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Anger Management

Alvin x Jude
von

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Kapitel 01

Es gab einige Dinge, in denen sich Alvin und Jude voneinander unterschieden. Während Jude die meisten Dinge aus Büchern gelernt hatte, musste Alvin alles in der Praxis erlernen – ob er es wollte oder nicht. Während Jude behütet aufgewachsen war, war ihm klar, dass Alvin's Vergangenheit nicht ganz so rosig ausgesehen haben muss – zumindest konnte man dies an seinen Handlungen ablesen. Während Jude so gut wie immer ehrlich war, wusste man bei Alvin inzwischen nicht mehr, was gelogen war und was nicht. Die einzigen Male, wenn Jude log, ging es dabei um ihn selbst und sein Wohlbefinden. Da dies den Anderen jedoch keinen Schaden zufügte, konnte Jude dies auch ohne Weiteres beibehalten. Das Problem dabei, mit einem Lügner zu reisen, war jedoch, dass die Lügen des Schwarzhaarigen schneller durchschaut wurden, als ihm lieb war.
 


 

Es war bereits spät, als Jude in das Gasthaus in Leronde zurück kam. Auf dem gemeinsamen Weg mit seinen Gefährten hatte der ehemals angehende Arzt kurz etwas aus seiner Heimat holen wollen. Keiner hatte ihn gefragt, worum es sich dabei handelte; ebenso wenig, wieso Jude darauf bestand, im Gasthaus zu schlafen anstelle von seinem alten Zimmer.

Als er aus den Türen des Gasthauses getreten war, standen Elize und Leia vor ihm und hatten ihn gefragt, ob sie ihn begleiten sollten. Beide blickten besorgt drein, wahrscheinlich weil sie beide genau wussten, dass Besuche bei seinem Vater nie sonderlich angenehm für ihn waren. Doch mit einem gekonnten Lächeln versicherte er den beiden, dass er niemanden brauchte, um ihn zu begleiten. Im Nachhinein war er auch wirklich froh darum.
 

Seufzend blieb er in der Mitte des Eingangsbereichs des Gasthauses stehen. Seine Hand hob er langsam an, bis sie an seine Wange kam. Sofort durchströmte ihn ein stechender Schmerz. Schnell zog er die Hand wieder zurück und seufzte erneut. Er hoffte inständig, dass die Schwellung bis zum Morgen wieder weg sein würde.

Langsam schlürfte er in Richtung der Treppe, um diesen Tag endlich beenden zu können. Als er die ersten paar Stufen erklommen hatte, kamen plötzlich Stiefel in sein Sichtfeld. Er blieb stehen und hob vorsichtig den Blick. In der Dunkelheit der Nacht konnte er nicht viel erkennen; doch das Licht der Nacht erleuchtete den Bereich genug, damit Jude den langen Schal und den braunen Mantel erkennen konnte. „Hey Kleiner, was machst du denn noch hier?“ Alvin's Stimme klang wie immer – ein sorgloser und zugleich belustigter Unterton schwang deutlich in ihr mit. Selbst um diese späte Zeit war der selbsternannte Söldner noch genau so wie immer. „Alvin, wieso bist du noch wach?“ Überrascht drückte der Schwarzhaarige das Buch, das er von seinem ehemaligen Zuhause besorgt hatte, an seine Brust.
 

„Na das übliche. Die Natur hat gerufen. Und außerdem konnte ich--“ Schnellen Schrittes kam der Ältere die Stufen herunter, um auf Jude's Höhe zu sein. Direkt vor ihm blieb er stehen und warf seinen Arm über Jude's Schulter. „-- ohne dich kein Auge zumachen, Kleiner.“

Jude war froh um die Dunkelheit, die verbergen konnte, dass seine Wangen sich bei der Nähe und des Kommentars des Braunhaarigen rötlich verfärbten. Doch auch die Dunkelheit ließ erkennen, dass Alvin sich wieder einmal über ihn lustig machen musste. „Lass das, Alvin. Du bist sehr wohl dazu im Stande, ohne mich zu Schlafen.“ „Autsch, die kalte Schulter. Mal wieder.“

Der Arm, der um Jude's Schulter geschlungen war, drückte den Kleineren etwas näher an den Braunhaarigen. Schmerzhaft wurde Jude jedoch an seine angeschwollene Wange erinnert, als sein Gesicht für einen kurzen Moment Kontakt mit Alvin's Brust hatte. Mit einem Zischen riss Jude sich von Alvin los und legte instinktiv seine Hand an seine Wange. Ein weiterer Fehler. Ein weiteres Zischen und Jude taumelte zwei Stufen zurück.

Auch Alvin reagierte instinktiv und griff nach Jude's Handgelenk. Bevor der Schwarzhaarige weiter rückwärts stolpern könnte oder gar weglaufen könnte. „Woah. Langsam, was war denn das?“

Einen Moment verharrten beide in dieser Position. Keiner wagte es, die Stille zu durchbrechen. Die Nervosität kroch in Jude empor. Das letzte, was er wollte, war, ertappt zu werden. Unsicher räusperte er sich. Sein Blick ruhte auf Alvin's Hand, die sein Handgelenk fest umschlungen hielt.
 

„Ich hab mir vor Schreck auf die Zunge gebissen...“ Die Lüge war schlecht. Jude hätte sie noch nicht einmal geglaubt, wenn sie ihm aufgetischt worden wäre. Und besonders bei Alvin war er sich sicher, dass diese Lüge durchschaut würde. Er hoffte jedoch, dass Alvin das Thema einfach dabei beruhen lassen würde. So wie jedes Mal.
 

Vielleicht lag es an der gemeinsamen Zeit, die die beiden bereits miteinander verbracht hatten. Vielleicht auch an der dunklen Nacht. Vielleicht an der furchtbaren Stille, die immer in Leronde herrschte. Doch Alvin ließ ihn nicht los. Irgendetwas schien plötzlich anders zu werden. Nervös begann Jude zu versuchen, sein Handgelenk zu befreien – vergeblich. „Alvin, lass los.“

„Bist du verletzt?“ Alvin's Stimme.. sie klang anders als sonst. Ernst, düster, wütend – Jude konnte nicht genau sagen, was es war. Ein unsicheres und falsches Lächeln legte sich auf die Lippen des Schwarzhaarigen und noch immer versuchte er, seine Hand zu befreien. „Wie kommst du darauf? Wie gesagt, ich hab mir nur--“ „Du kannst mir nichts vormachen, Jude.“
 

Wie erstarrt hielt der Angesprochene die Luft an. Die Luft schien ohnehin schwer von der Spannung zu sein, die plötzlich entstanden war. Sein Blick ruhte noch immer auf der Hand des Älteren. Als dieser keine Antwort bekam, verstärkte sich sein Griff noch einmal. „Sag schon!“ Nun war seine Stimme nicht mehr als ein Knurren. Er konnte deutlich die Wut spüren, die sich aufbaute. Plötzlich riss Jude sein Handgelenk frei und rannte die Stufen der Treppe hinunter. „Jude, warte!“

Unten angekommen lief er in die Richtung der Tür; er wusste nicht genau, wieso, aber er hatte das Gefühl, er müsste weit weg von Alvin kommen. Dass dieser jedoch schneller war als er, hatte er nicht erwartet. Noch bevor Jude die Tür öffnen und nach draußen fliehen konnte, umgriff Alvin seinen Oberarm. Bevor der Jüngere reagieren konnte, hatte Alvin ihn zu sich gedreht und drückte ihn gegen die Wand. Noch immer verschlang die Dunkelheit sein Gesicht, doch Jude musste sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass er wirklich aufgebracht war.
 

„Alvin, lass das!“ Der Griff an seinem Oberarm verstärkte sich nochmal, als Jude versuchte sich zu befreien. „Du tust mir weh!“ „Wer war es?“ Erst wusste Jude nicht, was er mit der Frage anfangen sollte. „W-Was meinst du?“ „Wer hat dich geschlagen?“

Ein weiteres Mal erstarrte der Jüngere. Als er sich nicht mehr wehrte, lockerte sich auch Alvin's Griff an seinem Arm. „Du kannst mich nicht für dumm verkaufen. Ich merke doch, was hier los ist. Also...“ Erst, als der Atem des Braunhaarigen an Jude's Ohr vorbei glitt, spürte dieser, wie nah der Söldner ihm bereits gekommen war. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals.

„Wer hat dich geschlagen?“ Jude wusste nicht mehr, was er denken sollte. War Alvin sauer, dass er sich nicht verteidigt hatte? Oder dass ihn jemand geschlagen hatte? Was kümmerte es ihn überhaupt, ob Jude geschlagen wurde oder nicht? Was sollte er ihm sagen, um aus dieser Situation heraus zu kommen?
 

Es war, als würde der Schwarzhaarige versuchen, mit der Wand zu verschmelzen. Er presste sich so weit es ging von dem Braunhaarigen weg und ließ den Kopf hängen. Doch er brachte keinen Ton heraus.

„Jude!“ „Warum willst du das wissen? Das geht dich doch gar nichts an!“ Er wollte nicht darüber reden, und er wollte ganz sicher nicht mit dem Älteren darüber reden. Er brauchte den Spott nicht, er hatte bereits die Schmach erhalten, überhaupt geschlagen worden zu sein.

Für einen kurzen Augenblick dachte Jude, dass Alvin's Schweigen bedeutete, der Ältere hätte aufgegeben. Als dieser sich jedoch noch näher zu Jude herunter beugte und in sein Ohr hauchte, wusste er, dass dem nicht so war.
 

„War es dein Vater?“
 

Jude's Augen weiteten sich. Die Wolken, die den Mond verdeckt hatten, schoben sich zu Seite und das Licht des Mondes tauchte den Eingangsbereich des Gasthauses in ein kaltes Licht. Zum ersten Mal an dieser Nacht konnte Jude Alvin's Augen sehen. Sein Gesicht war ernst, das übliche Grinsen schien weit entfernt zu sein. Die Augen ernst und voller Wut. Vielleicht waren da auch noch mehr Emotionen, die Jude nicht genau definieren konnte.

Als die Finger des Braunhaarigen sanft auf die leicht geschwollene Wange kamen, kniff Jude die Augen kurz zusammen. Der Kloß in seinem Hals schien zu wachsen und seine Augen begannen zu brennen. Der Griff um seinen Oberarm wurde noch einmal stärker, bevor Alvin ihn plötzlich losließ. Die schweren Schritte auf dem Boden ließen auch die bernsteinfarbenen Augen wieder größer werden. Sobald er die Augen wieder offen hatte, stand Alvin bereits an der Tür nach draußen und hatte diese geöffnet. „Warte, Alvin!“
 

Er konnte nie wissen, was der Ältere vorhatte. Wie sollte er auch? Er war nicht gut darin, ihn einzuschätzen. Aber dieses Mal hatte Jude das Gefühl, genau zu wissen, was der Ältere vorhatte. Schnell löste er sich von der Wand und hechtete ihm nach. Alvin war vielleicht stark, aber dafür war Jude schneller.
 

Draußen auf der Straße hatte er ihn bereits eingeholt; dieses Mal war es Jude, der den Anderen festhielt. „Alvin, beruhig' dich!“ „Lass los, Kleiner.“ „Bestimmt nicht! Was soll das ganze überhaupt?“ Langsam spürte auch Jude die Wut in sich aufsteigen. Er verstand die ganze Situation nicht mehr. Er verstand nicht, wieso sein Vater ihn geschlagen hatte. Wieso die beiden nur immer verschiedener Meinungen sein mussten. Wieso beinahe jedes Gespräch auf diese Art endete. Noch weniger verstand er jedoch, wieso der Ältere so reagierte.
 

Alvin vermied jeglichen Augenkontakt, als seine dunkle Stimme erneut ertönte. „Dein Vater hat dich geschlagen, oder? Habt ihr euch gestritten?“ Erneut wusste Jude nicht, wie er darauf antworten sollte. „...Das ist Antwort genug für mich.“ Jetzt blickte er über seine Schulter zu dem Jüngeren; seine rotbraunen Augen schienen finster und noch immer konnte Jude im schwachen Mondlicht die Wut darin erkennen.
 

Jude verstand die Welt nicht mehr. Was erwartete der Ältere denn nur jetzt von ihm? Sie hatten beide noch nie tiefschürfende Gespräche miteinander geführt. Gerade Alvin war ein Meister darin, seine wahren Absichten und seine Meinung zu verbergen. Und auch Jude war nie darauf bedacht, andere mit seinen Problemen zu belasten. Was erwartete der Andere also nun von ihm?
 

Noch hielt er dem Blick des Älteren stand, doch die ungewohnte Situation ließ ihn beinahe verzweifeln. „Was soll das Ganze? Das geht dich doch gar nichts an...“ Alvin's Blick wurde noch fester. Der Schwarzhaarige musste nun doch zur Seite blicken.
 

„Vielleicht weil ich dich beschützen will...“
 

Die Worte waren leise und verloren sich beinahe in der kühlen Nachtluft. Doch Jude hatte sie vernommen. Überrascht blickte er wieder auf und sah in Alvin's Augen. Und nebst all den Emotionen, die er bereits gesehen hatte, konnte er plötzlich noch eine erkennen: Aufrichtigkeit.

Langsam sickerte die Bedeutung der Worte in Jude ein. Ihm wurde heiß und er war sich sicher, dass Alvin dieses Mal sehen konnte, wie seine Wangen sich rot verfärbten. Seine Hände begannen zu zittern und sein Griff um Alvin's Oberarm löste sich etwas.
 

Alvin nutzte den Moment, um sich loszureißen. „Vielleicht kannst du das alles einfach so hinnehmen... Ich aber nicht!“ Schon setzte er seinen Weg fort.
 

Der Schwarzhaarige stand noch immer wie angewurzelt da. Er betrachtete den Braunhaarigen, wie er einen Schritt vor den Anderen setzte und wusste genau, er müsste ihn aufhalten. Doch seine Beine gaben ihm kaum Halt. Sein Herz schlug so laut, er glaubte man könne es in ganz Leronde hören. Angestrengt versuchte er eine Lösung zu finden, stolperte dabei aber immer wieder über ein und denselben Satz.
 

Vielleicht, weil ich dich beschützen will...
 

„Alvin, bleib stehen! Bitte!“ Plötzlich fühlte er, wie ihn eine ihm wohl vertraute Wärme durchströmte. Es war fast so, als wäre da neben seinem Herzschlag noch ein weiterer Herzschlag zu spüren. Und neben seiner eigenen Wut – die noch vergleichbar gering ausfiel – konnte er eine immense Wut spüren.
 

Seine Hand legte sich auf sein Herz, überrascht über die komischen Gefühle.
 

„Du willst mich wirklich mit allen Mitteln aufhalten, hab ich Recht?“ Langsam hob der Schwarzhaarige wieder den Kopf. Er stellte fest, dass Alvin stehen geblieben war. Die Hände zu Fäusten geballt, die Schultern angespannt.
 

Abrupt wand Alvin sich wieder um und lief zurück, direkt an Jude vorbei. Er vermied jeglichen Augenkontakt, doch Jude hatte das Gefühl, dass das Herz des Braunhaarigen noch schneller schlug. Hinter Jude blieb er kurz stehen. „Fein. Du willst, dass ich still sitze, also mach ich es.“
 

Das vertraute Gefühl kam langsam bei dem Schwarzhaarigen an und er griff instinktiv zu seinem Lilium Orb. Dieser strahlte eine leichte Wärme aus. Der Kloß ins einem Hals schien nur noch dicker zu werden und das Zittern in seinem Körper verstärkte sich. Er muss rein instinktiv die Verbindung mit Alvin eingegangen sein.
 

Auch dem Anderen war dies nicht entgangen. Mit einem Seufzer strich er sich kurze durch die Haare, bevor er sich umdrehte und seine Hand auf Jude's Schulter legte. „...Wir müssen Morgen früh raus. Ruh' dich aus.“ Dann wand er sich wieder um, löste die Verbindung der Lilium Orbs und lief zurück ins Gasthaus.
 

Jude stand noch eine ganze Weile draußen. Er wollte erst sicher gehen, dass sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, bevor er ebenfalls in das Gasthaus zurückkehrte.

Wie er auf die Ereignisse des abends reagieren sollte, wusste er wirklich nicht. Aber bei dem Gedanken an Alvin und sein Verhalten breitete sich ein Kribbeln in Jude aus.
 

Als er sich endlich beruhigt hatte und wieder in seinem Zimmer ankam, das sich Alvin, Rowen und Jude teilten, schien Alvin bereits zu schlafen. Leise schlich der Schwarzhaarige zu seinem Bett, als ihm ein rechteckiger Gegenstand auf dem Kopfkissen auffiel. Bei genauerem Hinsehen musste er feststellen, dass es das Buch war, wegen dem er extra hierher gekommen war. Er muss es in dem Eingangsbereich fallen gelassen haben.
 

Verstohlen blickte er zu dem Braunhaarigen, der ihm den Rücken zuwandte. Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
 

Vielleicht – aber nur vielleicht – konnte er Alvin ja trotz allen Lügen wirklich vertrauen.

Jude war sich auf jeden Fall sicher, dass er sich auf ihn verlassen konnte.

Kapitel 02

Daheim zu sein... Endlich wieder daheim zu sein... Das war Alvin's Ziel gewesen. Er hatte alles dran gesetzt – seit er als kleiner Junge in Rieze Maxia gestrandet war – alles dran gesetzt, um einen Weg zurück zu finden. Nach Elympios. Nach Trigleph. Mit seiner Mutter.

Jetzt stand er hier... Allein, in Mitten der ihm so bekannten und inzwischen doch fremden Stadt. Ohne seine Mutter. Ohne Presa. Ohne irgendeinen Freund.
 

In dem Moment, in dem er sich zwischen Agria und die Anderen gestellt hatte, wusste er endlich genau, wo er hingehörte. Doch er wusste auch ganz genau, dass ihn hier keiner mehr haben wollte.
 

„Mach die Augen auf, Al. Jetzt hast auch du deinen Platz gefunden.“ Presa Worte hallten in seinem Kopf, umklammerten seine Gedanken und sein Herz. Mag sein, dass er seinen Platz gefunden hatte... Aber die Chance darauf hatte er schon längst verspielt.
 

Je länger er an der Klippe stand und hinunterblickte – dorthin, wo Presa gestürzt war – umso länger überlegte er, ihr zu folgen. Doch ihn schien noch immer etwas zurück zu halten. Es gab noch immer etwas, was er tun musste.
 

Schritte näherten sich ihm, blieben hinter ihm stehen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war. Er konnte die Präsenz des Jüngeren spüren. Dieser schob sich nach einem kurzen Moment neben ihn, blickte jedoch nach vorne. „Alvin, wo willst du jetzt hin?“ Gute Frage. Er wusste selbst nicht, wohin er nun noch gehen sollte. Sein Blick glitt zur Seite, weiter weg von dem Schwarzhaarigen, noch immer in die dunkle Schlucht. „Ich weiß es nicht. Was interessiert es dich?“
 

Ja, was interessierte es den Jüngeren. Noch nicht einmal Alvin wollte wissen, wohin er jetzt gehen würde. Plötzlich konnte er den intensiven Blick der bernsteinfarbenen Iriden auf sich spüren. „Komm mit uns.“ Die Stimme fest und entschlossen, leise und sanft zugleich. Die Worte trafen ihn wie ein Stechen in sein Herz. Er wusste nicht, was er dazu sagen wollte.
 

Ja.

Willst du das wirklich?

Ich wäre dir sowieso überall hin gefolgt.

Vielleicht ist das ja mein Platz? Bei dir...?
 

Keines dieser Worte würden es über seine Lippen schaffen. Doch sie waren alle klar in seinem Kopf. Frustriert presste er die Lippen aufeinander. „Jetzt wollen also die Kinder auf mich aufpassen.“ „Glaub nicht, dass mir das leicht fällt. Ich kann nicht vergessen, was du Leia angetan hast.“
 

Ein weiterer Stich. Alvin's Hände ballten sich zu Fäusten. Wieso hatte er nie über die Konsequenzen seiner Taten nachgedacht?

Er musste die Augen schließen. „Ich werde ihr sagen, dass es mir leid tut...“ „Mach das.“ Dann wand Jude sich von ihm ab und ging weg. Alvin öffnete die Augen wieder etwas und blickte weiterhin auf den Boden. Jude's Haltung und Wesen waren so anders geworden, verglichen mit der Zeit, als er den Schwarzhaarigen vor den Soldaten in Fenmont gerettet hatte. Auch, als Teepo ihn davor warnte, Alvin mit zu nehmen, schritt er unbeirrt weiter.
 

Elize blickte ihn wütend an. Auch ihr konnte er nicht in die Augen schauen. „Du verbirgst deine Gefühle nicht gerade.“ Teepo flog sofort zu ihr und schaute Alvin ebenfalls wütend an. „Nein, das tut sie nicht! Weil Elize ein gutes und ehrliches Mädchen ist!“

Innerlich stimmte der Braunhaarige zu. Dann blickte er über seine Schulter. „Es ist seltsam. Schwer zu glauben, wie schnell der Kleine erwachsen geworden ist.“ Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als ein trauriges Lächeln den Weg auf seine Lippen fand. „Er hasst mich jetzt wirklich, nicht wahr?“
 

Die Erkenntnis, dass Jude ihm keineswegs mehr vergeben würde; dass er ihn nun vollends hassen musste.. traf Alvin wie ein Messer in sein Herz. Mit einem Mal wusste er, dass er seinen Platz auf dieser Welt... den einzigen Menschen, der immer an seiner Seite war, ihm vertraute – und das trotz all der Lügen - durch seine eigene Schandtaten verloren hatte.
 


 

Erst als Alvin Milla's Präsenz neben sich wahrnehmen konnte, kam er aus seiner Gedankenwelt zurück. „Alvin.“ Er blickte zur Seite, denn er wusste genau, dass sie ihn viel zu gut einschätzen konnte. „Was gibt’s?“ Nachdenklich musterte sie den Braunhaarige, bevor sie die Arme verschränkte. „Du solltest hier nicht so verloren rumstehen.“
 

Was kümmert es dich?

Ich habe doch sowieso alles verloren.

Jetzt, wo er mich hasst...
 

Wieder fanden die Worte nicht den Weg aus seinem Kopf. Sein Blick wanderte zu ihr, vermied jedoch den direkten Augenkontakt.

„Ich kann mir vorstellen, was dich hier festhält.“ Toll, schon hatte sie ihn durchschaut. „Aber wenn du hier stehen bleibst und nichts tust, wird sich auch nichts ändern.“ Alvin wartete darauf, dass sie weiter sprach. Es schien jedoch nichts mehr zu kommen. Er wusste aber genau, dass sie auf Jude anspielte; Jude, der trotz allem, was ihm passiert ist, nicht stehen geblieben ist. Der sich selbst sogar vor dem Herr der Geister – oder dessen Abklatsch – bewiesen hatte. Der ihnen allen gezeigt hatte, dass es immer einen Weg geben würde. Einen Grund, nach vorn zu schauen und zu kämpfen.
 

Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander, ehe plötzlich etwas pinkes heran gesaust kam und sich auf Milla stürzte. Diese fing das fliegende Wesen ab, kurz bevor es ihren Kopf verschlingen konnte. „Milla! Er ist weg!“ Sofort hatte Teepo ihre – und auch Alvin's – gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Was meinst du damit?“
 

Leia und Elize kamen völlig außer Atem bei den beiden an. „Wir haben gesehen, wie Jude aus der Stadt raus gegangen ist – allein!“ Elize zog Teepo zu sich herunter und presste ihn an sich. Leia nickte zustimmend. „Wir wollten ihn nicht aus den Augen lassen, wie du es uns aufgetragen hast, Milla.“ Für einen Moment wunderte Alvin sich, was das ganze sollte. Jude war nun wirklich niemand, den man ständig bewachen musste.

Leia fuhr aufgebracht fort. „Aber er ging auf die Straße hinaus. Er hatte Balan vorhin gefragt, wo er uns gefunden hat. Ich glaube, dass er dorthin will!“
 

Milla verschränkte erneut die Arme und führte eine Hand nachdenklich an ihre Lippen. „Aber er dürfte hier doch absolut keine Orientierung haben....“ Elize drückte Teepo noch etwas näher an sich. „Außerdem sind kurz drauf ein paar komische Kerle aufgetaucht, die ebenfalls dort hin sind. Sie... sahen wirklich suspekt aus!“
 

Da dämmerte es Alvin langsam. Er wand sich Milla zu, Teepo's scharfen Blick ignorierend. „Hast du ihn von den beiden beobachten lassen, weil...“ Ernst sah sie ihm in die Augen und nickte. „Seit wir hier unterwegs sind, folgen uns ein paar ziemlich finstere Gestalten. Ich gehe davon aus, dass sie wissen, wo wir herkommen.“ Für einen kurzen Moment hielt sie inne, bevor sie fortfuhr. „Ich hab ihn damit nicht belasten wollen, also hab ich die beiden beauftragt, ein Auge auf ihn zu haben, während ich schaute, was du hier machst.“ „Heh, du meinst, um zu schauen, ob ich mich mit irgendwelchen dubiosen Gestalten treffe?“
 

Verärgert stapfte Elize auf ihn zu und schob ihm Teepo ins Gesicht. „Das glauben wir auch! Aber Milla ist davon überzeugt, dass du deine Lektion gelernt hast und so etwas nicht mehr tun würdest!“ „Aber wir glauben dir nicht, du großer Lügner!“, schloss Elize für Teepo ab.
 

Als er seinen Blick kurz schweifen ließ und sehen konnte, mit welcher Verachtung Elize und Teepo dreinschauten, wie Leia den Blickkontakt zu ihm vermied und wie ernst Milla ihn ansah, wurde ihm etwas übel. „Alvin, die Sache ist ernst. Ich möchte, dass du Jude suchst!“ Damit jedoch hatte keiner der Anwesenden gerechnet. „W-was? Wieso gerade ich?“ Bevor Elize und Teepo ihren Unmut heraus lassen konnten, schob sich nun auch Leia neben Milla. Den Blick zur Seite gewandt.
 

„Weil sowohl Milla... Als auch Jude... noch immer an dich glauben.“ Alvin's Augen weiteten sich. Sein Herz schlug schneller. „Das - und Alvin ist der Einzige von uns, der sich hier auskennt.“ Milla legte die Hände auf die Hüfte. „Außerdem braucht Jude dich.“ Plötzlich wirkte es so, als hätte jeder einen Einblick in seine und Jude's Freundschaft – nur er selbst nicht. „Was redet ihr da--“ „Wir werden Rowen suchen und wieder in das Apartment gehen. Wir warten dort auf euch.“
 

Elize, Teepo und Leia schienen nicht ganz so überzeugt von der Sache zu sein, doch als Milla ihre Hand auf seine Schulter legte, ihm ein kleines aufheiterndes Lächeln schenkte, und dann mit den beiden verschwand, hatte Alvin das Gefühl, eine Chance bekommen zu haben. Eine Chance, nicht seine Taten ungeschehen zu machen, jedoch das Band, das er zerstört hatte, langsam wieder aufzubauen.
 

~-~
 

Wenn man sein Leben lang von der regen Natur umgeben war, erschien der Anblick in Elympios wirklich surreal. Für Jude war der kahle, wüstenähnliche Anblick deprimierend und erdrückend. Zu sehen, dass neben seiner so blühenden Welt ein solcher Ort existiert – und er absolut nichts davon wusste. Zu denken, dass die Menschen hier nicht mit den Geistern zusammenleben, sondern sie für ihre Zwecke nutzen und dadurch unbeabsichtigt töteten, war jedoch mindestens genauso frustrierend. Schon seit sie in Elympios angekommen waren, versuchte Jude herauszufinden, was er tun könnte, um beide Welten retten zu können.
 

Das war jedoch nicht der Grund, weswegen er allein auf die Höhenstraße rausgegangen war. Balan hatte erzählt, er hatte sie irgendwo dort draußen gefunden. Er hatte die grobe Richtung im Kopf. Vielleicht würde er dort etwas finden. Ein weiteres Portal zurück nach Rieze Maxia womöglich.

Der Schwarzhaarige blieb kurz stehen, um die Umgebung etwas weiter in sich aufzunehmen. Steine, Felsen, vertrocknetes Gras.

So unwohl wie er sich hier fühlte und so leid wie ihm dieser Ort tat – so musste es auch seinen Kameraden gehen. Wenn er doch nur schnell einen Weg finden würde, wie die Anderen wieder nach Hause zurück kommen könnten. Sie waren zwar die ganze Zeit als Team gereist, doch er wollte nie jemanden so tief in die Angelegenheiten verstricken.
 

Entschlossen schritt er weiter in die Richtung, in der er glaubte etwas zu finden. Darauf bedacht, den vielen Monstern auszuweichen, schlich er näher an den Felswänden entlang.
 

Er wusste noch nicht, wie er das alles alleine schaffen sollte; falls er einen Weg finden würde, falls die Anderen ihm voraus gehen würden. Aber er wusste, dass er es versuchen musste. Seine Gedanken kreisten kurz um seine Freunde, um dann bei Alvin stehen zu bleiben. Der Ältere wollte sicher nicht zurück nach Rieze Maxia. Er hatte schließlich alles daran gesetzt, hier her zurück zu kommen. Damals jedoch noch mit seiner Mutter.

Vielleicht würde er doch zurück wollen... Um den leblosen Körper seiner Mutter irgendwo zu finden und ihn irgendwie hierher zu überführen..
 

Ein erdrückendes Gefühl machte sich in ihm breit. Daran hatte er bisher noch gar nicht gedacht. Alvin's Mutter war der Grund gewesen, weswegen er alles auf's Spiel gesetzt hat. Der Grund, Jude und die Anderen immer und immer wieder zu belügen.

Oder vielleicht wollte er auch noch einmal zurück an die Klippe. Zurück, um nach Presa's Körper zu suchen. Die beiden schienen sich wirklich gut verstanden zu haben. Sie war bestimmt auch einer der Gründe, die Alvin voran getrieben hatten. Was würde der Braunhaarige jetzt wohl tun, jetzt da er daheim war?
 

In seinen Gedanken gefangen war der Schwarzhaarige irgendwann stehen geblieben und hatte die Umgebung nicht mehr weiter beachtet. Erst, als er hinter sich Schritte vernahm, schreckte er auf. Schnell drehte er sich um und blickte drei fremden Männern entgegen.

„Da ist der Kerl!“ Mit einem Mal wusste Jude zwei Dinge ganz genau – erstens: er hatte sich in dieser fremden Gegend verlaufen. Und zweitens: die Fremden, die auf ihn zukamen, waren nicht zufällig hier.
 

Kurz vor ihm blieben sie stehen und sahen ihn finster an. „K-Kann ich Ihnen helfen?“ Alarmiert ging Jude noch einen Schritt zurück und besah sich schnell der Umgebung. Er befand sich an einer ziemlich ungünstigen Stelle, doch wenn er einen günstigen Moment abpassen könnte, könnte er schnell wegkommen.

Der Mann in der Mitte trug ein finsteres Grinsen im Gesicht. „Brauchst nicht eher du etwas Hilfe? Du scheinst dich verlaufen zu haben, wie?“ Jude schwieg; zuzugeben, nicht zu wissen wo er war, war beinahe wie dem Mann zu sagen, er käme nicht von hier. Nicht, dass seine Kleidung nicht schon verräterisch genug aussah. Angestrengt, so natürlich wie möglich zu antworten, entgegnete er ruhig: „Ich hab nur einen Moment lang nicht aufgepasst.“
 

„Habt ihr das gehört, Männer? Er hat nicht aufgepasst.“ Die beiden schweigsamen Männer hinter ihm begannen zu lachen; auch der vermeintliche Anführer lachte dunkel auf. Jude musste schwer schlucken. Der Mann kam einen Schritt auf ihn zu. „Ich glaube eher, dass du gar nicht weißt, wo du bist?“ Seine Augen blitzten gefährlich auf; Jude war sich in diesem Moment sicher, dass er es bereuen würde, wenn er nicht sofort wegkommen würde! Schnell wich er noch etwas zurück und setzte an, um an den 3 Männern vorbei zurennen. Normalerweise wäre er schnell genug, wäre da nicht ein lauter Knall zu hören gewesen. Wie versteinert blieb Jude stehen und spürte ein Brennen auf seiner Wange. Seine Augen starrten wie gebannt auf die Hand des Mannes. In dieser befand sich ein Gegenstand aus Metall; er hatte ein langes Zielrohr, aus dem ein kleines bisschen Qualm herauskam.

Seine Gedanken trugen ihn zurück nach Hamil. Als er in der Hütte saß und bereit war zu sterben. Als Alvin die Tür herein kam. Als er die Pistole auf ihn richtete. Als er kurz davor war, den Jüngeren zu töten. Jude würde den Knall dieser Waffen, den Aufschrei seiner Freundin aus Kindertagen, das Zittern der Hand des Braunhaarigen niemals vergessen.
 

Der Mann, der geschossen hatte, richtete die Waffe nun offen auf den Schwarzhaarigen. Das finstere Grinsen noch immer auf den Lippen. „An deiner Stelle würde ich mich ruhig verhalten.“

Jude spürte, wie sein Körper sich verkrampfte. Der Mann nickte seinen Komplizen zu, eher er sich wieder Jude widmete. Einer der beiden ging schnellen Schrittes hinter den Schwarzhaarigen, packte seine Arme und presste sie auf dessen Rücken. Der Andere zog ebenfalls eine Pistole hervor und richtete sie aus der Ferne auf den Schwarzhaarigen. Der Mann hingegen trat näher an Jude heran und presste den noch glühenden Lauf der Pistole auf Jude's Brust.

„Wir haben dich und deine Freunde beobachtet. Ihr seid von Rieze Maxia, nicht wahr?“ Ein weiteres Mal musste Jude schlucken. Die Angst, die in ihm aufstieg, versuchte er so gut es geht zu unterdrücken. „Hast du deine Zunge verschluckt?“ Der Druck auf seiner Brust wurde etwas verstärkt. Ernst blickte Jude dem Fremden direkt in die Augen. „Selbst wenn, wie kann das ein Verbrechen sein?“
 

Die Mundwinkel des Mannes fielen abrupt. Mit festem Griff umfasste er mit der freien Hand den Hals des Schwarzhaarigen. „Was war das? Du glaubst wohl, du bist was besseres, hä?“ Den Druck auf den Hals etwas verstärkend zischte er: „Ich hab die Aufgabe, euch Rieze Maxiannern eine Lektion zu erteilen, solltet ihr es wagen, hierher zu kommen!“

Jude fiel es schwer, Luft zu bekommen. Er versuchte seine Arme loszureißen, doch der Mann hinter ihm hatte ihn fest im Griff. Immer wieder sauste sein Blick kurz auf den Dritten im Bunde, der belustigt danebenstand und die Waffe auf Jude richtete, als wäre das alles ein Spiel. Als würde es hier nicht um ein Menschenleben gehen.

Als der Druck sich noch etwas verstärkte, trat Jude den Mann kräftig gegen sein Schienbein. Die bernsteinfarbenen Augen fest auf seinen Angreifer gerichtet. Dieser fluchte laut, bevor er die Hand löste. Einen tiefen Atemzug holend wurde der Druck auf den Hals mit einem dumpfen Schmerz in der Magengegend ersetzt; der Mann rammte Jude seine Faust in den Bauch.

Während dieser nach vorne kippte und vor seinem inneren Auge Sterne aufblitzen, lachte der Mann wieder finster auf. „Du hast echt Mumm, das muss ich dir lassen!“ Dann griff er das Kinn des Schwarzhaarigen und riss es hoch. Jude's Welt schien zu kippen. Es fiel ihm schwer, seine Augen auf das Gesicht des Mannes zu konzentrieren.
 

„Und ganz niedlich siehst du auch aus! Eigentlich genau mein Geschmack!“ Seine Hand schob sich an den Hinterkopf des Jüngeren, packte die Haare und riss sie nach hinten. Kurz musste Jude vor Schmerzen aufkeuchen. „Ich frage mich, was für Geräusche ich deinem schönen Hals noch so entlocken kann, Junge.“ Etwas bedrohliches, etwas lüsternes schwang in der Stimme mit. Jude konnte das kalte Metall der Pistole an seinem Hals spüren. Wie betäubt vor Angst und den Schmerzen sah er in die dunklen, kalten Augen des Mannes. Als dieser sich ihm entgegen beugte, kniff Jude die Augen zu.
 

Wieso war er nur alleine los gezogen?

Wieso war er nicht vorsichtig gewesen?
 

Als er den heißen Atem des Mannes an seinem Hals spüren konnte, wich er noch etwas zurück.

Wieso musste seine Reise auf diese Weise enden?
 

Ein leises Klicken ließ die Bewegung des Mannes stoppen. Und auch Jude's Atem stockte. Das Geräusch kam dem Jüngeren seltsam vertraut vor.

„Lass sofort die Finger von ihm!“ Die Stimme, die diese Worte zischte, hätte der Jüngere überall wieder erkannt; egal wie anders sie mit dem kalten, wütenden Unterton auch klang.Langsam öffnete er seine Augen wieder. Sein Blick fiel direkt auf Alvin. Alvin, der vor wenigen Sekunden noch nicht da war. Der seine Waffe fest auf die Schläfe des Mannes gepresst hatte. Die Waffe bereits entsichert hatte. Seine Augen waren dunkel und klein. Die sonst so lockeren Gesichtszüge angespannt.
 

Die Männer starrten den Söldner geschockt an. Der vermeintliche Anführer schluckte schwer, bevor auch seine Augen sich zu kleinen Schlitzen verengten. „Zisch ab, du Sack! Siehst du nicht, dass wir beschäftigt sind?“ Daraufhin presste Alvin die Pistole noch etwas mehr an die Schläfe und warf dem Mann hinter Jude einen finsteren Blick zu. Dieser zuckte zusammen; eher aus Reflex lockerte sich sein Griff an den Armen des Jüngeren. Dieser war jedoch immer noch damit beschäftigt, Alvin geschockt anzuschauen.
 

Wieso war der Braunhaarige hier?

Hatte er ihn gesucht?

Hatte er das alles mitbekommen?

Jude wusste plötzlich nicht mehr, was er schlimmer finden sollte.

Aber allein Alvin's Anwesenheit ließ ihn etwas ruhiger werden.
 

„D-Du Freak, wo kommst du denn her?“ Der Mann, der abseits stand, meldete sich zu Wort. Er begann zu zittern und konnte die Waffe nicht mehr still halten. Auch er schien Alvin vorher nicht bemerkt zu haben. Noch dazu war die Aura, die den Braunhaarigen umgab, wirklich düster und bedrohlich. Alvin ließ seinen Blick langsam zu dem Mann wandern und blickte ihn schweigend an. Die Drohung war klar in seinen Augen abzulesen.

Die Augen des Mannes weiteten sich und seine Hand begann noch mehr zu zittern. „V-Verschw-winde!“ Plötzlich streifte sein Finger den Abzug. Ein weiteres Mal prallte der Schall eines Schusses an den Felswänden ab. Jude hielt augenblicklich die Luft an. „Alvin....!“ Nur leise kam dem Jüngeren der Name seines Kameraden über die Lippen. Schockiert starrte er auf den Braunhaarigen, der sich nicht rührte. Sein Herz schien stehen zu bleiben. Sein Körper begann sich wieder vor Angst zu verkrampfen. Einen Moment lang sah er wieder Milla vor sich; wie ihr Körper zur Seite kippte und dann reglos auf dem Boden aufschlug. Ein Teil von ihm begann zu glauben, mit Alvin würde gleich dasselbe geschehen.
 

Dann sah er, wie Alvin's Hand langsam an seine Schulter wanderte. Fast wie in Trance. Die bernsteinfarbenen Augen folgten der Hand und konnten erkennen, dass der braune Mantel an einer Stelle einen Riss bekommen hatte, der sich langsam dunkel verfärbte. Ein Streifschuss.

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag spürte Jude eine Welle der Erleichterung. Als sein Blick dann wieder zu dem Mann wanderte, der geschossen hatte, und er sehen konnte, dass dieser Waffe erneut mit zitternden Händen auf den Söldner richtete, handelte Jude instinktiv. Mit einem Ruck riss er sich aus dem Griff des Mannes hinter ihm los und stürmte auf den letzten im Bunde zu. Dieser sah ihn, wirbelte mit der Waffe herum und richtete sie auf den Schwarzhaarigen. In dem Moment, in dem er abdrücken wollte, war Jude bereits vor ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Ein paar geschickte Treffer konnte er bei dem Fremden landen, ehe dieser sich von dem Schreck erholte.

Jude hatte ihn definitiv unterschätzt; sobald er wieder auf ihn losging, schnappte der Mann Jude's Faust. Mit einem geschickten Tritt riss er dem Schwarzhaarigen den Boden unter den Füßen weg und drückte ihn auf den Boden. Ein gedämpfter Schrecklaut kam ihm über die Lippen, als er den harten Aufprall auf dem Boden und das zusätzliche Gewicht auf ihm spüren konnte. Verzweifelt versuchte er den Kopf anzuheben. Angestrengt blickte er geradewegs zu Alvin. In dem Moment, in dem er den Augenkontakt mit dem Älteren herstellte, war es, als hätte sich in diesem ein Schalter umgelegt.
 

Der Braunhaarige zog seine Waffe zurück, jedoch nur um dem Mann vor ihm den Griff der Pistole mit voller Wucht gegen die Schläfe zu schlagen. Als dieser zu taumeln begann, stieß er ihn auf den Mann, der Momente zuvor den Schwarzhaarigen noch fest im Griff hatte.

Ehe der Mann, der Jude auf den Boden drückte, reagieren konnte, kam Alvin auf ihn zugehechtet. „Ich hab gesagt – lass die Finger von ihm!“ Die zuvor noch unterdrückte Wut schwang nun offen in seiner Stimme mit. Er packte den Mann am Kragen und zog ihn auf die Beine, Jude konnte nicht sehen, was genau Alvin mit ihm machte. Als der Mann jedoch bewusstlos neben ihm aufknallte, wusste er, dass es nicht angenehm gewesen war.
 

Gleich darauf packte Alvin den Jüngeren und zog ihn auf die Beine hoch. „Alles in Ordnung mit dir, Jude?“ Wie in Trance sah der Schwarzhaarige den Anderen an. Alvin's Blick war erfüllt von Wut, Zorn und Sorge; Sorge um das Wohl seines jüngeren Kameraden.

Erst jetzt spürte Jude, dass er am ganzen Körper zitterte. Damit beschäftigt, die Balance zu halten und nicht dem Drang nachzugeben, sich wieder auf den Boden fallen zu lassen, nickte er nur langsam. In seinem Kopf kreisten tausend Gedanken, doch keiner von ihnen fand einen Weg nach draußen. Seine Sicht war noch etwas verschwommen und er versuchte beschämt, den weiteren Augenkontakt mit seinem Retter zu vermeiden. Als er den festen Stoff von Alvin's Handschuh auf seiner Wange spüren konnte, zuckte er zusammen. Vorsichtig glitt Alvin's Finger bis zu der Wunde, die der Streifschuss hinterlassen hatte. Das Blut war bereits getrocknet, dennoch spürte Jude den stechenden Schmerz.

Sobald er vor Schmerzen zusammen gezuckt war, entfernte sich die Hand wieder von seiner Wange; dafür legte sie sich jedoch kurz auf seinen Kopf. Da konnte Jude spüren, dass auch Alvin zitterte. Ob es vor Wut war oder vor Sorge, das konnte der Schwarzhaarige nicht sagen.

Vorsichtig hob er den Blick wieder an; als er den Blick der rot-braunen Iriden wieder traf, war es, als würde sein Herz für einen kurzen Moment aufhören zu schlagen. Die Hand auf seinem Kopf strich kurz über seinen Kopf. Jude konnte sehen, wie der Braunhaarige die Lippen aufeinander presste und ihn weiterhin besorgt musterte. Sein Blick wich dann von den Augen des Jüngeren zu dessen Hals und blieb dort hängen.

Instinktiv griff nun auch Jude an seinen Hals. Wahrscheinlich war der Griff des Mannes noch deutlich zu erkennen.
 

„Jetzt kannst du was erleben!“ Der Aufschrei des Mannes ließ Jude zusammenzucken. Sein Körper schien noch mehr zu zittern als zuvor. Erst jetzt realisierte er, dass er diesen Männern ausgeliefert gewesen war; die Angst vor dem, was sie getan hätten, sowie die Angst davor, sterben zu müssen, traten jetzt erst in Jude's Bewusstsein ein.

Die warme Hand auf seinem Kopf verschwand. Alvin wand sich dem Fremden zu, stellte sich schützend vor Jude. Dann lief er auf den Mann zu, wich dessen Angriff geschickt aus und rammte ihm seine Faust in die Magengegend. Als der Mann mit einem lauten Aufkeuchen etwas nach vorn kippte, schlug er ihm ebenfalls mit dem Griff der Waffe auf den Hinterkopf. Den Fall des Mannes beschleunigte er dann noch durch einen geschickten Tritt in dessen Rücken.
 

Beim Anblick der Brutalität Alvin's wurde Jude mehr und mehr bewusst, dass er außer sich war vor Wut. „Alvin...“ Reglos beobachtete er, wie der Braunhaarige sich dem letzten der drei Männer zuwand; dieser hielt die Hand an seine Schläfe. Unter der Hand floss etwas Blut über sein Gesicht. Sein Blick war nun auch voller Panik, von dem finsteren Grinsen war nichts mehr zu erkennen.
 

„Nun zu dir!“ Er konnte Alvin's Stimme nicht mehr wieder erkennen. Der Mann war geübt darin, seine Gefühle zu kaschieren und der lockeren Unterton war immer etwas, was Alvin's Worte begleitet hatte. Davon konnte Jude nichts mehr hören.

Augenblicklich dachte er an die Nacht in Leronde zurück. Als er von seinem Vater geschlagen wurde und geknickt zum Gasthaus zurück gegangen war. Als der Ältere ihn sofort durchschaut hatte. Als Alvin wütend hinaus gestürmt war.
 

Den Mann am Kragen packen knallte Alvin ihn an die nahe gelegene Felswand. Dieser versuchte etwas von seiner Gelassenheit zurück zu erlangen, scheiterte jedoch kläglich daran. Mit einer Mischung aus Panik und Wahnsinn zischte er Alvin entgegen: „Wieso so wütend? Haben wir etwa dein kleines Spielzeug verletzt?“ Er bekam daraufhin keine Antwort, wurde jedoch noch einmal gegen die Felswand geschlagen. Ein kurzer Schmerzenslaut, ehe der Mann zu Lachen begann. „Was denn, wolltest du dich etwa mit dem Kleinen vergnügen? Da bin ich dir wohl etwas zuvor gekommen, wie?“

„Du Dreckskerl!“ Jude konnte es deutlich erkennen; Alvin war wirklich außer sich. Er schlug dem Mann ins Gesicht, packte ihn wieder am Kragen, nur um ihm ein weiteres Mal die Faust ins Gesicht zu rammen. So sehr, dass der Mann zu Seite kippte. Der Braunhaarige packte ihn erneut am Kragen, zog ihn etwas in die Luft, nur um dann wieder mit voller Wucht zuzuschlagen.
 

Je länger Jude es mit ansah, umso mehr schreite in ihm der Impuls auf, Alvin zu stoppen. Nicht, dass die Fremden es nicht auch verdient hätten. Doch wenn er den Braunhaarigen nicht aufhalten würde, würde dieser einen weiteren Menschen töten. Und der Schwarzhaarige war sich sicher, dass Alvin sich dies nicht verzeihen würde.

Mit wackligen Knien ging der Schwarzhaarige einen Schritt nach vorne. Seine Sicht war noch immer verschwommen und er drohte zur Seite zu kippen. Schnell genug bei Alvin sein konnte er nicht. Viel Zeit blieb ihm jedoch auch nicht mehr. Ein verdächtiges Knacken vom Körper des Mannes hallte plötzlich durch die Luft. Schwer atmend lag der Mann auf dem Boden und sah direkt nach oben, in den Lauf von Alvin's Pistole. Dieser führte den Finger bereits an den Abzug, mit einem Blick, den Jude zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte.
 

„Alvin, nicht!“
 

Der Braunhaarige zuckte zusammen. Jude griff sich an die Brust, als er sah, dass der Andere tatsächlich inne hielt. Ihm war so, als würde er neben seinem vor Panik rasenden Herz noch einen zweiten Herzschlag spüren können. Ganz langsam dämmerte ihm, dass er wohl aus Versehen eine Verbindung beider Lilium Orbs hergestellt hatte. Genau wie in jener Nacht in Leronde.

Wie betäubt ließ Alvin die Waffe sinken und blickte Jude kurz entgegen, ehe er den Blick zur Seite weichen ließ. Der ehemalige Medizinstudent spürte in diesem Moment genau, was in Alvin vor sich ging. Erschlagen von den vielen Gefühlen schleppte er sich mühselig zu dem Braunhaarigen.
 

Der Mann unter Alvin hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Der Schwarzhaarige konnte von Nahem noch genauer den Schaden erkennen, den der Braunhaarige angerichtet hatte; seinetwegen.

Jude blieb vor Alvin stehen, wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Sein Herz schlug nun noch schneller.

Mit einem frustrierten Laut unterbrach Alvin die Verbindung der beiden wieder. Den Kopf noch immer zur Seite gedreht.
 

Für einen Moment blieben beide reglos stehen. Dann hob Jude langsam seine Hand und griff nach der des Anderen. Dieser zuckte kurz zusammen, weigerte sich aber immer noch, den Augenkontakt wieder herzustellen. Schweigend verstärkte Jude den Druck etwas, ehe er loslief und Alvin mit sich zog.

Er wusste nicht genau, wo er war. Oder wohin er musste, um nach Trigleph zurück zu finden. Aber er wollte weg; weg von diesem Ort, den Ereignissen, den tausend Gefühlen und Gedanken, die sich in ihm überschlugen. Also lief er auf den nahegelegenen Weg, Alvin mit sich ziehend.
 

~-~
 

Noch immer zitterte die Hand des Söldners unentwegt. Sein ganzer Körper war angespannt. Er wusste nicht, wie er jetzt noch mit der Situation umgehen sollte. Allmählich schämte er sich dafür, so die Kontrolle verloren zu haben. Erklären konnte er es sich auch nicht wirklich; der Moment, als er sah, wie der Fremde Mann Jude behandelte, war das letzte, woran er sich richtig erinnern konnte. Das Adrenalin, das seither ununterbrochen sein Handeln geleitet hatte, hatte ihn teilweise seine Umgebung vergessen lassen. Seine Hand schmerzte von den Schlägen; nicht so sehr jedoch wie der Frust, so sehr die Kontrolle verloren zu haben. Nicht schon eher zur Stelle gewesen zu sein. Jude nicht richtig beschützt zu haben.
 

Den Fremden zu töten, einfach eine Kugel in seine hässliche Visage zu schießen, war Alvin nicht fremd gewesen. Doch als sein Lilium Orb sich mit dem des Jüngeren verbunden hatte und er dessen Angst gespürt hatte, kam er sofort in die Realität zurück.

Beschützen wollte er den Anderen, nicht ihm Angst einjagen.
 

Nicht, dass die Situation zwischen den beiden schon angespannt genug wäre.
 

Jude lief noch immer langsam geradeaus, blickte nur auf den Weg vor sich. Seine Hand umklammerte jedoch immer noch die des Braunhaarigen.
 

Wieso sagte er nichts?

Hasste er ihn jetzt womöglich noch mehr?
 

Alvin blieb stehen. Für einen kurzen Moment zog der Kleinere an seiner Hand. Dann blieb auch er stehen. Sein Blick war jedoch noch immer nach vorne gerichtet.

Alvin hielt das nicht aus. Er war noch viel zu angestachelt vor Wut, um jetzt einfach so zu Schweigen.

„Was ist los? Sonst bist du doch auch nicht so schweigsam?“ Die Schultern des Kleineren zogen sich angespannt zusammen. Doch keine Reaktion kam von ihm.
 

Der Frust in Alvin wurde immer nur schlimmer. Er riss seine Hand los und wich einen Schritt zurück. „Passt es dir nicht, dass ich es war, der dich gerettet hat?“ Der schwarze Haarschopf senkte sich etwas. Noch immer keine Reaktion. Alvin wusste nicht, was er tun sollte.
 

„Ich weiß ja, dass du mich hasst.. Du kannst auch gern schonmal vorausgehen.“ Der Kleinere schwieg noch immer. „Keine Sorge, ich-“ Als eine ihm vertraute Wärme ihn durchfloss, verstummte Alvin erneut. Ein weiteres Mal hatten die Orbs der beiden Kämpfer sich verbunden; doch dieses Mal konnte er sie noch viel deutlicher hören als zuvor. Die Angst, die den Schwarzhaarigen fest im Griff hatte.

Erst jetzt bemerkte er die bebenden Schultern des Jüngeren.
 

„Wie kannst du so etwas sagen?“, flüsterte Jude kaum hörbar. Noch immer war sein Blick auf den Boden gerichtet.

„Spürst du es nicht?“ Er ballte die Hände zu Fäusten. Alvin konnte ihn nur fassungslos anstarren. „Ich kann noch nicht einmal richtig verstehen, was gerade passiert ist...!“ Das beklemmende Gefühl in seiner Brust – war es etwa, weil er die Angst und Trauer des Anderen spüren konnte?

„Dieser Ort, diese Leute – alles ist so fremd und anders.. und dann passiert auch noch so etwas...“ Jude's Stimme brach kurz ab. Der Kleinere musste Luft holen. Alvin konnte jedoch genau spüren, wie zerbrechlich er genau in diesem Moment war. Wie nah er den Tränen war.
 

Langsam – als würde eine schnelle Bewegung die Verbindung zwischen den beiden zerstören können – trat Alvin näher an ihn heran. „Soll ich jetzt einfach so tun, als sei nichts gewesen?“

Einen weiteren Schritt ging er auf den Schwarzhaarigen zu. Sein eigener Herzschlag hatte sich inzwischen beruhigt und auch seine Wut schien endlich abzuschwächen.

Sanft legte er eine Hand auf Jude's Schulter, drehte den Kleineren zaghaft zu sich um. Dieser hatte den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. Etwas unbeholfen hielt Alvin kurz die Luft an. Er wusste nicht genau, was er tun sollte; oder eher, welches Verhalten in diesem Moment angebracht wäre. Er tat das einzige, was ihm direkt in den Sinn kam.
 

Langsam löste er die Hand von der Schulter des Anderen, um sie auf dessen Kopf abzulegen. Dann begann er, die Hand sanft über diesen gleiten zu lassen, die Finger durch die schwarzen Haare gleitend. Der Kleiner war noch immer angespannt, doch Alvin konnte spüren, dass sein Herz sich durch die simple Handlung etwas beruhigte. Nichts desto trotz fühlte der Braunhaarige sich komisch dabei; war so etwas überhaupt angebracht? Müsste er sich dafür schämen? Und wieso schlug sein eigenes Herz plötzlich wieder zehn mal schneller?
 

Einen Moment verharrte er so, ehe er seine freie Hand vor gleiten ließ. Schnell hatte er die Hand des Jüngeren gefunden und nahm diese in die seine. Kurz wartete er ab; sollte es dem Anderen unbehaglich werden, würde er dies spüren können.

Ohne Vorwarnung ließ Jude seinen Kopf nach vorne gegen die Brust des Älteren fallen. Dieser war sofort alarmiert. „Woah, Jude, alles okay?“ Besorgt wollte er ihn erst von sich weg schieben, als er erneut inne hielt. Der Angesprochene nickte langsam, ehe er murmelte: „Danke, Alvin...“
 

Mehr nicht. Danach begannen seine Schultern noch mehr zu zittern und er klammerte sich mit seiner Hand in Alvin's Mantel fest. Alvin wurde bewusst, was mit Jude los war. Doch er sagte nichts.

Die Hand, die auf dem schwarzen Haarschopf gelegen hatte, legte der Söldner auf den Rücken des Jüngeren. Sanft strich er darüber und wartete, bis der Jüngere sich wieder beruhigt hatte.
 

Währenddessen lagen ihm durch die Verbindung alle Gefühle Jude's offen, die der Jüngere nicht in Worte fassen konnte. Er spürte, dass er noch immer Angst hatte, dass er die Ereignisse nicht so schnell vergessen konnte. Doch auch große Erleichterung darüber, dass Alvin ihn aus der Lage gerettet hatte; vielleicht auch, dass Alvin nicht verletzt wurde, oder dass er den Fremden nicht getötet hat.

Aber vor allem spürte er, dass der Kleinere ihm noch immer vertraute – nach allem, was er ihm angetan hatte. Vertrauen, tiefe Verbundenheit, beschützt zu sein, kein Hass.
 

Vergebung.

Alvin's Augen füllten sich mit einer salzigen Flüssigkeit. Er blinzelte, damit die Tränen nicht ihren Weg nach draußen fanden.

Er hatte ihm schon wieder vergeben.
 

~-~
 

Als Trigleph wieder in Sicht kam, ging die Sonne bereits unter. Alvin und Jude hatte solange zusammen mitten in der Einöde gestanden, bis der Jüngere aufgehört hatte zu zittern – vermutlich auch zu weinen. Alvin hatte ihre Hände miteinander verflochten. Sanft hatte er mit seinem Daumen über die Hand des Jüngeren gestrichen, bis dieser sich beruhigt hatte. Und auch jetzt strich er noch kleine Kreise über die Hand.

Die Verbindung war noch immer vorhanden; Alvin hatte jede der tausend Emotionen gespürt, die den Jüngeren durchquert haben. Er war sich sicher, dass das seit sie sich kannten der zweite Moment war, in dem er Jude wirklich gesehen hatte; ohne die Maske, die der Schwarzhaarige sich selbst aufgesetzt hatte.

Dass der Schreckmoment und die Panik der Ereignisse langsam wichen, konnte er auch deutlich spüren. Alvin spürte ebenfalls, wie unangenehm dem Jüngeren die ganze Sache war. Angestrengt überlegte er, wie er den Kleineren beruhigen konnte, ohne nochmals auf das Thema einzugehen.
 

„Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an, wieder hier zu sein.“, unterbrach der Ältere schließlich die Stille. Aus den Augenwinkel heraus konnte er sehen, wie der Schwarzhaarige den Kopf anhob, ihn erwartungsvoll ansah. „Die ganze Zeit wollte ich hier her zurück. All die Jahre träumte ich davon, nach Hause zu gehen. Aber jetzt, wo ich endlich hier bin, hab ich nicht mehr das Gefühl, hier hin zu gehören.“

Wieso gerade dieses Thema die Situation entspannen sollte, wusste der Braunhaarige auch nicht. Aber er ertrug das Schweigen nicht mehr; außerdem konnte er so vielleicht-
 

„Vielleicht liegt dein Zuhause einfach woanders.“ Alvin erschrack beinahe beim Klang der Stimme des Anderen. Als er seinen Kopf drehte, traf sein Blick den Jude's. Die sonst strahlenden bernsteinfarbenen Augen erschienen müde und erschöpft. Doch es lag auch ein Funken Ehrlichkeit in ihnen. Sanft drückte der Jüngere Alvin's Hand, ehe er ihm ein kleines Lächeln schenkte. „Vielleicht musst du einfach nur den Platz finden, an den du wirklich gehörst.“
 

Sein Herzschlag wurde etwas schneller und ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Den Blickkontakt aufrecht erhaltend drückte Alvin ebenfalls die Hand des Jüngeren. Wie konnte der Schwarzhaarige es nur immer wieder schaffen, die richtigen Worte zu finden? Das war dem Söldner schon immer ein Rätsel gewesen.
 

Er erinnerte sich wieder an den Tag, an dem sie sich kennen lernten; als er Jude vor den Soldaten beschützt und aus seinem vertrauten Umfeld gezerrt hat. Als er den geknickten Schwarzhaarigen auf dem Schiff betrachtet hat und sein schlechtes Gewissen sich das erste Mal in ihm gemeldet hatte.

„Weißt du... Von dem Tag an, an dem ich dich auf das Schiff gebracht hab... Hatte ich mir vorgenommen, dich nach Fenmont zurück zu bringen.“ Wieso er gerade das dem Jüngeren sagte, wusste er selbst nicht. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass es richtig war; so richtig wie das Gefühl von Jude's Finger, die neben seinen lagen, oder von ihren Händen, die sich nicht los ließen.

Jude's Augen weiteten sich; er starrte Alvin an, als sei dieser von einer anderen Welt. „Wa-“ „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht hätte, wenn ich vorher schon nach Elympios zurück gegangen wäre. Aber es war immer mein Ziel, dich wieder heil nach Fenmont zu bringen.
 

Der Herzschlag des Anderen wurde schneller. Sobald Alvin dies bewusst wurde, brach der Schwarzhaarige die Verbindung der Lilium Orbs ab. Sein Kopf drehte sich zur Seite, doch Alvin konnte trotzdem die rötlich gefärbten Wangen des Anderen erkennen. Das Kribbeln in seinem Bauch verstärkte sich nur noch mehr, als die beiden schweigend die Stadt betraten.

Kapitel 03

Der Mond schien hell auf das dunkle Meer. An der Oberfläche spiegelten sich die Sterne, ehe sie von den Wellen, die das Schiff verursachte, wieder verschwammen. Eine kühle Brise schlug dem jungen Schwarzhaarigen entgegen. Die bernsteinfarbenen Iriden auf den Horizont gerichtet, stütze er sich auf der Reling ab. Er wusste, dass er Fenmont noch mitten in der Nacht erreichen würde. Doch irgendwann würde dann dort die Sonne aufgehen.

Wie mag Fenmont wohl bei natürlichem Tageslicht aussehen?
 

Er dachte zurück; zurück an die Weltenkreuzung, an den Kampf gegen Gaius und Muzét, an Maxwell und an Milla. Wie Maxwell das Schismas verschwinden ließ und Milla seinen Platz als Herr der Geister einnahm. Ein leiser Seufzer kam über die Lippen des Schwarzhaarigen.
 

Nachdem sie alle wieder zurück auf der Heiligkuppe in Nia Khera waren, erschien alles wie in einer Trance. Eine zeitlang stand Jude nur an der Klippe und starrte vor sich hin. Sie waren so lange miteinander gereist. Sie hatten alle so hart gekämpft. Und mit einem Mal war alles vorbei; Milla war weg und die Welt war befreit vom Schismas.

Erst, als Elize Jude's Hand ergriff und ihn etwas mit sich zerrte, bewegte er sich wieder. Zusammen Gingen sie zum Lakutam Hafen. Als sie dort ankamen, wusste jeder, dass es Zeit war, sich voneinander zu verabschieden Zuerst legte das Schiff nach Leronde ab. Leia umarmte alle zum Abschied. Als Jude ihr in die Augen sah, konnte er sehen, wie sie krampfhaft mit den Tränen zu kämpfen hatte. Stark wie sie war – oder sich oft gab – schenkte sie ihm ein Lächeln. „Vergiss nicht dich zu melden, ja?“ Er wusste, dass sie ihn genau durchschaute; doch auch er spürte, dass die ganze Situation ihr zu schaffen machte. „Das werde ich.“
 

Als nächstes das Schiff Richtung Sapstrath Hafen. Elize ließ den Kopf hängen und auch Teepo war erstaunlich ruhig. Mit einer Hand presste sie ihn an sich, während Rowen ihre freie Hand hielt. Mit einem traurigen Lächeln betrachtete er das jüngste Mitglied. „Ich werde Miss Elize sicher nach Sharilton bringen.“ Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen, als er den Schwarzhaarigen und den Braunhaarigen ansah. „Passt gut auch euch auf.“

Bevor sie das Schiff betraten, hob Elize den Blick an. Ihre Augen waren rot und sie sah erschöpft aus. Teepo flog etwas hoch, nur um dann wieder von ihr an ihre Brust gedrückt zu werden. „Sehen wir uns denn wieder?“ Ihre Stimme war leise. Jude spürte einen Kloß in seinem Hals. Sie war so jung und die ganze Zeit so tapfer gewesen. Er beugte sich zu ihr und strich ihr über den Kopf. „Natürlich, Elize.“ Ihr trauriger Blick wich einem kleinen Lächeln. Teepo flog ein weiteres Mal hoch. „Hoffentlich so schnell es geht!“
 

Das letzte Schiff nach Fenmont segelte am Abend los. Sich von allen zu verabschieden war seltsam. Noch immer kam es Jude vor wie ein Traum. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass Alvin ihn nach Fenmont begleiten würde.

Obwohl die Stimmung beider recht angeschlagen war, hatten sie sich den ganzen Tag über bemüht, so normal wie möglich zu sein. Doch als Jude dann in dem Bett in der Schiffskajüte lag, starrte er rastlos an die Decke. Solange, bis er beschloss, nach draußen zu gehen.
 

Gedankenversunken rieb Jude sich die Arme, um wieder etwas wärmer zu werden.

Was die Anderen wohl gerade tun würden? Er rief sich die Gesichter seiner Kameraden vor Augen. Leia würde sicher aufgeregt mit ihren Eltern reden. Bis spät in die Nacht hinein. Rowen würde bestimmt an einem der Fenster in Driselle's Villa stehen und nachdenklich nach draußen sehen. Und Elize würde sicherlich bereits schlafen. Und Milla... Was würde Milla wohl tun?
 

Seine Gedanken wurden von einem warmen Gegenstand unterbrochen, der an seine Wange gepresst wurde. Erschrocken riss er die Augen auf und drehte den Kopf. Der warme Gegenstand wurde schnell zurückgezogen. Erst, als Jude's Augen auf ihn fielen, erkannte er, dass es eine Tasse war. Aus ihr stieg warmer Dampf empor. Langsam glitt sein Blick von dem Henkel der Tasse über die Hand zu den rotbraunen Augen, die ihm amüsiert entgegen blickten. „Vorsicht, die Tasse könnte dich verletzen.“ Der belustigte Unterton ließ ein kleines Lächeln auf den Lippen des Schwarzhaarigen erscheinen. „Das nicht, aber irgendwann bekomm ich noch einen Herzinfakt, wenn du dich immer so anschleichst.“

Mit einem Grinsen und einem Schulterzucken überreichte Alvin Jude die Tasse. „Ich hab mitbekommen, dass du schon eine ganze Weile draußen bist und... Da dachte ich, ich bring dir was Warmes – einfühlsam wie ich bin“ Das Grinsen war ansteckend und Jude lachte kurz leise auf. „Danke, Alvin.“ Beide Hände an die Tasse gedrückt fühlte er die Wärme seine Finger durchströmen.
 

Der Braunhaarige trat neben ihn und lehnte sich mit dem Rücken an die Reling. Schweigsam führte er seine eigene Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. Auch Jude wand sich wieder um und stützte sich wieder mit den Ellbogen an der Reling ab. Einen Moment drehte er die warme Tasse in seinen Händen, ehe er ebenfalls einen kleinen Schluck trank. Die warme Flüssigkeit breitete sich in seinem Hals aus. Das angenehm warme Gefühl wanderte in seinen Bauch und ein zufriedenes Lächeln fand seinen Weg auf seine Lippen.

Schweigend betrachtete er wieder die Wellen, die von dem Schiff ausgingen. Auch Alvin schwieg und legte seinen Kopf in den Nacken. Es dauerte nicht lange, da glitten Jude's Gedanken wieder ab. Diese kleinen, angenehmen Momente zwischen ihm und dem Älteren würden nun wahrscheinlich auch ein Ende finden. Wie würden wohl die nächsten Tage aussehen? Zurück im Alltag, ohne all seine Freunde - und besonders ohne den Braunhaarigen? Das erinnerte ihn daran...
 

Sein Blick glitt langsam vom Meer zur Seite, wo der Braunhaarige stand.

Er wusste gar nicht, was Alvin als nächstes tun wollte...

„Was ist? Seh ich im Mondschein denn so umwerfend aus?“ Alvin's nachdenkliche Gesicht lockerte sich augenblicklich, als er bemerkte, dass Jude ihn anstarrte. Das übliche, spielerische Grinsen umspielte seine Lippen. Jude verdrehte nur die Augen. Aus Reflex stieß der Schwarzhaarige sich mit einer Hand von der Reling ab und setze bereits einen Fuß nach hinten, als der Braunhaarige schnell reagierte und den Arm in alter Gewohnheit um die schmalen Schultern des Jüngeren legte. Er zog Jude wieder etwas näher an sich heran und sein Grinsen schien noch etwas breiter zu werden. Dann beugte er sich zu dem Schwarzhaarigen herunter und hauchte ihm ins Ohr: „Oder bist du etwa dabei, dich in mich zu verlieben?“
 

Prompt stieg Jude die Röte ins Gesicht; Alvin's Atem direkt an seinem Ohr, die Wärme, die von ihm ausging und nicht zuletzt die Worte, die er dem Jüngeren gerade zugeflüstert hatte, ließen seinen Herzschlag ansteigen. Sein Hals wurde trocken und er begann kurz zu stottern. „D-Das wünscht du dir wohl!“ Sein Blick wich zur Seite, als könne er der Situation so entkommen. Die Nähe des Anderen war ihm vertraut, dennoch ließ sie ihn noch immer erstarren.
 

Er schien nicht sehr überzeugend zu klingen – er würde damit noch nicht einmal sich selbst überzeugen können!

Auch das Grinsen des Braunhaarigen schien noch etwas breiter zu werden. Jude war sich sicher, dass er das heiße Getränk nicht mehr benötigte, da sein Kopf zu glühen schien. „Autsch, wieder einmal die kalte Schulter!“, sagte Alvin. Die vertrauten Worte zauberten ein kleines Grinsen auf die Lippen des Jüngeren und er entspannte sich automatisch wieder etwas. Dies war einer der Momente, die er wahrscheinlich am meisten vermissen würde.
 

Normalerweise hätte Alvin inzwischen bereits seinen Arm weggezogen; es mit einem Grinsen oder ähnlichen Kommentaren dabei belassen. Doch es schien, als hätte er nicht so schnell vor, in seine Gewohnheit zu verfallen. Stattdessen trat er einen kleinen Schritt näher an den Schwarzhaarigen, um bequemer zu stehen.

Die bernsteinfarbenen Augen wanderte erneut zu dem Gesicht des Älteren. Als sich ihre Blicke trafen, schenkte Alvin ihm ein kleines, ehrliches Lächeln, eher er seinen Blick in die Ferne wandern ließ.

Die Frage, wieso sein Blick augenblicklich so nachdenklich und traurig wirkte, lag Jude auf den Lippen. Doch kannte er den Braunhaarigen wirklich gut genug, um diese Emotionen an ihm erkennen zu können?
 

Sein eigener Blick glitt ebenfalls wieder in die Ferne.

Ja, er würde Alvin vermissen.

Er würde das Gewicht der Hand des Anderen auf seiner Schulter, die Nähe, den Geruch – einfach alles an ihm vermissen.

Doch er würde es niemals zugeben können.
 

Sein Herz schlug noch einen Takt schneller, als er sich plötzlich ein kleines bisschen an den Älteren drückte. „Wirst du mir schreiben?“, flüsterte Jude kaum hörbar. Der Arm um ihn schien ihn daraufhin jedoch etwas fester an Alvin zu drücken. Er konnte spüren, wie der Söldner mit dem Kopf nickte. Er schluckte kurz. „Sehen wir uns wieder?“

Sein Blick glitt ein weiteres Mal zur Seite und traf den Blick der ihm so vertrauten rotbraunen Augen. Wie schon so oft fand er nicht mehr die Kraft, dem Blick auszuweichen und seine Knie schienen leicht zu zittern. Die Ehrlichkeit und Hoffnung, die in den Augen des Braunhaarigen lagen, brannten sich tief in Jude's Herz ein.
 

„Ja.“
 

~-~
 

„Vielen Dank, Dr. Mathis.“ Mit einem freundlichen Lächeln nickte Jude seiner Patienten zum Abschied noch einmal zu. Als die Tür ins Schloss fiel und der Schwarzhaarige wieder alleine in seinem Behandlungszimmer war, entkam ihm ein lauter Seufzer.

Seine Rückkehr in den Alltag war schneller gekommen, als ihm lieb gewesen war. Neben seinen regulären Kursen und Patienten musste Jude den ganzen verpassten Stoff noch nachholen. Die Wiederaufnahme des Studiums wurde kritisch beäugt und er fühlte sich mehr unter Druck gesetzt als zuvor. Natürlich bekam er auch die ganzen Leute mit, die an seinen Thesen über die Spyriten zweifelten. Ebenso wie es einige wenige gab, die herum erzählten, er sei an dem Tod von Dr. House Schuld. Bei dem Gedanken an sein momentanes soziales Umfeld, stieß er einen weiteren, lang gezogenen Seufzer aus.

Die Patientenakte fertig ausgefüllt legte er auf einen Stapel auf den Tisch. Automatisch wanderte die nächste Akte in seine Hand, während sein Blick die Uhr streifte. Er hatte noch 7 Minuten, bis sein nächster Patient eintreten würde. Nachdenklich wanderte seine Hand zu seinem Kopf, ehe er eines seiner Lehrbücher aufschlug, um weiter den verpassten Stoff nachzuholen. Er konnte Prinn's Stimme in seinem Kopf hören, wie sie ihn dazu aufforderte, wenigstens zwischen den Patienten eine Pause einzulegen; wie sollte er allerdings sonst den verpassten Stoff nachholen?
 

Die vielen unnötigen Gedanken abstreifend begann er konzentriert die nächste Passage zu lesen. Das Dröhnen in seinem Kopf sowie die Müdigkeit verdrängte er gekonnt. Erst das Geräusch der Tür, die wieder ins Schloss fiel, ließ ihn wieder in die Realität zurückkehren. Sein Blick wich kurz zur Seite; die schwarzen Haare verhinderten jedoch einen kurzen Blick auf den Patienten. „Einen Augenblick bitte.“ Schnell las er die Passage zu Ende, ehe er das Buch wieder zuschlug und die Patientenakte öffnete. Schnell glitten seine Augen über Name, Geschlecht, Alter und die üblichen Krankheitsvorfälle. „Also, Herr Matten, wie geht es ihrem Knie denn heute? Haben Sie noch immer Schmerzen?“

Während er sprach, legte er die Akte wieder auf den Tisch und drehte sich in seinem Stuhl zu seinem vermeintlichen Patienten um. Als sein Blick jedoch nicht den alten Mann traf, der ihm von seinen letzten Besuchen so vertraut war, sondern auf eine ihm nur allzu bekannte Person, blieb Jude kurz der Mund vor Verwunderung offen stehen.
 

„Ich weiß ja nicht, letztes Mal ging es meinem Knie noch ganz gut. Aber meine Füße tun etwas von dem weiten Weg weh. Ich glaube, eine Massage wäre nicht schlecht.“ Die rotbraunen Augen blitzten amüsiert auf. „Alvin?“ Halluzinierte der Jüngere bereits? Verwirrt rieb er sich kurz die Augen, teilweise darauf vorbereitet, dass der gebrechliche alte Herr Matten auf der Liege saß. Doch die Gestalt blieb unverändert. Die braunen Haare zurück gegelt, der Mund ein breites Grinsen, der Blick durchdringend und geradlinig. „ Was, kein 'ich freue mich, dich zu sehen'?“

Der Braunhaarige saß lässig auf der Liege, die Hände hinter sich, um sich abzustützen.

Ganz langsam sickerte die Tatsache, dass der Ältere vor ihm saß, in Jude's Bewusstsein. Während sein Herz begann, etwas schneller zu schlagen, erinnerte er sich daran, dass er gerade an diesem Morgen den Brief des Braunhaarigen gelesen hatte – in dem kein Wort von seinem überraschenden Erscheinen gestanden hatte!

Die Überraschung und die aufkommende Nervosität wichen jedoch dem ansteckenden Grinsen des ehemaligen Söldners und ein sanftes Lächeln fand seinen Weg auf Jude's Lippen. „ Natürlich freue ich mich! Aber was machst du hier? Und was ist mit meinem Patienten?“ „Also so wie ich das sehe, bin ich jetzt dein Patient. Und ich gehe erst, wenn diese Schmerzen aus meinen Füßen verschwunden sind.“, entgegnete Alvin mit einem Zwinkern.
 

Gespielt verärgert verdrehte Jude die Augen. Diese Geste brachte den Braunhaarigen zum Lachen. „Nein, Spaß beiseite.“ Und mit einem Mal wurde der Blick des Älteren ernst. „Elize schickt mich. Sie hat mir verraten, dass sie bei ihrem letzten Besuch mitbekommen hat, dass du zu viel arbeitest.“ Jude zuckte kaum merklich zusammen, als er das hörte. Elize's letzter Besuch lag noch nicht lange zurück; und in der Tat hatte sie mitbekommen, wie Jude arbeitete. Am Ende hatte Jude sie wohl auch vertrieben, weil er einfach nicht von seinen Büchern ablassen konnte. Er dachte sich schon, dass das nicht ohne Konsequenzen bleiben würde.
 

Aber dass sie damit ausgerechnet zu Alvin gehen würde, hätte er nicht erwartet.
 

„Und Prinn hat mir auch verraten, was du hier treibst. Lernst du etwa wirklich zwischen deinen Patienten?“ Verlegen führte der Schwarzhaarige seine Hand an seinen Nacken. „Irgendwie muss ich das alles ja unter einen Hut bekommen...“ Zustimmend brummelte Alvin, während er sich aufrichtete und die Arme vor der Brust verschränkte. „Das dachte ich mir schon.“ Einen Moment schwiegen die beiden, ehe Alvin aufstand. „Deswegen hab ich auch mit Prinn gesprochen--“ Er blieb vor Jude stehen und schenkte dem Jüngeren ein freches Grinsen. „--und sie davon überzeugt, dass sie sich um deine restlichen Patienten kümmert.“ Ein weiteres Mal stand Jude der Mund vor Verwunderung offen. Erschrocken sprang er auf. „Was? Aber Alvin, das--“ „Geht nicht?“ Sofort legte Alvin seinen Arm um den Kleineren und zog ihn zu sich ran. Augenblicklich vernahm Jude den ihm so vertrauten Geruch. Hätte er den Geruch des Älteren beschreiben müssen, hätte er ihn als fein holzig, sowie animalisch mit einer leichten fruchtigen Frische bezeichnet; wie der weiße Moschus.

Die Wärme des Braunhaarigen vermischt mit der Wärme, die sich in Jude's Inneren ausbreitete, ließ die Anspannung in ihm etwas verfliegen. „Komm schon, ich will den Weg von Xian Du bis hierher nicht umsonst gemacht haben! Außerdem ist Prinn auch der Meinung, dass du dir ruhig mal einen halben Tag Pause gönnen kannst!“ „Ich weiß nicht... Ich hab wirklich--“ „Wahnsinnig viel zu tun? Ich weiß. Aber wann war denn das letzte Mal, dass du eine richtige Mahlzeit zu dir genommen hast?“

Ertappt ließ er die Worte verstummen, die ihm bereits auf der Zunge gelegen hatten. Tatsächlich hatte auch seine Ernährung unter dem Stress der letzten Wochen gelitten. Wäre Prinn nicht da, um ihm regelmäßig sein Mittagessen zu bringen, wäre er sicher bereits verhungert. „Woher... Hat dir Prinn das etwa erzählt?“ Überrascht zog der Braunhaarige eine Augenbraue nach oben. „Nein. Aber ich kenne dich; und ich erinnere mich daran, dass Leia dich oft genug zum Essen ermahnen musste.“ Der Gedanke daran, dass Alvin mitbekommen hat, dass Jude gerne mal seine Gesundheit oder Ernährung vernachlässigte, ließ die Schamesröte in sein Gesicht aufsteigen. Erst, als der Druck des Armes auf seiner Schulter kurz fester wurde, blickte er auf und traf den Blick des Älteren. Sofort fühlte er sich wieder zurückversetzt zu ihrer gemeinsamen Reise; als wenn die letzten Wochen getrennt voneinander nie vergangen wären.

„Komm schon. Ich hab von diesem Restaurant hier gehört, das echt gut sein soll. Ich lad dich ein.“ Etwas sanftes lag in den rotbraunen Augen und Jude konnte nicht mehr widerstehen. Mit einem Seufzer schob Jude sich – langsamer als er es zugeben wollte – aus dem gewohnten Griff heraus. „Na gut. Lass mich die restlichen Patientenakten nur noch zu Prinn bringen.“ Ehe er seinen Worten jedoch Taten folgen lassen konnte, hatte Alvin ihm die Akten bereits weggeschnappt. Das legere Grinsen und ein Augenzwinkern folgten, ehe er die Tür öffnete und darauf wartete, dass Jude den Raum verlassen würde. Langsam wurde Jude die Angelegenheit doch peinlich und er lief schnell an Alvin vorbei, ehe sein Gesicht noch rötlicher werden konnte.
 

~-~
 

Bei dem Gedanken daran mit Alvin etwas Essen zu gehen, war Jude erst skeptisch gewesen; Nervosität hatte sich mit der Erschöpfung der letzten Wochen vermischt und schien wie ein Fels in Jude's Magen gelegen zu haben. Doch nur wenige Minuten an dem Tisch zusammen mit dem Älteren und Jude's Nervosität war wie weggeblasen; Alvin's gewohnte Art und seine Witze hatten schon immer eine beruhigende Wirkung auf Jude. Die angenehmen Atmosphäre, die gelegentlichen Berührungen und der konstante Augenkontakt – Jude war lange nicht mehr so ausgeglichen und glücklich gewesen wie in dieser kurzen Zeit. Wenn man die flüchtig auftretende Röte in seinem Gesicht und das Kribbeln in seinem Bauch mal beiseite ließ.

Nachdem sie zurück gekommen waren, wollte Jude für einen Moment bei Prinn vorbei schauen; um sicher zu gehen, dass alles mit seinen Patienten in Ordnung war. Diese besah ihn mit einem strengen Blick, als er ihr Zimmer betrat. Ohne ihn aussprechen zu lassen, schickte sie ihn wieder raus. „Ich hab deine Patienten im Griff, also geh zurück und wehe du kommst vor Sonnenuntergang nochmal zurück!“
 

Während er den Flur zu seinem Zimmer entlang lief, rieb er sich über seinen Nacken. Der Schwarzhaarige kannte Prinn inzwischen gut genug, um zu verstehen, was sie mit ihren harten Worten ausdrücken wollte. Und auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, war ein kleiner Teil von ihm froh darüber. Darüber, dass er nicht noch zusätzliche Arbeit erfüllen musste, sowie darüber, schnell zu Alvin zurück gehen zu können. Den ehemaligen Söldner – der sich wie er erzählt hatte momentan darum bemühte, ein eigenes Unternehmen mit seinem Geschäftspartner aufzubauen – hatte er zuvor zu seinem Zimmer geschickt. Ohne es zu merken trugen seine Beine ihn schneller durch den langen Flur.

Schließlich konnte er seinen Gast nicht so lange alleine lassen, sagte er sich.
 

Seine Hand hatte bereits nach der Türklinke gegriffen, als ihm erst bewusst wurde, wie schnell er zu seinem Zimmer gelaufen war. Wieso hatte er sich nur so beeilt? Es war nicht so, als würde Alvin wieder verschwunden sein, nur weil er einen Moment nicht anwesend war.

Ein leichter Anflug von Nervosität und er öffnete die Tür. Leichtfüßig trat er in sein Zimmer ein. Erst schaute er auf den Boden, dann ließ er seinen Blick langsam durch sein Zimmer gleiten. Eigentlich hatte er erwartet, dass der Andere irgendwo sitzen würde und ihm eines seiner legeren Grinsen zuwerfen würde. Irgendwie hatte er auch mit einem dummen Spruch gerechnet.

Jude hatte jedoch nicht erwartet, den Braunhaarigen auf dem kleinen Sofa vorzufinden, das sich in seinem Zimmer befand. Alvin lag auf dem Rücken. Seine Beine hangen am Ende herunter, weil er zu groß für das Sofa war. Sein Arm lag über seinem Gesicht, der andere seltsam verschränkt über seiner Brust. In seiner Hand hatte er seinen braunen Mantel, der wohl als Deckenersatz herhalten musste. Regelmäßig hob und senkte sich seine Brust in einem ruhigen Rhythmus.

Jude blieb vor dem Sofa stehen und betrachtete den Älteren ungläubig. „Alvin?“, fragte er leise. Als keine Antwort kam, räusperte er sich kurz und versuchte es noch einmal etwas lauter. „Alvin!“ Der Angesprochene gab ein leises Brummen von sich. Mehr passierte jedoch nicht. Ein kleines Lächeln huschte auf die Lippen des Schwarzhaarigen. Das war nicht ganz das, womit er gerechnet hatte.
 

Unbeholfen und auf leisen Sohlen durchstriff der Schwarzhaarige sein Zimmer, auf der Suche nach einer Decke.

Alvin musste müde von dem weiten Weg gewesen sein.

Seinen Erzählungen nach hatte auch er ein paar harte Wochen hinter sich.

Irgendwie sah er so unglaublich friedlich aus.
 

Er schob einen Stapel Bücher von einer ordentlich zusammen gefalteten Decke und drückte diese an sich. Mit der Decke im Arm lief er leise jedoch schnell zurück an die Seite des Älteren. Jetzt musste er nur noch aufpassen, Alvin nicht aufzuwecken. Vorsichtig griff er nach dem braunen Mantel und zog diesen aus dem Griff seines Besitzers. Anschließend breitete er die Decke mit einer Hand aus und trapierte sie umständlich über den Braunhaarigen. Stolz betrachtete er sein Werk – auch wenn es nicht wirklich schwierig gewesen war.

Sein Blick blieb an dem Gesicht des Braunhaarigen hängen.

Alvin's Gesicht wirkte ruhig, dennoch angespannt.

Was er wohl gerade träumte?

Ob er noch immer Alpträume hatte?

Nachdenklich kniete Jude sich hin, ließ den Blick nicht vom Gesicht des Anderen ab. Während ihrer gemeinsamen Reise war es ihm irgendwann aufgefallen; dass Alvin nachts schweißgebadet aufschreckte. Dass er sich panisch in dem Zimmer umsah, ehe er sich aufsaß und den Rest der Nacht wach verbrachte.

Jude hatte ihn nie gefragt, wovon er träumte. Ob er wirklich schlecht träumte oder einfach nur ein unruhiges Wesen besessen hatte. Doch jedes Mal, wenn der Andere mitten in der Nacht wach wurde, wachte auch der Schwarzhaarige auf und beobachtete ihn aus der Ferne heimlich eine Weile.
 

Ohne es zu merken hatte Jude seine Hand ausgestreckt. Mit den Fingerkuppen streifte er sanft über Alvin's Gesicht, bedacht darauf den Älteren nicht zu wecken. Nur langsam dämmerte ihm, was er in diesem Moment tat. Doch sobald er aus seinen Gedanken vollständig zurück war, zog er überrascht seine Hand zurück. Vor Schreck ließ er Alvin's Mantel auf den Boden gleiten.

Sein Herz klopfte wild in seinem Brustkorb, als er sich selbst ermahnte, bei der Sache zu bleiben. Schnell wollte er den Mantel wieder aufheben, als seine Hand an etwas hängen blieb. Sein Blick folgte dem Gefühl eines härteren Gegenstandes. Aus einer Innentasche des Mantels ragte etwas weißes, rechteckiges. Neugierig zog Jude daran und erkannte, dass es sich um einen Brief handelte. Ein kurzer Blick Richtung Alvin verriet ihm, dass dieser noch schlief. Dann betrachtete er den Brief, rang mit seinem Gewissen, ob es okay war ihn zu lesen oder nicht. Am Ende gewann jedoch seine Neugierde und er öffnete den Brief.
 

Lieber Alvin,
 

Der Schwarzhaarige musste schmunzeln. Er hätte Elize's Schrift überall wieder erkannt. Schnell überflog er den Brief, ehe er an einer Passage hängen blieb.
 

Ich war zu Besuch bei Jude. Doch er war viel zu beschäftigt! Er konnte sich gar nicht von seinen Büchern wegreißen und hat immer wieder heimlich darin gelesen, als er dachte, dass ich nicht hinschaue! Kannst du dir das vorstellen? Und als ich dann gegangen bin, hat er direkt wieder seine Nase in ein Buch gesteckt!
 

Ich glaube, er arbeitet zu viel! Das gefällt mir nicht – und Teepo auch nicht! Hast du da auch etwas von mitbekommen?
 

Allmählich dämmerte dem Schwarzhaarigen, dass Alvin nicht wie gesagt auf Elize's Geheiß zu ihm gekommen war. Er las den Brief zu Ende, nur um ihn noch einmal genauer zu lesen. Nichts darin deutete darauf hin, dass sie Alvin nach Fenmont schicken wollte.

Überrascht ließ er seine Hand sinken und starrte wieder zu dem Braunhaarigen. Ein seltsamer Gedanke formte sich in seinem Kopf; war Alvin etwa hier, weil er sich Sorgen gemacht hatte? Bei dem Gedanken daran wurde er erneut nervös – ein Gefühl, das er an diesem Tag schon viel zu oft verspürt hatte.

Der Brief wanderte zurück in die Innentasche von Alvin's Mantel, ehe Jude sich aufrichtete. Für einen Moment zögerte er. Es war nicht richtig, jemanden wegen solch kleiner Fragen zu wecken; schon gar nicht jemand, der extra seinetwegen den weiten Weg zurückgelegt hatte. Doch die Frage brannte dem Schwarzhaarigen auf der Zunge. Die Gewissheit, dass er sich den ganzen restlichen Abend darüber Gedanken machen würde, und auch das flaue Gefühl in seiner Magengegend trieben ihn schließlich dazu an, sich etwas runterzubeugen und seine Hände sanft auf die Schultern des Älteren zu legen.

Einen Atemzug lang verharrte er so, ehe er Alvin sanft rüttelte. „Alvin?“ Seine Stimme brach und er spürte, wie seine Hände zu zittern begangen. Schnell räusperte er sich, ehe er es noch einmal versuchte. „Alvin!“

Und tatsächlich brummelte der Ältere kurz auf. Sein Gesicht verzog sich kurz angespannt, ehe er die rotbraunen Augen öffnete; wenn es auch nur um einen schmalen Spalt war. Jude wunderte sich, wie fest er geschlafen hatte, wenn er ihn direkt so intensiv anstarren konnte.

War das überhaupt wirklich eine gute Idee gewesen?

Verlegen wanderte sein Blick zur Seite, den Blickkontakt mit den rotbraunen Iriden vermeidend.

Nein, das war eine dumme Idee gewesen.

Vielleicht schliefe Alvin einfach wieder ein, wenn er nichts macht?
 

Doch Alvin fixierte ihn weiterhin mit seinem Blick. Die Hände des Schwarzhaarigen verkrampften sich etwas auf der Schulter des Älteren; doch wegziehen konnte er sie nicht mehr. „Ich... hab den Brief gefunden..“ Jude dämmerte, dass er sich wie ein Idiot anhören musste. Die Worte kamen leise und brüchig aus seinem Mund. Alvin reagierte nicht, starrte ihn jedoch noch immer an.

„D-Der von Elize...“ Noch nie hatte Jude sich so dumm gefühlt. Er hatte auf seiner Reise mit Milla so viele unbeschreibliche und unglaubliche Dinge erlebt; wieso fiel es ihm dann jetzt so schwer, eine einfache Frage zu formulieren?

Als er seine eigenen Augen schloss, konnte er deutlich seinen eigenen Herzschlag hören. „Das... Dass sie dich hergeschickt hat... war gelogen, oder?“ Jetzt war es raus. Sobald die Worte seine Lippen verlassen hatten, kam der Schwarzhaarige sich noch dümmer vor.

Natürlich musste Alvin ihm nicht die Wahrheit sagen, wenn er das nicht wollte.

Und wen interessierte so etwas überhaupt so sehr, dass er seinen schlafenden Freund wecken musste?
 

Schlagartig flatterten seine Augen wieder auf; die bernsteinfarbenen Iriden wanderten zu seiner Hand, die noch immer auf der breiten Schulter des Älteren lag. Auf seiner Hand jedoch lag die Alvin's. Angespannt hielt Jude die Luft an. „Stimmt... S'war gelogen...“

Die tiefe Stimme war mehr ein Brummen. Es klang, als wäre Alvin noch immer am schlafen. Der Druck auf die Hand des Jüngeren fühlte sich jedoch sehr stark und wach an.

Jude's Augen wanderten etwas zur Seite und trafen wieder auf den Blick des Anderen. „Wieso... Bist du dann gekommen?“ Bei der Frage flatterten Alvin's Augen zu. Erst dachte der Schwarzhaarige, dass er seine Antwort so unmöglich bekommen würde. Erst der feste Griff an seinen Oberarmen und der Zug daran deuteten darauf hin, dass Alvin noch nicht wieder eingeschlafen war.

Mit einem seltsamen Laut krachte Jude auf den Braunhaarigen. Schnell wollte er sich wieder aufrappeln. Alvin schien jedoch etwas anderes im Sinn zu haben. Seine Arme schlangen sich um den schmalen Körper des Schwarzhaarigen und drückten ihn an sich.
 

Entweder sein Herz würde explodieren oder vor Anstrengung aufhören zu Schlagen. Während Jude's Gesicht sich in einem dunklen rot verfärbte, versuchte er sich freizuschälen – vergebens. „Alvin, w-w-was--“ Die leise Stimme, die direkt an seinem Ohr erklang, ließ den jungen Studenten erstarren. „Ich muss doch auf dich aufpassen.“ Jude erstarrte augenblicklich. Alvin nutzte dies und griff nach der Decke. Mühsam zuppelte er sie unter dem leichten Körper des Medizinstudenten hervor, ehe er sie über ihn legte.

Überwältigt von den Worten des Älteren, seiner Wärme und dem angenehm vertrauten Geruch brachte Jude kein Wort mehr über die Lippen. Ihm wurde heiß und er presste die Augen zusammen, als könne er so die aufsteigende Hitze und seinen Herzschlag wieder in den Griff bekommen. Ganz zu schweigen von dem Kribbeln in seiner Magengegend.

Während Alvin etwas näher an die Lehne des Sofas rutschte, schob er Jude etwas von sich herunter; der Griff um den Schwarzhaarigen lockerte sich jedoch nicht. Als der Kopf des Schwarzhaarigen auf seiner Brust lag, schien Alvin zufrieden zu sein.

In Jude's Ohr klang der gleichmäßige Herzschlag des Älteren. Vorsichtig öffnete er seine Augen wieder. Die ganze Situation war ihm äußerst unangenehm. Doch sein Körper schien anzufangen sich zu entspannen. Den Kopf etwas anhebend erkannte er, dass Alvin die Augen wieder fest verschlossen hatte. Das laute und regelmäßige Atmen verriet ihm, dass der Ältere wohl auch tatsächlich wieder eingeschlafen war. Doch dieses Mal sah sein Gesicht friedlich aus, vollkommen entspannt.
 

Mit einem tiefen Atemzug ließ er den Kopf wieder sinken und starrte eine Weile vor sich hin. Tatsächlich spürte er die Erschöpfung der letzten Wochen mit einem Mal wieder; und tatsächlich hatte er Schwierigkeiten, die Augen auf zu halten. „Das ist doch nicht zu fassen...“ Murmelte er, als er sich unbewusst etwas an Alvin schmiegte. Sein Arm ruhte auf Alvin's Brustkorb, während der andere Arm zwischen ihren Körpern eingequetscht war. Trotzdem entspannte er sich und ließ seine müden Augen zufallen.
 

Der gleichmäßige Herzschlag Alvin's und die Umarmung, die ihm tatsächlich das Gefühl gab, beschützt zu sein, waren das letzte, was er wahr nahm.
 

~-~
 

Der nächste Morgen war für beide ziemlich unbehaglich gewesen. Alvin war vor Jude aufgestanden. Als der Schwarzhaarige wieder wach wurde, erinnerte er sich prompt an die letzte Nacht und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Auch Alvin schien die Sache unangenehm zu sein; die beiden versuchten die Atmosphäre etwas zu lockern, doch sobald ihre Blicke sich trafen, sahen beide zur Seite. Jude wünschte sich nur, es gäbe einen Knopf, der die Nervosität und die Schamesröte im Gesicht für immer abstellen würde.
 

Später mittags standen beide sich am Hafen von Fenmont gegenüber. „Es.. war schön, dass du da warst...“ Murmelte Jude verlegen. Er wusste nicht, ob Alvin sich an das kurze Gespräch erinnern konnte; den Mut aufzubringen, ihn zu fragen, konnte er jedoch auch nicht. Sein Blick glitt kurz zur Seite, ehe er wieder zu dem Braunhaarigen aufblickte. Dieser schenkte ihm ein kleines Grinsen, ehe seine Hand in eine seiner Manteltaschen wanderte.

„Bevor ich es vergesse..“ Als er die geschlossene Hand wieder herauszog, trat er näher an Jude heran, sodass die Distanz zwischen ihnen geschlossen war. Zusammenzuckend wich sein Blick wieder zur Seite. Alvin ergriff die kleine Hand des Jüngeren und drückte ihm etwas kleines, längliches in diese. Dann schloss er seine Hand um den Gegenstand. „Als Abschiedsgeschenk.“ Die bernsteinfarbenen Iriden trafen erneut auf die rotbraunen, als Jude ihn überrascht ansah.

Sie verharrten länger als sie hätten, verloren sich in den Augen des jeweils Anderen.
 

„Bis bald, Alvin.“ Entgegenete Jude ihm mit einem kleinen Lächeln. Das kecke Grinsen wandelte sich in ein kleines Lächeln und Alvin's Blick wurde sanft. „Pass auf dich auf, Kleiner.“
 

Jude sah dem Schiff noch lange nach. Erst, als es am Horizont verschwunden war, hob er seine Hand an. Sie schien noch immer von der Berührung mit dem Älteren zu glühen. Als er sie öffnete, fiel sein Blick auf ein paar Haarnadeln. Sein Mund klappte vor Erstaunen auf. Er hätte die Haarnadeln überall wiedererkannt; die Haarnadeln gehörten einst Alvin's Mutter.

In Jude's Hals bildete sich ein Kloß, als er wieder aufblickte.

Von Außen mochte dieses Geschenk als unwichtig oder klein erscheinen; doch Jude wusste genau, wie viel seine Mutter dem Braunhaarigen bedeutet hatte. Während sein Herz wieder einen Takt schneller schlug und ihm die frische Meeresluft entgegen wehte, schloss er die Augen. Nur ein leises „Danke“ entkam seinen Lippen.
 

~-~
 

Zurück in dem Zimmer, in dem er seine Patienten empfing, fühlte er sich erfrischter als die letzten Tage zuvor. Sobald die Tür sich öffnete, und sein nächster Patient sich in das Zimmer schob, warf er einen kurzen Blick zur Seite. Seine Sicht war nicht mehr von seinen Haaren verdeckt. Die Haarnadeln hielten die dichten Strähnen aus seinem Gesicht. Mit einem großen Lächeln wand er sich seinem Patienten zu.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Nur
2015-08-17T03:31:20+00:00 17.08.2015 05:31
Also ich muss sagen das mir dieses Kapitel sehr gefällt und am Ende sich auf meinem Gesicht ein breites Grinsen ausgebreitet hat.
Die Art wie du schreibst ist schön zu lesen.
Ich wollte das nur mal gesagt haben. Ich hoffe du macht weiter so.
Antwort von:  CookieNatsu
25.08.2015 14:34
Freut mich wirklich sehr, dass dir das Kapitel gefallen hat und auch, dass du meine Art zu schreiben magst <3
Vielen Dank ♥♥ ich geb mein bestes <3


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