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Finera - Path of Ice

Milas Geschichte
von

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Quinn

Er hörte die Stimmen seiner Eltern aus dem Wohnzimmer. Sie waren laut genug, um durch das halbe Haus zu schallen – normalerweise gaben sie sich mehr Mühe und fochten ihre Streitigkeiten leiser aus. Doch dieses Mal war es anders und Quinn wusste nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Wenn sie stritten, dann über Aktien, Verkaufsbilanzen, Geschäftliches. Dieses Mal stritten sie über ihn.

Fee rieb ihren Kopf an seinem Bein und er beugte sich hinab, um sie zu streicheln. Sie machte sich Sorgen um ihn. Immer machten sich alle Sorgen um ihn und wenn sie schnurrte und er das weiche Fell unter seinen Fingern spüren konnte, machte er sich wenigstens keine Sorgen um sich selbst.

„Anselm, das können wir nicht verantworten!“ Die Stimme seiner Mutter klang schrill und rauchig. Sie hatte zu viel getrunken, mal wieder. Die Gala hatte bis in die frühen Morgenstunden gedauert, vermutlich roch sie noch immer nach dem teuren Vanillewhiskey, den die Brennerei seines Vaters herstellte. Kantos beste Brennerei.

„Er ist kein kleines Kind mehr, Judith!“

„Aber er ist krank und du weißt genau, dass seine Gesundheit keine weiten Reisen zulässt!“

„Unsinn! Der Arzt hat gesagt, dass er eine Kur braucht, damit seine Atemwege gereinigt werden. Die Luft hier in Saffronia City tut ihm nicht gut.“

„Deswegen musst du ihn nicht gleich ans andere Ende der Welt verfrachten, Anselm!“

„Oh doch, das werde ich, Judith!“

Quinn hörte nicht mehr hin. Wenn sie anfingen sich bei den Vornamen zu nennen und die Stimmen nur lauter wurden, brachten die Diskussionen sowieso nichts. Seine Mutter würde sich durchsetzen, so wie immer. Er würde hier bleiben, vermutlich wieder für ein paar Wochen ins Krankenhaus gehen, neue Medikamente bekommen. Seine Mutter behütete ihn schlimmer als jedes Kangama und ließ ihn kaum für ein paar Stunden aus den Augen. Schon seit Jahren flehte er sie an, damit er wenigstens ans Meer fahren konnte, aber sie ließ ihn nicht fort. Saffronia, Saffronia, immer nur Saffronia. Quinn könnte kotzen.

Fee maunzte leise und strich einmal um seine Beine, dann setzte er sich in Bewegung und schlich lautlos die Treppe hinauf, wobei er die eine, knarzende Stufe, die ihn verraten könnte, aussparte. Fee tat es ihm gleich und war schneller oben als er. Die langen, schmalen Hautlappen, die zweigeteilt sowohl von Fees linkem Ohr als auch vorne vom Hals abgingen, sahen aus wie weiße Bänder mit rosa-blauen Spitzen, doch sie besaßen ein Eigenleben und schwebten grazil durch die Luft. Ihre hellblauen Augen musterten Quinn und als er den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, drehte sie ihm den Rücken zu und trabte weiter in sein Zimmer.

Quinn folgte ihr etwas langsamer, denn er war schnell aus der Puste und wenn es schlimm war und ihm die Luft weg blieb, brauchte er seinen Inhalator. Es war ein Wunder, dass seine Mutter ihm damals überhaupt erlaubt hatte das kleine, verletzte Evoli aufzupäppeln und zu behalten. Tagelang hatten sie sich gestritten, dann hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen und sein Vater hatte es irgendwie geschafft ihre Erlaubnis zu bekommen. Seither waren zwei Jahre vergangen, in denen er Fee gerade einmal fünf Level trainiert hatte. Wäre er doch bloß nicht so krank, dann hätte er sich viel öfter hinausschleichen können, aber seit ihrer Entwicklung vor einigen Monaten verfolgte seine Mutter ihn auf Schritt und Tritt. Sie wusste, dass das kleine Evoli eine Fee-Attacke beherrschen musste, um zu einem Feelinara zu werden, was beinhaltete, dass Quinn ihre Regeln gebrochen und sich als Trainer versucht hatte. Das Donnerwetter suchte noch heute seinesgleichen.

Während Fee sich auf seinem Bett ausstreckte, setzte er sich an den Computer und wartete, bis er hochgefahren war, dann öffnete er den Internetbrowser und suchte sich eine Liste mit Kur-Orten raus. Es musste ein Ort sein, an dem die Luft rein war, ohne größere Städte, Vulkane oder andere Staub- und Smogquellen in der Nähe, denn davon bekam er schlechter Luft. Der Ort musste sicher sein und gut zu erreichen, damit seine Mutter ihn auch dort kontrollieren konnte.

Nach kurzer Suche fand Quinn den perfekten Ort – perfekt, um endlich seine Ruhe zu haben. Weit weg vom Schuss am Ende einer Route, auf der es die stärksten Pokémon der Region gab. Keine öffentliche Verkehrsanbindung, ganzjähriger Schneefall, eisige Temperaturen um den Gefrierpunkt oder darunter. Der perfekte Ort, den seine Mutter niemals betreten würde. Quinn sah sich die Fotos an und wusste sofort, dass der Tempel des Bergwächters auf der Spitze des Mount Ni in Finera der einzige Ort war, an dem er der Kontrolle seiner Mutter entkommen konnte, an dem er endlich frei sein konnte.

In diesem Moment fasste er einen Entschluss, drehte den Schreibtischstuhl schwungvoll in Richtung Bett und grinste sein Pokémon an. „Fee, wir werden verreisen.“

Eisfüße und Trockenfleisch

Ich bezweifelte meine Zurechnungsfähigkeit bereits in dem Moment, in dem ich die Schneeraupe verlassen hatte. Der Fahrer hatte mich gegen ein kleines Entgelt bis zum oberen Ende der Skipisten mitgenommen, die in der Saison immer gut besucht waren, doch über die Wintermonate verirrten sich keine Touristen hier her, da die Schneestürme zu stark und unberechenbar waren.

Keine Touristen außer mir.

Ich musste ein lächerliches Bild abgeben, wie ich in meinen dicken, blauen Markenstiefeln mit einem riesigen, gefühlt mehrere Zentner schweren Koffer im Schlepptau durch den Schnee stapfte. Schon nach wenigen Metern steckte ich knietief fest und meine Arme schmerzten vom Kraftaufwand, den ich benötigte, um den Koffer überhaupt durch den Schnee zu ziehen.

Irgendwo hinter mir lachte der Fahrer der Schneeraupe, dann glitt der Lichtkegel einmal über mich und das Dröhnen wurde leiser. Er war gefahren – einfach so! – und hatte mich mitten im Nirgendwo zurück gelassen. Super, das läuft doch alles nach Plan. Wirklich ein super Plan.

Gemeinsam mit dem Koffer von Louis Vuibrava pflügte ich weitere gut zehn Meter durch den Schnee, dann ließ ich mich erschöpft auf den Koffer sinken und schaute hinunter ins Tal. Es war Mittag und der Himmel war strahlend blau, doch am Horizont kämpften sich bereits dunkle, mit Schnee beladene Wolken über die Bergspitzen. Schwester Joy hatte mich davor gewarnt, dass das Wetter so hoch oben in den Bergen sehr schnell umschlagen konnte, aber in meiner tollen Planung kam mit Sicherheit kein Schneesturm vor. Wie sollte ich ohne Orientierung den Weg bis zum Nebeltempel finden, wenn ich mich schon bei strahlendem Sonnenschein anstellte wie ein Dummisel?

Kurzerhand mobilisierte ich meine Kräfte, packte den Griff des Koffers und machte mich an den beschwerlichen und langsamen Anstieg. Wieso genau hatte der Fahrer mich eigentlich nicht gleich am Tempel abgesetzt? Ach ja, richtig, ich hatte gesagt, dass ich das kleine Stück von den Pisten bis zum Tempel alleine schaffe.

Minute um Minute verstrich und die dunklen Wolken rückten immer näher, als ich erneut eine Zwangspause einlegte und schnaufte. Mein Atem gefror sofort und meine Hände schmerzten trotz der Handschuhe stark. Immerhin hatte ich den Skilift, der im Moment außer Betrieb war, hinter mir gelassen und auch das Tal war jetzt außer Sichtweite. Stattdessen richtete ich meinen Blick nach vorne. Direkt am dunklen Gestein, das fast überall mit Schnee und Eis bedeckt war, erklomm ich Meter um Meter des Mount Ni.

Der Mount Ni war der höchste Berg in Finera und seine Spitze lag sogar noch oberhalb der Pokémon-Liga und Eisbergen, der letzten Stadt, die jeder Trainer in Finera besuchen würde, wenn er die Orden sammelte und bis zur Liga wollte. Eisbergen war ein Wintersportziel und ich erinnerte mich nur schwach an das eine Mal in meiner Kindheit, als ich mit meinen Eltern zusammen die Winterolympiade gesehen hatte. Obwohl Eisbergen ein beliebter Touristenort war, kam man nur auf zwei Wegen dort hin. Ein Weg führte über die Route zwischen Niburg und Eisbergen, die man Schneepfad nannte. Der zweite Weg war nicht minder mühsam und beinhaltete eine längere Busfahrt in einem alten, wackligen Bus, der sich im Schneckentempo über die Serpentinen nach oben arbeitete. Nur selten flogen Kleinflugzeuge oder Pokémon, was an den vielen Schneestürmen und Blizzards lag.

Und dann gab es den Nebeltempel.

Der Nebeltempel lag noch höher als Eisbergen und schmiegte sich an die Spitze des Mount Ni. Hier oben lebte nur eine einzige Familie – die Tempelfamilie, die seit Generationen über den Tempel des Bergwächters wachte. Ich hielt nicht viel von der Verehrung von Legendären Pokémon, umso mehr gefiel mir aber die Abgeschiedenheit des Tempels, der seit einigen Jahren Fremdenzimmer besaß. Die Kosten für Übernachtung und Verpflegung waren ziemlich hoch, dafür hatte man garantiert seine Ruhe und konnte in der kalten, eisigen, reinen Luft und der heißen Quelle seine Gesundheit wiederherstellen. So hieß es jedenfalls.

Genug ausgeruht! Ich schnappte mir wieder meinen Koffer und kämpfte mit den Schneemassen. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich bereits seit einer halben Stunde durch den Schnee stapfte und es sollte noch eine weitere Dreiviertelstunde hinzukommen, bis ich endlich den Tempel erblickte und sich meine Schritte wie magisch noch einmal beschleunigten.

Vollkommen erschöpft und außer Atem erreichte ich das kleine Plateau, auf dem sich der Tempel befand. Hier oben wuchsen natürlich keine Pflanzen, stattdessen ersetzten Felsformationen und kleine und große Steinfiguren die Dekoration des Geländes. Das Haupthaus des Tempels besaß zwei Stockwerke und wirkte gedrungen, das dunkle Holz, die schwarzen Dachschindeln und die grauen Steine der Fassade standen im Kontrast zu dem weißen Schnee, der mich blendete, sobald ich die Sonnenbrille abnahm.

Vom Haupthaus gingen zu beiden Seiten eingeschossige, schmale Anbauten ab, von denen einer einen etwa quadratischen Grundriss haben musste und der andere in einen abgezäunten Bereich überging, aus dem Dampf aufstieg. Dort befand sich dann wohl die heiße Quelle, von der ich schon so viel gehört hatte.

Zuerst stellte ich meinen Koffer an der Türschwelle ab, dann klopfte ich mit dem eisernen Türklopfer gegen die Tür. Eine elektrische Klingel gab es nicht. Ob die hier überhaupt Strom hatten? Es tat sich nichts und ich klopfte erneut.

Genau in diesem Augenblick wurde die Tür von innen geöffnet und mir aus der Hand gerissen. Eine kleine, alte Frau schaute mich aus wachen, hellen Augen an. Ihr Gesicht war faltig, hatte Altersflecken und die Mundwinkel hatten im Laufe der Jahre so tiefe Furchen gegraben, dass ich mich fragte, ob diese Frau überhaupt jemals in ihrem Leben gelacht hatte.

„Was willst du, Mädchen?“

Ich lächelte sie an. „Guten Tag, mein Name ist Mila Mayham und ich …“

Sie unterbrach mich sofort. „Es ist mir egal, wie du heißt.“ Argwöhnisch betrachtete sie mich. „Was willst du hier? Wer schickt dich?“

„Niemand schickt mich“, antwortete ich etwas verdattert. „Ich habe ein Zimmer reserviert und heute ist der Tag der Anreise.“

„Ach, du gehörst also zu jenen Außenstehenden, die meinen Tempel beschmutzen.“ Sie schnalzte mit der Zunge, öffnete die Tür jedoch und ließ mich samt Koffer eintreten. „Ich habe meiner Enkelin von Anfang an gesagt, dass Traditionen nicht dazu da sind, um gebrochen zu werden. Zu meiner Zeit hätte es eine Vermietung von Tempelzimmern nicht gegeben. Niemals.“ Ein Hustenanfall schüttelte ihren alten Körper durch und sie schlug die Tür hinter mir zu, dann drehte sie sich um und brüllte mit erstaunlich lauter Stimme: „Minako!“

Die Alte ließ mich einfach stehen und zog sich in ein Zimmer im hinteren Bereich des Tempels zurück. Irgendwie war sie ganz schön gruselig und herrisch. Gleichzeitig tauchte am oberen Treppenabsatz eine schlanke Frau um die fünfzig auf und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Die Treppe schien sie geradezu herunter zu schweben und am Körper trug sie einen bodenlangen Wollkimono, der flauschig und bequem aussah. „Sie müssen die junge Frau Mayham sein. Herzlich Willkommen. Hatten Sie eine gute Anreise?“

Das war also die aktuelle Tempelwächterin, Minako Ito. Sie schien überhaupt nichts mit ihrer Großmutter gemeinsam zu haben, wenn man von den hellen Augen und dem hellblonden Haar, das bei der Alten längst weiß war, absah. „Es war ganz schön beschwerlich, wenn ich ehrlich bin.“

„Ach …“ Der Blick der Tempelwächterin glitt an mir hinab zu meinen Winterstiefeln, an denen Eis- und Schneestücke hingen, die langsam in der Wärme des Gebäudes zu schmelzen begannen. „Sind Sie zu Fuß gekommen?“

„Natürlich“, erwiderte ich und zog die Handschuhe aus. Hm, auch nicht viel besser, meine Finger waren steif und rot.

Die Wächterin schüttelte verwundert den Kopf. „Warum hat Hans Sie nicht einfach zu uns gebracht? Er fährt einmal am Tag vom Pokémoncenter los und bringt uns Post und Einkäufe.“

„Das, also …“ Verdammt! Hatte der Fahrer mich hereingelegt und deshalb so amüsiert gelacht? Ich verstand nicht, wieso er mir diesen Streich gespielt hatte, denn lustig war das ganz bestimmt nicht. Trotzdem wechselte ich das Thema und zog den Reißverschluss der Jacke auf. „Hätten Sie vielleicht einen Tee oder ein anderes Heißgetränk zum Aufwärmen? Über eine Stunde in der Kälte dort draußen und ich habe Eisfüße bekommen.“

„Oh, natürlich, Verzeihung. Ach und Sie können mich Minako nennen. Nehmen Sie Ihren Koffer, dann zeige ich Ihnen das Zimmer und danach bringe ich Ihnen einen Tee.“

Ich nickte dankbar und nachdem ich die Winterstiefel gegen Hausschuhe ausgetauscht hatte, folgte ich Minako in das obere Stockwerk, in dem früher wohl die ganze Familie gelebt hatte, nun befanden sich hier jedoch die Fremdenzimmer und ein Badezimmer, das sich alle Besucher teilen mussten. Vom Flur gingen vier Zimmer ab, zwei davon hatten ein kleines Holzschild an der Tür hängen, auf dem Belegt stand. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich am Rand des Holzschildes eine kleine Rexblisar-Figur. Das Zimmer gegenüber hatte ein Glaziola-Schild.

„Danke“, sagte ich, nahm den Schlüssel entgegen und betrat das Rexblisar-Zimmer. Ich war froh, als die Tür hinter mir leise ins Schloss fiel und ich endlich angekommen war. Sofort landeten meine Handschuhe und die Winterjacke vor der Heizung, dann wechselte ich die dicke Thermohose gegen eine normale Jeans aus und hängte auch die Hose auf den Stuhl, den ich vor die Heizung schob.

Links von der Heizung, die unter dem Fenster angebracht war, stand ein gemütlich aussehendes Holzbett mit dicker Matratze und weißer Bettwäsche, rechts befanden sich ein Tisch und eine niedrige Kommode. Das Zimmer war mit Tatamimatten ausgelegt, hatte bis auf Hüfthöhe Holzvertäfelung und darüber eine normale, weiße Tapete. Über dem Schreibtisch hing ein Landschaftsgemälde, gegenüber über dem Bett entdeckte ich mehrere kleine Bilder, die regionale Pokémon als Ölbilder zeigten. Ob Minako sie wohl gemalt hatte?

Kurzerhand ließ ich mich auf das Bett fallen. Ich war müde, kaputt, erschöpft, ausgelaugt. Von Illumina City in Kalos hatte ich drei Tage hier her gebraucht und jetzt wollte ich einfach nur schlafen. Wie lange Minako wohl noch für den Tee brauchte? Die Zeit reichte doch bestimmt, um kurz die Augen zu schließen …
 

***
 

Als ich die Augen aufschlug, schaute ich an die Zimmerdecke und fühlte mich beobachtet. Ich blickte zur Seite und ein kalter Schauer überkam mich, als die alte Tempelfrau mich aus zusammengekniffenen Augen anstarrte. Sie stand mitten in meinem Zimmer und hielte meine Handschuhe mit den Fingerspitzen fest. Was sollte das denn bitte?

„Ehm …“, machte ich mich bemerkbar und setzte mich auf. „Was gibt’s?“

Sie schnaubte und warf die Handschuhe zurück auf den Stuhl, wo meine Sachen inzwischen getrocknet waren. „Louis Vuibrava, ja? Ihr jungen Leute gebt das hart erarbeitete Geld eurer Eltern für solch teuren Marken-Schnickschnack aus. Richtige Werte, das Leben nah an der Natur, das alles kennt ihr verwöhnten Bälger gar nicht mehr.“

Hatte sie mich gerade beleidigt? „Entschuldigen Sie mal, was ich mir von meinem Geld kaufe, ist immer noch meine Sache!“

Sie keckerte, ging zur Tür und sagte im Gehen: „Mach dich fertig, Kind, das Abendessen wartet nicht. Wer zu den Mahlzeiten nicht pünktlich da ist, bekommt keine Extrawurst, wir sind hier schließlich kein Hotel.“ Rumms, war die Tür im Schloss.

Ich widerstand dem Drang mich einfach wieder ins Kissen fallen zu lassen und stand auf. Dafür, dass mich eine Übernachtung mit Vollpension 10.000 Pokédollar pro Tag kostete, benahm sich die Alte wie eine Schreckschraube. Der Tempel bekam für seine Abgeschiedenheit einen fetten Bonuspunkt, denn genau deswegen war ich hier, aber wenn sie weiterhin in meinen Sachen herumschnüffelte wie eines von Rockys Fukano, konnte das noch heiter werden. Die gebuchten drei Wochen kamen mir bereits jetzt wie eine Ewigkeit vor.

Im Erdgeschoss fand ich hinter dem kleinen Eingangsbereich eine geräumige Wohnküche, die gleichzeitig als Aufenthaltsraum und Esszimmer diente. Hier saß man noch ganz traditionell auf Kissen, die direkt auf die Tatamimatten am Boden gelegt worden waren. In der Mitte stand ein großer, quadratischer, flacher Holztisch, auf dem für vier Personen gedeckt war. Die anderen aßen bereits und die Alte warf mir einen bösen Blick zu, als ich mich ihr gegenüber nieder ließ.

„Ich wollte Sie nicht wecken“, sagte Minako sofort und reichte mir eine der dampfenden Schüsseln.

Ich nickte, lächelte und erkannte den Inhalt der Schüssel als eine einfache Nudelsuppe. Zumindest schien die Alte mich nicht auch noch vergiften zu wollen, denn zutrauen würde ich es ihr. „Ist schon in Ordnung, ich hätte vermutlich auch bis morgen früh durch geschlafen, wenn Ihre werte Frau Großmutter nicht mitten in meinem Zimmer gestanden und sich über meinen Kleidungsgeschmack geäußert hätte.“

„Oma!“ Minako schaute ihre Großmutter fassungslos an. „Du hast doch nicht wirklich …“

„Eine Lappalie, nichts weiter.“ Die Alte versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen! „Ich habe das Mädchen zum Essen geholt, weiter nichts. Kann ich etwas dafür, wenn ihre Kleidung überall im Weg liegt? Das Zimmer sieht schon jetzt unordentlich aus. Ein unordentliches Zimmer steht für einen unordentlichen Geist.“ Sie schüttelte tadelnd den Kopf und nippte an ihrem Tee.

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie der zweite Gast des Tempels, ein Junge in meinem Alter, in sich hinein grinste. Er schien es zu genießen, dass die Alte sich offen mit mir anlegte. Ich schaute dem Jungen direkt ins Gesicht, woraufhin er den Blick senkte und den Rest seiner Nudelsuppe schlürfte. Schweigend tat ich es ihm gleich. Wieso er wohl hier war? Seine Kleidung war von keinem bekannten Label, wenn er also reich war, zeigte er es nicht durch solche Statusobjekte. Schokobraune Locken standen ihm wirr vom Kopf ab und waren so lang, dass er im Nacken vermutlich einen winzigen Pferdeschwanz binden konnte. Er hatte breite Schultern, war aber von schlanker Statur, sodass der Pullover an ihm aussah wie an einer Kleiderstange. Hm, geschah ihm recht.

Ich widmete mich meinem Abendessen und beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen dachte ich an meine Eltern, die vermutlich gerade das Abendprogramm von Kalos TV überwachten. Mein Vater arbeitete dort als Nachrichtenredakteur. Er wusste immer über alles Bescheid, scheute aber den Gang vor die Kamera und hielt sich stets im Hintergrund, obwohl er das passende Gesicht hätte. Meine Mutter war Programmdirektorin und für alles zuständig, was mit Pokémonkämpfen zu tun hatte, was die Übertragung der jährlichen Kalos-Liga einschloss. Ihr war es zu verdanken, dass die Kampf-Châtelaines einem breiten Fernsehpublikum bekannt geworden waren und nun eine Art Kult-Status besaßen – und ihrem Ehrgeiz war es geschuldet, dass ich vor drei Jahren einen Bericht über meine Cousinen moderierte, in den Umfragewerten gut ankam und daraufhin eine wöchentliche Sendung über die Highlights der Arenakämpfe bekam. Ich mochte die Arbeit beim Fernsehen, genoss das Geld und den Ruhm, die vielen Fans, aber … es machte mich nicht glücklich. Ich fühlte mich ausgebrannt und genau das hatte mich in die Einsamkeit des Mount Ni getrieben. Wo würde ich mich erholen können, wenn nicht hier?

„Wusstest du, dass die feine Mila Mayham Sachen von Louis Vuibrava hat?“ Die Alte lachte trocken. „Sündhaft teures Zeug, das reichen Kids dient, um bei anderen Minderwertigkeitsgefühle auszulösen.“

Gut, vielleicht gab es bessere Orte als hier.

„Großmutter, bitte.“ Minako lächelte entschuldigend. „Du wolltest dich um das Essen kümmern, nicht wahr?“

Die Alte ließ mich nicht aus den Augen, ging rüber in die Küche und kam mit vier weiteren Schüsseln zurück. In einer dunklen, undefinierbar riechenden Brühe schwammen harte Streifen von … etwas. Minako aß ungerührt weiter, doch der Junge betrachtete das Essen ebenfalls skeptisch. „Was genau ist das?“ Er fragte, damit stand ich wenigstens nicht dumm da, und mir fiel positiv auf, wie tief und weich seine Stimme war.

„Trockenfleisch, was denn sonst?“ Die Alte kaute auf einem der zähen Stücke herum. „Hier oben kommt man nur schwer an eine ausgewogene Ernährung. Unsere Vorfahren haben monatelang von Eingelegtem, selbstgebackenem Brot und Trockenfleisch gelebt. Das ist gesund und gibt Kraft.“

„Das ist das Fleisch von toten Pokémon“, erwiderte der Junge und sein ohnehin blasses Gesicht wirkte mit einem Mal aschfahl. Er rührte die Schüssel nicht mehr an und trank stattdessen nur noch seinen Tee.

Auch ich wusste nicht so recht, ob ich das essen konnte – nicht, weil ich prinzipiell gegen den Konsum von Fleisch war, wie es viele in der heutigen Gesellschaft waren, sondern weil dieses Trockenfleisch in Aussehen und Konsistenz einer Schuhsohle gleich kam. Mit dem zarten Karpadorfilet oder Miltank-Steak, die es bei den Schönen und Reichen zu essen gab, hatte das nichts zu tun. Nein, die Entscheidung war gefallen, ich konnte das nicht essen, also schob auch ich die Schüssel weg und goss mir stattdessen von dem Tee ein, den die Alte und der Junge so langsam süffelten.

Eine dunkelrote, würzig riechende Flüssigkeit füllte meinen Becher und zu spät bemerkte ich das schelmische Funkeln in den Augen der Alten, als ich einen großen Schluck Tee trank. Im nächsten Augenblick fing mein Rachen Feuer und ich begann wild mit den Händen zu fuchteln.

„Tamottee“, sagte die Alte ungerührt und wandte sich dann an ihre Enkelin. „Louis Vuibrava und dann verträgt sie nicht einmal einen anständigen Tee. Verweichlicht, habe ich doch von Anfang an gesagt.“

Ein Trainer und ein Pokémon

Noch immer brannte mein Mund, doch die feurige Hitze war mittlerweile einem betäubenden Kribbeln gewichen, dessen Reste ich mit kaltem Wasser aus der Bergquelle löschte. Die Alte hatte sich heute Abend bestens auf meine Kosten amüsiert. Die Sache mit dem scharfen Tamottee war mir so peinlich, dass ich mich nach der Aktion sofort auf mein Zimmer verzogen hatte, nun saß ich aber alleine in der Küche und hielt das Glas zum wiederholten Male unter den Wasserhahn, aus dem das kalte Wasser kam.

Die Schritte, die langsam näher kamen, waren eindeutig nicht von der Alten, denn die bewegte sich so lautlos wie ein Geist. Ich tippte auf Minako und schaute auf, sah dann aber in die braunen Augen des Jungen, der wohl auf der Suche nach Gesellschaft war. „Was willst du?“ Meine Frage klang etwas unhöflich und ruppig, außerdem fühlte sich meine Zunge noch immer etwas taub an, sodass es eher wie ‘as hills du klang.

Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Ich schätze, ich wollte sicher gehen, dass mit dir alles in Ordnung ist, nachdem du mitten beim Abendessen wie vom Wattzapf gestochen aufgesprungen warst. Aber wenn du so unhöflich sein kannst, muss es dir ja schon wieder besser gehen.“

Augenblicklich tat mir mein Verhalten leid und ich kippte den Inhalt des Glases in einem Zug runter, stellte dann den Wasserhahn ab und lehnte mich gegen die Küchenzeile. „Tut mir leid.“

„Schon okay.“

Wir schwiegen uns eine Weile an und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Na ja, zumindest tat ich so, denn eigentlich beobachtete ich ihn und fragte mich, was jemand wie er an einem Ort wie diesem machte. 10.000 PD pro Tag waren nicht wenig Geld und er erweckte nicht den Eindruck als würde er zur Oberschicht gehören. Vielleicht täuschte ich mich auch nur in ihm, aber in den letzten drei Jahren, in denen mich meine Mutter voller Inbrunst ins Showbusiness eingeführt hatte, hatte ich ein Gespür dafür entwickelt Leute auf den ersten Blick einzuschätzen. „Bist du schon lange hier?“

„Nein. Erst seit ein paar Tagen.“

Ich nickte, sagte jedoch nichts mehr, auch wenn er darauf zu warten schien, dass ich weiter auf das Thema einging. Irgendwann seufzte er, drehte sich dann um und ging wieder nach oben. Ich folgte ihm ein paar Sekunden später und oben auf dem kleinen Flur kreuzten sich unsere Blicke noch einmal. Irgendwie tat er mir leid, so ganz alleine mit der verrückten Alten und der Tempelwächterin, die nur wenig Zeit für ihre Gäste hatte. „Wie lange wirst du bleiben?“

Er zuckte mit den Schultern – schon wieder. „Weiß ich noch nicht genau. Ein paar Wochen werden es schon sein. Und du?“

„Drei Wochen“, sagte ich ohne Umschweife. „Spätestens dann wird meine Mutter Amok laufen, weil sie das neue Sendungskonzept noch nicht mit mir besprechen konnte. Drei heilige Wochen voller Ruhe und Entspannung.“

Er lächelte leicht und in seinem Blick spiegelte sich etwas wider, was mich vermuten ließ, dass er mich irgendwie verstehen konnte. Auf einmal ging ein Ruck durch seinen Körper und er musterte mich ganz interessiert. „Hast du Pokémon?“

„Nein?“

Das plötzliche Interesse verschwand so schnell, wie es gekommen war. Sein Körper sank förmlich in sich zusammen und er wünschte mir eine gute Nacht, bevor er in seinem Zimmer verschwand. Komischer Kerl, aber irgendwie auch ganz nett.
 

***
 

Am nächsten Morgen stellte ich zwei Dinge fest. Erstens: Mein Handy hatte hier oben auf dem Mount Ni keinen Empfang, was mich verwunderte, aber es ließ sich nicht ändern. Zweitens: Die Alte hatte es wirklich ernst gemeint, als sie sagte, dass man außerhalb der festgelegten Zeiten keine Mahlzeit bekam.

Mit knurrendem Magen, dafür aber ausgeschlafen, schleppte ich mich durch den Vormittag und las in dem neusten Roman von Doktor Joy – Arzt der Herzen, einer Endlosreihe von Liebesgeschichten rund um Doktor Joy, einem männlichen Vertreter der weitläufigen Joy-Familie. Doktor Joy und Schwester Monique hatten die Nacht auf der gefährlichen, düsteren Route 14 in Kalos überlebt und sie hatten sich nur mit ihrer brennenden Leidenschaft wärmen können.

Plötzlich klopfte es an meiner Tür und ich setzte das Lesezeichen an die richtige Stelle. „Ja, bitte?“

Der schokoladenbraune Lockenkopf des Jungen erschien, dann der ganze Rest von ihm. Er grinste mich fröhlich an. „Ausgeschlafen? Ich wollte sichergehen, dass du nicht auch das Mittagessen verpasst. Minako hat gekocht, es gibt gleich Beerensuppe und als Nachtisch Apfelmuß mit Vanillesoße.“

Ich lächelte zurück und legte das Buch auf mein Kopfkissen. Durch die geöffnete Tür drang ein köstlicher Geruch bis zu mir und mein Magen reagierte mit einem sehnsüchtigen Knurren. „Ich kann es kaum erwarten.“

Er sah zufrieden aus und betrachtete das Buch auf meinem Bett – sein Grinsen nahm noch weiter zu – und den Koffer in der Zimmerecke, was ein Stirnrunzeln bei ihm auslöste. „Die alte Tempelwächterin hatte also Recht, ja? Du hast wirklich das teure Zeug von Louis Vuibrava.“

„Fängst du jetzt auch damit an?“ Meine Stimme klang vermutlich gereizter als ich mich fühlte.

Er winkte einfach nur ab. „Mir ist das egal, echt. Ich denke mir nur, dass man das ganze Geld auch sinnvoller ausgeben könnte. Es ist deine Sache, wenn du dir für 100.000 PD einen Koffer kaufst oder Handschuhe für 25.000 PD.“

Dass er die genauen Preise kannte, überraschte mich. Die Summe aus seinem Mund zu hören klang nicht direkt wie eine Anklage, aber ich fühlte mich schuldig und schaute aus dem Fenster hinaus auf die weiße Schneelandschaft. „Ich arbeite für mein Geld und meine Mutter sagt immer, dass man seinen Status zeigen muss, wenn man möchte, dass die Leute einen respektieren.“ Ich hatte ihre Stimme förmlich im Kopf. Mila, wenn du ein Idol werden willst, musst du den Leuten klar machen, dass du es wert bist, weil du schon längst in diesen Kreisen lebst.

„Möchtest du denn, dass die Leute dich wegen teurer Kleidung und eines Lebensstils respektieren, den sich nur wenige leisten können? Für mich hat das nichts mit Respekt zu tun, aber das ist deine Entscheidung.“

Verwirrt löste ich mich vom wunderschönen Anblick des Bergpanoramas und musterte ihn mit leicht zusammengekniffenen Augenbrauen. „Bist du jetzt unter die Lebensberater gegangen?“

„Tja, wer weiß?“ Das leicht freche Grinsen kehrte wieder zurück in seine Mundwinkel. „Ich habe mein Leben lang genügend Zeit gehabt, um andere Leute zu beobachten und mir darüber eine Meinung zu bilden. Was ich dabei gelernt habe, ist, dass Menschen, die sich nur auf teure Kleidung und andere Statussymbole verlassen, meistens keinen Charakter besitzen. Meiner Meinung nach sollte man aber für das respektiert werden, was man wirklich ist, nicht für das, was man vorgibt zu sein. Wie gesagt, es ist deine Entscheidung.“

Mein Mund klappte auf, dann wieder zu. So direkt hatte in den letzten drei Jahren niemand mit mir gesprochen, wenn man meine Mutter ausklammerte und bei der ging es nur darum, dass ich vor der Kamera mein Bestes gab.

„Jetzt schau mich nicht so an wie ein Karpador“, sagte er lachend und klopfte sich dabei leicht auf die Hüfte.

Ich folgte der Bewegung und entdeckte einen kleinen, pinkfarbenen Sympaball, den er an einem schmalen Gürtel befestigt hatte. Er besaß also ein Pokémon? War er Trainer?

Er bemerkte meinen Blick und zog schnell den Pullover über den Gürtel, fuhr sich dann verlegen durch die dunklen Haare und schaute über die Schulter nach draußen zur Treppe. „Ich glaube, wir sollten jetzt zum Essen gehen.“

Ich nickte wortlos und folgte ihm, auch wenn ich mir sicher war, dass es noch einige Minuten dauern würde, da noch kein Geschirrgeklapper zu hören war. „Sag mal, wie heißt du eigentlich, Herr Lebensberater?“

„Quinn“, murmelte er und wiederholte es dann etwas lauter. „Ich bin Quinn.“

„Ich bin Mila.“

Er lächelte schief. „Ja, ich weiß.“

Das ganze Essen über grübelte ich darüber nach, ob er Kalos TV schaute und meine Sendung kannte – das würde erklären, wieso er meinen Namen bereits wusste. Die Lösung war jedoch viel banaler und ich spürte den kleinen Stich der Enttäuschung, mir einfiel, dass die Alte meinen Namen beim gestrigen Abendessen erwähnt hatte.

Im Gegensatz zu gestern benahm sie sich heute jedoch und verkniff sich – bisher – jegliche bösen Kommentare. Stattdessen aß sie stillschweigend zwei Teller Suppe und verabschiedete sich dann von Minako, um sich ein Mittagsschläfchen zu gönnen.

„Großmutter ist nicht mehr die Jüngste“, meinte Minako lächelnd und schaute ihrer Oma nach, als diese die Schiebetür zu einem der beiden angebauten Gebäudeteile schloss. „Man sieht es ihr zwar nicht an, aber sie wird dieses Jahr schon einhundertundvier.“

Ich verschluckte mich beinahe an meiner Suppe. „So alt schon?“

Minako nickte und strich sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. „Ja und fast genauso lange arbeitet sie schon für den Tempel. Ihre Ausbildung fing an, als sie zwei Jahre alt war. Sie ist zu einer ganz anderen Zeit aufgewachsen und hat in ihrem Leben viel gesehen und erlebt. Bitte nehmen Sie es ihr nicht böse, wenn sie sich wie ein knorriger Baum aufführt. Ihre Wurzeln sind tief in alten Traditionen verankert.“

Die Alte feierte also bald ihren 104. Geburtstag und ich wunderte mich noch, warum sie so komisch drauf war. Im Alter entwickelten doch alle Menschen Macken, sagte man das nicht so? „Sagen Sie, Minako, seit wann wird der Tempel eigentlich als Gästepension genutzt?“

Sie dachte einen Moment darüber nach. „Das müssten jetzt etwa drei Jahre sein. Ich habe den Tempel vor zehn Jahren von ihr übernommen und hatte schon damals Pläne, wie wir mit dem Tempel etwas Geld verdienen könnten. In der heutigen Zeit suchen viele Menschen aus den Städten nach einer Auszeit und das zusätzliche Geld können wir gut gebrauchen, um damit den Tempel zu renovieren. Den Wasserkreislauf betreiben wir selbst durch das Bergquellwasser, aber die Stromleitung für das Haus und den Boiler werden von Eisbergen aus betrieben, dafür müssen wir nicht wenig zahlen. Manchmal stehen unsere Fremdenzimmer wochenlang leer und besonders viele Gäste nehmen wir nicht auf, aber es reicht, um die Kosten zu decken.“

Ich nickte. So etwas in der Art hatte ich mir bereits gedacht. „Dann werden Quinn und ich in der nächsten Zeit also die einzigen Gäste bleiben?“

„Es liegen keine weiteren Anmeldungen vor und wir nehmen nur angemeldete Gäste auf“, bestätigte Minako meine Vermutung.

Nach dem Essen ging ich zurück in mein Zimmer und dachte über den Pokéball an Quinns Gürtel nach. Er war offensichtlich im Besitz eines Pokémon, wollte aber nicht, dass es frei im Tempel herum lief. Das konnte aber auch an der Alten liegen, sie schien alles zu verdammen, was ihren gewohnten Tagesablauf unterbrach. Kurzerhand stand ich auf und ehe ich mich versah, stand ich vor Quinns Tür und klopfte unterhalb des Glaziola-Schilds an.

Wenige Sekunden später öffnete er mir. „Hey.“

„Hey.“

„Wie kann ich dir behilflich sein?“

Ich suchte nach dem Ball an seinem Gürtel, doch da war nichts. Hatte ich mich etwa getäuscht? Nein, den Sympaball hatte ich gesehen, da war ich mir sicher. „Du hast einen Sympaball an deinem Gürtel gehabt.“

Quinn musterte mich und verlagerte sein Gewicht ganz langsam von einem Bein auf das andere. „Und?“

Ich rollte mit den Augen. „Bist du ein Pokémon-Trainer? Willst du hier oben in der Wildnis mit deinem Pokémon trainieren?“

Sein Gesichtsausdruck war undefinierbar und genau das sorgte dafür, dass ich mich unwohl fühlte.

„Hey, ich weiß, das geht mich nichts an, okay? Ich möchte nur wissen, warum sich jemand, der so normal ist wie du, auf unbestimmte Zeit am Ende der Welt einquartiert.“

Quinn presste die Zähne so stark aufeinander, dass seine Kiefergelenke hervortraten. „Stimmt, das geht dich nichts an.“ Bamm, knallte er mir die Tür vor der Nase zu.

Vollkommen verdattert starrte ich auf das Holz, das sich wenige Zentimeter vor meinem Gesicht befand. Eindeutig ein wunder Punkt bei ihm? Idiot. Ich wirbelte auf dem Absatz herum und marschierte die wenigen Schritte in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und warf mich auf mein Bett. Mein Blick fiel auf meinen Koffer, den ich noch immer nicht ausgeräumt hatte. Ich war hier, um Abstand von der anstrengend Fernseharbeit zu bekommen und herauszufinden, was ich wirklich mit meiner Karriere anfangen wollte. Zu Quinn hatte ich nur nett sein wollen. Der konnte mir doch gestohlen bleiben!

Noch immer aufgebracht hievte ich mich wieder vom Bett hoch, warf stattdessen den Koffer auf das Bett und kramte die pinken Badelatschen und das große, flauschige Handtuch heraus. Ich war hier, um zu entspannen, also würde ich auch genau das tun!

Im Erdgeschoss befand sich gegenüber der Schiebetür, die in den privaten Bereich der Tempelbewohner führte, eine weitere Schiebetür, die zum Badebereich zeigte. Zunächst betrat ich einen kleinen Vorraum, von dem es in einen Umkleideraum ging. Ich zog mich aus und legte meine Kleidung in einen der bereit gestellten Körbe, dann zog ich die Badelatschen an und nahm mein großes sowie ein kleines Handtuch mit in den nächsten Raum, wo sich die Waschzellen befanden. Auf einer kleinen Holzbank sitzend wusch ich mir zuerst den Körper, dann die Haare und spülte das Shampoo gründlich aus. Anschließend stellte ich die Badelatschen und mein großes Handtuch an der Wand ab und trat durch eine weitere Schiebetür hinaus ins Freie.

Zuerst fühlte ich mich beklemmt, weil über mir der freie Himmel war und die eisige Luft sofort über meine nackte Haut fuhr, doch mit wenigen Schritten war ich an der heißen Quelle angelangt und stieg über Stufen hinab ins Wasser. Der blickdichte Holzzaun rahmte das Bad zu allen Seiten hin ein, so wie ich es mir bei meiner Ankunft bereits gedacht hatte. Warmer Dampf stieg vom Wasser auf und ich ließ mich bis zum Kinn ins Wasser gleiten, schloss die Augen und blendete alle Gedanken aus, die in meinem Kopf kreisten.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort so gesessen hatte, bis ich hörte, dass die Schiebetür erneut geöffnet wurde. Ich öffnete meine Augen und mein Blick kreuzte den von Quinn, der splitterfasernackt in der Tür stand, neben ihm ein Feelinara, das bei meinem Anblick den Kopf schief legte.

„Bei Arceus, Quinn!“, stieß ich aus, schlug dabei hektisch mit der Handfläche aufs Wasser und spritzte mir dabei selbst ins Gesicht. Dabei war ich halb aufgesprungen, drehte mich jedoch schlagartig zur Seite und riss mir das kleine Handtuch vor den Körper. „Du bist nackt!“

„Du doch auch!“, schrie er ebenso lautstark zurück und ließ vor Panik auch noch das Handtuch fallen.

Ich tauchte zurück ins Wasser und starrte den Zaun an. „Verdammt noch mal, zieh dir was an und verschwinde!“ Mein Herz raste und mein Kopf fühlte sich glühend heiß an. Hatte er mich gesehen? Hatte er meine nackten Brüste gesehen? Hinter mir glitt die Schiebetür geräuschvoll zu, trotzdem konnte ich mir ein „Du Spanner!“ nicht verkneifen, woraufhin aus dem Inneren etwas gedämpft die Worte „Das Bad ist für alle!“ zurück kamen.

Die Lust aufs Baden war mir gehörig vergangen, trotzdem wartete ich sicherheitshalber mehrere Minuten und dann zählte ich noch einmal langsam bis hundert, ehe ich mit vorgehaltenem Mini-Handtuch aus dem Wasser stieg und zu der Schiebetür tapste. Meine nassen Füße hinterließen Abdrücke auf dem Steinboden.

Ich schob die Tür einige Zentimeter auf. „Bist du da drin?“ Als keine Antwort kam, schaute ich in den Waschraum, der leer war, also huschte ich hinein und griff sofort nach meinem großen, flauschigen Handtuch, das ich gegen das kleine Exemplar tauschte und eng um meinen Körper wickelte. Wieso hatte er nicht gesehen, dass meine Sachen auf dem schmalen Seitenregal lagen? Verdammt, darauf hätte er achten müssen!

Auch der Umkleidebereich war verlassen, sodass ich mich zügig abtrocknen und in meine Sachen schlüpfen konnte. Die nassen Handtücher legte ich in einen extra Korb, dann trat ich zurück ins Haupthaus und ging die Treppe hoch nach oben, wo ich beinahe Quinn über den Haufen rannte.

Er schaute mir kurz in die Augen, errötete dann und schaute weg, ebenso wie ich. Scheiße, ich hatte alles von ihm gesehen – und er? „Spanner“, zischte ich.

„Zicke“, zischte er zurück und wir gingen beide mit puterrotem Kopf getrennte Wege, was Antwort genug war.

Wenn ich mir meinen Urlaub vorgestellt hatte, dann definitiv anders als so.

Fee und Käse

Irgendwie schafften Quinn und ich es in den folgenden Tagen, dass wir uns lediglich bei den täglichen drei Mahlzeiten sahen und uns ansonsten nicht mehr über den Weg liefen. Beim Essen sprachen wir nur das Nötigste miteinander und wann immer sich unsere Blicke kreuzten, liefen wir beide rot an und schaufelten hektisch Essen und Tee in uns hinein.

Nach einer ganzen Woche ohne zwischenmenschlichen Kontakt und mit umso mehr Romantik mit Doktor Joy langweilte ich mich bereits zu Tode. Die Alte kostete meine zunehmende Verzweiflung aus, indem sie mich in keine Gespräche mehr verwickelte und Minako sah ich außerhalb des Speisezimmers nur selten. Einmal am Tag kam Hans, der Fahrer, bei uns vorbei und ich vergab ihm seinen blöden Scherz, um mich wenigstens mit einem anderen Menschen unterhalten zu können, auch wenn er zu der eher wortkargen Sorte Mensch gehörte.

Hans drückte mir eine riesige Kiste in die Hand, die bis zum Rand mit größeren und kleineren Päckchen gefüllt war. „Hier, kannst du Minako geben, ich muss gleich wieder weg.“ Er steckte die Einkaufsliste in seine Jackentasche, brummte etwas und stieg wieder in seine Schneeraupe ein.

Das verdammte Ding wog mit Sicherheit einen halben Zentner und nachdem ich die Kiste in den kleinen Eingangsbereich und weiter in die Küche geschleppt hatte, schmerzten meine Hände so sehr, dass ich sie einen Moment unter fließendes Wasser hielt.

„Ist Hans schon wieder weg?“ Minako kam zu mir, begutachtete die Kiste und begann einzelne Päckchen auszupacken. Zum Vorschein kamen Salatköpfe, Äpfel, Kohl und ein Vorratspack Nudeln. Einen dicken Briefumschlag, der zu meiner Überraschung an Quinn adressiert war, legte sie zur Seite.

„Er meinte, dass er schnell zurück nach Eisbergen muss.“

Minako nickte und begann eine Melodie zu summen, doch ich erkannte eine Spur von Traurigkeit auf ihrem Gesicht. Obwohl sie schon um die fünfzig Jahre alt war, hatte ihr Gesicht erstaunlich wenig Falten und in ihren hellblonden Haaren, die sie stets hochgesteckt trug, besaßen nur vereinzelte graue Haare. Jetzt, wo ich genauer darüber nachdachte, fiel mir auf, dass sie immer dann fröhlicher wirkte, wenn Hans die täglichen Einkäufe vorbei gebracht hatte.

Ich lehnte mich gegen die Spüle und beobachtete Minako genau. Ob sie vielleicht ein kleines bisschen in Hans verliebt war? Ich wusste nicht, ob eine Tempelwächterin eine Familie gründen durfte, aber so blöd war die Frage gar nicht. Sie bezeichnete die Alte zwar als ihre Großmutter, aber war sie das wirklich?

Minako unterbrach meine Gedanken, indem sie mir den Umschlag für Quinn in die Hand drückte. „Seien Sie doch so nett und bringen Quinn diesen Brief?“

„Natürlich.“ Ich erwiderte ihr Lächeln und verstand den Wink, dass sie alleine gelassen werden wollte, also ging ich ins Obergeschoss und klopfte an Quinns Tür. Noch immer hatten wir nicht über das geredet, was vor einer Woche in der heißen Quelle passiert war, aber wir waren beide erwachsen, um uns nicht mehr wie pubertäre Kinder zu benehmen, nicht wahr? Heiliges Arceus, wenn er mich nun doch gesehen hatte …

Quinn öffnete nicht, also klopfte ich erneut und als sich noch immer nichts tat, drückte ich die Türklinke runter und trat ein. Sein Zimmer war genau so eingerichtet wie meins, aber statt der Aussicht auf das Bergpanorama konnte er von seinem Zimmer aus gegen Felsen und weiter rechts in die Weite des Tals schauen, in dem Eisbergen lag. Auf dem Schreibtisch lagen weitere dicke Briefumschläge, alle geöffnet und zerknüllt. Seltsam.

Ich trat näher an den Schreibtisch heran und erkannte für jeden Tag, den er hier war, genau einen dicken Brief, alle von derselben Adresse geschickt: Judith Ikarus in Saffronia City, Kanto. Seine Mutter?

„Schnüffelst du jetzt schon in meinen Sachen herum?“

Ich zuckte zusammen und ließ vor Schreck den Brief auf den Boden fallen. „Hallo, Quinn. Nein, ich … Minako hat Post für dich.“ Schnell beugte ich mich runter, hob den Umschlag auf und reichte ihn weiter an Quinn, der ihn ungeöffnet auf den Schreibtisch warf und sich stattdessen auf die Bettkante setzte.

„Schön, dass du jetzt wieder mit mir redest.“

Mein Augenlid zuckte und ich verschränkte die Arme vor dem Körper. „Ich warte immer noch auf eine Entschuldigung.“

Quinn zog eine Grimasse. „Ganz sicher nicht dafür, dass ich die heiße Quelle benutzen wollte, so wie es mir als zahlender Gast zusteht. Hättest du nicht sofort wie vom Wattzapf gestochen geschrien, wäre die ganze Situation auch nicht so peinlich gewesen.“

Klar, jetzt gab er mir die Schuld. „Wenn du darauf wartest, dass ich mich entschuldige, bist du schief gewickelt, mein Lieber.“

Er erwiderte meinen sturen Blick einige Sekunden, dann seufzte er und zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer.“ Dann deutete er auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. „Bitte, setz dich ruhig. Es ist ziemlich langweilig, wenn man den ganzen Tag nichts zu tun und keinen zum Reden hat.“

„Wem sagst du das“, stimmte ich ihm zu, setzte mich hin und betrachtete die geschwungene Handschrift auf den Briefumschlägen. „Du bekommst jeden Tag Post?“

„Leider.“ Er klang ziemlich zerknirscht. „Meine Mutter schreibt mir jeden Tag, sie ist schlimmer als ein Kangama.“

„Hm.“ Aus den einzelnen Umschlägen guckten seitenlange Briefe heraus, alle per Hand geschrieben. „Immerhin schreibt sie dir. Wenn meine Mutter sich meldet, weiß ich, dass sie mich wieder zur Arbeit schleppen will, sonst höre ich nichts von ihr.“

„Das wäre mir zumindest lieber.“ Quinn lächelte schief, dann zögerte er und griff zu dem Sympaball an seinem Gürtel. „Weil du mal gefragt hattest: Ja, ich habe ein Pokémon. Ihr Name ist Fee.“ Er drückte einmal auf den Knopf in der Mitte, woraufhin sich der Ball vergrößerte, dann ein zweites Mal und neben ihm formte sich aus dem roten Lichtblitz ein Feelinara, das zuerst gähnte und dann elegant die Vorderpfoten unter seinen Körper faltete.

„Ein Feelinara namens Fee? Sehr einfallsreich.“

Quinn streichelte Fee liebevoll über den rosafarbenen Kopf. „Den Namen hatte sie schon vorher, weil sie wie eine feenhafte, kleine Dame ist.“

„Und dann hat sie sich passend dazu in ein Feelinara entwickelt?“, riet ich ins Blaue hinein, doch er schüttelte den Kopf und schaute mich an.

„Nein, nicht ganz. Meine Eltern haben mir den Umgang mit Pokémon nie erlaubt, weil ich …“ Er zögerte einen Augenblick und schmerzhafte Erinnerungen zuckten über sein Gesicht. „Ich bin nicht der Gesündeste. Sie hatten Angst, dass ich mich beim Spielen mit Pokémon verletzen könnte oder einen Krankheitsschub bekomme. Vor zwei Jahren habe ich Fee gefunden, als ich von zu Hause abgehauen und durch die Stadt gelaufen bin. Ein paar Biker haben sie getreten und ihre Späße mit ihr gemacht, dabei war sie noch ein Baby. Ich habe sie mit zu mir genommen und gesund gepflegt, auch wenn meine Mutter mir deswegen einen Monat Hausarrest gegeben hat. Sie hätte mir das Training von Fee nie erlaubt, deshalb war mir schon von Anfang an klar, dass sie sich nur in Psiana, Nachtara oder Feelinara entwickeln kann, weil ich auch an keinen Entwicklungsstein herankommen konnte. Ich habe mich dann für Feelinara entschieden und ihr gezielt die Zuneigung gegeben, die es dafür brauchte. Wir haben heimlich ein wenig trainiert, aber das Training ging nur langsam voran, weil ich mich nicht vom Grundstück entfernen konnte. Vor ein paar Monaten hat sie sich dann entwickelt und ich habe mal wieder Hausarrest dafür bekommen.“

Auch, wenn mir Quinn leid tat, sagte ich nichts, weil ich den Stolz in seinem Blick erkennen konnte. Ich wusste nicht, was er für eine Krankheit hatte, aber es war offensichtlich, dass seine Eltern ihm nicht die Freiheit gaben, die er brauchte und wollte. „Traurige Geschichte“, sagte ich schließlich zögerlich und wickelte eine meiner blonden Haarsträhnen auf dem Finger auf. „Und jetzt bist du hier, um Urlaub zu machen?“

„Um gesund zu werden.“ Quinns Lächeln wurde trauriger. „Zumindest ein bisschen. Die Luft hier oben ist keinen Schadstoffen ausgesetzt, das tut meiner Lunge gut. Der Arzt hat mir dringend zu einer Kur geraten, deshalb bin ich hier, aber auch das hat wochenlange Diskussionen erfordert. Ich habe mir dann einfach ein Ticket gekauft und meine Eltern vor vollendete Tatsachen gestellt. Mein Vater hat dazu nichts gesagt, aber meine Mutter …“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Wir verstehen uns nicht gerade gut.“

„Es ist schade, dass sie nicht sehen kann, wie gut du dich um Fee kümmerst. Sie hätte sich nicht entwickelt, wenn deine Pflege nicht gut gewesen wäre. Warum ziehst du nicht einfach los und wirst Pokémon-Trainer, wenn das dein Wunsch ist?“

„Das ist nicht so einfach.“ Quinns Hand stoppte die Streichelbewegung auf Fees Kopf und er legte sie in seinen Schoß. „Man kann eben nicht immer nur das tun, was man möchte.“

„Wenn du aber immer nur das tust, was sie will, was hast du davon? Du willst Trainer werden, also zieh los und werde ein Trainer.“

Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass sich Tränen in Quinns Augen sammelten. Sofort zog sich mein Herz zusammen und ich fühlte mich klein. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Mila, sei kein Dummkopf und sag nur das, was Mami dir aufgeschrieben hat. Hübsch lächeln. Schau in die Kamera.

„Ich bin viel zu krank, um alleine los zu ziehen! Das werde ich niemals schaffen. Ständig diese Anfälle, dann meine kranke Lunge und die vielen Allergien …“ Als er meinen Blick sah, verhärtete sich sein Ausdruck und er zog die Beine an. „Ich brauche dein Mitleid nicht. In deinem Leben läuft bestimmt alles perfekt. Du bist hübsch, reich und alles dreht sich nur um die neue Kollektion von Louis Vuibrava.“

Immer lächeln, Schatz. Sei wie eine Puppe. Sei perfekt. Ich stand, bevor ich merkte, dass ein Ruck durch meinen Körper ging. „Ach sei doch still!“, fauchte ich Quinn an. „Wenigstens kann ich meinen großen Traum verwirklichen und kneife nicht!“

Auf einmal stand Quinn ebenfalls. Er war einen halben Kopf größer als ich und ich musste den Kopf ein Stück in den Nacken legen, um ihn anfunkeln zu können. „Dafür, dass du deinen großen Traum lebst, siehst du aber verdammt unglücklich aus, Mila!“

Ich schnaubte und fühlte, wie ein Dolch mein Herz durchbohrte. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, das ihn verletzte und ihn den Schmerz spüren ließ, der mich gerade überflutete, doch mir fiel nichts ein. Quinn konnte nichts dafür, er sagte die Wahrheit, die ich nicht hören wollte, also tat ich das einzige, was ich jetzt tun konnte: Ich wirbelte herum und stolzierte aus seinem Zimmer, um meinen dramatischen Abgang perfekt zu machen.
 

***
 

In meinem Zimmer ging es mir nicht viel besser. Ohne mich zu kennen hatte Quinn den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich war hier, weil ich es satt hatte von meiner Mutter und den anderen Produzenten zu einem Fernsehsternchen gepusht zu werden. Die letzten drei Jahre meines Lebens hatte ich fast nur im Studio oder bei Außendrehtagen in den Arenen von Kalos verbracht. Was würde nach meinem dreiwöchigen Urlaub kommen?

Dabei liebte ich die Arbeit vor der Kamera, führte gerne Interviews mit den Trainern und Arenaleitern, ohne mich jemals in derselben Position gesehen zu haben. Eine Trainerin? Nein, das war ich nicht. Ich hatte nie ein eigenes Pokémon gehabt, genauso wenig wie meine Eltern. Dafür waren andere da.

Als es leise an der Holztür klopfte, rechnete ich mit Quinn, der sich entschuldigen wollte. Wie in Doktor Joy Band 34, Entschuldigung der Herzen. Stattdessen stand die Alte in der Tür, blinzelte mir entgegen und mit ihr gelangte ein ziemlich merkwürdiger Geruch in mein Zimmer. Wir starrten uns an und sie ging wieder nach draußen ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Gruselige Frau.

Ich biss in mein Kopfkissen und ging zu meinem Koffer. In einer der Innentaschen hatte ich noch eine Packung Schokoladenbonbons, von denen ich mir jetzt gleich zwei auf einmal in den Mund warf und darauf herum kaute. War es nicht ohnehin Zeit für das Mittagessen? Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigte meinen Verdacht und ich ging nach unten, wo Minako bereits den Tisch gedeckt hatte.

Als Vorspeise gab es wie immer eine Nudelsuppe, die geräuschvoll von allen geschlürft wurde, doch als danach selbstgemachtes, vegetarisches Sushi gereicht wurde, sah ich, dass Quinn trockenen Reis aß. Ich stupste ihn unter dem Tisch an und zog fragend die Augenbrauen nach oben.

Quinn presste die Lippen aufeinander und stocherte mit den Essstäbchen im Reis herum. „Bin allergisch auf Meeresprodukte“, lautete seine kurze Antwort. Ah, das erklärte es. Kein Fisch, keine Muscheln, kein Nori.

Gerade hatte ich meine Portion aufgegessen, als Minako aufstand und aus dem Kochbereich eine Platte mit verschiedenen Käsesorten holte. Gerade sah ich, um was für Käse es sich handelte, als sich mir auch schon der Magen umdrehte. „Was ist das?“

Die Alte schnappte sich eines der Käsestücke und hielt es mit den Stäbchen fest im Griff. „Schimmelkäse aus eigener Produktion. Sehr nahrhaft.“

Stinkekäse traf es wohl eher. Die Konsistenz der Käsestücke schwankte von Hartkäse bis zu Weichkäse, aber alle waren mit grünen oder blauen Schimmelstückchen durchzogen, dazu kamen noch ein paar Gewürze. Alles in allem füllte sich der Raum in Sekundenschnelle mit dem abgestanden, öligen Geruch, der mir schon zuvor an der Alten aufgefallen war, nur dass er hier viel intensiver war. Noch eine Minute länger hier drin und ich konnte nicht garantieren, dass Suppe und Sushi in meinem Magen blieben. „Danke, aber ich bin schon satt.“

Eilig stand ich auf und ging nach oben, wobei Quinn mir ziemlich dicht auf den Fersen war. Sein Gesicht war noch blasser als sonst, beinahe grünlich. War ihm schlecht? Ich wollte gerade nachfragen, als mir auffiel, dass er leise nach Luft schnappte, doch da verschwand er schon in seinem Zimmer. Das letzte, was ich hörte, war Fees Maunzen und danach das Zischen und Klackern eines Inhalators.

Nacht ohne Schlaf und Blizzard-Alarm

Meine Uhr zeigte vier Uhr nachts, als mich ungeschicktes Rumpeln vom Flur weckte. War das Quinn? Vielleicht musste er mal auf die Toilette. Ich lauschte in die Stille hinein, hörte aber weder die knarrende Badezimmertür noch ein anderes Geräusch. Seltsam. Gerade hatte ich mich also wieder auf die andere Seite gedreht, als eine minimale Vibration durch die Wand ging. Das konnte nur die schwere Eingangstür im Erdgeschoss gewesen sein. Quinn würde doch nicht … Ach, verdammt, der würde doch nicht mitten in der Nacht nach draußen gehen? Wie kalt war es, minus zwanzig Grad vielleicht?

Ich verließ die Wärme der Bettdecke, stellte mich ans Fenster und schaute gähnend hinaus in die Nacht. Natürlich konnte ich nicht viel erkennen, zumal schwere Wolken den Himmel und damit auch das Mondlicht verdeckten, doch unten auf dem Schnee glaubte ich frische Spuren erkennen zu können. So ein Vollpfosten!

Mein Blick ging unruhig zwischen meinem warmen Bett und dem Regal mit meiner Kleidung hin und her. Was auch immer Quinn dort draußen tat, ging mich überhaupt nichts an. Wenn er einfach schlecht geschlafen hatte, war das seine Sache, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass er nicht so kopflos war mitten in der Nacht alleine durch knietiefen Schnee zu waten. Was, wenn er ausrutschte, in eine Gletscherspalte fiel oder im Dunkeln keinen Rückweg mehr fand?

Meine Besorgnis siegte über die Sehnsucht nach mehr Schlaf und Wärme, weshalb ich mir schnell die warmen Wintersachen aus dem Regal fischte und mich umzog. Einen Vorsprung hatte Quinn bereits und ich redete mir ein, dass ich mir keine Sorgen um ihn machte, sondern einfach nur sicherstellen wollte, dass ich ruhig weiterschlafen konnte. Genau, das war es.

Draußen empfing mich eisige Kälte und der Schnee knirschte unter meinen Winterstiefeln. Nach wenigen Metern sank ich bereits bis zum Knöchel ein und je weiter ich mich vom Tempel entfernte, desto tiefer trat ich in den Schnee. Die Wolken über mir verdunkelten sich immer weiter und hingen so tief, dass ich das Gefühl hatte sie berühren zu können, wenn ich nur hoch genug sprang.

Ich fand Quinns Spuren und folgte ihnen, bis die ersten Schneeflocken auf meine Kleidung fielen. Was hatte Schwester Joy in Eisbergen noch gleich gesagt? Irgendetwas in der Richtung, dass sich das Wetter schnell ändern konnte. Das, was in diesem Moment noch schöne Flocken waren, konnten im nächsten Moment bereits Schneestürme sein.

Ich musste Quinn finden. Schnell.

„Quinn?“ Meine Stimme hallte aus der Ferne wider und ich beschleunigte meine Schritte, weil ich Angst hatte seine Spuren unter der frischen Schneeschicht zu verlieren. „Quinn! Wo steckst du?“

Eine erste eiskalte Windböe erfasste mich und fror mich bis auf die Knochen durch. So viel zum Thema winddichte Jacke. Ich zitterte unter meiner Kleidung, kämpfte mich aber weiter durch den Schnee und schaute nur einmal zurück. Der Tempel war längst aus meinem Blickfeld verschwunden und auch meine eigenen Spuren verblassten bereits unter dem fallenden Schnee.

Keine Zeit, um darüber nachzudenken. Eine Bewegung gut fünfzig Meter vor mir erweckte meine Aufmerksamkeit. Wenn das nicht Quinn war sondern ein wildes Pokémon, war ich geliefert. Mein Herz klopfte schneller in aufsteigender Panik, doch als ich die Silhouette als eindeutig menschlich interpretieren konnte, fiel mir ein Stern vom Herzen. „Quinn!“

Die Person blieb stehen, drehte sich zu mir um und ich sah sein blasses Gesicht, das farblich perfekt zum Schnee passte. „Mila? Was tust du hier?“

Ich holte ihn ein und klapperte mit den Zähnen. „Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Es ist mitten in der Nacht!“

„Geh zurück zum Tempel!“

„Ganz sicher nicht alleine“, erwiderte ich spöttisch und ein erneuter Windstoß fuhr mir durch die offenen Haare, die unter der Mütze hervorguckten. „Bist du eigentlich lebensmüde? So mitten in der Nacht? Alleine? Auf einem verdammten Berg, weit und breit keine Menschenseele?“

„Was geht es dich an, was ich hier tue?“ Aufgebracht atmete er aus und seine Atemwolken verdichteten sich.

Ich wippte von einem Bein auf das andere. Der Schneefall nahm immer stärker zu, das gefiel mir nicht. Erst jetzt sah ich, dass er einen Rucksack auf dem Rücken trug. „Willst du weglaufen?“

Er biss sich auf die Unterlippe. Ertappt. „Ist doch egal. Geh einfach zurück und lass mich alleine.“

„Eine großartige Idee, Quinn. Wirklich ganz großartig! Kannst du deinen Selbstfindungstrip nicht auf tagsüber verschieben?“

„Nein! Wenn meine Mutter erfährt, dass ich den Tempel verlassen habe, wird sie augenblicklich aus Kanto anreisen oder mir Schwester Joy in Eisbergen auf den Hals hetzen. Sie kann es wirklich gut anderen Leuten zu erzählen, wie schlecht es ihrem Sohn gesundheitlich geht.“ Noch eine große Atemwolke füllte mein Gesichtsfeld aus. Quinn begann zu zittern. „Du hast selbst gesagt, dass man seinen Traum verwirklichen kann, wenn man mutig genug ist.“

„Das ist …“ Ich starrte ihn an. „Nein, Quinn. Nein! Nein, nein, das vergisst du aber ganz schnell wieder. Du ziehst nicht meinetwegen nachts in die Wildnis und riskierst dabei Kopf und Kragen, nur weil du urplötzlich Pokémontrainer werden willst.“

„Das ist nicht nur eine Laune, Mila. Das ist mein Traum, es war schon immer mein Traum. Hier gibt es niemanden, der mich aufhalten kann oder kontrolliert. Wenn ich jetzt nicht abhaue, werde ich diese Chance nie wieder haben.“

Ich packte ihn am Arm. „Du wirst hier draußen erfrieren oder von einem wilden Pokémon gefressen werden. Komm bitte mit zurück.“

Quinn riss sich los, aber ich hielt ihn weiter fest. Wir beide verloren das Gleichgewicht und im nächsten Moment setzte sich der Schnee unter unseren Füßen in Bewegung. Ich schrie auf, er ebenfalls, doch unsere Stimme wurden in der Lawine, die wir so eben ausgelöst hatten, erstickt.

Über mir Schnee, unter mir Schnee. Überall. Luft! Als wir uns endlich nicht mehr bewegten, strampelte ich mich frei und saugte gierig die eisige Nachtluft ein. „Quinn …?“

„Ich bin hier“, war seine gemurmelte Antwort gut fünf Meter neben mir. Er saß mitten im Schnee, seine Mütze hatte er irgendwo verloren und seine Haare standen wirr in alle Richtungen. Immerhin trug er noch seinen Rucksack und Fees Sympaball.

Gemeinsam standen wir auf und schaute nach oben. Der Hang, den wir hinunter gekullert waren, mochte gut zehn Meter hoch sein. Es war ein Wunder, dass wir uns nichts gebrochen hatten. Überhaupt kam ich mir seltsam lebendig vor und das Gefühl der Kälte war verschwunden. „Los, wir müssen da wieder rauf.“

„Ich … ich kann nicht“, schnaufte er, stellte den Rucksack ab und suchte darin nach irgendetwas.

„Doch, klar kannst du“, plapperte ich munter drauf los. Das war der Wahnsinn!

„Mila … Das ist nur das Adrenalin.“ Die Worte kamen stoßweise aus seinem Mund und im nächsten Moment hatte er bereits seinen Inhalator an den Lippen. Quinn nahm etwa zehn kräftige Züge, dann beruhigte er sich und steckte das handgroße Gerät in seine Jackentasche. „Die Luft … ist so dünn … Ich habe die Anstrengung nicht eingeplant und erst recht … keine Lawine.“

Ich wippte vor und zurück und schaute noch einmal den Hang hinauf. „Da kommen wir dann wohl nicht hoch, hm? Gibt es einen anderen Weg?“

„Woher soll ich … das wissen?“ Er keuchte noch immer, doch seine Wangen hatten wieder Farbe und er schien genügend Kraft zu besitzen, um den Rucksack zu schultern und los zu gehen.

Ich marschierte einfach direkt hinterher und merkte plötzlich, wie der erste Schock von mir abfiel und damit auch das Gefühl der Unbesiegbarkeit. Zurück blieben Angst und eisige Kälte. Schnee, überall, unter meinem Pullover, in meinem Kragen, in den Stiefeln. Der Schnee begann zu schmelzen und Eiswasser bedeckte meine Kleidung und meine Haut. „Q-quinn? W-wir finden doch einen Weg zurück o-oder?“

„Müssen wir.“

Das, was uns blühte, wenn nicht, wollte ich mir nicht ausmalen. Wieso war ich nicht einfach in meinem Bett geblieben?

Wir stapften durch den Schnee und orientierten uns grob an dem Hang in der Hoffnung, dass wir irgendwo entweder nach oben oder unten gehen konnten. Zum Tempel oder nach Eisbergen, das war egal, Hauptsache raus aus der Kälte. Der Schnee fiel in immer dichteren Flocken und nahm uns schon bald die Sicht.

„Bist du sicher, dass es klug ist, wenn wir einfach ziellos weiter laufen?“, fragte ich Quinn und bewegte in den Stiefeln meine Zehen, die langsam kalt und taub wurden.

Er antwortete mir nicht, aber sein starrer Blick war Antwort genug. Er würde nicht stehen bleiben, auch wenn er die Orientierung verloren hatte.

„Quinn, b-bitte“, versuchte ich es erneut. Der Wind fegte mir direkt ins Gesicht und ich kniff die Augen zusammen, um überhaupt noch etwas sehen zu können – nicht, dass es in dem Schneesturm etwas gebracht hätte. „Du weißt genauso gut wie ich, dass wir vom Weg abgekommen sind. Der Tempel muss irgendwo oberhalb von uns auf dem Plateau liegen. Lass uns einen Weg nach oben suchen oder uns vor dem Sturm verstecken.“

„Wo willst du dich hier verstecken? Wir sind mitten in den Bergen und ich wüsste nicht, dass es hier irgendwo eine Höhle gibt. Ich werde bergab gehen, irgendwann muss Eisbergen ja mal in Sicht kommen.“

Klar, wenn wir überhaupt auf der richtigen Seite des Berges den Abstieg wagten. Was, wenn wir genau auf der falschen Seite waren und ins Nirgendwo liefen? Außer Eisbergen gab es weit und breit keine Zivilisation. Ich zog meinen Schal noch etwas höher, um mein Kinn und meinen Mund vor der kalten Luft zu schützen, doch dafür entstand weiter unten am Kragen eine freie Fläche und ich überlegte es mir sofort anders, als die Flocken dort meine Haut trafen. „Quinn“, jammerte ich erneut.

Einen Schritt später rutschte ich aus und landete der Länge nach im Schnee. Eisiger Wind fegte über meinen Körper hinweg, pfiff um meinen Kopf und ich spürte sie ganz deutlich. Angst. Ich hatte Angst, dass wir erfrieren würden. Die Nacht war düster und wenn mich nicht alles täuschte, manifestierte sich der Sturm gerade zu einem ausgewachsenen Blizzard. Wenn wir hier ohnmächtig wurden oder starben, würde man uns vielleicht nie finden. Ein Rexblisar würde meine Knochen bis zum letzten Rest fressen – oder was auch sonst für Pokémon hier oben lebten, gesehen hatte ich glücklicherweise noch keins.

Zwei starke Hände zogen mich an den Armen wieder hoch, doch der Griff wurde gleich wieder schwächer. Ich sah Quinn in die Augen und erkannte dort dieselbe Angst, die auch mich im Schraubstockgriff hielt. „Wir suchen uns jetzt einen Felsen, hinter dem wir uns zusammenkauern können.“

„Prima Idee.“ Eigentlich wollte ich sarkastisch klingen, aber meine Stimme kam nur noch leise und matt aus meinem Mund.

Kälte, überall die nagende, eisige Kälte. Ich spürte meine Zehen nicht mehr, auch wenn ich sie bewusst bewegte. Meine Nase war taub, meine Augen brannten vom Wind.

Wir gingen noch ein paar Minuten weiter, bis wir feststellten, dass es nichts gab, was uns vor dem Blizzard hätte schützen können. Nichts. Gar nichts. Wir waren dem Sturm ausgeliefert und wenn ich Quinn so ansah, musste er ebenso sehr frieren wie ich. Gerade wollte ich den Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, freien Lauf lassen, als ein bläuliches Licht durch den Sturm schoss und irgendwo unterhalb von uns mit einem ohrenbetäubenden Krachen einschlug. Zum zweiten Mal wurden wir von einer Lawine fortgerissen und dieses Mal dauerte die Rutschpartie eine gefühlte Ewigkeit.

Ich wunderte mich, warum ich überhaupt noch bei Bewusstsein war. Meine Füße, auch sie reagierten nicht mehr. Schwankend stand ich auf, knickte ein und kniete auf dem Schnee neben Quinn.

Er hatte die Augen geschlossen. War er tot? Nein, er atmete noch, die weißen Wolken stiegen vor seinem Gesicht gleichmäßig auf. Warum war ich nicht auch ohnmächtig? Müdigkeit. Schwere, bleierne Müdigkeit. Ich wollte doch einfach nur schlafen …

Arkyaaaah!

Eine Windböe riss mich ganz zu Boden und ich landete quer auf Quinn, der sich unter meinem Gewicht endlich wieder regte und erschöpft zu blinzeln begann.

„Quinn!“, raunte ich ihm leise zu. Mit beiden Händen packte ich seinen Kragen und schüttelte ihn, bis er kurz hustete und sich dann aufraffte. „Quinn, da ist etwas! Das blaue Licht, das die Lawine ausgelöst hat!“

Obwohl wir uns in einer ziemlich gefährlichen Lage befanden, nahm er sich die Zeit, um mir einen skeptischen Blick zuzuwerfen und sich den restlichen Schnee von der Kleidung zu klopften. „Ich glaube nicht, dass hier irgendetwas ist außer ein paar wilden Pokémon und vielleicht …“, zischte er zurück, verstummte aber schlagartig, als zwei andere Stimmen vielleicht zwanzig, dreißig Meter weiter auftauchten.

„Ich habe ihn!“, rief eine Männerstimme in Basslage, die trotz des Blizzards bis zu uns herüber schallte. „Hier rüber, dann kann er nicht mehr entkommen!“

Waren das Schritte, die nur wenige Meter schräg über uns zu hören waren? Ich duckte mich, ebenso wie Quinn, hinter die Schneewehe, die uns vor neugierigen Blicken schützte.

Er rückte dicht an mich heran. „Wer sind die?“

„Ist doch egal, sie können uns bestimmt helfen“, antwortete ich leicht genervt und wollte mich bereits zu erkennen geben, doch Quinn hielt mich kopfschüttelnd zurück. „Was?“

„Niemand, der nicht etwas zu verbergen hat, schleicht nachts in den Bergen herum. Vielleicht sind es Wilderer.“

„Doch nicht während eines Blizzards?“

Quinn senkte seine Stimme noch weiter, auch wenn wir uns sicher sein konnten, dass das Pfeifen des Sturms unser Flüstern verbarg. „Wer weiß, was sie jagen.“

Oder wen, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Nein, das blaue Licht war kein Mensch gewesen, es musste sich um ein Pokémon handeln. Vorsichtig spähte ich über den Rand der Schneewehe hinweg und bekam gerade noch mit, wie zwei schemenhafte, dunkle Gestalten vor einer Art Einschlagskrater standen, an dessen Rändern sich gut einen Meter hoch der Schnee türmte. Die kleinere Person bewegte sich, dann erleuchtete für einen Moment ein roter Lichtblitz die Szenerie. Das Magcargo, das sich aus dem Licht formte, erhellte mit seinem magmaartigen Körper, der in langsamer, stetiger Bewegung zu sein schien, die ganze Umgebung. Aus seinem Panzer züngelten immer wieder Flammen empor.

„Hier endet es also“, sagte eine Frauenstimme und die dazugehörige Person lehnte sich ein Stück weit über den Kraterrand. Der Blizzard schien Magcargos Körper gar nicht zu erreichen, denn die Schnee- und Eiskristalle verdampften vorher und stiegen als feiner Nebel empor. „Flammenwurf.“

Magcargo öffnete sein Maul und ein kräftiger Feuerstrahl entflammte den gesamten Krater. Während meiner Berichterstattungen über die Arenakämpfe hatte ich viele starke Trainer und ihre Pokémon gesehen, aber dieses Magcargo hatte den stärksten Flammenwurf, den ich bisher in meinem Leben gesehen hatte.

Arkyaaaaa!“ Ein blaues Vogelpokémon kämpfte verzweifelt gegen die Flammen an und schlug kräftig mit seinen Flügeln, erhob sich einige Meter in die Luft und sank auf halbem Weg zwischen seinen Gegnern und uns wieder zu Boden. Unsere Blicke trafen sich. Ich erkannte es. Arktos. Seine Augen sprachen mit mir. Rette mich.

Quinn und ich sprangen gleichzeitig aus unserer Deckung und rannten mit letzter Kraft zur Arktos. Ich bettete seinen verletzten Kopf in meinen Schoß und Quinn entließ Fee aus ihrem Sympaball, auch wenn sie nicht den Hauch einer Chance gegen dieses Magcargo hatte.

„Scheiße, wer sind die denn!“ Die tiefe Bassstimme wurde lauter, als der Mann einige Schritte auf uns zukam. Seine Hand lag bereits an seinem Trainergürtel, den er über einem dicken, schwarzen Wintermantel trug.

Ich konnte das Gesicht der Frau nicht erkennen, weil Magcargo nun zwischen ihr und uns stand und seine Flammen kampflustig aus dem Panzer emporstiegen, doch ich war mir sicher, dass ich für einen kurzen Moment beinahe jugendliche Gesichtszüge gesehen hatte. „Kann uns egal sein, die sehen auch so schon halbtot aus.“

Arktos schlug noch ein letztes Mal mit den Flügeln und krächzte herzzerreißend. Seine roten Augen schlossen sich bereits. Die Verletzungen, die es hatte, mussten sehr ernst sein, denn wie sonst wäre ein Legendäres zu besiegen?

„Lasst Arktos in Ruhe, ihr Verbrecher!“ Wie mutig Quinn klang. Fee sträubte ihr Fell und fauchte.

Der Mann grunzte. „Aus dem Weg, das ist ‘ne Nummer zu groß für euch Kinder.“ Er wählte einen seiner Pokébälle aus, aber ich konnte nicht einmal genau erkennen, welches Pokémon sich vor uns materialisierte. Irgendetwas in meinem Kopf schien zu explodieren, dann wurde alles schwarz und ich sank in mir zusammen.

Der Schlaf vertrieb die Kälte. Endlich konnte ich schlafen.

Blau und Grau

Nur langsam konnte ich meine Augen öffnen und das, was ich sah, konnte ich nicht zuordnen. Was war passiert? Unterschiedliche Grautöne verschwammen in meinem Blickfeld, wurden wieder scharf und ich erkannte eine einfache, graue Decke. Der Putz an Decke und Wänden war fleckig und hatte definitiv schon bessere Zeiten erlebt.

Ich drehte mich zur Seite und erstarrte, als die blassblauen Augen der Alten auf mir ruhten. Sie blinzelte eine ganze Weile nicht, dann erwachte ihr Körper zum Leben und die Mundwinkel verzogen sich zum ersten Mal zu einem Grinsen. „Du lebst noch, Mädchen? Sehr gut. Wenigstens etwas, das du kannst.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und verließ das Zimmer durch eine dunkelbraune Holztür.

Vorsichtig schlug ich die Bettdecke zur Seite. Bei Arceus, wo war ich? Konnte das der Tempel sein? Mein Blick wanderte durch den Raum. Das Bett, in dem ich lag, musste früher einmal einen schönen Anstrich gehabt haben, doch die Farbe war an den meisten Stellen abgeblättert oder verblasst. Zwei Wände waren bis unter die Decke mit Regalen zugestellt, in denen sich diverse Einmachgläser befanden. Marmelade, Trockenfleisch, eingelegtes Obst, Wein, Essig, Öle mit Kräutern und andere Dinge, die ich nicht zuordnen konnte.

Meine schmerzenden Glieder verrieten mir, dass das, was in der Nacht passiert war, kein Traum gewesen war. Leider. Arktos … Ob die beiden Trainer es gefangen hatten? Mein Körper war einfach ausgeschaltet worden, das konnte nur die Attacke eines Pokémon gewesen sein. Hypnose, vielleicht. Womöglich auch Konfusion oder Psychokinese, wenn das Pokémon einen ähnlich hohen Level wie das Magcargo hatte. Definitiv eine Psycho-Attacke, da war ich mir sicher. Und Quinn …

„Scheiße!“ Kalter Schweiß brach aus und ich sprang förmlich auf. Wo war Quinn? Die Winterstiefel standen vor dem Bett, also schlüpfte ich hinein und riss die Tür auf, durch die die Alte verschwunden war.

Hans und die Tempelfrau saßen an einem runden Tisch und wärmten ihre Hände an dampfenden Teetassen. Die Alte blickte mürrisch zu mir, Hans grunzte nur, wobei sich sein Bart lustig bewegte.

„Wo ist Quinn? Wir waren zusammen in dem Blizzard und dann kamen diese beiden Trainer und dann Arktos und …“

„Ah!“ Die Alte schnalzte mit der Zunge und nippte an ihrem Tee. „Vollkommen verantwortungslos mitten in der Nacht in einen Schneesturm zu laufen. Verwöhnte Stadtkinder, keinen Verstand, eh.“

„Wo. Ist. Quinn.“

Sie stellte die Tasse ab und faltete die runzligen Hände in ihrem Schoß. „Er badet. Total unterkühlt. Hans hat euch gefunden, in seine Hütte gebracht und dann mich geholt. Eine halbe Stunde länger und euch wäre vielleicht nicht mehr zu helfen gewesen. Und jetzt auch noch frech werden. Ja, ja.“ Dem folgte ein Husten.

Hans, der bis dahin nichts gesagt hatte, stand auf und holte eine weitere Tasse, die er mit einem Kopfnicken in meine Richtung auf den Tisch stellte. „Pirsiftee. Hab gehört, du verträgst das starke Zeug nicht.“

Ich ließ mich auf dem Stuhl nieder, goss mir Tee ein und trank das warme Getränk in mehreren schnellen Zügen leer. Hans‘ Hütte war nicht besonders groß, aber durch die Fenster hatte man einen schönen Blick auf die Skipisten und die Stadt Eisbergen. „Wie haben Sie uns gefunden?“, fragte ich an Hans gewandt.

Er musterte mich, dann zuckte er mit den Schultern. „Bin vom Sturm wach geworden und habe gemerkt, dass die Pokémon draußen unruhig sind. Normalerweise laufen sie nie umher, wenn es einen Blizzard gibt – bis auf ein paar Firnontor oder Rexblisar, seltsame Kerlchen. War reger Betrieb letzte Nacht. Hans, hab ich mir gedacht, Hans, da stimmt was nicht.“

„Und dann sind Sie raus gegangen?“

Hans nickte. „Paar hundert Meter von hier hab‘ ich euch zwei gefunden. Du hast geschlafen wie ‘n Relaxo, das Feelinara total verkokelt und der Junge bewusstlos, war schon blau angelaufen. Hab mir erst nichts dabei gedacht, kommt vor, und dann hab‘ ich den Krater gesehen.“ Wie aus dem Nichts schlug er mit der großen Faust auf die Tischplatte, sodass selbst die Gläser im Schrank klirrten. „Wilderer haben sich hier schon lange nicht mehr blicken lassen. Müssen lebensmüde sein, mitten im Sturm und dann nachts.“ Er schüttelte den Kopf.

„Womit wir bei der Frage wären, weshalb ihr zwei dort draußen gewesen seid“, führte Minakos Großmutter fort. Ihre hellen Augen ließen mich einfach nicht los. Verdächtige sie mich wegen irgendetwas?

Ich schluckte. Sollte ich Quinns geheime Flucht offenbaren? Andererseits, was sprach dagegen? „Quinn wollte abhauen, ich habe ihn bemerkt, bin ihm hinterher, dann hat uns eine Lawine mitgerissen, dann noch eine und auf einmal waren wir bei dem Kerl und der Frau, die Arktos angegriffen haben.“ Bei der Erinnerung an das Legendäre schnürte sich mir der Hals zu. Ob es überhaupt noch lebte? „Wie können zwei Trainer einfach so ein Legendäres angreifen?“

Zu meiner Überraschung lachte die Alte auf. „Blond und naiv. Wer, glaubst du, ist der Bergwächter, dem zu Ehren der Tempel überhaupt erbaut wurde? Arktos wacht schon lange Zeit über den Mount Ni, so wie Celebi sich um den Finsterwald kümmert und Heatran einst den Vulkan besänftigte. Manchmal sieht man Lavados über dem Vulkan kreisen oder Zapdos über dem Finsterwald. Für Flugpokémon ist es von Kanto kein unmöglicher Flug, erst recht nicht für Legendäre.“

Gut, jetzt fühlte ich mich tatsächlich dumm. Warum war der Tee schon leer? Ich hätte eine Ablenkung gut gebrauchen können. In Ermangelung einer Alternative nestelte ich an dem Saum meines Pullovers herum. „Wenn es bekannt ist, dass Arktos sich hier blicken lässt, mussten die beiden nur den richtigen Zeitpunkt abwarten.“

Die Alte nickte leicht. „Es ändert aber nichts daran, dass Arktos frei sein muss, um dieses Gebirge vor den schweren Blizzards zu schützen.“

Apropos Blizzard … Was, wenn der Schneesturm letzte Nacht nicht einfach so entstanden war? Was, wenn es Arktos‘ Attacke war, mit der es sich hatte schützen wollen? Aber wieso wollten die beiden Jäger unbedingt Arktos haben?

Quinn unterbrach meine Gedanken, indem die Tür zum Badezimmer aufging und er frisch gebadet zu uns trat. Zwar trug er noch immer dieselbe Kleidung, aber seine Haare lagen nicht mehr ganz so wirr am Kopf an. Neben ihm ging Fee und ihr Anblick zog mir das Herz zusammen. Der halbe Brustkorb war mit Verbänden umwickelt und die Verbrennungen hatten an einigen Stellen das Fell bis zur Haut weg gebrannt. Als sie mich sah, fauchte sie, stellte den Schwanz auf und schmiegte sich eng an ihren Trainer.

„Fee, es tut mir leid, dass ich euch keine große Hilfe war.“

Ihr Fauchen legte sich, aber sie sträubte noch immer ihr Fell und wenn sie in meine Nähe kam, glaubte ich ein leises, unruhiges Knurren zu hören. Fee vertraute mir nicht, falls sie das überhaupt jemals getan hatte.

„Quinn, wie geht es dir?“

Er seufzte. „Besser. Das Simsala hat dich keine Sekunde angeschaut, dann bist du einfach umgekippt. Magcargo hat Fee mit einem Flammenwurf in Brand gesteckt.“ Seine Stimme wurde brüchiger. „Ich dachte, sie würde nie aufhören zu brennen. Überall Flammen … Mich hat der Kerl dann einfach mit einem Faustschlag umgehauen. Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr.“

„Oh, das ist offensichtlich“, flötete die Alte und fixierte wieder mich. „Arktos wurde gefangen. Entführt. Wahrscheinlich von Verbrechern, die irgendetwas mit ihm anstellen werden. Das ist alles eure Schuld.“

„Wir konnten nichts tun“, erwiderten Quinn und ich sofort wie aus einem Mund und tauschten dabei einen grimmigen Blick.

Sie schüttelte den Kopf, griff in eine Seitentasche ihres Gewands und legte eine blaue, leicht schimmernde Feder vor mir auf den Tisch. „Das hattest du fest umklammert, als Hans dich gefunden hat.“

„Was ist das?“

„Eine von Arktos‘ Federn.“ Sie rollte mit den Augen und gab mir damit das Gefühl, dass ich etwas ganz Offensichtliches nicht erkannt hatte. „Obwohl es schwer verletzt war, hat es euch vor dem Blizzard geschützt und euch diese Feder überlassen. Ich weiß nicht, warum es darauf vertraut, dass gerade ihr eine Hilfe sein könntet. Ist mir auch egal. Arktos‘ Verschwinden ist etwas, das ich dringend mit den anderen Tempelwächtern besprechen muss. Euch hingegen“, nun stand sie auf und funkelte sowohl Quinn als auch mich bedrohlich an, „will ich nie wieder auch nur in der Nähe meines Tempels sehen. Ich werde mich jetzt von Hans zurück zum Tempel fahren lassen, eure Koffer rauswerfen und dann werdet ihr den heiligen Tempelboden nie wieder betreten!“ Geschockt starrte ich die Alte an, die zu einem finalen Keckern ansetzte. „Die Kosten für euren Urlaub im Tempel werde ich euch natürlich trotzdem voll berechnen.“
 

***
 

Eine Stunde später standen Quinn und ich vor Hans‘ Hütte und wussten nicht, was wir tun sollten. Für uns beide war es das erste Mal, dass wir irgendwo Hausverbot bekommen hatten. Wieso gab die Alte uns überhaupt die Schuld an allem, was passiert war? Ich seufzte und schaute zu Quinn. „Und nun?“

Er schaute niedergeschlagen zu Boden. „Wir sollten Officer Rocky davon berichten.“

„Klar, als ob die uns glauben würde.“ Ich schnaubte und setzte mich in Bewegung, wobei ich wieder mit meinem Koffer zu kämpfen hatte. „Zwei Teenager, die ihr erzählen, dass sie gesehen haben, wie das Legendäre Pokémon Arktos von zwei mysteriösen Trainern gejagt und vermutlich auch gefangen wurde. Genau können wir das nämlich nicht sagen, weil wir beide außer Gefecht gesetzt wurden und damit genau so viel Sinnvolles sagen können: Nichts.“

„Wir können ihr sagen, dass Hans und die Tempelwächterin davon wissen.“

„Sicher. Die Alte wird bestimmt nicht mit der Polizei reden und Hans war auch nicht direkt dabei.“

Schweigend trottete er neben mir her und ich beneidete ihn für seinen Koffer, der eindeutig kleiner und kompakter war als meiner. Auf dem Rücken trug er noch immer seinen Reiserucksack und Fees Sympaball schaukelte am Gürtel leicht hin und her, was eine beinahe hypnotische Wirkung hatte. Es musste schön sein, wenn man einen guten Freund immer so nah bei sich hatte.

Nach einer Weile erreichten wir die Absteckung der Skipiste und orientierten uns daran, als wir den Berg in Richtung Eisbergen hinab stiegen. Die gesamte Stadt lag ausgebreitet in einem beinahe kreisrunden Tal wie in einer Pfanne und nun, bei klarer Sicht, kam es mir dumm vor, dass wir den Abstieg letzte Nacht ohne jegliche Orientierung gewagt hatten. Die Alte hatte recht, es hätte auch ganz anders ausgehen können. Arktos musste uns das Leben gerettet haben. Ich empfand dem Legendären gegenüber Dankbarkeit, doch gleichzeitig überkam mich ein mulmiges Gefühl, als ich daran dachte, dass die beiden Wilderer uns einfach dem Tod überlassen hatten.

„Ich finde, dass die alte Tempelwächterin sich irgendwie merkwürdig verhalten hat“, sagte ich nach einer Weile und zögerte kurz. Die Idee meinen Koffer als Schlitten zu missbrauchen wurde immer verlockender. Wir waren bereits eine halbe Stunde unterwegs und die Stadt kam nur langsam näher.

Quinn seufzte. Er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. „Kann schon sein.“

„Du musst doch eine Meinung dazu haben“, bohrte ich weiter nach und sammelte im Gehen Schnee von den Ästen einer Tanne ein, formte daraus einen Schneeball und warf diesen immer wieder ein paar Zentimeter in die Höhe.

Er zuckte mit den Schultern. „Die Alte war schon von Anfang an seltsam, wenn du mich fragst. Was soll jetzt anders gewesen sein?“

„Keine Ahnung. Ist nur so ein Gefühl.“ Ich drückte den Schneeball fest, drehte mich um und warf ihn mit voller Kraft den Hang hinauf in eine der Schneewehen hinein. Im nächsten Augenblick gab es ein hohes Quietschen und ein rosafarbenes Etwas kullerte einige Meter den Hang herunter in unsere Richtung. „Oh Scheiße, ich glaube, ich hab‘ ein Pokémon erwischt.“ Sofort zerrte ich Quinn am Arm und begann zu rennen – so schnell es mir mit dem Koffer zumindest möglich war. „Wenn es mich angreift, musst du es aufhalten!“

Quinn brach in schallendes Gelächter aus, holte zu mir auf und verlangsamte wieder seinen Schritt. „Mila, das ist nur ein kleines Pii. Es wird dich schon nicht fressen. Schau mal, die Fußspuren zeigen, dass es auch vom Berg gekommen ist. Vielleicht ist es dir ja gefolgt, um ein Attentat auf dich zu verüben.“ Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht.

Ich wurde ebenfalls langsamer und spähte vorsichtig über die Schulter nach hinten. „Ach halt doch die Klappe, Quinn.“

„Du hast Schiss vor einem kleinen Pii, gib es zu.“

Wütend boxte ich ihm in die Seite. „Es hätte auch irgendetwas Großes sein können!“, versuchte ich mich zu verteidigen, doch bei dem Anblick des kleinen Pii, das gerade den Schnee aus seinem kurzen Fell schüttelte und drohend sein kleines Fäustchen hob, kam ich mir lächerlich vor. Ein Pii. Ernsthaft? Dann fiel mir auf, dass die Fußspuren tatsächlich zwischen unseren verliefen. Pii musste uns gefolgt sein oder es war einfach nur ein Zufall. Nicht paranoid werden. Nur ein Zufall. Ich drehte mich wieder um. „Komm, beeilen wir uns, mir wird kalt.“

Quinn lief wieder neben mir her, doch ich konnte spüren, dass er noch immer gegen das Lachen ankämpfte. „Mich wundert es nur, dass es so weit oben überhaupt Pii gibt. Ich dachte immer, die leben zwar in bergigen Regionen und Höhlen, aber hier oben ist es doch eiskalt.“

„Jetzt lass das Pii Pii sein und komm“, murrte ich weiter und bekam ihn damit endlich zum Schweigen. Als ich mich ein letztes Mal umdrehte, war das Pii schon wieder verschwunden und es gab nur Quinns und meine Fußspuren, so wie es sein sollte.
 

***
 

Schwester Joy beäugte uns die ganze Zeit skeptisch von ihrem Tresen aus, während Quinn und ich mit dampfenden Kakaotassen in den weichen Sesseln der Lounge im Eingangsbereich des Pokémoncenters saßen. Ich hatte ihn eingeladen, auch wenn er sich zuerst dagegen gewehrt hatte. Am Ende fühlte ich mich aber in der Überlegung bestärkt, dass seine Eltern ihm zwar den Kur-Urlaub im Tempel bezahlt hatten, ansonsten aber mit dem Taschengeld sehr knapp haushalteten. War ich froh, dass ich schon seit drei Jahren mein eigenes Geld verdiente.

Quinn hatte den Kakao in einem Zug leer getrunken und ich füllte ihm am Automaten noch eine zweite Tasse nach, die er zwar dankend, aber immer noch zögerlich annahm. Weder er noch ich besaßen eine offizielle Trainerlizenz, weshalb wir nicht im Pokémoncenter übernachten konnten und uns auch das Essen verwehrt blieb. Für mich war ein Hotel kein Problem, auch wenn ich den zwei Wochen im Tempel, die schon bezahlt waren, hinterher trauerte – oder eher dem Geld.

Er seufzte zum wiederholten Mal und trank auch die zweite Tasse relativ schnell aus. „Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll“, gestand er schließlich und spielte mit dem Sympaball an seinem Gürtel herum. „Im Pokémoncenter kann ich nicht bleiben, ein Hotel ist zu teuer und wenn ich meine Eltern anrufe, werden sie sich sofort auf den Weg machen, um mich abzuholen. Wahrscheinlich werden sie mich nie wieder aus dem Haus lassen, sobald sie erfahren, warum ich nicht mehr im Tempel bin.“

„Tja, blöde Situation.“ Ich legte den Kopf schief und ohrfeigte mich innerlich dafür, dass mir nichts Besseres eingefallen war. „Du könntest dir auch einfach die Lizenz für Trainer beantragen und mit der Trainer-ID einchecken.“

„Nein, das geht nicht“, antwortete er sofort. Dem folgte noch ein Seufzen. „Die schriftlichen Daten werden an meine Adresse geschickt und wenn die Post in Saffronia City ankommt, wissen meine Eltern sofort, dass irgendetwas nicht stimmt. Auf der anderen Seite erfahren sie es sowieso, weil meine Mutter jeden Tag an den Tempel schreibt und die Alte die Briefe jetzt bestimmt zurückgehen lässt. Ein Tag, vielleicht zwei, dann kommen sie so oder so nach Eisbergen, um mich zu holen.“

Ich nickte, stand auf und streckte mich. „Weißt du, es geht mich eigentlich echt nichts an und vermutlich sehen wir uns nach heute auch nicht mehr wieder, aber wenn du doch so sehr ein Trainer sein willst, solltest du dich endlich zusammenreißen und mit dem Jammern aufhören. Geh zu Schwester Joy, hol dir eine Trainer-ID und dann hau aus Eisbergen ab. Auf diese Weise können deine Eltern dich nicht finden und du kannst tun und lassen, was du willst.“

Quinn verkrampfte sich, dann entspannten sich seine Schultern wieder ein bisschen und er schaute mich mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen an. Schließlich stand auch er auf und wir verabschiedeten uns voneinander.

Es war ein schneller, kurzer Abschied und irgendwie tat es mir wirklich leid für ihn, aber er musste seine Probleme alleine lösen. Und ich? Tja … Ich schnappte mir meinen Koffer von Louis Vuibrava, trat hinaus auf die Straßen Eisbergens und wurde das Gefühl nicht los, dass ich etwas falsch gemacht hatte.

Männer und Mütter

Der nächste Morgen gestaltete sich nach der Zeit im Tempel als überraschend angenehm. Ich wachte gegen neun Uhr auf, schlüpfte in die flauschigen Pantoffeln, die das Hotel bereitgestellt hatte, und wählte noch vom Bett aus die Nummer vom Zimmerservice, um das Frühstück zu bestellen.

Eine halbe Stunde später begab ich mich – frisch geduscht – wieder zurück unter die Bettdecke und betrachtete die vielen kleinen Tellerchen, die auf dem Servierwagen standen und mit silbernen Hauben abgedeckt waren. Frühstück à la Kalos hatte es auf der Speisekarte geheißen und es stellte sich als eine Mischung aus frischen Croissants, weichem Baguette, diversen Käsesorten, vier verschiedenen Marmeladen, Schokoladencreme und Honig heraus. Lecker! Genau so, wie ich es aus Illumina City gewohnt war.

Dazu hatte ich mir Milchkaffee und frisch gepressten Beerensaft bestellt, beides kam in edlen Kannen. Auf ein paar weiteren, deutlich kleineren Tellern befanden sich noch Milchreis, Obstsalat, gebratene Würstchen, Bohnen, Speck und Spiegeleier. Wenn meine Mutter mich sehen könnte, würde sie eindeutig die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich hingegen nahm von allem etwas, schlemmte mich quer über den Servierwagen und war am Ende dermaßen gesättigt, dass ich in einen beinahe komatösen Schlaf fiel, aus dem ich erst drei Stunden später zur Mittagszeit wieder erwachte.

Noch immer fühlte ich mich wie ein Relaxo, gähnte herzhaft und wählte ein schickes Outfit aus meinem Koffer aus. Vor dem großen Spiegel im Badezimmer begutachtete ich das Ergebnis, legte noch ein wenig Makeup auf, drehte mich einmal um mich selbst … und bemerkte, dass ich trotz der Sättigung ein Gefühl der Leere in mir trug. Wie es Quinn wohl ging? Hatte er sich die Trainer-ID beantragt und im Pokémoncenter geschlafen? Oder hatte er in eines der günstigeren Hotels eingecheckt? Da Eisbergen ein Touristenort war, gab es Hotels zu Hauf, insbesondere jetzt zur Nebensaison konnte man ein paar Schnäppchen finden. Oder … vielleicht hatte er auch zu Hause angerufen? Nein, bestimmt nicht. Nicht Quinn. Oder doch?

Ich seufzte, ging zurück ins Schlafzimmer, zog meine Winterstiefel an und verstaute meine Habseligkeiten im Koffer. Durch den Schnee, den Matsch und die Reise hatte das goldene Metallschildchen mit der Aufschrift Louis Vuibrava Kratzer bekommen und sah stumpf aus. Genauso stumpf, wie ich mich gerade fühlte.

Ach, verdammt. Dieser Junge würde doch einknicken, sobald er seine Mutter am Telefonhörer hatte oder – noch schlimmer – ihr gegenüberstand. Ohne meine Hilfe hätte Quinn es nicht einmal heil vom Tempel bis nach Eisbergen geschafft und auf Fee konnte er sich auch nicht verlassen, weil sie einen viel zu geringen Level hatte. Ich mochte zwar keine Pokémontrainerin sein, aber ich moderierte seit drei Jahren die wöchentlichen Arena-Highlights bei Kalos TV. In diesem Moment beschloss ich, dass ich Quinn suchen und ihm helfen würde – zumindest, bis er aus Eisbergen raus war.

Dieser Entschluss füllte mich mit neuem Elan und sogleich zog ich meinen Wintermantel an, um das Hotel zu verlassen. Wenn Quinn jemals von seinen Eltern ernst genommen werden wollte, musste er ihnen beweisen, dass er in dem, was er tun wollte, wirklich gut war. Hier in Eisbergen waren die Trainer ebenso wie die wilden Pokémon viel zu stark für ihn. Er musste klein anfangen, am besten in Waldhausen, wie jeder Trainer der Finera-Region. Dort konnte er sich einen ComDex besorgen und anschließend zur ersten Arena reisen. Ja, das war ein guter Plan. Jetzt musste ich nur noch Quinn finden und ihn davon überzeugen.

Wenige Minuten später stapfte ich entschlossen durch den Schnee in den Straßen von Eisbergen. Immer wieder kamen mir gut gelaunte Touristen und Trainer mit entschlossenem Blick entgegen. Viele ließen sich außerhalb der Liga-Saison hier nieder, wenn sie schon alle acht Orden erkämpft hatten und sich vorbereiten wollten. Bei manchen brachte es etwas, bei anderen nicht. Im Laufe der letzten Jahre hatte ich so viele Trainer bei Arenakämpfen gesehen und interviewt, dass ich den Überblick verloren hatte. Lediglich Jonah, der aktuelle Champion der Finera-Region, war mir schon von der zweiten Arena an durch seinen lockeren Kampfstil aufgefallen. Bei ihm hatte es immer wie ein Spiel ausgesehen, so mühelos und voller Leichtigkeit. Ob Quinn es wohl jemals soweit bringen würde? Ich zweifelte daran, wollte ihm aber dennoch helfen, weil er mir leid tat.

Gegen Mittag hatte ich die Stadt zweimal komplett umrundet und gelaufen. Eisbergen mochte zwar der Ort der Pokémonliga und des Festivals für Koordinatoren sein, aber abgesehen davon hatte die Stadt nicht viel zu bieten und war relativ unspektakulär und klein.

Ich saß in einem der vielen kleinen Bistros, die während der Liga aus allen Nähten platzten und meistens nur eine Hand voll an Gerichten und Snacks zur Auswahl hatten. Viele Bistros schlossen auch in der Nebensaison und glichen mehr externen Wohnzimmern, in denen sich die Besitzer angeregt über die Favoriten und Trainer mit den Gästen austauchten.

Heute war es leer. Mir gegenüber saß ein älterer Herr und las Zeitung, vor mir stand eine dampfende Schale mit Zwiebelsuppe und Käsebrötchen.

„Wirst du dieses Jahr die Liga moderieren?“ Carola, die Besitzerin des Bistros, lächelte mich an. Auch sie löffelte gerade Zwiebelsuppe.

„Nein, ich denke nicht.“ Ich pustete auf den Löffel, nahm ihn in den Mund und schluckte. Wenn man jedes Jahr hier war und sich weder unter die Touristen noch unter die Trainer mischte, fiel man auf – man kannte sich irgendwann schon vom Sehen. „Ich bin privat hier, nicht, um mich auf die Liga vorzubereiten.“

„Wäre auch noch reichlich früh.“ Carola legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Sonst kommt ihr Fernsehleute immer erst kurz vor knapp.“ Sie begann zu lächeln. „Immer viel zu tun und unterwegs, nicht wahr?“

Ich erwiderte ihr freundliches Lächeln. „Kann man so sagen.“

Schweigend aßen wir beide unsere Suppe, dann bezahlte ich und ging wieder nach draußen. Vielleicht war Quinn gar nicht mehr hier. Vielleicht hatte er genug Mut gehabt, um alleine abzureisen. Vielleicht …

Eine Frau rannte mich beinahe um. Sie trug ihre langen, braunen Haare zu einem strengen Dutt gebunden und das halbe Gesicht war von einem lilafarbenen, flauschigen Schal bedeckt. Als sie mich sah, zuckte sie nicht einmal zusammen, sondern begann mich so intensiv anzustarren, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Entschuldigung.“ Es klang beinahe wie eine Anklage, dabei hatte doch sie mich angerempelt. Sie zögerte, dann schnaubte sie. Ihre Hand wanderte in die tiefe Manteltasche, dann hielte sie mir ein Bild vor die Nase. „Haben Sie diesen Jungen gesehen? Ich muss ihn finden. Er ist mein Sohn.“ Als ich nicht reagierte, schob sie hinterher: „Er benötigt dringend ärztliche Hilfe.“

Quinn.

Das Foto konnte nicht sehr alt sein. Er guckte genervt und unglücklich in die Kamera, im Hintergrund lag Fee zusammengerollt auf einer Tagesdecke. Quinns Mutter. Hier. In Eisbergen. Verdammt, war sie schnell!

Sie verstand mein geschocktes Schweigen als Verneinung, murmelte etwas und eilte dann im Stechschritt weiter.

Oh Arceus, ich musste ihn vor ihr finden!

So schnell ich konnte, joggte ich in die entgegengesetzte Richtung, bis ich mir sicher war, dass ich außer Hörweite war. Dann begann ich nach ihm zu rufen. Erst nur an jeder Straßenecke, dann auch zwischendurch. Eisbergen war ein Nest, wenn man es mit Städten wie Saffronia City oder Dukatia City verglich, wo konnte er nur sein!

Wo würde ich hin, wenn ich nicht im Pokémoncenter war? Dort hatte seine Mutter bestimmt zuerst nachgefragt. Fee war zu schwach, um sich den wilden Pokémon rund um Eisbergen zu stellen, also blieb ihm nur der Busbahnhof.

Natürlich, der Busbahnhof! Sofort hetzte ich wieder zurück, bog ab, lief an meinem Hotel vorbei und weiter zum Stadtzentrum, wo zur Liga die Touristen aus den Bussen strömten wie aus einem ausgebluteten Kadaver. Und da stand er, Fee an seiner Seite, vor Wind geschützt in einem gläsernen Unterstand.

„Quinn!“

Er zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Auch Fee grollte, sprang auf, entspannte sich aber, als sie mich sah. „Mila? Was tust du denn hier?“

„Deine Mutter ist hier und sucht dich.“

Er riss seine Augen auf. „Was?“ Sofort stieg ihm die Panik ins Gesicht. „Bist du dir sicher?“

Völlig außer Atem nickte ich und lehnte mich gegen die Glaswand. „Ganz sicher. Sie hat mir ein Foto von dir gezeigt und fragt sich überall durch. Sie ist hier und wenn sie nicht auf den Kopf gefallen ist, wird sie wahrscheinlich ebenfalls jeden Moment hier auftauchen.“

„Ich …“ Er schaute gehetzt umher. „Ich habe mich gestern Abend im Pokémoncenter als Trainer registrieren lassen. Sie muss schon unterwegs gewesen sein, sonst wäre sie nicht so schnell hier. Was soll ich denn jetzt tun?“ Quinn schaute mich aus großen, braunen Augen hilflos an.

Oh weh.

„Das habe ich dir schon einmal gesagt und ich kann es nur wiederholen. Wenn du ein Trainer sein willst, musst du von deiner Kontrollfreak-Mutter weg und deinen eigenen Weg gehen. Auf welchen Bus wartest du?“

„Auf den nach Niburg“

„Wie lange noch?“

„Eine halbe Stunde.“

Ich stieß pfeifend die Luft aus. „Das ist zu lange. Wohin fährt der nächste Bus?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte ich mich zu der Infotafel um und überflog die Linien. Jetzt in der Nebensaison war nicht viel los, dementsprechend wenig Busse fuhren, aber ich fand einen Fernbus, der über Niburg und Bad Puvicia direkt nach Waldhausen fuhr. Das war nicht nur gut, das war schlichtweg perfekt. Ich tippte auf den Ort und erhaschte damit Quinns Aufmerksamkeit. „Hier starten alle neuen Trainer der Region. Hier bekommt man einen ComDex und dort sind die Pokémon recht schwach. Du könntest Fee viel besser trainieren und dann die Orden der Reihe nach erkämpfen. Aber du musst dich jetzt entscheiden, Quinn.“ Im Hintergrund bog der Bus in die Straße ein. „Jetzt.

Er schluckte. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann. Ich …“

„Quinn!“ Die Stimme seiner Mutter hallte über den ganzen Platz. Mit wehendem Kaschmirmantel stand sie einer Furie gleich am gegenüberliegenden Ende des Busbahnhofs. Zwischen ihr und uns lagen eine freie Fläche und eine vereinzelte Straßenlaterne. „Quinn Ikarus, was erlaubst du dir! Das wird ein Nachspiel haben, hörst du? Ein Nachspiel!“

Der Bus bremste ab, wurde langsamer und rollte in die Parkbucht.

Judith Ikarus stapfte durch den Schnee direkt auf uns zu.

Und Quinn war wie gelähmt.

Ich schaute zwischen den beiden hin und her, riss ihn am Arm, Fee bearbeitete gleichzeitig sein Bein, bis er sich aus seiner Starre löste. In seinem Blick lag ein stummes Flehen. Mila, bitte hilf mir, tu etwas.

„Quinn!“ Seine Mutter hatte bereits die halbe Strecke hinter sich gebracht.

„Quinn.“ Ich zupfte an seinem Ärmel. „Quinn, schau mich an.“

Er suchte meinen Blick.

„Das ist die letzte Chance. Ein Trainer muss Risiken eingehen und sich blitzschnell entscheiden können. Es gibt kein richtig und kein falsch, also mach das, was für dich das Beste ist. Jetzt.“

Eine Sekunde verging.

Noch eine.

Dann straffte er seine Schultern und veränderte kaum merklich die Körperhaltung. „Entschuldige, Mama, aber du weißt, dass ich ein Trainer sein will. Und ich schaffe das. Ich kann das.“

Sie blieb stehen und musterte ihn wie ein Kind, das Unsinn brabbelte. „Sei nicht albern, Junge. Du bist krank. Du gehörst nach Hause.“

Ich atmete ein.

Die letzten Passagiere stiegen aus. Der Bus setzte hinter uns wieder seinen Blinker.

„Nein, Mama.“ Quinn erwiderte ihren starren Blick. „Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich werde ein Pokémontrainer sein und du kannst mich nicht länger davon abhalten.“

Seine Mutter bekam rote Flecken auf den Wangen.

Quinn packte meinen Arm.

Ich atmete aus.

Quinn riss mich herum, noch ehe seine Mutter reagieren konnte. Im letzten Moment schob er Fee und mich in den Bus, ehe sich die Türen hinter ihm schlossen.

Wir fuhren. Seine Mutter starrte uns wortlos hinterher, krallte sich in das Foto von ihrem einzigen Kind. Sie wurde kleiner, verschwand hinter einer Straßenbiegung.

Quinn keuchte, zitterte, tastete sich vor bis zum Fahrer und zog von seinem Ersparten zwei Fahrkarten bis nach Waldhausen, bis zur Endstation.

Ich schaute noch eine Weile aus dem Fenster, stand einfach nur da und wunderte mich über mich selbst. Warum hatte ich mich von ihm in den Bus ziehen lassen? Warum war ich überhaupt eingestiegen? Mein Koffer, mein Rucksack, alles lag noch im Hotelzimmer. Ich hatte nichts weiter bei mir als mein Portemonnaie und die Klamotten am Körper.

Und es fühlte sich gut an. Auf eine seltsam beschwingende Art fühlte es sich gut. Ich war frei.

ComDex und Komplex

Als wir am übernächsten Morgen in Waldhausen ankamen, fühlte ich mich wie gerädert, aber trotzdem unerwartet leicht. Ich gähnte und blinzelte in das Morgengrauen hinein, das sich über den schier endlosen Wäldern abzeichnete. Die ganze Fahrt über hatten wir nicht viel miteinander gesprochen, nur ein paar kurze Wortfetzen, ehe wir uns ganz hinten zwei freie Plätze gesucht und anschließend wortlos aus dem Fenster gestarrte hatten. Die erste Nacht hatten wir damit vergeudet, über die Serpentinen von Eisbergen nach Niburg zu gelangen. Anschließend war der Bus nach einem kürzeren Aufenthalt von Niburg nach Bad Puvicia gefahren, wo der Fahrer gewechselt hatte. Die letzte Etappe ging über Nacht von Bad Puvicia bis nach Waldhausen.

Quinn hatte seine letzten Ersparnisse für die beiden Tickets ausgegeben, aber wenigstens besaß er im Gegensatz zu mir noch sein Gepäck. Ich kniff die Augen zusammen und seufzte, als ich an meinen teuren Markenkoffer dachte, in dem sich mein Hab und Gut befanden – sicher verstaut, nur viel zu weit weg. Die Kleidung, die ich trug, war für die harten Winter am Mount Ni gedacht, nicht für eine fröhliche Tour durch das mildere Klima fernab der Gebirge. Zumindest hatte ich genügend Kleingeld in meinem Portemonnaie gehabt, um uns Kaffee und Brötchen zum Frühstück und anschließend ein kleines Abendessen zu kaufen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich hungrig und kaputt war.

Die ersten Straßenlaternen kamen in Sicht, als sich der Wald vor uns lichtete. Waldhausen war ein ruhiger, kleiner Ort, der sich den dörflichen Charakter stets bewahrt hatte. Die Einwohnerzahl kratzte stets an der 1000-Einwohner-Grenze, mal waren es ein paar mehr, mal ein paar weniger. Die breite Schnellstraße hatte sich schon vor dem Eichwald zu einer normalen Straße verkleinert und der Busfahrer war nie schneller als 50 gefahren, was wegen der vielen wilden Pokémon so vorgeschrieben war. Immer noch schneller als das Schrittempo, mit dem wir uns die Serpentinen herunter gequält hatten.

In der Mitte von Waldhausen gab es einen nahezu kreisrunden Marktplatz, dessen Mitte von einem alten Sandsteinbrunnen gesäumt war. Unser Bus rollte über das Kopfsteinpflaster, hielt an und öffnete seine Türen. Außer Quinn und mir gab es nur noch drei weitere Fahrgäste – zwei junge Mädchen, etwa vierzehn Jahre alt, die aufgeregt miteinander tuschelten, sowie ein älterer Herr mit Krücke, der bereits von seiner Frau erwartet wurde.

Quinn und ich stiegen als letztes aus und schauten uns um. Meine Interviews hatten mich nie bis nach Waldhausen geführt, daher kannte ich diesen Ort auch nur vom Hörensagen. Drei Dinge fielen mir zuerst auf. Erstens: Keines der alten Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz schien gerade gebaut worden zu sein. Zweitens: Ich konnte kein Haus erkennen, an dessen Fenstern keine Blumenkästen hingen. Drittens: Es war eindeutig milder als in Eisbergen, aber typisch Januar immer noch kalt genug, um mich über meine warme Winterkleidung zu freuen.

„Da wären wir“, sagte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen. „Waldhausen, das verschlafene Nest, in dem jeder Trainer seinen Anfang nimmt – zumindest, wenn man einen offiziellen ComDex und ein Starterpokémon haben möchte. Zweiteres fällt bei dir ja schon weg.“

Quinn schnitt eine flüchtige Grimasse. Er hatte Fee die ganze Zeit über in ihrem Sympaball gelassen, weshalb er sie nun an die frische Luft ließ. Sein Feelinara streckte sich, schnupperte dann aufgeregt umher und schaute uns mit großen, aufgeregten Augen an. „Ich glaube, es gefällt ihr hier.“

„Nara!“, bestätigte Fee zufrieden.

Dann schaute Quinn mich an. „Was nun? Gibt es … Gibt es hier ein Pokémon-Center? Was muss ich jetzt tun?“

Ohne mich war er verloren, definitiv. Ich seufzte. „Da vorne habe ich einen Wegweiser gesehen, komm mit.“ Ich führte ihn quer über den Marktplatz zu der Straße, über die wir gekommen waren. Die Fachwerkhäuser wichen bereits wenige Meter hinter dem alten Ortskern etwas großzügiger geschnittenen Grundstücken mit schmucken Einfamilienhäusern, an denen aber nach wie vor viel Holz verarbeitet war. Schließlich entdeckte ich den Wegweiser, der zum Marktplatz, zum Labor vom alten Professor Sage und zum Pokémon-Center wies. „Zuerst gehen wir zum Pokémon-Center, du musst dich dort für die Nacht registrieren. Anschließend wäre es empfehlenswert, wenn du dir einen ComDex von Professor Sage holst. Mit deiner Trainer ID ist das alles für dich kostenlos.“

„Und was machst du?“

Ich musterte ihn und konnte nicht anders, als leicht zu schmunzeln. „Mir bleibt nichts anderes übrig, als dir noch eine Weile Gesellschaft zu leisten. Ich werde im Hotel in Eisbergen anrufen müssen, um mein Zimmer zu kündigen, meinen Koffer hier her schicken zu lassen und das Finanzielle zu regeln.“ Und dann würde ich mich mit meiner Mutter auseinander setzen müssen, die garantiert bereits Wind von all dem bekommen hatte und kurz vor dem Hyperventilieren stand. Vielleicht sollte ich sie Judith Ikarus vorstellen, mit Quinns Mutter könnte sie den Club der Helikoptermütter gründen.

Quinn erwiderte mein Schmunzeln mit einem erleichterten Lächeln. Er sagte zwar nichts, aber ich merkte ihm an, dass er froh war, nicht ganz auf sich alleine gestellt zu sein. Und ich musste zugeben, dass ich Gefallen daran gefunden hatte, einen so unerfahrenen Trainer wie ihn zu coachen. Die ganze Zeit über hatte ich aufstrebende Trainer interviewt, ihre Arenakämpfe im Fernsehen kommentiert, aber nie hatte ich sagen können: Der da? Ja, das ist mein Schüler. Ich habe ihn wirklich groß gemacht.
 

Schwester Joy war wie überall eine freundliche Frau, die uns auch zu so früher Stunde bereits mit einem strahlenden Lächeln begrüßte. „Willkommen im Pokémon-Center von Waldhausen. Wie kann ich euch behilflich sein?“

Ich nickte Quinn ermutigend zu.

„Guten Morgen, wir …“ Er zögerte kurz, dann hatte er sich gefasst. „Wir sind gerade mit dem Bus aus Eisbergen angekommen.“

Schwester Joy nickte verständnisvoll. „Eine lange Fahrt, die ihr da hinter euch habt. Möchtet ihr einchecken und euch ein wenig ausruhen?“

„Ja, vielen Dank.“

Sie hielt lächelnd die Hand auf. „Dann brauche ich dafür nur eure Trainer ID.“

Quinn kramte in seiner Jackentasche und reichte Schwester Joy die Chipkarte, die sie über ein Lesegerät hielt und ihm anschließend wiedergab. Das Ganze hatte keine fünf Sekunden gedauert.

„Quinn Ikarus“, sagte sie laut und lächelte dann nur noch breiter. „Ich sehe, du bist erst seit wenigen Tagen als Trainer registriert. Dann wird dein Feelinara bestimmt dein Starterpokémon sein?“

„So ist es.“

„Seid ihr hier, um Professor Sage zu besuchen?“

Er nickte. „Ja, ich möchte einen ComDex haben und anschließend in Richtung Eichwald City reisen.“

Sie seufzte. „Junge Trainer, es ist mir immer wieder eine Freude.“ Schließlich sah sie mich an. „Und was ist mit dir?“ Erwartungsvoll hielt sie mir ihre Hand hin.

„Oh, nein, ich bin keine Trainerin und ich habe auch keine Trainer ID. Aber ich reise mit Quinn und deshalb wäre es überaus nett, wenn Sie mir trotzdem ein Zimmer vermieten könnten.“

Schwester Joy runzelte die Stirn und zog ihre Hand zurück. Kurzerhand tippte sie auf ihrer Tastatur herum. „Natürlich wäre das machbar, ich muss nur schnell schauen, ob wir aktuell Kontingente frei haben. Wisst ihr, die Zimmer der Pokémon-Center sind für registrierte, offizielle Trainer reserviert, wir sind kein Hotel. Aber ich denke, in deinem Fall könnte ich eine Ausnahme machen.“ Sie drückte Enter, wartete einen Moment und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Wundervoll. Ich kann dich für maximal zwei Nächte einbuchen, dann ist eine etwas größere Gruppe an Trainern angekündigt und die hat bedauerlicherweise Vorrang.“

Ich nickte ihr zu. „Wie viel kostet mich das?“

„Wir sind bei 2000 Pokédollar pro Nacht zuzüglich 1000 Pokédollar für das Frühstück oder 3000 Pokédollar für Vollpension. Was ist dir lieber?“

Aus Gewohnheit zückte ich mein Portemonnaie und wollte ihr meine Kreditkarte reichen, aber dann ergriff mich die eisige Gewissheit. Ich hatte meine Karte für die Buchung im Hotel zurückgelassen und nicht wieder eingesteckt, bevor ich mich auf die Suche nach Quinn begeben hatte.

Verdammt.

Schnell überflog ich das, was ich noch an Bargeld dabei hatte. Nicht mehr viel. Ich bemerkte Quinns fragenden Seitenblick und im nächsten Moment knurrte mein Magen. „Vollpension und die zwei Nächte, bitte. Meine letzten 10.000 Pokédollar wechselten ihren Besitzer. Mann, war das teuer, wenn man kein Trainer war. Ich bekam einen Zimmerschlüssel von Schwester Joy ausgehändigt und musste noch ein Formular ausfüllen, dann war alles erledigt.

Kurz bevor ich mich wegdrehen konnte, erhob sie noch einmal die Stimme: „Weißt du, es wäre einfacher für euch beide, wenn du dir auch eine Trainer ID zulegst. Du musst ja kein Pokémon fangen, aber mit der ID wären die Aufenthalte in allen Pokémon-Centern kostenfrei für euch beide.“

„Danke für die Info, ich werde es mir überlegen“, entgegnete ich, meinte es aber nicht so. Ich wollte keine Trainerin sein und auch, wenn ich noch nicht wusste, wie ich meine nächsten Tage finanzieren sollte, wollte ich nicht klein beigeben und mir nur aus Bequemlichkeit eine ID beantragen.
 

Am frühen Nachmittag schlenderten wir über die Straßen von Waldhausen. Das Mittagessen war reichhaltig gewesen und ich sah die Welt nun wieder mit anderen, nicht ganz so hungrigen Augen. Unser Weg führte uns zum Stadtrand zum Labor von Professor Sage, wobei wir nur den nicht zu übersehenden Wegweisern folgen mussten. Ich hatte Quinn davon überzeugen bringen, dass ein ComDex sehr wichtig für jeden Trainer war und er nicht darauf verzichten konnte, was ein weiterer Schritt in Richtung vollwertiger Trainer war.

„Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte“, begann er plötzlich, als wir den Rand von Waldhausen bereits erreicht hatten. Er blieb stehen und schaute unsicher zu dem Labor, das vor uns lag.

Ich seufzte, packte Quinn beherzt am Ärmel seiner Winterjacke und schleppte ihn das Kopfsteinpflaster entlang. Rechts und links von uns erstreckten sich zwei eingezäunte Weiden, auf denen im Frühjahr und Sommer viele Pokémon grasten oder spielten, doch jetzt war kein einziges Pokémon zu sehen. Ich wusste durch meine Tätigkeit beim Fernsehen, dass Professor Sage ein älterer Herr war, der sich der Forschung von Zuchtattacken und Wesen verschrieben hatte, getroffen hatte ich ihn bislang aber noch nie, da ich nur selten in der Finera-Region Interviews führte.

Kurzerhand ignorierte ich Quinns Selbstzweifel, die wie eine dunkle Wolke über ihm lagen, und klingelte an der Haustür des einstöckigen Gebäudes.

Es dauerte einen Moment, dann öffnete eine junge Frau mit scharlachroten Strähnen in den blonden Haaren die Tür. Sie schaute zuerst mich, dann Quinn an, dann öffnete sie die Tür vollständig. „Ja, bitte? Was kann ich für euch tun?“

Quinn war leichenblass und bekam kein Wort heraus.

Ich schenkte ihr ein gewinnbringendes Lächeln. „Guten Tag und Entschuldigung für die Störung. Ich weiß, dass wir keinen Termin haben, wir sind eher spontan und zufällig nach Waldhausen gekommen. Ich bin Mila – und das ist Quinn. Er möchte Pokémontrainer werden, aber ihm fehlt ein ComDex, deshalb sind wir hier.“

Einige Sekunden sagte die junge Frau, die nur wenige Jahre älter sein konnte als wir, nichts. Schließlich trat sie zur Seite und bat uns damit herein. „Wartet hier, ich hole meinen Großvater. Ich bin hier nur die Assistentin. Wenn ihr einen ComDex wollt, müsst ihr das mit ihm klären.“

Im nächsten Augenblick schallte bereits ein Lachen zu uns herüber. „Mona, sei doch nicht so unhöflich.“ Im Türrahmen, durch den man zum hinteren Teil des Hauses, in dem auch das Labor lag, kam, stand der alte Professor Sage. „Kommt rein, Kinder. Draußen ist es so kalt.“ Er winkte uns zu sich und ging bereits weiter in sein Labor. „Ich bin Ignatius Sage, aber das wisst ihr vermutlich. Und das ist meine Enkelin, Mona Tann. Sie wird eines Tages mein Labor übernehmen.“

Ich gab Quinn einen leichten Stoß, dann folgten wir ihm, Mona direkt hinter uns, wobei sie mit den Pantoffeln über den Boden schlurfte.

„Ihr wollt also einen ComDex haben, ja? Seid ihr bereits als Trainer registriert? Wenn ja, ist das gar kein Problem. Besonders viel Auswahl habe ich aktuell nicht da, aber wenn ihr noch ein Starterpokémon braucht …“

„Nein danke, Quinn hat bereits sein Feelinara und ich bin keine Trainerin“, sagte ich automatisch, als wir in seinem Labor zum Stehen kamen.

Er sah mich nachdenklich an. „Keine Pokémon?“

„Nein.“

„Das sieht man heutzutage immer seltener.“ Kurze Pause. „Wie dem auch sei. Gib mir deine ID, dann scanne ich alles ein und in ein paar Minuten sind wir fertig.“

Quinn reichte ihm seine Chipkarte, während Mona mit verschränkten Armen im Durchgang stand und uns beobachtete.

Wir warteten schweigend, bis der Professor alles erledigt hatte. Gerade, als er Quinn einen schwarzen ComDex reichte, klopfte es hinter uns und ein anderes Mädchen stand in der Tür. Ihre hüftlangen, braunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und ihre Haut war trotz der kalten Jahreszeit wunderbar gebräunt. „Ich bin fertig, Professor.“

„Ah, Katie.“ Er lächelte sie zufrieden an. „Vielen Dank für deine Hilfe. Ich hoffe, es war nicht zu viel Arbeit für dich.“

„Aber nicht doch“, winkte sie lächelnd ab, dann erst schien sie uns zu bemerken. „Hallo alle zusammen.“ Sie wandte sich an Mona und umarmte sie herzlich. „Wir schreiben, sobald ich wieder zu Hause bin, ja? Du musst mich unbedingt besuchen kommen, sobald du Zeit hast.“

„Das mache ich“, sagte Mona, nun sichtbar besser gelaunt. Sie hakte sich bei Katie unter und gemeinsam gingen sie aus dem Labor raus in den Wohnbereich, wobei sie sich die ganze Zeit unterhielten, bis eine Tür ins Schloss fiel.

Professor Sage hatte den beiden Mädels hinterher geschaut und dabei geschmunzelt. „Katie stammt aus Alola und sie hat sich auf Katzenpokémon spezialisiert. Mona und sie sind beste Freundinnen, aber weil Alola nicht gerade um die Ecke liegt, sehen sie sich nur selten. Es tut mir fast schon leid, dass ich Katie so in Beschlag genommen habe, aber mein Enekoro versorgt aktuell vier Junge und Katie kennt sich speziell mit diesen Pokémon sogar besser aus als ich.“

„Katzenpokémon“, wiederholte Quinn interessiert. „So wie mein Feelinara?“

„Aber nicht doch“, meinte der Professor. „Evoli und seine Entwicklungen sehen zwar katzenartig aus, gehören aber eher zu den hundeartigen Pokémon. Katie besitzt, wenn mich nicht alles täuscht, Enekoro, Shnurgarst, Kleoparda, Snobilikat und Miezunder. Sobald sich ihr Miezunder zu einem Fuegro entwickelt hat, möchte sie sich an den Inselprüfungen in Alola versuchen.“

„Miezunder?“ Ich zog meine Augenbrauen nach oben. „Pokémon aus Alola sieht man sehr selten außerhalb dieser Region.“

„Das stimmt.“ Professor Sage stand von seinem Stuhl auf und klopfte in die Hände. „Nun aber genug mit der Plauderei. Quinn, du hast deinen ComDex und bist offiziell als Trainer registriert, jetzt steht deiner Reise nichts mehr im Weg. Zu dieser Jahreszeit hat Waldhausen nichts zu bieten, also solltet ihr euch bald auf den Weg durch den Eichwald nach Eichwald City machen. Und jetzt husch, husch, raus mit euch.“

Ehe wir uns versahen, hatte er uns wieder vor die Tür in die Kälte komplimentiert – und da beschwerte er sich über Monas leicht ruppige Art.

„Eins noch“, sagte der Professor, als wir uns bereits in Bewegung gesetzt hatten.

„Hm?“

Er sah uns über seine randlose Brille hinweg an. „Ich würde euch wirklich empfehlen, bald aufzubrechen. Wie ich gehört habe, soll bald eine Frau eintreffen, die ihren Sohn sucht – und sie hat einen sehr aufgebrachten Eindruck gemacht. Wir wollen doch nicht, dass dem Glück eines jungen Trainers etwas im Wege steht, nicht wahr?“ Wissend nickte er uns zu, dann schloss er die Tür und ließ uns in der Kälte zurück.

Der Eichwald und ein Pakt

„Wieso genau habe ich mich darauf eingelassen“, zischte ich Quinn wütend zu und schob einen dünnen Zweig von mir weg, der sich allerdings erstaunlich hartnäckig zeigte und blitzschnell zurückschnellte. Es tat nicht wirklich weh, aber ich merkte den leichten Schmerz durch meine Winterjacke hindurch.

Er war blass und ging zunächst gar nicht auf meine Frage ein, dann blieb er stehen.

Ich dachte, er wollte mir antworten, aber dann sah ich, wie blass er war und im nächsten Augenblick überkam mich die Sorge um seinen Gesundheitszustand. Nach wie vor wusste ich nicht genau, woran er eigentlich litt, aber es war offensichtlich, dass ihm die Kunde über das baldige Eintreffen seiner Mutter, das hektische Packen seiner Sachen, ein schnelles Essen im Pokémoncenter und unser überstürztes Aufbrechen in den Eichwald zugesetzt hatten. „Quinn?“

Fee rieb ihren Kopf tröstlich an seinen Beinen, woraufhin er schmal lächelte. „Ist schon gut. Ich muss mich nur ein paar Minuten ausruhen, dann können wir weiter.“

„Du weißt doch gar nicht, wo wir überhaupt lang müssen. Wir hätten uns an die Straße halten sollen, wie ich gesagt habe.“

„Nein“, sagte er bestimmend. „Meine Mutter wird mit dem Bus kommen oder mit dem Auto, auf jeden Fall wird sie die Straße benutzen. Dann kann ich auch gleich im Pokémoncenter auf sie warten.“

„Und deshalb flüchten wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit mitten durch den Eichwald, was ein toller Plan.“

Er grunzte, suchte sich einige Schritte weiter einen Baumstumpf und begann an seinem ComDex herumzuspielen, bis auf dem Bildschirm eine Karte erschien. Quinn zoomte den Eichwald heran und wartete darauf, dass das Gerät die GPS-Koordinaten bekam, doch es tat sich nichts. „Seltsam. Eigentlich müsste der ComDex unsere genaue Position finden und uns direkt nach Eichwald City leiten.“

„Toller Plan“, wiederholte ich spöttisch, schaute auf den Bildschirm und seufzte. „Kein Empfang. Wir können uns höchstens grob in die östliche Richtung orientieren.“

Die Wahrheit war, dass weder er noch ich eine Ahnung hatten, wo genau wir uns befanden oder welche Strecke wir bereits zurückgelegt hatten. Schwester Joy hatte uns davon abgeraten heute noch aufzubrechen, immerhin würde es in ein oder zwei Stunden stockfinster sein und ich hatte keine Lust, die Nacht im Eichwald zu verbringen, doch Quinn hatte darauf bestanden. Und ich? Bei Arceus, ja, ich hatte ihn nicht einfach alleine losziehen lassen können. Dieser Junge würde sich noch in Gefahr bringen und war ohne meine Hilfe doch vollkommen aufgeschmissen.

Immerhin hatte Schwester Joy mir – wenn auch nur widerstrebend – mein Geld zurückgegeben, auch wenn wir das hier draußen in der Wildnis herzlich wenig half.

„Quinn“, begann ich daher leicht genervt. „Lass uns zurückgehen. Bitte. Wir regeln das mit deiner Mutter und dann ist alles gut. Ich habe keinen Rucksack dabei, keine Kleidung zum Wechseln, keinen Schlafsack, gar nichts, weil eine gewisse Person mich ohne Vorwarnung von Eisbergen nach Waldhausen schleppen musste.“

„Du hättest ja nicht mitkommen müssen!“

„Ich kann dich ja wohl schlecht in dein Unglück rennen lassen!“

Wütend packte Quinn seinen ComDex weg. „Du bist nicht meine Nanny, Mila!“

Fee sah aufgeregt zwischen uns hin und her und legte die Ohren an. Sie mochte es nicht, wenn wir uns stritten, aber sie hielt zu Quinn und schmiegte sich noch enger an seine Beine.

„Natürlich bin ich das nicht, aber du kennst dich nicht mit den Anforderungen an das Trainerdasein aus und ich möchte dir helfen!“

„Warum? Was kümmert es dich, was aus mir wird? Du könntest jederzeit umdrehen und auf deinen teuren Luxuskoffer warten. Auf dich wartet wenigstens ein tolles Leben!“ Quinn klang verbittert, kniff die Augen zusammen und sah mich feindselig an.

„Weil …“ Ich setzte zu einer möglichst arroganten Antwort an, wie ich es gewohnt war, doch sie bliebt mir im Hals stecken. Dann schluckte ich, schüttelte den Kopf und setzte mich neben ihn auf den Baumstumpf. „Weil mein Leben gar nicht so toll ist, wie du glaubst.“

„Ach?“ Die Feindseligkeit verschwand schlagartig aus seinem Blick. Zurück blieb eine Mischung aus Neugierde und Zweifel. „Kann ich mir nicht vorstellen. Du hast doch alles, was man sich wünschen kann: eine Karriere beim Fernsehen, Geld, Ruhm, gutes Aussehen und die Leute lieben dich. Niemand weiß, wer Quinn Ikarus ist, der kranke Junge, der zu Hause unterrichtet wurde und viele Jahre seines Lebens im Krankenhaus verbracht hat.“

Ich drehte den Kopf, um seinen Blick zu erwidern. „Das ist nicht so, wie du denkst. Meine Karriere ist festgefahren, weil meine Mutter gleichzeitig meine Managerin ist und alles dafür tut, um mich berühmt zu machen. Meine Cousinen sind die Kampf-Châtelaines. Du hättest sehen müssen, wie grün vor Neid sie war, dass die Kinder ihrer Schwester so berühmt und erfolgreich sind. Mit vierzehn Jahren hat sie ihre Kontakte zum Fernsehen endlich nutzen können, damit ich einen Bericht über meine Cousinen moderieren kann. Keine Ahnung, wie viele Jahre sie sich dafür durch das Fernsehstudio hatte schleimen müssen. Ich hatte Glück, dass ich beim Publikum so gut angekommen bin, aber das hat nichts mit mir zu tun, verstehst du? Ich bin ins Fernsehen gekommen, weil meine Cousinen jemand sind, und durch Glück bin ich dort geblieben. Ja, ich habe die letzten drei Jahre jede Woche die Highlights der Arenakämpfe bei Kalos TV moderiert, aber glaubst du, ich weiß nicht, dass meine Cousinen sich für mich eingesetzt haben? Und meine Mutter erst.“

Ich rollte mit den Augen. „Sie ist vollkommen besessen davon, dass ich Karriere mache, weil sie immer hinter ihrer Schwester anstehen musste. Drei Jahre lang waren die Arenakämpfe alles, für das ich mich zu interessieren hatte. Interviews hier, Interviews da. Attacken auswendig lernen, Strategien erörtern, immer gut aussehen, Sport treiben, in die Kamera lächeln. Ich hatte keine freie Minute mehr. Der Urlaub im Tempel war eine Auszeit für mich, in der ich mich beruflich neu orientieren wollte. Ich bin jetzt an einem Punkt, an dem ich selbst entscheiden kann, ob ich zu den wöchentlichen Berichten zurückkehren möchte oder nicht. Aber …“

„Aber du weißt nicht, ob es das ist, was du in deinem Leben machen willst“, beendete Quinn den Satz für mich und ich nickte. „Dann sind wir uns wirklich gar nicht so unähnlich“, schlussfolgerte er mit einem Stirnrunzeln.

„Offenbar nicht.“ Ein trockenes Lachen kam über meine Lippen. „Du läuft vor deiner Mutter und deinem Leben davon, weil du dich eingeengt fühlst und endlich eigene Entscheidungen treffen möchtest.“

„Und du tust genau dasselbe“, sagte er wissend. „Deshalb bist du mitgekommen und hast dich auf dieses Abenteuer eingelassen.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Tja, ich schätze, das ist richtig so.“

Eine Weile saßen wir einfach nur schweigend auf diesem verdammten Baumstumpf, bis uns die Hintern schmerzten und die Beine kalt wurden. Außerdem begann es zu dämmern und wir mussten uns dringend entscheiden, ob wir umkehren oder die Nacht im Wald verbringen wollten.

Schließlich stand Quinn auf, schaute mich prüfend an und begann dann zu sprechen: „Ich möchte dir etwas vorschlagen. Einen Pakt.“

„Einen Pakt?“ Ich erhob mich ebenfalls. Was sollte ausgerechnet er mir zu bieten haben?

„Du hast Recht. Ich habe keine Ahnung, wie man ein Pokémon richtig trainiert, wie man seine Stärken ausnutzt und seine Schwächen kaschiert. Aber du hast Ahnung davon.“ Obwohl ich keine Trainerin war, was wir vermutlich beide in Gedanken hinzufügten.

„Das stimmt. Und jetzt soll ich dir helfen?“

Er nickte. „Genau. Du reist mit mir durch die Finera-Region und bringst mir bei, wie man ein guter Trainer ist.“

„Das wird Wochen dauern, wenn nicht sogar Monate.“

„Das ist mir bewusst“, gab er zu und setzte ein gewinnbringendes Lächeln hinterher, das eher gruselig aussah als freundlich, wie ich fand. Vielleicht lächelte er aber auch einfach viel zu selten und hatte aus diesem Grund keine Übung darin.

„Und warum sollte ich das tun?“

„Du kannst die Zeit nutzen, um neue Erfahrungen zu gewinnen. Und noch etwas …“

Mich beschlich das Gefühl, dass er sich das Beste bis zum Schluss aufgehoben hatte. „Und?“

Quinn straffte die Schultern. „Und du kannst eigenhändig einen Trainer vom Nichts zum Gewinner aufbauen. Das wäre doch eine Erfahrung, die es rechtfertigen würde, dass du dir eine Auszeit von deinem Beruf nimmst. Eine kreative Pause. Mila Mayham, Expertin der Arenakämpfe, nimmt einen Schützling unter ihre Fittiche und verhilft ihm zu Anerkennung.“

Das ließ ich mir auf der Zunge zergehen. „Auf jeden Fall wäre das Grund genug für meine Mutter, um mich vorerst in Ruhe zu lassen. Natürlich nur rein hypothetisch. Falls ich mich also darauf einlasse, dich zu coachen und dir in den nächsten Monaten beizustehen, wirst du mir überlassen müssen, wie ich den großen Bericht über dich aufziehe. Außerdem brauche ich einen Fotoapparat, um alles dokumentieren zu können.“

Er nickte ergeben. „Du wirst mir auch dabei helfen müssen, meine Mutter abzuschütteln.“

„Das kriegen wir hin.“ Ich winkte ab, als wäre das nur eine Kleinigkeit, während ich in Gedanken bereits durchging, was ich mir für eine Reise durch Finera alles besorgen musste. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, gefiel mir der Gedanke, mehrere Monate meinem Leben in Illumina City entkommen zu können. „Zuerst müssen wir nach Eichwald City ins Pokémoncenter, damit ich eine Trainer ID beantragen kann.“

„Jetzt auf einmal doch?“

„Natürlich, du Witzbold. Ich werde mit dir reisen und mit einer Trainer ID übernachte ich ebenfalls kostenlos in den Pokémoncentern.“

„Aber du brauchst ein Pokémon, um die ID zu bekommen, oder du musst das Pokémon schnellstmöglich nachreichen.“

„Dann fängst du dir eben ein Pokémon im Eichwald und wir registrieren es auf meinen Namen.“

„Na schön.“

Also, wo war ich? „Wir reisen nach Eichwald City, beantragen eine Trainer ID für mich, besorgen mir einen Reiserucksack, eine Grundausstattung für uns beide und eine Kamera.“

„Also haben wir einen Deal?“ Quinn hielt mir die Hand hin.

Ich zögerte noch einmal kurz, schlug dann aber ein. „Ja, wir haben einen Deal.“

Wir schauten uns feierlich an, bis ein Windstoß durch den Wald fegte und uns daran erinnerte, dass wir mitten im Eichwald standen und es bereits dämmerte.

„Was sollen wir jetzt tun?“

Ich schaute mich um und orientierte mich in Richtung Osten. „Wir tun genau das, was ich vorhin schon gesagt habe, und gehen nach Eichwald City.“

„Aber es wird gleich dunkel und wir haben noch wer weiß wie viele Kilometer vor uns.“

„Dann, mein lieber Quinn“, und dabei schenkte ich ihm einen strafenden Seitenblick, immerhin hatte er uns in diese Situation gebracht, „sollten wir uns wohl besser beeilen und keine Zeit mehr verlieren, denn ich habe keinesfalls vor, die Nacht unter wilden Pokémon in der eisigen Kälte zu verbringen.“

Er rollte mit den Augen, um auszudrücken, wie genervt er bereits jetzt von mir war, doch zu meinem Erstaunen kamen keine weiteren Widerworte und wir setzten uns gemeinsam in Bewegung.

Ich fand meinen Plan super, wusste allerdings noch nicht, wie ich meine Mutter davon überzeugen sollte, mich auf unbestimmte Zeit in Ruhe zu lassen. Aber Kind, die Zuschauer, deine Sendung, alles! Das kannst du nicht machen! Doch, konnte ich und würde ich. Sie war meine Mutter und wir hatten nicht immer das beste Verhältnis zueinander gehabt, aber ich war ihr zumindest eine Erklärung dafür schuldig, weshalb ich von der Bildfläche verschwinden wollte. Und dann war da ja auch noch Quinns Mutter, die sich garantiert nicht damit zufrieden geben würde, dass ihr Sohn einfach nur seinen Trainerwunsch durchsetzen wollte. Dafür würde ich mir auch noch etwas einfallen lassen müssen …

Und ehe wir uns versahen, war es dunkel geworden, Quinns ComDex hatte noch immer keinen Empfang. Nachdem wir einigen Dornenhecken hatten ausweichen müssen, begann ich die Orientierung zu verlieren, denn trotz der kalten Jahreszeit standen die Bäume auf einmal so dicht, dass man kaum noch einen Blick auf den ohnehin wolkenverhangenen Himmel werfen konnte. Sagte man nicht, dass die Sterne eine Orientierung waren? Aber was, wenn man sie ohnehin nicht sehen konnte?

Ich musste auf’s Klo.

Mein Magen knurrte.

Irgendwo in der Finsternis raschelte es und plötzlich wirkten alle Geräusche doppelt so laut und dreimal so bedrohlich. Fees Schwanz zuckte unruhig hin und her, sie schaute mal nach links, mal nach rechts, denn ihre Kampferfahrung hielt sich in Grenzen und da sie nie in der richtigen Wildnis gelebt hatte, sondern von den Straßen Saffronia Citys stammte, konnte sie vermutlich nicht einordnen, welche Geräusche von friedlichen Hoothoot und welche von blutrünstigen Rattikarl stammten.

Schweigend stapften wir weiter, verlangsamten unser Tempo immer weiter, bis wir stehen blieben und uns ängstlich anschauten.

Nur langsam gestand ich mir ein, was sich schon längst in Quinns blassem Gesicht abgezeichnet hatte: Wir hatten uns verlaufen.

Nachts sind alle Katzen grau und eine Überraschung

Keiner von uns sprach laut aus, was uns beiden längst bewusst geworden war. Unsicher liefen wir weiter, denn solange es überhaupt vorwärts ging, gab uns das das Gefühl, dass wir in die richtige Richtung laufen könnten.

Wie aus dem Nichts tauchte ein leuchtendes, rotes Augenpaar vor uns auf, starrte uns an, wurde größer, raste auf uns zu.

Ich schrie erschrocken auf, warf mich gegen den nächsten Baumstamm, hörte das Flügelschlagen und sah dem schwarzen Kramurx hinterher, das laut keckernd in der Finsternis verschwand.

Fee hatte ihr Fell erbost aufgestellt, doch die Art, wie sie sich an Quinns Beine presste, verriet auch ihre Angst. Sie war in etwa auf Level 10 und konnte es somit zwar mit den Pokémon hier im Wald aufnehmen, aber ohne Tränke und Gegengifte – wir wussten ja schließlich nicht, auf was für Pokémon wir hier im Dickicht treffen würden – würde sie nicht mehr als zwei oder drei Kämpfe unbeschadet überstehen, was uns hilflos zurücklassen würde.

Es war eine dumme Idee gewesen, vollkommen ohne Vorbereitung in den Eichwald zu laufen.

„Quinn“, begann ich daher und sicherte mir seine Aufmerksamkeit, „wir werden gleich morgen früh mit deinem Training beginnen. Oder eher gesagt mit Fees Training.“

Er nickte mir schwach zu. „Lass uns bald einen Rastplatz für die Nacht suchen.“

„Wir sind gerade einmal drei oder vier Stunden unterwegs, das reicht nicht.“

„Mila, ich … Ich kann nicht mehr.“ Quinn blieb stehen, stützte sich an einigen tief hängenden Ästen ab und erst jetzt realisierte ich den kalten Schweiß auf seiner Stirn und die dunklen Augenringe, die sich vor Erschöpfung in die Haut zu graben schienen.

„Ist alles in Ordnung?“

Er rang sich ein schiefes Lächeln ab und wischte sich über die Stirn. „Es ist alles gut, ich … bin es nur nicht gewohnt, so lange am Stück unterwegs zu sein. Meine Kondition … ist nicht die beste, fürchte ich.“

„Feelinara“, gurrte sein Pokémon tröstend und sobald er sich auf den gefrorenen Waldboden setzte, sprang sie auf seinen Schoß und rollte sich dort ein.

Das war nicht gut, überhaupt nicht gut. Besorgt legte ich die Stirn in Falten und kniff die Augenbrauen zusammen. Schnell suchte ich die Fakten in meinem Kopf zusammen.

1. Quinn war krank und erschöpft. Mehr als eine oder maximal zwei Stunden würde er sich wohl nicht mehr auf den Beinen halten können, selbst wenn wir jetzt eine ausgiebige Pause machten.

2. Wenn wir nicht in Bewegung blieben, würden wir trotz der Winterkleidung bald auskühlen. Wir besaßen weder ein Feuerpokémon noch Erfahrung in Sachen Lagerfeuer.

3. Ein Zelt, einen Schlafsack oder eine Decke besaßen wir auch nicht.

4. Es war eine hirnverbrannte Sache, hier nachts herumzuwandern, wenn wir uns verlaufen hatten. Wir könnten uns eine Lungenentzündung holen – oder schlimmeres.

„Also gut“, sagte ich daher schnell und schaute mich in der Dunkelheit um. Meine Augen hatten sich zwar an das spärliche Licht gewöhnt, aber das half nicht viel. „Hast du in deinem Rucksack Streichhölzer oder ein Feuerzeug dabei?“

„Ja, ich glaube schon.“

„Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns einen geschützten Platz suchen, an dem wir ein Lagerfeuer errichten können. Die Nacht bleiben wir dann dort und wärmen uns, so gut es geht. Morgen früh brechen wir direkt mit der Dämmerung auf und sehen zu, dass wir im Laufe des Tages in Eichwald City ankommen. Einverstanden?“

Er nickte knapp. „Und wir passen auf, dass wir von keinen wilden Pokémon gefressen werden.“

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er das als Scherz meinte oder nicht.

Nachdem ich ihm hochgeholfen hatte, liefen wir weiter – mittlerweile völlig planlos, in welche Richtung es überhaupt ging. Nach einer weiteren Viertelstunde erreichten wir eine kleine Lichtung, an deren Seite ein Bach entlang lief. Die Erde roch moosig und feucht, weshalb wir uns an den anderen Rand der Lichtung zurückzogen. Ich platzierte Quinn auf einem umgekippten Baumstamm und suchte einige trockene Zweige und Äste zusammen, die ich auf Unterarmlänge kürzte und in einem provisorischen Erdloch türmte.

Anschließend machte Quinn sich mit seinem Feuerzeug daran zu schaffen, doch er scheiterte kläglich und brachte das Feuer einfach nicht zum Brennen. Danach probierte ich es, doch schnell machte sich Enttäuschung in mir breit, denn auch mir wollte es einfach nicht gelingen, mehr als ein leichtes Glimmen und ein paar Funken zu erzeugen.

Stumm starrten wir auf die miserabelste Feuerstelle aller Zeiten, als nur wenige Meter von uns entfernt ein Feuerball auftauchte, mitten ins Erdloch flog und das Lagerfeuer mit einem Schlag entzündete.

Wir schreckten beide so sehr auf, dass wir synchron rückwärts vom Baumstamm in den Dreck fielen.

Feelinara sprang auf, fauchte in die Dunkelheit hinein und plusterte sich nur noch mehr auf, als lautlos ein Pokémon zum Vorschein kam – Miezunder?

Direkt dahinter Katie, wie sie lässig an einem Baum lehnte und uns angrinste. „Hey ihr beiden. Ich dachte mir, ihr könntet vielleicht Hilfe gebrauchen.“

„Katie!“ Mein Herz beruhigte sich endlich wieder. Ich rappelte mich auf, klopfte den Dreck von mir ab und sah der Katzenpokémontrainerin dabei zu, wie sie zu uns kam. Ihr Miezunder guckte grimmig, gab aber keinen einzigen Ton von sich und seine pure Präsenz schüchterte Fee so sehr ein, dass diese wieder auf Quinns Schoß kroch. „Was machst du denn hier?“

Sie ließ sich neben Quinn auf dem Baumstamm nieder und fuhr sich einmal durch den langen, braunen Pferdeschwanz, der unter ihrer Wollmütze hervorschaute. „Ich bin euch von eurem letzten Rastplatz aus gefolgt, ohne dass ihr mich bemerkt habt. Eigentlich hatte ich nicht vor, mich in eure kleine Nachtwanderung einzumischen, aber dann habe ich gemerkt, dass ihr von nichts eine Ahnung habt und hier draußen vermutlich erfrieren würdet.“ In ihrer Stimme lag keine Anklage, einfach nur eine nüchterne Feststellung. „Also habe ich mich dazu entschlossen, euch zu helfen.“ Ihr Miezunder legte den Kopf auf ihre Oberschenkel, schloss genüsslich die Augen und begann in einem tiefen Bariton zu schnurren, als sie seinen Kopf kraulte.

„Und was machst du um diese Zeit hier draußen im Wald?“ Endlich hatte Quinn seine Stimme wiedergefunden. Das knisternde Feuer ließ Schatten über sein Gesicht tanzen.

Katie grinste ihn nun wieder unverblümt an. „Oh, ich bin meistens nachts unterwegs, wenn ich reise. Wie ihr wisst, trainiere ich Katzenpokémon, die kein Problem mit der Dunkelheit haben. Außerdem möchte ich Miezunder auf seine Entwicklung vorbereiten und da es einen Unlicht-Typ hinzugewinnen wird, dachte ich mir, kann das nächtliche Training nicht schaden. Ihr zwei hingegen“, ihr Blick glitt prüfend über uns, „habt euch ganz offensichtlich nichts dabei gedacht, stimmt’s? Das ist ziemlich gefährlich, gerade zu so einer Jahreszeit.“

„Das wissen wir“, sagte Quinn nach kurzem Zögern und senkte schuldbewusst den Blick. „Es ist meine Schuld. Meine Mutter will nicht, dass ich als Trainer umherreise, und als ich gehört habe, dass sie in Waldhausen erwartet wird, habe ich Panik bekommen.“

„Ah, dann bist du also der Junge, nach dem diese laute Schreckschraube sucht.“

Quinn wurde leichenblass. „Sie ist da?“

Katie zuckte mit den Schultern. „Sie kam an, als ich aufgebrochen bin. Hat rumgeschrien, dass sie ihren Sohn sucht, solche Sachen. Professor Sage hat sie dann beruhigt und ihr in einem ziemlich deutlichen Ton gesagt, dass ihr nicht mehr hier seid. Daraufhin hat sie ihn beleidigt und ihm vorgeworfen, dass er einen kranken Jungen in sein Unglück rennen lässt. Tja und daraufhin ist der Professor noch lauter geworden, hat sie in ihre Schranken verwiesen und ihr gesagt, dass du mit siebzehn Jahren voll zurechnungs- und geschäftsfähig bist, sie dich nicht einsperren kann und er keinen Trainer, der den ehrlichen Wunsch hegt, mit Pokémon zu arbeiten, abweisen wird. Ich glaube, sie ist dann ziemlich wütend in den Gasthof abgedampft, aber dann war ich auch schon weg.“

Perplex starrten wir Katie an.

„Der Professor hat was getan?“ Quinns Mund stand offen, bis er anfing zu lachen. Erst leise und verhalten, dann immer lauter, bis er sich vor Lachen nicht mehr halten konnte und wie ein ertrinkendes Seemops japste.

Ich begann mir gerade Sorgen um seinen Gesundheitszustand zu machen, als er sich wieder fing und sich dich Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte.

„Das ist genial“, gab er zu. „Ich wäre zu gerne dabei gewesen. Bisher hat noch niemand meiner Mutter so Paroli geboten.“

„Dann wurde es Zeit dafür“, stimmte Katie ihm lächelnd zu und streckte sich.

„Aber wenn du noch nicht lange unterwegs bist, können wir gar nicht so weit von Waldhausen entfernt sein oder?“

Sie schaute mich an. „Nein, natürlich nicht. Luftlinie knappe zwei Kilometer, würde ich sagen. Wieso fragst du?“

Resigniert ließ ich die Schultern hängen. Wir waren eine Ewigkeit unterwegs gewesen, aber wir mussten im Kreis gelaufen sein, nachdem es dunkel geworden war. „Weil wir eigentlich nach Eichwald City wollten.“

Katie grinste nun nur noch breiter. „Ihr zwei seid wirklich aufgeschmissen. Also gut ihr zwei Süßen. Ihr wartet hier, während ich schnell mein Zelt aufschlage. Es wird zwar etwas eng, aber ihr passt auch zu zweit rein, wenn alle Pokémon in ihren Bällen schlafen. Dann ruht ihr euch eine Weile aus, tankt Energie und schlaft eine Runde. In der Zwischenzeit trainiere ich mit Miezunder, lasse euch Kleoparda als Wachschutz da und in ein paar Stunden wecke ich euch und bringe euch nach Eichwald City, einverstanden?“

Wir nickten ergeben, dankbar dafür, dass Katie uns nicht einfach vorschlug ins Pokémon-Center zurückzukehren.

Als wir eine halbe Stunde später gemeinsam in Katies breitem Schlafsack lagen, dauerte es nicht lange, bis mir die Augen erschöpft zufielen.
 

***
 

Gegen Mittag des nächsten Tages erreichten wir den langersehnten Waldrand. Katie hatte ihr Wort gehalten und uns auf direktem Weg nach Eichwald City gebracht, denn wir konnten die Stadt, die sich unter uns im Tal entlangschlängelte, gar nicht mehr verfehlen. Nach einer kurzen, aber herzlichen Umarmung trennten sich unsere Wege.

Es dauerte nur etwa fünfzehn Minuten, bis wir den Stadtrand erreichten. Auffallend war, dass alle Häuser den Charme einer kleinen, gepflegten Vorstadt besaßen, nur dass ganz Eichwald City in diesem Stil gestaltet war. Die meisten Häuser hatten weiße Fassaden mit bunten Fensterläden, dazu große Grundstücke mit gepflegten Gärten. Es gab eine breite Hauptstraße, an der kleinere Cafés und andere Geschäfte lagen, und die einmal quer durch die Stadt führte. Selbst in den Seitenstraßen war es vorbildlich sauber. Nirgendwo lag Müll herum, die Schaufenster waren hell und freundlich gestaltet und die Menschen hatten trotz der kalten Temperaturen ein fröhliches, sonniges Lächeln im Gesicht. Mir gefiel es hier auf Anhieb.

Das Pokémon-Center war nicht schwer zu finden, es lag direkt an der Hauptstraße der Kleinstadt. Die Büsche im Vorgarten des Pokémon-Centers waren, wie fast überall, mit Jutesäcken abgedeckt, um sie vor Frost und Kälte zu schützen.

„Sollen wir uns direkt zwei Zimmer reservieren?“

Quinn überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, zuerst möchte ich mir nur ein paar Pokébälle kaufen und anschließend wieder zurück zum Waldrand. Dort und auf den angrenzenden Wiesen dürfte es genügend schwache Pokémon, um eins für dich zu fangen oder?“

Daran hatte ich gar nicht gedacht. „Ja, das müsste funktionieren.“

Er nickte zufrieden und kramte bereits nach seinem Geldbeutel. Viel hatte er nicht dabei, sofern ich das sehen konnte, aber für ein paar einfache Pokébälle würde es noch reichen. „Ich würde mir gerne ein Hoothoot, Taubsi oder Kramurx fangen. Eigentlich egal, Hauptsache ein Vogel-Pokémon.“

„Ach, echt? Wieso das denn?“

Nun begann er leicht zu grinsen. „Weil meine Mutter Vogelpokémon hasst. Ein oder zwei davon in meinem Team dürften sie auf Abstand halten, wenn es hart auf hart kommt.“
 

***
 

Etwas mehr als eine Stunde später standen wir wieder auf den Wiesen, die sich zwischen Eichwald City und dem gleichnamigen Wald an die Hänge des Tals schmiegten. Besonders anstrengend war der Aufstieg nicht, aber Quinn schaffte es nur langsam und musste sogar einmal zwischendurch Pause machen. Schließlich waren wir aber am Waldrand angekommen und schauten uns um.

„Wie finde ich jetzt ein wildes Pokémon?“, raunte er mir fragend zu.

Ich schaute mich genauer um. „Auf anderen Routen haben die Pokémon höhere Level und greifen von selbst an, wenn sie sich gestört fühlen, aber so nahe an den Städten flüchten sie meistens, weil sie die Präsenz der Trainer gewohnt sind. Ausnahmen bestätigen aber wie immer die Regel. Fangen wir mit Kramurx oder Hoothoot an. Beide sind nachtaktive Pokémon und schlafen jetzt irgendwo in Baumhöhlen oder in ihren Nestern. Wir müssen also – rein theoretisch – nur eines ihrer Nester finden, dann kannst du Fee direkt angreifen lassen. Was für Attacken kann sie eigentlich?“

Er sah verlegen aus. „Tackle, Heuler, Sandwirbel und Kulleraugen.“

Bravo, damit konnten wir doch viel anfangen. Nicht. „Gut, dann konzentrieren wir uns vorerst auf Heuler und Tackle. Das nächste Ziel wird sein, dass wir Fee dazu bringen, Ruckzuckhieb zu lernen. Dir ist sicherlich bekannt, dass sich Pokémon nicht unendlich viele Attacken merken können. Je höher ihr Level ist, desto mehr und bessere Attacken können sie lernen. Mit der Zeit verlernen sie die schwächeren Attacken, die sie nicht regelmäßig benutzen. Konzentrier dich als Trainer also auf eine Spannbreite von etwa vier bis fünf Attacken, auf die du deine Strategie aufbaust. Aber das ist alles für Fortgeschrittene.“

„Ich bin nicht bescheuert, Mila“, tadelte er mich sogleich, rümpfte die Nase und gab Fee das Zeichen, nach den wilden Pokémon Ausschau zu halten, die wir letzte Nacht noch um jeden Preis von uns weg haben wollten.

Einige Minuten vergingen, in denen wir am Waldrand selbst nichts fanden, weshalb wir etwa zwanzig Meter weiter in den Wald hinein gingen und das erste – leider verlassene – Nest in den Baumkronen entdeckten. Im Hintergrund huschten zwar immer wieder Rattfratz, Webarak und andere Pokémon umher, aber Quinn wollte unbedingt ein Vogelpokémon haben, weshalb Fee uns alle anderen mit ihrem Knurren und Drohen vom Leib hielt.

Die Taktik ging auf, bis wir eine halbe Stunde später endlich ein Nest fanden, in dem ein Hoothoot friedlich schlummerte.

„Was jetzt?“, formte Quinn lautlos mit den Lippen.

Ich deutete auf Fee. „Lass sie Heuler einsetzen, bis Hoothoot wach ist. Vermutlich wird es direkt angreifen, dann konterst du mit Tackle. Den Rest überlasse ich dir.“ Übung machte schließlich den Meister.

Quinn nickte, wischte sich eine schokoladenbraune Locke aus der Stirn und gab dann den ersten Befehl.

Fees Heuler zerriss die friedliche Winterstille. Überall um uns herum begann der Wald zu rascheln und knacksen und auch das Hoothoot riss überrascht die feuerroten Augen auf. Es taumelte müde, schaute verwirrt umher, als auch schon der nächste Heuler folgte. Dann sah es Fee, verengte die Augen und stieß einen erbosten Kampfschrei aus. Mit Schnabel traf es Fee in die Flanke, doch bevor es wieder außerhalb ihrer Reichweite war, setzte Fee mit Tackle nach.

Gemeinsam stürzten die beiden Pokémon zu Boden, kullerten übereinander hinweg, kratzten und fauchten, so gut sie konnten. Fee federte sich elegant ab, setzte mit einem zweiten Tackle nach, den Hoothoot ebenfalls wegsteckte. Im nächsten Augenblick riss Hoothoot seine Augen auf, die zu hypnotisch zu glühen begannen. Hypnose.

Quinn bemerkte es auch, aber für Fee war es zu spät, sie taumelte bereits schlaftrunken nach hinten und kippte auf den Waldboden. Hektisch kramte er in seiner linken Jackentasche nach den Pokébällen, erwischte den nächstbesten, schleuderte ihn gegen Hoothoot, doch nichts tat sich. Der Ball prallte einfach an dem Pokémon ab, das uns einen letzten, warnenden Laut zurief und dann zwischen den Bäumen verschwand.

Niedergeschlagen tätschelte Quinn sein schlafendes Pokémon und zog Fee anschließend in ihren Sympaball zurück. Dann hob er den Pokéball vom Boden auf. „Ist er kaputt? Er hätte Hoothoot doch zumindest einfangen müssen, auch wenn es wieder ausgebrochen wäre.“

„Schau mal, da. Ist das Tesafilm?“

Quinn drehte den Ball zur Seite. Tatsächlich. Ein Streifen Tesafilm und daran ein abgerissenes Stück von einem gelben Notizzettel. „Was soll das?“ Er durchwühlte seine Tasche und fand das dazugehörige Stück Papier.

Hallo Quinn,

habe es bei meinem Training im Wald besiegt und kann es nicht gebrauchen, aber für einen Anfänger wie dich wäre es bestimmt eine große Hilfe. Die sind selten, da kommt man nicht jeden Tag dran. Der Pokéball geht auf’s Haus. Viel Spaß damit!

Katie :-)

„Der Pokéball ist von Katie. Sie muss ihn in meine Jacke gelegt haben, als ich geschlafen habe.“

„Nett von ihr“, sagte ich und klopfte Quinn dabei auf die Schulter. „Aber auch irgendwie bevormundend, wenn du mich fragst. Willst du nachsehen, was sie dir gefangen hat?“

Er drückte einmal auf den runden Knopf und der Ball wurde größer. Ein zweites Mal Drücken schickte den grellen Strahl zu Boden, aus dem sich ein Pokémon formte.

Blinzelnd schaute es sich um, wiegte seinen Kopf hin und her, schüttelte die Knospe auf seinem Rücken und blickte Quinn mit großen, treuen Augen an. „Bisa! Bisasam!“

Trainer wider Willen und unerwartete Hilfe

Schwester Joy tippte mit einem breiten Lächeln auf ihrer Tastatur herum. Sie freute sich, dass ich eine Trainer ID beantragen wollte, als würde sie mich persönlich kennen und sich wirklich dafür interessieren. Eine ganze halbe Stunde lang waren wir nun schon mit der Anmeldung beschäftigt, denn sie tippte in etwa so schnell wie ein Kokuna laufen konnte, plapperte munter vor sich hin und überwarf sich beinahe mit Tipps für angehende Trainer, obwohl ich ihr mehrfach versichert hatte, dass ich mich genug auskannte, um nicht über die nächstbeste Klippe zu springen oder direkt in ein Bibor-Nest zu stechen.

Schließlich drehte sie den Bildschirm zu mir um, ließ mich schnell alle Daten überprüfen und nachdem ich sie abgenickt hatte, drückte sie Enter. Hinter ihr sprang ein spezieller Drucker an, der mir eine frische Lizenz ausstellte, inklusive Foto.

„Fehlt nur noch dein erstes Pokémon, Liebes“, flötete sie gut gelaunt. „Möchtest du, dass ich dir ein Busticket nach Waldhausen buche, damit du zu Professor Sages Labor gehen kannst?“

„Nein danke“, erwiderte ich ebenso zuckersüß und knallte Bisasams Pokéball auf die Theke. „Ich bin bestens versorgt.“

„Wundervoll!“ Sie nahm den Ball, ging zu dem Scanner, der an die Heilmaschine angeschlossen war, und wartete mit wippendem Fuß und ebenso wippenden Haaren, bis auf dem Bildschirm die Daten zu Bisasam auftauchten. „Ich werde es dir direkt in deinem Trainerprofil eintragen, Liebes.“

„Dankeschön.“ Also wieder eine halbe Ewigkeit warten.

In der Zwischenzeit wandte ich mich zu Quinn, der auf der Theke ein Heft von Doktor Joy gefunden hatte. Band 42, Pokéball der Liebe. Ich wusste genau, um was für zwei üppige Pokébälle es da ging. Mit hochrotem Kopf blätterte Quinn darin herum, legte es aber sofort zurück, als er bemerkte, dass ich ihn erwischt hatte. „Wenn dir die Hefte gefallen, kann ich dir gerne aushelfen. Zu Hause habe ich alle bisher erschienenen Ausgaben.“

„N-nein danke, das ist wirklich nicht nötig“, stotterte er.

Ich legte prüfend den Kopf schief, wechselte dann aber das Thema und sprach leise, damit Schwester Joy mich nicht hören konnte. „Ich wollte niemals selbst eine Trainerin sein und jetzt stehe ich hier, habe eine ID beantragt und lasse dein Bisasam illegalerweise auf mich registrieren.“

Quinn sah nachdenklich aus. „Das heißt, ich kann es nicht in offiziellen Kämpfen benutzen?“

„Doch, weil wir es bei der nächsten Gelegenheit auf dich umschreiben lassen werden. Bisasam ist ein sehr praktisches Pokémon, da hat Katie absolut mit Recht gehabt. Wir sagen einfach, es mag dich lieber als mich und in der Zwischenzeit besorgen wir irgendein Pokémon, das du nicht im Kampf benutzen möchtest.“

„Okay, einverstanden.“

„Liebes?“

„Jaha?“ Schwungvoll drehte ich mich zu Schwester Joy um, die mir Bisasams Ball zurückgab.

„Möchtest du deinem Bisasam einen Spitznamen geben?“

„Aber natürlich“, antwortete ich, noch ehe Quinn etwas sagen konnte. „Karl-Günther.“

Quinn starrte mich entsetzt an. „Ich nenne Bisasam auf gar keinen Fall Karl-Günther!“

„Na wie gut, dass es auch mein Bisasam ist.“ Eine kleine Rache dafür, dass ich wegen ihm nun eine Trainerin wider Willen war, war doch wohl angemessen.

Wütend presste er die Lippen aufeinander.

Verwirrt sah Schwester Joy zwischen uns hin und her, lächelte dabei verlegen und lachte dann leise. „Oh, ein Witz!“

Eifrig stimmte ich ihr zu. „Ja, genau, ein Witz. Quinn und ich albern gerne herum.“

„Natürlich, das hätte ich mir gleich denken können“, sagte die Joy. „Karl-Günther, so nennst du dein Bisasam natürlich nicht. Es ist schließlich weiblich.“

„Weiblich?“, erwiderten wir beide wie aus einem Mund. Als Schwester Joy mich abwartend ansah, fiel mir auch direkt der nächste Name ein. „Gut, wenn das so ist, dann soll sie Rita heißen.“

„Rita“, wiederholte Joy, tippte den Namen in ihren Computer ein, drückte erneut auf Enter und reichte mir direkt im Anschluss meine frischgedruckte Trainer ID.

„Rita also“, sagte Quinn trocken und riss mir förmlich den Pokéball aus der Hand, kaum dass wir den Anmeldebereich hinter uns gelassen hatten. „Du hättest dich wenigstens mit mir absprechen können. Ich hätte ihr einen schöneren Namen gegeben.“

„Sei froh, dass ich sie nicht Waltraud oder Edelgard genannt habe.“

Er streckte mir genervt die Zunge raus, doch in seinen Augen lag ein freudiges Leuchten, während er Ritas Pokéball eng an seine Brust drückte.
 

***
 

Auch wenn Quinn darauf brannte, gleich wieder zum Rand des Eichwalds loszuziehen, um sich erneut bei der Jagd auf Vogelpokémon zu versuchen, hielt ich ihn davon ab. Wir hatten zwei Pokémon, was ausreichend war, um auf dem Sandplatz hinter dem Pokémon-Center ein wenig zu trainieren.

Schnell stellte sich heraus, dass Quinn in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Trainerkampf mit Fee gemacht hatte. In den Straßen von Saffronia City hatten sich zwar häufig Trainer aufgehalten, aber für ihre Kämpfe und das Training waren sie entweder in dunkle Seitengassen oder an den Stadtrand ausgewichen, um keinen Ärger zu bekommen. Den Adleraugen seiner Mutter war es zu verdanken, dass Quinn natürlich nie dort gewesen war, wo sich die Trainer aufgehalten hatten – ganz zu schweigen von der Arena und dem Kampf-Dojo, die beide kurzerhand zur verbotenen Zone erklärt worden waren.

Ich fand, dass es die beste Methode war, ihn einfach ins kalte Wasser zu schmeißen.

Nachdem ich mir Quinns ComDex geborgt hatte, um Ritas Level und ihre Attacken zu überprüfen, nickte ich ihm zuversichtlich zu und positionierte mich mit dem Bisasam an dem einen Ende des Übungsplatzes hinter dem Pokémon-Center, während Quinn am anderen Ende Stellung bezog.

„Tu einfach so, als würdest du mich nicht kennen und unbedingt gegen mich gewinnen wollen“, riet ich ihm.

Er wirkte unsicher und warf sowohl Bisasam als auch Feelinara immer wieder prüfende Blicke zu.

„Was ist?“

„Ich möchte nicht, dass sich jemand verletzt.“

„Aber das gehört zum Pokémonkampf dazu, Quinn. Pokémon sind viel stärker als wir Menschen, sie stecken viel mehr weg und wenn sie sich verletzen, heilen ihre Körper schneller als unsere. Abgesehen davon sind wir keine zwanzig Meter von Schwester Joy entfernt. Wenn du wirklich um die Orden kämpfen willst, wirst du um Kämpfe gegen andere Trainer nicht drum herum kommen. Nur so werden deine Pokémon langfristig stärker werden.“

„Also schön.“ Er atmete tief durch und gab den ersten Befehl. „Fee, halt dich bereit, Ritas Attacken auszuweichen.“

Ich stieß die Luft in einem Stoß wieder aus. „So funktioniert das nicht. Ausweichen ist eine Taktik, die du benutzen kannst, wenn du die Basisangriffe beherrschst. Lass Fee angreifen und wenn der Kampf seine eigene Dynamik entwickelt, kannst du sie immer noch defensiv einsetzen.“

Er sah mich ratlos an.

„Gut, dann fange ich an. Rita, Rankenhieb.“

Das kleine, grüne Pokémon mit den dunkelgrünen Flecken sprang vergnügt einen knappen Meter nach vorne. Aus den Seiten seiner noch verschlossenen Rückenknospe schoss eine dicke, feste Ranke hervor, die Rita einmal wie eine Peitsche knallen ließ, ehe sie sie auf Fee zuschnellen ließ.

Fee sprang nach oben und wich damit aus, doch in diesem Augenblick raste die zweite Ranke wie aus dem Nichts hervor, umfasste Fees Vorderbeine und schleuderte das Feenpokémon zu Boden.

„Fee!“

„Ihr geht es gut, Quinn.“

Sein Mund klappte wieder zu, dann nickte er mir mit blassem Gesicht zu. „Los, Tackle!“

„Heuler“, sagte ich gelassen.

Während Fee auf Rita zulief, zerriss das Bisasam mit seinem hohen Heuler die Luft und schwächte damit Fees Angriff.

So ging es noch einige Male weiter. Beide Pokémon waren auf etwa demselben Niveau, doch durch den nun dreimal geschwächten Angriff machte Fees Tackle fast keinen Schaden mehr. Ritas Tackle hingegen beendete den Kampf.

Quinn sah ziemlich enttäuscht aus und schwieg, bis wir die beiden Pokémon von Schwester Joy hatten heilen lassen.

„Sollen wir noch eine Runde kämpfen?“

„Nein, das reicht für heute.“ Aufmunternd klopfte ich ihm auf die Schulter. „Bis zum Abendessen kannst du dir ein paar der Ratgeber durchlesen, die im Aufenthaltsraum stehen. Ich muss noch mit meiner Mutter telefonieren. Wir treffen uns dann beim Abendessen wieder.“

„Alles klar.“
 

***
 

Ich hatte mit einem Donnerwetter gerechnet, doch stattdessen strafte meine Mutter mich mit eisigem Schweigen. Ihr Antlitz flackerte auf dem Bildschirm des Bildtelefons starr vor sich hin. Nur hin und wieder blinzelte sie, schnaubte oder fuhr mit dem manikürten Zeigefinger die Linie ihrer blonden Haare nach. Es dauerte eine ganze Minute, ehe sie aus dem Schnauben heraus Wörter formte. „Mila Mayham, was hast du dir dabei gedacht!“ Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Ich fragte mich, ob ihr womöglich wirklich etwas daran lag, wie es mir ging. Ob sie sich ehrliche, ernsthafte Sorgen um mich machte.

Stattdessen hielte sie nun meinen vollen Terminkalender in die Kamera. „Siehst du das? Siehst du das?“ Mit der freien Hand griff sie nach einem Rotstift und kritzelte wütend Kreise und Striche in den Kalender. „Das sind alles Termine, die ich wegen deiner kleinen Aktion verschieben oder komplett absagen musste. Ist dir klar, dass ein halbes Vermögen an dir hängt? Komm sofort zurück, Mila. Sofort!“

Ich atmete tief durch, straffte die Schultern und nahm meinen ganzen Mut zusammen. „Nein, ich komme nicht zurück. Ich arbeite hier an etwas Großem.“ Als sie nicht sofort reagierte, nutzte ich den Augenblick aus und fügte hinzu: „Quinn Ikarus ist Trainerneuling und ich werde ihn unter meine Fittiche nehmen. Ich zeige ihm, wie man ein guter Trainer wird. Das dokumentiere ich natürlich alles ausführlich. Vielleicht könnte man eine wöchentliche Kolumne bei der Zeitung daraus machen?“ Noch immer keine Widerworte, nur strafende, prüfende Blicke. Ich musste ihr mehr liefern, jetzt, wo ich für einen Moment ihre Aufmerksamkeit hatte. „Es wird ein exklusiver Bericht, hautnah an den Leiden eines Trainers. Viel Emotionen, alle Hochs und Tiefs, kommentiert von Mila Mayham, der berühmten Kommentatorin der Arena-Kämpfe aus Kalos.“

Meine Mutter schnaubte und spitzte die Lippen. Dann antwortete sie: „Die Idee ist nicht verkehrt, aber das kannst du nicht einfach ohne mich entscheiden. Wir müssen so etwas planen. Du brauchst Werbepartner, die dich mit Kleidung und Accessoires ausstatten. Außerdem musst du im Fernsehen präsent bleiben, damit die Leute dich weiterhin vor Augen haben. Das erfordert regelmäßige Interviewtermine. Und dieser Quinn – taugt er was? Wir können keine Niete gebrauchen.“

„Ja, ich glaube an ihn“, antwortete ich sofort.

„Zu Zeiten der Pokémon-Liga musst du natürlich trotzdem nach Kalos kommen und deine Sendung moderieren. Das ist das Mindeste.“ Meine Mutter hörte mir gar nicht mehr richtig zu und zählte weiter auf, was alles zu erledigen war.

Nach einigen Minuten unterbrach ich sie. „Stopp!“

Genervt sah sie von ihrem Notizblock auf. „Was? Habe ich etwas vergessen?“

„Nein, aber so will ich das nicht. Ich will diesen Zwang nicht haben. Der Vertrag für die neue Saison ist doch sowieso noch nicht unterschrieben und dabei bleibt es auch.“ Ihre aufkommenden Proteste unterband ich, indem ich die Hand hob. „Meine Entscheidung steht. Du bist meine Managerin und es ist deine Sache, wie du den Produzenten erklärst, dass sie diese Saison auf mich verzichten müssen. Aber ich brauche diese Auszeit, um herauszufinden, was ich wirklich will. Das musst du akzeptieren.“

Einige Sekunden herrschte Stille, dann brach sie in ein hysterisches Lachen aus. „Mila! Du kannst keine Sinnkrise kriegen, wenn wir kurz davor sind, einen millionenschweren Werbedeal für deine Sendung an Land zu ziehen!“

Ich seufzte. „Doch. Das kann ich. Ich bin nur die Moderatorin. Es geht in der Sendung nicht nur um mich, sondern auch um die jungen Trainertalente. Es tut mir leid, Mama. Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich den ersten Teil meines Berichts über Quinn fertig habe.“ Dann drückte ich trotz ihrer lautstarken Proteste auf den Aus-Knopf und beendete damit die Unterhaltung.

Eine Weile starrte ich mit klopfendem Herzen auf den schwarzen Bildschirm, ehe ich mich erhob, meine Kleidung glatt strich und dem Bildtelefon den Rücken kehrte. Sie hatte nicht zurückgerufen. Sie hätte noch einmal versuchen können, mich davon abzuhalten. Sie hätte zeigen können, dass ich ihr etwas bedeute. Aber das hatte sie nicht.
 

***
 

In der Lounge des Pokémon-Centers neben dem Eingangsbereich wartete ich auf Quinn, weil wir zum Abendessen verabredet waren. Zu dieser Jahreszeit war nicht viel los, deshalb verwunderte es mich auch nicht, dass ich alleine war, bis ein Mann mittleren Alters das Pokémon-Center betrat, kurz mit Schwester Joy redete und sich dann ebenfalls in den Lounge-Bereich setzte. Wir grüßten uns mit einem kurzen Kopfnicken, dann blätterte jeder von uns in eigenen Zeitschriften herum.

Ich schaute auf, als Quinn schwungvoll die Treppe herunter ging, hob die Hand zu einem Gruß und verharrte mitten in der Bewegung, als ich sah, wie sich sein Gesicht versteinerte.

Quinn wurde schlagartig aschfahl und blieb am unteren Treppenabsatz stehen, die Hand krampfhaft um das Geländer gelegt.

Der Mann mir gegenüber stand lächelnd auf, legte die Zeitschrift bei Seite und fixierte Quinn mit seinen stahlgrauen Augen. „Hallo, mein Sohn. Du hast ein ganz schönes Chaos angerichtet. Deine Mutter ist außer sich.“

Mir fiel beinahe die Kinnlade runter. Ungläubig starrte ich zwischen Quinn und dem Mann – seinem Vater – hin und her. Wir hatten uns so viel Mühe gegeben, um seine Mutter abzuschütteln, und nun tauchte sein Vater hier wie aus dem Nichts auf?

Als Quinn endlich nach einigen Sekunden die Kraft besaß, um sich von dem Geländer zu lösen, trottete er mit hängenden Schultern zu uns herüber, schluckte schwer und ließ sich kraftlos in den Sessel neben mir sinken.

Sein Vater folgte jeder seiner Bewegung, doch am Ende ruhte sein Blick auf mir und er kombinierte schnell. „Dann bist du also das Mädchen, das Quinn in dieses Abenteuer hineingerissen hat?“

„So würde ich das nicht sagen …“, stotterte ich und fühlte mich zum ersten Mal sein langer Zeit wirklich sprachlos und unangenehm in meiner Haut.

Er streckte mir noch immer freundlich lächelnd die Hand hin. „Anselm Ikarus, Quinns Vater. Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, …?“

„Mila“, beantwortete ich die offene Frage und zuckte kaum merklich zusammen, als er meine Hand mit einem kräftigen Händedruck zusammendrückte. Dann ließ er mich wieder los.

„Mila“, wiederholte er nickend. „Gut.“ Sein Blick fiel auf die Uhr an der Wand. „Judith wird auch bald eintreffen, deshalb würde ich gerne vorher ein paar Sachen geklärt haben. Quinn, ich weiß, wie sehr du ein Trainer sein möchtest. Ich hatte gehofft, dass dir der Urlaub zu neuem Selbstbewusstsein helfen würde, aber ich habe nie damit gerechnet, dass du auf so eine energiegeladene junge Dame triffst, die es vermag, dich aus deiner Lethargie zu reißen.“

„Meine … was?“ Quinn starrte seinen Vater an.

Ich ebenfalls.

Sein Vater schmunzelte und rieb sich über den Dreitagebart. „Deine Mutter ist krank vor Sorge um dich, wie üblich, deshalb wollte ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es die richtige Entscheidung ist, dich einfach machen zu lassen.“ Als keiner von uns etwas darauf erwiderte, sondern wir nur gespannt die Luft anhielten, fuhr er fort: „Deine Mutter hat … Probleme. Ich weiß, dass du es weißt. Sie steigert sich zudem viel zu sehr in ihre Angst um dich hinein. Es tut mir sehr leid, dass ich ihr kein besserer Mann sein kann, aber vielleicht kann ich nun zumindest ein guter Vater für dich sein. Ich erlaube dir, diese Region zu bereisen, aber unter drei Bedingungen.“

„Alles“, wisperte Quinn, „ich mache alles, was du willst.“ Seine Augen leuchteten.

„Erstens: Ich möchte, dass du dich regelmäßig bei uns meldest und wir mindestens einmal in der Woche aus einem Pokémon-Center miteinander videotelefonieren. Zweitens: Du nimmst jeden Tag deine Medizin, lässt dich wie gehabt einmal im Monat bei einem Arzt im Krankenhaus durchchecken und sobald sich dein gesundheitlicher Zustand verschlechtert, kommst du umgehend zurück nach Hause. Und drittens: Du reist nicht alleine.“

Quinn drehte sich sofort zu mir um. „Mila, ich … Würdest du … mich begleiten?“

„Das hatten wir doch schon geklärt“, erwiderte ich. „Ja, ich komme mit und wenn sich daran etwas ändern sollte, finden wir jemand anderen für dich.“

Sein Vater wirkte zufrieden und streckte die Schultern durch. „Dann ist alles geklärt. Ich möchte euch nicht länger aufhalten, zumal ich heute Nacht noch zurückreisen muss.“

„Was ist mit Mama?“

„Deine Mutter werde ich unterwegs aufgabeln und mit nach Hause nehmen. Mach dir darüber keine Sorgen, Quinn. Wenn du etwas brauchst, sag mir einfach Bescheid. Ich möchte, dass du endlich anfängst, dein Leben zu leben, und wenn du dafür erst ein Pokémontrainer werden musst, dann ist das so.“ Sein Abschied fiel kurz, aber herzlich aus. Er zog Quinn in eine feste Umarmung, klopfte mir auf die Schulter und stapfte dann zurück in den Schnee hinaus.

Quinn saß noch immer auf dem Sessel und verarbeitete das, was gerade geschehen war. Schließlich verzogen sich seine Lippen zu einem breiten, freudigen Grinsen. „Ich bin frei.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (46)
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Von:  Yurippe
2017-10-01T05:34:03+00:00 01.10.2017 07:34
Ich muss zugeben, ich erinnere mich nur noch vage an die vorigen Ereignisse, aber ich bin froh, dass Quinns Vater vernünftig ist und Mila sich gegenüber ihrer Mutter durchsetzen konnte.
Antwort von:  Kalliope
03.10.2017 13:09
Danke für deinen Kommentar :) Ich komme leider nicht oft dazu, hier an dieser Fanfiction zu schreiben. Umso schöner ist es dann natürlich, wenn es trotzdem noch einen Kommentar gibt. Ab jetzt wird es auch mehr Action geben, die ersten 10 Kapitel waren eher eine Einleitung. Die Probleme mit den Eltern sind aus dem Weg geräumt und dem Abenteuer steht nichts mehr im Weg :D
Antwort von:  Yurippe
03.10.2017 13:10
Oh, es geht erst los? Das ist ja schön!
Ich weiß, wie das ist, bei mir geht es ja auch nur selten weiter. Ich hoffe ja, dass ich es dieses Jahr noch schaffe, die Geschichte ist ja fast zu Ende und das letzte Kapitel steht schon fast, nur das davor fehlt mir noch.
Antwort von:  Kalliope
03.10.2017 13:18
Es wirkt vielleicht wie eine typische Reise-Fanfiction, ist es aber nicht :) Quinn und Mila werden bald in etwas Größeres reingezogen werden und darum soll es dann gehen.

Viel Erfolg beim Schreiben!
Antwort von:  Yurippe
03.10.2017 13:24
Ich bin sehr gespannt!

Danke! Leider fürchte ich, dass ich dieses Semester keine Zeit haben werde...
Von:  yazumi-chan
2016-12-21T19:37:09+00:00 21.12.2016 20:37
Ahaha, der Professor weiß es xD Ich seh schon, das wird eine reine Katz-Maus-Jagd. Ich stelle mir seine Mutter gerade ein bisschen wie den Terminator vor, um ehrlich zu sein. Mila weigert sich ja weiterhin, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ganz ohne ID weit kommt. Sie muss ja auch ihren Koffer zurückkriegen, was schwierig wird, wenn sie kein Geld mehr hat. Bald schläft sonst bestimmt auf der Straße.
Antwort von:  Kalliope
21.12.2016 21:27
Haha der Mama-Terminator xD Auf jeden Fall wird sie wutschnaubend hinter ihrem Sohnemann herlaufen, um ihn wieder an die Leine zu nehmen und zurück nach Saffronia City zu schleifen. Und Mila hat bald ein Problem, das stimmt :D
Von:  yazumi-chan
2016-05-27T23:14:09+00:00 28.05.2016 01:14
Ohhh, ich mag dieses Kapitel! Die Art, wie du Milas Leben im Hotel beschreibst, dann die Schlussszene mit Quinn und dass sie überstürzt und ohne Koffer, ohne alles mitfährt... Ich hype das gerade so sehr xDD Freue mich schon darauf, was jetzt kommt. Und ob/wann Mila ein Pokémon bekommt.
Antwort von:  Kalliope
28.05.2016 09:15
Das freut mich :D Ich liebe es, solche Essszenen zu schreiben *hust* Diese FF wird eher langsam laufen, ist aber schon fertig durchgeplant und bleibt hoffentlich spannend :)
Antwort von:  yazumi-chan
28.05.2016 14:51
Ich musste erst nochmal nachgucken, was davor passiert ist, aber ich bin auf jeden Fall weiter dabei! :D
Antwort von:  Kalliope
29.05.2016 09:38
Das ist schön zu hören/lesen :) Ich denke, dass es ab Juli wieder neue Kapitel bei den FFs gibt, vorher habe ich mit der Uni viel zu tun. Aber am liebsten hätte ich Finera DotD fertig, bis die neuen Spiele erscheinen xD
Antwort von:  yazumi-chan
29.05.2016 12:20
Sehr löblich :D
Antwort von:  Kalliope
29.05.2016 23:08
Mal abwarten, ob ich den Plan auch so umgesetzt bekomme. Bis nächstes Jahr im Sommer möchte ich gerne alle drei FFs und die Oneshots fertig haben :O
Von:  Yurippe
2015-08-02T10:12:26+00:00 02.08.2015 12:12
Mila hat Recht, sie kann Quinns Probleme nicht für ihn lösen.

Die Sache mit Arktos und der Alten verwirrt mich, besonders dieser Teil:

Antwort von:  Yurippe
02.08.2015 12:13
„Wie können zwei Trainer einfach so ein Legendäres angreifen?“

Zu meiner Überraschung lachte die Alte auf. „Blond und naiv. Wer, glaubst du, ist der Bergwächter, dem zu Ehren der Tempel überhaupt erbaut wurde? Arktos wacht schon lange Zeit über den Mount Ni, so wie Celebi sich um den Finsterwald kümmert und Heatran einst den Vulkan besänftigte. Manchmal sieht man Lavados über dem Vulkan kreisen oder Zapdos über dem Finsterwald. Für Flugpokémon ist es von Kanto kein unmöglicher Flug, erst recht nicht für Legendäre.“

Gut, jetzt fühlte ich mich tatsächlich dumm.


Die Alte hat Milas Frage gar nicht beantwortet, wieso sollte Mila sich jetzt dumm fühlen? Und wieso sind Mila und Quinn schuld an der Sache, wenn sie nur zufällig dabei waren?
Antwort von:  Kalliope
03.08.2015 13:39
Tja~ Die Alte weiß mehr, als sie sagt. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, inwieweit sie da Bescheid weiß oder ihre Finger im Spiel hat (nicht, dass sie mit den Wilderern etwas zu tun hat, das meine ich nicht).
Antwort von:  Yurippe
03.08.2015 19:34
Nein, ich meinte, Mila stellt zwar eine etwas dumme Frage, aber "Für Flugpokémon ist es von Kanto kein unmöglicher Flug, erst recht nicht für Legendäre.“ beantwortet diese überhaupt nicht.
Antwort von:  Kalliope
05.08.2015 18:20
Ja, ich weiß. Die Alte redet absichtlich um den heißen Brei herum und Mila bemerkt es in der Situation nicht. Sie hat zwar die ganze Zeit das Gefühl, dass die Alte ihr etwas verheimlicht und irgendwie seltsam ist, aber auf die ganze Sache kommt sie erst später.
Von:  Yurippe
2015-08-02T10:02:45+00:00 02.08.2015 12:02
Wie spannend!
Mila hat ganz schön was angerichtet mit ihren Worten, aber Quinn ist auch dumm, wenn er mitten in der Nacht durch den Schnee wegrennt.
Hoffentlich kann Arktos gerettet werden.
Von:  Yurippe
2015-08-02T09:55:10+00:00 02.08.2015 11:55
Milas Flashbacks zu ihrer Mutter sind gut, aber die plötzliche persönliche Unterhaltung zwischen ihr und Quinn ging mir etwas zu schnell.
Käse ist übrigens keine traditionell japanisches Lebensmittel, deshalb wundert es mich, dass die Alte das erlaubt.
Antwort von:  Kalliope
03.08.2015 13:37
Na ja, so ganz streng sehe ich das nicht mit den Lebensmitteln. Es ist zwar ein traditioneller Tempel, aber durch ihre Enkel hat sie da vielleicht auch einfach ein Stück weit Normalität reinbekommen. Oder sie ist Käse-Fan.
Von:  Yurippe
2015-08-02T09:08:22+00:00 02.08.2015 11:08
LOL Der Liebesroman. XD
Quinn ist mir sympathisch, und was er über Status uns Respekt sagt, würde ich so unterschreiben.
10.000 Yen sind gar nicht soooo viel für eine Übernachtung. Mehr als ich zahlen würde, aber für jemanden wie Mila eigentlich fast zu billig.
Apfelmus schreibt man nicht mit ß.
Normalerweise sind gemischte Bäder in solchen kleinen Etablissements mit Reservierung, das heißt, man holt sich entweder den Schlüssel an der Rezeption oder hängt ein Besetzt-Schild an die Tür. Ob die Alte ihnen das nicht erklärt hat?
Antwort von:  Kalliope
03.08.2015 13:36
Bei der Alten könnte ich mir gut vorstellen, dass sie die beiden extra auflaufen lässt, weil sie dadurch ihren Spaß hat :"D
Von:  Hexenhund
2015-07-28T13:06:33+00:00 28.07.2015 15:06
Spannendes Kapitel, ich denke die Grossmutter weiß mehr als sie zugibt, aber och kann nicht glauben dass sie böse ist XD Dafür ist sie zu... schrullig
Ob das Pii Milas Pokemon wird? (Du hast eine Vorliebe für Rosa Pokemon scheint mir XD) ich freu mich schon aufs nächste kapitel
lg hh
Antwort von:  Kalliope
28.07.2015 15:11
Eine Vorliebe nicht wirklich, außer Feelinara hatte ich in den Spielen auch noch kein rosa Viech in meinem Team xD Ich schaue einfach, welche Pokémon meiner Meinung nach in die Story und zu den Charakteren passen, wobei ich auch gerne mal welche nehme, die nicht ganz so beliebt sind.
Von:  yazumi-chan
2015-07-23T18:54:55+00:00 23.07.2015 20:54
>>Hans, hab ich mir gedacht, Hans, da stimmt was nicht.“<< Hahaha xDD Ich liebe diesen Satz. Und Hans. Hans ist toll.

Yay, ich freue mich, dass es ein neues Kapitel gibt, nach der mehrwöchigen Pause. Hattest du viel zu tun? :)

Natürlich hast du was falsch gemacht, Mila! Dich von dem armen Quinn trennen, was tust du den Lesern an? Ich warte jetzt nur noch darauf, dass die beiden sich zusammen tun und Arktos retten. Und dann reitet Mila auf Arktos´ Rücken zurück nach Kalos und ist noch berühmter und trifft Rain und alles wird schön.
Wahrscheinlich eher nicht. Aber ich kann ja hoffen xD
Antwort von:  Kalliope
23.07.2015 23:10
Jaa, Hans ist wirklich toll :) Hast du den minimalen Hint zwischen Hans und Minako bemerkt? Hast du? Nein? Verdammt. Ich shippe die zwei jedenfalls |D

Oh ja, das Bild wäre natürlich super und damit wäre Mila definitiv ziemlich berühmt. Ein Jahr später weiß man in Dawn of the Dark aber nichts von dem, was Mila in dem Jahr gemacht hat, also kann man sich denken, dass auch Arktos nicht bekannt ist :)
Antwort von:  yazumi-chan
24.07.2015 01:52
Awwww :(
Antwort von:  Kalliope
24.07.2015 12:54
Aber keine Sorge, Arktos wäre nicht das Maskottchen der FF, wenn es nicht eine wichtige Rolle spielen würde ;) So wie Karpador bei DotD.
Antwort von:  Yurippe
02.08.2015 12:14
Irgendwie stelle ich mir bei Hans den Hans aus Frozen vor, der seine Strafe in den Bergen absitzt. XD
Antwort von:  Kalliope
03.08.2015 17:11
Thehehe jetzt hast du mir ein lustiges Bild in den Kopf gesetzt xD Dieser Hans hier kommt mehr nach Kristoff in zwanzig Jahren, wenn er Anna nie getroffen hätte. Fehlt nur noch der Elch.
Von:  Hexenhund
2015-06-23T07:39:09+00:00 23.06.2015 09:39
Auweiha. Was muss Quinn auch mitten in der Nacht weg?! Und dann noch Lawinen...
Dann hoffe ich mal, Arktos hat noch letzte Kraftreserven um die beiden zu retten, sonst sehe ich nämlich wirklich schwarz... Schreib schnell weiter Q.Q
Antwort von:  Kalliope
23.06.2015 15:48
Ja, die Lage ist wirklich bedrohlich. Beide sind schon ziemlich durchgefroren und erschöpft und dann auch noch das ... nächsten Sonntag wirst du erfahren, wie die beiden aus der Situation wieder rauskommen ;)
Antwort von:  Hexenhund
23.06.2015 16:58
Du...... Monster! T.T XDDD
Antwort von:  Kalliope
23.06.2015 17:18
Ich würde auch gerne mehr hochladen, aber ich habe nur noch für nächsten Sonntag auf Vorrat und muss dann erst nächste Woche 2-3 Kapitel schreiben :"D Bei meiner FF "Finera DotD" sind mir sogar schon für vorgestern die Kapitel ausgegangen, aber diese Woche schaffe ich es leider nicht mehr.


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