich bin bei dir. Das schaffst du." Ich glaube ihm nicht. Trotzdem laufe ich mit Ralf zusammen zu dem Friedhof, auf dem meine Familie beerdigt liegt.

Er hat mich am Schluss doch dazu überredet, nicht zuletzt mit dem Argument, dass sich keiner um ihr Grab kümmert, und wie es jetzt wohl aussähe. Sofort sah ich einen überwucherten Grabstein vor mir. Hohes Unkraut und Dornenranken. Ich habe den Gedanken nicht ertragen. So soll sie ihre letzte Ruhestätte nicht aussehen! Das haben sie nicht verdient. Ich habe ihnen schon genug angetan ...

"Wir wären doch lieber mit dem Auto gefahren. Du schwankst ganz schön durch die Gegend." Ralf lässt meine Hand los, schiebt sie dann allerdings um meine Taille.

"Mir ist schlecht."

"Ganz ruhig. Du wirst sehen, es wird halb so schlimm." Ralf hat gut reden! Es sind ja auch nicht seine Eltern, die da liegen.

Apropos Eltern ... "Leben deine Eltern denn noch?", frage ich ihn, hauptsächlich, um meine Gedanken abzulenken.

"Ja, tun sie."

"Verstehst du dich gut mit ihnen?"

"Schon. Irgendwie. Unsere Beziehung hat sich gebessert, was daran liegt, dass wir uns nicht mehr sehen."

"Oh."

Ralf zuckt mit den Schultern. "Sie waren immer recht streng zu mir. Nichts war ihnen gut genug. Meine Noten, mein Auftreten ... Sie wollten immer, dass ich mal ein Arzt oder Anwalt werde. Irgendein Job, in dem ich großes Geld verdiene und ein ebenso großes Ansehen genieße."

"Und du wolltest das nicht", schlussfolgere ich.

"Nein. Damals wollte ich nur eins: Spaß haben." Wer will das nicht? "Mit sechzehn fing ich an zu rebellieren, schlich mich aus dem Haus, verbrachte die Nächte in der Großstadt, teilweise auch auf der Straße. In der Szene ging es meist ziemlich rau zu. Man musste aufpassen, mit wem man sich abgab."

"Ist dir mal was passiert?" Ich bin richtig neugierig. Ralf hat mir zwar schon viel über sich erzählt, doch seine Jugendzeit gehörte nie dazu.

"Nicht wirklich. Ich konnte mich immer aus gefährlichen Situationen heraushalten. Außerdem war ich nie alleine unterwegs."

"Haben deine Alten jemals herausgefunden, wo du dich herumgetriebenen hast?"

Ralf lacht leise, als er sich zurückerinnert. "Wo genau ich immer war nicht, aber sie haben mich mit einem Typen im Bett erwischt."

"Nein!" Wäre mir das passiert, mein Adoptivvater hätte mich totgeprügelt! "Und dann?"

"Danach war ich in ihren Augen nur noch Abschaum."

"Das tut mir leid", flüstere ich betroffen.

"Ach, halb so schlimm. Sie haben sich gefangen und ihre Ambitionen, aus mir einen reichen Arzt oder Anwalt zu machen, waren mit einem Schlag verschwunden. Welche anständigen Eltern wollen schon einen berühmten Arzt, der schwul ist?"

"Spießer!", schnaufe ich.

"Ja, das sind sie." Wir bleiben stehen. Fragend blicke ich Ralf an. "Wir sollten sie mal besuchen."

"Nicht dein Ernst!"

"Warum nicht? Ich fände es ungemein interessant zu erfahren, was sie von meinem achtzehn Jahre jungen Lover halten." Ich muss lachen, genau wie Ralf.

"Als angesehener Grafiker darfst du dir ab einem gewissen Alter eine junge, knackige Affaire gönnen. Das dürften selbst deine Spießer-Eltern so sehen."

"Dafür bin ich aber noch zwanzig, dreißig Jahre zu jung."

"Egal", kichere ich. "Wenn du fünfzig oder sechzig bist, bin ich immer noch jung und knackig."

Ralf stiert mich grummelig an, aber ich kann sehen, wie seine Mundwinkel zucken. "Ich erinnere dich dran, wenn es so weit ist."

"Schön. Tu das." Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Ralf will auch noch in dreißig Jahren mit mir zusammen sein. Ich bin so glücklich! "Willst du vor gehen?"

"Hm?"

"Wir sind am Friedhof", erklärt er mir. Das schöne Gefühl ist mit einem Schlag weg.

Vor uns tut sich der Friedhof auf. Gräber wohin man schaut. "Gehen wir zusammen rein", wispere ich und klammere mich erneut an Ralf.

"Fein." Das Friedhofstor quietscht. Wir treten ein. Rappelnd schließt es sich hinter uns wieder und wir gehen den Hauptweg entlang.

"Wir finden es bestimmt nicht", denke ich laut nach. "Zeitverschwendung."

"Wir haben Zeit. Lass uns doch einfach suchen." Mist! Und ich dachte, so bekomme ich Ralf dazu, das alles hier abzublasen. Falsch gedacht. Ralf zieht mich langsam weiter, guckt auf jeden Stein und inspiziert die Namen.

"Hier ist Kollemann. Aber das sind sie nicht, oder?"

"Nein. Das sind meine Großeltern", stelle ich fest. Dicke Büsche wachsen darauf, aber es sieht nicht verwildert aus. Eher vergessen, aber trotzdem irgendwie akkurat. "Ich dachte, das wäre schon längst weg."

"Wie lange bleiben hier die Gräber?" Ich zucke mit den Achseln. Woher soll ich das wissen? "Oskar weiß das bestimmt."

"Sicher." Was mir das bringen soll, kann ich nicht beantworten."

Langsam laufen wir weiter. Reihe um Reihe, Grabstein für Grabstein. Da die gepflegten Gräber außer Frage kommen, beschränken wir uns bald auf die, die entweder nicht bepflanzt, oder vernachlässigt aussehen. Und dann finden wir es. Hinten am Rand, neben einem hohen Baum, ist es. "Lisa, Rita und Bernd Kollemann", ließt Ralf leise vor. "Hier ist es."

Ich blinzle, weil mein Blick verschwimmt. Als ich wieder richtig sehen kann, lasse ich ihn über die Ruhestädte schweifen. Eine große Steinplatte bedeckt das Grab. Darauf sind die Namen graviert, daneben eine leere Pflanzschale und ein Einsatz für eine Vase, in dem veralgtes Wasser schwimmt.

Ralf drückt mich an sich und sagt kein Wort mehr. Ich lehne mich an ihn und höre die Vögel über mir zwitschern, sonst nichts. Es ist so ruhig hier. So friedlich. So einsam … "Es tut mir leid", krächze ich. Die Schrift verschwimmt erneut vor meinen Augen und ich bin froh, dass Ralf mich hält, denn meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.
 

******
 


 

Arme Frau Krämer. Aber jetzt hockt sie ganz sicher bei ihrem geliebten Ehemann und Tores Mutter. Und sie musste nichts ins Altenheim, sondern konnte bis zum Schluss in ihrem Haus leben. Genau so, wie sie es wollte. Trotzdem habe ich das leichte Gefühl, dass ihr mich jetzt lynchen werdet. Macht es schnell! >_<

Björn musste sich endlich seiner Vergangenheit stellen und Ralf hat ihm dabei geholfen. Jetzt gibt es eigentlich nur noch eins zu erzählen: Den Schluss. ^^
 

Also bis zum nächsten Kapitelchen.

Eure Fara.

Kapitel 23 - An deiner Seite

Kapitel 23 - An deiner Seite
 

~Tore~

"Ach verdammt!" Wütend zerre ich an der Krawatte herum, deren Knoten sich mir verweigert. "Scheißteil!" Ich stoße genervt Luft aus dem Mund. Der Spiegel vor mir beschlägt. Ich beschließe, die Krawatte, Krawatte sein zu lassen, und ziehe mir die Schuhe an. Noch den Schlüssel eingesteckt und ab geh's rüber zu Ralf, der mit hoffentlich mit dem Krawattenknoten helfen kann.

Ungeduldig klingle ich bei ihm Sturm. "Ja, ja! Mach mal halblang!" Eindeutig Björns Stimme. "Was?!" Er sieht mindestens so verärgert aus, wie ich es bin.

"Ist Ralf da?"

"Unter der Dusche", pampt mich Björn sauer an.

"Kann ich rein kommen und auf ihn warten?"

"Wenn du dann damit aufhörst unsere Klingel zu vergewaltigen, gern." Ach Björn. Seine unverfrorene zickige Art zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen.

Ich steuere geradewegs die Küche an, aus der ein verführerischer Kaffeeduft kommt. Ich bediene mich einfach, und mopse mir eine schon geschmierte Brötchenhälfte mit Nussnugatcreme. Ich muss nur aufpassen, dass ich mich damit mich noch einsaue. "Das ist meins!", zetert Björn, als er das sieht.

"Schmier dir ein neues", schmatze ich. "Hab's eilig."

"Ohch!" Er verdreht die Augen. Ich grinse nur und setze mich an den gedeckten Tisch.

"Esst ihr morgens immer so üppig?"

"Wenn wir frei haben, ja", höre ich Ralf antworten. Ich drehe meinen Kopf Richtung Tür und da steht er. Bloß mit einem Handtuch bedeckt. Ich habe ganz vergessen, wie gut er aussieht ...

"Ralf! Zieh dir was an!" Björn schiebt sich vor seinem nackten Partner und schubst ihn wieder aus der Küche. Wie schade. Ralf lacht, ruft mir zu, dass er gleich wieder da ist, und zieht Björn mit sich.

Ich seufze und trinke einen Schluck Kaffee. Mein Morgen hat leider nicht so schön angefangen, wie anscheinend bei den beiden hier.

Oskar ist früh raus, so wie immer, doch diesmal blieb noch nicht mal Zeit um einen Kaffee zu trinken. Er hatte es eilig. Heute steht Frau Krämers Beerdigung an. Aus diesem Grund sitze ich jetzt bei Ralf und Björn in meinem besten Anzug in der Küche, und warte darauf, dass er mir diese verflixte Krawatte binden kann.

Ich schaue auf die Uhr. In einer halben Stunde fängt die Kirche an. Noch etwas Zeit habe ich, aber es wird knapp.

Türschlagen, Schritte. Ralf hat sich angezogen und betritt die Küche. Björn folgt ihm wie ein Schatten, küsst ihn, und setzt sich neben mich. Grimmig nimmt er mir den Teller weg, vor dem ich sitze. Ist das Björns Platz, auf dem ich mich breit gemacht habe? Das tut mir jetzt aber leid. "Was willst du hier?", knurrt Björn mich an und beißt in die übrig gebliebene Brötchenhälfte.

"Mir muss jemand die Krawatte binden. Ich bekomme das einfach nicht hin heute." Ralf grinst sich einen, ist aber hilfsbereit. Ich stehe auf und lasse ihn werkeln.

"Ach! Heute is die Beerdigung, nich?", brabbelt Björn mit vollem Mund.

"Ja. Um neun ist Kirche ... Au! Das war zu fest!"

"Sorry", brummt Ralf.

Björn hinter mir lacht. "Is Oskar schon weg, oder kann der auch keine Krawatten binden?"

"Erstens: Ich kann Krawatten binden! Nur heute nicht. Und zweitens: Ja, er ist schon unterwegs."

"Schaffst du das alleine?"

"Was?", frage ich Ralf.

"Die Beerdigung."

"Klar. Die meiner Mutter habe ich ja auch geschafft." Was für eine Frage! "Außerdem ist Oskar ja da."

"Den du aber nicht mal angucken darfst", klugscheißert Björn. Ralf wirft ihm über meine Schulter hinweg einen bösen Blick zu. "Was? Is doch so."

"Björn hat recht. Ich darf Oskar zwar nicht zu nahe kommen, aber es hilft, dass er da ist."

"Dann ist ja gut", meint Ralf und klopft mir auf die Brust. "Fertig. Der sitzt."

"Danke." Ich widerstehe dem Drang, Ralf einen kleinen Dankeskuss aufzudrücken. Ich habe nämlich keine Lust, einen aufgebrachten Björn im Rücken hängen zu haben, während ich auf die Beerdigung gehe.

"Gehst du noch mit auf den Leichenschmaus?"

"Eher nicht. Ich habe keine Lust auf Frau Krämers Nichte", spotte ich. "Also dann. Danke für das Frühstück und für deine geschickten Finger. Wir sehen uns." Ich winke den beiden zu, als ich die Küche wieder verlasse.

"Halt dich wacker!", ruft Björn mir nach.

"Mach ich!" Auch wenn der Kleine meist etwas ruppig ist, und so viel durchgemacht hat, hat er doch ein gutes Herz. Logisch, sonst wäre Ralf nicht so in ihn verschossen.
 

Anstatt nochmal nach Hause zu gehen, laufe ich gleich hoch zur Kirche. Bis ich dort bin, dauert es ein paar Minütchen, und ich kann mich ja so lange schon hinein setzen. Ist ja Wurst, ob ich zuhause hocke, oder in der Kirche.

Unterwegs begegnen mir kaum Leute, worum ich ganz froh bin. 'Als ich das letzte Mal hier entlang gegangen bin, war das zusammen mit Frau Krämer', kommt es mir in den Sinn. Traurigkeit erfasst mich. So ganz fasse ich es noch immer nicht, dass es sie nicht mehr geben soll.

An der Kirche angekommen, bleibe ich kurz draußen in der Sonne stehen, atme durch und trete danach ein. Drinnen ist es kühl und es riecht extrem nach Weihrauch. Ganz vorn sitzen schon ein paar Leute. Sicher Frau Krämers Familie. Also auch ihre Nichte. Ich suche mir einen Platz in der Mitte aus. Ganz hinten möchte ich diesmal nicht sitzen. Frau Krämer war eine Freundin von meiner Mutter und auch ein Stück weit von mir. Da verkriecht man sich nicht im hintersten Eck. Zudem wäre es sowieso egal, denn wie ich, dank der alten Dame weiß, ahnen die lieben Gemeindemitglieder schon so einiges über Oskar und mich. Im Interesse Oskars ist zwar aufpassen angesagt, doch verkriechen tue ich mich nicht.

Es beginnt zu läuten. Nach und nach füllt sich die Kirche mit schwarz gekleideten Menschen. Man spürt, dass das hier keine normale Messe ist. Die Stimmung ist gedrückt. Keiner sagt was. Die Messe fängt wie immer mit Orgelmusik an. Ich muss an meine Mutter denken. Beinahe auf ein Jahr genau ist es her, dass ich selbst mit meiner Familie da vorn saß. Es kommt mir vor wie gestern. Die Trauer, die Verwirrung, die Liebe, die in mir tobte und alles durcheinander wirbelte. Oskar war mir damals so fern vorgekommen. Es grenzt an ein Wunder, dass wir nun eine gemeinsame Zukunft anstreben. 'Danke Frau Krämer', richte ich mich an sie, sollte sie mich denn hören. 'Danke, dass Sie mir eine so gute Freundin waren.'

Ich versinke in Erinnerungen, die mich weit in meine Kindheit zurückführen. Seit ich denken kann, kenne ich Frau Krämer schon. Sie war stets ein Teil meines Lebens. Oskars Stimme ist es, die mich wieder ins hier und jetzt zurück holt. "Liebe Trauergemeinde", spricht er in das kleine Mikrophon am Sprechpult. "Wir sind heute hier zusammen gekommen, um einer lieben Freundin und einem geliebten Familienmitglied das letzte Geleit zu geben." Seine Stimme ist tief und klingt wahrhaftig traurig. Ich weiß nun, dass das nicht gespielt ist, dass er wirklich mitfühlt. Ich bewundere ihn dafür. Nein, ich liebe ihn, doch nicht nur dafür.

Die Messe verläuft ganz ähnlich wie die meiner Mutter. Oskar erzählt einige Dinge über Frau Krämer, auch vieles, was ich ihm über sie erzählt habe. Das ihr Mann und sie früher eine Imkerei hatten, dass viele aus unserer Nachbarschaft sich noch daran erinnern. Ich zum Beispiel, werde mich ewig an Frau und Herrn Krämer erinnern, wenn ich Honig auch nur rieche. All das, und noch viel mehr, erzählt Oskar. Wie viel davon von Frau Krämers Familie stammt, weiß ich nicht, und ich will es auch nicht wissen. Ich glaube, dass sie die alte Dame gar nicht richtig kannten. Wann waren sie schon mal bei ihr? Ich habe sie nur selten bei ihr gesehen.

Nachdem die kirchliche Trauerfeier vorbei ist, laufen alle hinauf zum Friedhof. Diesmal bleibe ich der Leichenhalle fern und stelle mich abseits. Ich brauche nicht direkt am Sarg von Frau Krämer Abschied zu nehmen. Und ganz sicher werde ich nicht ihrer Familie kondolieren. Ich werde einfach hier stehen bleiben und dem Ganzen still beiwohnen. Ein letzter, würdevoller Abschied von der guten, alten Frau Krämer.

Hin und wieder bemerke ich heimliche, neugierige Blicke, die in meine Richtung gehen. Nicht zu fassen! Sie stehen rund herum um einen Sarg, und trotzdem scheint meine Anwesenheit viel interessanter zu sein. Erst fühle ich mich unwohl, tue so, als bemerke ich nicht, wie sich die Köpfe der Neugierigsten unter ihnen zu mir drehen, aber dann denke ich, was soll der Scheiß?! Ja, dann glotzt doch! Glotzt die Schwuchtel an, die mit dem Pfarrer ins Bett steigt! Ihr wisst das zwar nicht, aber ahnen tut ihr es. Redet darüber unter vorgehaltener Hand und regt euch darüber auf, weil es in euren Augen abartig ist, nicht wahr? Trotz steigt in mir empor. Selbstbewusst strecke ich meinen ganzen Körper und begegne jedem einzelnen Blick von ihnen voller Selbstbewusstsein. Sobald ich ihre Augen auf mir spüre, schaue ich vom Sarg zu der Person, so lange, bis sie beschämt wegschaut. Es dauert nicht lange, da starrt keiner mehr zu mir rüber. Ich bin stolz auf mich!

Als alle dem Sarg zu dem schon vorbereiteten Grab folgen, laufe ich langsam den Hauptweg entlang, entgegen der Richtung, in der der Sarg geschoben wird. Mein Ziel ist das Grab meiner Eltern. Dort angekommen, bleibe ich davor stehen und zupfe hier und da ein paar Unkrautstängel raus. Die Blumen sehen gut aus und auch der Strauß von Frau Krämer ist noch in Ordnung. In der Ferne sehe ich, wie der Sarg abgelassen wird, bis er unter der Grasnarbe verschwindet. Ich muss hart schlucken und hocke mich hin, sodass mich der Grabstein vor den Trauernden abschirmt. Noch mehr Rummel um meine Wenigkeit kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.

Fest wische ich mir mit den Fingern über die Augen, doch es nützt nichts. Sie werden feucht. Ich starre auf den dämlichen Blumenstrauß und heule wie bescheuert. Das mir Frau Krämers Tod so nahe gehen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber das tut es. Irgendwie war sie die letzte Verbindung zu meiner Mutter, von meiner Schwester mal abgesehen, und nun ist sie nicht mehr da. Sie hat es akzeptiert, dass Oskar und mich mehr verbindet, als bloß Freundschaft. Das letzte Jahr über, war sie beinahe wie eine Mutter für mich.

Leichte Schuldgefühle lassen mich den Namenszug meiner Mutter betrachten, doch ich glaube, dass ihr das nichts ausmachen würde. Im Gegenteil. Sie hielt immer viel von Frau Krämer. "Sie ist zwar geschwätzig, aber wichtige Dinge behält sie für sich", sagte sie mir mal. Damit lag sie richtig, wie ich erfahren durfte.

Ich stehe wieder auf und schaue rüber zum offenen Grab. Nacheinander schippen die Trauergäste Erde auf den Sarg, sowie kleine Blumensträuße, die sie hinterher werfen. Ich wische mir ein letztes Mal übers Gesicht, sage meinen Eltern ein stummes auf Wiedersehen, und marschiere den Hauptweg zurück zum Ausgang.

Wie sehr ich mir wünsche, dass Oskar recht hat. Dass sie nun bei ihrem Mann ist, den sie so schmerzlich vermisst hat, und bei meiner Mutter, mit der sie jetzt auf alle hinterherschaut. Sicher amüsieren sie sich darüber und passen auch ja auf, dass jeder angemessen trauert. Mir schlüpft ein Grinsen über die Lippen, als ich mir das vorstelle. "Viel Spaß euch noch beim Tratschen", flüstere ich und trete den Heimweg an.
 

***
 

~Ralf~

Ich räume gerade die Spülmaschine ein, da sehe ich Tore, der den Gehweg entlangschlurft und auf das Gartentor seines Hauses zuläuft. Ich strecke mich über das Spülbecken und klopfe gegen die Fensterscheibe. Er bleibt sehen und schaut sich verwundert um. Ich winke wie ein Bekloppter, bis er mich sieht. Er winkt zurück. Ich hab den Verdacht, dass er mich nicht ganz verstanden hat. Nochmal auf Anfang. Ich winke ihn mit der Hand herbei, und endlich schnallt er es und kommt über die Straße gelaufen.

"Björn? Machst du mal die Haustür auf?"

"Wieso?" Ich verdrehe die Augen. Teenager!

Ein 'Weil ich es sage' verkneife ich mir. "Tore kommt von der Beerdigung zurück", sage ich nur.

"Er ist schon zurück? Das ging aber schnell." Mein Wirbelwind saust zur Haustür und öffnet unserem Nachbarn. "Wie geht's dir?", fragt Björn ihn. Tores Antwort verstehe ich allerdings nicht.

Ich räume den letzten Teller ein und laufe ihnen entgegen. "Wollen wir auf die Terrasse?", schlage ich vor. Björn nickt und Tore schält sich aus der Anzugjacke. Ich hänge sie an die Garderobe und mache mich dann mit ihm zusammen nach draußen. Tores Krawatte fliegt auf den Gartentisch, nachdem er sich gesetzt hat.

"Puh!", schnauft er und lehnt sich erschöpft zurück. "Auf dem Friedhof hat ein bisschen der Wind geweht, aber auf dem Weg zurück hat's mir den Anzug in die Haut gebrannt. Ist das eine Hitze!" Er fächert sich mit der Hand Luft ins Gesicht.

"Bier? Hab noch welche im Kühlschrank", biete ich an.

"Oh ja!"

"Ich hole welches." Björn rauscht wieder davon.

"Wie nett und zuvorkommend dein Kleiner ist. Es erstaunt mich immer wieder."

"Er kann aber auch anders", grinse ich.

"Kann ich mir vorstellen." Tore grinst anzüglich zurück.

"DAS meine ich nicht. ... Nicht unbedingt."

"Ja, ja. Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, dass du genau DAS gemeint hast." Soll er doch denken was er will.

"Dein Oskar kann sicher auch anders, als fromme Reden schwingen", necke ich ihn.

"Aber holla!"

"Was ist holla?" Bierflaschen klimpern.

"Euer Sexleben", schießt Tore auch schon vom Stapel.

"Was? Du erzählst ihm, was wir im Bett machen?" Björn ist sichtlich empört und, ganz zu meiner Freude, läuft rot an.

"Quatsch!", besänftige ich ihn. "Er will dich bloß Ärgern."

"Genau ... ärgern ..." Unschuldig klaubt Tore sich eins der Biere und öffnet es.

"Du bist ein Arsch, Tore!"

"Björn!" Er hat auch noch immer das Mundwerk eines Teenagers.

"Was denn? Ist doch wahr", bläst er und setzt sich neben mich.

"Lass ihn doch Ralf. Ich weiß doch, dass er mich tief im inneren seines kleinen Herzchens abgöttisch liebt." Tore grinst spitzbübisch.

"So sehr, wie der Teufel das Weihwasser", schießt Björn zurück.

"Es ist immer wieder schön zu erleben, wie gern ihr euch habt", sage ich zu beiden. "Und ich bin froh, dass du wieder der Alte bist, Tore." Seine spitzzüngige Art habe ich wirklich vermisst.

"Liegt vielleicht daran, dass ich mich mit dem hiesigen Dorfvolk abgefunden habe", meint er und trinkt große Schlucke aus der Bierflasche.

"Richtig so. Die können uns am Arsch lecken!" Björn hebt seine Bierflasche an und prostet Tore zu.

"Ist was auf der Beerdigung passiert?", frage ich meinen Nachbarn, weil ich so eine leise Ahnung in mir habe, dass dort etwas vorgefallen ist.

"Wie man es nimmt", antwortet er. "Auf dem Friedhof hatte ich mehr Aufmerksamkeit als die Verstorbene." Tore zupft am Bieretikett herum. "Ist das zu fassen? Sogar im Angesicht einer Toten denken sie nur an ihren Tratsch."

"Ist ja auch 'ne große Story. Der Pfarrer hat was mit einem Kerl." Björn grinst. "Da hätte ich mich sogar für interessiert."

Tore legt den Kopf schief und fixiert meinen Schatz. Mal sehen, was jetzt kommt. "Ich kann dir gerne Einzelheiten über den Pfarrer und seinem Bettgespielen verraten." Bitte, was habe ich gesagt?

"Nee, lass mal", winkt Björn ab. "SO genau will ich es auch nicht wissen." Tore lacht nur.

"Habt ihr beiden morgen Abend schon was vor?", lenke ich das Gespräch auf ein anderes Thema. "Morgen läuft ein interessantes Fußballspiel. Das könnten wir uns gemeinsam anschauen."

"Das fragt er dich nur, weil ich mich nicht die Bohne für Fußball interessiere", mault Björn. "Ausgerechnet ich erwische einen Schwulen, der auf Fußball steht!" Mein Kleiner hat nicht ganz unrecht. Mit ihm Fußball zu gucken ist ... schwierig. Bis jetzt habe ich kein einziges Spiel bis zum Schluss sehen können, weil Björn mich erfolgreich davon 'abgebracht' hat.

"Ach Schatz", grinst Tore. "ALLE Schwule stehen auf Ballspiele. Das müsstest du doch am besten wissen." Und es geht wieder los ...

"DAS ist was anderes. Ich stehe eben nicht so auf Bälle treten." Oh verflucht! Jetzt habe ich Kopfkino!

"Schluss jetzt!", gehe ich dazwischen. "Kommt ihr morgen, oder nicht?" Die Frage ging an Tore.

"Ich frage Oskar mal", erwidert dieser.

"Fein. Für Bier und Knabbereien ist schon gesorgt."

"Wenn das so ist." Tore hebt seine Flasche. "Auf Bier, Knabbereien und Ballspiele!"
 

***
 

~Tore~

Mein Magen knurrt. Das sieht alles so lecker aus. Was bestelle ich denn nur? Oskar müsste gleich von der Sonntagsmesse zurück sein. Heute Mittag lassen wir die Küche kalt und bestellen uns was.

Zum zigsten Mal gehe ich die Speisekarte rauf und runter, überlege, verwerfe, widerrufe und überlege nochmal. Boha! Ich könnte glatt alles auf dieser Karte futtern! "Tore?"

"Küche!" Oskar ist wieder da! Der Hunger ist vergessen. Ich stehe auf und laufe ihm entgegen. "Hey", begrüße ich ihn und lege meine Arme um seine Taille.

"Hey." Unsere Lippen treffen aufeinander. Heute Morgen habe ich gar nicht mitbekommen, wie er aus dem Haus ist.

"Wieso hast du mich nicht geweckt?", will ich wissen, nachdem wir ausgiebig unsere Zungenakrobatik geprobt haben.

"Du sahst so niedlich aus beim Schlafen." Ich ziehe die Nase kraus, was ihn zum Lachen bringt.

"Und? Wie war die Messe?", frage ich ihn und gehe mit ihm im Schlepptau zurück in die Küche. Die Speisekarte wandert in seinen Besitz über. Ich warte mal, was er bestellt, dann sehe ich weiter.

"Gut."

"Keine besonderen Vorkommnisse?"

"Nein."

"Gut." Ich hatte schon befürchtet, dass jemand, wegen den ganzen Gerüchten, was zu ihm sagt. "Willst du auch ein Glas?" Oskar nickt und studiert die Speisekarte.

Während ich zwei Gläser aus dem Schrank hole, setzt er sich an den Tisch. "Das war die letzte Messe", sagt er leise.

"Heute Abend ist keine mehr?"

"Nein."

"Dann können wir ja früher rüber zu Ralf und Björn!" Wunderbar!

"Können wir", murmelt mein Schatz. "Aber das meinte ich nicht mit letzter Messe."

Mit gerunzelter Stirn trete ich an den Tisch heran. "Wie meintest du das dann?"

"Nächste Woche übernimmt wieder Pfarrer Hohenstädt."

"Hast du so was wie Urlaub?"

"So ähnlich", bestätigt er. "Ich werde am Montag mein Amt niederlegen." Mir rutschen beinahe die Gläser aus der Hand. Ich stelle sie auf den Tisch und halte mich an dessen Rand fest, während ich mich langsam auf einen der Stühle fallen lasse.

"Ist das sein Ernst? Du tust es also wirklich?" Oskar nickt und macht nicht den Anschein, als sei er deshalb traurig oder nervös. "Hast du dir das auch gut überlegt?", frage ich ihn atemlos.

"Habe ich", nickt er.

"Sicher?" Oskars Hand schiebt sich über den Tisch und legt sich auf meine, als will er sagen, hör auf die Sorgen zu machen. Aber das kann ich nicht. Er krempelt sein Leben um, endgültig! Für mich! "Und was dann? Dann bist du arbeitslos und ..."

"Mach dir keine Sorgen darum", bestätigt er meine Gedanken. "Ich habe lange und ausführlich darüber nachgedacht. Das weißt du doch."

Ich nicke verdattert. "Aber dann kannst du den Leuten nicht mehr helfen und in schweren Zeiten beistehen. Das ist dir doch so wichtig." Ich fühle mich richtig schlecht, obwohl ich mich doch eigentlich freuen sollte.

"Das bleibt mir auch weiterhin wichtig", sagt er und drückt meine Hand. "Ich werde auch weiterhin Menschen helfen können. Dagegen spricht doch nichts. Und eine Aufgabe in meinem Leben kann ich immer wieder finden. Ob beruflich oder ehrenamtlich. Aber jemandem wie dich, den gibt es nur einmal auf der Welt."

Mein Herz zieht sich zusammen. Nicht aus Freude ... "Oskar? Bevor du dein Amt wirklich niederlegst, muss ich dir noch etwas beichten." Ich muss es ihm sagen. Jetzt! Bevor es zu spät ist.

"Was denn?", möchte er wissen. Sein Blick ist so voller Liebe. Ich will es ihm nicht sagen, doch mir bleibt keine andere Wahl.

"Als du weg warst, nach der Beerdigung meiner Mutter, da ..." Ich senke den Kopf, schlucke hart und sammle mich, und schaue Oskar wieder direkt an. "Ich hab mit anderen Männern geschlafen." Es ist raus. Scheiße!

Oskars Augen mustern mein Gesicht. Seine Gesichtsmuskeln arbeiten. Sag doch was! "Hast du das oft getan?", fragt er mich schließlich. "Wie viele waren es?"

Ich überlege kurz. "Nicht mehr wie zehn", antworte ich wahrheitsgemäß. "Es waren One night stands. Mehr nicht. Ich ... Ich wollte dich vergessen und mich versuchen abzulenken." Ich weiß nicht, ob ihm das als Erklärung reicht, aber ich hoffe es.

Er seufzt, leckt sich über die Lippen und lässt meine Hand los. Ich bekomme Panik. So sehr, dass ich wie gelähmt sitzen bleibe, und zusehe, wie er aufsteht. Geh nicht!, will ich schreien, aber Oskar geht um den Tisch herum und hält mir seine ausgestreckte Hand hin. Zögernd ergreife ich sie. Prompt lande ich in seinen Armen.

"Es ist gut, dass du mir das gesagt hast", spricht er leise. "Aber es gibt nichts für dich zu beichten." Ich verstehe nicht ganz, und das sage ich ihm auch. "Ich bin weggegangen. Wir waren kein Paar und haben uns kein Versprechen gegeben. Warum sollte ich dir deswegen einen Vorwurf machen?" Erleichtert lehne ich mich an ihn.

Mit geschlossenen Augen drücke ich meine Nase gegen seine Schulter, atme durch und "Ich habe auch mit Ralf geschlafen." Der letzte schwere Brocken auf meinem Herzen ist gefallen. Oskar weiß jetzt auch über Ralf Bescheid.

"Mit Ralf?", fragt er noch einmal nach, als glaube er, sich verhört zu haben.

"Ja. Als er hier ankam."

Ich fühle mich so furchtbar, obwohl ich erleichtert bin, dass es raus ist. Und noch furchtbarer fühle ich mich dabei, als Oskar einen Schritt nach hinten geht und mich los lässt. "Und nachdem ich wieder hier war? Habt ihr da auch noch ..."

"Nein!", beteuere ich. "Nein haben wir nicht! Ralf und Björn kamen schnell zusammen, und wir wurden Freunde." Meine Kehle schnürt sich zu. Oskar sieht verletzt aus. "Wir sind wirklich nur noch Nachbarn und Freunde. Ich liebe dich! Schon seit ich dich kennengelernt habe!" Bitte glaube mir Oskar!

Wieder mustert er mich, schaut dann jedoch aus dem Fenster, rüber zu Ralfs Haus. Mein Blut rauscht laut durch meine Ohren. Er wird doch nicht ...? Er wird! Oskar dreht sich so schnell um die eigene Achse, dass ich erst mitbekomme, dass er losläuft, als er schon aus der Küche ist. "Oskar! Was hast du vor?!" Ich laufe ihm nach, auch wenn meine Beine mehr als wackelig sind. "Oskar!" An der Haustür angekommen, sehe ich, wie er schon über die Straße gerauscht ist und auf die Haustür meines Nachbars zuläuft.

Ich beeile mich, muss aber warten, weil ausgerechnet in diesem Moment zwei Autos die Straße überqueren. Als sie an mir vorbei sind, renne ich los. Zu spät. Ralf öffnet schon die Tür. Ich sehe noch, wie er Oskar anlächelt, dann aber verwirrt blinzelt, als dieser ihn ins Haus schubst. "Nein!" Ich rase quer über die Wiese und stoße die Haustür wieder auf, die mir beinahe vor der Nase zugeschlagen wäre. "Oskar, nicht!"

Björn schreit auf und ich sehe nur noch, wie Ralf sich die Hände vor die Nase hält und Oskar entgeistert anstarrt. Dieser wedelt mit seiner rechten Hand herum und verzieht das Gesicht. Hat er ihm etwa gerade eine reingehauen?! "Nie wieder!", zischt Oskar Ralf zu, der in Björns Armen hängt. "Nie wieder fasst du Tore an, verstanden?" Mir rutscht das Herz in die Hose und ich muss mich am Türgriff festhalten.

"Nie wieder", näselt Ralf und schüttelt den Kopf.

"Gut. Bis heute Abend." Perplex schaue ich zu, wie Oskar sich zu mir dreht, seinen Arm um mich legt, mir einen Kuss auf die Stirn gibt und mich mit sich hinaus zieht.

"Was sollte das eben?!", höre ich Björn uns nachrufen, aber weder Oskar noch ich reagieren darauf. Dazu bin ich viel zu verwirrt, obwohl mich die Antwort auf Björns Frage ebenfalls dringend interessieren würde.
 

~Björn~

Hat der sie noch alle?! "Scheiße Ralf! Was ist denn in den gefahren?" Ich bin so sauer! "Was sollte das eben?!" Ich bin drauf und dran, diesem schlagenden Bastard von einem Pfarrer nachzurennen!

"Lass", hindert Ralf mich jedoch.

"Sicher? Ich bringe ihn um! Echt, das mach ich!"

Kaum zu glauben, aber Ralf grinst mich an. "Du bringst niemanden um", murmelt er und schaut auf seine Hand.

"Scheiße", keuche ich. Seine Nase blutet stark. "Komm mit. Das muss gekühlt werden." Ich schleppe ihn ins Gästebad und verfrachte ihn auf den Toilettensitz.

Vorsichtig drücke ich ihm ein nasses Handtuch ins Gesicht. "Verkehrte Welt", schmunzelt er plötzlich.

"Was?"

"Verkehrte Welt. Sonst muss ich dich immer verarzten."

Seufzend hocke ich mich vor ihn. "Willst du das auf dir sitzen lassen? Er hat dich einfach angegriffen!" Wie kann er so ruhig bleiben?

"Manchmal gibt es auch Gründe dafür, wenn jemand zuschlägt", sagt Ralf leise.

"Und welcher wäre das bei ihm? Einem Pfarrer?"

"Tore." Hä? "Ich wette, Tore hat ihm davon erzählt, dass wir miteinander geschlafen haben."

Und auf einmal leuchtet in meinem Kopf die Glühbirne der Weisheit auf. "Ach so. Du meinst, er wollte sich Luft verschaffen?"

"Mit Sicherheit. Wenn es ihm geholfen hat, dann will ich mal nicht so sein, und wir vergessen das Ganze. Verstanden?"

"Darf ich Tore dann auch eine scheuern?" Ich hätte dafür die selben Gründe wie Oskar.

"Versuch es doch mal", lacht Ralf, zischt dann allerdings und verzieht voller Schmerz das Gesicht.

Angesäuert stehe ich auf und zerre das Handtuch von Ralfs Nase, um es nochmal auszuwaschen. "Danke, dass du mich für so schwächlich hältst."

"Tue ich gar nicht."

"Ach nein? Warum lachst du dann?"

"Weil du Tore keine scheuern würdest. Dafür magst du ihn viel zu sehr." Tue ich das?!

"Das wüsste ich aber!", schmolle ich und pflanze das Handtuch wieder in Ralfs dämlich grinsendes Gesicht.

"Außerdem weißt du doch, dass ich nur noch dich will." Ralfs Hände schieben sich über meine Hüftknochen und bleiben auf meinem Hintern liegen. "Immer und immer wieder ..."

"Falls du dir jetzt einbildest, ich würde jetzt Sex mit dir haben wollen, während du blutest wie ein abgeschlachtetes Schwein, dann hast du dich aber bitterböse getäuscht!" Bestimmend schiebe ich seine Hände von meinem Hintern.

Ralf lacht, was total merkwürdig aussieht, mit dem ganzen Blut, das seine Gesichtsmitte ziert. "Und was ist mit Mitleidssex? Bekomme ich wenigstens den?"

Ich schüttle vehement den Kopf. "Auch den bekommste nicht."

"Und ich-bin-krank-und-mir-geht-es-nicht-gut-Sex?"

"Auch nicht."

Mein Freund zieht einen Schmollmund und patscht sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Stöhnend gebe ich nach und krabble rittlings auf seinen Schoß. "Nur kuscheln!", ermahne ich ihn.

"Nur kuscheln", wiederholt er. Warum nur glaube ich ihm nicht?
 

~Tore~

"Du liebe Zeit!" Ich bekomme kaum Luft. "Wahnsinn!"

"Heiliger Vater", keucht Oskar neben mir.

Ich drehe meinen Kopf zu ihm. Er liegt, genau wie ich, geschafft und schnaufend neben mir. "Das war ... Rekord!" Er lacht, hat aber die Augen dabei geschlossen. Mit der Hand angle ich nach seiner, finde sie nach kurzer Suche, und verschränke meine Finger mit seinen. "Duschen? Das heißt ... wenn wir uns wieder ... bewegen können."

"Nein." Nein? "Gleich nochmal." Was? Ich will protestieren, ich meine, mir geht jetzt schon die Puste, dank seinem Überfall, gleich nachdem wir mein Haus betreten haben, doch es nutzt nichts. Oskar rollt sich schwungvoll auf mich und drückt mich nieder. "So lange, bis du die anderen Typen vergessen hast", schnauft Oskar und versiegelt mir die Lippen.

Darum geht es also? Um die Typen, mit denen ich das vergangene Jahr über gepennt habe? Ich schiebe Oskar sanft ein Stück von mir, damit ich reden kann. "Oskar? Die habe ich längst vergessen", erkläre ich ihm. "Keiner von ihnen bedeutet mir was."

"Und Ralf?", fragt er. "Wie willst du ihn vergessen?"

Wir schauen uns an. Oskar wirkt verletzt. Verletzt und eifersüchtig. Nennt mich bekloppt, aber das macht mich so glücklich! Er liebt mich so sehr, dass er eifersüchtig ist. "Weißt du, an wen ich gedacht habe, als ich mit ihm, oder den anderen Männern zusammen war?"

"An wen?", flüstert er. Da fragt er noch?

"An wen wohl? Nur an dich." Ich sehe ihm an, dass er mit dieser Antwort noch nicht ganz zufrieden ist. Ich seufze und streichle über seine Wange. "Das mit Ralf ist passiert, als er erst hier her gezogen ist, und wir uns noch gar nicht kannten. Das alles kommt mir vor, als wäre es in einer ganz anderen Zeitspanne passiert. Ich empfinde nichts außer Freundschaft für ihn. Und er empfindet genau so für mich. Er liebt Björn. So sehr, dass er ihn versteckt hat, als sie ihn gesucht haben. Er hat alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Und ich werde das Gleiche für dich tun, wenn die garstigen Dorfbewohner oder die Kerle aus Rom dir an den Kragen wollen." Ich kann meine Mundwinkel nicht unten halten. Ebenfalls Oskar, der zu meiner Erleichterung auch grinst. "Siehst du? Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein."

"Ich bin nicht eifersüchtig!"

"Und wie du das bist", schmunzle ich. "Und ich finde es extrem scharf." Oskar windet sich. Ich packe seine Hand, die, mit die er Ralf einen Schlag verpasst hat. Die Knöchel sind leicht geschwollen und rot. "Du bist heiß, wenn du anderen eine reinhaust."

"Das war im Affekt!", empört sich Oskar verschämt. "Ich hatte mich nicht unter Kontrolle." Er entzieht mir die Hand, als wolle er sie vor mir verstecken.

"Du Macho!" Kichernd verpasse ich ihm einen feuchten Kuss.

"Hör doch auf", murmelt er. "Ich muss mich bei Ralf entschuldigen. ... Gott, ist mir das peinlich!"

"Och, mein armer Schatz. Komm her." Ich ziehe ihn wieder runter zu mir. Ich glaube, er hat es viel nötiger, um zu vergessen.
 

Wir müssen eingeschlafen sein. Als ich erwache, knurrt mein Bauch. Bestellt haben wir uns nichts mehr. Wann auch? Nach Oskars 'Prügelei' sind wir sofort im Bett gelandet. Es gefällt mir zwar, dass Oskar auch eine eifersüchtige Seite hat, aber die lässt er hoffentlich nicht so oft raus. Guten Sex haben wir auch ohne Faustkämpfe.

Gähnend schlage ich die Augen auf. Es ist noch hell, aber dem Lichteinfall nach es muss schon später Abend sein. Ich strecke mich und schaue zu Oskar, der halb auf mir liegt. Besitzergreifend hat er seine Hand um meinen Unterarm gelegt. "Oskar?"

"Hn?"

"Hunger." Ob noch Zeit dafür ist, um den Lieferservice anzurufen?

"Hn", macht Oskar bloß. Ihm ist Essen gerade nicht so wichtig.

Plötzlich klingelt mein Handy, und lenkt mich von weiteren Versuchen, Oskar zum Aufstehen zu bewegen. Ich ruckle mich unter meinem Pfarrerlein hervor und ziehe meine Hose, die zum Glück in Reichweite liegt, zu mir. "Ja?"

/Tore? Ich bin's, Björn./ Ups.

"Hey Björn. Wie geht es Ralf?" Ich verpasse Oskar einen festen Schubs. Wach auf!

/Nicht so toll. Wir waren in der Notaufnahme./

"Was?!" Veräppelt der mich gerade? Damit Oskar mitbekommt, was Björn da gerade erzählt, schalte ich auf Lautsprecher. "Nochmal", bitte ich ihn.

/Ich wollte ihn verarzten, nachdem dein Göttergatte ihm die Visage poliert hat, aber es hörte nicht auf zu bluten. Also habe ich ihn geschnappt und bin mit ihm ins Krankenhaus. Dort haben sie festgestellt, dass seine Nase gebrochen ist./

"Ach du ..."

/Jetzt liegt er hier und hat einen Schädel so dick wie der eines Elefanten./ Ich starre Oskar an, der entsetzt das Handy fixiert. /Das wollte ich euch nur gesagt haben, ehe ihr euch zu uns rüber traut. Tschüss./ Björn hat aufgelegt.

"Du großer Gott!", japst Oskar und springt auf. "Wir müssen rüber! Sofort! Ich muss mich entschuldigen!" Das sehe ich ganz genauso.

Geduscht und angezogen, und das wieder in Rekordzeit, ziehen wir uns im Flur die Schuhe an. Oskar hat sich zwar wieder ein wenig beruhigt, dennoch ist er noch immer leicht durch den Wind. Er hält mir die Tür auf, lässt mich allerdings nicht vorbei. "Oskar? Du musst schon loslaufen."

"Warte."

Ich erstarre. "Gucken die Nachbarn?"

"Frau Linde läuft da oben mit ihrem Ehemann spazieren." Shit! Die wohnen die Straße runter, kommen also genau auf uns zu.

"Komm rein!"

"Nein." Oskar schüttelt den Kopf. "Kein Verstecken mehr."

"Nicht? Sicher?"

"Ganz sicher." Er hält mir die Hand hin. Soll ich? "Ich bin ab morgen vom Dienst freigestellt und ab da an kein Pfarrer mehr", erinnert er mich. "Ab jetzt bin ich dein Partner. Und je eher es alle erfahren, desto schneller können sie sich daran gewöhnen."

Ich fange an zu lächeln. "Du hast recht", grinse ich und ergreife seine dargereichte Hand.

Hinter uns fällt die Tür zu. Langsam laufen wir, Hand in Hand, auf den Gehweg zu, grüßen das Ehepaar Linde, dessen Blick bände spricht, und kommen an Ralfs und Björns Haus an. "Ab Morgen sind wir Stadtgespräch", lache ich und kann aus den Augenwinkeln sehen, wie die beiden Lindes ihre Hälse nach uns verrenken, während sie weiterlaufen. Nicht stolpern, ihr zwei.

"Waren wir das nicht schon vorher?", schmunzelt Oskar und klingelt. "Aber darum kümmern wir uns später. Jetzt muss ich erstmal bei Ralf und Björn Abbitte leisten."

"Ich bin an deiner Seite", mache ich ihm Mut. "Immer und überall."
 

Ende
 

Durchatmen ... Die Ruhe genießen ... Ungläubig auf das Wörtchen Ende starren. Habe ich das eben wirklich geschrieben? So ganz glaube ich es noch gar nicht.

YEAHHHHHHH!!!

Ich hab's geschafft! Und dass sogar am geplanten Tag. Wahnsinn!

Jetzt bin ich zwar traurig, dass es vorbei ist, aber man kann ja nicht ewig an einer Story schreiben. *seufz*

Hoffentlich hat es euch gefallen, und ich habe mit den ganzen Themen wie Minderjährigkeit, Schläge und verliebte Pfarrer nicht zu tief ins Klo gegriffen.

Wieso Tore sich ausgerechnet in einen Pfarrer verlieben musste, weiß ich bis heute nicht. Plötzlich stand es da und ich dachte, das packe ich nie! Jetzt habe ich es doch irgendwie gepackt und ich bin stolz drauf. ^^

Danke, dass ihr bis hier hin gelesen habt, für eure lieben Kommis und dass ihr mit meinen vier Jungs mitgefiebert habt. ;-)
 

Zum Schluss, weil mir die folgende Szene einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte, hier eine klitzekleine Bonusstory:
 


 

Prost!
 

~Ralf~

"Sauber in den Kasten gedonnert!"

"Aber sowas von", juble ich. "Schönes Tor. Prost!" Oskar und ich stoßen an. Ich leider nur mit Wasser, die Schmerztabletten vertragen sich nicht mit Bier.

"Björn? Ich leide mit dir", seufzt Tore, der neben Oskar sitzt. Da ich zwischen Oskar und Björn hocke, muss er sich rüber beugen, um mit meinem Kleinen reden zu können. "Wollen wir zocken?"

Björn springt begeistert auf. "Klar! Komm mit ins Schlafzimmer. Ralf hat extra einen Fernseher gekauft, damit ich da spielen kann."

"Cool. Dann müssen wir nicht zu mir rüber." Verdutzt schauen Oskar und ich unseren beiden Freunden hinterher. Weg sind sie.

"Na toll", knurre ich. "Wehe einer von ihnen sagt nochmal, sie könnten sich nicht leiden."

"Lass sie doch. Tore mag kein Fußball."

"Björn auch nicht", erkläre ich unnützer weise. "Dann eben nur noch wir zwei. Prost."

"Prost." Oskar und ich verfolgen eine weile lang das Spiel, ehe er mich fragt, wie es mir denn geht.

"Dank den Schmerztabletten ganz gut. Das Ding auf meiner Nase stört, aber sonst geht's."

"Oh Ralf. Nochmal: Es tut so mir leid. Echt!"

"Kein Ding", winke ich ab. "Hat es wenigstens geholfen, den Dampf raus zu lassen?" Ich schaue zu ihm rüber.

"Ja", gibt er zu.

"Was raus muss, muss raus", lache ich. "Und mach dir keine Gedanken. Ich will nur noch Björn. Sonst niemanden."

"Ich weiß doch, aber als Tore mir erzählt hat, dass ihr beide ... Ich hab komplett rot gesehen." Ich verstehe ihn zu gut.

"Falls es dich beruhigt, Björn ist auch eifersüchtig auf Tore gewesen."

"Wirklich?"

"Und wie! Er ist heute noch manchmal schräg drauf, wenn Tore bei uns ist."

"Hätte ich gar nicht gedacht", lacht Oskar. "Björn wirkt gar nicht wie der eifersüchtige Typ."

"Du doch auch nicht."

"Stimmt." Aus dem Schlafzimmer dröhnen die Geräusche von Björns neustem Ballerspiel. "Vielleicht sollten wir eher eifersüchtig auf Björn und Tore sein. Die verstehen sich ja prächtig."

"Könnten wir", überlege ich. "Wir könnten aber auch die beiden auf uns eifersüchtig machen."

Ich schiele zu Oskar rüber, der ebenfalls zu mir rüber schielt. Neugierig mustern wir uns und ... fangen laut an zu lachen. "Lieber nicht!", gackere ich, zische dann jedoch, weil meine Nase unangenehm pocht.

"Nein ... Wohl eher nicht."

"Darauf prost!"

"Prost!"
 

******
 

Ralf und Oskar sind miteinander versöhnt. Tore und Björn ballern sich einen und die Nachbarschaft hab was zum Tratschen.

Ich liebe Happy Ends! xD

Und weil ich immer noch nicht genug habe, und mir ein kleines Vögelien einen Floh ins Ohr gesetzt hat, gibt es später noch ein feuchtfröhliches Bonuskapitel von Ralf und Björn. ^^

Pulverschnee ~ Bonuskapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tore und der böse Pfarrer ~ Bonuskapitel 2

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (43)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tosho
2017-06-13T22:26:40+00:00 14.06.2017 00:26
Die Geschichte ist toll!

Ich liebe deinen Schreibstil einfach!
Und deine Ideen!
Antwort von:  Fara_ThoRn
06.08.2017 19:14
Dankeschön ^^
Von:  Saavik1701
2017-05-08T09:38:46+00:00 08.05.2017 11:38
Fara meets Dornenvögel... *ggg*
Oskar kommt grad ein bisschen wie Ralph vor, als er vor Maggie flüchtet, aber wir wissen ja, dass er immer wieder zu ihr zurück kam, genau wie Oskar zu Tore! :D
Antwort von:  Fara_ThoRn
06.08.2017 19:14
xD
Gegen die Liebe kommt eben keiner an. *schmacht*
Von:  chaos-kao
2016-08-05T09:30:56+00:00 05.08.2016 11:30
"Er legt den Kopf schief und lässt die Hand mit dem nassen Tuch singen." - Ich musste zweimal lesen :D Das sollte wohl "sinken" heißen, oder? :D
Antwort von:  Fara_ThoRn
05.08.2016 20:41
xD
Sollte es. Da hab ich mich wohl vertippt ^^"
Von: Karma
2015-06-22T15:50:41+00:00 22.06.2015 17:50
Me likez this!
<3<3 <3
Genau der rosarote Zuckerwattekitsch, den ich selbst gerne am Ende einer Story stehen hab. Das Leben ist schon oft genug kagge, da darf's dann auch mal gerne etwas sehr zuckrig sein - was jetzt nicht heißen soll, dass es bei dir übertrieben ist. Das ist es nämlich nicht. Es ist sehr passend und schön. Ganz genau so, wie ich es mag.
^____________^
Antwort von:  Fara_ThoRn
24.06.2015 07:57
Ich steh auch voll auf Kitsch. Obwohl auch ein trauriges Ende seinen Reiz hat. Aber meinen Jungs kann ich das einfach nicht antun >__<
Von:  emina
2015-06-22T14:43:52+00:00 22.06.2015 16:43
ooooooooooooo ich liebe deine happy ends <3<3<3 und ich wünsche den Jungs alles gute ^__^

Danke für die schöne Geschichte und hoffentlich bis bald mit einer neuen ^^
Antwort von:  Fara_ThoRn
24.06.2015 07:55
Eine neue Story liegt schon in den Startlöchern. Ich bin noch am Überarbeiten und überlegen, ob noch ein Kapitel dazukommen wird, aber das dauert bestimmt nicht mehr lange. ^^
Von:  Morphia
2015-06-22T08:17:22+00:00 22.06.2015 10:17
Schon zu Ende?! *schmoll*
Hätte ruhig noch ein Kapitel kommen können. ;)
Hätte nicht gedacht, dass Oskar so eifersüchtig ist. Die "Prügelei " mit Ralf war überraschend. ^^'
Antwort von:  Fara_ThoRn
24.06.2015 07:55
Es gibt noch zwei Bonuskapitel, die ich gleich hochladen werde. ^^
Wem sagst du das? Oskar kann ganz schön impulsiv sein. *gg*
Von:  emina
2015-06-19T09:07:55+00:00 19.06.2015 11:07
Die arme Frau Krämer ;_____; ich hatte sie echt gern



Antwort von:  Fara_ThoRn
22.06.2015 07:06
Ja, sie war schon eine illustre alte Dame. ^^
Vielleicht ist sie ja jetzt bei ihrem Mann und bei Tores Mutter. Da geht's ihr jetzt gut.
Von:  Morphia
2015-06-19T07:51:09+00:00 19.06.2015 09:51
*schnief* 😭
Antwort von:  Fara_ThoRn
22.06.2015 07:03
*Tatü reich*
Von: Karma
2015-06-18T17:46:54+00:00 18.06.2015 19:46
Nein, lynchen möchte ich dich nicht. Eher sogar gratulieren dazu, dass du es geschafft hast, so ein zwar trauriges, aber doch auch irgendwie schönes Ende für Krämer zu schreiben. Tore konnte sich noch praktisch "verabschieden" und sie musste nicht ins Heim. Alles in allem schön, auch wenn ich trotzdem heule - nicht zuletzt wegen Björn. Also keine Sorge, ich tue dir bestimmt nichts. Immerhin müsste ich ja sonst auch ohne das Ende der Story leben und das wäre doof.
;)
Antwort von:  Fara_ThoRn
22.06.2015 07:03
Genau! Lyncht mich erst, wenn die Story fertig ist xD
Das Kapitel hat mir auch selbst viel abverlangt. Aber beim Schreiben entwickelt die Story meist ein Eigenleben, und wenn in meinem Kopf was passiert, dann muss ich das auch so schreiben. Frau Krämers Tod hat damit also auch irgendwie das Ende und gleichzeitig einen Neuanfang für die vier Jungs eingeläutet.
Ein vorläufiges Ende zumindest. Wer weiß, ob ich mich nicht doch noch mal an eine Fortsetzung setze. ^^
Antwort von: Karma
22.06.2015 17:35
Ich kenne Kapitel, die einen so mitnehmen, selbst nur zu gut. Bei einer meiner Stories hab ich in der Fortsetzung beide Großeltern eines meiner Protagonisten relativ kurz hintereinander sterben lassen und als ich an der Szene saß, wo sein Freund darüber nachdenkt, wie dreckig es dem Enkel der beiden danach ging, musste ich selbst heulen und hätte mich gerne für meine Grausamkeit geohrfeigt. Mir tut's auch Jahre später immer noch leid, dass André das durchmachen musste, aber er hatte ja seinen Ben und seine anderen Freunde, die ihn aufgefangen haben. Und das hast du ja bei Tore sehr schön durchblicken lassen - dass er eben nicht alleine ist mit seinem Schmerz. Dafür also noch mal trotz der Tränen ein dickes Lob von mir.
Antwort von:  Fara_ThoRn
24.06.2015 08:07
Ist schon komisch, dass man selbst immer so mitleidet ^^"
Bei Blutrote Lilie hatte ich oft Tränen in den Augen, oder habe mich schrecklich gefühlt. Aber ich glaube, das ist auch nötig beim Schreiben, weil man dadurch die Gefühle der Protagonisten besser rüberbringen kann.
Von: Karma
2015-06-16T17:53:57+00:00 16.06.2015 19:53
Frau Krämer rockt!
Antwort von:  Fara_ThoRn
17.06.2015 06:34
Yeah!!!!


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