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Engelstränen

Ich gehöre euch
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, hier habt ihr endlich euer nächstes Kapitel. Das hat leider etwas länger gedauert, weil ich viel zu tun hatte, keine Ideen hatte, was ich jetzt genau schreiben soll, oder aber es einfach verpeilt habe.
Sorry! ^^' Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, jetzt kommt wieder ein Kapitel! ^^ Wie lang ist das letzt eigendlich her? *nachguck* Au, F***, schon fast einen Monat!

Sorry!!!! u.u Komplett anzeigen

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Der Anfang vom Ende

"Mir ist langweilig!", jammerte Chrissy.

"Sie will nach draußen", klärte Eva mich näher auf, während sie eine Seite umblätterte.

Es war ein schöner Tag, es war warm, und ich saß mit meinen Freundinnen in der Bibliothek. Eva war in einem Manga vertieft, Layla in einem Buch, Marcel hörte Musik, ich saß an einem PC und nur Chrissy schlenderte gelangweilt herum.

"Alle Bücher hier sind langweilig!", jammerte sie weiter.

"Warte mal, ich zeig dir ein gutes." Ich ging hinter ein Regal und holte ein dünnes Buch hervor. "Das könnte dir gefallen."

"Hör nicht auf sie", klang Evas Stimme hinter dem Buchschrank hervor, "Ist doch eh alles Mist."

Diese Worte versetzten mir einen Stich. Ich deutete schnell auf ein Buch mit den Worten: "Meine Lieblingsreihe." Und verschwand aus dem Raum. Meine Freundinnen schienen es noch nicht einmal zu bemerken.
 

Damit fing alles an.

Genau damit wurde alles schlimmer.

Ein kleiner Horror

In dem Raum ist es dröhnend still.

Die Vögel zwitschern am Fenster, doch ich höre sie nicht.

Der kleine Ventilator am Pult brummt leise, doch ich nehme ihn nicht wahr.

Auch das flüsternde Rascheln von Papier dringt nicht zu mir vor.

Noch nicht einmal das deutliche Kritzeln, Schnaufen und Seufzen meiner Mitschüler will ich hören.

Ich blende sie einfach aus.

Ich blende sie aus, bis Stille herrscht.

Meine gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Blatt Papier, welches vor mir liegt. Die Arbeit, die auf keinen Fall wieder so schlecht werden darf wie die Letzte. Das ist schwer und ich habe ein sehr ungutes Gefühl, denn ich bin müde und habe den Stoff kaum gelernt, geschweige denn verstanden.

Kaum gelernt, weil Eva mich überredet hatte, über das Wochenende bei ihr zu bleiben. Obwohl ich ihr sagte, dass ich lernen musste, aber sie ließ nicht mit sich reden. Sie meinte, meine sozialen Kontakte würden daran kaputt gehen.

Als ob ich das nicht wüsste.

Und müde, weil ich bis tief in die Nacht versucht habe, die Vokabeln und die Grammatik doch noch zu lernen.

Zwecklos.

Mit einem leisen Seufzen stehe ich auf und gebe mein Heft ab. Der prüfende Blick meiner Französisch-Lehrerin jagt mir einen Kälteschauer über den Rücken. Sie weiß, dass ich wieder viel zu schnell aufgegeben habe. Hastig werfe ich mir meine Tasche über die Schulter und gehe aus dem Raum. Ich laufe in die Bibliothek, wo ich mich mit meiner besten Freundin Layla nach der Arbeit verabredet habe.

Ich finde sie wie immer an der Heizung und in ein Buch vertieft.

„Hi“, begrüße ich sie und trete leicht gegen ihr Schienbein, wie ich es immer tue. Es ist das erste Mal heute, dass wir in Ruhe reden und quatschen könnten.

Doch Layla verzieht nur ihr Gesicht, bevor sie das Buch zur Seite legt. „Au“, brummt sie.

„Was ist los?“, frage ich sofort besorgt. Eigentlich wollte ich fragen, wie die Arbeit gelaufen war, doch ich spüre, dass irgendetwas nicht stimmte.

Layla zögert kurz unentschlossen. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit, als sie langsam und behutsam ihre Jeans hochkrempelt.

Zum Vorschein kommen Schnitte.

Lange, hellrote Schnitte, die an den Rändern schon beginnen, zu verkrusten. Ihr gesamtes Schienbein ist voll damit.

Sie hatte sich wieder geritzt.

„Nein“, flüstere ich, weiche zurück, beuge mich wieder vor, knie mich zu Layla. Ein Rückschlag, das ist schlecht, sehr schlecht. Sie hat es doch ein ganzes Jahr ohne geschafft! „Was ist passiert?“

Sie zuckt mit ihren Schultern. „Weiß nicht“, nuschelt sie, „Streit mit Mama.“

Meine Finger schweben über den Wunden, dann ziehe ich sie wieder zurück. „Schon wieder?“

Sie nickt. „Schlimmer“, bestätigt sie. „Ich habe sie gebeten, weniger zu rauchen, es einfach mal zu probieren. Daraufhin meinte sie aber nur, ich solle erstmal weniger an den PC.“ Sie unterdrückt eine kleine Träne. „Ziemlich banal, was?“

„Bei so etwas ist gar nichts banal.“ Ich ziehe vorsichtig wieder ihre Hose über die Wunden. „Aber du brauchst Hilfe.“

Sie schnieft. „Ich bin doch schon bei einer Therapeutin.“

„Ich weiß“, antworte ich und lasse unbeholfen meine Hand auf ihrem Bein liegen. Eigentlich mag sie es nicht, berührt zu werden, aber ich weiß nicht, wie ich ihr sonst Mut machen könnte. „Hast du es schon mal mit Skills versucht?“

Sie nickt wieder. „Bringt bei mir nichts.“

„Weiß deine Mutter davon?“

„Ich will nicht, dass sie es weiß.“

Das sagte sie das letzte Mal auch. Ich seufze. „Wenn du darüber reden willst, ich bin da. Das weißt du?“

Sie nickt. „Ich fühle mich aber dann immer so schuldig…“

„Es ist okay.“ Ein Grinsen schleicht auf mein Gesicht. „Ich wäre doch wohl kaum deine Freundin, wenn ich nicht auch so etwas auf mich nehmen würde?“

Layla nickt dankbar, doch ich weiß, dass der Schmerz nicht weg ist, höchstens nur gelindert. „Wie war die Arbeit?“

... Liebe?

Der Rest des Tages verläuft ruhig. Eva plappert wie immer in einem fort, beschwert sich über andere Leute und lässt sarkastische Bemerkungen über jeden Satz den ich sage los.

Nichts Ungewöhnliches also.

Nachdem ich alle Stunden überlebt habe, sitze ich nun im Bus nach Hause und lese ein Buch. Durch die Ohrstöpsel, welche an mein Handy angeschlossen sind, dringt laute Musik in mein Ohr. Ich genieße die Augenblicke, die ich zumindest einigermaßen allein bin, in denen ich keine Verpflichtungen gegenüber anderen habe.

Auf einmal setzt die Musik für einen Moment aus, ein Piep-Ton erklingt, und die Musik fährt an einer anderen Stelle des Liedes fort.

Ich habe eine SMS empfangen.

Es ist Marcel, ein Freund von mir. Mein Daumen schwebt einen Moment über der Taste zum Öffnen der Mitteilung, ich mache das Handy aus, wieder an. Ich öffne ein Spiel, schließe es wieder. Schließlich stecke ich das Handy weg und versuche, weiter zu lesen. Doch meine Gedanken sind bei Marcel. Warum hat er mir eine SMS geschrieben? Es war nicht seine Art, er meinte, er sei viel zu schüchtern dazu und dass er mich nicht nerven wolle. Und das, obwohl ich ihm immer wieder sagte, dass er mich nicht nerven würde.

Letztendlich nehme ich mein Handy aus meiner Tasche und lese die SMS, die gerade eingegangen ist.

Und ich lese sie noch ein Mal.

Ich kneife meine Augen zusammen, reiße sie auf.

Die Schrift hat sich nicht verändert, die Buchstaben sind noch immer die Selben, und die Worte dringen tief in mich ein und versetzen mir einen leisen Stich.
 

»Ich kenne dich jetzt seit zwei Jahren und wir sind jetzt auch seit zwei jahren in einer Klasse, ich habe lange darüber nachgedacht und bin fest davon überzeugt dass ich mich in dich verliebt habe also willst du mit mir zusammen sein«
 

Ich blinzele ein paar Mal und klicke auf ‚Antworten‘. Ich tippe etwas ein, lösche es sofort. Schließlich schreibe ich:
 

»Alles in Ordnung? Du schreibst mich doch sonst nicht an.«
 

Ich atme tief durch und lehne mich an das kühle Glas. Das Lesen kann ich jetzt vergessen, und auch die Musik meiner Lieblingsband kann mich nicht vom Alltag ablenken. Ich muss nicht lange warten, bevor mir der gewohnte Piep-Ton eine weitere SMS ankündigt.
 

»Ja alles okay aber um ehrlich zu sein bin ich ziemlich voll (Alk)«
 

Ich starre erschrocken auf das Display. Deshalb also konnte er mich so einfach anschreiben. Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen und ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu weinen.

Ich stecke das Handy hastig weg mit der Entscheidung, auf diese SMS nicht zu reagieren. Eine weitere Unterbrechung in der Musik kündigt den Eingang einer weiteren Mitteilung an, doch ich ignoriere sie. Alles in mir verlangt zwar danach, diese Nachricht zu lesen, doch ich weigere mich.
 

Erst, als ich zu Hause bin, nehme ich das Handy wieder in die Hand. Ich seufze leise und sehe mir an, was Marcel mir geschrieben hat.
 

»Louise?«
 

Ich schüttele den Kopf und gehe hinauf in mein Zimmer. Schnell tippe ich eine Antwort.
 

»Warum hast du dich betrunken?«
 

Senden.

In meinem Zimmer werfe ich erst einmal die Tasche in eine Ecke und mache den PC an. Gerade, als ich auch meine Musik laut aufdrehen will, bekomme ich eine weitere SMS.
 

»Weil grad alles Scheiße ist und ich etwas Gutes brauchte. Du weißt dass ich dich nicht ohne weiteres anschreiben kann.«
 

Ich runzele die Stirn. Meint er mit dem ‚Guten‘ etwa mich? Schon allein bei dem Gedanken daran wird mir warm.

Ich schüttele angewidert den Kopf.
 

»Ich sag dir doch, dass du mich einfach so anschreiben kannst, dazu musst du dich nicht erst betrinken!!!«
 

Ich knipse die Stereo-Anlage an und stelle die Musik so laut, dass die gesamte Nachbarschaft daran Teil haben könnte. So höre ich den nächsten Piep-Ton nicht und bemerke die SMS erst lange, nachdem sie eingetroffen ist.
 

»Ist doch egal. Bist du jetzt meine Freundin?«
 

Ich mache mein Handy aus und lasse es für den Rest des Tages auf dem Küchentisch, weit entfernt von meinem Zimmer, liegen.

Ein kleiner Wahnsinn

Erst, als ich ins Bett ging, nahm ich mein Handy wieder in meine Hand. Ich benutzte es auch als Wecker, und da ich nicht verschlafen wollte, hatte ich keine Wahl.

Ich sah durch mein Zimmer, während ich es anschaltete. Auf das Bild, das ich mit einer alten, längst aus den Augen verlorenen Freundin gemalt hatte. Auf den kleinen Schreibtisch, den man nicht mehr benutzen kann, weil er mit Zeug zugemüllt ist. Auf mein Bücherregal, in dem die Bücher schon zu verstauben beginnen. Und zuletzt auf das Plakat, welches Freundschaft beschreibt.

Vier neue Mitteilungen.

Vier Mitteilungen zu viel.

Ich überlege kurz, fechte einen kleinen Kampf mit mir, bis schließlich die Neugier siegt und ich die erste Nachricht öffne.
 

»Louise? Bist du noch da?«
 

'Nein', antworte ich in Gedanken, 'Sonst hätte ich bestimmt geantwortet.'

Die zweite Nachricht.
 

»Bitte sag, dass du noch da bist.«
 

Wie denn, wenn ich nicht am Handy war? Idiot.

Die nächste Mitteilung.
 

»Komm schon ein einfaches Ja oder Nein reicht schon«
 

'Du überrumpelst mich.'

Es fehlt nur noch eine Nachricht. Ich atme einmal durch und öffne dann auch diese.
 

»Bist du jetzt meine Freundin oder nicht? Man oh man ich glaub ich kotz gleich zu viel Alk«
 

Ich kralle mich an mein Handy fest und starre auf den Display. Die Buchstaben verschieben sich nicht, die Worte bleiben die selben, genau so wie der Sinn.

Ich schmeiße mich in mein Bett und atme mehrmals laut. Wut lodert in mir auf. Ich versuche, sie zu unterdrücken. Ich muss sie unterdrücken.

Hastig stelle ich den Wecker ein und lege es auf meinen Nachttisch. Beim Fertigmachen lasse ich mir heute mehr Zeit als sonst. Und erst nachdem ich noch spontan geduscht, mir dabei ein Vollprogramm gegönnt und beim Abtrocknen extra viel getrödelt habe, falle ich um halb elf endlich ins Bett.

Meine Sinne schwinden sofort und geben mich in die sanften Wogen des Traumes.
 


 

Am nächsten Tag verschlafe ich trotz des Weckers. Den gesamten Morgen verbringe ich wie in Trance, erst in der Schule werde ich wachgerüttelt.

"Was trägst du denn da?", fragt Eva mich.

Ich sehe an mir herunter. "Ein Fan-T-Shirt, warum?"

Eva lacht auf. "Mann, sieht das Scheiße aus!"

"Stimmt gar nicht", schmolle ich. Ich hätte es gar nicht anziehen sollen.

"Oh doch, und wie. Von wem ist das überhaupt? Von dieser Band?" Eva kommt kaum noch zur Ruhe.

Hilfesuchend schaue ich zu Layla, doch die reibt sich hinter ihrem Buch nur genervt die Stirn. "Unglaublich", murmelt sie, "Jetzt trägt sie auch noch T-Shirts von denen..."

"Ach, lasst mich doch!", schnaube ich verärgert und sehe weg. Die Sonne schimmert hinter dem Schulgebäude orange.
 

Die weiteren Gespräche in meiner Clique gehen an mir vorbei, ich achte nur noch darauf, an den richtigen Stellen zu lachen oder besserwisserisch den Kopf zu schütteln.

Wie ich das hasse.

Diese Pseudo-Fröhlichkeit.

Das geht so lange, bis mich die Schulglocke endlich erlöst. Eine schnalle Verabschiedung, und Layla und ich trotten nebeneinander zu unserer Klasse. Auch im Unterricht sitzen wir nebeneinander.

In der ersten Stunde haben wir Deutsch. Ausgerechnet das Fach, in dem Marcel direkt vor mir sitzt. Während der Stunde dreht er sich ständig zu mir um, bevor er endlich Kontakt aufnimmt.

"Was ist jetzt?", formen seine Lippen.

Ich schlucke schwer und sehe in der Klasse herum. Letztendlich klebt mein Blick auf der Tafel. Die Grüne Tafel mit den Wischspuren, wo momentan rein gar nichts dransteht.

Durch das Fenster fallen grüne Sonnenstrahlen. Die Vögel zwitschern im Frühlingswahn.

Ich will hier raus.

Die Gefahr des Alltags

In den Pausen versucht Marcel mehrmals, mit mir zu reden, doch ich kenne ihn zu gut. Ich weiß, dass er viel zu schüchtern ist, um mich anzusprechen, wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen bin. Also klebe ich mich am Anfang jeder Pause direkt an Layla, dann an Eva und Christy. Oder an alle drei. Auf jeden Fall bleibe ich nicht alleine. Auch wenn ich mich frage, ob das eine wirklich gute Idee ist. Marcel lauert mir wie ein Raubtier auf, wartet nur auf eine Gelegenheit, dass ich ihm Schutzlos ausgeliefert bin.

Natürlich bemerkt Eva, dass ich von ihm verfolgt werde. Bei ihrem scharfen Blick hätte es mich auch sehr gewundert, wenn sie es nicht gesehen hätte. Aber in meiner grenzenlosen Naivität hatte ich gehofft, dass sie nichts merkt.

„Sieht aus, als hättest du einen Stalker“, meint Eva jetzt witzelnd.

Ich sehe mich um als hätte ich ihn noch immer nicht gesehen. „Wie, Marcel?“

„Klar wer sonst?“

Ich zucke mit den Schultern. „Soll er doch.“

Doch in mir drin brodelt es. Warum kann er mich nicht in Frieden lassen? Ich möchte meine Pausen gut genießen können, mich wenigstens zwanzig Minuten ein wenig erholen.

Was dank Eva ohnehin nicht möglich ist.
 

Der Rest der Woche verläuft ruhig. Ich fliehe vor Marcel, er verfolgt mich. Und ich kann mich die ganze Zeit über vor ihm verstecken.

Bis auf Freitag.

Ich habe mich für den Nachmittag mit Layla verabredet, wir wollten zusammen ins Kino und einen Film gucken.

„Wartest du kurz?“, fragt sie, während sie ihren Stuhl auf den Tisch stellt. „Ich muss noch mal auf Toilette.“

„Klar“, antworte ich und gehe mit ihr aus dem Klassenzimmer. Ich lehne mich an die Wand und betrachte ihren Rücken, während sie in der Toilette verschwindet.

Ein unachtsamer Moment.

„Louise.“

Ich erschrecke mich fürchterlich, als ich Marcels Stimme auf einmal so nah neben mir höre. Ich fahre herum und merke viel zu spät, wie nah er wirklich ist. Nur wenige Zentimeter trennen sein Gesicht von dem meinen.

„Was machst du hier?“, stoße ich hervor. Ich wollte eigentlich laut und selbstbewusst sprechen, doch ist bringt mein Hals nicht mehr als ein brüchiges Flüstern hervor.

„Ich hole meine Antwort. Du hast mich schon viel zu lange warten lassen.“ Ich rieche seinen Mundgeruch, er riecht eindeutig nach Alkohol. Das kann sogar ich sagen, obwohl ich den Geruch nur von ein paar wenigen Festen kenne.

„Habe ich das nicht?“, stottere ich. Ich halte das nicht aus, so nah, wie er mir ist, viel zu nah! Ich versuche, zurückzuweichen, doch er kommt mir zuvor.

„Nein, hast du nicht“, antwortet er bestimmt und stemmt seine Hände links und rechts neben meinen Kopf. Er bückt sich zu mir herunter.

Ich kippe meinen Kopf zur Seite. Ich würde ihn nur zu gern wegschubsen, ihn schlagen, doch ich kann mich nicht bewegen. „Lass mich“, bringe ich angsterfüllt über meine Lippen.

„Erst deine Antwort. Bist du jetzt meine Freundin oder nicht? Ich habe schon viel zu lange gewartet, dich das zu fragen.“ Marcel ist stur, unnachgiebig. Und er stinkt nach Alkohol.

„Hör auf, du bist betrunken!“, sage ich, so laut ich es momentan kann. Das ist nicht ehr laut.

„Ja, aber ist das nicht egal?“ Es hört sich nicht wie eine Frage an. Er schiebt sich noch näher an mich und dreht meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen muss.

Scheiße. Er kommt näher und näher und ich kann mich nicht wehren und es dauert nicht mehr lange bis…

„Was genau … Macht ihr da?“

Layla kommt gerade im richtigen Moment.

Marcel weicht zurück und tut so, als sei nichts gewesen, wie immer.

Ich beuge mich erstmal keuchend nach vorne, froh über den Platz, der mir dank Marcel verwehrt wurde. „Ich hasse dich“, zische ich ihm leise zu, so leise, dass Layla nichts davon hörte.

Marcels Gesichtsausdruck wird leicht überrascht. Er weicht noch ein Stückchen zurück, ausnahmsweise ist er mal sprachlos.

„Ich hasse dich“, widerhole ich und richte mich wieder auf. Ich werfe keinen Blick zurück, als ich mich zu Layla umdrehe und sie mit den Worten „Ist nichts, komm“ mit zum Ausgang nehme. Sie ist zwar ein wenig misstrauisch, aber ich kann sie glücklicherweise überzeugen und zudem noch das Versprechen abnehmen, dass sie niemandem etwas sagen wird.

Den ganzen Film über kann ich mich nicht konzentrieren. Die ganze Zeit über bin ich in Gedanken bei diesem Moment, diesem Moment, in dem Marcel mich beinahe geküsst hätte.

Ich hasse ihn.

Und ganz weit unten schleicht sich ein Gedanke an die Oberfläche, ein Wunsch, den ich mit aller Mühe unterdrücke.

Ich wünschte, Marcel wäre tot.

Auf der Schwelle des Todes

Am Abend schaffe ich es halbwegs, das Geschehene zu verdrängen. Auch das Abendessen überstehe ich, ohne dass sich die Sorgen und die Angst in meiner Miene widerspiegeln.

Während ich Musik höre und mich bettfertig mache, denke ich schließlich gar nicht mehr an den Schrecken des Nachmittags. Erst, als ich im Bett liege, die Sonne schon längst hinter den Häusern verschwunden ist und ich bereits fast eingeschlafen bin, kündigt mein Handy durch den gewohnten Piep-Ton eine neue SMS an.

Ich murre leise und greife dann nach dem Handy. Das Licht des Displays blendet mich, als ich die Tastensperre löse. Eine neue Nachricht von Marcel. Ich seufze leise und überlege, ob ich sie öffnen soll, was ich schließlich auch tue. Wenn er mich schon weckt, möchte ich auch wenigstens wissen, warum.
 

»Bye.«
 

Bye? Das ist alles? Ich hatte irgendwie mehr erwartet. Irgendetwas anderes.

Doch macht sich ein sehr schlechtes Gefühl in mir breit, und so schreibe ich zurück, wenngleich ich ein wenig verärgert bin.
 

»Warum bye? Was ist los? Du kommst Montag doch wieder zur Schule?«
 

Ich schicke die SMS ab und schloss die Augen. Ich wollte versuchen, wieder zu schlafen, konnte aber irgendwie nicht. Ein böser Gedanke schlich sich in meinem Kopf von hinten an, wuchs und wuchs, bis er ein Ungeheuer wurde, welches mich von innen verspeiste, bis…

Piep!

Eine neue SMS.

Hastig öffnete ich sie.
 

»Nein, wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle nicht.«
 

Wie er es sich vorstellt? Was soll das heißen!?

Genau das schreibe ich mit schnellen Fingern zurück.
 

»Wie du es dir vorstellst? Wie meinst du das?«
 

Mein Herz schlägt wie verrückt. Hoffentlich ist es nicht das, was ich denke, was es ist. Ich wage kaum zu denken, was alles los sein könnte. Ich verklicke mich vor lauter Nervosität viel zu oft, um die nächste SMS so schnell zu öffnen, wie ich es gerne will.
 

»Ich habe gerade eine Überdosis von einem Medikament genommen.«
 

Mein Herz setzt einen Schlag aus, während sich meine Befürchtung langsam zur Wahrheit bestätigt. Ich brauche einen Moment, bevor ich zurück schreiben kann.
 

»Was für ein Medikament? Willst du dich umbringen!?«
 

Ich hoffe nicht. Ich hoffe so sehr, dass all das nicht wahr ist. Ich klammere mich an mein Handy und bete leise, bete zu irgendjemandem, bete, dass all dies nur ein schrecklicher Traum ist. Ich hoffe viel zu sehr, dass all meine Befürchtungen nicht wahr sind.
 

»Das Medikament ist Methylphenidat wegen meinem ADHS und ja«
 

Ja.

Ja, er will sich umbringen.

Ich schluchze laut auf, Tränen dringen aus meinen Augen hervor. Ich krümme mich in meinem Bett und schluchze und weine leise.

Eigentlich müsste ich doch sogar glücklich sein, schließlich hatte ich mir so etwas vor noch zwei Tagen gewünscht! Doch ich verspüre nichts anderes als eine gigantische Angst, die wie ein Stein in meiner Brust anschwillt und mich bewegungsunfähig macht.
 

»Das kannst du doch nicht machen! Du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir!«
 

Ich tippe die Zeilen hastig in mein Handy ein. Dabei verschreibe ich mich oft, weil der Tränenschleier vor meinen Augen mir die Sicht nimmt. Wieder verlässt ein Schluchzer meine zittrigen Lippen. Ich wünsche mir jetzt nichts mehr, als dass jemand mir sagt, dass das nicht wahr ist.

Eine neue SMS.

Bitte sag mir, dass das nicht wahr ist. Bitte sag, dass das nur ein doofer Scherz ist.
 

»Es ist zu spät jetzt. Ich habe das Medikament schon genommen. Aber schön, dass ich mit dir schreiben kann, während ich sterbe.«
 

Dieses Arschloch!

Ich heule laut auf. Wie kann er nur? Tränen kullern über meine Wangen, es sind unzählbar viele. Ich schluchze und weine, während ich mit zittrigen Fingern versuche, eine weitere SMS zu schreiben.
 

»Aber warum? Warum tust du das?«
 

Ich schniefe. Ich wünschte, ich wäre jetzt nicht alleine, ich wünschte, es wäre jemand bei mir. Während ich schniefe und schluchze und weine höre ich, wie eine Tür auf geht. Danach hastige Schritte auf dem Flur.

„Louise?“, fragt Mama besorgt. Mama. „Alles in Ordnung?“

Ich schluchze. „Er will sich umbringen“, bringe ich irgendwie hervor.

„Wie bitte?“ Mama setzt sich zu mir ans Bett. „Louise, was ist passiert? Wer will sich umbringen?“

Ich schniefe. „Marcel“, antworte ich unter meinem kleinen Tränenmeer, welches über meine Wangen rinnt.

Mama stutzt einen Moment. „Echt jetzt?“

Ich nicke und ignoriere den Eingang einer weiteren SMS.

Mama deutet auf das Handy. „Ist er das?“

Ich nicke ein weiteres mal und nehme das Handy in meine Hand. Ich löse die Tastensperre und sehe nach, was er geschrieben hat.

„Was schreibt er?“, fragt Mama.

Ich halte ihr das Handy hin.
 

»Weil niemand mich mag ich streite mich ständig in meiner Familie du hasst mich und jetzt soll ich auch noch weg von dir auf eine andere Schule das ertrag ich nicht«
 

„Er will sich umbringen“, murmelt Mama geschockt und starrt auf den Bildschirm. Sie schüttelt sich kurz, dann steht sie auf. „Wo ist das Telefon?“, ruft sie ins Schlafzimmer.

Ich höre, wie Papa sich im Bett aufrappelt und sich umsieht. „Hier“, kommt es zurück.

Dann wendet Mama sich wieder zu mir. „Bleib auf jeden Fall mit ihm in Kontakt. Kennst du die Telefonnummer von ihm zu Hause?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich kann ihn aber fragen.“

„Tu das.“

Also schreibe ich zurück.
 

»Sieh das doch mal so: Du kannst da vollständig neu anfangen! Außerdem bin ich doch noch immer da… Wir können SMS schreiben! Sag mal, wie ist eigentlich deine Telefonnummer (Festnetz)?«
 

„Komm mit in unser Zimmer“, befielt mir Mama, was ich auch gerne tue.

Und während ich mich auf das Bett setze, kommt eine weitere Mitteilung.
 

»Weiß ich nicht aber falls das hilft ist hier meine Adresse«
 

Ich zeige die Nachricht Mama, und während sie sich das durchliest kommt eine weitere Mitteilung. Ich reiße ihr das Handy aus der Hand und lese.
 

»Willst du meine Eltern anrufen? Das bringt nichts, ich werde in den nächsten Minuten sterben«
 

Papa gähnt müde. „Was ist denn überhaupt los hier?“, fragt er, kurz vor dem Schlaf.

„Marcel will Selbstmord begehen“, erklärt Mama, als sei es das natürlichste der Welt, während sie im Internet nach der Adresse und der Telefonnummer sucht.

Plötzlich ist Papa hellwach. „Bitte was?“

„Du hast schon richtig verstanden. Louise, was für ein Medikament hat er genommen, weißt du das?“

„Moment“, antworte ich und tippe eine weitere Antwort.
 

»Nein! Gib mir noch Zeit! Halte durch!«
 

Senden und ich scrolle im Gespräch runter zu diesem komischen Wort. „Das hier“, sage ich und halte Mama das Display vor die Nase.

„Methylphenidat“, murmelt sie und sieht meinen Vater fragend an. „Weißt du was das ist?“

Papa schüttelt nur den Kopf.

Mama gibt das Wort bei Wikipedia ein. „Ruf bitte bei Marcel zu Hause an“, sagt sie zu Papa.

„Wie ist denn die Nummer?“

Mama diktiert ihm die Nummer. Ich habe also Gelegenheit, die neueste SMS zu lesen.
 

»Verstehst du nicht? Ich will sterben!«
 

Das tuten vom Telefon weckt nun auch noch meine Schwester, die ebenfalls in das Schlafzimmer kommt. „Was ist denn hier los?“, murmelt sie verschlafen.

„Pscht!“, zischt Mama sie an. Und dann zu Papa: „Geht jemand ran?“

„Nein, sie schlafen wohl alle.“

Ich tippe schnell.
 

»Aber du hast doch noch dein ganzes Leben vor dir!«
 

„Okay, gib her.“ Mama nimmt das Telefon von Papa und gibt die Notrufnummer ein. Es folgt ein kurzes Gespräch, in dem Mama alle nötigen Informationen gibt.

Nach einigen Minuten unbehaglichen Schweigens kommt eine neue SMS.
 

»Du hast den Notruf gerufen, oder?«
 

Mir kommen die Tränen. Anscheinend sind nun die Ärzte da.
 

»Ja.«
 

Ich lehne mich an Mama an, welche den Arm um mich legt. „Sind sie da?“, fragt sie.

Ich nicke und eine weitere SMS findet ihren Weg zu meinem Handy.
 

»Ich glaube, ich werde gerade versorgt…«
 

Ich lache leise auf. Es würde alles gut werden. Marcel würde überleben.

„Morgen bleibt ihr zu Hause“, sagt Mama zu meiner Schwester und mir. „Das war ein ziemlicher Schock, was?“

Marie nickt.

Ich nicke.

Alles würde gut werden.

Ganz bestimmt.

Der Tag danach

Der folgende Tag zieht wie ein Film an mir vorbei. Ich sitze mit Marie bei Mama auf der Arbeit, weil wir nicht allein sein wollen. Marie hat das ganze nur beiläufig mitgekriegt, aber es hat sie anscheinend dennoch stark getroffen.

Ich verbringe den Tag mit Kakao, Keksen und damit, ein Heft für Marcel zu bemalen, mit aufmunternden Texten, welche künstlerisch gestaltet sind. Das Heft soll er an seinem Geburtstag bekommen, welcher in wenigen Tagen stattfindet. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich im Moment mehr tun kann. Dass ich überhaupt mehr tun kann.

Beim Mittagessen bei der Kollegin von Mama werde ich gefragt, warum ich denn schon wieder frei habe. Ich bringe ein gequältes Grinsen zum Vorschein und begründe damit, dass meine Schule nun mal toll sei und wir ständig frei hätten.

Sie gibt sich damit zufrieden.

Ich bleibe lange auf Mamas Arbeit, es wird schon dunkel, als wir nach Hause gehen. Beim Abendessen werde ich wieder mit der Situation konfrontiert, wieder sprechen meine Eltern und Marie darüber. Ich konzentriere mich auf mein Essen, obwohl ich nicht mehr als einen Happen herunterwürgen kann.

Und erst, als ich endlich in meinem Bett liege und Musik höre, spüre ich endlich wieder das Blut durch meine Adern rauschen, mein Herz schlagen, mein Leben.

Ich schalte mein Handy an. Noch immer ist keine Nachricht von Marcel angekommen, mein heutiger SMS-Empfang ist noch immer genau so leer wie heute Morgen. Ich klicke den Mitteilungs-wechsel von gestern an und lese ihn noch einmal durch.

»Bye.«

»Du kommst Montag doch wieder zur Schule?«

»Ich habe gerade eine Überdosis von einem Medikament genommen.«

»Willst du dich umbringen?«

»und ja«

»ganzes Leben vor dir«

»zu spät.«

»schön, mit dir zu schreiben, während ich sterbe.«

»Warum?«

»Niemand mag mich.«

»Ich soll weg.«

»ertrag ich nicht«

»Ich werde in den nächsten Minuten«

»sterben«

»Halte durch!«

»Gib mir Zeit!«

»Ich will sterben!«

»dein ganzes Leben vor dir«

»werde gerade versorgt«
 

»Ich will sterben!«
 

Auf einmal kommt alles wieder hoch. Die ganze Angst von gestern, die Verzweiflung. Es scheint mir wie ein Traum, und doch so real. Ich will die Realität nicht an mich heran lassen, doch sie überwältigt mich. Ich ersticke an den Tränen, die meine Kehle verschließen.

Und wieder beginne ich bitterlich zu weinen.

Verdammt, ich wollte das doch nicht mehr, nie mehr. Und doch…

»Ich will sterben!«

Habe ich ihn verärgert? Ist er jetzt wütend auf mich? Hasst er mich jetzt vielleicht sogar?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Er schrieb doch, er würde mich lieben?

Das ist egoistisch. Ich nutze so doch seine Gefühle aus.

Aber er hat mich mit seinem Tod konfrontiert. Auf brutalste Weise.

Doch ist es nicht meine Aufgabe, ihm zu Helfen? Als Freundin? Als eine normale Freundin?

»Ich will sterben!«

Tausende Gedanken schießen wie tödliche Kugeln durch meinen Kopf, jede einzelne bohrt sich tief in mein Herz hinein und hinterlässt eine blutende Wunde. Tausende Fragen bilden sich aus den Gedanken, während meine Tränen das Bett unter mir befeuchten und Mama zu mir rennt, um mich hilflos in den Arm zu nehmen. Alles gleitet an mir vorbei – Mamas Arme, ihre Berührungen, ihre tröstenden Worte, die Musik – Ich versinke in meinen Tränen, ich ertrinke in ihnen.

»Ich will sterben!«

Ich weiß nicht, ob ich den morgigen Schultag ohne aufzufallen überstehe. Ich weiß nicht, ob ich nicht bei jedem unbedachten Witz, jedem noch so ernsten Wort an Marcel denken muss. Und erst Recht weiß ich nicht, ob ich bei diesen Gedanken meine Tränen herunterschlucken kann.

Ich weiß nur, dass ich morgen unter keinen Umständen Traurigkeit zeigen darf. Ich weiß nur, dass ich niemandem etwas erzählen darf.

»Ich will sterben!«

Stirb, doch stirb nicht vor mir, Marcel.

Ich könnte das nicht ertragen.

... Wie immer ...

Als ich am Dienstag wieder in die Schule komme, scheint alles wie immer. Eva erzählt etwas, Layla nickt nur und fügt mit ihrer viel zu tiefen Stimme einige Dinge hinzu, Christy steht daneben und weiß nicht, was sie tun soll. Den Einzigen, den ich nicht entdecken kann, ist Marcel. Ich wusste zwar schon, dass er heute nicht kommen würde, dennoch ist es sehr komisch und ungewohnt.

Ich gehe in die Ecke, wo sich meine Clique immer aufhält und begrüße sie mit einem „Hi.“

„Hi“, antwortet Eva, wozu sie kurz ihre Erzählung unterbrechen muss.

„Morgen“, brummt Layla und sieht mich kurz an. Einen Moment zu lang, ein Moment, der mir sagt, dass sie es weiß.

Der Rest des Morgens läuft erstaunlich gut ab. Eva redet, Layla grinst dazu und ich lache. Das geht so lange, bis die Schulglocke wieder erklingt.

Layla und ich laufen gemeinsam zum Klassenraum, der natürlich viel zu weit oben liegt. Wobei ich natürlich zugeben muss, dass Eva noch ärmer dran ist. Sport in der ersten Stunde zu haben ist wirklich eine Qual. Da bin ich mit Deutsch schon besser dran.

Auf dem Flur ist es erstaunlich ruhig. Obwohl alle laut über irgendwelches belangloses Zeug quatschen und labern (Layla und mich eingeschlossen) herrscht über allem eine gewisse unsichtbare Ordnung. Sie fällt mir nie auf, denn Marcel zerstört sie immer.

Auch im Unterricht ist es nicht besser. Marcel sitzt direkt vor mir, und er ist so riesig, dass ich mich immer recken und strecken muss um zu sehen, was auf der Tafel steht. Heute ist der Platz vor mir leer und ich kann auf die zerfledderten Hefte und Bücher und Zettel sehen, die unter seinem Tisch fast herausfallen.

Als die Deutschlehrerin fragt, wo Marcel heute sei, antworte ich artig, dass er wegen Magenbeschwerden zu Hause bleiben muss.

Und das ist noch nicht einmal gelogen.

Layla zieht ihren Block aus ihrer Tasche und kritzelt etwas da drauf. Ich starre weiterhin nach vorne, wo die Lehrerin gerade die Anwesenheit überprüft. Layla schubst den Block zu mir rüber, sodass ich sehen kann, was sie geschrieben hat.

«Du weißt, was wirklich mit ihm los ist, oder?»

Ich liebe ihre direkte Art. Schnell krame ich mein Mäppchen hervor und hole meinen Bleistift raus. Dann schreibe ich zurück.

«Ja. Hat er es dir erzählt?»

«Ja.»

«Selbstmord.»

«Du warst dabei oder?»

«Indirekt, er hat mir eine SMS geschickt. Mama hat sofort den Krankenwagen gerufen, als ich es ihr erzählt habe.»

«Die Magenbeschwerden waren eine Lüge?»

«Nee, sein Magen wurde ausgepumpt. Donnerstag oder Freitag wird er wiederkommen.»

In der Klasse wird gerade irgendetwas über Väter geredet. Ich habe dieses blöde Buch noch immer nicht komplett gelesen.

Layla schreibt nichts. Also kritzele ich noch schnell etwas dazu.

«Tut gut zu wissen, dass ich da nicht allein bin. Ich meine, dass ich mit dir darüber reden könnte.»

Layla liest, und dann schleicht sich dieses Lächeln auf ihr Gesicht. Dieses Lächeln, welches so voll von Schwermut wiegt, mir aber dennoch Mut machen soll. Sie stößt mich dabei immer leicht in die Seite, wonach ich ihr ebenfalls kurz auf die Schulter klopfe.
 

Die Stunde geht zu Ende, die Pause beginnt. Layla und ich gehen in die Bibliothek, wo wir uns wie immer mit Eva und Christy treffen. Manchmal kommt auch Marie dazu und normalerweise sitzt Marcel in der Sitzecke.

Normalerweise.

Wenn er mal nicht gerade mit einer Magenvergiftung im Krankenhaus liegt.

Ansonsten geschieht nichts Außergewöhnliches. Eva und Layla erzählen etwas Witziges, die Bibliothekarin sagt, dass wir zum Quatschen nicht in die Bibliothek kommen sollen, wir bleiben dennoch.

„Der Tod ist schon ein armes Schwein“, grinst Eva gerade, „Manche Leute sind einfach zu blöd, um sich umzubringen.“

„Wie Marcel“, wäre es mir fast herausgerutscht. Zum Glück nur fast. Stattdessen lache ich einfach darüber. Denn wäre ich gerade nicht in einer solchen Situation, würde ich darüber auch herzlich lachen können. So wie immer.

Manchmal wünschte ich mir, es wäre wie früher.

… Wie früher …
 

Auch den Rest der Woche mache ich nichts Besonderes. Es ist eine Woche wie jede andere, abgesehen davon, dass Marcel fehlt. Auch auf meine gefühlt hundert SMS antwortet er nicht. Wurde ihm verboten, mit mir Kontakt zu haben? Verstehen könnte ich es. Wenn er sich umbringen wollte, weil ich ihn hasse und weil er weg von mir soll, bin ich wahrscheinlich wirklich kein guter Einfluss für ihn. Ich muss ihn ohnehin noch mal danach fragen, was er meinte mit ‚ich soll auf eine andere Schule‘. So weit am Ende des Schuljahres macht das doch keinen Sinn?

Vielleicht bezog sich das auf das nächste Schuljahr. Aber ich weiß auch nicht, ob ich wirklich viel dagegen hätte, wenn er dann weg wäre…

Ein Entschluss.

Ich bin überrascht, als Marcel am Freitag wieder da ist. Ich wusste zwar, dass er nicht lang im Krankenhaus bleiben würde, dennoch ist die Begegnung irgendwie komisch. Er sieht mich genau so an wie immer, ich schaue nicht zurück. Ich ignoriere ihn größtenteils, wie immer. Er bewegt sich, er lacht, er nervt, als sei nichts gewesen. Als sei er die gesamte letzte Woche nur verschnupft gewesen, nicht fast tot. Als sei die gesamte letzte Woche … nie passiert. Nie.

Er sieht genau so aus wie ich ihn kenne, und doch irgendwie anders. Ich sehe ihn mit anderen Augen, wenn er gerade nicht guckt, betrachte ich ihn eingehender als sonst. Und mit jedem Blick, den ich ihm zuwerfe, schießen neue Fragen durch meinen Kopf.

Ist er wütend auf mich, weil ich ihn von seinem Vorhaben abgehalten habe?

Will er noch immer sterben?

Was meinte er mit ‚auf eine andere Schule‘?

In mir lodert die Wut auf, diese Wut, die imstande ist, alles zu zerstören. Und gleichzeitig eine Fürsorglichkeit, die allein ihm gilt. Hass. Freude. Ein wahrer Orkan an Gefühlen.
 

Die gesamte Schulzeit zieht an mir vorbei, ich bin eine wandelnde Leiche, ein Geist, der durch die Flure schwebt. Ich kriege nichts mit. Bis auf Layla. Obwohl es recht warm ist und die meisten bereits in ärmellosen T-Shirts rumlaufen, trägt sie heute eine Jacke. Ich weiß, was los ist, und sie weiß, dass ich es weiß. Im Mathematikunterricht schreibe ich schließlich auf meinen Block:

«Was war es diesmal?»

In Mathe müsste ich eigentlich aufpassen, weil ich den Stoff nie direkt verstehe. Aber heute kann ich mich ohnehin nicht konzentrieren.

Layla sieht die Nachricht und zuckt mit den Schultern.

«Ich habe keinen Trigger glaub ich»

Trigger? Ich kenne dieses Wort, weiß jedoch nicht genau, was es bedeutet. Also lasse ich es mir schnell von Layla erklären.

«Scheiße…»

«Ja genau»

«Hast du richtig danach gesucht? Vielleicht ist er ja etwas versteckt… Ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen gibt.»

Layla liest, schnaubt belustigt und sieht wieder nach vorne. Damit ist das Gespräch für sie beendet.

Habe ich irgendetwas Falsches geschrieben? Ich versuche doch nur zu helfen, ich versuche doch nur, sie zu heilen, ich will doch nur …

Ich kämpfe mit den Tränen. Marcels Handgelenk ist rot, eine rote Stelle von sauberen Schnitten…

Irgendwie schaffe ich es im Laufe des Tages, ihm das Heft zu geben, welches ich für ihn angefertigt habe. Es ist eher beiläufig, ich komme an ihm vorbei und werfe es ihm zu. Kein großes Theater drum.
 

Zu Hause werde ich wieder wach. Marcel antwortet endlich auf meine SMS. Auf all die Nachrichten, von denen ich dachte, sie seien im Nichts verschwunden.
 

»Ich hab jetzt mein Handy wieder also kann ich wieder schreiben. Bist du da?»
 

Ich bin da. Und unglaublich froh, dass er es ist. Also schreibe ich zurück.
 

»Ja. Möchtest du noch immer sterben?«
 

Sorge flammt in mir auf, Sorge, dass sich dieses Erlebnis widerholen könnte.
 

»Um ehrlich zu sein ja«
 

Dachte ich es mir doch. Aber wie soll ich ihn am Leben halten? Ich überlege einige Momente, bevor ich zurückschreibe:
 

»Wenn du sterben willst, weil alle dich hassen, dann stimmt das so gar nicht. Ich mag dich zum Beispiel. Und wenn ansonsten keiner da ist, dann reicht es doch, wenn du für mich lebst.«
 

Senden.

Ich starre noch einige Momente auf das Display, bevor ich wieder aufsehe. Ich frage mich, ob das eine gute Idee war. Es war eine gute Idee, wenn er dafür am Leben bleiben würde.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich die nächste Mitteilung lesen darf.
 

»Du bist echt ein Engel für mich. Ohne dich wäre ich jetzt tot dabei ist das Leben mit dir doch so schön.«
 

Mist. Jetzt fängt er wieder damit an.

Ich schreibe dennoch zurück:
 

»Ach was. Ich tue das, was jeder Mensch tuen würde.«
 

Zumindest hoffe ich das. Ich denke an meine Freunde, an Eva, an Christy, und bin mir in dieser Aussage plötzlich überhaupt nicht mehr sicher.

Und meine Gedanken schweifen ab, schweifen zu jener Nacht, zu der Nacht, in der Marcel sich umbringen wollte.

»Ich will sterben.«

Er wollte sterben und will es nicht mehr. Ich hoffe, er will es nie mehr. Dafür quälen mich nun Nacht für Nacht die Phantasien, was wohl geschehen sein mag. Wie seine Welt wohl aussieht, wie er von mir denkt. Was er von mir will. Mich quälen Tag für Tag die Fragen, was nun bei ihm zu Hause los ist. War sein Vater sauer? Oder eher besorgt? Erschrocken? Er war erschrocken. Er rief gefühlte tausend Mal zu Hause an, um sich zu bedanken. Und jetzt ist alles wieder in Ordnung. Jetzt haben sie eine Lösung. Jetzt setzt er alles daran, dass Marcel glücklich wird.

Ich schreibe mit Marcel, wir wechseln hunderte von SMS, und mit jeder einzelnen SMS werden meine Gedanken klarer. Ich denke über alles nach und ich fasse einen Entschluss. Ich wälze ihn hin und her, von der einen Seite zur anderen, und erst, als ich tausend Mal darüber nachgedacht habe, steht er fest und unveränderbar.

Ich will sterben.

Rom

Obwohl alles in mir den Tod zu begrüßen scheint, bettelt ein Teil von mir um sein Leben. Es ist kein großer Teil, eher im Gegenteil, er ist sehr klein. Aber seine Stimme ist unglaublich laut, lauter als das Konzert, auf dem ich als kleines Kind einst war. Ich weiß nicht mehr viel davon, doch ich weiß, dass mir die Ohren von dem Lärm schmerzten.

Und so greife ich nicht nach der Klinge, obwohl ich mein Blut sehen will. Und so schlucke ich keine Tabletten, obwohl ich auf ewig schlafen will. Ich springe auch nicht, obwohl ich fliegen will, und ich lege mich nicht auf die Schienen, obwohl ich weit fort sein will. Ich durchlaufe Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute und Sekunde für Sekunde dieselbe Qual.

Und so vergehen die Wochen und Monate und plötzlich ist aus April September geworden. In zwei Monaten habe ich Geburtstag. Dann habe ich endlich ein weiteres Jahr überlebt.

Eva hatte vor einigen Tagen von einer Challenge erzählt, in der es darum ging, dass sie jeden Tag zu einem Thema ein Bild malen musste. Sie verlor die Aufgabe schon nach wenigen Tagen.

In mir keimt das Verlangen nach einem Test. Einen Test an mich selbst und meinem Durchhaltungsvermögen. Ich gehe zum Kalender und zähle die Tage, die ich noch bis zu meinem Geburtstag verbringen muss. Es sind 68. Die nächste runde Zahl im Countdown ist die 60.

Ein Grinsen schlicht sich in einer wohligen Idee auf mein Gesicht. Sechzig Themen muss ich sammeln, sechzig Bilder werden entstehen.

Beim Abendbrot erzähle ich meinen Eltern und Marie von der Idee.

„Tolle Idee“, meint Mama zwischen zwei Bissen, „Du könntest eine Facebook-Seite damit machen!“

Ich sehe sie ausdruckslos an und erkläre mit Tonloser Stimme: „Ich habe noch nicht einmal Facebook.“

Mama zuckt mit den Schultern. „Kriegst du dann eben.“

„Darf ich mitmachen?“, fragt Marie. „Also, jetzt vielleicht nicht zu allem, aber zu manchen…“

„Klar“, antworte ich, „aber ich brauche noch Themen.“

„Licht“, schlägt Papa vor.

Nach dem Abendbrot richtet Mama mir Facebook ein und erstellt dann sofort auch eine Seite für mich.
 

Am nächsten Tag erzähle ich sofort Layla und Eva von meinem Vorhaben.

Layla nickt mit hochgezogenen Augenbrauen und kratzt sich an der Stirn.

Eva gibt ein desinteressiert „Ah“ von sich.

Als hätte ich mehr erwarten können.

Nichts desto trotz frage ich jeden, den ich kenne oder auch nicht kenne, nach irgendeinem Wort, welches ich dann als Thema benutzen würde.

Marcel schnauft einige Momente und sagt dann mit einem breiten Grinsen: „Tomate.“

Meine ehemals beste Freundin schlägt „Stern“ vor.

Ein weiteres Mädchen aus meiner Klasse hält mit „Heizung“ eine kleine Herausforderung für mich bereit.

„Hallo“, wirft mir ein kleines Mädchen aus der sechsten Klasse an den Kopf.

„Phönix“ stammt von Marie.

„Drache.“

Halloween.

Mord.

Kamera.

Traum.

Waffen.

Schule.

Innerhalb von vier Tagen ist meine Liste vollständig gefüllt. Auch die Likes auf meiner Seite vermehren sich täglich. Und im nu ist der Tag da, an dem ich das erste Bild malen muss.

Als ich es online stelle sind die Reaktionen positiv.

Und ich merke wieder, wie schön es doch sein kann, zu leben.
 

Nach drei Wochen eifrigen Malens steht eine Jubiläumsfahrt meiner Schule nach Rom an. Das Bedeutet, dass sich die Qualität meiner online gestellten Fotos sich sehr verschlechtert, danke an meine Handykamera. Auch muss ich die Bilder erst per Mail an Mama senden, damit diese sie dann online stellen kann.

Der Zeitdruck am Tag vor der Abfahrt ist so hoch, dass es ein Wunder ist, dass ich überhaupt etwas zu Papier bringen konnte. Also muss das Bild „Teufel“ auf den von mir vorgesehenen Himmels-Hintergrund verzichten.

Und ehe ich es mich versehe, sitze ich am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe in dem Bus meiner Klasse. Zu meinen Füßen steht eine riesige Tasche mit Essen, die Mama mir gepackt hat. Die etwas größere Reisetasche mit meinen Lieblingsklamotten und allem anderen Kram, den ich brauche und nicht brauche, ist mit den anderen Koffern in einem großen Fach verstaut. Neben mir, am Fenster sitzt Layla. Sie liest ein Buch und hört Musik. Ich selber habe meine Beine zu einem Schneidersitz verschränkt und darüber meine dünne Decke, die mir immer ein Gefühl von Heimat gibt, ausgebreitet. Die ersten Süßigkeiten finden noch vor der Anfahrt ihren Weg in meinen Mund, während ich mich ebenfalls in meinen Kitschroman vertiefe.

Und dann geht die Fahrt nach Rom los.

Eine tolle Woche.

Nach einem Tag Busfahrt erreichen wir endlich das Camp mit den Bungalows, wo ich die nächste Woche mit drei anderen Mädchen verbringen werde. Alice, Nele und Michelle, mit denen ich am Anfang letzten Schuljahres viel gemacht habe. Ich wollte eigentlich zu Layla in einen Bungalow, aber die Mädels hatten mich schon vorher gefragt. Und da es ohnehin keine Möglichkeit gibt, dass alle glücklich sind, haben Layla und ich uns aufgeteilt.

Schade eigentlich.

Wo ich doch zu kaum einem anderen aus meiner Klasse einen Draht habe.

Es ist schon merkwürdig, mit seinem Koffer, all seinen Sachen, die einem wichtig erscheinen, über den gesamten Campingplatz läuft, und nur Leute aus seiner Schule sieht. Alice ist schon sehr weit vorne bei ihren Freundinnen aus der Parallelklasse, und Nele hat ihre Sachen und gegeben, um schon mal nach unserer Hütte zu suchen. Nur Michelle und Layla sind bei mir.

Ich habe ein wenig Angst, dass Michelle sich ausgeschlossen fühlt, wenn ich beginne, mit Layla zu quatschen. Zudem hat sie mir mal gesagt, dass sie meine beste Freundin nicht mag.

Also sage ich nichts.

Umhüllt von unangenehmem Schweigen und quasselnden Leuten trotten wir zu dem Block, wo die Bungalows unserer Klasse stehen. Zwischendurch müssen wir immer wieder anhalten, weil die Arme von dem schweren Gepäck schmerzen.

Die ersten erreichen schon ihre Bungalows und richten sich ein, spaßen miteinander, als Nele endlich zurückkommt. Ihr hellgelbes T-Shirt ist kaum zu übersehen.

„Ich habe es gefunden!“, triumphiert sie und nimmt ihre Taschen zurück.

„Wurde aber auch Zeit“, schnauft Michelle.

Und dann laufen wir weiter und Michelle und Nele vertiefen sich in ein Gespräch über die bevor stehende Woche und lassen mich außen vor.

Ich sehe schon, das wird eine tolle Woche.
 

Der Bungalow ist klein und sieht nicht so aus, als hätte er genügend Platz für vier Personen. Wenigstens hat er eine große Veranda mit einem weißen Plastiktisch und weißen Plastikstühlen. Eine kleine Treppe mit drei Stufen führt dort hinauf und es gibt einen Holzzaun und auch eine Wäscheleine, die zwischen zwei Balken aufgespannt ist.

Im Haus drin ist zunächst ein kleiner Raum, etwa nur halb so groß wie mein Zimmer daheim, welcher für sowohl Küche als auch Wohnzimmer hinhalten muss. In den Schränken findet man Teller, Besteck, Gläser, alles, was in eine Küche gehört. Der Kühlschrank ist etwas zu warm und versucht, eine Flasche Cola und einige Energy-Drinks von Alice kühl zu halten. Ich beginne sofort, meine restlichen Süßigkeiten in einen leeren Schrank zu stopfen.

Das Bad hat nur gefühlte zwei Quadratmeter und ist mit Waschbecken und Dusche ausgestattet, das Klo ist etwa genau so groß und befindet sich in einem anderen Raum.

Die Zimmer selber Sind groß genug. In dem einen steht ein Schrank, ein Doppelbett, und ein Spiegel ist an der Wand befestigt. In dem Anderen sind drei Betten, wovon eines höher gestellt ist. Dieses nehme augenblicklich ich in Beschlag.
 

Nach einer Stunde einrichten und umsehen gibt es auch schon Abendessen. Das erste Gericht hier in Rom sind, ganz klassisch-italienisch, Spaghetti. Die Zelte zum Essen befinden sich direkt neben den Pools, und es gibt hier viel weniger Gedränge als in der Cafeteria. Das Essen schmeckt außerdem nicht nach Pappe.

Daran könnte ich mich gewöhnen.

Schnell habe ich Eva gefunden und setze mich zu ihr an den Tisch. Bei ihr sind zwei Jungs, mit denen sie in den letzten Wochen viel Zeit verbracht hat: Finn, ein Junge aus der Unterstufe, der in der kommenden Woche Geburtstag hat, und Florian, ein Atheist aus der Oberstufe.

Ich werde mit einem freundlichen „hi“ begrüßt.

Eva erzählt gerade von ihrem ach-so-coolem Busfahrer, der wohl die ganze Fahrt Musik laufen hatte und mit der Gruppe Späße getrieben hatte.

Das wäre nichts für mich gewesen.

Ich sehe mich im gesamten Zelt um und halte Ausschau nach Layla, erfolglos. Erst, als ich kurz gucke, ob Marcel auch da ist, finde ich sie. Layla sitzt bei meinen Klassenkameraden, neben Mila, die bei ihr im Bungalow wohnt. Ich sehe zurück auf meinen Teller. Layla und Mila verstehen sich in letzter Zeit sehr gut. Eigentlich sollte ich mich für Layla freuen, dass sie sich so gut in die Klasse eingelebt hat, aber in mir schwillt auch eine Eifersucht aus Angst zu einem kleinen Monster heran. Angst, dass ich Layla verliere.

Finn redet über Minecraft, seinem Lieblings-Computerspiel, was Eva ziemlich auf die Nerven geht. Sie erklärt mehrmals, dass sie Minecraft nicht ausstehen kann.

Ohne Begründung.

„Warum magst du Minecraft nicht?“, mische ich mich ein, „Ich finde es eigentlich ganz in Ordnung.

„Weiß ich doch nicht“, antwortet Eva, als ob es die Sinnloseste von allen auf der Erde wäre. „Das Spiel ist halt voll … Sinnlos!“

Nicht weniger sinnlos als die let’s plays, die du guckst, will ich antworten, halte die scharfen Worte jedoch zurück, um keinen weiteren Streit vom Zaun zu brechen.

Ich sehe zu meiner Klasse. Mit der Zeit stehen alle auf und gehen nach und nach zurück zu ihren Bruchbuden. Ich sehe, wie Layla und Mila lachen. Es versetzt mir einen Stich in der Brust.

Warum können sie so unbeschwert miteinander reden und lachen? Warum kann ich nicht so mit Eva reden? Und warum fühle ich mich auch so oft bei Layla verletzt?

Als nun auch Michelle und Nele das Zelt verlassen, merke ich, dass ich diese Situation kenne. Vor einem Jahr etwa geschah das gleiche mit mir.
 

Damals verbrachte ich viel Zeit mit Nele, Michelle und manchmal war auch Alice dabei. Layla kannte ich noch nicht, wie auch, sie war nicht auf meiner Schule. Sie wechselte erst im März zu uns.

Obwohl ich vor der Klasse viel mit den Mädels geredet habe, während wir auf den Lehrer warteten, und auch im Unterricht bei ihnen saß, war mir die Klasse fremd. Ich kam auf die Geburtstagsfeier meiner Freundinnen, obwohl ich jedes Mal genau wusste, wie unwohl ich mich dort fühlen würde, weil ich niemanden wirklich kannte.

Auch die Pausen verbrachte ich nie mit meiner Klasse, ich war immer in der Bibliothek und las irgendwelche blöden Comicromane. Das war dumm von mir, ich weiß, doch ich wusste nicht, wie ich die Pausen ansonsten verbringen sollte. Bei meiner Klasse zu sein konnte ich mir nicht vorstellen.

Irgendwann kam Eva regelmäßig in die Bibliothek und wir freundeten uns an.

Und mit der Zeit

Wurden mir Michelle, Nele und Alice fremder und fremder.

Und als Layla in die Klasse kam und ich mich neben sie setzte, sprachen wir schließlich gar nicht mehr miteinander.

Ich wurde ihnen weggenommen.
 

Das alles fällt mir wie Schuppen von den Augen, als Nele und Michelle das Zelt verlassen, ohne sich umzusehen. Niedergeschlagen gucke ich auf meinen Teller. Ich habe kaum etwas gegessen, doch ich fühle mich, als müsse ich gleich kotzen, weil mein Magen überfüllt ist.

„Ist du noch oder bist du satt?“, stottert Florian. Er stottert immer, man muss sich ziemlich konzentrieren, um zu verstehen, was er meint. Aber er ist sympathisch.

„Äh, ich bin satt“, antworte ich mit einem weiteren Blick auf meinen Teller.

„Du ist ja überhaupt nichts“, lästert Eva, „Willst du eine Bohnenstange werden oder was?“

„Lass mich doch“, murre ich. Nein, ich will keine Bohnenstange werden. Ich bin sogar ziemlich glücklich mit meinem Körper.

„Hey, Louise will noch dünner werden, als sie ohnehin schon ist! Spindeldürr!“, verkündet Eva.

Finn lacht einfach nur leise. Ein unechtes Lachen.

Ich weiß, sie wollen nur Spaß machen, und Sarkasmus ist für sie unverzichtbar. Ich weiß, alles, was Eva in diesem Ton sagt, ist nicht ernst gemeint. Dennoch versetzt es mir einen Stich. Ich bin noch nicht einmal einen Tag hier, und schon will ich wieder nach Hause. Ich will mich in meine warme Wolldecke einrollen, meine Musik laut aufdrehen und einfach nur ausschalten.

Nichts davon habe ich hier.

Ich sehe schon, das wird eine tolle Woche.

Tiger

Am späten Abend um zehn Uhr steht für meine Stufe eine erste Stadtbesichtigung in Rom an. Die restliche Zeit bis dahin verbringe ich in meinem Bungalow, wo ich meine Sachen weiter auspacke. Mit jedem Kleidungsstück rückt eine nichtige, schmerzliche Erkenntnis immer näher: Ich habe mein Bettzeug vergessen. Bis auf ein kleines Kopfkissen, das ich in der Grundschule einmal genäht habe, eine dünne Decke von meinen Großeltern und meinen Teddy, den ich schon besitze, so lang ich denken kann, welchen man aber vielleicht auch gar nicht zählt, liegt alles zu Hause. Kein Bettlaken, um die raue Matratze unter mir abzudecken, und die schon vorhandene Decke und Kissen darf ich ohne Bezug nicht benutzen.

Wie ich bereits sagte, eine tolle Woche.

Was soll‘s, dann benutze ich halt meinen Teddy als Kopfkissen und versuche, mich unter meiner Decke warm zu halten.

Am Ende habe ich noch eine Stunde Zeit, um an meiner Challenge zu malen. Also gehe ich nach draußen, mache den Tisch frei und mache mich breit.

Auf einmal spüre ich ein weiches Fell an meinen Beinen. Überrascht sehe ich auf eine braun getigerte Katze, die sich schnurrend an meine Beine reibt.

„Alice, da ist Tiger!“, ruft Michelle.

Ich sehe auf und sehe, wie das gewohnte Trio auf die Veranda zuläuft. Erst Michelle, dann Alice, und mit etwas Abstand Nele. Klar, sie ist auch gegen Katzenhaare allergisch.

„Tiger?“, begrüße ich die drei grinsend. „Sie hat schon einen Namen?“

„Ist das überhaupt ein Weibchen?“, überlegt Nele.

Alice zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, sie lässt uns ja nicht gucken…“

„Dann ist es halt ein Mädchen!“, beschließe ich.

Michelle wirft einen Blick auf meine Zeichnung, welche ich momentan mit einem dünnen, schwarzen Stift bearbeite. „Welches Thema ist das?“

„Äh, Regen“, antworte ich.

Sie nickt kurz und geht dann in den Bungalow. „Louise, hast du keine Bettwäsche dabei?“, ruft sie.

„Nee, hab‘ ich vergessen!“, rufe ich zurück.

„Und worunter schläfst du dann?“

Na toll. Ich sehe jetzt schon, dass sich solche Fragen häufen werden. „Ich habe noch eine dünne Decke dabei.“ Da bin ich, das komische Mädel mit den gefärbten Haaren, das es noch nicht einmal auf die Reihe kriegt, Bettwäsche mitzunehmen.

Großartig.

„Wir müssen dann auch gleich los“, meint Nele.

Alice springt von einem Balken, auf den sie sich mit der verschmusten Tiger hingesetzt hat, und lässt das Kätzchen wieder laufen. „Wir könnten ja gucken, ob es Katzenfutter in dem Laden hier für Tiger gibt“, schlägt sie vor.

„Hier gibt es einen Laden?“, frage ich etwas überrascht.

„Klar, gleich neben dem Restaurant“, ruft Michelle aus dem Bungalow. Entweder sind die Wände zu dünn oder wir zu laut. Ich glaube ersteres.

„Hier gibt es ein Restaurant?“

Michelle seufzt leicht genervt. „Du kriegst auch gar nichts mit, oder?“

„Hallo, Leute! Wir müssen los!“, ruft Nele.

„Wenn es da Futter gibt, kann Tiger sogar zu einer Art Hauskatze von uns werden, zumindest hier!“, setzt Alice ihren Gedankengang fort.

„Aber nicht ins Haus lassen“, wirft Nele streng ein.

„Ja, ist doch klar“, meine ich dazu.

„Ja. Können wir dann los?“ Nele wird langsam hibbelig.

Ich male weiter. „Wir haben doch noch Zeit“, murmele ich.

„Nee, haben wir nicht!“

Mila und Layla kommen um die Ecke und steuern auf unseren Bungalow zu. „Kommt ihr? Unser Bus fährt gleich ab.“

„Jaja“, brumme ich und mache meinen Stift zu. Gegen die Macht von drei Personen komme ich nicht an.

Nele stampft mit ihrem wütenden Grinsen auf. „Bei denen hörst du?“

Ich stehe auf und räume meine Sachen in meine Tasche. „Doch, schon, aber ich dachte, wir hätten noch Zeit und Alice und Michelle haben ja doch auch nichts gemacht und …“ Ich verhaspele mich wie sonst was, sodass ich kein verständliches Wort heraus bringen kann. Zudem beschuldige ich jetzt auch noch Michelle und Alice. Ich verspüre wieder diesen Stich, als ob ich etwas falsch gemacht habe.
 

Eine viertel Stunde später sitzen wir alle im Bus. Alice wieder bei ihren Freundinnen, Michelle und Nele zusammen. Ich selber habe einen Platz neben Layla ergattern können. Vor uns sitzt Mila, neben einer ihrer Freundinnen.

Wir fahren nicht einmal fünf Minuten, als ich schon Mühe habe, wach zu bleiben. Die Erschöpfung des Tages sitzt deutlich schwer in meinen Gliedern. Wir fahren kaum los, als ich schon einnicke. Erst, als wir wieder zum Campingplatz zurückkommen, werde ich von Layla wieder aufgeweckt. Gähnend schleppe ich mich zu meinem Bungalow, und kaum falle ich in mein Bett, schlafe ich schon tief und fest ein.

Dankbarkeit

„Louise, wachst du auf? Wir wollen Frühstücken gehen!“

Ich blinzele und rolle mich auf die Seite. Nele steht schon fertig angezogen unten und wartet darauf, dass ich wach werde.

Ich reibe meine Augen und murmele: „Wie schaffst du es nur immer, so früh schon wach zu sein?“, murmele ich.

„Was heißt hier früh!?“, ruft Nele in amüsiert-verärgertem Ton. „Es ist schon neun Uhr!“

Ich rolle mich auf den Bauch und strecke mich. „Sag ich ja, viel zu früh. Lass mich noch ne Stunde schlafen…“

„Nix da, um halb zehn gibt’s kein Frühstück mehr!“

Mit einem Mal bin ich hellwach. „Wie, um halb zehn schon nicht mehr!?“

„Ja! Du musst dich beeilen!“ Nele trappelt ungeduldig auf der Stelle herum.

Ich fluche leise und springe aus dem Bett. „Wo sind Alice und Michelle?“

„Bei den anderen aus der Klasse. Wir hätten dich eher geweckt, aber du hast geschlafen wie ein Stein.“

„Die anderen sind beim Frühstück?“, frage ich, während ich ein paar Klamotten aus dem Schrank suche.

„Ja. Ich war früher fertig als sie wollte kurz mal nach dir sehen.“

„Danke.“
 

Zehn Minuten später laufe ich allein zum Frühstück. Nele ist schon vorgegangen, weil sie den Mädels versprochen hatte, so schnell wie möglich wieder zu kommen. Außerdem wäre es, glaube ich, auch ziemlich blöd gewesen, wenn sie die ganze Zeit auf mich warten müsste. Während ich teils renne, laufe, und erschöpft gehe, bereue ich es, meinen Lieblingsrock angezogen zu haben. Er ist schwarz mit weißen Mustern und fällt mir bis zu den Knöcheln. Ich mag es wirklich sehr, der Stoff fühlt sich angenehm an, aber beim Laufen stört es halt. Einen Moment lang wünsche ich mir, der Rock wäre ganz kurz geschnitten, dann schießen mir möglich-peinliche Situationen durch den Kopf und ich verfluche den Wunsch insgeheim.

Generell habe ich meine Kleidung heute sehr ungünstig gewählt. Abgesehen von dem langen Rock, dessen Gummizug meinen gesamten Bauch bedeckt, trage ich ein ärmelloses Oberteil, welches genau da aufhört, wo der Rock beginnt. Es hat eine Kapuze, die mit beim Laufen immer wieder auf den Rücken schlägt, und vorne zwei Bänder, die mir die ganze Zeit ins Gesicht fliegen. Zudem trage ich Stiefel, für Italien viel zu warm, durch die ich jeden einzelnen Stein auf dem Weg spüren kann.

Und der Weg von meinem Bungalow zum Essenszelt ist weit.

Als ich endlich erschöpft ankomme, treffe ich auf Eva und Florian, die gefolgt von Layla das Zelt verlassen. „Wo warst du denn?“, begrüßt Eva mich.

„Hab verschlafen.“

Eva schüttelt den Kopf. „Nee, echt.“ Und geht weiter. Offenbar hat sie es eilig.

Florian dackelt hinterher.

Nur Layla bleibt noch mal kurz stehen um mir freundschaftlich gegen die Schulter zu boxen. „Es gibt warmen Kakao, der steht in der Nähe von unserer Klasse. Beeil dich, um zehn sollen wir beim Bus sein.“

„Jo, danke“, antworte ich und lächele.

Dann geht auch sie.

Als ich ins Zelt gehe, stoße ich auf Finn.

„Hi, wie geht’s“, begrüßt er mich. Das sagt er immer; ich habe noch nie gehört, dass er ein Gespräch mit einem anderen Satz beginnt.

„Ganz in Ordnung, und dir?“, antworte ich höflich.

„Mh, auch.“ Seine Stimme ist leise, fast schon monoton.

Er wartet auf mich, bis ich mir ein Brötchen, etwas Margarine und Marmelade auf meinen Teller geladen habe und folgt mir zu dem Tisch meiner Klasse. Tatsächlich steht bei dem Tisch, an dem nur noch ein paar aus meiner Klasse versammelt sitzen, ein weiterer Tisch mit mehreren Getränken; Orangensaft, Kaffee, Tee und natürlich warmen Kakao. Ich mache mir einen Becher voll mit Kakao und setze mich dann etwas abseits hin.

Finn setzt sich dazu.

Dankbarkeit.

„Hast du schon gegessen?“, frage ich, während ich mein Brötchen in zwei Hälften schneide.

„Ja, ich war fast als erstes hier.“

Ich sehe überrascht auf. „Und du hast die ganze Zeit gewartet?“

Er sieht verlegen zur Seite. Ich muss lächeln. Finn erinnert mich ein wenig an den Hund, den ich in der ersten Klasse als Haustier hatte: Treu, klein, lieb und unglaublich süß. Kurze Haare hatte er auch, allerdings waren seine dunkel. Cammy hatten wir ihn genannt.

Ich beiße in mein Brötchen, obwohl ich nicht wirklich Lust darauf habe. „Schade, dass es hier kein Rührei gibt“, murmele ich zwischen zwei Happen.

„Joa“, macht Finn, „Aber ich glaube, es gibt wechselndes Menü. Hat zumindest mein Vater gesagt.“

Den Rest der Zeit redet Finn über die Spiele, die er spielt, von denen ich aber keine Ahnung habe. Nur manchmal gebe ich einen Kommentar dazu ab.
 

Pünktlich um zehn Uhr sitze ich im Bus neben Layla und warte darauf, dass es losgeht. Heute steht erst einmal eine kleine Führung durch die Innenstadt Roms an. Am Anfang bekommen wir alle eine Karte, auf der das Straßennetz, die Attraktionen und die Treffpunkte verzeichnet sind. Uns wird erklärt, dass wir nach der Führung die Möglichkeit haben werden, selber in kleinen Gruppen ab vier Leuten die Stadt zu erkunden. Wir müssten nur um vier Uhr wieder am Bus sein.

„Schon cool“, meine ich zu Layla, „So allein durch die Stadt laufen zu dürfen.“

„Wir sind ja nicht ganz allein“, korrigiert sie mich, „Wir müssen ja Gruppen bilden.“

Ich nicke nur. Was ich meinte war eigentlich, dass wir nicht von Erwachsenen, die uns die ganze Zeit über kontrollieren und in einen Käfig, ein Muster stecken, das unbedingt eingehalten werden muss, begleitet werden, sondern unseren Weg in unserer Zeit gehen dürfen. Aber das muss ich jetzt nicht mit ihr ausdiskutieren und ich habe ganz ehrlich auch keine Lust dazu.

Hinter uns hat sich Marcel auf der Bank breit gemacht. Muss er dort sitzen? Ich mag es nicht, seinen Blick in meinem Nacken spüren zu müssen, seinen Atem zu hören, seinen Geruch zu riechen. Denn er starrt, statt zurückhaltend zu gucken, er schnauft, statt leise zu atmen, und er schafft es nicht, normal zu riechen, stattdessen stinkt er wie des Teufels Küche. (Sorry, Teufel.)

Ich schließe meine Augen und lehne mich gegen das kühle Fenster. Layla und Marcel beginnen zu quatschen, zu diskutieren, irgendetwas über Schokolade. Layla sucht die ganze Zeit nach einer Theorie, mit der sie das Gespräch beenden kann, während Marcel mit seinem scheinbar unglaublich großen Wissen jedes einzelne mühsam zusammengesuchte Wort von meiner besten Freundin mit einem „Nicht unbedingt“ zerbricht. Ich stehe kurz davor, ihn anzuschreien, er solle doch endlich die Klappe halten, endlich still sein.

Aber ich habe Angst.

Angst davor, ihn zu verletzen.

Weil er sich deswegen wieder etwas antun könnte.

Wegen jeder Kleinigkeit.

Also sage ich nichts

und träume mich stattdessen in ein fernes Land, das nur mir gehört.

Verloren

Die scheinbar endlose Führung ist endlich zu Ende und es ist an der Zeit, sich in Gruppen aufzuteilen. Schnell finde ich mich mit Michelle und Nele zusammen und weil Layla auch noch keine Gruppe hat, schließt sie sich ebenfalls uns an.

„Gut“, seufze ich mit einem schnellen Blick in die Runde, „Wollen wir dann mal los?“

Nele nickt, bleibt aber noch stehen.

Layla sieht sich noch um, bevor sie ebenfalls sagt: „Jo.“

„Wo lang sollen wir…“, setzt Michelle an, doch sie wird unterbrochen.

„Wartet mal!“, hören wir Mikas Stimme. Kurz kommt sie, sich durch die Meute schlängelnd, bei uns an. „Kann ich auch mit euch kommen?“

Layla sieht kurz in die Runde. Ihr Blick soll gleichgültig wirken, aber in ihm liegt auch etwas Flehendes. „Von mir aus…“

„Wolltest du nicht eigentlich mit Vivien in eine Gruppe gehen?“, fragt Michelle. Vivien ist, soweit ich weiß, Mikas beste Freundin. Es ist tatsächlich verwunderlich, dass sie nicht etwas mit ihr zusammen macht.

„Sie wollte die Führung weitermachen.“ Mika deutet hinter sich, wo sich eine größere Gruppe von Schülern zum Aufbruch bereit macht.

„Ach so“, antwortet Michelle abwesend, wobei sie das ‚a‘ sehr in die Länge zieht.

Nele schiebt uns in eine Seitengasse, in der einige kleine Läden und Stände geöffnet sind. „Wir sollten langsam echt mal los. In einer Stunde müssen wir schon wieder zurück sein, das ist nicht lang!“

„Ist doch schon gut“, widerspricht Michelle, „Eine Stunde ist genug Zeit.“

„Sag mir das noch mal, wenn der Bus ohne uns abfährt!“

Ich seufze. Nele übertreibt echt ein bisschen. Wir sollten zwar nicht zu sehr herumtrödeln, aber hetzen brauchen wir auch nicht.

Wir laufen die recht lange Gasse hinab und bleiben bei jedem zweiten Verkaufsstand stehen, weil dort irgendetwas interessant aussieht oder jemand tatsächlich etwas kaufen möchte. Ich bleibe immer etwas hinter den anderen zurück, weil Nele noch immer hetzt und ich beim Betrachten von den Bildern der Straßenkünstler etwas länger brauche als die anderen. Ich renne den anderen hinterher und erhasche einen kurzen Blick auf einen schmalen Laden, in dem einige Ketten hängen. Sofort schießt mir Finn in den Kopf. Er hat diese Woche Geburtstag und ich wollte ihm etwas schenken, am liebsten eine Kette. Ich finde, ihm steht so etwas.

„Hey, wartet mal, ich möchte hier etwas kaufen!“, rief ich den anderen hinterher. Layla horcht auf und sagt den anderen Bescheid, die mich wohl nicht gehört hatten. Sie kehren um. Ich gehe schon einmal in den Laden und sehe mir die Ketten an. Hier gibt größtenteils Ketten mit religiösem Hintergrund, aber auch ein paar, die man unabhängig davon kaufen könnte.

„Was meinst du?“, frage ich Michelle, die gerade neben mir steht und sich einige Anhänger ansieht. „Ich weiß nicht welche dieser Ketten ich nehmen soll.“

Michelle sieht zu mir. Oder mehr, auf die Ketten, die vor mir hängen. „Wozu möchtest du denn eine Kette haben? Für dich?“

„Nein, für einen Freund. Er hat demnächst Geburtstag und ich möchte ihm etwas schenken.“

„Ah“, macht Michelle und wirft einen Blick auf die Ketten. „Guck mal die hier.“ Sie zeigt auf eine Kette mit glattem, schwarzem Lederband und einen kleinen, silbernen Anhänger in Kreuzform. Das Kreuz ist mit vielen goldenen Schnörkeln und Ranken verziert und ist daher auch für seine Größe recht massig.

Ich nehme ihn in die Hand, wiege ihn und besehe ihn mir genauer. Als ich ihn umdrehe fällt mir auf, dass in der Rückseite mit kleinen, dünnen Lettern ‚Jerusalem‘ eingraviert ist. „Die ist schön“, bestätige ich, obwohl die Gravur mich etwas abschreckt. „Danke für deine Hilfe. Ich gucke eben noch etwas weiter.“

Michelle nickt. „Gern geschehen. Sag Bescheid, wenn du noch mal Hilfe brauchst.“

„Aber beeil dich bitte!“, gibt Nele zu denken, die unser Gespräch mitbekommen hat. „Ich möchte nicht den Bus verpassen.“

„Wir verpassen ihn schon nicht“, murmele ich, während ich mich zu den Anhängern wende. Ich sehe mir sie alle genau an: Ein Dornenkranz, gespickt mit roten Steinchen, Bilder vom neuen Papst, Rosenzweige und viele Darstellungen vom gekreuzigten Jesu. Schließlich entscheide ich mich für eine Taube. Schlicht, nicht prunkvoll, aber auch nicht zu einfach. Auch nicht zu sehr auf die Religion bezogen. Ich bahne meinen Weg zur Kasse, dabei komme ich wieder an den Ketten vorbei. Kurzerhand beschließe ich, das Kreuz auch mitzunehmen. Zu teuer sind sie ja nicht.

An der Kasse treffe ich wieder auf Michelle. „Und, hast du dich entschieden?“, fragt sie.

„Ja, die beiden“, antworte ich und zeige ihr die Kette und den Anhänger.

Michelle sieht kurz auf die Taube, dann meint sie: „Für die brauchst du aber noch eine Kette, oder?“

„Oh, stimmt!“, fällt mir auf. Ich werfe einen Blick zum Ausgang. Nele wartet dort ungeduldig. „Wo kriege ich denn jetzt noch eine Kette her?“, frage ich mich leicht gehetzt.

Michelle greift über meine Schulter zu einem Drehständer, der auf der Theke steht. „Hier. Brauchst du so eine?“ Sie hält mir ein Plastiktütchen mit einer dünnen, silbrigen Kette hin.

Ich starre auf die Kette und nehme sie dankbar entgegen. „Michelle“, bedanke ich mich mit einem Lächeln, „Du bist super.“

Michelle lächelt ebenfalls. „Ich warte draußen auf dich.“
 

Nachdem ich es tatsächlich geschafft habe, mit meinem unbeholfenen Englisch zu bezahlen, tauche ich auch endlich draußen auf.

„Da bist du ja“, murrt Nele. „Wir haben jetzt nicht mehr viel Zeit, wir müssen uns beeilen.“

„Moment, wo sind Mika und Layla?“, frage ich.

Michelle kratzt sich an der Schulter. „Die sind schon mal vorgegangen.“

„Aha“, mache ich überrascht. Wieder verspüre ich diesen kleinen Stich in der Herzgegend, den ich aber auch dieses Mal wieder gekonnt ignoriere. „Dann gehen wir mal, oder?“

„Endlich“, stöhnt Nele.

Wir gehen aus der Gasse hinaus, auf die große Hauptstraße, die wir nur noch herunter gehen müssen. Wir beeilen uns, doch trotz Neles Warnungen bleiben wir immer wieder mal stehen. Ich überlege kurzzeitig, ob ich mir ein Graffiti-Bild kaufen soll, entscheide mich dann aber dagegen. Es ist zwar wirklich schön, aber ich habe keinen Plan, wo ich es in mein Zimmer hängen soll.

Nach etwa einer Viertelstunde erreichen wir schließlich den Treffpunkt vom Bus. Die anderen warten ebenfalls noch hier.

„Siehst du?“, meine ich an Nele gewandt, „Wir hätten uns noch Zeit lassen können.“

„Besser, als wenn wir zu spät sind“, erwidert sie trotzig.

Ich setze mich auf eine der Treppenstufen und sehe den Straßenhändlern zu, wie sie versuchen, ihre Ware zu verkaufen. Nach einer Weile fährt dann auch unser Bus vor und wir steigen ein. Ich setze mich ans Fenster, Michelle setzt sich neben mich. Unsere Reisebegleiterin zählt durch, die gewohnte Routine, ich döse halb weg.

Und wache wieder auf, als eine Frage, verpackt in die Stimme der Reisebegleiterin, laut durch den Bus schallt.
 

„Weiß jemand von euch, wo Mika und Layla sind?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist jetzt etwas länger geworden als die anderen. Ich hoffe mal, es macht nichts weiter aus! ^^
Ich hoffe, es hat euch gefallen und ich freue mich wie immer über Kritik und Lob. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Louise wird wieder lebensfroher... Ich wollte sie nicht nur leiden lassen.
Die Woche in Rom wird ein wichtiges Kapitel für Louise, damit könnte ich eigendlich eine eigene Fanfic machen... xD Werde ich aber nicht.
Am Anfang hatte ich 10 Kapitel geplant ... Jetzt werden es anscheinend 20. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, hier, endlich ein neues Kapitel! *keuch* *schnauf*
Es tut mir leid, dass so lange nichts mehr kam, das lagganz einfach daran, dass ich momentan eine unkreative Phase und dazu nicht sehr viel Zeit habe. Ich hoffe einfach mal, das ändert sich bald.
Dieses Kapitel ist nicht sehr lang (sorry) und auch nicht besonders spannend (doppel-sorry), aber ich denke, das nächste wird euch wieder gefallen. Die Sachen, die noch passieren, habe ich zwar erst in groben Zügen in meinem Kopf, aber man darf gespannt sein! ^^ (Und ich hoffe, ich enttäusche eure Erwartungen damit nicht.)
Ich freue mich schon auf eure Kommentare! :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (13)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  _DrachenBlut_
2014-07-17T08:45:00+00:00 17.07.2014 10:45
Naja, wenn es ruhig ist, ist es ja gut. Wenn auch lagweilig, es darf ja nicht zu viel auf einmal passieren.
Ich denke mal, dass das hier jetzt die "Beruhigungsphase" von den vorherigen Kapiteln ist. Ich bin ziemlich froh, jetzt sowas lesen zu dürfen. Aber die letzten Sätze bereiten mir wieder Sorge.
Von:  _DrachenBlut_
2014-06-29T19:48:36+00:00 29.06.2014 21:48
Ein ziemlich beruhigendes Kapitel für die Geschichte muss ich sagen.
Aber es gefällt mir. Schließlich passiert im Moment ja nichts, was Louise irgentwie zu schaffen macht. Außer vielleicht diese kurze Stelle, wo sie denkt, dass sie Alice und Michelle beschuldigt hat, aber sonst.. Danke, für das ruhige Kapitel!

ps: Tiger ist süß!
Von:  MangaMaria
2014-06-14T05:54:30+00:00 14.06.2014 07:54
Puh, nach dem letzten Kapitel bin ich froh, dies zu lesen. Spannend, dass Louise sich selbst ein Herausforderung gestellt hat. Ich mag sie :-)
Antwort von:  _DrachenBlut_
14.06.2014 13:34
Ich auch! Dann bin ich mal gespannt, was in Rom passieren wird!
Von:  _DrachenBlut_
2014-06-08T10:04:24+00:00 08.06.2014 12:04
Oh mann! Von Kapitel zu Kapitel wird es schlimmer. Ich kriege immer mehr Angst! Ich glaube, Louise hat ein gutes Herz, sie hat nur die falschen Freunde! Ich hoffe, dass sie durchhält-
Von:  MangaMaria
2014-06-08T06:36:24+00:00 08.06.2014 08:36
Erst eine Frage: warum ist Marcels Handgelenk rot?

Das Ende: es macht mir Angst. Das kommt so plötzlich und ich verstehe nicht, warum...
Antwort von:  _DrachenBlut_
08.06.2014 12:02
Ich verstehe das auch nicht! :(
Von:  MangaMaria
2014-06-07T06:28:58+00:00 07.06.2014 08:28
Hi, diesmal etwas Kritik:
Folgender Absatz passt nicht:
Ich muss ihn ohnehin noch mal danach fragen, was er meinte mit ‚ich soll auf eine andere Schule‘. So weit am Ende des Schuljahres macht das doch keinen Sinn?

Dieser SMS kam vorher nicht in deiner Geschichte vor. Fehlt ein Kapitel?

Sonst Bitte weiter so!

Antwort von:  xXmusic-loveXx
07.06.2014 10:42
»Weil niemand mich mag ich streite mich ständig in meiner Familie du hasst mich und jetzt soll ich auch noch weg von dir auf eine andere Schule das ertrag ich nicht«

Diese Zeilen sind von Marcel aus Kapitel 5. Da hat er schon so etwas angedeutet. Daher habe ich mir erlaubt, das in diesem Kapitel noch mal aufzugreifen.
Antwort von:  MangaMaria
07.06.2014 11:50
Oh sorry, dass ist mir untergegangen. Vielleicht weil nebenbei erwähnt wurde. Aber dann passt es natürlich.
Antwort von:  xXmusic-loveXx
07.06.2014 11:53
Kein Problem, dafür sind die Komments doch da. (^-^)
Von:  MangaMaria
2014-06-04T22:28:47+00:00 05.06.2014 00:28
Tolle Bilder hast du für die Charaktere!!!!
Antwort von:  xXmusic-loveXx
05.06.2014 17:18
Danke, ich habe sie selber gemalt. :)
Von:  _DrachenBlut_
2014-06-04T17:09:49+00:00 04.06.2014 19:09
Sehr ergreifende Story. Allerdings kommt mir das Ende ein bisschen kurz vor, als würdest du das schnell fertig machen wollen.
Ansonsten voll cool!!
Antwort von:  xXmusic-loveXx
04.06.2014 20:58
Ja, ich muss auch ehrlich sagen, dass ich nicht wusste, wie ich es enden lassen soll. :D
Von:  MangaMaria
2014-06-01T21:53:48+00:00 01.06.2014 23:53
Wow, was für eine Geschichte. Sehr ergreifend. Es ist so chaotisch beschrieben, so wie es in so einer Situation sicher wäre. Ich konnte richtig mit Louise mitfühlen und hatte selbst die Tränen in den Augen und Herzklopfen beim Lesen.
Antwort von:  xXmusic-loveXx
02.06.2014 11:27
Danke, es freut mich, dass dir die Geschichte gefällt! :)
Antwort von:  _DrachenBlut_
02.06.2014 18:43
Ja, ich muss dir recht geben.. Um ehrlich zu sein, hatte ich höllische Angst! Krass, dass du sowas schreiben kannst! Ich hoffe, dass es Louise und Marie dann bald auch gut geht. Ich bin gespannt auf das nächste Kapitel!


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