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Nicht weinen sollst du, Hanako

Geschichten über Konoha
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein Jahr vor Kyuubi. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Jahr von Kyuubis Angriff auf Konoha. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ungefähr ein Jahr nach Kyuubi.

Ich wiederhole vorsichtshalber die Warnung vom Anfang: Dieses Kapitel wird recht brutal. Düstere Auffassung von dem, was einem Shinobi so alles passieren kann. Adultwürdig ist es in meinen Augen allerdings nicht. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Jahr von Kyuubis Angriff. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Neun Jahre nach Kyuubi. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Zwölf Jahre nach Kyuubi.

Warnung: Mal wieder relativ viel Gewalt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Immer noch zwölf Jahre nach Kyuubi (?)

Warnung: Brutalität, Blut, fehlende Körperteile.
Eine kleine Anmerkung: Habe recherchiert und weiß, dass es normalerweise Wochen dauert, bis man Tetanus (Wundstarrkrampf) auskuriert hat, vorausgesetzt, man bleibt dafür lange genug am Leben. Ich schiebe das hier auf überlegene Shinobi-Heilfähigkeiten. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vierzehneinhalb Jahre nach Kyuubi / ein Jahr vor Shippuuden. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung: Ich wette, jemand, der sich besser mit Moral auskennt als ich, hätte zu diesem Kapitel einiges zu sagen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Fast sechzehn Jahre nach Kyuubi / Shippuuden. Komplett anzeigen

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Shintaros Geschichte, Teil eins – Ihr habt noch nicht verstanden, warum ihr hier seid.

Shintaro ist sich nicht sicher, ob heute ein Trauertag oder ein Festtag ist. Auf dem Platz vor dem Hokageturm drängen sich die Einwohner Konohas, Shinobi und Zivilisten gleichermaßen, Kinder auf den Schultern ihrer Eltern, Uniformen, feierliche Kleidung. Seine Mutter Kaede neben ihm hat ein Taschentuch hervorgezogen und drückt es sich vor den Mund.

„Dieser Tag“, schallt die Stimme des dritten Hokage über die Menschenmenge hinweg, „soll in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem der dritte große Krieg der Shinobi ein Ende gefunden hat.“

Er sieht alt aus, findet Shintaro, dieser kleine Mann in weißem Mantel und weißem Hut. Sein Gesicht ist müde und grau, aber er hält sich aufrecht, wie ein alter Baum, knorrig, aber ungebrochen. Einen Schritt hinter ihm steht der Vierte, den Blick ins Leere gerichtet, als sei er mit den Gedanken woanders. Anders als der Dritte hat er im Krieg gekämpft, denkt Shintaro. Er ist einer von ihnen.

„Unsere Gedanken sind heute bei all denen, die ihr Leben gelassen haben für unseren Frieden. Lasst uns diesen Frieden, dieses Geschenk, für immer in Ehren halten.“

Kaede schluchzt leise auf, und Shintaro legt ihr den Arm um die Schulter. Nächste Woche wäre Vater dreiundfünfzig geworden, sie wären gemeinsam Essen gegangen, Shintaro hatte den Tisch schon reserviert. Jetzt bleibt ihnen nichts übrig, als mit den Gedanken bei ihm zu sein.

„Aber“, fährt der Hokage sanft fort, „lasst uns nicht ausschließlich trauern. Wir würdigen das Andenken an die Toten nicht dadurch, dass wir verzweifeln. Freuen wir uns an dem Neuanfang, der Konoha ermöglicht wurde. Heute ist ein Festtag.“

Also doch, denkt Shintaro. Das ist gut zu wissen.

„Freue dich an deinem Frieden, Konoha, und deine Ahnen werden sich mit dir freuen.“

Der Applaus, der aufbrandet, ist nur an wenigen Stellen mit Jubel gemischt.
 

„Ich muss nach Hause“, sagt Kaede leise.

„Erinnerst du dich an das, was Hokage-sama gesagt hat? Vater hätte nicht gewollt, dass du verzweifelst.“

Sie lächelt und lehnt kurz den Kopf an Shintaros Schulter. „Ich verzweifle nicht. Ich brauche nur ein bisschen ... Zeit. Wahrscheinlich ziehe ich mich an einen stillen Ort zurück und berichte deinem Vater darüber, wie glücklich alle sind.“

Shintaro runzelt die Stirn und sieht sich um. Das Friedensfest ist in vollem Gange. An Marktständen werden Süßigkeiten und gegrillte Speisen verkauft, in den Bäumen hängen bunte Girlanden und Lampions, ein undurchdringliches Stimmengewirr erfüllt die Luft. Ein paar Akademieschüler, sieben oder acht Jahre alt, singen ein Lied, das schon Generationen von Akademieschülern vor ihnen lernen mussten. Shintaro kennt es noch immer auswendig.
 

Hanako, Hanako, Blumenkind, sie lief zum Tor

Die Stimme ihres Liebsten noch in ihrem Ohr

Sie wartete lang, sie wartete lang,

sie wartete, bis die Sonne sank

Zehn Wochen war ihr Liebster fort

Sie weinte jeden Tag.
 

„Wie du meinst, Mutter“, sagt Shintaro, obwohl er gar nicht findet, dass alle so glücklich aussehen.

Erneut lächelt sie. „Pass auf dich auf. Trink nicht so viel, und geh nicht zu spät nach Hause.“

„Ich bin fünfundzwanzig, kein Kind mehr. Ich komme schon zurecht.“

„Natürlich tust du das.“ Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und schlurft davon. Sie sieht so alt aus. Shintaro sieht ihr nach, das Singen der Kinder in den Ohren.
 

Der Vater sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Dein Liebster kämpft im Kriege, denn ihn ruft die Pflicht.

Und wer nicht kämpft, und wer nicht hört

auf Konohas Ruf, ist deiner nicht wert!

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.
 

*
 

Shintaro hat lange überlegt, was er am ersten Tag mit seinen neuen Schülern unternehmen soll. Letztendlich stehen sie auf einem kleinen Balkon über dem steinernen Kopf des zweiten Hokage und sehen über das Dorf. Es ist Winter, der Wind ist kalt, ein feiner Nieselregen liegt in der Luft. Die drei Jungen sind vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, in seinen Augen Kinder, keine Männer. Auch, wenn sie ihren ersten Krieg bereits hinter sich haben.

„Ich will ehrlich mit euch sein. Noch vor ein paar Monaten hätte ich mir nicht vorstellen können, ein Team von Genin auszubilden. Ich kenne all die Grundlagen, die ihr lernen müsst, aber ich bin mit Sicherheit kein geborener Lehrer.“

Sie sehen ihn aufmerksam an, drei Augenpaare, braun, dunkelgrau, hellgrün.

„Im Krieg war ich ständig auf Missionen, deswegen haben sie mir damals noch keine Genin anvertraut. Ich habe gekämpft und bin unverletzt zurückgekehrt, aber es war Glück, kein Können. Viele, die besser und erfahrener waren als ich, sind gestorben ... zum Beispiel mein Vater. Zu viele Jounin und auch Genin sind gefallen, alles ist durcheinander geraten. Es wird Zeit brauchen, bis wieder Normalität einkehrt.“

Er verschweigt ihnen das, was ihm eigentlich auf der Zunge liegt, dass es nämlich momentan viel zu viele Genin gibt. Im Krieg haben sie Achtjährige, die eigentlich noch ein paar Jahre Akademie hätten vertragen können, zu Genin gemacht, um schnellen Nachschub für die Front zu haben. Das Ergebnis ist ein heilloses Chaos. Man kann einen Zehnjährigen, der schon Blut an den Händen hat, nicht zurück an die Grundschule schicken, als sei nichts gewesen.

Der größte der drei Jungen lässt Shintaro nicht aus den Augen. Sein Blick ist ruhig, aber stechend und seinem Alter absolut unangemessen. Shintaro reißt sich zusammen.

„Also – ich habe die Rolle eingenommen, in der ich Konoha momentan am meisten nützen kann. Und ich werde mein Bestes geben, um meine Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit zu erfüllen.“

Er fährt sich durch die Haare und macht eine kurze Pause. „Jetzt seid ihr dran. Seht nach vorn.“

Sie drehen sich um und betrachten das Dorf.

„Was seht ihr?“

Er weiß, dass die Frage etwas seltsam ist, weshalb er den Jungen einige Zeit zum Überlegen lässt. Ein Glück, dass sie ihm keine Mädchen gegeben haben. Wenn er sich schon mit Kindern befassen muss, was ohnehin nicht seine Stärke ist, dann wenigstens nicht mit pubertierenden Mädchen. Wenn Konoha es verlangt hätte, hätte er natürlich auch das getan, aber so ist es besser.

„Also, fängst du an?“, sagt er nach einer Weile und deutet auf den Jungen ganz rechts. „Tonbo war dein Name, richtig?“

Tonbo nickt und dreht sich um. Er hat dunkelgraue Augen mit auffallend langen Wimpern, eine Wollmütze über den Kopf gezogen und das Stirnband davor gebunden. Trotz der winterlichen Temperaturen trägt er keine Jacke, sein Pullover ist an den Ärmeln zu kurz.

„Also, ich sehe ... Konoha. Da hinten wohne ich.“

Er deutet auf ein Randviertel, sicher meint er eins der Mehrfamilienhäuser. Aus der Entfernung kann man die kreuz und quer gespannten Wäscheleinen und die abblätternden Werbeplakate an den Mauern nur erahnen.

„Mit meiner Mutter und meinen Geschwistern, Vater ist tot. Vielleicht ziehen wir bald um, sagt Mama. Sind ja Wohnungen freigeworden, wegen dem Krieg.“ Unter der Mütze runzelt Tonbo die Stirn. „Na ja, und ... was sehe ich noch? Da hinten ist die Akademie. Ich bin froh, dass ich damit fertig bin. Es war echt langweilig. Keine Action und so.“

„Du hast im Krieg gekämpft?“, fragt Shintaro.

„Ja. Ich bin mit elf Genin geworden und in ein Team mit meinem großen Bruder Akira gekommen.“

„Wer war dein Sensei?“

„Ich hatte verschiedene. Einer ist gestorben. Zuletzt hatte ich Mikoto-sensei, aber sie musste das Team abgeben. Sie kriegt ein Baby.“

„Eine gute Nachricht.“

Shintaro nickt und wendet sich dem mittleren Jungen zu, der auf einer kinnlangen weißen Haarsträhne herumkaut. Seine Größe ist durchschnittlich für sein Alter, aber sein rundliches Gesicht lässt ihn kindlich und arglos wirken.

„Mizuki, nicht wahr?“

„Ja.“ Er nimmt die Haare aus dem Mund. „Na ja ... wie gesagt, das ist Konoha. Ich wohne genau am anderen Ende, da. Wir haben ein bisschen wenig Platz, ich teile mein Zimmer mit meinem kleinen Bruder. Aber der ist in Ordnung. Direkt neben dem Haus ist der alte Baum, der ist so groß, dass man ihn von hier aus noch sieht. Wir haben darauf klettern gelernt, das machen alle aus der Straße.“

„In welchem Team warst du bisher?“

„Mit Ibiki, seit wir zehn waren.“ Er deutet auf den Jungen ganz links. „Unsere Dritte im Bunde haben sie irgendwo anders hin gesteckt, weil sie eh zwei Jahre jünger war.“

„Dann bist du also Ibiki“, sagt Shintaro.

Der letzte Junge nickt. Er hat ein kantiges Gesicht, dominiert von diesen stechenden Augen. Die Hände hat er in den Taschen seines Mantels vergraben, und Shintaro kann nicht recht erkennen, ob die Schultern des Mantels gepolstert sind oder ob er wirklich so breitschultrig ist.

„Bei allem Respekt, Shintaro-sensei, ich habe Ihre kleine Übung längst durchschaut. Darf ich auflösen?“

Shintaro zieht die Augenbrauen hoch. „Du bist einer von der ganz gerissenen Sorte, was?“

Ibiki bemerkt, dass die anderen beiden ihn anstarren, und lächelt. „Darf ich?“

„Versuch es.“

„Jeder der beiden hat erzählt, was ihn mit diesem Dorf verbindet. Das ist es, was Sie uns zeigen wollten, nicht wahr? Dass wir mit Konoha verbunden sind. Und danach werden Sie uns erklären, dass diese Bindung in Friedenszeiten genauso wichtig ist wie im Krieg. Auch wenn man nicht mehr jeden Tag hört, für Konoha, ist Konoha immer noch da. Und wir müssen dafür einstehen.“

Zum ersten Mal seit langer Zeit muss Shintaro lachen. „Ich sollte mich wohl vor dir in Acht nehmen, Ibiki.“

„Nicht Sie“, erwidert Ibiki bescheiden. „Aber alle anderen.“
 

*
 

Der erste Trainingstag ist beendet, und Shintaro muss zugeben, dass sogar er ins Schwitzen geraten ist. Tonbo liegt mit geschlossenen Augen lang im Gras ausgestreckt, Mizuki hat das verschwitzte Kopftuch abgezogen und knotet daran herum, Ibiki nuckelt an seiner Trinkflasche.

„Hört mal, Jungs“, spricht Shintaro das an, was ihm schon den ganzen Tag auf der Seele liegt. „Wenn ihr so weitermacht, haben wir ein echtes Problem.“

Sie blinzeln verwirrt.

„Wir haben doch alles gemacht, was Sie wollten, Sensei“, sagt Tonbo und setzt sich schwankend auf. Gras klebt in seinen Haaren.

Es ist nicht einfach, das, was ihn stört, in Worte zu fassen. „Wenn ich gesagt habe, lauft fünf Runden um den Platz, habt ihr das getan. Aber man hat gesehen, dass ihr keinen Grund dafür gesehen habt – nur den, dass ich es euch gesagt habe. Ihr habt noch nicht verstanden, warum ihr hier seid.“

Sie sehen einander an.

„Warum denn, Sensei?“, fragt Mizuki höflich.

„Was haben sie euch bisher beigebracht? Denkt nicht nach, sondern befolgt eure Befehle, denn sonst seid ihr tot?“

„So ungefähr“, sagt Ibiki schmunzelnd.

„Natürlich haben sie das. Es ist die einfachste und einzige Art, Genin, die noch nichts vom Kämpfen verstehen, vor dem sicheren Tod zu bewahren. Aber ich bilde euch nicht als Genin aus, sondern als Shinobi. Ihr sollt später selbst diejenigen sein können, die Befehle geben, das ist mein Ziel. Und dazu müsst ihr verstehen, wozu es gut ist, was ihr tut. Wenn ihr mit dem Herzen bei der Sache seid, werden auch eure Leistungen sich verbessern.“

„Waren Sie heute nicht zufrieden?“, fragt Tonbo, und die Enttäuschung in seinem Blick irritiert Shintaro. Spricht er mit einem Vierzehnjährigen oder einem Fünfjährigen?

„Nein, heute war ich nicht zufrieden. Aber wir werden zusammen dafür sorgen, dass ich es in Zukunft sein kann. Ich weiß, dass wir das schaffen. In Ordnung?“

„Ja, Sensei.“

Shintaro nickt und überlegt kurz. „Und um diesen Tag etwas gemütlicher ausklingen zu lassen, als er angefangen hat, lade ich euch zum Essen ein.“

Ihre Reaktionen schwanken zwischen Verblüffung und Begeisterung. Vermutlich haben sie mit keinem ihrer bisherigen Senseis etwas unternommen, und Shintaro kann seinen Vorgängern nicht einmal einen Vorwurf daraus machen. Sie hatten keine Zeit. Er hat sie.
 

„Meine Mutter ist tot“, erzählt Ibiki zwischen zwei Bissen. „Ich wohne bei meinem Vater, aber er ist bei der ANBU und ständig auf Missionen. Meistens lebe ich allein.“

„Bei mir ist es mein Vater, der tot ist“, sagt Tonbo und zieht die zu kurzen Pulloverärmel über seine Handgelenke. „In der ersten Kriegswoche verschollen. Aber Mama sagt, wir schaffen das schon. Wir sind zu sechst zu Hause, aber Akira wird bald Chuunin, und ich verdiene ja auch Geld. Und Mama kriegt so ein bisschen Witwenrente von Konoha.“

„Muss schön sein. Mein Vater hat sich erst scheiden lassen und ist dann gestorben. Mama verflucht ihn immer noch dafür.“ Mizuki lacht kurz auf. „Gut, dass mein kleiner Bruder so ein verdammtes Genie ist. Er ist seit einem halben Jahr von der Akademie weg, und jetzt sind wir alle vier Shinobi. Das läuft schon.“

„Dein kleiner Bruder hat sie nicht mehr alle“, knurrt Ibiki. „So ein kleines Kind, das an nichts denken kann als töten, töten, töten.“

„Nichts gegen meinen Bruder, okay?“

„Lebt Ihre Mutter noch, Shintaro-sensei?“, fragt Tonbo.

Offenbar hat er sich das gemerkt, was Shintaro über seinen Vater gesagt hat. „Ja, es geht ihr gut. Vater und sie haben sich im Waisenhaus kennengelernt und später geheiratet. Ich erinnere mich, dass sie oft auf Missionen mussten, als ich klein war. Ich erinnere mich auch, dass ich deswegen Angst hatte. Aber sie haben mir immer gesagt, wenn sie sterben würden, würde Konoha sich um mich kümmern.“

„Konoha“, sagt Tonbo leise.

„Der Gedanke hat mich beruhigt. Er tut es immer noch.“ Shintaro runzelt leicht die Stirn. „Mein Vater hat gesagt, Die Regeln dieses Dorfes lauten, zehn Blätter zu opfern, um eines zu retten. Wenn du alles für Konoha tust, wird es auch alles für dich tun.

Die Jungen sehen ihn an, mit schief gelegten Köpfen, fast verträumt. Shintaro errötet leicht und reißt sich zusammen.

„Aber ich bin niemand für Sentimentalität. Esst weiter, bevor es kalt wird, Jungs. Wer hart an sich arbeiten will, muss auch ordentlich essen.“

„Wird gemacht, Sensei!“
 

*
 

Ein Shuriken zischt geradewegs an Shintaros Ohr vorbei, und er fährt herum.

„Mizuki! Ich habe gesagt, du sollst da hinten üben!“

„War doch gut gezielt, oder, Sensei?“

„Du bist ein Shinobi, kein Zirkuspferdchen! Du wolltest unbedingt, dass ich dir Kuchiyose beibringe, damit du im Notfall Nachschub an Waffen heraufbeschwören kannst. Also arbeite daran!“

Hai, hai, Sensei.“ Mizuki grinst entschuldigend und läuft hinüber zum anderen Ende der Wiese, wo die Zielscheiben stehen. Hoffentlich kommt er zurecht, denkt Shintaro und sieht ihm mit gerunzelter Stirn nach. Er hat ihm das einfachste Kuchiyose gezeigt, das er kennt, aber Beschwörung bleibt Beschwörung und ist damit eine komplizierte Technik, selbst wenn es nur um leblose Waffen geht.

„Hoffen wir, dass er sich durchbeißt. Wo steckt denn Ibiki schon wieder?“

„Weiß ich nicht, Sensei“, antwortet Tonbo aufgeregt. „Gerade habe ich es fast geschafft, sehen Sie mal!“

Sie haben bald festgestellt, dass Tonbo mit Shintaro die Begabung für das Element Feuer teilt, und Shintaro gefällt das – er würde fast sagen, er fühlt sich geschmeichelt, auch wenn er dieses Gefühl nicht begründen kann.

„Dann lass sehen.“

Tonbo nickt, atmet tief durch und hebt die Arme. Er schließt die Siegel so schnell vor der Brust, dass man seine Finger kaum noch erkennen kann.

Katon: Goukakyuu no Jutsu!

Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand formt er einen Kreis und pustet hindurch. Ein Feuerstrahl schießt hervor, der sich vorne zu einer faustgroßen Kugel ballt, von einzelnen Flammen umzüngelt. Shintaro zieht die Augenbrauen hoch.

„Noch recht klein, aber deine Technik ist sehr gut. Darauf kannst du aufbauen.“

Tonbo schnappt nach Luft, und der Ball verschwindet. „Mir geht ein bisschen die Puste aus.“

„Das ist normal. Es wird sich legen, wenn du Gewohnheit bekommst.“

„Machen Sie nochmal vor, wie das am Ende aussehen muss, Sensei!“

„Wie oft habe ich es dir heute schon gezeigt?“

„Es ist motivierend, ein Ziel vor Augen zu haben. Sie haben doch gesagt, wir müssen verstehen, warum wir tun, was wir tun.“

„Also gut.“

Shintaro führt dasselbe Jutsu aus wie Tonbo. Seine Feuerkugel erreicht einen Durchmesser von etwas über einem Meter, nicht gigantisch, aber für eine Demonstration ganz ordentlich. Tonbo weicht einen Schritt vor der Hitze zurück, aber Shintaro bleibt stehen. Er liebt den heißen Luftzug an seinem Gesicht, den Geruch von Schwefel und das Gefühl, mächtig zu sein. Macht ist eine Droge, die mit Vorsicht genossen werden muss, haben seine Eltern ihm eingebläut. Aber sie ist so schön.

„Die war noch größer als beim letzten Mal, Sensei!“, sagt Tonbo. „Wissen Sie, was ihr Rekord ist?“

Shintaro lässt die Hand sinken und die Feuerkugel erlischt auf einen Schlag. Er will antworten, hält aber inne, als er zwei Schritte weiter eine Gestalt stehen sieht.

„Ist das Ibiki?“, fragt Tonbo erschrocken.

„Sensei“, krächzt Ibiki, die Haut rot verbrannt, die Kleider in verkohlten Fetzen herunter hängend. „Passen Sie doch auf, wohin sie pusten.“

Shintaro lächelt dünn und wendet sich Tonbo zu, der Ibiki schockiert anstarrt. „Nun, Tonbo? Was tun wir, wenn so etwas passiert?“

„Einen ... einen Arzt rufen, Sensei?“

„Nein, viel einfacher.“ Shintaro hebt die Hand. „Kai.“

Eine Staubwolke steigt vom Boden auf, und als sie sich wieder legt, steht Ibiki unversehrt direkt vor ihnen.

„Sie haben die Illusion sofort durchschaut, Sensei. Wie langweilig.“

„Beim Training überprüfe ich immer vorher, dass niemand dem Feuer im Weg steht. Das wäre ja sonst noch schöner.“

„Sie hätten wenigstens so tun können, als hätten Sie sich erschreckt.“

„Warum denn das?“

„Weil es mich gefreut hätte“, sagt Ibiki und mustert ihn eingehend. „Nehmen Sie's mir nicht übel, Sensei, aber manchmal sollten sie ihr Leben ein bisschen lockerer angehen. Sie machen sonst weder uns noch sich selbst eine Freude.“

Shintaro blinzelt irritiert und weiß nicht, was er dazu sagen soll. Sein ganzes Leben lang hat er getan, was von ihm verlangt wurde. Noch nie hat jemand von ihm verlangt, locker zu sein.

„Wie auch immer. Das Genjutsu an sich war jedenfalls nicht schlecht, Ibiki.“

„Auch wenn es nur für einen Witz gedient hat“, sagt Tonbo. „Du bist doch kein Zirkuspferdchen, Ibiki.“

„Es hat immerhin dazu gedient, dir eine Lektion über Genjutsus zu erteilen. Du darfst nicht immer alles glauben, was du ...“ In einer einzigen Bewegung zieht Ibiki ein Kunai aus seiner Tasche und blockt einen Shuriken ab, der neben seinem Kopf entlang fliegt.

„Verdammt!“

„Steh früher auf, Mizuki!“, brüllt Ibiki quer über den Platz. „Und lass dir langsam etwas Neues einfallen!“

Mizuki schlendert zu ihnen herüber, nachdenklich auf einer Haarsträhne kauend. „Sagen Sie mal, Sensei? Gibt es Shuriken nicht auch in größer?“

Shintaro lacht auf. „Es gibt welche, bei denen ein Zacken länger ist als dein Unterarm.“

„Im Ernst?“

„Ja, aber natürlich sind sie dementsprechend schwer und hindern dich daran, dich frei zu bewegen. In einem längeren Kampf sind sie deshalb eher von Nachteil – das heißt, solange du deine Beschwörung nicht beherrschst.“

„Aber wenn ich sie beherrsche, kann ich es mit den großen versuchen, Sensei?“

In Mizukis Augen leuchtet eine kindliche Begeisterung, dieselbe wie bei Tonbo, wenn Shintaro seine Feuerkugel vorführt. So war er früher auch, denkt Shintaro. Oder etwa nicht?

Shintaros Geschichte, Teil zwei – Wir sind alle am Leben, das lässt sich festhalten.

„Wann lerne ich endlich die Mutter meiner Enkelkinder kennen?“

„Das fragst du mich seit Jahren, Mutter“, sagt Shintaro ungeduldig.

Kaede lacht. „Du bist sechsundzwanzig! Wenn du dich nicht langsam nach einer Frau umsiehst, wird es zu spät sein.“

„Ich habe zu tun. Ich muss mich um mein Team kümmern.“

„Das ist typisch für dich, Shintaro. Sobald du eine Aufgabe hast, konzentrierst du dich so sehr darauf, dass du alles andere vernachlässigst.“

„Ich möchte meine Sache eben gut machen.“

Kaede seufzt laut. „Dann stell mir wenigstens dein Team vor. Ich möchte den Namen, die ich ständig von dir höre, endlich Gesichter zuordnen können.“

Ständig hörst du sie ja auch nicht.“

„Du erzählst am laufenden Band von ihnen!“

Verwirrt sieht er sie an. „Tue ich nicht.“

„Tust du doch“, erwidert sie entschieden. „Die Regenrinne muss repariert werden, und ich fände es schön, wenn ihr das anpacken würdet.“

„Wie du meinst.“
 

Ibiki, Mizuki und Tonbo sind sofort bereit, die Mission Regenrinne anzugehen. Es ist ein sonniger Tag, und während die drei darüber diskutieren, wie man die Leiter am sichersten aufstellt, sitzt Shintaro bei Kaede im Schatten eines Baumes.

„Sie sind reizend“, sagt sie und nippt an ihrem Tee. „Höfliche, verlässliche Jungen. Sie erinnern mich an dich, als du jünger warst.“

Die Aussage freut Shintaro so sehr, dass er sich im nächsten Moment fragt, wieso. Es war ja nicht direkt ein Kompliment an ihn.

„Ja. Mittlerweile bin ich sehr zufrieden mit ihnen.“

Kaede sieht ihn von der Seite her an und lächelt. „Sie tun dir gut.“

„Wie meinst du das?“

„Du bist ein bisschen lockerer geworden, seitdem du sie hast.“

Locker? Etwas Ähnliches hat Ibiki auch gesagt. Shintaro weiß noch immer nicht, was er mit diesem Wort anfangen soll.

„War ich denn vorher anders?“

Sie lacht. „Shigeru und ich haben dir beigebracht, ein guter Shinobi zu sein. Aber anscheinend brauchte es diese Jungen, um dir beizubringen, ein Mensch zu sein.“

Shintaro runzelt die Stirn. Es klingt sentimental, und Sentimentalität liegt ihr normalerweise genauso wenig wie ihm. Früher war sie anders, als sie noch als Kunoichi gearbeitet hat. Im letzten Krieg hat sie einen Giftgasangriff überlebt, einer ihrer Lungenflügel musste entfernt werden. Die Ärzte haben ihr geraten, den Dienst zu quittieren, und sie hat es getan. Ob sie sonst so seltsam geworden wäre? Ein Mensch sein. Was bedeutet das schon?

Mizuki boxt Ibiki in die Seite, Ibiki zieht ihm die Beine weg. Tonbo brüllt ein „Helfen Sie mal, Sensei!“ zu dem Baum hinüber, und Shintaro ist erleichtert, das Gespräch beenden zu können.
 

Das ominöse „locker sein“ hin oder her – Shintaro muss sich eingestehen, dass er glücklich ist. Er beginnt immer mehr, seine neue Aufgabe zu mögen, sie sogar als genauso wichtig zu erachten wie den aktiven Dienst. Jemand muss kommenden Generationen den Willen des Feuers überbringen, und bei seinen drei Schülern scheint es geklappt zu haben. Besonders Tonbo hängt an Shintaros Lippen, wann immer er davon erzählt.

In Shintaros Küche neben dem Kalender hängt ein Foto von ihm und den Jungen, aufgenommen auf der Treppe vor dem Hokageturm. Ibiki grinsend und mit verschränkten Armen an der linken Seite, den Kragen seines Mantels trotz der Wärme hochgeschlagen. Tonbo rechts an das Geländer gelehnt, den geflickten Pullover über den Arm gehängt, mit dunklen Augen in die Sonne blinzelnd. Mizuki auf den Stufen hockend, seinen Riesenshuriken stolz zwischen den Knien. Und irgendwo dahinter Shintaro selbst, mit einem unbeholfenen Lächeln. Er hat sich noch nie für fotogen gehalten.

Ein Jahr lang leckt Konoha seine Kriegswunden, junge Blätter ersetzen die alten. Der Frühling ist traumhaft warm, der Sommer beginnt früh und hält bis in den September an. Team Shintaro wächst zusammen.

Dann kommt der Herbst.
 

Kyuubi ausgebrochen. Alle Shinobi ohne andere Aufgaben sofort zum Hokageturm.

Shintaro hat das Gefühl, als würde sein Geist noch im warmen Bett schlafen, während sein Körper wach durch die Straßen hetzt. Hier im Kern Konohas ist der Angriff des Dämons noch nicht direkt zu bemerken, aber das Ereignis wirft seinen Schatten voraus. Obwohl es mitten in der Nacht ist, brennt hinter den meisten Fenstern Licht. Auf dem Schulhof der Akademie herrscht reger Betrieb, hier ist der Sammelpunkt für die Kinder, die evakuiert werden. Die Lehrer geben sich alle Mühe, ihre Klassen zu beruhigen. Die Fünf- bis Zwölfjährigen drängen sich in schiefen Zweierreihen aneinander, die Augen weit aufgerissen, die Gesichter vor Angst verzerrt. Shintaro entdeckt Tonbo einige Schritte weiter und hastet zu ihm hinüber.

„Da bist du ja. Wo sind die anderen?“

„Ibiki ist zum Hokageturm gegangen“, berichtet Tonbo mit militärischer Routine. „Als ich Mizuki zum letzten Mal gesehen habe, wollte er nach vorn.“

„Ganz allein?“

„Mit seinen Geschwistern, glaube ich.“

Shintaro sagt nichts dazu. „Wir sollten wenigstens Ibiki noch abholen, bevor wir gehen.“

„Sensei?“, fragt Tonbo und beißt sich auf die Lippe.

„Ja?“

Er streicht einem etwa achtjährigen Mädchen über den Kopf, das sich an seine Hand klammert und ängstlich zu Shintaro aufblickt. „Das ist meine Schwester Eiko. Meine anderen zwei Schwestern sind auch hier, und sie haben Angst. Die Lehrer meinten, sie könnten noch Hilfe gebrauchen, um die Kinder in die Höhlen hinter dem Hokagefelsen zu bringen. Ich möchte mit ihnen gehen.“

Shintaro zögert nur kurz und nickt. „Dann tu es.“

„Es tut mir leid, Sensei“, murmelt Tonbo und senkt den Blick.

„Das braucht es nicht. Dein Platz ist hier.“

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und macht sich auf den Weg.
 

„Nach und nach kommen alle an, die auch nur irgendwie kämpfen können“, sagt Ibiki und lässt den Blick über die Köpfe der versammelten Shinobi schweifen. „Alle halbe Stunde schicken sie wieder eine Gruppe nach vorn. Wenn wir in Gruppen gehen, sind wir erfolgreicher, haben sie gesagt.“

Er ist an der Fassade eines Hauses hochgeklettert, sitzt auf einem Balkon des Erdgeschosses und behält den Überblick. Shintaro bleibt ein Stück von der Hauswand entfernt stehen und sieht zu ihm auf.

„Wir gehen mit der nächsten Gruppe, die aufbricht.“

„Das dürfte nicht mehr lange dauern. Höchstens zehn Minuten, schätze ich.“

Shintaro nickt und zieht das Stirnband fester um seinen Kopf. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine solche Angst hatte. Nicht um sich, er fürchtet den Tod nicht. Sein Blick schweift über die dunklen Häuser, die Dächer und die Blumen in den Fenstern, und er hat Angst um Konoha.

„Wissen Sie, wo Tonbo und Mizuki sind, Sensei?“

„Tonbo habe ich vor der Akademie getroffen. Er hilft mit, die Schüler zu evakuieren. Mizuki habe ich nicht gesehen, aber Tonbo meinte, er wäre schon in den Kampf gezogen.“

„Ich habe seine Schwester und seine beiden Brüder gesehen, glaube ich. Sie sind mit der vorletzten Fuhre gegangen.“

Ibiki springt neben Shintaro zu Boden und richtet sich auf. Pünktlich zu seinem fünfzehnten Geburtstag hat er einen ordentlichen Wachstumsschub bekommen, mittlerweile ist er fast so groß wie Shintaro. Auch seine Schultern sind breiter geworden.

„Es scheint loszugehen“, sagt Shintaro und sieht nach vorn, wo ein Shinobi in grauer Uniform auf den Balkon des Hokageturms getreten ist. Er hebt die Arme, aber seine Stimme schafft es nicht, durch den Lärm der vielen Schritte und das Gerede zu Shintaro durchzudringen.

„Tun wir einfach das, was die anderen auch tun“, sagt Ibiki.

„Eine gute Idee.“

Jemand löst sich aus der Menge und rennt die Hauptstraße entlang, und die anderen folgen.
 

*
 

Shintaro kann sich später kaum daran erinnern, was passiert ist. Das Bild des Dämons hat er verdrängt, die Bäume, die er herumgewirbelt hat wie Spielzeug, die neun Schwänze, die durch den Nachthimmel peitschten. Er erinnert sich vage an die Geräusche von splitterndem Holz und knisterndem Feuer, an den Geruch von Rauch, Schweiß und Blut. Offenbar hat er etwas auf den Schädel bekommen, denn plötzlich steht er im Wald, ein Stück abseits vom Kampf, dem Splittern und Schreien. Seine Finger liegen auf seinem Kopf, warmes Blut sickert durch seine Haare. Vor ihm wurde eine Leiche über einen niedrigen Ast geschleudert.

Langsam macht er sich auf den Weg, kann sich aber nicht orientieren, wo der Kampf ist. Mal scheint der Lärm von hier, mal von da zu kommen. Jemand greift nach seinem Arm, er wird durch die Dunkelheit bugsiert, er sitzt, jemand wickelt etwas um seinen Kopf.

„Drücken Sie, bis es aufhört, zu bluten. Ich muss weiter.“

Seine Hand wird auf seinen Kopfverband gelegt und losgelassen. Hastige Schritte entfernen sich. Shintaro drückt die weiche Mullbinde gegen seinen Kopf, es pocht vor Schmerzen, er hat Blut an den Fingern. Um ihn herum lagern Verletzte auf dem Boden, sie müssen an der Grenze des Kampfgebiets sein, an einigen Bäumen ist die Rinde abgerissen oder versengt. Ein höchstens achtzehnjähriges Mädchen neben ihm tastet nach seinem verbrannten Gesicht. Ein kleiner Junge irrt herum und ruft nach seinen Eltern, hat sich wohl verlaufen. Eine Frau wiegt einen reglosen Mann in den Armen und singt monoton vor sich hin.
 

Der Bruder sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Dein Liebster kämpft für Konoha und doch für dich.

Auch ich will gehen, auch ich will gehen

Am Siegtag wollen wir uns wiedersehen.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.
 

Langsam kommt Shintaro auf die Beine. Er weiß nicht, wohin er will, er denkt nicht darüber nach. Manche der Verletzten auf dem Boden bewegen sich, andere nicht. Sanitäter hasten hin und her, sind überall und nirgendwo, haben für niemanden Zeit. Der Junge ruft immer noch, schaff doch endlich jemand das Kind hier weg.

„Shintaro-sensei?“

Jemand greift nach seinem Arm. Es ist Ibiki.

„Sind Sie verletzt?“

Shintaro sieht ihn an.

„Ich bin in Ordnung. Bin nur hier, weil ich Mizuki geholfen habe, seinen jüngeren Bruder in Sicherheit zu bringen. Es hat ihm beide Beine abgerissen. Sah gar nicht gut aus.“

Shintaro sieht ihn an.

„Verstehen Sie mich, Sensei?“ Ibiki greift fester nach seinem Arm. „Sie sollten sich wieder hinsetzen. Anscheinend haben Sie ordentlich etwas auf den Kopf bekommen.“

„Ich will kämpfen“, sagt Shintaro, dem endlich einfällt, weshalb er aufgestanden ist.

„Das haben Sie schon“, antwortet Ibiki entschieden und schiebt ihn zu einem umgestürzten Baumstamm hinüber. „In diesem Zustand werden Sie mehr schaden als nützen. Hier, setzen Sie sich.“

Irgendwer hat das Kind weggeschafft.
 

Wie sich herausstellt, hat Ibiki eine tiefe Wunde in der Bauchgegend, die er vor lauter Adrenalin gar nicht bemerkt hatte. Ein Mädchen, das jünger ist als er, legt ihm mit routinierten Handgriffen einen Verband an und eilt sofort weiter. Ibiki bleibt neben Shintaro sitzen und greift nach seinem Ärmel, wann immer Shintaro aufstehen will. Tonbo taucht nicht auf, was keine Überraschung ist. Selbst wenn er sich nach der erfolgreichen Evakuierung dazu entschlossen hat, im Kampf zu helfen, wird er sie in diesem Chaos kaum finden.

„Morino Ibiki, Genin. Das ist mein Sensei, Morino Shintaro.“

„Dein Vater?“, fragt der junge Mann mit dem gebrochenen Fuß, der sich zu ihnen gesellt hat.

„Nein.“

Der Name Morino ist in Konoha so häufig wie kaum ein anderer. Im Dorf hinter den Blättern aus dem Wald zu heißen ist nicht ungewöhnlich. Tatsächlich sind Shintaro und Ibiki weder verwandt noch verschwägert, soweit Shintaro weiß.

Ein Stück von ihnen entfernt kommt Geschrei auf. Der junge Mann sieht mit gerunzelter Stirn in die entsprechende Richtung.

„Das klingt nicht gut.“

„Doch“, widerspricht Ibiki ihm. „Das klingt sehr gut.“

Eine Kunoichi lässt sich von einem Baum fallen, verschwitzt und zerzaust, aber ansonsten unverletzt. Sie sieht sich um, erkennt das Dreiergrüppchen unter dem Baum und nickt ihnen eifrig zu.

„Yondaime Hokage ist angekommen. Er bekommt das Biest in den Griff!“

Ibiki schließt die Augen. „Hokage sei Dank.“

„Hokage sei Dank“, wiederholt Shintaro mechanisch.
 

Auf dem Rückweg stolpern sie über Mizuki. Er kauert mutterseelenallein neben einem Baum, stützt den Kopf in die Hände und heult. Neben ihm liegt etwas, das Shintaro erst im zweiten Moment als Leiche erkennt. Sie ist so klein.

„Komm mit, Mizuki“, sagt Ibiki und greift nach seinem Arm. „Es ist vorbei.“

„Ich habe gesagt, helfen Sie ihm! Ich habe gesagt, irgendetwas müssen Sie tun, er stirbt doch sonst, und diese Frau hat Mamoru nur angesehen und den Kopf geschüttelt und gesagt, du kannst ihm helfen. Und sie hat mir ein Kunai in die Hand gelegt. Mach es ihm leichter. Mach es ihm leichter!

Der tote Junge hat Mizukis helle Haare und seine grünen Augen unter halb geschlossenen Lidern. Es hat ihm beide Beine abgerissen, hat Ibiki gesagt, aber Shintaro sieht nicht hin. Er hat für heute genug gesehen.

„Komm mit“, sagt Ibiki noch einmal und zieht Mizuki auf die Füße. Mizuki sträubt sich gegen seinen Griff, eine Hand in die Haare gekrallt, einzelne Strähnen mit Blut verklebt. Seine Stimme überschlägt sich.

„Ich habe ihm gesagt, neun Jahre ist zu jung zum Sterben, und wenn er nicht auf mich hört, kriegt er eins drauf! Ich habe ihm gesagt, er darf nicht sterben!“

Ibiki packt ihn an den Schultern, stößt ihn mit dem Rücken gegen den Baum und hält ihn fest. Er spricht sehr deutlich.

„Er ist tot, Mizuki.“

Mizukis Augen zucken zwischen denen von Ibiki hin und her, von links nach rechts nach links. Er wagt es nicht, den Kopf zu schütteln.

„Und wir sollten jetzt gehen“, sagt Ibiki.
 

*
 

Shintaro weiß nicht, wie er ins Krankenhaus gekommen ist, geschweige denn, was Tonbo in seinem Zimmer tut. Aber da ist er, dreht Shintaro den Rücken zu und sieht aus dem Fenster, während er spricht.

„Ich bin bei der Evakuierungsgruppe geblieben. Wir sind auf diese kleine Hütte im Wald gestoßen und haben eigentlich nicht gedacht, dass jemand darin wäre. Aber wir haben trotzdem nachgesehen, und da schliefen eine alte Frau und zwei kleine Jungen, vielleicht drei Jahre alt. Wir haben nicht viel nachgefragt, sondern sie aus dem Bett geholt und in Richtung Konoha gebracht. Von da, wo das Haus stand, konnte man das Feuer schon flackern sehen. Wir waren ein gutes Stück weit weg, als ich endlich einem der Jungen zugehört habe. Sie haben beide geheult, die Kleinen, und der eine hat an meinem Ärmel gerissen und immer nur gesagt, Nene ist doch noch ganz klein!

Tonbo wendet sich vom Fenster ab und rückt die Vase mit den drei Blumen auf dem Nachttisch zurecht.

„Ich habe erst nicht verstanden, was er meinte, aber irgendwie habe ich mir dann zusammen gereimt, dass er von seiner kleinen Schwester gesprochen hat. Ich bin noch einmal zurück gerannt, obwohl die anderen meinten, wir dürften keine Zeit verlieren. Ich habe die Tür der Hütte aufgestoßen und das Baby schreien gehört. Es lag in einem Körbchen in der Ecke, wir hatten es einfach übersehen. Ein kleines Mädchen. Ich habe sie mir geschnappt und bin nach draußen, sie hat gezappelt und geschrien wie am Spieß, und ich dachte, wenn sie draußen das Feuer sieht und den Rauch riecht, wird es noch schlimmer. Aber sobald wir draußen waren, war sie plötzlich still. Sie hat das Licht des Feuers angesehen, mit ganz großen Augen, wie andächtig. Und ich habe gedacht ... es ist furchtbar, dass sie so etwas in diesem Alter schon sehen muss.“

Tonbo verstummt. „Sensei? Hören Sie mir zu?“

Shintaro sieht an die Wand.

„Sie haben Ihnen bestimmt Beruhigungsmittel gegeben, was? Ruhen Sie sich aus, Sensei. Tut mir leid, dass ich so viel rede, aber ... Na ja. Ich gehe dann mal nach Ibiki und Mizuki sehen. Erholen Sie sich, Sensei.“
 

*
 

Shintaro verbringt zwei Tage im Krankenhaus und eine Woche zu Hause im Bett. Seine Mutter kommt und sieht nach ihm, erklärt ihm unzählige Male, wie froh sie ist, dass er überlebt hat. Am liebsten würde sie ihn noch länger im Bett behalten, aber nach einer Woche steht Shintaro auf und beruft zuerst einmal eine Teambesprechung ein.

„Ich freue mich, euch wieder zu sehen, Jungs.“

Ibiki hat zahlreiche Kratzer im Gesicht und trägt unter den Kleidern vermutlich einen Verband um den Rumpf, er bewegt sich nur vorsichtig. Mizuki haben sie offenbar nach einer Kopfverletzung die Haare geschoren, er sieht mit trüben Augen auf den Boden und sucht mit den Lippen nach einer Haarsträhne, die nicht da ist. Tonbo ist nicht verletzt und wirkt geradezu beschämt darüber.

„Wir sind alle am Leben“, sagt Shintaro ernst. „Das lässt sich festhalten.“

Mizuki hebt den Kopf, einen Hass auf dem Gesicht, den Shintaro noch nie gesehen hat.

„Das sagen Sie.“

„Was mit deinem Bruder passiert ist, tut mir sehr leid. Aber er ist nicht umsonst gestorben. Konoha wäre zerstört worden, wenn nicht so viele von uns ihr Leben gegeben hätten. Er ist ein Held, Mizuki.“

Mizuki spuckt auf den Boden und wendet sich ab, tritt an die Brüstung des Daches und lässt sich hinunter fallen. Shintaro hört, wie er unten aufkommt und davon läuft.

„Wir lassen ihn besser für eine Weile in Ruhe“, murmelt Tonbo. „Es wird sich alles wieder einrenken. Er braucht einfach Zeit.“

„Vorgestern Nacht ist seine Schwester im Krankenhaus gestorben. Von seinem älteren Bruder haben sie nicht einmal die Leiche gefunden, und sein jüngerer ...“ Ibiki beendet den Satz nicht.

„Das wusste ich nicht“, sagt Shintaro.

„Ich hätte es Ihnen früher sagen sollen, Sensei. Ich habe es vergessen.“

Shintaro tritt an die Brüstung und sieht rechts und links die Straße entlang, aber Mizuki bleibt verschwunden.

„Richtige Informationen sind unverzichtbar“, erklingt Ibikis Stimme hinter ihm. „Ich muss beim nächsten Mal daran denken.“

Shintaros Geschichte, Teil drei – Ich muss für eine Weile weg.

Natürlich kommt es so, wie Tonbo gesagt hat. Alles renkt sich wieder ein. An einem Wintertag sitzen sie an einem Teich im Wald und lassen Steine springen, als sei nie etwas passiert. Zumindest fast.

„Sie haben diesen Dämon in irgendein Kind gebannt“, sagt Tonbo.

„Ein Neugeborenes. Aber niemand soll wissen, welches genau.“

Mizuki spuckt ins Wasser. „Zähl's dir an den Fingern ab. Viele Kandidaten gibt es nicht, oder?“

„Es wurde verboten, darüber zu reden“, sagt Shintaro schroff. „Und das wisst ihr ganz genau.“

Zum ersten Mal, solange er sich erinnern kann, widerspricht Ibiki ihm offen. „Warum darf niemand die Wahrheit wissen, Sensei? Die Wahrheit ist nichts, wovor man Angst haben muss.“

„Es geht doch nur darum, dass die Leute abergläubisch sind.“ Tonbo wirft einen flüchtigen Blick auf Mizuki. „Und voller Hass, teilweise. Man kann es ihnen nicht verübeln. Aber wie soll ein Kind gegenüber einem solchen Hass groß werden?“

„Tonbo hat Recht“, sagt Shintaro und sieht Ibiki an. „Und du solltest daran denken, dass es auch Wahrheiten gibt, die beschützt werden müssen. Sonst könnten wir unseren Geheimdienst ja gleich auflösen.“

Ibiki lächelt.

„Abgesehen davon gibt es eine Verordnung von Hokage-sama, nicht über den Wirt des Dämons zu sprechen. Ich weiß nicht, ob wir diese Verordnung gerade schon gebrochen haben.“

„Ach was.“ Tonbo sieht sich unauffällig um, aber sie sind allein.

„Deswegen schlage ich vor, wir machen weiter.“ Shintaro macht einen Schritt auf den Teich, das kalte Wasser schwappt gegen seine Schuhsohlen. „Ich möchte sehen, wie ihr über das Wasser lauft. Seid ihr wieder getrocknet, Jungs?“

„Warum üben wir das nicht im Sommer, Sensei?“, beschwert sich Mizuki.

„Weil gerade nicht Sommer ist und ihr dringend etwas für eure Chakrakontrolle tun müsst. Schließlich will ich euch in drei Monaten zur Chuunin-Prüfung schicken.“

Die drei Jungen starren ihn an.

„Ach ja“, sagt Shintaro. „Hatte ich das noch nicht erwähnt?“

„Sie nominieren uns als Chuunin?“, fragt Tonbo aufgeregt.

„Noch wichtiger, haben Sie gerade einen Scherz gemacht?“, fragt Ibiki mit einem Grinsen.

„Nein, das war ernst gemeint.“

„Ich meine den Teil mit dem hatte-ich-das-nicht-erwähnt.“

„Hatte ich es denn nicht erwähnt?“

„Sie können mich nicht verarschen, Sensei“, sagt Ibiki entschieden. „Sie haben einen Scherz gemacht.“

Shintaro muss lachen.
 

*
 

„Ich muss für eine Weile weg“, sagt Shintaro unvermittelt, als sie nach dem Training noch ein paar Minuten beisammen sitzen.

„Was meinen Sie damit, Sensei?“

„Es gibt eine wichtige Mission zu erledigen. Hokage-sama hat speziell nach mir verlangt, weil ich die Gegend von einem früheren Auftrag gut kenne. Ich werde sicher von Nutzen sein können.“

Sie sehen verblüfft aus, Tonbo geradezu erschrocken.

„Aber Sie können jetzt nicht weg!“

„In einer Woche beginnt der erste Teil unserer Chuunin-Prüfung!“

„Während dieser Zeit werdet ihr ohne mich auskommen müssen. Auch das müsst ihr schließlich lernen.“

Er sieht in ihre Gesichter und erkennt trotz ihrer Enttäuschung das Glänzen in ihren Augen. Sie sind jung und stark. In den letzten zwei Jahren ist er ihr ständiger Begleiter gewesen, hat sie angeführt und geleitet. Jetzt stehen sie vor der ersten großen Prüfung, die sie ohne seine Hilfe bestehen müssen. Er weiß, dass sie es schaffen werden.

„Wenn ich zurückkomme, will ich, dass ihr alle euer Bestes gegeben habt. Abgemacht?“

„Abgemacht, Sensei!“

„Seien Sie unbesorgt“, sagt Ibiki würdevoll. „Ich habe die beiden Ratten schon im Griff.“

„Wen nennst du hier Ratten?“

„Und wer hat gesagt, dass du der Chef wirst, Ibiki?“

„Frage ich mich auch!“

Sie wollen sorglos klingen, aber nicht einmal Ibiki schafft es.

„Jetzt zieht nicht solche Gesichter, Jungs“, knurrt Shintaro und schlägt Tonbo auf die Schulter, weil er nicht weiß, wohin mit seinen Händen. „Bis ihr mit der Prüfung fertig seid, bin ich längst wieder hier. Vielleicht kann ich mir sogar eure Finalkämpfe ansehen.“

Denn das will er. Er will sie kämpfen sehen.
 

„Ich muss verrückt sein, euch zum Essen einzuladen – bei den Mengen, die ihr in eurem Alter verdrücken könnt.“

„Sehen Sie es als Investition in unsere Zukunft, Sensei“, sagt Tonbo ernst. „Wer hart an sich arbeiten will, muss auch ordentlich essen.“

Sie lachen, Ibiki nimmt sich noch etwas Reis, Mizuki füllt sein Glas nach.

„Haben Sie irgendwelche weisen Ratschläge für uns, was die Chuunin-Prüfung angeht, Sensei?“

„Außer dem, was ich euch seit jeher einzubläuen versuche?“, fragt Shintaro schmunzelnd. „Nein. Bleibt immer wachsam. Achtet darauf, wem ihr über den Weg traut. Seid verlässlich und habt den Mut, euch auf eure Teamkameraden zu verlassen. Behaltet im Hinterkopf, dass ihr nicht nur für euch kämpft, sondern auch für Konoha.“

„Sonst nichts?“, fragt Tonbo enttäuscht.

„Für die Zeit, in der ich weg bin, könnt ihr euer Training selbst in die Hand nehmen. Ihr habt alle längst eure Stärken erkannt und wisst, wie ihr sie weiter ausbauen könnt. Steck noch mehr Arbeit in dein Katon, Tonbo, es wird sich lohnen. Ibiki, dass dein Genjutsu stark ist, weißt du so gut wie ich, aber du solltest dich nicht ausschließlich darauf verlassen. Du bist in letzter Zeit ein richtiger Hüne geworden, also mach etwas daraus. Ein bisschen Taijutsu kann nie schaden.“

Ibiki zuckt die Achseln und lächelt. „Wenn Sie meinen.“

„Und ich, Sensei?“, fragt Mizuki.

„Du isst erst einmal deinen Teller leer. Wenn du nicht ein bisschen an Gewicht zulegst, reißt dein eigener Riesenshuriken dich eines Tages von den Füßen.“

Sie lachen erneut, und Shintaro durchzuckt ein Stich von Wehmut, weil er sie sich selbst überlassen muss.
 

„Wo musst du hin?“

„Die Mission unterliegt strengster Geheimhaltung, Mutter.“

„Das hätte ich mir denken sollen“, seufzt Kaede.

Shintaro zuckt die Achseln. Es gibt das Gerücht, an der Grenze zu Takigakure würde eine reiche Großfamilie sich eine Privatarmee aufstellen wollen. Die versteckten Dörfer behalten sich das Privileg vor, Armeen zu besitzen, und abgesehen davon fürchtet Konoha nichts mehr, als dass das empfindliche Mächtegleichgewicht der fünf großen Reiche durcheinander geraten könnte. Der letzte Krieg ist erst zwei Jahre her.

„Also dann.“ Sie drückt ihn zum Abschied an sich. „Pass gut auf dich auf.“

„Mache ich doch immer.“

Sie klammert sich förmlich an ihn, das hat sie früher nie getan. Er wird zurückkommen, und wenn nicht, hat er sein Leben für Konoha gegeben. Alles ist in Ordnung. Shintaro befreit sich aus ihrem Griff und bemerkt zum ersten Mal, dass auch er eigentlich nicht weg will. Dieses Gefühl hatte er noch nie. Konoha hat ihm einen Auftrag gegeben, und er wird ihn ausführen.

„Wovor hast du Angst?“, fragt er, ist sich aber nicht sicher, an wen die Frage geht. „In spätestens einem Monat bin ich wieder hier.“
 

*
 

Drei Tage. Drei Tage lang haben sie sich so schnell und leise wie möglich fortbewegt, keine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, sind abseits der Wege geblieben, immer in den Baumkronen. Sie haben ihren Bestimmungsort beinahe erreicht, ohne auf irgendwelche Schwierigkeiten zu stoßen – genau das hätte sie misstrauisch machen müssen. Aber niemand hat etwas gesagt, und nun ist es zu spät.

„Ein Hinterhalt! Feind auf zwei Uhr!“

Rings um sie herum zischen Kunais aus dem Laub hervor, eines verfehlt knapp Shintaros Ohr. Instinktiv kauert er sich zusammen, um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten. Seine Finger schließen die Siegel, bevor sein Gehirn auch nur realisiert hat, was passiert.

Katon: Goukakyuu no Jutsu!

Der Feuerball trifft den nächsten Baum, die Blätter flackern einmal kurz auf und rieseln als Aschewolke zu Boden. Sie geben den Blick auf eine vermummte Gestalt frei, die ein Dutzend Shuriken in Shintaros Richtung schleudert. Mit einem Satz nach links bringt er sich in Sicherheit, landet auf einem dicken Ast und findet sein Gleichgewicht. Wo ist der Feind, und wo sind die anderen?

Direkt vor ihm explodiert eine Rauchbombe. Er verliert den Halt, wird gegen einen Baumstamm geschleudert und bleibt in den Ästen hängen. Sein Mund ist voller Staub, seine Ohren klingeln. Er will sich orientieren, wo der Rest seines Teams ist, aber der Rauch macht ihn praktisch blind. Etwas Warmes läuft über sein Gesicht, er spürt sein rechtes Bein nicht mehr.

Sein letzter banger Gedanke ist, dass er nicht mehr rechtzeitig nach Konoha kommen könnte, um seine Jungs kämpfen zu sehen.
 

*
 

„Aus Konoha?“

Ein Stiefel trifft ihn in die Seite, und er kommt zu sich. Er liegt auf dem Bauch auf einem hölzernen Boden. Wo er ist, weiß er nicht.

„Was in aller Welt wollen die hier?“

„Uns ausspionieren, was sonst?“

Sein Kopf dröhnt, sein Mund ist noch immer voller Staub, er spuckt auf den Boden. Sein rechter Fuß pocht vor Schmerzen. Jemand greift nach seiner Schulter und dreht ihn grob auf den Rücken.

„He, du“, sagt das Gesicht direkt vor seinem. „Was habt ihr hier gesucht?“

Er konzentriert sich auf seinen Zustand. Seine Arme sind hinter dem Rücken gefesselt, er hat Kopfschmerzen, ein paar seiner Zähne wackeln, und sein rechter Fuß tut noch immer weh.

„Sagst du es mir gleich, oder willst du es auf die harte Tour?“

Es gelingt ihm erstaunlich gut, die Worte zu verdrängen. Einfach nicht beachten, das übliche Gerede. Von so etwas lässt er sich nicht einschüchtern. Er ist ein Jounin Konohas.

„Hätte ich mir denken sollen. Scheiß-arrogante Hunde, diese Konoha-Nins.“

Er wird an den Haaren in eine sitzende Stellung hoch gezerrt und hört das Schleifen von Metall hinter seinem Rücken. Seine Sicht ist unscharf. Er will nach seinem schmerzenden Fuß sehen und muss feststellen, dass sein rechtes Bein in einem blutigen Verband am Knie endet. Mehrere Sekunden lang starrt er den Stumpf an und weiß nicht, was er denken soll.

„Da guckst du, was? Beinahe wärst du an der Verletzung verblutet. Wir haben dir das Leben gerettet. Aber du wirst dir noch wünschen, wir hätten es nicht getan.“
 

*
 

Er weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Alles, was ihn am Leben hält, ist der Gedanke, eines Tages wieder nach Konoha zu kommen. Die Antwort auf die Frage nach der vermeintlichen Privatarmee hat er, da er genau bei der Großfamilie gelandet ist, die sie eigentlich ausspionieren sollten. Die Wachen auf dem Landgut sind aufmerksam, reichen aber lange nicht für eine Armee. Und welche Rolle spielt das jetzt noch? Die Mission ist auf ganzer Linie fehlgeschlagen, er ist der einzige Überlebende. Sie erklären ihm, es habe ursprünglich noch eine überlebende Kunoichi gegeben, aber sie habe sich in der ersten Nacht ihrer Gefangenschaft die Zunge abgebissen. Am Morgen war sie an ihrem Blut erstickt.

Noch vor zwei Jahren hätte Shintaro nicht gezögert, dasselbe zu tun. Jetzt käme ihm der Gedanke nicht einmal im Traum. Er will seine Mutter und seine Schüler wiedersehen, das ist alles, woran er denken kann. Ob es das ist, was Ibiki mit „locker werden“ meinte?
 

Er sagt kein Wort über die Mission, schon aus Prinzip nicht, und nach einiger Zeit geben sie es auf, ihn darüber zu verhören. Was auch immer diese verdammten Konoha-Shinobi vorhatten, sie haben es nicht geschafft, und in Zukunft wird man wachsamer sein müssen. Sie entscheiden, dass Shintaro ohnehin nicht weglaufen kann mit nur einem Bein, und wenn man ihn mit zu wenig Essen und zu wenig Schlaf ständig in schwachem Zustand hält, wird er wohl ungefährlich sein. Sie behalten ihn als einen kostenlosen Dienstboten und tragen ihm Aufgaben im Haus oder im Garten auf. Wenn er sie gut erledigt, bekommt er Abendessen. Wenn nicht, bekommt er Stockschläge. Er ist ein ausgebildeter Jounin, aber er ist allein und verletzt. Sie sind stärker als er.

Manchmal, wenn im Garten die Sonne auf seinen Kopf brennt, hebt er das Gesicht zum Himmel und fragt sich, wie weit er von Konoha entfernt ist. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass er sich von seinen Schülern verabschiedet hat. Ob sie die Prüfung bestanden haben? Sicher haben sie das, sie sind sechzehn, Tonbo siebzehn. Siebzehnjährige Jungen sind die besten Soldaten überhaupt, körperlich topfit, keine Skrupel, aggressiv wie nie wieder in ihrem Leben. Er zweifelt nicht daran, dass sie sich großartig schlagen werden. Aber danach? Ob sie zu Chuunin aufsteigen und ihren alten Sensei vergessen werden? Aber nein, das würden sie nicht. Vielleicht vergessen sie Shintaros Namen oder sein Gesicht, aber was er ihnen über den Willen des Feuers gesagt hat, wird keiner von ihnen je vergessen. Und solange er am Leben ist, gibt er die Hoffnung nicht auf, sie wiederzusehen.
 

*
 

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Doch, wirklich, ein Jounin. Aus Konoha.“

„Bist du verrückt? Was, wenn es ihnen eines Tages zu Ohren kommt, dass du einen ihrer Leute gefangen hältst?“

„Ach was! Konoha ist meilenweit weg. Sie werden es niemals herausfinden.“

Das glaubt Shintaro allerdings auch, als er dem Hausherrn und einem Gast Tee serviert. Er hat die Hoffnung, Konoha könne ihn retten kommen, längst aufgegeben. Wenn er sie überhaupt je hatte.

„Und außerdem, selbst wenn – glaubst du, für einen einzelnen verkrüppelten Jounin würden sie ein Rettungsteam losschicken? Wohl kaum.“

Da wiederum würde Shintaro ihm vehement widersprechen. Wenn irgendjemand in Konoha wüsste, wo er ist und dass er noch lebt, würden sie jemanden zur Rettung schicken. Und vermutlich würden sie dieses verdammte Haus niederbrennen und alle Bewohner töten. Vielleicht würde er sie dazu überreden können, das kleine Mädchen zu verschonen, das ihm manchmal bei der Arbeit Gesellschaft leistet und Geschichten erzählt.

„Hey, Konoha-Nin! Nicht träumen!“

Der Mann stößt ihn mit dem Ellbogen an, und Shintaro taumelt und verschüttet den Tee.

„Wisch das auf, du Nichtsnutz!“

Er tut es, ohne ein Wort. Anfangs hat er protestiert, mittlerweile schluckt er mühsam seinen Stolz. Es ist überlebenswichtig.
 

Natürlich versucht er, zu fliehen. Er wendet alle Tricks an, die er kennt, betäubt oder tötet die Hunde, täuscht die Wächter, erkundet ständig neue Fluchtwege. Die Hunde hassen ihn, was nicht ungewöhnlich ist – aus irgendeinem Grund hatten Hunde schon immer eine Abneigung gegen Shintaro, was auf Gegenseitigkeit beruht. Aber meistens scheitert seine Flucht nicht an den Tieren, sondern an der schlichten Tatsache, dass er mit seinem einen Bein und der Krücke viel zu langsam voran kommt. Jedes Mal holen sie ihn zurück und schlagen ihn zusammen. Shintaro wartet, bis die Verletzungen verheilt und seine Wächter wieder unachtsam geworden sind, und dann versucht er es erneut. Konoha ist alles, woran er denken kann.
 

*
 

Gewitter-Mann nennt das kleine Mädchen ihn – weil er immer so grimmig aussieht. Sie stört sich nicht daran, dass er kühl und wortkarg und langsam ist, dass sein Gesicht von Narben aus den anfänglichen Verhören entstellt ist. Schon lange scheut Shintaro spiegelnde Oberflächen, er weiß, dass er furchtbar aussieht, er will nur nicht wissen, wie furchtbar. Und dem kleinen Mädchen ist es egal. Wenn er draußen die Beete umgräbt, pflückt sie am Zaun Blumen und singt.
 

Die Mutter sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Die Männer sind so, Töchterchen, verzweifle nicht!

Sie schenken dir Ringe und hübsche Stein,

Doch niemals bleiben sie lange daheim.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Hanako, Blumenkind.
 

„Diese Strophe kenne ich gar nicht“, sagt er undeutlich, weil irgendetwas mit seinem Mund nicht stimmt. Nein, er wird nicht in einen Spiegel sehen.

„Es ist die zweite“, erwidert das Mädchen munter. „Die erste ist die mit Hanako, Hanako, Blumenkind, sie lief zum Tor ...“

„Ja, die kenne ich auch.“

„Gibt es noch eine?“

Shintaro überlegt und zupft Unkraut aus der Erde. Er konnte noch nie gut singen, aber die Worte drängen förmlich aus ihm heraus. Das Lied erinnert ihn an zu Hause.
 

Die Schwester sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Und wenn dein Liebster stirbt, dann sag ich, freue dich!

Denn nur ein Narr, denn nur ein Kind

Beweint, die in Ehre gestorben sind.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.
 

„Was bringen Sie meiner Tochter bei?“

Die Mutter des Mädchen steht plötzlich neben ihm. Ihre Lippen beben vor Entrüstung.

„Es ist eine andere Strophe von Hanako Blumenkind, Mama!“, ruft das Mädchen. „Die kannte ich gar nicht. Singst du nochmal?“

„Nein!“, herrscht die Mutter sie an und deutet mit dem Zeigefinger auf Shintaro. „Ich lasse nicht zu, dass Sie meiner Tochter solche Lieder beibringen! Diese grässlich arroganten Konoha-Nins und ihre Ehrvorstellungen! Kriegstreiber, die schon Kinder ans Töten und ans Sterben gewöhnen wollen!“

Shintaro wendet sich ihr zu und beobachtet mit Genugtuung, wie sein entstelltes Gesicht sie aus der Fassung bringt.

„Alles ... Propaganda. Gehirnwäsche ist das, was sie da in Konoha praktizieren, von Kindesbeinen an. Eigentlich ... ja, eigentlich müssten Sie mir leid tun.“

Ihr Lachen klingt hysterisch. Sie wendet sich von Shintaro ab und nimmt das Mädchen an der Hand. „Komm mit nach drinnen.“

„Aber ich will doch ...!“

„Du musst Hausaufgaben machen, also komm schon!“

Sie zieht ihre Tochter davon, und Shintaro wendet sich wieder dem Unkraut zu und versucht, seine Wut zu schlucken. Diese Menschen spucken auf alles, was ihm heilig ist. Nach all der Zeit hat es noch nicht aufgehört, wehzutun. Gehirnwäsche, hat die Frau gesagt. Und wenn schon. Wäsche führt zu Sauberkeit, und Sauberkeit ist gut. Shintaro krallt die Finger in die Erde und bemerkt erst, dass er einen Stein umklammert, als der ihm die Handfläche aufgeschlitzt hat.
 

*
 

„Was hast du denn da gemacht?“

Besorgt sieht das Mädchen seinen linken Arm an. Er muss mehrfach gebrochen sein, Shintaro will nicht darüber nachdenken. Wortlos bemüht er sich, mit dem gesunden rechten Arm irgendwie den Abwasch zu erledigen.

„Man sollte das verbinden. Und der Arm muss gerade sein.“

„Nicht nötig“, erwidert er knapp. Sie haben den Arm so gebunden, dass die Hand an seiner Schulter liegt. Platzsparend.

„Soll ich dir helfen?“, fragt das Mädchen und tritt neben ihn an die Spüle. Shintaro sieht sie aus den Augenwinkeln an, und zum ersten Mal fällt ihm auf, dass sie ihm längst bis zur Schulter reicht und sich der Ansatz eines Busens unter ihrem Kleid abzeichnet. Wie die Zeit vergeht.

„Dann bist du schneller fertig.“

Sie lächelt, ihre Augen leuchten, und er denkt an die leuchtenden Augen der drei Jungen, die er zurückgelassen hat. Wie es ihnen wohl geht?
 

*
 

Seine Verletzungen verheilen langsamer, seine Fluchtversuche werden seltener und seltener, und eines Nachts klappt es. Shintaro versteht nicht, wie das passieren konnte. Wie üblich hat er am Abend zuvor den Hunden Baldrian unter ihr Futter gemischt und sich gegen Mitternacht aus seinem Zimmer geschlichen. Kürzlich hat er beim Unkraut jäten ein neues Loch im Zaun entdeckt, groß genug, um hindurch zu kriechen. Seitdem müssen schon mindestens zwei Stunden vergangen sein, und noch immer hat ihn niemand eingeholt. Eigentlich sollten sie seine Flucht längst bemerkt haben.

„Hokage sei Dank.“

Alles in ihm drängt weiter, fort von diesem verdammten Haus, aber er muss sich kurz an den Straßenrand setzen, weil er völlig erschöpft ist. Der Stock, den er als Krücke benutzt, wirkt schwer wie Blei und hat ihm die Handfläche wund gescheuert. Trotzdem muss er weiter, nach Konoha, bevor ihn doch noch jemand bemerkt. In Konoha ist er in Sicherheit.

Er sitzt im feuchten Gras und betrachtet die Sterne. Schon lange hat er sie nicht mehr angesehen, aber er kann sie noch immer lesen. Sie sind wie alte Freunde, die ihm den Weg nach Hause weisen. Konoha liegt südlich von hier. Die breite Straße, auf der er sich befindet, scheint in die richtige Richtung zu führen.

Einige Minuten lang sitzt er da, hin und her gerissen zwischen der friedlichen Nacht und seiner Erschöpfung auf der einen und seiner nagenden Angst auf der anderen Seite. Er will nie wieder zurück zu dem Haus, zu den Hunden, zu dem kleinen Mädchen. Stöhnend rappelt er sich wieder auf und setzt seinen Weg fort.
 

Im Morgengrauen überholt ihn ein Wagen, der von einem dürren Esel gezogen wird. Der alte Mann auf dem Kutschbock scheint Shintaro für einen Landstreicher zu halten, bietet aber an, ihn ein Stück weit mitzunehmen. Shintaro zögert zuerst, aber da der Mann ihn nicht zu erkennen scheint und er mit den Kräften am Ende ist, nimmt er dankend an. Auf der mehrstündigen Fahrt nickt er einige Male ein. Sie wechseln kein Wort miteinander, und abends lässt Shintaro sich an einer Weggabelung absetzen. Er verbringt die Nacht unter einem Busch am Wegrand und schläft auf dem nassen Moos besser, als er in dem Haus je geschlafen hat.

Als er erwacht, dämmert der Morgen gerade herauf. Sein Frühstück ist etwas Wasser aus einem Fluss, danach macht er sich wieder auf den Weg. Es ist ein unerträglich heißer Tag, die Haut in seinem Nacken schlägt bald Blasen vor Sonnenbrand. Sein linker Fuß protestiert gegen den ungewohnten Gewaltmarsch, seine Hand an der Krücke brennt, aber er schleppt sich weiter vorwärts. Seit mehr als dreißig Stunden hat er nichts mehr gegessen. Wenn er nicht weggelaufen wäre, würde er jetzt zu Mittag essen, das Mädchen würde ihm zum Nachtisch etwas Obst zustecken. Aber er konnte nicht bleiben. Er wird das Mädchen sehr schnell vergessen, wenn er erst einmal seine Schüler wieder hat. Und Mutter, wie wird sie sich freuen! Er muss zurück nach Konoha. Nach Hause.

Gegen Nachmittag bricht er in einem Waldstück zusammen.

Shintaros Geschichte, Teil vier – Ich bin in Konoha? Beweisen Sie es.

„Sind Sie wach?“

Shintaro öffnet die Augen und erkennt eine weiße Decke mit Neonröhren über sich. Es ist hell. Wo ist er?

„Bleiben Sie ruhig, es ist alles in Ordnung. Sie wurden von einer Gruppe Genin in einem Wald einige Meilen weiter nördlich gefunden und hierher gebracht. Sie sind jetzt im Krankenhaus von Konoha.“

Mühsam dreht er den Kopf, erkennt einige Schläuche in seinem Arm und eine ältere Ärztin neben seinem Bett. Sie lächelt ihn an.

„Fühlen Sie sich stark genug, um mir einige Fragen zu beantworten?“

„Ich bin in Konoha?“

„Ja.“

„Beweisen Sie es“, bringt Shintaro hervor.

Die Ärztin sieht verblüfft aus, sagt aber nichts dagegen. Sie dreht sich zum Fenster um und zieht die Lamellen nach oben. Sonnenlicht fällt herein, und Shintaro muss blinzeln. Als er die Augen wieder öffnet, erkennt er bräunliche Dächer und chaotisch verknotete Stromleitungen und die in Stein gemeißelten Gesichter der vier Hokage, die über allem thronen. Einige Sekunden lang starrt er nur hin, saugt das Bild mit den Augen auf und versucht, es zu glauben. Sein Herz pocht schmerzhaft schnell. Er ist zu Hause.

„Stellen Sie Ihre Fragen.“

Die Ärztin nickt, kommt wieder näher und greift nach einem Klemmbrett auf dem Tisch. „Wie heißen Sie?“

„Morino Shintaro.“

„Zivilist, nehme ich an.“

„Nein, Jounin.“

Sie hebt den Blick von ihrem Blatt.

„Glauben Sie mir ruhig. Ich leite ein Team aus drei Genin, die ich ausbilde. Oder vielleicht sind sie mittlerweile Chuunin, ich weiß es nicht.“

„Also sind Sie ein Shinobi Konohas?“, hakt die Frau noch einmal nach.

„Ja, selbstverständlich!“

„Verzeihung, das wussten wir nicht.“ Sie stockt kurz. „Wieso waren Sie dann in diesem Zustand im Wald unterwegs?“

„Ich bin bei einer Mission in Gefangenschaft geraten, konnte aber vor einigen Tagen entkommen. Der Rest meines Teams ist tot.“

Sie nickt langsam. „Ich muss diese Information sofort weiterleiten, das verstehen Sie sicher.“

„Natürlich.“

„Bleiben Sie hier liegen und ruhen Sie sich aus. Ich bin bald wieder bei Ihnen.“
 

*
 

„Sie sind vor elf Jahren auf eine A-Rang-Mission geschickt worden, aber der Kontakt zu Ihrem Team ist nach wenigen Tagen abgebrochen. Was passiert ist, hat niemand in Konoha je erfahren. Nach einer Weile wurden weitere Shinobi ausgeschickt, die die ursprüngliche Mission zwar erfüllt haben, den Verbleib ihrer Vorgänger aber nicht klären konnte. In einem Wald unweit des Missionsziels wurden Spuren eines Kampfes gefunden, und Ihre Kameraden und Sie galten seitdem als verschollen.“

„Sie sind tot“, sagt Shintaro. „Ich habe als Einziger überlebt. Was sagten Sie, wie lange das her ist? Ich glaube, ich habe mich eben verhört.“

„Elf Jahre.“

Er starrt sie an.

„Es tut mir leid für Sie“, sagt die Ärztin. „Aber jetzt sind Sie wieder in Konoha, und Sie werden Ihrem Rang entsprechend behandelt. Wir werden alles menschenmögliche für Sie tun.“
 

Eine Woche später sieht er morgens beim Waschen versehentlich in den Spiegel. Hastig will er sich abwenden, aber er kann nicht. Er erkennt sein Gesicht nicht wieder, die Haut voller Brandnarben, die rechte Wange vom Mundwinkel an aufgerissen, die Nase nicht mehr vorhanden. Er kann von Glück sagen, dass seine Augen noch funktionieren, auch wenn sie trüb und krank aussehen. Elf Jahre sind vergangen.
 

„Ich hatte Sie doch gebeten, meine Mutter zu kontaktieren. Morino Kaede.“

„Sie ist vor fünf Jahren verstorben. Lungenprobleme. Es tut mir leid.“
 

*
 

„Sie haben überlebt, das ist doch das Wichtigste. Sie sind wieder in Konoha, und das ist allein Ihr Verdienst. Sie sollten stolz auf sich sein.“

Ihm ist klar, wieso die Ärztin so auf ihn einredet. Der Körper heilt nicht richtig, wenn der Geist ihn aufgegeben hat. Shintaro versteht selbst nicht, wieso er nach seiner anfänglichen Freude, wieder hier zu sein, in ein solches Loch gefallen ist. Elf Jahre sind vergangen. Aus der Ferne betrachtet wirkte Konoha viel schöner, als es ist. Von Nahem ist alles so hässlich, einschließlich er selbst. Hässlich und kaputt.

„Haben Sie nicht gesagt, Sie würden ein Team von Genin leiten?“, fragt die Ärztin sanft. „Würde es Sie freuen, wenn wir die drei hierher bitten würden? Sie würden ihren alten Sensei sicher gerne wiedersehen.“

„Nein“, antwortet Shintaro, ohne nachdenken zu müssen. „Diese Sache ist elf Jahre her. Es ist Vergangenheit.“

Und außerdem, fügt er im Stillen hinzu, würde er sich schämen, seinen Jungs in diesem Zustand gegenüber zu treten. Sie sollen ihn so in Erinnerung behalten, wie er war.
 

„Dass Sie an dem Bein nach all den Jahren noch etwas machen können, habe ich nicht erwartet. Aber was ist mit dem Arm?“

„Können Sie ihn ausstrecken?“

„Nein.“

Der junge Krankenpfleger nickt und betastet vorsichtig den linken Arm, den Shintaro so angewinkelt hat, dass die Hand an seiner Schulter liegt.

„Darf ich fragen, was damit passiert ist?“

„Nein, lieber nicht.“ Er weiß es ohnehin nicht mehr genau, das Übliche eben.

„Ich verstehe.“ Der Pfleger wird blass, fängt sich aber schnell wieder. „Die Verletzung liegt offensichtlich schon lange zurück und ist stark verwachsen. Ich werde nachfragen, was der Arzt dazu sagt.“

„Was glauben Sie, was er sagt?“

„Ich muss nachfragen.“

„Dann tun Sie es bitte schnell.“
 

*
 

Sie können nicht mehr für ihn tun. Sein Gesicht ist entstellt, auch wenn sie das Loch in der Wange schließen konnten. Die linke Hand kann er leicht bewegen, aber der Arm bleibt steif angewinkelt, und die rechte Hand braucht er, um seine Krücke festzuhalten. Am liebsten hätte er die Ärzte angeschrien, Ich bin wieder da, zu Hause in Konoha, und ich verlange, dass alles wieder wird wie früher! Er hat es nicht getan und weiß gar nicht, warum. Vielleicht war er zu müde.

Er sitzt auf einer Bank in der Nähe des Krankenhauses, mit den Gedanken irgendwo anders, und sieht zu, wie die Sonne untergeht und die letzten Kinder den Spielplatz verlassen. Zwei oder drei der hellen Stimmen singen ein Lied, sehr schief, aber die Melodie ist unendlich vertraut.
 

Die Mutter sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Dein Liebster mag vergehen, doch die Liebe nicht.

Dein Freund ist jung, dein Freund ist stark,

Er kommt dann, wenn er kommen mag.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.
 

Shintaro versucht, das Lied zu vergessen, aber es ist schon zu spät, es spielt in seinem Kopf weiter. Das Lied, das das kleine Mädchen gesungen hat. Trotz der drückenden Hitze hat er sich einen Schal umgewickelt, der nur einen Schlitz für die Augen freilässt. Er schwitzt unter dem Stoff, aber es steht außer Frage, den Schal abzulegen. Seinen Anblick kann er niemandem zumuten, insbesondere nicht den Kindern. Vielleicht ist es sogar besser, dass Mutter ihn so nicht mehr zu sehen bekommt.

„Shintaro-sensei?“

Er fährt zusammen und dreht den Kopf. Neben ihm steht ein großer, bulliger Mann mit dunklem Mantel. Durch sein kantiges Gesicht ziehen sich mehrere Narben. Instinktiv weicht Shintaro ein Stück zurück und denkt im selben Moment, dass der Fremde immer noch harmloser aussieht als er selbst ohne Schal.

„Ja? Kennen ich Sie?“

Der Mann lächelt und setzt sich neben ihn. „Verzeihen Sie, dass ich unangekündigt vorbeikomme. Ich bin's, Ibiki.“

Shintaro starrt ihn an.

„Ich habe mich ein bisschen verändert“, fügt Ibiki entschuldigend hinzu.

„Das sehe ich“, flüstert Shintaro. Gegen alle Vernunft hat er sich geweigert, die drei Jungen in seinem Kopf altern zu lassen. Irgendetwas muss doch so geblieben sein, wie er es zurückgelassen hat! Aber der Sechzehnjährige, der Ibiki war, ist durch das Auftauchen dieses vernarbten Hünen gestorben. Sein Gesicht ist das einzige Stück unbedeckter Haut, das dunkle Kopftuch mit dem Konoha-Abzeichen verbirgt den offenbar kahlen Schädel. Zwischen Handschuhen und Mantelärmeln erkennt man einen dünnen Streifen der Handgelenke, vage lassen sich Narben darauf erahnen. Shintaro möchte wissen, was Ibiki passiert ist, aber fragen will er nicht. Wahrscheinlich ist es eine grausame Geschichte.

Eine Weile lang sitzen sie schweigend auf der Bank.

„Es freut mich wirklich, Sie wieder hier zu haben, Shintaro-sensei. Um ehrlich zu sein, hatten wir Sie schon aufgegeben, Tonbo und ich. Offiziell wurden Sie für tot erklärt, nachdem Sie sieben Jahre verschollen waren. Wir waren angenehm überrascht, zu hören, dass Sie doch wieder nach Hause gefunden haben.“

„Wie geht es Tonbo?“

„Oh, ganz hervorragend. Er arbeitet für mich.“

„Für dich? Wie das?“

„Ich leite eine Abteilung bei der ANBU. Informationsbeschaffung, Verhör.“

Ein schamloser Euphemismus für eines der zwielichtigsten und gefürchtetsten Arbeitsfelder des Geheimdienstes – wahrscheinlich spricht Ibiki nur deshalb nicht offen von Folter, weil er Shintaro schonen möchte. Aber auch so ist es zu viel. Shintaro will nicht darüber nachdenken, nicht jetzt, vielleicht niemals.

„Und Mizuki?“

Ibikis Gesicht verdüstert sich, und einen Moment lang zögert er.

„Er ist tot.“

Shintaro sieht durch ihn hindurch.

„Als Chuunin bei einer Mission gefallen. Fast vier Jahre ist das her.“

In seinem Kopf wird Mizuki ein Junge bleiben.

„Es tut mir so leid, Shintaro-sensei.“ Ibiki greift nach seiner Schulter und drückt sie.
 

*
 

Konoha hat ihm eine kleine Wohnung und ein paar Möbel besorgt, und er hat sich nach fast einer Woche gut eingerichtet. Die Krücke ist etwas zu laut auf dem Holzboden, aber immerhin wohnt er im Erdgeschoss.

„Schön, Sie wieder hier zu haben, Shintaro-sensei.“

Tonbo lächelt unter dem weißen Verband, der um seine Kopf gewickelt ist und seine Augen vollständig verdeckt. Der Anblick macht Shintaro wütend und traurig und verwirrt, alles zugleich. Er hätte auf seine drei Jungs aufpassen sollen, und nicht bei einem einzigen hat es geklappt. Einen Moment lang will er Tonbo fragen, was passiert ist. Dann beschließt er, dass er es nicht wissen will, nicht jetzt.

„Ja. Ich bin auch froh.“

„Hübsch haben Sie's hier“, sagt Ibiki und betrachtet interessiert das Wohnzimmer, in dem sie sitzen. Schon mit drei Personen wird es eng auf dem schmalen Sofa und dem einzigen Sessel.

„Ich würde euch gern Tee anbieten, aber ...“

„Ich kann welchen kochen, wenn es Ihnen recht ist.“ Tonbo steht hastig auf. „Steht er im Küchenschrank?“

„Ja, in dem unter der Decke, ganz links. Danke, Tonbo.“

Tonbo lächelt, gibt Ibiki einen beinahe unauffälligen Tritt gegen das Schienbein und verlässt den Raum. Ibiki holt tief Luft.

„Shintaro-sensei?“

„Ja?“

„Ich habe mit Tonbo gesprochen, und ...“

Seine Stimme verliert sich. Dem Ibiki, den er kannte, haben nie die Worte gefehlt. Noch immer sucht Shintaro nach dem, was so geblieben ist wie früher. Irgendetwas muss es doch geben.

„Oh, bevor ich es vergesse – ich habe da etwas für Sie.“

Ibiki zieht etwas unter seinem Mantel hervor und überreicht es Shintaro. Es ist ein Bild in einem Rahmen, und Shintaro verschlägt es die Sprache, als er es erkennt. Das Foto ist dasselbe, das er früher in seiner Küche hängen hatte. Sein Team und er.

„Ich dachte, sie hätten meine persönlichen Besitzgegenstände vernichtet, als ich für tot erklärt wurde.“

„Haben Sie auch. Tonbo hat das Foto in einem Archiv ausgegraben, und ich habe ausnahmsweise mal meine Autorität ausgenutzt und es mir gesichert. Es ist leider nur eine Kopie.“

Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass die Farben etwas blasser sind als beim Original. Aber darum geht es nicht, denkt Shintaro, legt das Bild auf den Tisch und fährt mit den Fingerspitzen über das Glas. Die kleinen Gesichter dahinter strahlen ihn an. Sein jüngeres, narbenfreies, vollständiges Ich und die drei Jungen mit den leuchtenden Augen.

„Danke“, murmelt er und findet, das Wort ist zu unbedeutend für das, was er fühlt.

„Sensei“, sagt Ibiki behutsam. „Ich muss Ihnen etwas sagen.“

„Was denn?“

„Damit Sie mich nicht falsch verstehen – ich dachte, es wäre so besser für Sie. Aber Tonbo meinte, ich sollte Sie nicht anlügen, und ... deswegen werde ich Ihnen die Wahrheit sagen.“

Mühsam reißt Shintaro seinen Blick von dem Foto los. „Die Wahrheit?“

„Mizuki ist nicht tot.“

Nicht tot. Er weiß nicht, ob er lachen oder schreien möchte.

„Warum hast du mich angelogen?“

„Weil er vor einem halben Jahr wegen Hochverrats verurteilt wurde.“

Shintaro erstarrt.

„Und ich wusste, dass das Sie noch mehr schockieren würde als die Nachricht, er sei tot“, gesteht Ibiki zerknirscht. „Aber ich bin ein wahrheitsliebender Mensch. Ich hätte nicht lange mit dieser Lüge leben können.“

Er dachte, er hätte seinen Schülern etwas beigebracht.

„Es tut mir ...“

„Nein“, sagt Shintaro. „Mir tut es leid.“
 

*
 

„Shintaro-sensei?“, fragt Tonbo überrascht, als er ihn auf der Bank sitzen sieht. Ibiki und er haben noch nicht aufgehört, Shintaro mit Sensei anzureden, und vermutlich werden sie es nie tun.

„Guten Abend“, sagt Shintaro und zieht seinen Schal zurecht. „Ich warte auf Ibiki.“

„Wollen Sie irgendetwas von ihm? Sie hätten einfach vorbeischauen können.“

Shintaro zuckt die Achseln.

„Er müsste gleich Feierabend haben“, erklärt Tonbo. „Ich warte mit Ihnen zusammen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Er setzt sich neben Shintaro.

„Wir hatten noch kaum Zeit, uns zu unterhalten.“

„In den vergangenen elf Jahren ist viel passiert“, sagt Shintaro leise.

„Oh, ja.“

Sie schweigen eine Weile.

„Nachdem Sie weg waren, haben wir an der Chuunin-Prüfung teilgenommen. Wir haben uns ziemlich gut geschlagen, dafür, dass wir die Nachricht von Ihrem Verschwinden zu verkraften hatten. Es gab ein paar Auseinandersetzungen mit anderen Teams ... darunter einen unschönen Vorfall, nach dem sie Ibiki beinahe disqualifiziert hätten.“

„Warum denn das?“

„Es war beim Finale, ein Gruppenkampf, vor Publikum und alles. Wir sind gegen ein paar Genin aus Suna angetreten, und es sah ziemlich schlecht für uns aus. Mizukis rechtes Handgelenk war gebrochen, so gut wie ein Blattschuss für ihn, ich war mit den Kräften völlig am Ende, und selbst Ibiki waren die Ideen ausgegangen. Dann hat der Anführer von diesen Suna-Nins die Bemerkung fallen gelassen, unser Sensei wäre sicher mit Absicht nicht zum Zusehen gekommen – er hätte sich zu sehr geschämt, uns verlieren zu sehen.“ Tonbo lächelt. „Und Ibiki hat es geschafft, alle drei unter ein Genjutsu zu setzen. Vielleicht hatte er das schon die ganze Zeit geplant, ich weiß es nicht. Ich habe nie erfahren, was er ihnen vorgegaukelt hat, und ich glaube, ich will es nicht wissen. Sie sind schreiend davon gerannt, und wir hatten gewonnen.“

„Und deswegen hätten sie Ibiki fast disqualifiziert?“

„Nein. Weil er dem Suna-Nin, der diesen blöden Spruch gebracht hat, nach dem Kampf hinter der Arena aufgelauert hat und ihm beinahe die Eier zerquetscht hätte.“

Shintaro blinzelt einige Male.

„Er hat eben Temperament, Ibiki“, sagt Tonbo entschuldigend. „Aber im Endeffekt ist nichts passiert. Wir haben die Prüfung alle drei bestanden.“

„Gute Arbeit. Was habt ihr danach getan?“

„Oh ... so dies und das.“ Tonbo zuckt die Achseln. „Wir hatten noch zwei oder drei Missionen zusammen, aber dann ist mir dieser kleine Unfall passiert.“

„Unfall?“

„Eigene Dummheit. Eine Personenschutzmission, es ist zum Kampf gekommen. Ich habe nicht gemerkt, dass mein Gegner ein paar Blendgranaten dabei hatte. Und ich Blödmann habe gedacht, greifst du ihn mit einem großen Feuerball an.“ Tonbo lacht grimmig und rückt sein Stirnband zurecht. Die Metallplakette befindet sich genau auf Augenhöhe. „Bäng. Konnte die Augen gar nicht mehr schnell genug schließen.“

„Das klingt schmerzhaft“, sagt Shintaro.

„Ich erinnere mich nur noch an den Knall und das Licht, danach ist alles weg. Ibiki und Mizuki haben mich zurück nach Konoha geschleppt, und ich habe ein halbes Jahr im Krankenhaus verbracht. Zuerst habe ich gedacht, meine Karriere wäre beendet, aber es gibt erstaunlich effektive Jutsus dafür, fehlendes Augenlicht auszugleichen. Sogar recht energiesparend, wenn man sie einmal beherrscht. Aber als ich wieder im Stande war, normale Missionen zu übernehmen, gab es mein Team nicht mehr. Sie waren ja immer noch verschollen, Sensei, und ehrlich gesagt hatten wir da schon keine Hoffnung mehr, Sie jemals lebend wieder zu sehen. Mizuki hatte sich irgendwie als Chuunin durchgeschlagen, und Ibiki war von der ANBU angeworben worden.“

„Damals schon?“, fragt Shintaro überrascht.

„Ja, mit siebzehn.“

„Nicht schlecht.“

„Er kann ebenso gut Befehle erteilen wie ausführen, und seine Genjutsus eignen sich hervorragend für Überraschungsangriffe. Genau das, was sie bei der ANBU brauchen. Er hat ein paar Jahre lang Missionen ausgeführt, verdeckte Ermittlungen, Attentate, das volle Programm. Natürlich hat er mir nie Details erzählt ... geheimniskrämerischer Haufen, die ANBU.“

„Ich nehme an, bei der Gelegenheit hat er sich all diese Narben zugezogen.“

„Ja. Wie genau, hat er mir nie gesagt, ich habe auch nie gefragt. Ibiki ist ein alter Freund, aber einer von der Sorte, über die man vieles gar nicht wissen will.“ Tonbo lacht auf, verstummt aber bald wieder.

„Und Mizuki?“, fragt Shintaro.

Tonbo sieht ihn von der Seite her an. „Ist Chuunin geblieben, hat sich nie um eine Beförderung bemüht, soweit ich weiß. Irgendwann hat er einen Posten an der Akademie übernommen.“

„An der Akademie?“, wiederholt Shintaro ungläubig.

„Der letzte Ort, an dem man ihn vermuten würde, was?“

„Das hätte ich ja noch eher dir zugetraut als ihm.“

„Tatsächlich? Oh, nein. Ich habe ja nichts gegen Kinder, aber in großen Gruppen sind sie verdammt anstrengend. Man braucht eine Menge Autorität, um damit klarzukommen, glaube ich. Aber wieder nicht so viel Autorität wie Ibiki ...“

Er verstummt, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt, ein Grinsen auf dem Gesicht.

„Wie ist Mizuki zum Verräter geworden?“, fragt Shintaro.

Tonbos Grinsen verschwindet, er wirft Shintaro einen erneuten Seitenblick zu. „Hat Ibiki es Ihnen nicht erzählt?“

„Ich habe ihn nicht gefragt. Ich hatte das Gefühl, es wäre ihm unangenehm, darüber zu sprechen.“

„Er spricht nicht darüber, weil er glaubt, es sei Ihnen unangenehm.“

„Das behauptet er also, ja?“

„Ich weiß eine ganze Menge über den Fall, weil ich mit der Untersuchung am Rande zu tun hatte. Allerdings sind das klassifizierte Informationen, über die ich mit Ihnen nicht reden darf.“

„Irgendetwas wirst du mir ja wohl sagen können!“, sagt Shintaro etwas zu heftig.

Tonbo zögert. „Ach, sei es drum. Im schlimmsten Fall reißt Ibiki mir den Kopf ab, mehr kann mir nicht passieren. Erinnern Sie sich noch, wie Mizuki damals reagiert hat auf ... das, worüber niemand sprechen darf?“

Kurz ist Shintaro verwirrt, dann versteht er. Die Geschichte mit dem Dämon.

„Ich erinnere mich nur zu gut.“

„Der ... betreffende Junge, über den noch immer niemand reden darf, war einer von Mizukis Schülern an der Akademie. Mizuki hat ihm verraten, was es mit ihm auf sich hat, und dann versucht, ihn zu töten.“

„Und es nicht geschafft?“, fragt Shintaro.

„Nein.“

„Genügt das für eine Anklage wegen Hochverrats?“

„Es war versuchter Mord, Sensei“, sagt Tonbo behutsam. „Und bei den näheren Untersuchungen sind ... sagen wir, Details ans Licht gekommen, die eine solche Anklage durchaus rechtfertigen.“

„Details, über die du mir nichts sagen darfst.“

„Selbstverständlich nicht.“

Shintaro lacht bitter und sieht auf den Boden.

„Verstehen Sie, Sensei ...“ Tonbo kratzt sich den bandagierten Kopf. „Sie kennen Mizuki nicht. Sie haben ihn elf Jahre lang aus den Augen verloren, und er hat sich verändert.“

„Ich hätte nicht so lange weg sein dürfen.“

„Sie werden doch wohl nicht sich die Schuld an dem geben, was passiert ist?“

„Ich habe versucht, euch beizubringen, was es bedeutet, ein Shinobi Konohas zu sein.“

„Und bei Ibiki und mir hat es funktioniert“, sagt Tonbo ernst. „Wir hätten keinen besseren Sensei haben können als Sie, Shintaro-sensei, und mit wir meine ich uns alle drei. Bei Mizuki hätten selbst Sie nichts retten können.“

„Glaubst du an das Böse, Tonbo?“, fragt Shintaro düster.

„Ich glaube nicht an böse Menschen, aber ich glaube an das Böse in jedem von uns. Bei einigen Menschen wird es übermächtig, andere wissen es zu unterdrücken. Ihre böse Eigenschaft war schon immer die, viel zu hart zu allen zu sein – am meisten zu sich selbst.“ Tonbo lacht grimmig. „Ibiki hatte damals recht. Es würde Ihnen gut tun, etwas lockerer zu werden.“

„Locker? Sieh mich an, Tonbo. Ich bin kaputt.“

„Sie leben. Und Ihr Verstand ist so klar wie eh und je, das schaffen bei weitem nicht alle Opfer von Folter.“

„Da hat er recht“, erklingt Ibikis Stimme. „Ich muss es wissen.“

Shintaro hebt den Kopf, um ihn anzusehen. „Ibiki.“

„Ich habe ein wenig mitgehört“, sagt Ibiki ernst, der zu ihnen getreten ist, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben. „Wagen Sie es ja nicht, sich die Schuld an der Sache mit Mizuki zu geben.“

„Ich hätte sein Lehrer sein sollen.“

„Jetzt machen Sie sich nicht lächerlich! Zum Verräter geworden ist er als erwachsener Mann, der verdammt nochmal selbst verantwortlich für das ist, was er tut. Es kommt mir vor, als würden Sie ihn als Kind sehen, das Sie für seine Fehltritte in Schutz nehmen müssen.“

„Er war ein Kind, als ich fortgegangen bin.“

„Und das ist elf Jahre her, Sensei. Die Zeiten haben sich geändert. Ich dachte mir, dass Sie eine Weile brauchen würden, um sich damit abzufinden, aber langsam wird es lächerlich. Sie sind ein Jounin, verdammte Scheiße! Hören Sie auf zu heulen!“

Shintaro presst die Lippen aufeinander.

„Jetzt sei nicht so hart zu ihm“, knurrt Tonbo, an Ibiki gewandt.

„Es ist die Wahrheit“, sagt Ibiki schroff. „Wenn überhaupt irgendwer außer Mizuki selbst hätte aufpassen sollen, dass er keine Dummheiten macht, hätte ich das sein sollen. Ich habe Ihnen damals versprochen, dass ich auf das Team achtgeben würde.“

„Er hat gesagt, Ich habe die beiden Ratten schon im Griff“, bemerkt Tonbo. „Wen auch immer er mit den beiden Ratten gemeint hat.“

„Ganz genau“, sagt Ibiki, ohne auf ihn einzugehen. „Sie haben die Verantwortung für das Team an mich abgegeben, Shintaro-sensei. Egal, ob für ein paar Wochen oder für elf Jahre. Sie haben mir vertraut, und ich habe es versiebt.“

„Das ist doch Unsinn“, erwidert Shintaro, die Stirn gerunzelt. „Dich trifft bei der ganzen Sache keine Schuld.“

„Sie auch nicht. Dann können wir das Thema ja abhaken.“

„Schön, wenn die Welt so einfach ist“, sagt Tonbo.

Shintaro seufzt und stützt den Kopf in die rechte Hand. Tief drinnen weiß er, dass Ibiki recht hat, dass er keine Schuld trägt. Aber es ist schwer, sich selbst davon zu überzeugen. Konoha hat ihm die Aufgabe gegeben, drei Jungen zu guten Shinobi auszubilden, und nur bei zweien hat es geklappt. Das – und die Erinnerung an das begeisterte Leuchten in Mizukis Augen, als er zum ersten Mal einen Riesenshuriken in den Händen hatte, und der vage Gedanke an das, was sie mit ihm angestellt haben. Wie geht Konoha mit Verrätern um? Nicht gerade sanft vermutlich. Er könnte Ibiki fragen, Ibiki weiß Bescheid, mit Sicherheit. Aber er hat Angst vor der Antwort.

„Sensei?“

Tonbos Stimme und die Hand auf seinem Arm reißt ihn aus seinen Gedanken.

„Geht es Ihnen gut? Sollen wir Sie nach Hause begleiten?“

„Nein“, murmelt Shintaro. „Nein, ich ...“

Er reißt sich zusammen und sieht Ibiki an. „Richtig. Ich wollte mit dir über etwas reden.“

Ibiki zieht die Augenbrauen hoch und setzt sich neben ihn. „Worüber?“

„Ich will für dich arbeiten.“

Tonbo gibt einen verblüfften Laut von sich.

„Was meinen Sie?“, fragt Ibiki langsam.

„Du hast mich schon verstanden.“

„Sie haben mehr für Konoha gegeben, als die meisten von uns je geben werden, Shintaro-sensei. Sie brauchen sich nicht nutzlos zu fühlen.“

„Ich fühle mich nicht nutzlos.“ Es ist eine Lüge, und Shintaro weiß sofort, dass Ibiki sie durchschaut. „Aber ich langweile mich. Und meine Rente ist nicht unbedingt üppig.“

„Na schön. Aber sind Sie sicher, dass Sie ausgerechnet für mich arbeiten wollen? Sie wissen, was mein Beruf ist.“

„Ich kann Anschauungsmaterial sein“, sagt Shintaro kühl.

Die Bemerkung bringt Tonbo und Ibiki zum Lachen, und Shintaro fällt mit ein, obwohl es eigentlich zum Weinen ist. Aber vielleicht muss man lachen, wenn alles so hässlich und kaputt ist.

Nenes Geschichte, Teil eins – Rot ist meine Lieblingsfarbe.

„Papa!“

Die beiden Jungen rutschen vom Schoß der älteren Dame und rennen auf den Mann zu, der die Zeltplane zu der Notunterkunft gerade beiseite geschlagen hat. Er bleibt stehen, geht in die Knie und fängt beide in den Armen auf.

„Shuichi! Shinichi! Ein Glück, dass es euch gut geht.“

„Wo ist Mama?“

„Sie kommt gleich“, sagt er, streicht dem etwa vierjährigen Jungen über den Kopf und nimmt seinen jüngeren Bruder auf den Arm. „Sie ist zu den Heilern gegangen, um sich behandeln zu lassen, aber es ist nichts Schlimmes. Nur ein Kratzer.“

„Ist der Dämon jetzt weg, Papa?“, murmelt der Kleine und schlingt seinem Vater die Arme um den Hals.

„Ja, Shinichi.“

„Ganz weg?“

„Ja, das ist er.“

„Shinichi hat die ganze Zeit Angst gehabt!“

„Und du hast bestimmt auf ihn aufgepasst, was, Großer?“ Papa tätschelt Shuichi noch einmal den Kopf.

„Oma ist da hinten“, sagt Shinichi und deutet auf die ältere Frau, die eingenickt ist. Papa lächelt.

„Schläft den Schlaf der Gerechten, wie ich sehe. Und wo ist Nene?“

Shinichi hält inne und sieht mit großen Augen zu Shuichi hinunter.

„Da waren Männer, die gekommen sind, Papa!“, jammert Shuichi und umarmt sein Bein. „Shinobi und so. Sie haben uns aus dem Bett geholt und gesagt, wir müssen ins Dorf, wegen dem Dämon ... aber einer von ihnen ist zurückgegangen!“

„Wo ist Nene?“, wiederholt Papa mit starrem Blick.

„Er ist zurückgegangen! Da war so ein Junge, und er hat gesagt ...“

„Wo ist Nene?“

„In Omas Haus doch“, sagt Shinichi.

Es kommt ihm vor, als würden alle Geräusche um ihn herum leiser werden, während das Blut in seinem Kopf zu rauschen beginnt. Mechanisch setzt er Shinichi ab.

„Wir gehen sie suchen.“

Er nimmt seine beiden Söhne an die Hand und achtet nicht auf ihr Jammern. Mit großen Schritten macht er sich auf die Suche. Aber wo will er hin? Nene ist gerade anderthalb Jahre alt. Das Haus, in dem er die Kinder bei der Mutter seiner Frau gelassen hatte, steht tief im Wald. Dort ist doch alles zerstört, niedergebrannt, Bäume entwurzelt.

„Papa! Nicht so schnell!“

„Papa-a!“

Vorne am Eingang scharen sich einige Kinder, die niemandem zu gehören scheinen. Sie drücken sich mit großen Augen aneinander und hoffen, in jedem Erwachsenen ihre Eltern zu erkennen. Einige Shinobi sitzen daneben, vielleicht Lehrer von der Akademie. Einer von ihnen hat ein Baby auf dem Schoß, in eine gelbe Decke gewickelt, hellbraune Haarsträhnen auf dem runden Kopf.

„Nene!“

Er stürzt auf den Mann zu und reißt ihm das Baby aus den Armen. Nene beginnt zu schreien, und Papa drückt sie an sich, so fest er kann.

„Pssst. Ist ja gut, Nene. Ist ja gut.“

„Sind Sie der Vater dieses Mädchens?“, fragt der Mann. „Ein Glück.“

„Ist sie das, Papa?“

„Ist Nene wieder da?“

„Sie ist wieder da, und ihr ist nichts passiert.“ Papa kann es noch nicht so recht glauben.

„Sie wurde von einem Jungen vorbeigebracht. Er meinte, er hätte sie aus einer Hütte im Wald, ihre Brüder und ihre Großmutter wären schon in Sicherheit.“

„Das war der Junge, Papa!“, sagt Shuichi aufgeregt. „Der zurückgegangen ist!“

„Wo ist er?“ Papa wischt sich eine Träne aus den Augen. „Ich möchte mich bei ihm bedanken.“

„Er ist wieder gegangen“, erwidert der Mann. „Ich kannte ihn nicht.“
 

*
 

Nenes früheste Kindheitserinnerung ist die an den Tag von Omas Beerdigung. Sie muss ungefähr fünf gewesen sein, jedenfalls war sie noch nicht an der Akademie. Mama hatte ein schwarzes Tuch um die Schultern, mit Fransen, die völlig verknotet waren. Nene hat versucht, die Knoten zu lösen, und Mama hat sie fest an sich gedrückt und geweint. Shuichi und Shinichi haben auch geweint, und Papa hat kein Wort gesagt.

In der Nacht darauf hat Nene zum ersten Mal von dem Jungen geträumt. Der Traum war voller Feuer und Angst, aber plötzlich war da dieser Junge. Er hatte sehr große, dunkelgraue Augen und eine beruhigende Stimme. Sie hat nicht verstanden, was er gesagt hat, aber sie hat diese Augen gesehen. Sie haben sie beruhigt.

Kurz darauf ist sie aufgewacht und hat in der Dunkelheit des Kinderzimmers zu weinen begonnen, weil ihr da plötzlich klar geworden ist, dass Oma tot ist.
 

*
 

Mama schneidet Gemüse für das Abendessen, Shuichi brütet über seinen Matheaufgaben, und Shinichi kaut auf seinem Bleistift und starrt in ein Schulbuch.

„Jetzt sei mal still!“, blafft er Nene an, die unter dem Küchentisch mit ihrer Puppe plaudert. „Ich muss mich konzentrieren!“

„Worauf denn?“, fragt Nene und streckt den Kopf hervor.

„Ich muss bis morgen ein Lied auswendig lernen.“

„Was für eins?“

Hanako Blumenkind.

„Das kenne ich!“, ruft Nene. „Das ist ja ganz einfach.“

Sie holt tief Luft und beginnt, zu singen.
 

Hanako, Hanako, Blumenkind, sie lief zum Tor

Kartoffeln und Tomaten waren in ihrem Ohr

Sie schälte lang, sie schälte lang,

sie schälte das Gemüse und sang

Zehn Töpfe aß ihr Liebster leer

Sie schälte jeden Tag.
 

Mama muss so lachen, dass sie das Messer weglegt. Shinichi ist weniger begeistert.

„So geht das gar nicht, du Dumme!“

„Geht es wohl!“

„Wenn ich das so vorsinge, lachen mich alle aus!“

„Was ist denn?“, fragt Shuichi und hebt den Blick von seinem Matheheft.

„Nene singt das ganz falsch! Es wird Zeit, dass sie auch auf die Akademie kommt, da bringen sie ihr das schon richtig bei!“

„Komme ich ja“, sagt Nene und streckt ihm die Zunge raus. „Noch dreizehnmal schlafen, dann werde ich eingeschult, sagt Mama.“

„Ganz genau.“ Mama greift wieder nach dem Messer und zerlegt routiniert eine Kartoffel. „Sing es uns doch einmal richtig vor, Shinichi. Wir hören zu.“

Shinichi schiebt die Unterlippe vor. „Ich kann nicht singen.“

„Ich mache mit“, sagt Mama. „Ich habe es damals auch gelernt.“

Und da Shinichi keine Anstalten macht, zu singen, tut sie es.
 

Hanako, Hanako, Blumenkind, sie lief zum Tor

Die Stimme ihres Liebsten noch in ihrem Ohr

Sie wartete lang, sie wartete lang,

sie wartete, bis die Sonne sank

Zehn Wochen war ihr Liebster fort

Sie weinte jeden Tag.
 

*
 

„Wenn ich groß bin, werde ich ein Shinobi, wie mein Vater. Ich werde mein Augenerbe wecken, und dann werde ich stark. Das wird gut. Es ist wichtig, ein starker Shinobi zu sein, weil man dann seinen Clan und sein Dorf beschützen kann. Ich bin von den Hyuugas, und ich werde den Clan beschützen. Dafür werde ich mich bemühen, schnell stärker zu werden.“

„Sehr schön, Neji“, lobt Suzume ihn. „Wer möchte als nächstes vorlesen? Du, Naoko?“

„Ja, Sensei!“ Das Mädchen nimmt die Hand wieder herunter und zieht das Heft zu sich heran. „Was ich machen will, wenn ich groß bin. Ich will eine gute und starke Kunoichi werden. Mama sagt, Kunoichis werden oft Ärztinnen, aber ich weiß nicht, ob ich das will. Papa sagt, ich kann genauso stark werden wie mein kleiner Bruder, weil es gar keinen Unterschied macht, ob man ein Mädchen ist. Mama will nicht, dass ich in Gefahr gerate, aber ich will eine Kunoichi werden. Weil kämpfen muss man, wenn man Geld verdienen will, und ohne Shinobi wäre Konoha ja arm dran. Deswegen werde ich eine Kunoichi, wenn ich groß bin.“

„Das war sehr gut, Naoko. Du hast eine schöne Ausdrucksweise.“

Das Mädchen strahlt vor Freude, und Suzume lässt den Blick über die restlichen Sechsjährigen schweifen.

„Möchte noch jemand? Vielleicht jemand, von dem wir sonst nicht so viel hören?“

Getuschel kommt unter den Erstklässlern der Akademie auf, einige kramen auffällig unauffällig in ihren Taschen oder sehen zu Boden. Suzume greift zu ihrer Klassenliste.

„Wie wäre es mit ... Shimokawa Nene. Ist sie heute überhaupt da?“

Nene, die in der hintersten Reihe sitzt, hebt die Hand. „Ja, Sensei.“

„Also doch! Im Unterricht sieht und hört man ja nichts von dir. Lies doch bitte deine Hausaufgaben vor.“

„Ja, Sensei.“ Nene glättet die Seite ihres Heftes und räuspert sich. „Wenn ich groß bin, will ich wahrscheinlich so werden wie Mama und Papa. Die sind Chuunin, aber sie arbeiten auch. Sie haben einen Laden für Fleisch. Meine großen Brüder Shinichi und Shuichi helfen ihnen, und manchmal darf ich auch.“

„Das war sehr schön, Nene. Du kannst dich ruhig öfter beteiligen, ja?“

„Okay, Sensei.“

„Ihre Eltern sind also gar keine richtigen Shinobi?“, zischt ein Junge seinem Nachbarn zu.

„Doch, natürlich sind sie das, Kaoru“, erklärt Suzume. „Sie sind nur nicht ständig aktiv. Ich nehme an, dass ihre Eltern im Training bleiben, aber nur auf Missionen geschickt werden, wenn alle anderen Chuunin unterwegs sind. Stimmt das, Nene?“

„Ja, Sensei.“

„Es ist nützlich für Konoha, Shinobi in Reserve zu haben. Und daneben haben Nenes Eltern eben noch einen zweiten Beruf. Schließlich brauchen wir auch eine Metzgerei in Konoha, nicht wahr? Und wir brauchen jemanden, der sie betreibt.“

„Können das nicht die Zivilisten machen?“

Kichern kommt auf.

„Ich weiß nicht, was es über Zivilisten zu kichern gibt“, sagt Suzume und zieht die Augenbrauen hoch. „Wenn alle Einwohner Konohas Shinobi wären, von wem würdet ihr eure Kleider kaufen? Von wem euer Essen und alles andere, was ihr so braucht? Wer hat dir zum Beispiel diese Frisur gemacht, Kaoru?“

„Der Friseur natürlich, Sensei!“

„Na also. Wenn dein Vater dir mit dem Kunai die Haare schneiden müsste, wie sähe das nur aus?“

Alle fangen an zu lachen, auch Kaoru und Nene.
 

*
 

Der sandige Schulhof der Akademie ist fast vollständig der Sonne ausgeliefert, bis auf ein Eckchen, in dem ein ausladender Baum steht. Sie spielen fangen, und Nene jagt gerade Tatsumi aus ihrer Klasse, als der stolpert und hinfällt. Im selben Moment klingelt die Schulglocke.

„Die große Pause ist beendet! Stellt euch in Zweierreihen auf und geht zurück in die Klassen.“

„Sensei, Sensei!“

„Was denn?“

„Sensei, Tatsumi ist hingefallen!“

„Dann helft ihm auf und ...“

„Er blutet, Sensei!“

Tatsumi liegt auf dem Boden und heult, der Rotz läuft ihm aus der Nase. Seine linkes Bein ist aufgeschürft, vom Knie bis hinunter zur Wade. Nene betrachtet das Blut interessiert.

„Bestimmt musst du jetzt sterben“, sagt ein Viertklässler, der daneben steht, und Tatsumi heult noch lauter.

„Das sieht schön aus“, sagt Nene mit leuchtenden Augen.

Tatsumi verstummt und starrt sie an.

„Was ist passiert? Oh nein, Tatsumi schon wieder?“ Hastig hockt Suzume sich neben ihn. „Schon gut, das kriegen wir wieder hin. Kannst du aufstehen?“

Tatsumi schnieft und zeigt auf Nene. „Die da ist total gruslig.“

„Hey!“, sagt Shinichi und legt Nene eine Hand auf die Schulter. „Beleidige bloß nicht meine Schwester!“
 

„Nene ist total gruslig“, erklärt Shinichi beim Abendessen.

„Sprich nicht mit vollem Mund“, tadelt Mama.

„Ach ja? Was hat sie diesmal angestellt?“ Papa zwinkert Nene quer über den Tisch zu.

„Ein Junge aus ihrer Klasse hat am Bein geblutet, und sie hat gesagt, das sähe schön aus.“

„Hat es ja auch“, sagt Nene überrascht. „Es war rot. Rot ist meine Lieblingsfarbe.“

Papa muss lachen.

„Er hat sich wehgetan, Nene“, sagt Shuichi bedächtig und greift nach dem Reis. „Da sagt man nicht, dass das schön aussieht.“

„Hat er?“

„Was?“

„Er hat sich wehgetan?“

„Natürlich!“

„Wusste ich ja nicht.“

„Du wusstest es nicht?“

„Nein, woher denn?“

„Er hat geheult!“

„Tatsumi heult ständig. Ich dachte, das wäre einfach so ... sein Hobby oder so.“

„Jedenfalls ist es nicht schön, wenn jemand sich verletzt, Nene“, sagt Mama.

„Und dann darf ich nicht sagen, dass es schön aussieht?“

„Nein.“

Nene schiebt die Unterlippe vor. „Ach so. Wusste ich doch nicht.“

„Du bist echt komisch“, sagt Shinichi.

„Bin ich nicht!“

„Bist du wohl!“

„Hört auf damit“, sagt Mama streng, und Nene und Shinichi sind still und beginnen, sich unter dem Tisch vor die Schienbeine zu treten.
 

*
 

„Nein, nein, Nene. Du musst es dort aufschneiden.“

„Wo?“

„Da.“

„Was ist denn hier los?“, fragt Papa überrascht und betritt den Raum hinter dem Geschäft, in dem das Fleisch fertig gemacht wird. Er war vorne beim Verkauf und trägt seine weiße Schürze noch.

„Nene hilft mir, die Hühner auszunehmen, die heute hereingekommen sind“, erklärt Mama schlicht. „Ja, das ist besser, Nene.“

„Sie tut was?“

„Ich kann das gut, Papa!“ Nene lacht und winkt ihm mit dem ziemlich großen Fleischermesser in ihrer Hand.

„Aoi! Pass doch auf, was sie mit dem Messer tut!“

„Was habe ich dir gesagt, Nene? Mit dem Messer wird nicht herumgefuchtelt, das ist gefährlich. Die Klinge immer schön von dir weg halten, und pass auf deine Finger auf!“

„Ja, Mama.“

„Meine Familie ist verrückt“, sagt Papa und betrachtet seufzend die zwei geköpften Hühner auf dem Tisch.

„Warum?“

„Nicht viele Siebenjährige haben einen solchen Spaß daran, ein Tier zu zerlegen.“

„Siebeneinhalb!“, sagt Nene stolz.

„Ich bin froh, dass Nene mir hilft.“ Mama wirft Papa einen vorwurfsvollen Blick zu. „Du spannst Shuichi und Shinichi ständig für deine Zwecke ein.“

„Ja, aber ...“

„Und außerdem hat Shuichi dir auch schon im Laden geholfen, als er sieben war. Und die Botengänge, die die beiden ständig machen ...“

„Ja, aber ...“ Papa beugt sich zu Mama und senkt die Stimme. „Aber Shuichi hatte nie so einen Spaß dabei wie Nene.“

„Es ist doch schön, dass sie ihren Spaß hat“, sagt Mama verständnislos. „Es sind nur Hühner, Takeshi. Wir verdienen seit Jahren unseren Lebensunterhalt, indem wir ...“

„Mama, Mama!“

„Was denn, Nene?“

Nene stehen Tränen in den Augen. „Ich habe mich geschnitten, Mama.“

„Ich habe ja gesagt, das geht nicht gut!“, sagt Papa.

„Lass mal sehen, Nene. Ist doch nicht so schlimm, nur ein kleiner Schnitt. Komm weg von dem Fleisch. Wir tun ein Pflaster drauf, dann geht es gleich wieder.“

Mama zieht sie von ihrem Stuhl und verschwindet, um ein Pflaster zu holen. Nene steht da, einen kleinen Blutstropfen auf dem krampfhaft ausgestreckten Zeigefinger, und kämpft mit den Tränen.

„Du bist eben noch ein bisschen zu jung, um mit Messern zu hantieren“, sagt Papa.

„Mama hat gesagt, ich habe es gut gemacht“, jammert Nene. „Und an der Akademie bringen sie uns bei, wie man Kunai wirft. Das sind doch auch Messer, oder?“

Papa seufzt und streicht ihr über den Kopf. „Na, jetzt wein doch nicht. Ich dachte, rot ist deine Lieblingsfarbe?“

„Aber doch nur, wenn ich nicht selbst blute!“

Er lacht und nimmt sie in den Arm. „Mein komisches Mädchen.“
 

*
 

„Mama?“

„Ja, Shinichi?“

„An der Akademie haben sie gesagt, dass Nene nicht ganz richtig im Kopf ist. Und anderswo als hier würden die Ärzte sagen, dass sie krank ist, und sie würden sie in ein Krankenhaus bringen.“

„Was für ein Krankenhaus?“, fragt Nene.

„Für Verrückte. Wo sie Gitter an den Fenstern haben, und so hohe Mauern, damit die Verrückten nicht abhauen.“

„Das ist Unsinn“, sagt Mama entschieden. „Sprich nicht von so etwas, Shinichi. Mit Nene ist alles in Ordnung.“

„Aber sie hat neulich schon wieder gelacht, als ein Mädchen aus ihrer Klasse aus Versehen ein Kunai im Arm stecken hatte!“

„Wir haben dir doch gesagt, dass man über so etwas nicht lacht, Nene“, seufzt Papa.

„Und normale Leute wissen das auch so!“, sagt Shinichi. „Leute, die nicht verrückt sind.“

„Gibt es in Konoha Ärzte für Verrückte, Mama?“, fragt Shuichi besorgt.

„Nein“, sagt Mama fest, „die gibt es nicht. Und wenn, dann würde ich sie nicht auf meine Tochter loslassen.“

„Abgesehen davon ist heute Nenes Geburtstag“, sagt Papa beruhigend. „Also sei zur Abwechslung mal ein bisschen netter zu deiner Schwester, Shinichi.“

Nene nickt und betrachtet den Kuchen mit den neun Kerzen auf dem Tisch. „Genau, Shinichi. Ich habe Geburtstag. Was schenkst du mir überhaupt?“

Shinichi brummt irgendetwas.

„Wir haben uns eine Überraschung ausgedacht“, sagt Shuichi zufrieden. „Sie wird dir gefallen.“

„Eine Überraschung?“

„Gleich nach dem Frühstück gehen wir los.“

Mama lächelt. „Viel Spaß. Passt auf euch auf und seid zum Mittagessen wieder da.“

„Ja, Mama!“
 

Shinichi und Shuichi führen sie in ein südliches Viertel Konohas, in dem Nene sich kaum auskennt, und plötzlich steht da ein Baum. Er ist so groß, dass er die umliegenden Häuser beiseite zu drängen scheint, vielleicht auch so alt, dass die Häuser einfach um ihn herum gebaut wurden. Nene legt den Kopf in den Nacken und sieht an dem mächtigen Stamm nach oben. Er reicht weit, weit hinauf, und oben werden die Äste so zahlreich, dass man nur noch Blätter und Sonnenflecken sieht.

„Der ist ja riesig!“

Die beiden Jungen sehen so stolz aus, als hätten sie den Baum eigenhändig gepflanzt.

„Wir dachten, wir bringen dir bei, wie man richtig klettert“, sagt Shuichi. „So, den Stamm hochlaufen und so.“

„Kann ich das denn?“

„Wenn man den Trick einmal raus hat, ist es nicht so schwer.“

„Ich weiß trotzdem nicht, ob du das schaffst“, sagt Shinichi spöttisch, und Nene haut ihm auf den Arm.

„Du wirst ja sehen! Was muss ich machen, Shu?“
 

Shuichi hilft ihr, auf die niedrigsten Äste zu kommen, aber dann klettert Shinichi vor und die beiden liefern sich einen Wettkampf, wer höher kommt. Im Eifer des Gefechts vergessen sie Nene kurzfristig, aber das macht ihr nichts aus. Sie sitzt auf ihrem Ast in einer Höhle aus grünen Blättern und beobachtet die Leute, die draußen vorbeilaufen. Es macht Spaß, versteckt zu sein. Niemand sieht in ihre Richtung, bis sie eine Bewegung unten am Baumstamm bemerkt und hinunter sieht. Ein kleiner Junge steht dort, vielleicht anderthalb Jahre alt, die plumpen Hände gegen den Stamm gestützt, und sieht mit hellgrauen Augen zu Nene auf.

„Hallo!“, sagt Nene und strahlt ihn an.„Willst du mit klettern?“

Der Junge runzelt die Stirn und weicht einen Schritt zurück, tapsig auf seinen dünnen Beinen, die aus dem dicken Windelpopo ragen.

„Nein, klettern wird er wohl nicht“, erklingt eine Stimme und ein junger Mann in der Uniform eines Chuunin tritt hinter den Jungen. „Damit warten wir lieber noch ein paar Jahre.“

„Ist das Ihr Sohn?“, fragt Nene.

„Meiner, meiner ganz allein.“

„Er ist süß!“

„Oh, das war ein Kompliment, Mamoru. Sag danke zu der jungen Dame.“

Der Junge sieht Nene zögernd an, läuft zu seinem Vater und verbirgt das Gesicht an dessen Hosenbein. Der Mann lacht und hebt ihn hoch.

„Ich sehe, ihr übt klettern.“

„Ja!“, ruft Shuichi von einem Ast weiter oben. „Das ist der beste Baum dafür!“

„Ja, nicht wahr? Wir sind als Kinder schon darauf geklettert. Der Baum hat sozusagen Tradition.“

Der Junge beginnt zu quengeln, und der Mann hebt zum Abschied die Hand. „Wir sollten gehen. Viel Spaß noch.“

„Einen schönen Tag Ihnen auch!“, ruft Nene ihm nach, als er sich mit dem Kleinen auf dem Arm den Weg die Straße hinunter macht.

„Jetzt komm schon, Nene!“, ruft Shinichi. „Du wolltest doch, dass wir dir das mit dem Baum hochlaufen zeigen!“

„Ja, ja.“

„Auf die Art wird nie eine anständige Kunoichi aus dir. Du bist viel zu versessen darauf, kleine Kinder zu bespaßen und tote Tiere zu zerstückeln.“

„Stimmt ja gar nicht!“ Nene greift nach einem der unteren Äste. „Warte, ich komm dir gleich da rauf!“

Nenes Geschichte, Teil zwei – Warum habt ihr eine Einladung zur Verletzung von Dienstvorschriften?

„Papa und ich müssen für eine Weile weg“, sagt Mama beim Abendessen.

„Auf eine Mission?“

„Ja.“

„Was macht ihr?“, fragt Shinichi.

„Das dürfen wir euch nicht verraten.“ Mama wirft Papa einen kurzen Blick zu, aber er isst weiter.

„Und wo bleiben wir so lange?“, fragt Shuichi.

„Ihr könnt hier bleiben. Während wir weg sind, bekommt ihr kostenlos zu Essen. Du kennst doch das Gebäude neben der Akademie, oder?“

„Die Futterkrippe!“

„Ach, nennt ihr das so?“ Mama lächelt. „Schlafen könnt ihr hier, und wenn irgendetwas ist, könnt ihr bei Frau Tobitake nebenan klingeln. Wir sagen ihr Bescheid. Glaubt ihr, ihr schafft das?“

„Klar“, sagt Nene. Immerhin ist sie schon neun, Shinichi elf und Shuichi zwölf. Natürlich kommen sie allein zurecht.
 

*
 

Die Futterkrippe ist in einem ebenerdigen Gebäude neben der Akademie untergebracht. Drinnen finden Nene, Shinichi und Shuichi einen großen Raum mit gefliestem Boden vor. Im vorderen Teil sind große Fenster in den Wänden angebracht, hinter denen sich anscheinend die Küche befindet. Frauen mit weißen Häubchen reichen Essen heraus. Durch den Rest des Raumes ziehen sich drei lange Reihen von Tischen, an denen schon viele Plätze von essenden Kindern besetzt sind. Es geht laut und ziemlich chaotisch zu, und die Geschwister sehen einander überfordert an.

„Seid ihr zum ersten Mal hier?“, fragt eine Frau, die gleich an der Tür steht, neben einem großen Stapel mit Plastiktabletts.

„Ja“, sagt Shuichi und hält ihr die drei Karten hin, die Mama ihm als dem Ältesten anvertraut hat. Mit einem Lächeln nimmt die Frau sie entgegen.

„Shuichi, Shinichi und Nene?“

„Ja.“

Sie überprüft kurz den Datumsstempel und gibt Shuichi die Karten zurück. „Kommt herein, ihr drei. Nehmt euch einfach ein Tablett und stellt euch dort in die Schlange zur Essensausgabe. Wir haben heute Fischtag.“

Shinichi verzieht das Gesicht, aber bevor er etwas gegen den Fisch sagen kann, hat die Frau sich schon dem nächsten Neuankömmling zugewandt.

„Naruto, wie siehst du wieder aus? Wasch dir gefälligst das Gesicht, bevor du zum Essen kommst!“

„Hier“, sagt Shuichi, nimmt drei der Tabletts von dem Stapel und drückt Nene eines davon in die Hand. Sie reihen sich in die lange Schlange von Kindern ein, die ältesten vielleicht so alt wie Shuichi, die jüngsten fünf oder sechs. Direkt vor Nene steht ein Junge mit schwarzen Haaren, der ein komisches rot-weißes Zeichen hinten auf seinem T-shirt hat. Die Frau, die den Reis verteilt, lächelt ihn an.

„Wie schön, dass du auch wieder hier bist, Sasuke. Wie geht es dir?“

Sasuke zuckt die Achseln und streckt die Hände aus, um seine Schüssel zurück zu bekommen. „Es geht schon“, sagt er abweisend. Die Frau sieht ihn mitfühlend an und lädt ihm noch einen Löffel Reis auf.

„Der Reis sieht komisch aus“, raunt Shinichi Shuichi zu. „Mama macht den anders.“

„Jetzt hör auf, dich zu beschweren“, erwidert Shuichi im Flüsterton. „Mama und Papa kommen ja wieder. Andere essen so etwas jeden Tag.“

Nene lächelt der Frau zu, die sie ebenfalls mit Reis versorgt, und findet es ganz gut, dass Mama und Papa wiederkommen.
 

Sie finden einen Platz neben einem Klassenkameraden von Shinichi und Shuichi, der „die Shimokawa-Zwillinge“ stürmisch begrüßt und die ganze Zeit mit vollem Mund redet. Nene fragt sich, ob er weiß, dass die beiden eigentlich keine Zwillinge sind. Sie selbst ist mit ihrem Essen beschäftigt, als ein Junge sich neben sie auf die Bank drängelt. Er wirkt etwas jünger als sie und hat komische Striche auf den Wangen wie Schnurrhaare. Nene stößt beinahe ihre Schüssel um, als er sie anrempelt.

„Pass doch auf!“

„Pass du auf“, erwidert der Junge beleidigt. Sein Hals und seine Ohren sind dreckig, als hätte er sich ewig nicht gewaschen und sich nur schnell Wasser ins Gesicht geklatscht. Er baumelt unter dem Tisch mit den nackten Füßen, seine Hose hat ein Loch am Knie, sein T-shirt ist etwas zu klein. Am Auffallendsten sind trotzdem die Schnurrhaare.

„Warum hast du so komische Striche im Gesicht?“

Der Junge starrt sie an. „Halt den Mund!“

„Warum?“

„Weil die Hexe von der Eingangskontrolle mich wieder ärgern wollte und ich eine Scheiß-Laune habe! Eines Tages zeige ich es denen allen!“

„Was ist eine Scheiß-Laune?“, fragt Nene überrascht. Einige Sekunden lang starrt der Junge sie wütend an. Dann beugt er sich vor und spuckt in ihre Schüssel. Verblüfft weicht Nene zurück. So etwas tun normale Menschen nicht, oder?

„Bah!“, schreit ein Mädchen, das Nene gegenüber sitzt. „Habt ihr gesehen, was Naruto gemacht hat?“

„Ist irgendwas, Nene?“, fragt Shinichi neben ihr.

„Er hat in meinen Reis gespuckt“, antwortet Nene ratlos.

„Das ist ekelhaft!“

„Naruto!“, schimpft eine Frau von der Essensausgabe und fuchtelt mit ihrem Löffel. „Immer hat man Ärger mit dir! Wenn du so weitermachst, kannst du wieder auf dem Gang essen!“

„Du kannst mich mal, alte Schachtel!“, schreit Naruto zurück. Er rutscht von seinem Platz, stolpert, fängt sich und rennt hinaus, vorbei an den starrenden oder johlenden Kindern.

„Wenn du noch einmal meine Schwester ärgerst, kannst du was erleben!“, brüllt Shinichi ihm nach. „Ich hab mir dein Gesicht gemerkt!“

„Das ist Naruto“, sagt der Klassenkamerad spöttisch. „Der macht nur Scheiß. Man ist schon gar nicht mehr überrascht.“

„Warum macht er das?“

„Ich glaube, weil er Waise ist und sich keiner um ihn kümmert.“

„Wenn man keine Eltern hat, wird man dann automatisch so?“

Nene sieht noch immer zur Tür, obwohl Naruto längst verschwunden ist. „Er benimmt sich komisch, oder?“, fragt sie langsam.

„Da“, sagt Shuichi und schiebt ihr seine erst halb geleerte Reisschüssel hin. „Den Rest kannst du haben.“

„Danke, Shushu.“

„Kein Problem.“
 

Auf dem Heimweg treffen sie Frau Tobitake vor dem Haus. Sie erkundigt sich, ob beim Mittagessen alles in Ordnung war, und ist schockiert, als Nene ihr von Naruto erzählt.

„Ach ja, manche Kinder heutzutage! Nur noch Unsinn haben sie im Kopf. Kein Anstand, sage ich, kein Respekt. Ich müsste euch mal ein Foto von meinen Lieben zeigen, damals war alles besser. Akira war der Älteste, er hat das Geld verdient, nachdem sein Vater tot war. Tonbo hat mir als Zweitältester mit den Mädchen geholfen. Kimiko, Eiko und Sayuri, meine lieben Mädchen. Wie lange ist das jetzt her, dass Kimiko gestorben ist? Drei Jahre, oder vier? Ich muss euch ein Foto zeigen. Wo habe ich denn nur meine Brille ...“

Sie hat die Brille auf der Nase. Shinichi und Nene kichern, und Shuichi sieht sie tadelnd an. Mama sagt, sie sollen höflich zu Frau Tobitake sein.

„Und obwohl Eiko die Einzige ist, die noch zu Hause wohnt, bekomme ich sie kaum zu Gesicht. Sie macht eine Ausbildung zur Iryonin, das ist anstrengend für sie. Dabei ist sie doch erst siebzehn, in diesem Alter sollte man ein bisschen Spaß haben, nicht wahr? Ach, als ich noch siebzehn war ... Ich sollte euch ein Bild von ihr zeigen. Wo habe ich denn wohl ... Oh, Akira ist doch gerade auf dieser Mission mit euren Eltern? Ja, er ist ein guter Jounin. Er wird sie schon heil zurückbringen. Wann sind sie noch gleich zurück?“

„Wenn alles gut geht, in einer Woche“, sagt Shinichi.

„Oh, das ist schön.“ Frau Tobitake lächelt sie freundlich an und streicht Nene über den Kopf. „Ihr seid gute Kinder. Räumt die Wohnung auf, bevor eure Eltern kommen, ja?“

„Machen wir“, sagt Shuichi.
 

*
 

Als der Schlüssel sich im Schloss der Haustür dreht, realisiert Nene erst gar nicht, was los ist. Shinichi ist schneller. Er springt auf und läuft in den Flur.

„Mama! Papa!“

Hastig rappelt auch Nene sich auf und folgt ihm. Mama steht in der geöffneten Tür, noch in Uniform, die Haare zusammengebunden, und drückt Shinichi an sich.

„Shinichi. Ich bin so froh, wieder hier zu sein.“

Ihre Stimme klingt erstickt. Verwirrt tritt Nene näher, und Shuichi streckt den Kopf durch die Tür zur Küche.

„Mama? Wo ist Papa?“

„Im Krankenhaus. Aber es ist nichts Schlimmes, nur ein paar Kratzer.“

„Alles okay, Mama?“, fragt Shinichi verstört.

Mamas Lippen zittern, dann lächelt sie. „Natürlich, alles okay. Ich bin nur so froh, wieder zu Hause zu sein.“
 

„Ich habe dir Tee gekocht, Mama“, sagt Shuichi. „Es ist deine Lieblingstasse.“

„Oh, das ist lieb von dir.“ Mama setzt sich an den Küchentisch, die Haare noch nass vom Duschen, und legt beide Hände um die Tasse mit dem bunten Schmetterling, als würde sie frieren. Ihr Blick geht ins Leere.

„Ist irgendetwas passiert, Mama?“, fragt Nene.

„Es ... es ist ... ja. Aber ich lebe noch.“

Shinichi und Nene tauschen einen raschen Blick.

„Es ist alles schief gegangen“, erzählt Mama leise, den Blick auf irgendeinen Punkt auf der Tischplatte gerichtet. „Anfangs war alles ruhig, wir haben uns sicher gefühlt ... zu sicher vielleicht. Mitten in der Nacht haben sie uns überfallen, ohne jede Vorwarnung. Papa und ich konnten mit viel Glück entkommen, aber Akira und Shigeko ...“

Sie bricht ab und nippt an ihrem Tee.

„Sind sie tot?“, fragt Shuichi mit großen Augen.

„Morgen gehen wir Papa besuchen“, sagt Mama und versucht, munter zu klingen. „Ja? Wir besuchen ihn im Krankenhaus und bringen ihm Blumen.“

„Ich male was für ihn“, sagt Nene entschlossen und steht auf.

„Oh ja, da wird er sich freuen.“
 

*
 

Am nächsten Morgen werden sie auf dem Weg ins Krankenhaus unerwartet aufgehalten.

„Oh, Aoi“, sagt Frau Tobitake überrascht, die ihnen mit Einkaufstüten in den Händen auf der Treppe entgegen kommt. „Sie sind schon zurück?“

Mama wird blass. „Oh ... ja. Seit gestern Abend.“

„Na so etwas! Akira hat sich noch gar nicht bei mir gemeldet. Dabei hatte er doch versprochen, vorbeizuschauen, sobald er wieder hier wäre. Das sieht ihm gar nicht ähnlich ...“

Mama sieht starr auf den Boden, und die Kinder tauschen hastige Blicke.

„Frau Tobitake“, sagt Shuichi vorsichtig. „Es ist so, dass ...“

„Was denn, Shuichi?“

Er verstummt und beißt sich auf die Lippe.

„Akira ist tot“, sagt Nene. „Und wir müssen jetzt in Krankenhaus und nach Papa sehen. Ich hab ein Bild für ihn gemalt.“

Frau Tobitake runzelt die Stirn. „Wie bitte? Wo ist Akira, sagst du?“

„Er ist tot“, sagt Shinichi.

„Es tut mir leid“, bringt Mama hervor, greift nach Frau Tobitakes Hand am Griff der Einkaufstüten, verbeugt sich fahrig. „Tausend Dank, dass Sie auf die Kinder aufgepasst haben. Akira ... war ... Es war nicht seine Schuld. Es tut mir so furchtbar leid.“

Sie wendet sich ab und steigt die Treppe hinunter. Ihre Kinder folgen hastig. Als Nene sich unten an der Tür noch einmal zu Frau Tobitake umsieht, steht sie da wie eingefroren, leichenblass im Gesicht, den Blick ins Leere gerichtet.

„Komm“, zischt Shinichi und zieht sie am Ärmel hinaus.
 

„Das ist ein schönes Bild, Nene“, sagt Papa und streicht ihr über den Kopf. „Danke.“

„Geht es dir bald wieder gut, Papa?“, fragt Shuichi und klettert auf das Krankenhausbett.

„Ja, bald schon. Ich habe eine Schnittwunde am Oberschenkel, aber das wird wieder. Die Ärzte sagen, morgen kann ich schon nach Hause.“

„Wer ist das eigentlich, Nene?“, fragt Shinichi und deutet auf ihr Bild.

„Das bin ich“, erklärt Nene bereitwillig, „und du und Shuichi, und Mama und Papa.“

„Ja, ich weiß. Aber der da, neben dir.“

Er zeigt auf den Jungen mit den großen, dunkelgrauen Augen. Nene lächelt.

„Ein Freund von mir.“

„Du hast einen Freund?“

„Ja. Ich träume immer von ihm.“

„Nene hat einen Freund!“, ruft Shinichi. „Nene ist verliebt!“

„Was für ein Freund denn?“, fragt Papa amüsiert. „Ein Klassenkamerad, Nene?“

„Nein. Ich habe doch gesagt, ich träume von ihm.“

„Immer wieder?“, fragt Mama verblüfft. „Du hast nie davon erzählt.“

„Vielleicht ein Seelenverwandter oder so“, sagt Papa und legt das Bild sorgfältig auf seinen Nachttisch.

„Nene ist verliebt!“, singt Shinichi, und Nene tritt ihm gegen das Schienbein.
 

*
 

Vier Monate später, kurz vor Nenes zehntem Geburtstag, schiebt Mama beim Abendessen die Hand über den Tisch und greift nach der von Papa.

„Kinder? Wir müssen euch etwas sagen.“

Verblüfft sehen sie auf.

„Was denn, Mama?“

„Ihr werdet bald noch ein kleines Geschwisterchen bekommen.“

Shuichis Augen werden groß, Nene lässt aus Versehen ihre Stäbchen fallen.

„Ein Mädchen oder ein Junge?“, fragt Shinichi.

„Das wissen wir noch nicht“, antwortet Papa. „Wir lassen uns überraschen, ja?“

„Ich will eine Schwester“, sagt Nene sofort. „Weil wir dann zwei Mädchen und zwei Jungs sind. Alles andere wäre ja unfair.“

„Und wenn es doch ein Junge wird?“

„Wird es nicht!“

Mama zwinkert Nene verschwörerisch zu. „Ich glaube, es wird ein Mädchen“, flüstert sie, und Nene rutscht um den Tisch, um sie zu umarmen.
 

*
 

„Aha“, sagt Frau Tobitake über die Fleischtheke hinweg. „Schwanger sind Sie jetzt auch noch. Glückwunsch.“

„Danke“, erwidert Mama lächelnd und schiebt ihr ein Paket Filet hin.

„Im wievielten Monat sind Sie jetzt?“

„Im sechsten.“

„Vor sechs Monaten waren Sie auf dieser Mission, nicht wahr? Die tragisch fehlgeschlagen ist.“

„Das ... ja, das stimmt. Was für ein Zufall.“

„Möchte wissen, was für ein Zufall das war“, sagt Frau Tobitake, deren Lippen beben. „Dass Sie meinen Akira nicht wieder mitgebracht haben, aber dafür dieses kleine Ding. Man könnte fast meinen, Sie hätten in der Nacht, in der Sie überfallen wurden, damit zu tun gehabt ...“

Sie verstummt, als Papa neben Mama tritt und ihr den Arm um die Schulter legt. „Verlassen Sie sofort meinen Laden“, sagt er sehr ruhig zu der Frau. „Ich verbitte mir solche Unterstellungen.“

„Mein Sohn könnte noch leben, wenn ihr beide eure Aufgabe ernster genommen hättet!“, kreischt die Alte. „Es war eine B-Mission, keine Flitterwochen!“

„Gehen Sie!“, herrscht Papa sie an. „Und unterstehen Sie sich, wieder herzukommen!“
 

*
 

Es ist längst Schlafenszeit und eigentlich wollte Nene nur mal kurz auf die Toilette, aber sie bleibt an der fast geschlossenen Küchentür stehen, weil noch Licht brennt. Drinnen hört sie Mamas schrille Stimme.

„Ich glaube das einfach nicht!“

„Es ist nur eine Vorladung, Aoi“, sagt Papa beruhigend. „Keine Anklage.“

„Es ist eine Vorladung wegen Verdacht auf Verletzung der Dienstvorschriften. Und du tust, als wäre es gar nichts!“

„Wir werden das alles erklären können.“

„Was bilden diese Menschen sich eigentlich ein, sich so in unser Privatleben einzumischen? Wir beide haben für Konoha öfter unser Leben riskiert, als ich zählen kann! Wir haben diesem Dorf drei neue Soldaten geboren, Nummer vier ist schon auf dem Weg! Und so danken sie es uns?“

„Überdramatisiere die Sache bitte nicht so, Aoi. Und reg dich nicht auf, das ist nicht gut für das Kind.“

„Das Kind.“ Mamas Stimme zittert. „Manchmal glaube ich, ich will es gar nicht.“

„Ich will es aber!“, sagt Nene und stößt die Tür auf. Papa dreht sich erschrocken zu ihr um, Mamas Augen sind rot.

„Ich will das Baby, Mama! Du hast gesagt, es wird ein Mädchen, und ich will eine kleine Schwester! Warum willst du auf einmal nicht mehr?“

Mama vergräbt das Gesicht in den Händen, und Papa kommt zu Nene und geht vor ihr in die Hocke.

„Das hat Mama nur so gesagt, Nene. Sie hat ein bisschen schlechte Laune. Mach dir keine Sorgen und geh wieder ins Bett.“

„Warum habt ihr eine Einladung zur Verletzung von Dienstvorschriften?“, fragt Nene.

Papa zögert kurz. „Also ... Du weißt doch noch, dass wir auf dieser Mission waren, vor einem halben Jahr? Bei der wir nachts überfallen wurden.“

„Ja.“

„Und du weißt doch, dass Frau Tobitakes Sohn Akira dabei gestorben ist.“

„Frau Tobitake grüßt mich nicht mehr, wenn ich ihr hallo sage. Warum macht sie das?“

„Sie ist ziemlich ... böse auf Mama und mich. Sie glaubt, dass unser Lager nur deswegen überfallen werden konnte, weil wir nicht aufgepasst haben. Weil Mama und ich damit beschäftigt waren ... das Baby zu machen. Das war nämlich auch vor einem halben Jahr, verstehst du?“

Nene nickt langsam. „War es denn so?“

„Natürlich nicht! In dieser Nacht hatte Shigeko Nachtwache. Und überhaupt haben wir auf der Mission nicht ... nicht ... Es gibt romantischere Orte als ein Feldbett, weißt du.“

„Dann kann euch ja nichts passieren“, sagt Nene. „Hörst du, Mama? Ihr erklärt den Leuten einfach, dass es nicht stimmt. Dann ist alles okay.“

Mama reagiert nicht, und Papa streicht Nene über den Kopf. „Du solltest jetzt ins Bett gehen.“

„Es wird doch alles wieder gut“, sagt Nene. „Oder, Papa?“

Er zögert nur für eine Sekunde. „Natürlich wird alles gut.“
 

*
 

Als Nene nach der Akademie nach Hause kommt, lungern Shinichi und Shuichi vor der Ladentür herum.

„Mama weint“, sagt Shuichi zur Begrüßung, der auf der obersten der drei Stufen hockt. Shinichi stochert mit einem Stock in dem Blumenkübel neben der Treppe.

„Warum?“, fragt Nene.

„Weiß ich auch nicht. Papa hat gesagt, sie ist müde wegen dem Baby. Wir sollen draußen spielen, weil sie Ruhe braucht, hat er gesagt.“

Durch die Glastür kann Nene Papa hinter der Ladentheke stehen sehen. Er sieht auch sehr müde aus.

„Als sie mit dir schwanger war, hat sie nicht so oft geweint“, sagt Shuichi leise.

„Aber jetzt ist sie älter. Vielleicht ist es da anders.“

„Sensei hat uns gesagt, es macht keinen Unterschied.“

„Was?“

„Jetzt fang nicht wieder damit an“, sagt Shinichi wütend und wirft den Stock weg.

„Was hat euer Sensei gesagt?“, fragt Nene und setzt sich neben Shuichi.

„Er hat ... hat Shinichi und mich nach dem Unterricht beiseite genommen und ...“ Shuichi schluckt schwer. „Er hat gesagt, wir würden zu seinen besten Schülern gehören. Die Shimokawa-Zwillinge hat er uns genannt. Dass er fast sicher ist, dass wir beide demnächst die Genin-Prüfung bestehen, und dass er uns unbedingt in dasselbe Team stecken will, weil wir so gut zusammenarbeiten können.“

„Das ist doch toll, oder?“, fragt Nene.

„Und er hat gesagt ... dass es ihm egal ist, was unsere Eltern tun, aber dass er für uns zwei jederzeit die Hand ins Feuer legen würde.“

Nene runzelt die Stirn und versteht es nicht. Ratlos sieht sie nach Shinichi, aber der starrt auf den Boden, die Fäuste geballt.

„Dann hab ich ihn gefragt, ob er glaubt, dass Mama und Papa ins Gefängnis müssen.“

Shuichi vergräbt das Gesicht in den Händen und schluchzt auf. Nene muss kurz überlegen, aber wenn jemand weint, geht es ihm nicht gut, hat Papa gesagt. Verwirrt streicht sie Shuichi über den Rücken.

„Shu? Was ist denn?“

„Hör auf zu heulen“, sagt Shinichi, in dessen Augen es verdächtig glitzert. „Das bringt doch auch nichts.“

„Nicht weinen, Shushu. Was hast du denn?“ Nene schlingt die Arme um ihn und legt den Kopf an seine Schulter.

„Sensei hat gesagt, dass er uns jede Unterstützung geben wird, die möglich ist. Egal, was passiert.“

„Er hat nicht gesagt, dass sie nicht müssen!“, bringt Shuichi hervor. „Vielleicht ... vielleicht ist es wirklich ...“

Shinichi quetscht sich auf die andere Seite neben Shuichi und greift nach seiner Schulter.

„Ist ja gut, Shu.“

„Nicht weinen.“

„Wir kriegen das alles wieder hin.“

Sie sitzen in der hellen Sonne auf der Treppe, und einen Moment lang fragt Nene sich, was die Kunden denken müssen. Aber kein Kunde kommt.

„Ich hasse dieses Baby“, murmelt Shinichi. „Ich hasse es einfach.“
 

*
 

Heute bleibt der Laden geschlossen, wie zu oft in letzter Zeit. Mama hat Shuichi Geld gegeben, und nach der Akademie sitzen die drei Geschwister an einem kleinen Ramenstand und schlürfen ein einsames Mittagessen. Morgen werden sie wieder zusammen essen, hat Mama versprochen, nur heute müssen Papa und sie weg, um sich mit irgendjemandem zu unterhalten. Mit wem, haben sie nicht gesagt. Aber auch morgen wird es wieder ein trostloses Essen, mit Schweigen und gesenkten Blicken und dem grotesk angeschwollenen Bauch unter Mamas Pullover.

„Was ist denn mit euch dreien los?“, fragt der Besitzer des Ramenstandes besorgt, ein netter Herr mittleren Alters. Shinichi schaut nicht auf, Nene sieht Shuichi an.

„Gar nichts“, murmelt Shuichi.

Der Mann fragt nicht nach und wendet sich stattdessen Shinichi zu. „Du siehst blass aus, Junge. Du musst ordentlich essen. Nimm noch einen Nachschlag, geht aufs Haus.“

Shinichi hebt den Blick nicht. „Nein danke.“

„Ich würde einen Nachschlag nehmen“, sagt Nene. Der Mann lacht, nimmt ihre Schüssel und lässt noch eine Kelle Nudeln hinein fallen.

„Bitte schön.“

„Danke.“

Shuichi rührt in seinen eigenen Nudeln, und Shinichi wirft Nene einen finsteren Blick zu.

„Ich will dieses Scheiß-Baby nicht!“, faucht er.

„Es wird ein Mädchen“, erwidert Nene sofort. „Ich will eine Schwester.“

„Das Baby ist an allem Schuld! Ich wünschte, es wäre tot!“

„Shinichi!“ Shuichi stößt ihn in die Seite. „Sowas sagt man nicht!“

„Nein, so etwas sagt man nicht“, stimmt der Mann ihm zu. „Ihr bekommt also ein Geschwisterkind?“

„Ja“, sagt Nene. „Es wird ein Mädchen!“

„Babys können wirklich anstrengend sein“, sagt der Mann. „Aber insgesamt bringen sie mehr Freude als Leid. Das ist zumindest meine Erfahrung.“

Nene strahlt ihn an. Shinichi starrt in seine Schüssel, und Shuichi rutscht unsicher auf seinem Hocker herum.

„Wir müssen bald nach Hause“, sagt er, und der Ladenbesitzer versteht und wendet sich ab.

„Natürlich. Dann einen schönen Tag euch noch.“
 

Den ganzen Heimweg über sprechen sie kein Wort. Nene tritt Steine vor sich her, Shinichi starrt Löcher in die Luft, Shuichi klimpert mit dem Haustürschlüssel. Mama und Papa haben erst für drei Stunden später ihre Rückkehr angekündigt. Umso überraschter sind sie, als sie sich dem Laden nähern und die beiden schon an der Tür sehen.

„Papa?“

Er sieht auf, und Mama fährt herum. Sie wirkt noch müder, als sie in letzter Zeit sowieso immer ist, aber als sie die Kinder sieht, leuchten ihre Augen auf. Sie breitet die Arme aus, sodass ihr Mantel auseinander rutscht und den kugeligen Bauch offenbart.

„Shuichi, Shinichi, Nene! Lasst euch drücken!“

Niemand versteht, was passiert ist, aber Mamas offensichtliche Freude steckt an. Sie werfen sich ihr in die Arme, so ausgelassen, dass Papa erschrocken dazwischen geht.

„Passt doch auf! Das Baby!“

„Was ist denn los, Mama?“, fragt Shuichi, halb hoffnungsvoll, halb verängstigt, enttäuscht zu werden. „Habt ihr es klären können?“

„Ja. Ja, das haben wir.“ Mama streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und lacht. „Er glaubt uns. Und er hat gesagt, er wird veranlassen, dass die Anklage sofort fallen gelassen wird.“

„Wer denn, Mama?“, fragt Shuichi, aber eigentlich interessiert es ihn gar nicht. Mama zieht Nene an sich und küsst sie auf die Stirn.

„Es ist alles wieder gut.“

„Und du kriegst das Baby, und es wird ein Mädchen“, sagt Nene zufrieden.

„Kommt endlich herein“, sagt Papa, der die Tür geöffnet hat, aber er muss lächeln.

„Das Baby ist da drin?“, flüstert Shinichi und legt die flache Hand auf Mamas Bauch, den er bisher gemieden hat wie Feuer.

„Ja.“

Er schweigt kurz und gibt einen Aufschrei von sich. „Es bewegt sich!“

„Es hat dich getreten“, sagt Mama lachend.

„Bestimmt aus Rache“, murmelt Shinichi.

„Rache wofür?“, fragt Papa, und Shuichi boxt Shinichi auf den Arm. „Für gar nichts“, antwortet er.
 

*
 

Da ist Feuer, überall Feuer, und Krachen und Splittern und schreiende Menschen. Aber der Junge ist da, mit seinen beruhigenden, dunkelgrauen Augen. Nene ist verliebt, hat Shinichi gesagt. Nene war noch nie verliebt, sie weiß gar nicht, wie man das macht. Aber von diesen Augen geht ein so überwältigendes Gefühl von Sicherheit aus, dass sie glaubt, vielleicht bedeutet verliebt sein genau das. Wenn dieser Junge da ist, hat sie vor gar nichts Angst.

Sie erwacht und hört Stimmen und Schritte im Flur. Noch schlaftrunken schält sie sich aus dem Bett und tapst zur Tür.

„Ist Mama wirklich nicht krank?“

„Nein, nein. Sie bekommt das Baby.“

Papa ist völlig aus dem Häuschen, setzt Shinichi Shuichis Mütze auf, schiebt die Dosen mit dem Frühstück in die Schultaschen der Jungen und rauft sich die Haare. „Ich bringe sie ins Krankenhaus. Ihr geht zur Akademie. Nene, was ist denn mit dir los?“

„Was denn?“, fragt Nene verschlafen und reibt sich die Augen.

„Du hast ja noch dein Nachthemd an! Es ist schon fast acht!“

Eine Weile lang muss sie überlegen. „Ich muss heute nicht zur Akademie.“

„Was?“

„Es sind Genin-Prüfungen, Papa!“, sagt Shinichi, reißt sich die Mütze vom Kopf und drückt sie Shuichi in die Hand. „Da haben die jüngeren Klassen doch immer frei.“

„Das hätte ich ja fast vergessen.“ Papa seufzt. „Zieh dich schnell an, Nene. Wir bringen Mama ins Krankenhaus, sie bekommt das Baby.“

„Bekommt sie?“, fragt Nene begeistert.

„Ja.“

„Ich zieh mich an!“

Bevor sie es tun kann, tritt Mama aus der Tür zum Schlafzimmer und greift nach ihrem Mantel. Shinichi und Shuichi stürmen sofort auf sie ein.

„Mama!“

„Du machst das schon, Mama!“

„Natürlich.“ Sie wirkt blass, aber sie lächelt und klopft den Jungen auf die Schultern. „Ich wünsche euch viel Glück, meine Großen. Gebt euer Bestes.“

„Machen wir!“

„Mach dir gar keine Sorgen um uns, Mama. Wir kommen klar!“

„Wenn ihr mit der Prüfung fertig seid, kommt nach Hause“, sagt Papa. „Erst, wenn ihr uns hier nicht findet, schaut ihr beim Krankenhaus vorbei.“

„Gut, Papa!“
 

*
 

Seit mindestens einer halben Stunde sitzen sie im Krankenhaus auf Plastikstühlen und warten. Sie sind eine Runde um das Gebäude gelaufen und noch eine, sie haben etwas zu Trinken gekauft, und jetzt warten sie wieder.

„Papa?“, fragt Nene.

Er zuckt zusammen, aus seinen Gedanken gerissen. „Ja?“

„Es geht Mama doch gut, oder?“

Er lächelt. „Natürlich. So eine Geburt dauert eben etwas, das ist normal.“

„Es wird ein Mädchen, oder?“

„Das weiß ich nicht, Nene.“

„Mama hat versprochen, es wird ein Mädchen.“ Nene baumelt unter dem Stuhl mit den Beinen, und Papa sagt nichts mehr.

„Papa?“

„Ja?“

„Geht ihr mal wieder auf eine Mission?“

Fragend sieht er sie an. „Na ja ... solange das Baby klein ist, bestimmt nicht.“

„Und danach?“, bohrt Nene nach.

„Ich weiß nicht. Wieso fragst du?“

„Wenn bei der nächsten Mission wieder etwas schief geht, habt ihr dann wieder dieses Vorladungs-Dings und Mama muss weinen?“

Papa lächelt und legt den Arm um sie. „Nein, Nene. Das ist jetzt geklärt.“

„Für immer?“

„Für immer.“

„Dann ist ja gut“, sagt Nene.

Eine Krankenschwester tritt aus einer der weißen Türen, sieht sich suchend um und kommt auf die beiden zu.

„Herr Shimokawa?“

„Ja?“, fragt Papa und setzt sich gerader hin.

„Herzlichen Glückwunsch! Ihre Frau hat gerade ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht.“

Papa reißt die Augen auf und bringt kein Wort heraus.

„Es ist ein Mädchen!“, ruft Nene und springt auf. „Wir gehen hin, Papa! Komm!“
 

„Das ist sie?“

„Ja“, sagt Mama erschöpft.

„Und es ist ein Mädchen, wie du versprochen hast?“

„Ja, Nene.“

„Eine Schwester! Ich habe eine Schwester!“

Begeistert klettert Nene auf Mamas Bett und zupft das Tuch beiseite, in das das Baby gewickelt ist. Ihre Schwester hat die Augen geschlossen und ist ganz klein und rosa und zerknittert.

„Die ist aber hässlich.“

Mama lacht. „Du Freche! Sie wird bestimmt noch ein ganz hübsches Mädchen.“

„Wie nennen wir sie?“

„Mikiko“, sagt Mama mit einem Blick auf Papa.

„Ja.“

„Mikiko“, sagt Nene langsam und nickt.

Die Tür fliegt auf und Mama zuckt zusammen und drückt Mikiko an sich. Unter lautem Poltern stürzen Shinichi und Shuichi herein.

„Mama!“

„Ist das das Baby?“

„Mama, wir haben es geschafft! Schau mal!“

Shinichi rennt zu ihr und deutet mit beiden Händen auf das Stirnband mit der glänzenden Konoha-Plakette darauf. Shuichi trägt dasselbe, ist aber mehr an dem Baby interessiert.

„Ist es ein Junge?“

„Nein, ein Mädchen.“

„Iiih, Mädchen!“, sagt Shinichi, und Nene boxt ihm auf den Arm.

„Wir nennen sie Mikiko.“

„Mikiko?“ Shuichi setzt sich auf die Bettkante und stupst ihr mit dem Zeigefinger auf die winzige Nase. „Hallo, Mikiko.“

„Warum ist die so zerknittert?“, fragt Shinichi misstrauisch.

„Das ist normal“, sagt Papa. „Du warst genau so.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Papa, Papa! Wir sind jetzt Shinobi, Shu und ich! Gehen wir ein Eis essen?“

„Ja, natürlich. Wir gehen alle zusammen, sobald Mama sich ein bisschen ausgeruht hat, ja?“

„Mama?“, fragt Shuichi. „Was hast du denn?“

Mama schluchzt auf, und schlagartig sind alle still.

„Was hast du, Mama?“, fragt Shinichi beunruhigt. „Ich finde sie nicht hässlich, weil sie so zerknittert ist. Also, nicht sehr. Ich mag sie trotzdem.“

„Bestimmt nur der Stress“, sagt Papa und legt ihm die Hand auf die Schulter. „Wir sollten vielleicht gehen und Mama eine Weile allein lassen, damit ...“

„Nein“, bringt Mama hervor und zieht Shuichi an sich. „Nein, bleibt hier. Meine Kinder. Meine großen Kinder.“

Sie schlingt den anderen Arm um Nene, sodass Mikiko in ihrem Schoß liegen bleibt, und streicht ihr über den Rücken. Eine Weile lang sagt sie gar nichts.

„Das hier“, flüstert sie endlich, „ist der glücklichste Tag in meinem Leben.“

Mamorus Geschichte, Teil eins – Wenn ich groß bin, kommt der Dämon und macht uns alle tot.

Wenn ich groß bin, kommt der Dämon und macht uns alle tot.
 

Konoha richtet seine Verräter nicht hin – es verurteilt sie zum Tode. Das ist nicht dasselbe.
 

„Ihr könnt mir das nicht anhängen, verdammt!“

Es ist kalt und düster, aber durch die Gitterstäbe fällt trübes Licht vom Gang in die Zelle. Mehrere der Männer mit den Porzellanmasken stehen vor Papa, einer von ihnen hat ein Stück Papier in der Hand. Seine Stimme klingt unbeteiligt.

„Hier steht es, schwarz auf weiß. Anstiftung zum Diebstahl, versuchter Mord in zwei Fällen, schwere Körperverletzung, unerlaubte Weitergabe klassifizierter Informationen, besser bekannt als Geheimnisverrat – und Hochverrat.“

Papas Stimme ist schrill. „Das letzte ist ein Scherz, oder? Und zwar ein verdammt schlechter! Ihr könnt nicht ...“

Es gibt einen dumpfen Schlag und ein Knacken, und ein paar Blutstropfen fallen auf den Boden.

„Erstens. Wir können.“

„Zweitens. Du hast wissentlich den Wirt des Kyuubi in eine unmittelbar lebensgefährliche Situation getrieben. Du musstest damit rechnen, dass sich angesichts einer solchen Verzweiflung das Siegel lösen und der Dämon wieder auftauchen könnte – mitten in Konoha, mitten in der Nacht. Du hättest billigend den Tod sämtlicher Einwohner des Dorfes in Kauf genommen.“

„Das ist doch ... das ist ...“

„Und ein solcher Massenmord ist nicht geringer einzustufen denn als Hochverrat.“

„Das ist völlig absurd! Ich habe nicht ...“

„Drittens. Du bist nicht hier, um dich zu verteidigen.“

Der Junge kauert sich im hintersten Winkel der Zelle zusammen und macht die Augen zu, weil sein Verstand das Bild nicht fassen kann, Papa auf dem Boden und die vielen Männer mit den weißen Porzellanfratzen, die auf ihn einprügeln. Er presst die Hände auf seine Ohren, aber die Schreie dringen trotzdem zu ihm durch. Mit Papa hat das alles nichts zu tun, versucht er sich einzureden. Es sind nur Geister, die heulen. Böse Geister.
 

Und dabei ist Papa der Einzige, den er noch hat. Mama ist schon so lange tot, dass er ihr Gesicht nur von Fotos kennt, und mehr Verwandte hat er nicht, nicht einmal einen besten Freund. Draußen gibt es niemanden, der nach ihm fragen würde, und von allein werden die hier drinnen ihn nicht gehen lassen. Selbst wenn er wieder nach draußen könnte, wer würde freiwillig das Balg eines Verräters in Pflege nehmen? Es könnte als Illoyalität ausgelegt werden. Nein, niemand kümmert sich um das Balg eines Verräters.
 

Ich werde auf die Akademie gehen, wie die Großen, und eines Tages werde ich ein Ninja sein. Wie du, Papa. Noch sechsmal schlafen, hast du gesagt. Nächsten Dienstag ist es soweit. Wir werden eine Einschulungsfeier haben, und dann werden wir in die Klassen gehen. Ich werde einen besten Freund finden, Papa. Ich hatte noch nie einen richtigen besten Freund.
 

„Du musst leben. Egal, was passiert, mein kleiner Junge muss leben.“

Grobe Finger fahren über seine Haare, die so schnell verknotet sind, seitdem er sie nicht mehr kämmen kann. Außerdem hat er manchmal Krabbeltierchen darin, dann kratzt er sich, und sie verknoten noch mehr. Die Krabbeltierchen ekeln ihn. Vielleicht würde er es sogar den Männern mit den Masken sagen, aber die haben sich schon ewig nicht mehr um Papa und ihn gekümmert. Als gäbe es sie gar nicht.

„Versprich mir, dass du lebst“, flüstert Papa ihm ins Ohr. Eine große Hand greift nach seinem Nacken und drückt sein Gesicht an das grobe Hemd. Der Stoff riecht nach Schweiß und Blut und Angst.

Er traut sich nicht, „Versprochen“ zu sagen.
 

Nachts hat er unruhige Träume, und oft ist es dieser eine Traum, der sich ständig wiederholt. Er fühlt sich, als habe man ihn dick in Watte eingepackt, kann sich nicht bewegen, nichts sagen, nicht einmal die Augen öffnen. Unter sich spürt er einen Boden, und aus kurzer Entfernung hört er zwei verzerrte Stimmen. Er hat das dringende Gefühl, er müsste sie kennen, aber er kommt einfach nicht darauf, woher.

Ich dachte, ich hole dein Söhnchen zum Verhör dazu, um den Status quo gleich abzustecken. Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge.“

Was ... was habt ihr mit ihm gemacht?“

Noch gar nichts.“

„Nichts?! Er lebt noch, oder? Kann er uns hören?“

„Vielleicht schon, jedenfalls wird er sich erst einmal nicht rühren können. Die Jungs haben ihn aus deiner Wohnung geholt, und vor lauter Panik wollte er nicht aufhören, zu schreien. Also haben sie ihm ein kleines Beruhigungsmittel gegeben.“

„Er sieht aus, als würde er unter Drogen stehen!“

„Ja, das sagte ich doch gerade. Aber keine Sorge. Er wird früher wieder aufwachen, als dir lieb sein kann.“

Er ist ein Kind. Keine sechs Jahre alt. Was willst du von ihm, Ibiki?“

Ein leises Knacken erklingt, und die Stimme, die zuletzt gesprochen hat, japst nach Luft.

Von ihm? Gar nichts. Aber von dir will ich eine ganze Menge. Zum Beispiel, dass du aufhörst, mich wie einen alten Freund anzusprechen. Du bist ein Gefangener, und ich bin derjenige, der dafür bezahlt wird, dich zum Reden zu bringen.“
 

„Nimm das, Kleiner“, sagt der Mann aus der Zelle neben ihnen, der mit dem blonden Zopf, den er mit einem Stoffstreifen zusammengebunden hat. Er hält seine Schüssel mit Suppe durch die Gitterstäbe.

„Wirklich?“ Der Junge ist misstrauisch. Man muss hier unten vorsichtig sein, wem man glaubt.

„Ja.“

Und er glaubt dem Mann. Er sitzt immer so zusammengekauert, dass die Wirbelsäule sich hinten an seinem Rücken abzeichnet, und er hat so freundliche, müde Augen. Er hat sich damit abgefunden, dass er hier nicht mehr rauskommt, hat er Papa mit gedämpfter Stimme erklärt. Solche Gespräche sind nichts für Kinder.

„Du bist doch verrückt“, hat Papa gesagt. „Wenn du dich damit abgefunden hast, machst du es nicht mehr lange.“

„Ich habe es verdient“, hat der Mann erwidert. Und jetzt fängt er an, sein Frühstück zu verschenken.

„Du bist noch jung. Du brauchst es nötiger als ich.“

„Vielen Dank“, sagt Papa und stößt ihn in den Rücken.

„Danke“, murmelt der Junge, nimmt die Schüssel entgegen und fragt sich, ob der Mann mit dem Zopf es wirklich nicht mehr lange macht. Man darf nicht jedem trauen, aber diesem Mann traut er. Es wäre schade, wenn er weg wäre.
 

Du hast gesagt, du gehst und machst ihn tot, Papa. Du gehst und machst den Dämon tot, und dann kommst du zurück und holst mich ab. Wir gehen immer in die Richtung, wo die Sonne aufgeht, und da sind wir sicher. Warum bist du nicht gekommen und hast mich abgeholt, Papa? Ist irgendetwas schief gegangen? Hat der Dämon dir wehgetan, Papa? Die Männer mit den Masken sind gekommen und haben mich geholt, ich hatte solche Angst. Ich konnte nicht einmal mehr Teddy einpacken. Wo Teddy jetzt wohl ist?
 

„Dich haben sie wegen Hochverrats dranbekommen? Hart. Und der Kleine war wohl dein Komplize, ja?“

„Nein. Sein einziges Verbrechen ist es, dass er mein Sohn ist.“

„Was? Ich dachte, Sippenhaft hätten sie schon vor Jahren abgeschafft.“

„Habe ich auch gedacht“, sagt Papa leise. „Sie haben nur gesagt, sie hätten alle zulässigen Verfahrensweisen ausgeschöpft. Offiziell ist er ein Beweisstück.“

„Beweisstück.“

„Nicht etwa ein Häftling, verstehst du? Mit Sippenhaft hat das hier schließlich nichts zu tun.“
 

Schon wieder träumt er und kann sich kein Stück bewegen. Er hat das Gefühl, die Stimmen reden über ihn.

Du kannst den Kleinen nicht da hineinziehen, Ibiki.“

Hier unten entscheide ich, was ich kann.“

Er ist Zivilist, geht noch nicht einmal auf die Akademie! Und er ist ein Kind, verdammt nochmal! Brauchst du nicht irgendeine Genehmigung oder so?“

Theoretisch schon.“

Theoretisch?“

„Ich habe ein paar von meinen Jungs damit beauftragt, alle Aufzeichnungen über den Kleinen zu vernichten. Geburtsurkunde, Krankenakten ... alles. Dein Sohn existiert nicht mehr.“

Schweigen.

Und für etwas, das nicht existiert, braucht man keine Genehmigung.“

Du kannst das nicht tun.“

„Sieh dir diese Narben an. Sieh sie dir an, du Ratte. Ich kann eine ganze Menge tun.“

Er ist fünf Jahre alt! Hast du kein Herz?“

Ein trockenes Lachen. „Ich muss mir wohl kaum moralische Vorträge von einem Akademielehrer anhören, der seinen zwölfjährigen Schüler ermorden wollte.“
 

Wenn die maskierten Männer scheppernd gegen die Gitterstäbe schlagen und eine Schüssel in jede Zelle schieben, ist Essenszeit. Es gibt Frühstück und Abendessen, und immer besteht es aus trüber, dünner Reissuppe. Bis zur Hälfte darf er die Schüssel leer essen, danach ist Papa an der Reihe. Er taucht den Zeigefinger hinein, leckt ihn sorgfältig ab, kaut so langsam wie möglich. Papa lässt ihm immer den Vortritt, aber mittlerweile ist die Schüssel zu mehr als der Hälfte leer, das kann er drehen und wenden, wie er will. Sein Magen knurrt. Auf den Mann mit dem blonden Zopf darf er nicht hoffen, der ist vor ein paar Tagen einfach nicht mehr aufgewacht. Sie haben ihn abgeholt.

„Ich hab noch Hunger, Papa.“

Papas grobe Finger zucken unkontrolliert, ballen sich zur Faust. Langsam holt er Luft und schließt die Augen.

„Dann iss auf.“

Er sieht ihn unsicher an, und Papa ringt sich ein Lächeln ab.

„Es ist in Ordnung. Du wächst ja noch, du musst essen. Denk nicht an mich.“

Aber er muss an Papa denken, als er sich über den Rest des Essens hermacht. An wen denn sonst? Die dünne Reissuppe füllt seinen Magen kaum, aber das schlechte Gewissen drückt.
 

Noch sechsmal schlafen, Papa. Ich habe mir meine Schultasche ausgesucht, sie ist so schön, wie bei den Großen. Und einen Turnbeutel und die kleinere Tasche mit Buntstiften und Anspitzer. Als du weg warst, habe ich alle Stifte angespitzt und auf den Tisch gelegt, um sie anzusehen. Sie sind so schön. Ich gehe auf die Akademie, Papa, wie die Großen. Und in einem Monat werde ich sechs, dann bin ich wirklich groß. Das bin ich doch? Mit sechs ist man groß.
 

Konoha richtet seine Verräter nicht hin. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Verliesen liegt bei elf Monaten und fünf Tagen. Wieso Personal für Hinrichtungen verschwenden?
 

Er hat den Rest der Frühstückssuppe an Papa weitergegeben, und er hat immer noch Hunger. Papa und er sind ein Häftling und ein Beweisstück, also bekommen sie nur eine Schüssel, Beweisstücke essen nicht. Und das, obwohl er noch wächst und Papa schon so dünn geworden ist. Aber er wird nie wieder um die ganze Schüssel bitten. Das schlechte Gewissen vom letzten Mal hat gereicht.

Unauffällig schielt er in die Nebenzelle. Im Halbdunkel hockt ein großer Mann mit breiten Schultern und dunklen Haaren und mehreren gebrochenen Fingern, die in eigenartige Richtungen abstehen. Mit der gesunden Hand greift der Mann nach seiner Reisschüssel. Er sitzt mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe gelehnt, die seine Zelle von ihrer trennen.

Der Junge fasst einen Entschluss und krabbelt zu dem Mann hinüber. Hastig sieht er nach, ob die Porzellanmasken noch in der Nähe sind, Körperteile oder Gegenstände nach draußen strecken ist streng verboten. Aber keine Maske lässt sich blicken. Ohne hinzusehen schiebt er die magere Hand durch das Gitter, findet die gebrochenen Finger des Mannes und greift danach.

„Ich habe Hunger.“

Quälend langsam sieht der Mann sich um. „Was machst du da, Kleiner?“, fragt er. Seine Lippen sind geschwollen und er spricht irgendeinen fremden Akzent mit schwerer Zunge. Anscheinend ist er nicht von hier, ein Spion von außerhalb vielleicht.

„Ich habe Hunger“, wiederholt er, leise genug, damit keine Wache es hört. „Gib mir deine Schüssel.“

Der Mann runzelt die Stirn. „Geh und friss deine Scheiße, wenn du Hunger hast!“, blafft er ihn an und fügt etwas Unverständliches hinzu. Seine Augen sind unfreundlich.

Er packt zu. Die gebrochenen Knochen fühlen sich eigentlich ganz normal an, aber der Mann brüllt auf vor Schmerzen und versucht, sich loszureißen. Der Junge klammert sich fest.

„Gib mir deine Schüssel.“

„Miststück! Verdammtes Miststück!“

Die Suppe schwappt über, als der Mann die Schüssel durch die Gitterstäbe schiebt. Hastig lässt der Junge die Finger los, greift nach seiner Beute und bringt sich außer Reichweite.

Papa beginnt, zu lachen. Er hat nicht mehr gelacht, seitdem sie hier drinnen sitzen. Er sieht wieder gesund und glücklich aus, fast wie früher, wenn man von den verfilzten Haaren absieht. Ein Lächeln breitet sich auf dem Gesicht des Jungen aus. Er hat für Essen gesorgt, und er hat Papa zum Lachen gebracht. Was will er mehr?

Dann sieht er den Mann, der draußen auf dem Gang steht und ihn durch das Gitter beobachtet. Es ist der große, breitschultrige, mit dem schwarzen Mantel und den langen Narben im Gesicht. Der Junge hat von den anderen Gefangenen Geschichten über ihn gehört, die schlimmer sind als gruslig. Manche reden zwei, drei Tage lang von nichts anderem, kauern in den Ecken ihrer Zellen und brabbeln vor sich hin, verstummen kurz, wenn die Maskenmänner vorbeikommen (oder beginnen zu schreien), und reden dann weiter wirres Zeug, und irgendwann schlafen sie ein und wachen nicht wieder auf. Am liebsten würde er die Schüssel von sich schleudern und den Unschuldigen spielen. Aber er hat Hunger.

„Wie heißt du nochmal, Junge?“, fragt der Mann.

Zieh auf keinen Fall Ibikis Aufmerksamkeit auf dich, Kleiner, hat der Zellennachbar mit dem blonden Zopf gesagt. Die ANBU mögen schlimm sein, aber Morino Ibiki ist der Schlimmste hier unten. Den Spezialisten nennen sie ihn. Absolut gnadenlos, keine Skrupel, verdammter Sadist. Das Wort kennst du nicht? Es heißt, dass es ihm Spaß macht, Menschen wehzutun. Ich wette, nicht einmal für eine halbe Portion wie dich wird er eine Ausnahme machen. Papa hat es spöttisch heruntergespielt, aber er konnte seine Angst nicht ganz verbergen. Ich kenne Ibiki, hat er nur gesagt.

Der Mann mit den Narben sieht ihn an und wartet auf eine Antwort, aber der Junge kann kaum antworten, weil seine Lippen so zittern.

„Mamoru.“

Es sieht aus, als würde der Mann lächeln, aber sicher ist das nicht festzustellen. Die Haut spannt sich an seinen Narben.

„Natürlich. Wie denn sonst?“

Mehr sagt er nicht, wendet sich ab und geht den Gang hinunter.

„Das ist nicht Ihr Ernst!“, faucht der Mann mit den gebrochenen Fingern. „Haben Sie gesehen, was dieses Rotzblag getan hat? Haben Sie ...“

Der Narbenmann holt aus und schlägt laut scheppernd gegen das Gitter. Papa zuckt zusammen.

„Du redest, wenn du gefragt wirst, Kiri-Nin!“

Der Mann mit den gebrochenen Fingern wird blass und senkt den Kopf.

„Und du“, sagt der Narbenmann und sieht sich noch einmal um. Der Junge weicht ein Stück zurück, aber offenbar ist er gar nicht gemeint.

„Dein Söhnchen ist ein Prachtkerl, Verräter. Du musst stolz auf ihn sein.“

Papa sieht in seine Schüssel, die in seinen Händen bebt, die Augen weit aufgerissen. Er sagt kein Wort.

„Es wäre eine Schande, wenn ihm etwas zustoßen würde. Nicht wahr?“

Der Mann mit den Narben dreht sich um und geht.
 

Bald habe ich Geburtstag, dann werde ich sechs. Wenn ich groß bin, werde ich ganz stark. Dann kommen wir beide hier raus, Papa, und wenn der Dämon kommt, um uns alle tot zu machen, mache ich ihn tot. Das soll er mal sehen. Er hat dir wehgetan, oder? Er wird ja sehen, was er davon hat.
 

Manchmal wacht er nachts auf und hört Geräusche, ein Schluchzen und Wimmern. Es sind böse Geister, denkt er. Und er schmiegt sich enger an Papas Brust, in der es bebt, und schläft wieder ein. Die Geister schluchzen weiter.
 

Mein Junge weiß Bescheid“, sagt die Stimme in seinem Traum.

Worüber?“

„Über den Dämon. Ich habe ihm alles erzählt, Ibiki.“

Die andere Stimme schweigt kurz, und als sie weiter spricht, klingt unterdrückte Wut darin mit.

Erstens ist dir hoffentlich klar, dass das ein Verbrechen ist.“

Na und? Was kann mir jetzt noch passieren?“

Und zweitens – wie konntest du so unglaublich dumm sein?“

Er hat das Recht, die Wahrheit zu erfahren.“

Du hast dem Kleinen damit jede Chance verbaut, ein normales Leben zu führen. Mit irgendwelchen wirren Geschichten über den Dämon und dessen Wirt können wir ihn nicht auf die Welt loslassen, schon gar nicht auf andere Kinder.“

Na und?“

Ein dumpfer Schlag und ein Zischen.

Warum reißt du den Jungen mit dir ins Unglück? Wenn du schlau gewesen wärst, hättest du ihn aus allen deinen Verbrechen herausgehalten, ihn im Unklaren gelassen. Ich wäre vielleicht bereit gewesen, ihm das Leben zu retten.“

„Um der alten Zeiten willen?“

Weil er unschuldig ist und ich finde, du hast schon genug Menschen das Leben ruiniert.“

Ein heiseres Lachen. „Du hättest dich um ihn kümmern wollen, Ibiki? Ihn womöglich adoptieren? Vielleicht deshalb, weil du selbst keine Kinder zeugen kannst, da du an entscheidenden Stellen zu kaputt bist, um ...“

Zwei, drei Schläge und ein langgezogener Schmerzenslaut.

Hüte deine Zunge, oder ich bekomme Lust, sie dir abzuschneiden. In feinen Scheiben.“

Ein gepresstes Wimmern.

Was passiert ist, ist passiert, und ich kann nichts mehr daran ändern. Der Junge weiß also Bescheid. Hoffentlich ist dir klar, dass du ihn damit umgebracht hast.“

„Ich ... sehe ihn lieber tot, als dass ... du ihn in die Finger bekommst.“

Ach, so ist das? Umso besser. Wie wäre es damit: Ich sorge dafür, dass er länger am Leben bleibt als du und du in dem Wissen stirbst, dass du ihn allein zurücklässt. Und sobald du tot bist, erlaube ich den Jungs, mit dem Kleinen ein bisschen Spaß zu haben. Keine Sorge, sie werden ihn töten. Aber erst danach.“
 

Die Nächte sind nur an den schmalen, vergitterten Fensterschlitzen unter der Decke zu erkennen. Wenn es regnet, läuft das Wasser innen an der Wand herunter, es ist eiskalt. Halb schläft er, halb hört er dem prasselnden Regen zu. Papas Finger streichen über seine Haare, betasten seinen Nacken, legen sich um seinen Hals. Sie drücken zu, zitternde Finger, immer fester um seinen Hals, und er überlegt, ob er sagen soll, dass er bald keine Luft mehr bekommt.

„Ich kann es nicht“, flüstert Papa, sein Griff erschlafft, seine Stimme klingt erstickt. „Verzeih mir. Ich kann es einfach nicht.“

Erleichtert holt der Junge Luft, kuschelt sich an Papa und schläft ein.
 

Manchmal, wenn er weinen muss, weil er sein Bett vermisst und das Plüschschaf Teddy und die Schaukel hinter dem Haus, weil er Angst vor den Maskenmännern hat, weil er vor Kälte, Hunger oder Krabbeltierchen nicht schlafen kann, nimmt Papa ihn in den Arm und singt. Es ist ein ziemlich trauriges Lied, und er singt leise, damit die Maskenmänner nichts hören. Der Junge legt den Kopf an seine Brust und hört Papas Herz schlagen, langsam, aber stark und gleichmäßig. Es beruhigt ihn, wesentlich besser zumindest als das Lied.
 

Das Söhnchen sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Wenn alles auch zugrunde geht, ich brauche dich.

Konoha ist blind, Konoha ist taub,

Konoha hat mir den Vater geraubt.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.
 

„Das ist gruslig, Papa“, flüstert er, und Papa lacht leise.

„So ist das Leben, mein Junge. Und jetzt schlaf.“

Mamorus Geschichte, Teil zwei – Wachsen die Finger nach, Papa?

Wenn ich groß bin, kommt der Dämon und macht uns alle tot. Stimmt doch, Papa.
 

Er hat einen Albtraum von dem Dämon, ein großes Biest, das ganz aus Feuer zu bestehen scheint. Er will kämpfen, er kann kämpfen. Als er die rechte Hand ausstreckt, hüllen die Flammen sie ein, und es tut weh. Es tut so weh.

Er schreit schon, bevor er wach ist. Papa hinter ihm rührt sich, irgendetwas bewegt sich auf der anderen Seite des Gitters, und es tut weh.

„Hören Sie auf! Sofort!“

Der Mann mit der Maske steht auf seiner rechten Hand und dreht den Fuß herum, als würde er eine Zigarette austreten. Einen Moment lang glaubt er, er wird ohnmächtig. Papa schlingt einen Arm um seine Brust und zerrt ihn zurück, und plötzlich ist die Hand frei, rutscht durch die Gitterstäbe zurück und hängt schwer am Ende seines Armes. Ein Abdruck vom Stiefel des Wächters hat sich in die Haut gegraben.

„Gegenstände oder Körperteile durch das Gitter nach draußen strecken ist verboten.“

„Er hat geschlafen, verdammt nochmal! Was für ein Mensch sind Sie? Er ist ein Kind!“

„Hier unten ist niemand Kind.“

Die weiße Porzellanfratze starrt ihn an, und er wimmert und versucht, seine rechte Hand mit der linken zu stützen. Er will gar nicht hinsehen, aber er muss. Die Haut ist abgeschürft, die Finger spürt er nicht mehr, zwei Nägel sind abgerissen. Es blutet.

„Pass beim nächsten Mal besser auf dein Balg auf, Verräter.“

Die Maske dreht sich um und geht.
 

Wenn ich groß bin, kommt der Dämon und macht uns alle tot. Erzähl von dem Dämon, Papa. Ich höre die Geschichten so gern, wenn es draußen dunkel ist und wir auf dem Sofa sitzen. Die Geschichte ist irgendwie so richtig. Ein großer, böser Dämon, aber wir besiegen ihn. Wir beide. Und dann sind wir sicher.
 

Die Suppe fließt gegen seine Zähne und aus seinen Mundwinkeln wieder heraus. Er will nicht essen, und selbst wenn er wollte, könnte er die Kiefer nicht öffnen. Sein Körper glüht.

„Nur ein wenig, mein Junge. Bitte. Du brauchst doch Kraft, um wieder gesund zu werden.“

Die verletzte Hand liegt auf seinem Bauch, in ein Stück von Papas Hemd geknotet, und pocht. Anfangs hatte er Angst, sie würde abfallen, als sie angeschwollen ist und der kleine Finger und der daneben erst rot und später schwarz geworden sind. Dann ist das Fieber gekommen, und jetzt hofft er manchmal, dass die Hand möglichst schnell abfällt. Er will nicht krank sein. Früher war es in Ordnung, krank zu sein, Papa hat sich freigenommen und ihn ins warme Bett gesteckt und Tee gekocht und vorgelesen. Er hatte plötzlich so viel Zeit. Aber hier, im Dunkeln, im Kalten, will er nicht krank sein.

„Du darfst nicht sterben, mein Junge. Iss etwas. Du hast seit zwei Tagen nichts gegessen.“

Hände stützen seinen Kopf, ein Finger streicht über seine verzerrten Lippen, er kann sie nicht bewegen. Er will nicht essen. Wenn er sowieso sterben muss, soll Papa doch essen, er ist ja schon so dünn.

„Geschieht dem verdammten Rotzgör recht“, erklingt die Stimme des Gefangenen aus der Nebenzelle, der mit den gebrochenen Fingern. „Da kann er mal sehen, wie das ist. Und hier unten erwartet ihn sowieso nur der Tod. Besser früher als später.“

Als er so etwas zum ersten Mal gesagt hat, ist Papa ihm an die Gurgel gegangen. Das hier ist nicht das erste Mal.

„Du darfst nicht sterben. Du darfst mich nicht allein lassen.“

Papas Stimme zittert, und dann fängt er an zu husten, wendet sich ab und presst sich die Hand auf den Mund. Soll doch Papa die Suppe essen, dann wird er wieder gesund. Er will fragen, Wenn ich tot bin, kommt der Dämon dann trotzdem und bringt alle anderen um? Aber er kann die Lippen nicht bewegen.
 

„Er ist nicht tot! Nehmt ihn mir nicht weg!“

Jemand hebt ihn hoch, am Rücken und an den Knien. Eine hysterische Stimme schreit, er glaubt, dass es Papa ist, auch wenn es nicht so klingt.

„Er ist alles, was ich noch habe! Ihr könnt ihn mir nicht wegnehmen!“

Er schaukelt durch die Luft, irgendjemand trägt ihn. Über sich erkennt er die Fratze einer Porzellanmaske, also kneift er die Augen zu. Seine Hand pocht vor Schmerzen, ihm ist übel. Als die Maskenmänner ihn das letzte Mal geholt haben, hat er versucht, wegzulaufen und sich im Schrank zu verstecken. Aber man kann ihnen nicht entkommen.

„Tod! Tod über euch alle! Der Hokage soll verrecken, und ihr alle mit ihm!“

Ein dumpfer Schlag und ein Stöhnen erklingen, und Papa sagt nichts mehr.
 

„In diesem Fall ist es mit einer kleinen Operation aber nicht getan, Ibiki-san!“

„Ich verlange nicht, dass du ihn gesund machst. Du sollst ihm nur kurz das Leben retten.“

„Beim nächsten Mal kommen Sie gefälligst früher. Mit Wundstarrkrampf ist nicht zu spaßen, und der Junge ist außerdem unterkühlt, extrem untergewichtig ...“

Mühsam öffnet er die Augen, aber es ist so hell, also schließt er sie wieder. Unter ihm ist etwas, das sich weich und trocken und sauber anfühlt. Vielleicht ist er gestorben und in den Himmel gekommen. Wenn ja, hofft er, dass Papa bald nachkommt.

„Eiko. Wenn du noch lange diskutierst und den Jungen verrecken lässt, kannst du eine Versetzung für die nächsten zehn Jahre vergessen.“

„Ist ja gut, Ibiki-san.“

Eine Hand legt sich auf seine Stirn, und eine wohlige Wärme breitet sich davon aus. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt er sich sicher.
 

Als er aufwacht, ist es wieder dunkel und kalt, und Papa hält ihn in den Armen.

„Du lebst!“

Er wird an das raue Hemd gedrückt und spürt Papas Herz schlagen, und er schlingt die Arme um ihn. Seine rechte Hand steckt in einem dicken Verband. Ihm ist ein wenig schlecht, sein Kopf fühlt sich an wie in Watte gepackt.

„Mein Junge lebt. Mein Junge lebt.“

Papa flüstert es unaufhörlich vor sich hin, als würde er versuchen, es zu verstehen. Er sieht noch blasser aus als vorher, sein eines Auge ist zugeschwollen, rot und schwarz, aber das zweite leuchtet.

„Mein Junge.“

Er betastet den Verband und fragt sich, wieso sie ihn operiert haben. Langsam streckt er die gesunde Hand aus und schiebt ein paar weißgraue Haarsträhnen von Papas verletztem Auge weg.

„Was haben sie mit dir gemacht?“

Er erhält keine Antwort, nur eine sehr lange Umarmung, und er spürt Papas Herz schlagen.
 

Als er den Verband abnimmt, muss er weinen. Seine Hand ist nicht mehr da. Da sind Daumen und Zeigefinger und ein kleiner Stummel, der ein Mittelfinger war, und ein halber Handrücken. Die Haut ist rosa oder weiß, übersät von kleinen und größeren Narben.

„Ist ja gut, mein Junge. Ist doch alles gut.“

Papa nimmt die hässliche Hand, als wäre sie das Schönste, was er je gesehen hat. Er küsst sie und streichelt sie, es fühlt sich seltsam an, ein bisschen, wie gekitzelt zu werden, aber unangenehmer. Er zieht die Hand weg und drückt sie an seine Brust.

„Sie ist empfindlich. Das ist immer so bei frischen Narben. Es wird sich legen.“

Er hofft, dass es so ist. „Wachsen die Finger nach, Papa?“

Papa öffnet den Mund, aber dann muss er husten.

„Oder bleiben sie weg, so wie dein Auge?“

„Die Hauptsache ist doch, dass du lebst.“

Das ist auch eine Antwort, und er muss wieder weinen.
 

Als Ninja braucht man alle Finger, damit man Siegel machen kann. Gibt es auch Ninja ohne Finger, Papa? Nächsten Dienstag werde ich eingeschult, dann gehe ich zur Akademie und lerne lesen und schreiben. Ein bisschen kann ich es schon, ich kann meinen Namen schreiben, und ich kann Ma und Mo und Ru und No lesen. Das ist gut, dafür, dass ich erst fünf bin. Du bist stolz auf mich, stimmt doch, Papa? Noch sechsmal schlafen. Auf die Akademie darf man auch ohne alle Finger.
 

Er wacht mitten in der Nacht auf, weil Papa husten muss. Das tut er oft in letzter Zeit, aber diesmal ist es schlimmer als sonst. Seine Brust bebt so sehr, dass er den Jungen beiseite schüttelt. Er wendet sich ab, auf einen Ellbogen aufgestützt, presst sich die Hand vor den Mund und hustet und hustet.

„Was ist denn los, Papa?“

Er bekommt keine Antwort, und das macht ihm Angst. Papa röchelt nach Luft, die Schultern hochgezogen, sein ganzer Körper zuckt. Er beugt sich vor und spuckt irgendetwas auf den Boden, zweimal, dreimal.

„Ruhe da hinten!“, brüllt irgendwer aus einem anderen Teil des Verlieses.

„Papa? Bitte sei still, Papa. Was hast du denn?“

Er kriecht etwas näher, aber Papa hebt die Hand und hält ihn zurück. Er atmet immer noch schwer.

„Bleib weg. Komm nicht näher.“

Auf dem Boden klebt etwas Dunkles, es wirkt rot, obwohl man es im schlechten Licht kaum erkennt.

„Fass das nicht an. Ich bin in Ordnung. Komm hierher.“

Papa zieht sich in die andere Ecke der Zelle zurück und streckt die Arme aus, und der Junge wirft sich hinein und wühlt sich in sein Hemd.

„Es geht dir gut, oder, Papa?“

„Es geht mir sehr gut. Schlaf jetzt.“

Er schließt die Augen, lauscht Papas Herzschlag und versucht, zu schlafen. Papa streichelt über seinen Kopf, seinen Rücken, seine Arme. Dann legt er die Hände um seinen Hals, und einige Sekunden lang verharrt er zitternd so, ohne zuzudrücken.

„Ich kann es nicht“, flüstert er kaum hörbar. „Ich kann es einfach nicht.“
 

Alles ist dieser Dämon schuld. Ich gehe und mache ihn tot. Mache ihn tot, tot, tot.
 

„Wie geht es deiner Hand, Mamoru?“, fragt der Mann mit den Narben von der anderen Seite des Gitters her. Es ist derselbe, der die Frau dazu gebracht hat, sich um die Hand zu kümmern. Warum erinnert er sich noch an den Namen? Niemand kümmert sich um das Balg eines Verräters. Und angeblich ist dieser Mann doch böse. Morino Ibiki. Manche von den anderen Gefangenen fangen an zu schreien, wenn jemand ihn nur erwähnt.

Atemlos schiebt der Junge die rechte Hand durch das Gitter. Es ist ihm peinlich, sie ist so hässlich. Sicher wird der Mann ihn auslachen, die Porzellanmasken tun das.

„Das sieht doch gut aus“, sagt der Mann mit dieser grollenden Stimme, aber diesmal lächelt er nicht. Er dreht sich um und geht.
 

Fällt dir eigentlich auf, dass du ihn nie beim Namen nennst?“, fragt die tiefere der beiden Stimmen mit einem verbitterten Unterton. „Immer nur mein kleiner Junge. Mein Junge. Mein, mein, mein! Denn das ist alles, worum es dir geht, was? Der Junge ist kein eigenständiger Mensch, er ist dein Besitz. Du liebst ihn, aber nur, weil er dich vergöttert.“

Er ist mein eigen Fleisch und Blut.“

Wie pathetisch. Und deswegen wirst du ihn lieber sterben lassen, als ihm ein Leben ohne dich zu ermöglichen.“

Du redest, als wäre alles gut für ihn, solange er lebt. Was für ein Leben erwartet ihn denn ohne mich? Willst du dich vielleicht um ihn kümmern? Da kann er lieber tot sein.“

„Also das geht in deinem kranken Ego vor, ja? Faszinierend. Deine gesamte Beziehung zu diesem Jungen ist faszinierend. Deine Geschwister, die Menschen, die du am meisten geliebt hast, sind gestorben. Du wolltest nie wieder jemanden lieben, und beinahe hättest du es geschafft. Dann wird diese junge Dame durch einen kleinen Unfall schwanger mit deinem Kind, und was tust du? Drängst sie dazu, das Kind zu bekommen. Nimmst den Kleinen zu dir, als sie stirbt. Benennst ihn nach deinem Bruder, der mit neun Jahren vor deinen Augen verreckt ist.“

Du kannst mich nicht verstehen, Ibiki.“

Das kommt darauf an, was du mit verstehen meinst. Ich kann nicht nachvollziehen, was du getan hast. Aber ich durchschaue es.“

Eine kurze Stille tritt ein, und er bemerkt, dass er seine Hände bewegen kann, wenn er sich anstrengt. Vielleicht kann er sogar die Augen öffnen?

Sieh da. Der Kleine kommt wieder zu sich.“

Was verlangst du von mir, Ibiki?“

Die Wahrheit. Nur die Wahrheit.“

Du hast zwei Zeugen für das, was ich getan habe.“

Ich will es aber aus deinem Mund hören. Wie lange hast du die Sache geplant? Wie viele Dienstvorschriften hast du verletzt? Und woher wusstest du überhaupt über Inhalt und Aufbewahrungsort dieser verdammten Schriftrolle Bescheid?“

Seine Augen bleiben geschlossen, aber er kann fast schon die Arme bewegen. Schritte kommen auf ihn zu.

Ibiki! Bleib weg von ihm!“

Sonst was?“

Du kannst ihm nichts tun! Er ist so klein!“

Weshalb ich mit grober Gewalt nicht weiterkomme, denn dabei könnte ich ihn versehentlich umbringen, was zumindest für den Moment nicht das ist, was ich will. Ein paar Genjutsus dürften bei ihm völlig genügen. Genjutsus sind meine Spezialität.“

Genügen? Wofür genügen?“

Etwas berührt ihn an der Stirn, und der Traum ist zu Ende.
 

Er erwacht verschwitzt und schwer atmend, und er hat wahnsinnige Angst, ohne zu wissen, wovor. Um ihn herum ist es kalt, dunkel und still, und er kuschelt sich an Papas Brust und versucht, sich zu beruhigen. Noch nie ging der Traum so lange, sonst ist er immer früher abgebrochen. Eigentlich kommt danach noch etwas, nachdem irgendetwas seine Stirn berührt hat, aber er weiß nicht, was. Wenn er sich zu erinnern versucht, bekommt er Angst.

Seine Atmung beruhigt sich langsam, er lauscht in die Stille, die Wange an Papas Hemd. Etwas kommt ihm komisch vor, aber er weiß nicht, was. Die Angst in seinem Magen will einfach nicht verschwinden. Er streichelt über den groben Stoff des Hemdes, hin und her, und dann fällt ihm auf, dass Papas Herz nicht mehr schlägt.
 

Jetzt ist es bald so weit, Papa. Ich darf auf die Akademie. Nach der Einschulung kannst du dir freinehmen und etwas kochen, ich kann dir helfen. Oder wir gehen essen, weil es ein besonderer Tag ist. Wir gehen in ein Restaurant, ich möchte Limonade trinken, Papa. Und Eis zum Nachtisch. Und danach möchte ich mit dir zu dem alten Baum, von dem du erzählt hast. Du kannst mir klettern beibringen. Das kann ich doch auch ohne Finger, oder, Papa? Ich werde bald sechs, und dann bin ich ein großer Junge.
 

Er presst den Rücken gegen die steinerne Wand, oder vielleicht ist es die Wand, die sich gegen ihn presst, im Grunde ist es ja egal. Sein Hemd ist dünn, er spürt, wie die Wärme aus seinem Rücken gesaugt wird. Papas weiße Haare liegen schmutzig auf dem Boden des Verlieses. Er will sie aufheben, aber er beherrscht sich. Papa soll aufstehen und seine Haare selbst aufheben, anstatt so lange auf dem Boden zu liegen.

„Hat es ihn erwischt?“

Sie spähen durch die Gitterstäbe herein, steife Masken aus Porzellan vor den Gesichtern, dunkle Löcher als Augen.

„Oder ist das irgendein blöder Trick?“

„Glaube ich nicht. Er hat seit einer Ewigkeit gehustet. Tuberkulose, wette ich.“

„Dann lass ihn uns rausholen, was?“

„Können nicht noch mehr Krankheitserreger hier unten brauchen.“

Das Schloss klirrt, die vergitterte Tür schabt über den Boden wie Fingernägel über eine Tafel. Sie dürfen Papa nicht mitnehmen.
 

Wach auf, Papa. Du hast gesagt, es wird alles gut. Du machst den Dämon tot, und dann gehen wir irgendwo hin, wo es schön ist. Warum hast du den Dämon nicht tot gemacht? Du hast gelogen. Du bist ein Lügner.

Ich habe dich trotzdem lieb, Papa.
 

Seine Nase will nicht aufhören, zu bluten. Er presst die Hand davor, die verletzte, nicht die gesunde. Es bringt nichts, es blutet und blutet.

Jemand hockt sich hinter das Gitter, nur einen Schritt von ihm entfernt. Es ist der Mann mit den Narben. Vielleicht sollte er Angst haben, aber er fühlt nichts. In ihm ist ein großes Loch.

„Na, Mamoru?“

Er drückt die Hand auf seine Nase.

„Die Jungs haben mir berichtet, du wärst auf sie losgegangen. Du wolltest nicht, dass sie deinen Vater mitnehmen.“

Einer der Männer hat ihn gegen die Wand geschleudert und zweimal nachgetreten. Seine Hüfte tut weh, wo er getroffen hat.

„Dein Vater ist tot, Mamoru.“

Eigentlich möchte er weinen, aber er kann nicht. Der Mann mit den Narben verzieht keine Miene.

„Du bist jetzt allein. Du wirst nicht lange überleben ohne jemanden, der dich nachts warmhält und mit dem du reden kannst. Mit deinem Vater hast du fast zweieinhalb Jahre durchgehalten. Allein gebe ich dir höchstens zehn Tage.“

Nächsten Dienstag wird er eingeschult.

„Ich habe beobachtet, wie du damals diesen Kiri-Nin um sein Essen gebracht hast.“

Der mit den gebrochenen Fingern.

„Du weißt, was du willst. Und du hast keine Skrupel, die nötige Gewalt einzusetzen, um deine Ziele zu erreichen.“

Er hatte Hunger.

„Jemanden wie dich“, sagt der Mann, „kann ich immer brauchen.“

„Wofür brauchen?“, fragt der Junge leise.

Jetzt lächelt der Mann, die Narben verzerren es zu einer Grimasse. „Was glaubst du, was mein Beruf ist?“

„Die anderen sagen, Sie sind der Schlimmste hier unten. Der Spezialist. Sie haben keine Skrupel.“

„Genau wie du also.“

Der Junge starrt ihn an.

„Das hier ist deine einzige Chance. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen. Du wirst ein Teil meiner Abteilung werden und alles tun, was ich sage. Wenn du parierst, wird es dir gut gehen. Konoha wird dich schlimmstenfalls verachten, bestenfalls als notwendiges Übel fürchten – genau wie mich. Wenn du nicht mitkommen willst, lasse ich dich hier, und du wirst als namenloser Sohn irgendeines Verräters sterben, bevor der Monat um ist. Du wirst kein Grab bekommen.“

„Wenn ich mitgehe“, platzt es aus ihm heraus, „komme ich dann auf die Akademie?“

Der Mann mit den Narben hebt eine Augenbraue. „Wenn du dich gut benimmst, werde ich es mir überlegen.“

„Dann mache ich es.“

Eine kurze Stille tritt ein.

„Das ging schnell“, bemerkt der Mann, richtet sich auf und zieht einen Schlüssel aus seinem Mantel. Er schließt die Tür im Gitter auf und öffnet sie. Es ist das erste Mal, dass diese Tür geöffnet wird und er das Gefühl hat, dahinter liegt etwas wie Freiheit. Zweieinhalb Jahre hat er durchgehalten, hat der Mann gesagt. Wenn er vorher fast sechs war und zweieinhalb Jahre vergangen sind ... Er will es an den Fingern abzählen, aber er hat nicht genug Finger. Jedenfalls muss er mittlerweile ein großer Junge sein.

„Kannst du laufen?“

Mamoru sagt: „Ja.“

Team 15, Teil eins – Guten Tag, ich bin die Praktikantin!

Wie üblich sitzt Shintaro über den Akten eines Verbrechers, als Ibiki gegen den Türrahmen klopft.

„Shintaro-sensei? Ich brauche Sie kurz.“

„Wofür?“, fragt Shintaro und steht auf.

„Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.“

„Wen?“

Ibiki winkt ihm, ihm zu folgen, und führt ihn ins zweite Untergeschoss, in den Trakt direkt oberhalb der Verliese. Der Raum sieht aus wie eine umfunktionierte Abstellkammer, auf einem Klapptisch stehen die Reste eines Mittagessens aus der Kantine. In der Ecke liegt eine graugrüne Decke auf einem alten Feldbett, und darunter hat sich ein Junge eingerollt. Abgemagert bis auf die Knochen, dunkle Schatten um die geschlossenen Augen, eingetrocknetes Blut an der Nase. Ob er sechs oder eher zwölf Jahre alt ist, kann Shintaro beim besten Willen nicht einschätzen.

„Das ist Mamoru. Wir lassen ihn besser noch ein wenig schlafen.“

„Sollte ich diesen Jungen kennen?“, fragt Shintaro.

Ibiki sieht ihn von der Seite her an. „Nein. Aber Sie kannten seinen Vater.“

Verständnislos schüttelt Shintaro den Kopf.

„Mizuki.“

Shintaro zuckt zusammen. „Seinen ... Dieser Junge ist ...“

Er betrachtet das magere Geschöpf und versucht, irgendeine Verbindung zu dem Jungen in seiner Erinnerung herzustellen, aber er findet keine.

„Mizuki war verheiratet?“

„Nein, aber er war eine Zeit lang ... viel unterwegs in der Damenwelt, um es galant zu formulieren. Es kam, wie es kommen musste, irgendwann war eine junge Frau schwanger mit seinem Kind. Jounin, genau wie er erst Anfang zwanzig, sehr ehrgeizig. Drei Monate nach der Geburt des Kleinen hat sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten und eine Mission übernommen, auf der sie tödlich verletzt wurde. Mizuki hat sich einen ruhigen Job an der Akademie besorgt und den Jungen allein aufgezogen.“

„Um aller Hokage Willen. Was hat er noch alles getrieben, während ich nicht da war?“

Ibiki lächelt grimmig. „Eine gute Frage, Sensei.“

Shintaro starrt den schlafenden Jungen an. „Was willst du von mir, Ibiki? Ich bin niemand, der gut mit Kindern klarkommt.“

„Mamoru hat die letzten zweieinhalb Jahre in den Verliesen verbracht. Er braucht jemanden, der ihn wieder an das normale Leben gewöhnt.“

„Und das soll ich sein?“

„Sie waren mein erster Gedanke. Ich habe zu viel zu tun, Izumo und Kotetsu bringen ihm garantiert Schweinkram bei, und sonst kann ich niemanden entbehren. Sie haben doch schon öfter gesagt, dass Sie mit dem bisschen Papierkram, den ich Sie erledigen lasse, nicht ausgelastet sind.“

Shintaro atmet tief durch. „Warum war der Junge in den Verliesen, Ibiki? Er hat nichts verbrochen, oder?“

„Nein, das hatte andere Gründe. Aber das fällt leider unter eine Geheimhaltungsstufe, die Ihre Kompetenz übersteigt.“

„Na schön. Kannst du mir wenigstens sagen, wieso du ihn gerade jetzt herauf geholt hast? Doch nicht nur, um mich zu beschäftigen.“

„Weil Mizuki vorige Nacht gestorben ist und Mamoru ohne ihn nicht mehr lange überlebt hätte. Außerdem ...“ Ibiki hält inne. „Wollen Sie sich lieber hinsetzen, Sensei?“

„Du sagst es so einfach“, murmelt Shintaro. „Letzte Nacht ist er also gestorben?“

„Der Mizuki, den Sie und ich kannten, ist schon seit Jahren tot.“

Shintaro schließt einen Moment lang die Augen. Tot. Es wirkt grausam, aber er ist beinahe erleichtert. Jetzt weiß er wenigstens, woran er ist.

„Also gut. Ich werde versuchen, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen, aber garantieren kann ich nichts. Vielleicht wird er einfach schreiend davonlaufen, wenn er mich sieht.“

„Er hat panische Angst vor jedem, der eine ANBU-Maske trägt“, sagt Ibiki achselzuckend. „Aber alles andere wird ihm egal sein. Leisten Sie ihm Gesellschaft und sehen Sie, dass Sie ihn ein wenig aufpäppeln. Oh, bevor ich es vergesse, Sensei ... Tonbo hat Ihnen erzählt, was Mizuki zu tun versucht hat, nicht wahr?“

„Er wollte den Jungen töten.“

„Den Jungen, über dessen Geheimnis noch immer niemand reden darf.“ Ibiki lächelt grimmig. „Aber Mizuki hat darüber geredet. Er hat Mamoru von dem Dämon erzählt und ihn dazu erzogen, ihn zu hassen.“

Shintaro sieht den schlafenden Jungen an. Er weiß, dass man von Äußerlichkeiten nicht darauf schließen darf, ob jemand ein Fanatiker ist, aber der Gedanke schockiert ihn trotzdem.

„Wenn Sie können, reden Sie ihm das aus. Mamoru hat keine Chance, in Konoha ein normales Leben zu führen, solange er Panik schiebt wegen diesem verdammten Dämon.“

„Wie soll ich es ihm ausreden, wenn ich nicht darüber sprechen darf?“

„Sie müssen ja nicht damit anfangen. Ich habe Mamoru schon gesagt, dass es verboten ist, über den Dämon zu sprechen. Falls er es doch tut, fahren Sie ihm nicht sofort über den Mund. Versuchen Sie, mit ihm zu reden.“

Shintaro schluckt.

„Und dann fahren Sie ihm über den Mund und erinnern Sie ihn daran, dass Ibiki sehr, sehr böse wird, wenn er hört, dass Mamoru Geschichten über den Dämon erzählt.“

„In Ordnung.“
 

*
 

„Hab dich!“

Mikiko kreischt auf, als sie ohne Vorwarnung von hinten gepackt wird. Ihre Hand rutscht aus der ihrer Mutter, und sie wird durch die Luft gewirbelt.

„Nene! Lass mich runter!“

Sie versucht, wütend zu klingen, aber sie muss zu sehr lachen. Nene grinst und setzt sie wieder ab.

„Musst du mich immer so erschrecken, Nene?“, fragt Mama und drückt sich die Hand aufs Herz. „Ich hatte gehofft, mit sechzehn wärst du langsam zu alt für solche Kindereien.“

„Dafür werde ich nie zu alt“, antwortet Nene sorglos. Mikiko klammert sich an ihre Hand und hüpft auf und ab.

„Toll, dass du schon da bist! Ich dachte, du würdest erst in ein paar Tagen zurückkommen. Noch fünfmal schlafen, hat Mama gesagt.“

„Ja, wir waren schneller mit der Mission fertig als gedacht.“ Nene seufzt. „Sie haben uns in die Nähe von Suna geschickt. Tatsumi und ich haben uns an dem Essen dort den Magen verdorben, und dann ist auch noch Naoko bei einer Klettertour abgerutscht und hat sich das Bein gebrochen.“

„Gebrochen?“, fragt Mama erschrocken. „Geht es ihr gut?“

„Ja, klar. Aber wir haben mit ihr im Schlepptau fast eine Woche für den Rückweg gebraucht.“

„Wenn Naoko ausfällt, heißt das, es wird wieder nichts mit eurer Chuunin-Prüfung dieses Jahr?“

„Oh, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Nene zuckt die Achseln. „Nein, anscheinend nicht.“

Mama seufzt tief. „In deinem Alter haben Shuichi und Shinichi schon zum dritten Mal teilgenommen.“

„Jetzt fang nicht wieder so an, Mama. Ich kriege das schon hin.“

„Das bezweifle ich nicht, aber wann gedenkst du, es hinzukriegen?“

„Bald! Und bis dahin kann ich mir irgendeine andere Aufgabe besorgen. Du weißt doch, Shiho hat angeboten, ich könnte mal bei ihr reinschauen.“

„Aber Shiho arbeitet bei ...“

„Ich habe an der Akademie was gebastelt, Nene!“, plappert Mikiko dazwischen. „Es ist für dich!“

„Na, das muss ich mir doch ansehen. Wie gefällt es dir mittlerweile an der Akademie?“

„Gut! Ich habe mit Koza ein Bild gemalt, das hat Iruka-sensei aufgehängt.“

„Wie schön, dass du immer noch mit so einer Begeisterung zur Schule gehst.“

„Immer noch? Ich bin ja erst ein halbes Jahr da!“

„Ich hatte nach zwei Wochen schon keine Lust mehr.“

„Nene“, sagt Mama vorwurfsvoll. „Wenn du keinen Ehrgeiz als Kunoichi an den Tag legst, ist das deine Sache, aber sei wenigstens deiner Schwester nicht so ein schlechtes Vorbild.“

„Nene gibt ihr Bestes, um ein abschreckendes Beispiel für mich zu sein“, erklärt Mikiko würdevoll.

„Ganz genau.“

Mama lacht. „Das erklärt alles. Wie auch immer. Gehen wir schnell nach Hause, Papa hat das Essen sicher schon fertig.“

„Gehen wir, Nene!“ Mikiko zerrt an ihrer Hand. „Papa hat Fisch gemacht!“
 

*
 

Ein paar Genjutsus dürften bei ihm völlig genügen. Genjutsus sind meine Spezialität.“

Genügen? Wofür genügen?“

Etwas berührt ihn an der Stirn, und Mamoru schreckt aus seinem Traum auf. Um ihn herum ist alles warm und weich und hell, seine Augen haben sich noch kaum an das Licht gewöhnt. Unten war es dunkel, aber Ibiki-san hat gesagt, wenn er sich gut benimmt, muss er nie wieder dorthin zurück. Und er glaubt ihm, denn Lügen kann Ibiki-san nicht ausstehen. Deswegen ist das die erste Regel: Keine Lügen. Nachdem Mamoru gebadet und etwas gegessen hat und beim Arzt war, hat Ibiki-san sich mit ihm hingesetzt und Regeln aufgestellt. Regeln sind wichtig, Mamoru hat sie alle auswendig gelernt, alle fünf. Danach war er so müde, dass er erst einmal Mittagsschlaf machen musste.

„Mamoru?“

Jemand sagt seinen Namen, er kennt die Stimme nicht. Mamoru setzt sich auf und sieht sich in dem Zimmer um. Auf dem einzigen Stuhl neben dem kleinen Tisch sitzt ein Mann in einer grauen Uniform. Das Konoha-Abzeichen glänzt auf seinem Stirnband.

„Wer sind Sie?“, fragt Mamoru. Ibiki-san hat gesagt, er würde jemanden schicken, der sich um Mamoru kümmern kann, aber man muss vorsichtig sein, wem man vertraut.

Der Mann zögert kurz. „Ich heiße Morino Shintaro.“

„Sind Sie mit Ibiki-san verwandt?“

„Nein, ich bin nur ... eine Art Freund.“ Shintaro räuspert sich. „Ibiki hat mich gebeten, ein wenig auf dich zu achten.“

Also ist er es, denkt Mamoru. Er trägt keine Porzellanmaske, also kann er so schlimm nicht sein. Sein Gesicht ist von einem Tuch verdeckt, das er seitlich und zwischen den Augen an dem Stirnband befestigt hat. Es hängt bis über sein Kinn herab, nur die Augen sehen darüber hinweg, schmal und durchdringend, etwas zwischen braun und gelb. Die Augen faszinieren Mamoru, wenn auch vielleicht nur, weil er sonst nichts sieht als Tuch. Aus irgendeinem Grund hat der Mann nur ein Bein, und das ist Mamoru auf Anhieb sympathisch. Er ist der erste unvollständige Mensch, den er trifft, seitdem er selbst nicht mehr so ganz komplett ist.

„Wo ist Ibiki-san denn?“

„Er hat zu arbeiten“, erklärt Shintaro.

„Ach so.“

Mamoru überlegt einen Moment lang und beobachtet den Mann weiter. Er scheint nervös zu sein, was Mamoru sich nicht erklären kann. Er möchte irgendetwas fragen.

„Können Sie lesen?“

„Ob ich was?“, fragt Shintaro verblüfft.

„Ob Sie lesen können. Das kann ich nämlich nicht.“

„Ich ... ja, natürlich kann ich das.“

„Bringen Sie es mir bei?“, fragt Mamoru eifrig.

„Ich kann es versuchen“, sagt Shintaro unsicher, und Mamoru entscheidet, dass er wirklich in Ordnung ist.
 

*
 

„Ich will, dass mal was passiert“, grummelt Kotetsu und verschränkt die Arme auf dem Schreibtisch.

„Genieße die Langeweile, solange du noch kannst“, erwidert Izumo, der geistesabwesend Schnörkel und Spiralen auf einen Notizblock malt. „In ein paar Wochen wird Tsunade-sama uns sicher wieder abberufen, und dann haben wir keine ruhige Minute mehr. Dann doch lieber im ANBU-Hauptsitz ein bisschen Wache schieben.“

„Ich schleppe lieber Akten für Tsunade, als mich hier zu langweilen. Da bleibt man wenigstens in Bewegung und kann darauf hoffen, dass Shizune mal der Ausschnitt verrutscht.“

Izumo sieht ihn schief an. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Warum nicht?“

„Lass so etwas nicht Genma hören, oder du steckst schneller voller Nadeln, als du Konoha sagen kannst.“

„Echt?“ Interessiert stützt Kotetsu das Kinn in die Handfläche. „Läuft da was zwischen den beiden?“

„Das weiß keiner so genau, und sie selbst am allerwenigsten. Aber Genma kann recht aufbrausend sein, wenn es um Shizune geht, also würde ich mich an deiner Stelle bedeckt halten.“

„Also gut. Hast du noch mehr Klatsch und Tratsch auf Lager?“

„Lass mich überlegen ...“ Izumo betrachtet seine gemalten Schnörkel. „Nein. Spielen wir Schiffe versenken?“

„Keine Lust.“ Kotetsu reißt die Augen auf. „Schau mal! Kundschaft.“

Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen drückt die gläserne Eingangstür auf und steuert geradewegs auf die beiden hinter ihrem Schreibtisch zu.

„Guten Tag“, sagt Izumo etwas unschlüssig. „Können wir dir helfen?“

„Oh, das hoffe ich! Ich bin Shimokawa Nene.“

Kotetsu und Izumo tauschen einen Blick.

„Die Praktikantin“, fügt Nene hinzu und lächelt strahlend.

„Wir haben eine Praktikantin?“, fragt Kotetsu verwirrt.

„Ab heute schon!“

Er mustert sie und stellt fest, dass sie eine Halskette und mehrere Armbänder aus bunten Plastikperlen trägt, offenbar selbst aufgefädelt. Sie passen eher zu einer Sechsjährigen als zu einer jungen Frau.

„Hast du das irgendwie schriftlich?“, fragt Izumo.

„Oh, klar! Moment.“ Sie greift in ihre Tasche, fischt eine Mappe heraus und schiebt sie ihm über den Tisch. „Bei den Codeknackern.“

„Verstehe“, sagt Izumo und überfliegt die paar Blätter Papier in der Mappe.

„Ich kenne Shiho“, erklärt Nene. „Also, ganz entfernt. Sie ist Stammkundin bei uns, das heißt, bei meinen Eltern. Sie arbeitet auch bei den Codeknackern. Sie hat mir den Job besorgt, weil ich ihr gesagt habe ...“

„Damit scheint jedenfalls alles zu stimmen.“ Izumo zieht ein Kärtchen aus einer Schublade des Schreibtisches, trägt Nenes Namen ein und setzt seine Unterschrift darunter. „Das ist dein Besucherausweis, den du gut sichtbar an deinen Kleidern befestigen musst. Wenn du dich auf Verlangen nicht ausweisen kannst, landest du erst einmal in einer Untersuchungszelle, also pass gut darauf auf.“

„Okay. Danke!“

„Der Ausweis gilt nur für heute, geh also am Besten gleich in die Dechiffrierabteilung und lass dir einen anderen geben, der dauerhaft ist.“

„Wo ist denn das?“

Izumo lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und deutet auf den Aufzug. „Im zweiten Stock. Wenn du aussteigst, siehst du gleich eine blaue Tür. Dahinter kann dir jemand weiterhelfen.“

„Alles klar!“, sagt Nene und steckt die Karte ein. „Das finde ich. Danke!“

„Vergiss die Mappe nicht.“

„Oh, natürlich.“ Sie stopft die Mappe wieder in ihre Tasche und lächelt. „Bis dann!“

Sie geht zum Aufzug, die Türen öffnen sich, und sie tritt hindurch.

„Hör mal“, sagt Kotetsu. „Das ist ja wohl das Blödeste, was ich je gehört habe. Wir sind der verdammte Geheimdienst! Seit wann haben wir Praktikantinnen?“

Izumo zuckt die Achseln. „Ich denke nicht, dass die Codeknacker sie in irgendwelche brisanten Geheimnisse einweihen werden. Und wenn sie da anfangen möchte, warum nicht? Irgendwie müssen die ja an ihren Nachwuchs kommen.“

„Ich fand dieses Mädchen jedenfalls komisch.“

„Hier laufen viele komische Gestalten herum.“

„Angefangen bei Ibiki.“

„Sag das lieber nicht zu laut, der hat seine Ohren überall. Übrigens ...“

„Was?“, fragt Kotetsu und jagt mit der hohlen Hand eine Fliege.

„Ich habe dieses Mädchen in den zweiten Stock geschickt, oder?“

„Klar. Zu den Codeknackern.“

Izumo mustert die Anzeige des Aufzugs. „Aber wie es aussieht, fährt sie ins zweite Untergeschoss.“

„Im Ernst?“ Kotetsu bricht in Gelächter aus. „Na ja. In dem Fall landet sie nicht bei den Codeknackern.“

Izumo schmunzelt. „Nein. Aber sei es drum. Ibiki wird sie schnell darüber aufklären, dass sie sich verlaufen hat.“

„Hoffentlich ist sie bis dahin nicht gezeichnet fürs Leben.“

„Was auch immer passiert, es war nicht unsere Schuld.“
 

*
 

Shintaro hat Mamoru nichts von seiner Verbindung zu Mizuki erzählt, er hat ihm nichts über sich selbst erzählt – eigentlich hat er in den vergangenen fünf Tagen noch nicht den richtigen Moment gefunden, mit dem Jungen über irgendetwas Persönliches zu sprechen. Stattdessen hat er ihm gezeigt, wie man sich in dem großen Gebäude orientiert, insbesondere, wo sich die Kantine und das Zimmer befinden, das Ibiki ihm fürs Erste zugewiesen hat. Außerdem hat er begonnen, ihm lesen beizubringen. Mamoru saugt Wissen auf wie ein Schwamm, vielleicht nicht ungewöhnlich für sein Alter – es irritiert Shintaro nur immer wieder, weil dieses Alter sich bei seiner körperlichen Verfassung so schwer einschätzen lässt. Jedenfalls scheinen essen, schlafen und lernen ihm völlig zu genügen. Glaubt Shintaro.

„Sie sind Jounin, oder?“, fragt Mamoru am Morgen des sechsten Tages, nachdem sie in der Kantine das Frühstück beendet haben. Der Junge isst wie ein Vögelchen und lässt konsequent die Hälfte des Essens auf dem Teller, unabhängig davon, wie groß die anfängliche Portion war. Ibiki hat schon düster bemerkt, dass er auf diese Weise niemals an Gewicht zulegen wird.

„Ja“, antwortet Shintaro. „Woher weißt du das?“

„Ich habe Ibiki-san gefragt.“ Mamoru zupft seine Handschuhe zurecht, die er ständig trägt, der rechte ist ein ausgestopfter Fäustling. Shintaro weiß, dass die rechte Hand verstümmelt ist, hat aber noch nicht gefragt, wie das passiert ist. Sicher hat es etwas mit den zweieinhalb Jahren im Verlies zu tun, und vielleicht ist es besser, keine Details zu kennen. Es tröstet Shintaro ein wenig, dass Mamoru Ibiki ganz offensichtlich vergöttert. Anscheinend war also nicht er für diese Verletzung verantwortlich.

„Ibiki-san hat ja sehr viel zu tun, mit seiner Arbeit“, erklärt Mamoru. „Deswegen hat er keine Zeit, mir beizubringen, wie man ein Shinobi ist. Und deswegen hat er gesagt, ich sollte Sie fragen.“

„Mich?“

„Ja. Sie sind doch Jounin. Sie müssen solche Dinge wissen ... wie man ein Shinobi ist.“

„Ich weiß nicht genau, was du mit solche Dinge meinst. Und solltest du nicht zuerst einmal auf die Akademie gehen?“

„Ibiki-san sagt, das geht nicht so schnell, weil es gerade mitten im Schuljahr ist. Und er will mich noch eine Weile im Auge behalten, ob ich mich gut benehme, sagt er. Das ist okay. Aber er hat gesagt, wenn ich möchte, kann ich Sie fragen, ob Sie mir ein paar Sachen beibringen.“

„Ein paar Sachen.“ Shintaro runzelt die Stirn. „Ich kann es versuchen, aber ich kann dir nichts versprechen. Alle Schüler, die ich bisher hatte, waren schon Genin.“

Das klingt, als hätte er viele Schüler gehabt, dabei waren es nur drei. Und jetzt hat er keine mehr.

„Aber Sie versuchen es?“, fragt Mamoru aufgeregt.

„Ja, wenn du willst. Lass uns dafür an einen Ort gehen, an dem wir ungestört sind.“

Sie stehen auf und verlassen den Speisesaal. Einige der frühstückenden Chuunin und Jounin sehen ihnen verblüfft nach, die vergangenen Tage haben noch nicht gereicht, um sich an das seltsame Paar zu gewöhnen. Um sich von den Blicken abzulenken, konzentriert Shintaro sich auf Mamorus Chakra. Er erinnert sich noch dunkel daran, wie froh er war, als sich herausgestellt hat, dass Tonbo für das Feuer veranlagt ist. Was, wenn Mamoru das ebenfalls wäre? Zu seiner Verwirrung spürt er bei dem Jungen gar nichts, nur ein so gehetztes und unstetes Flackern, dass er sich nicht sicher ist, ob er es sich nur einbildet.

„Entschuldige ... Mamoru?“

„Ja?“

Shintaro weiß nicht recht, wie er die Frage formulieren soll. „Ich glaube, Ibiki hat gesagt, deine Mutter wäre Jounin gewesen. Stimmt das?“

„Ja. Aber sie ist gestorben, als ich ganz klein war. Ich erinnere mich nicht an sie.“

Noch nie ist Shintaro ein Kind mit zwei Shinobi als Eltern begegnet, das einen so eigenartigen Chakrafluss hatte.

„Warum fragen Sie?“

„Ach, einfach so“, sagt Shintaro hastig, und Mamoru geht nicht weiter darauf ein. Sie betreten das Zimmer, und Mamoru schließt die Tür. Seine Augen leuchten, als er sich zu Shintaro umdreht.

„Was bringen Sie mir bei?“

„Erst einmal müssen wir etwas überlegen“, sagt Shintaro und setzt sich schwerfällig auf den Stuhl. „Ziehst du bitte die Handschuhe aus?“

Mamoru zögert kurz, tut es aber. Er tut immer, was man ihm sagt, das muss wohl eine von Ibikis Regeln sein. Shintaro betrachtet die vernarbte rechte Hand. Für Tiger fehlt der rechte Mittelfinger.

„Wird es klappen?“, fragt Mamoru ängstlich, der Shintaros Blick folgt. „Auch ohne Finger?“

„Wenn du es besser kannst, wird es vielleicht möglich sein, das Chakra auch ohne völlig korrekte Siegel einzusetzen. Aber zumindest für den Anfang musst du dich auf das beschränken, was du kannst. Versuch es mit Hund. Die rechte Hand zur Faust, Handrücken nach oben, und die linke flach darauf.“

Er macht es vor, so gut er kann, und Mamoru ahmt es nach. Es braucht einige Korrekturen von Shintaro, bis er zufrieden ist.

„Und jetzt?“

„Sei bitte kurz still. Ich muss mich konzentrieren.“

Eigentlich braucht Shintaro die Stille nicht, aber er will nicht begreifen, was er spürt. Das Flackern von Mamorus Chakra beruhigt sich nicht im Geringsten. Es bleibt schrill, ungleichmäßig, kraftlos. Shintaro hat so etwas noch nie erlebt.

„Wie alt bist du nochmal?“, fragt er langsam.

„Sechs und zweieinhalb Jahre“, antwortet Mamoru überrascht.

„Also achteinhalb. Verstehst du, Mamoru ... bei den meisten Kindern ist die Chakrakontrolle in diesem Alter schon viel ausgereifter.“

„Aber die meisten Kinder haben auch schon länger geübt als ich, oder? Da unten konnte ich das ja nicht.“

Die Erkenntnis trifft Shintaro wie ein Schlag, und er muss kurz die Augen schließen. „Du warst in den Verliesen.“

„Ja. Aber Ibiki-san hat gesagt, wenn ich mich benehme, muss ich nicht mehr zurück!“

„Davon war ja auch nicht die Rede.“ Shintaro seufzt. „Die Verliese sind speziell versiegelt, sodass man daran gehindert wird, Chakra anzuwenden. Sobald man den versiegelten Bereich wieder verlässt, erholt das Chakra sich – normalerweise. Aber du hast eine sehr lange Zeit am Stück dort verbracht, und das in einem Alter, in dem die Chakrakapazität sich rasch entwickelt. Oder entwickeln sollte.“

„Was heißt das?“, fragt Mamoru, der versucht, seine Ungeduld nicht zu zeigen.

„Ich fürchte, es heißt, dass du nicht in der Lage bist, dein Chakra zu kontrollieren. Vermutlich ist auch deine Produktion an sich geschädigt. Wir müssen sehen, ob sich das im Laufe der Zeit erholt, aber ich würde nicht darauf wetten.“

Mamoru starrt ihn an, und seine Unterlippe beginnt, zu zittern. „Wenn ich mich gut benehme, komme ich auf die Akademie. Da bringen sie mir bestimmt bei, wie das geht mit dem Chakra.“

„Mamoru.“ Shintaro weiß nicht, wie er es behutsam formulieren soll. „Die Akademie ist für angehende Shinobi. Wenn du keinerlei Chakrakontrolle hast, kommst du nicht auf die Akademie.“

„Komme ich doch! Ibiki-san hat es gesagt!“

„Als er es gesagt hat, wusste er ja noch nicht, was mit dir los ist. Er wird die Sache noch einmal überdenken, wenn ...“

„Wird er nicht!“ Mamoru stampft mit dem Fuß auf. „Wird er nicht, wird er nicht!“

Langsam verliert Shintaro die Geduld. „Nun sei nicht so kindisch, Mamoru! Wenn es nicht geht, geht es eben nicht!“

„Ibiki-san hat gesagt, ich darf! Und Papa hat das auch gesagt!“

Shintaro will etwas erwidern, aber die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Und Mamoru stößt die Zimmertür auf und läuft davon.

Team 15, Teil zwei – Versprichst du mir, dass du kletterst?

Aus irgendeinem Grund sieht Nene keine blaue Tür, als sie aus dem Aufzug steigt. Vor ihr steht ein schlichter Tisch mit zwei Stühlen, und nach rechts geht ein Gang weiter, der nach drei verschlossenen Türen abknickt. Sie runzelt die Stirn.

„Hallo?“

Niemand antwortet, weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Vielleicht befindet sich die blaue Tür ja hinter der Biegung des Ganges. Hoffnungsvoll geht sie hinüber und hört schon beim Näherkommen die Stimme eines Mannes.

„Mamoru. Jetzt komm schon raus da.“

Neugierig geht Nene weiter und späht durch eine geöffnete Tür in den Raum, aus dem die Stimme kommt. Ein Mann in grauer Uniform, der nur ein Bein hat und sich auf eine Krücke stützt, steht vor einem Schrank und redet auf ihn ein.

„Wenn es nicht geht, geht es eben nicht.“

„Lassen Sie mich in Ruhe“, antwortet die gepresste Stimme eines Kindes.

„Ich habe Tonbo gesagt, er soll Ibiki holen. Aber er weigert sich bestimmt, mit dir zu reden, solange du in diesem dummen Schrank sitzt.“

„Wenn ich nicht auf die Akademie darf, kann ich genauso gut hier im Schrank bleiben.“

Der Mann seufzt frustriert, wendet sich ab und runzelt die Stirn, als er Nene sieht. Sein Gesicht unterhalb der Augen ist von einem Tuch verdeckt.

„Hallo. Wer sind Sie denn?“

„Shimokawa Nene! Ich bin die Praktikantin.“

„Wir haben eine Praktikantin?“, fragt der Mann irritiert.

„Ja, seit heute! Haben Sie hier irgendein Problem?“

„Allerdings“, knurrt der Mann. „Der Junge hat sich in diesem Schrank verkrochen und kommt nicht mehr heraus.“

„Oh, warum das denn nicht?“

Aus dem Schrank erklingt ein Schniefen.

„Beim Bart des Hokage“, stöhnt der Mann. „Wieso hat Ibiki mir so eine Aufgabe gegeben? Kinder und ich ... es passt einfach nicht.“

„Soll ich helfen?“, fragt Nene strahlend und tritt neben ihn. „Ich komme super mit Kindern klar! Wie heißt er? Mamoru?“

„Ja. Aber ...“

„Hallo, Mamoru!“ Sie geht vor dem Schrank in die Hocke. „Ich heiße Nene.“

„Lass mich in Ruhe“, antwortet die Stimme von drinnen.

„Warum sitzt du in einem Schrank?“

Mamoru zögert kurz. „Shintaro-san ist blöd.“

„Ach, blöd bin ich also auch noch“, knurrt Shintaro. „Steht in Ibikis Regeln nichts davon, dass man keine Erwachsenen beleidigt?“

„Ibiki-san sagt bestimmt, ich darf. Der ist nämlich gerecht.“

„Was sagt Ibiki-san?“, fragt Nene.

„Das würde mich auch interessieren“, erklingt eine grollende Stimme von der Tür her.

„Na endlich, Ibiki. Das wurde auch Zeit.“

Nene richtet sich wieder auf und dreht sich um. In der Tür stehen zwei Männer, der eine groß und mit vernarbtem Gesicht, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Der zweite bleibt einen Schritt hinter ihm, den Kopf mit Bandagen umwickelt, die sogar die Augen bedecken.

„Was ist hier das Problem?“, fragt der, der anscheinend Ibiki ist, und mustert Nene mit gerunzelter Stirn. „Wer bist du?“

„Shimokawa Nene! Ich bin die Praktikantin.“

„Wir haben keine Praktikantin“, sagt der zweite Mann misstrauisch.

„Doch! Ich habe mich bei den Codeknackern beworben.“

„Aber die sind ...“

„Und warum haben Sie mich gerufen?“, unterbricht Ibiki ihn mit einem Blick auf Shintaro, der in Richtung des Schrankes nickt.

„Mamoru sitzt da drin und schmollt.“

„Mamoru, lass diesen Unsinn. Komm sofort da raus.“

Ohne weitere Fragen wird die Tür aufgeschoben und Mamoru klettert heraus. Er trägt ein viel zu weites Hemd mit mehrfach umgekrempelten Ärmeln. Die Arme ragen dürr daraus hervor, schuppige Haut spannt sich über spitze Knochen.

„Also. Was ist das Problem?“

Mamoru zieht die Nase hoch und deutet auf Shintaro. „Der hat gesagt, ich darf nicht auf die Akademie.“

„Weil er keine Chakrakontrolle hat“, erläutert Shintaro. „Gar keine, Ibiki. Und mit seiner Produktion sieht es auch nicht so rosig aus.“

Ibiki seufzt tief. „Das wundert mich nicht im Geringsten.“

„Aber Sie haben gesagt, ich darf auf die Akademie!“, ruft Mamoru. „Sie haben es versprochen!“

„Ich habe gesagt, wenn du dich gut benimmst, werde ich es mir überlegen“, stellt Ibiki klar. „In deinem momentanen Zustand, und damit meine ich insbesondere dein Körpergewicht, würde ich dich sowieso nicht auf die Akademie lassen. Du wirst erst einmal ein bisschen kräftiger werden und dabei möglichst keine Tuberkulose bekommen. Danach sehen wir weiter.“

Mamoru beißt sich auf die Lippe, Tränen in den Augen.

„Oh, nicht weinen!“, sagt Nene und beugt sich zu ihm hinunter. „Willst du vielleicht mit zum Spielplatz kommen? Ich habe eine Schwester in deinem Alter, und wir wollen sowieso heute hin. Sie heißt Mikiko. Ihr würdet euch bestimmt gut verstehen!“

Mamoru blinzelt verwirrt.

„Endlich mal jemand, der einen realistisch durchführbaren Plan hat“, knurrt Ibiki. „Ich hasse es zwar, unterbrochen zu werden ...“

„Tut mir leid“, sagt Nene sofort. „Kommt nicht wieder vor!“

„... aber in diesem Fall werde ich das durchgehen lassen. Shimokawa Nene, nicht wahr?“

„Ja.“

„Dienstgrad und Registriernummer?“

Nene blinzelt überrumpelt. „Das wollte noch nie jemand von mir wissen.“

„Ich leite diese ANBU-Abteilung, und ich will es wissen. Also?“

„Genin. Die Nummer ist ... 012590? Irgendwas mit null-zwölf-fünfhundert, nageln Sie mich bitte nicht drauf fest.“

Sie grinst schief. Ibiki mustert sie missbilligend, nickt aber.

„Du würdest also Mamoru und Shintaro auf diesen kleinen Ausflug mitnehmen?“

„Klar!“

„Ausflug?“, fragt Mamoru, offensichtlich überfordert.

„Das wird toll“, sagt Nene. „Das Wetter ist herrlich heute!“

„Und es würde dir sicher Spaß machen, auf den Spielplatz zu gehen, oder, Mamoru?“, fragt Ibiki ernst.

„Aber ... die Akademie ...“

„Wenn du wieder zu Kräften gekommen bist, werden wir noch einmal über die Sache mit der Akademie reden. Vorerst gehst du da nicht hin. Heute gehst du zum Spielplatz, hast du verstanden?“

„Ja, Ibiki-san.“

„Zweite Regel?“

Zweite Regel. Du tust alles, was ich sage.“

„Ganz genau, und jetzt ab mit dir.“

Mamoru nickt, erst langsam, dann eifriger. „Ich muss nur noch meine Handschuhe holen!“

„Mach das“, sagt Nene munter und folgt ihm aus dem Raum. Shintaro wirft Ibiki einen fragenden Blick zu.

„Gehen Sie mit“, sagt Ibiki. „Ich halte Nene in jedweder Hinsicht für harmlos, aber es kann nicht schaden, wenn Sie auf die beiden achtgeben. Sie haben für heute frei.“

Shintaro zuckt die Achseln. „Wenn du meinst ...“

Er verlässt den Raum ebenfalls. Tonbo tritt respektvoll beiseite, um ihn durchzulassen, und sieht Ibiki misstrauisch an.

„Ich gebe zu, ich hätte es schon vor Jahren aufgeben sollen, zu erraten, was in dir vorgeht. Aber warum hast du das jetzt getan?“

„Warum nicht?“, fragt Ibiki, tritt auf den Gang und sieht dem ungleichen Trio nach. „Ich kenne Nene zwar nicht persönlich, aber ich habe ihre Eltern kennengelernt – sehr anständige Leute. Abgesehen davon hat Mamorus Arzt gesagt, er braucht Vitamin D, dafür muss der Junge mal raus an die Sonne. Und ich kann mich ja wohl schlecht mit einem Kind auf dem Spielplatz blicken lassen. Ich habe einen verdammten Ruf zu verlieren.“

„Das meine ich eigentlich gar nicht.“

„Was denn?“

„Warum um Hokages Willen hast du dem armen Mädchen nicht gesagt, dass wir nicht die Codeknacker sind?“

„Weil ich spontan den Eindruck hatte, dass sie viel besser zu uns passt“, sagt Ibiki leichtfertig. „Aber dass sie ihre eigene Registriernummer nicht nennen kann ... die Jugend von heute!“

Er schüttelt den Kopf, besinnt sich dann und sieht Tonbo an. „Was machen wir hier noch? Zurück an die Arbeit.“
 

*
 

„Wir sind zu früh“, stellt Nene fest, als sie den Schulhof der Akademie erreichen. „Obwohl wir mit Shintaro-san im Schlepptau verdammt lange gebraucht haben!“

Mamoru starrt sie an.

„Das war unhöflich, Nene“, sagt Shintaro und stützt sich auf seine Krücke.

„War es? Entschuldigen Sie, war nicht so gemeint.“

Bis auf einige Eltern, die wohl ebenfalls zum Abholen gekommen sind und miteinander plaudern, ist der Schulhof menschenleer. Das Akademiegebäude liegt ruhig da, einige der mit bunten Basteleien beklebten Fenster sind geöffnet. Gedämpft hört man einen Chor von hellen Kinderstimmen, der das kleine Einmaleins herunter leiert. Mamoru sieht sich mit großen Augen um.

„Es sieht genau so aus wie früher.“

„Oh, warst du früher schon mal hier?“, fragt Nene.

„Manchmal. Mein Papa hat hier gearbeitet.“

„Was, wirklich?“ Nene lacht. „Vielleicht war er einer meiner Lehrer!“

Mamoru beißt sich auf die Lippe.

„Wie heißt denn dein Vater, Mamoru?“

Er windet sich, sucht Shintaros Blick, malt mit dem Fuß Linien auf den Boden. Seine Lippen bewegen sich, aber er bringt keinen Laut hervor.

„Wie?“, fragt Nene munter. „Ich habe dich nicht verstanden.“

„Sein Vater ist vor kurzem gestorben“, raunt Shintaro ihr zu. „Er spricht nicht gerne über ihn.“

„Oh, das wusste ich nicht.“

Nene verstummt, und Mamoru wirft Shintaro einen scheuen Blick zu.

„Shintaro-san?“

„Ja?“

„Sie sind gar nicht wirklich blöd. Das war nur so gesagt.“

„Na, das freut mich aber“, sagt Shintaro trocken, bemerkt Mamorus ernsthaft geknickten Blick und seufzt. „Ist schon in Ordnung.“

Nene überlegt kurz und deutet dann auf die Schaukel. „Möchtest du schaukeln, Mamoru? Ich schubse dich an.“

Mamoru hebt den Kopf und nickt eifrig.

„Dann lauf! Wer zuerst da ist!“

Sie rennen hinüber zum Baum, und Shintaro folgt ihnen langsamer. Als er sie erreicht, hat Nene schon begonnen, Mamoru anzuschaukeln.

„Nicht so hoch, Nene. Er hat das doch schon ewig nicht mehr gemacht.“

„Ewig nicht mehr? Warum denn das?“

Shintaro schließt kurz die Augen, als ihm sein Fehler klar wird. „Er ... er hatte sonst niemanden, der mit ihm auf Spielplätze gegangen ist.“

„Dann hat er einiges aufzuholen!“, erwidert Nene. „Du hältst dich doch gut fest, Mamoru?“

„Ich fliege!“, jauchzt Mamoru, der sich an den Seilen festklammert, als ginge es um sein Leben. Jedes Mal, wenn er zurück schwingt, sieht Shintaro sein mageres, freudestrahlendes Gesicht. Er weiß nicht, ob er bei dem Anblick lachen oder weinen soll.

Mitten in Mamorus Flugerfahrung hinein klingelt die Glocke zum Schulschluss. Man hört Stimmengewirr und Stühlerücken, und nach wenigen Sekunden springt die Tür auf und die ersten Schüler stürzen in die Freiheit, Ranzen über den Rücken geworfen, fallen ihren Müttern in die Arme oder rennen gleich zum Tor. Ein kleines Mädchen löst sich aus der Gruppe und hält auf den Baum zu. Sie hat dieselben dünnen, hellbraunen Haare wie Nene, links und rechts zu zwei Zöpfen gebunden.

„Nene! Ich hab ein Bild für dich gemalt!“

Strahlend hält sie ihr das Blatt Papier hin, eine Wiese und ein Baum und einige eingezeichnete Shuriken. Nene streicht ihr über den Kopf.

„Das ist schön, Bienchen! Wir hängen es zu Hause an den Kühlschrank, ja?“

„Ja! Nene, Nene? Yuki darf doch auch mit zum Spielplatz kommen, oder?“

„Natürlich, wenn sie möchte. Mamoru, ich halte dich an, ja?“

„Ja“, sagt Mamoru, wenn auch ziemlich enttäuscht.

„Wer ist das?“, fragt Mikiko neugierig.

„Das ist Mamoru“, sagt Nene und hält die Schaukel fest, sodass er absteigen kann. „Der kommt auch mit.“

„Kommt er?“

Ein Mädchen mit schwarzem Pferdeschwanz tritt neben Mikiko, wahrscheinlich ihre Freundin Yuki. Die beiden mustern Mamoru, und Shintaro kann an ihren schockierten Mienen ablesen, dass sie das sehen, was Nene nicht sieht. Mamorus Kopf ist viel zu groß für die schmalen Schultern, seine Bewegungen sind steif. Auch wenn auf den ersten Blick nicht festzustellen ist, was mit ihm los ist, merkt man gleich, dass irgendetwas nicht stimmt.

„Mamoru ist ein neuer Freund von mir“, sagt Nene und legt ihm die Hand auf die Schulter. „Er ist nett.“

Mikiko sieht sie an, nickt und lächelt Mamoru zu. „Hallo, Mamoru! Ich bin Mikiko. Das ist Yuki.“

Shintaro seufzt leise. Es ist ein wahrer Glücksfall, dass Nene so seltsam ist.
 

*
 

„Der sieht komisch aus“, zischt Yuki in Mikikos Richtung, als sie am Spielplatz angelangt sind und ihre Schultaschen auf den Boden werfen. Mamoru hört es trotzdem.

„Der ist voll dünn. Und er trägt Handschuhe, obwohl es viel zu warm ist.“

„Ich weiß“, antwortet Mikiko schlicht. „Aber er ist ein Freund von Nene, und deswegen ist er auch mein Freund.“

„Wirklich?“, fragt Mamoru aufgeregt. Yuki starrt ihn an.

„Klar!“, sagt Mikiko.

„Ich war noch nie ein Freund von irgendjemandem.“

„Echt nicht?“

„Also ... nicht so wirklich. Ich habe mit anderen gespielt, aber ... wir waren nicht so richtig Freunde.“

„Jetzt hast du ja Nene“, sagt Mikiko. „Die ist lieb.“

Mamoru zögert. „Ja, sie ist toll. Aber sie ist ... groß.“

„Dann bin ich eben deine Freundin“, entscheidet Mikiko und greift nach seiner Hand. Es ist die rechte, die kaputte, und Mamoru fährt zusammen. Aber Mikiko scheint gar nicht zu bemerken, dass der Fäustling nur ausgestopft ist. Zumindest sagt sie nichts dazu.

„Meine Freundin bist du aber auch“, sagt Yuki trotzig.

„Ja, von euch beiden. Gehen wir?“

Mikiko greift mit der anderen Hand nach der von Yuki, und sie rennen hinüber zum Klettergerüst.
 

„Ihre Schwester ist Ihnen sehr ähnlich“, sagt Shintaro, der sich mit Nene auf eine Bank im Schatten eines Gebüschs gesetzt hat. Er streckt das linke Bein aus und verschnauft erst einmal.

„Das sagen alle“, antwortet Nene fröhlich. „Ich habe sie gut erzogen.“

„Sie scheint ein richtiges Energiebündel zu sein ... selbst für ihr Alter.“

„Ja, ist sie. Es wird Mamoru gut tun, wenn sie ihn ein bisschen aufheitert.“

Shintaro brummt irgendetwas. „Ich hoffe nur, er übernimmt sich nicht. Er ist immer noch recht kränklich.“

„Aber irgendwann muss er ja wieder gesund werden“, entscheidet Nene. „Und Bewegung an frischer Luft ist immer gut!“

Sie lehnt sich auf der Bank zurück und sieht Shintaro an. „Was sind Sie eigentlich? Also, sein Vater jedenfalls nicht, soweit ich das verstanden habe. Ein Onkel?“

„Nein. Einfach jemand, der ... ein wenig auf ihn acht gibt.“

„Was sind Sie denn von Beruf?“

„Ich bin Jounin“, antwortet Shintaro. „Das heißt, das war ich.“

„Und jetzt sind Sie es nicht mehr?“, fragt Nene munter.

Er sieht sie an, und sein Blick wandert zu seinem halben rechten Bein.

„Oh! Okay, natürlich sind Sie das nicht mehr. Sie müssen mir verzeihen, Shintaro-san. Manchmal denke ich zu wenig, bevor ich rede. Mein Bruder Shinichi sagt immer, ich habe null Einfühlungsvermögen.“

Ihr Lächeln verwirrt Shintaro. Seit seiner Rückkehr hat niemand mehr so normal mit ihm gesprochen – außer Ibiki und Tonbo, die aber nicht zählen, weil er sie vorher schon kannte. Alle anderen waren befangen, haben seine Narben angestarrt oder bewusst weggesehen, er weiß gar nicht, was schlimmer ist. Aber Nene scheint gegen all das immun zu sein. Vielleicht liegt es an dem, was sie null Einfühlungsvermögen nennt.

„Warum haben Sie kein falsches Bein?“

„Ein was?“

„Ich kenne ein paar Leute, die so etwas haben“, fährt sie fort. „Es fällt kaum auf, wenn man es nicht weiß. Eine Freundin von Mama hat nur einen Arm, und ich habe es nicht gemerkt, bis ich zwölf war!“

Shintaro runzelt die Stirn. „Ich ... ich fände es unpraktisch, denke ich. Noch sperriger als die Krücke.“

„Warum? Die Dinger bewegen sich, mit Chakra oder so. Sie als Ex-Jounin müssten das doch super hinbekommen. Und es ist ja nicht so, dass das Bein eines schönen Tages nachwächst. Einfach so!“

Nene lacht über den Gedanken, aber Shintaro kann nicht lachen. Böse sein kann er allerdings auch nicht, nicht, wenn sie noch immer einen Tonfall benutzt, als würde sie über das Wetter sprechen.

„Es ist eine Weile her, dass ich Konoha verlassen habe, und damals gab es solche ... Spielereien noch nicht. Es ist schwer zu begreifen, wie viele Dinge sich verändert haben. Ich habe einfach noch nicht darüber nachgedacht.“

Nene will etwas sagen, aber er unterbricht sie.

„Und was machen Sie von Beruf?“

Verblüfft sieht sie ihn an. „Wer, ich? Nennen Sie mich einfach Nene, bitte. Ich fühle mich sonst so furchtbar alt.“

„Wie ... du willst, Nene.“

„Also, ich bin Genin. Eigentlich müsste ich mit meinem Team langsam mal zur Chuunin-Prüfung, aber wir sind ein solcher Hühnerhaufen. Naoko liegt immer noch mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus, eine völlig banale Geschichte. Und Tatsumi ... keine Ahnung, was der so macht. Jammern, vermutlich. Das tut er meistens. Um ehrlich zu sein, bin ich gar nicht so versessen auf diese Prüfung. Ich wäre schon froh, wenn ich eine Art Kampfstil hätte.“

„Welches Element hast du?“

„Ach ... Wasser, glaube ich? Oder Wind?“

Shintaro zieht eine Augenbraue hoch.

„Welches haben Sie?“

„Feuer.“

„Nein, das ist es jedenfalls nicht bei mir.“ Nene zuckt die Achseln. „Aber Feuer klingt ziemlich cool. Können Sie irgendwelche Tricks? So, ein bisschen Feuer spucken oder so?“

„Ich denke nicht.“

„Sie denken nicht?“

„Ich habe es in letzter Zeit nicht mehr ausprobiert.“ Als Shintaro es sagt, fällt ihm auf, dass es stimmt. Seitdem er wieder in Konoha ist, hat er nicht einmal mehr versucht, wieder ins Training zu kommen. Warum denn auch?

„Wollen Sie es jetzt ausprobieren?“

„Jetzt? Hier?“

„Warum nicht? Oder was glauben Sie, wie groß Ihr kleiner Trick wird?“

Sie lacht hell, und er überlegt. Rein aus einer Laune heraus versucht er, die linke Hand zu bewegen. Es klappt erstaunlich gut, natürlich bleibt der Arm steif, aber die Siegel wird er wohl hinbekommen.

„Hier“, murmelt er. „In aller Öffentlichkeit.“

„Schaut doch eh keiner hin“, sagt Nene, womit sie recht hat. Die Kinder auf dem Spielplatz haben Besseres zu tun, als sie zu beachten. Shintaro holt tief Luft, löst das Tuch von seinem Stirnband und zieht es herunter. Er hat eigentlich nicht erwartet, dass Nene auf seine Narben schockiert reagiert (ist es überhaupt möglich, sie zu schockieren?), aber trotzdem macht ihr unverändert aufmunterndes Lächeln ihn froh. Er dehnt die Finger, und plötzlich sind sie schlauer als er. Die Siegel schließen sich von ganz allein, die Worte stolpern über seine Lippen.

Katon: Goukakyuu no Jutsu!

Er pustet die Luft durch den kleinen Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Die Feuerkugel ist kaum so groß wie ein Tischtennisball, aber er spürt den heißen Luftzug auf seinem Gesicht und riecht den kaum wahrnehmbaren Geruch von Schwefel. Als er Luft holt, verschwindet die Kugel, aber es bleiben ein grünliches Flimmern auf seiner Netzhaut und der Schwefel, der nach Macht riecht. Macht ist eine Droge. Er hatte vergessen, wie schön sie ist.

„Wie niedlich!“, sagt Nene.

Er lacht grimmig, zieht das Tuch wieder über sein Gesicht und befestigt es sorgfältig. „Niedlich? In meiner besten Zeit habe ich Bälle von anderthalb Metern Durchmesser geschafft. Die waren jedenfalls nicht niedlich.“

„Immerhin können Sie es noch. Besser als nichts, oder?“

Und sie hat recht, denkt Shintaro. Sie hat so recht. Er sieht sie an, sie erwidert seinen Blick strahlend, und plötzlich zuckt ihm der Gedanke an Kaede durch den Kopf.

Wann lerne ich endlich die Mutter meiner Enkelkinder kennen?

Er wird hochrot und ist froh, das Tuch wieder hochgezogen zu haben. Was denkt er hier? Nene ist sechzehn, und er hält sich mittlerweile für zu alt und zu kaputt, um an eine Frau zu denken. Er hat die Chance verpasst. Nene ist jung und froh und hübsch, sie ist all das, was er gerne wäre und nicht ist. Sie macht ihn glücklich. Er liebt sie nicht, nicht auf diese Weise.

„Nene!“

Er zuckt zusammen, als Mikikos Stimme erklingt. Sie kommt auf Nene zu gerannt und zieht an ihrer Jacke.

„Was ist los, Fröschchen?“, fragt Nene.

„Mamoru weint.“

Erschrocken sieht Shintaro sie an.

„Er weint? Was ist denn passiert?“

„Gar nichts“, sagt Mikiko außer Atem. „Wir haben nichts gemacht, wirklich! Aber er sitzt da hinten in dem Häuschen und weint.“

„Ich gehe mal und rede mit ihm.“ Nene steht auf. „Bleiben Sie ruhig sitzen, Shintaro-san. Bin sofort wieder da.“

Sie lächelt ihn noch einmal an und lässt sich von Mikiko an der Hand mitzerren.
 

Mamoru hat die Knie vor die Brust gezogen und drückt sie an sich. Sie zittern immer noch. Anfangs hat er gedacht, es würde sich bald legen, und es ist ja wirklich nicht schlimm, dass er nicht schaukeln und nicht an den Seilen hochklettern kann wie Mikiko und Yuki. Rutschen ist ja auch nicht schlecht. Dann ist er nicht einmal mehr die Leiter zur Rutsche hinauf gekommen, und jetzt ist alles aus. Vielleicht muss er sterben.

„Mamoru? Bist du da drin?“

Ein Schatten schiebt sich vor die helle Türöffnung des kleinen Spielhauses. Er hebt den Kopf. Es ist das Mädchen mit dem braunen Zopf. Nene. In letzter Zeit hat er viel zu viele Menschen kennengelernt.

„Was ist los? Mikiko sagt, du weinst.“

Er zuckt die Achseln. Seine Knie zittern.

„Hast du dir wehgetan, Mamoru?“

Er schüttelt den Kopf.

„Warum kommst du dann nicht raus?“

Er weiß keine Antwort. Gibt es eine Antwort? Weil er nicht mehr weiß, wo er hingehört. Er war so lange im Dunkeln, im Kalten unten. Dann haben sie ihn wieder an die Sonne gelassen, und es ist alles zu viel. Der blaue Himmel, das Kreischen der anderen Kinder, ihre Gespräche über Ballspielen und Eis und Abendessen. Mamoru hat das Gefühl, er gehört nicht hierher mit seiner hässlichen Hand und seinen Armen und Beinen wie Streichhölzer. Aber wenn er hier nicht hergehört, wohin denn dann?

„Mamoru? Wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich dir auch nicht helfen.“

„Lass mich das machen, Nene.“

Mamoru zuckt zusammen, als er Shintaros Stimme hört. Der Schatten in der Türöffnung bewegt sich.

„Sie sollten doch sitzen bleiben, Shintaro-san! Mit der Krücke in dem Sand kommen Sie ja kaum voran!“

„Nene“, sagt Shintaro kurz angebunden. „Du bist ein wirklich liebes Mädchen, aber du hast, wie dein Bruder es so treffend ausdrückt, null Einfühlungsvermögen. Lass mich mit Mamoru sprechen.“

„Wie Sie meinen. Aber er sitzt da drinnen, und solange er nicht rauskommt ...“

„Wenn er nicht herauskommt, komme ich eben herein.“

„Das ist nicht ihr Ernst!“ Nene lacht auf. „Na, wie Sie meinen. Aber beschweren Sie sich nicht, wenn Sie stecken bleiben.“

Wieder wird die Türöffnung verdunkelt, diesmal von Shintaro. Stöhnend beugt er sich hinunter und quetscht sich durch die Tür in Kindergröße. Die Krücke nimmt er gar nicht erst mit.

„Na, Mamoru?“

Mamoru bleibt wie versteinert sitzen. Shintaro kriecht ein Stück in die Hütte und setzt sich umständlich, den Rücken gegen die rechte Wand gelehnt.

„Es ist schwer, plötzlich in eine gewohnte Umgebung zurück zu kommen, nachdem man lange ... anderswo war. Nicht wahr?“

Ungläubig sieht Mamoru ihn an.

„Ich kenne das auch“, sagt Shintaro. „Ich bin nach einer Mission in Gefangenschaft geraten, und es ist viel Zeit vergangen, bis ich zurückkehren konnte. Elf Jahre.“

„Das ist länger, als ich alt bin“, murmelt Mamoru.

„Unglaublich, was? Ich kann selbst nicht fassen, dass es so lange gedauert hat. Danach habe ich mich riesig gefreut, wieder in Konoha zu sein – anfangs. Aber nach einer Weile bin ich traurig geworden. Kannst du dir vorstellen, warum?“

„Warum?“

„Genau erklären kann ich es mir auch nicht. Ich denke einfach, das ist immer so, wenn man sich furchtbar auf etwas gefreut und es bekommen hat. Man kann nicht ewig froh sein. Irgendwann kehrt wieder Normalität ein, und man fällt in ein Loch.“

„In ein Loch.“

„Findest du, das ist ein guter Ausdruck dafür?“

Mamoru nickt. „Schon. Aber das ist es bei mir gar nicht.“

„Was ist es dann?“, fragt Shintaro ernst.

Er umarmt seine zitternden Knie.

„Du musst nie wieder in die Verliese zurück, Mamoru.“

„Ich weiß – nicht, wenn ich mich gut benehme. Hat Ibiki-san gesagt.“

„Hast du Angst?“

„Ja.“

„Wovor?“

Mamorus Lippen zittern. „Vor allem. Und vor mir selbst.“

„Warum?“

„Ich bin kaputt“, flüstert Mamoru, starrt den Fäustling an seiner rechten Hand an und weiß, dass darunter nur zweieinhalb Finger sind. „Ich gehöre überhaupt nicht hierher.“

„Kaputt“, wiederholt Shintaro. „Das bin ich auch. Und gerade deswegen, Mamoru, gehörst du hierher. Ibiki zieht kaputte Menschen wie magisch an.“

Mamoru schnieft geräuschvoll. „Aber ich bin so müde. Wozu soll ich Ibiki-san denn nützen, wenn ich so schnell müde werde?“

„Es wird sich legen. Deine Hand können wir nicht wieder ganz machen, aber wenn du besser isst und ein paar Medikamente bekommst, wirst du bald stärker werden. Gesünder, als du jetzt bist. Es ist keine Woche her, dass du wieder ... am Leben bist, Mamoru. Setz dich nicht selbst so unter Druck.“

Im dämmrigen Licht blinzelt Mamoru Shintaro an. „Wie haben Sie es geschafft?“, fragt er.

„Was?“

„Aus dem Loch wieder herauszukommen.“

Shintaro erwidert seinen Blick ernst. „Ich bin geklettert. Man braucht Ausdauer und eine ganze Menge Geduld dafür, aber es lohnt sich.“

Mamoru schnieft.

„Versprichst du mir, dass du kletterst, Mamoru?“

„Okay“, murmelt Mamoru.

Team 15, Teil drei – Wir sind eine ANBU-Abteilung, kein Ponyhof.

„Der Nachmittag hat mir gefallen“, sagt Shintaro, als sie gegen Abend seine Haustür erreichen.

„Mir auch!“, sagt Nene fröhlich. „Was ist mit dir, Mamoru? Darf ich dich Mo nennen? Ich nenne dich Mo.“

Mamoru blinzelt, überfordert, das Gesicht immer noch leicht mit Dreck verschmiert, obwohl seine Tränen längst getrocknet sind. „Ja. Gut.“

„Danke, dass ihr mich begleitet habt.“ Shintaro schließt die Tür auf und sieht sie unschlüssig an. „Du bringst Mamoru doch zurück, Nene?“

„Kommen Sie nicht mit?“, fragt Mamoru erschrocken.

„Ich habe längst Feierabend.“

„Aber Sie sind doch morgen wieder da, oder?“

Zum ersten Mal wird Shintaro bewusst, dass der Junge ihn vermisst, wenn er nicht da ist. Es ist ein seltsames Gefühl. Aber kein schlechtes.

„Natürlich. Pünktlich zum Frühstück, wie immer.“

„Dann ist ja gut.“

„Klar bringen wir Mamoru zurück“, sagt Nene munter und tätschelt ihm den Kopf. „Kein Problem.“

„Nene“, murmelt Mikiko und zieht an ihrer Hand. „Ich muss ganz doll auf Klo.“

„Oh. Kann sie kurz hier gehen, Shintaro-san?“

„Natürlich“, sagt Shintaro. „Kommt eben herein.“

Sie steigen die wenigen Stufen hinauf und betreten seine Wohnung. Shintaro deutet den Flur entlang.

„Die Toilette ist da hinten.“

„Soll ich mitkommen?“, fragt Nene, aber Mikiko schüttelt den Kopf und schlängelt sich an Shintaro vorbei. Er hängt Schlüssel und Jacke an die Garderobe, während Nene und Mamoru sich neugierig umsehen. Er hat erst selten Gäste hier gehabt und noch nie welche, die er erst seit so kurzer Zeit kannte. Ein bisschen unangenehm ist es ihm schon. Nicht, dass es unordentlich wäre – dafür fehlt Shintaro schlicht all der überflüssige Kleinkram, der eine Wohnung erst unordentlich macht. Er mag es nur aus Prinzip nicht, wenn jemand in seine Privatsphäre eindringt.

„Nett haben Sie es hier!“, sagt Nene.

„Oh, ja. Klein, aber für mich allein gerade richtig.“

„Und sehr ordentlich. Na ja, ein bisschen spartanisch vielleicht. Sind Sie das?“

Nene deutet auf das Foto, das in einem Rahmen neben der Eingangstür hängt.

„Wer denn?“, fragt Mamoru und reckt den Hals. Nene schnappt ihn sich und hebt ihn hoch, damit er das Bild ansehen kann.

„Da, der junge Mann hinten auf der Treppe. Mit der Uniform.“

„Ja, das bin ich“, antwortet Shintaro verblüfft. „Das hast du erkannt?“

„Man sieht es an den Augen!“ Nene lacht. „Augen sind sowieso faszinierend. Manchmal träume ich so komische Sachen, da ...“

Sie bricht ab. „Wer ist denn das?“

„Wer?“, fragt Shintaro und tritt neben sie. Nene deutet auf den Jungen, der sich rechts an das Geländer lehnt. Das Foto ist alt und etwas verblasst, aber die Details sind noch erstaunlich gut zu erkennen.

„Das ist Tonbo. Du hast ihn sogar schon getroffen.“

„Habe ich?“

„Ja. Mit Ibiki.“

Nene runzelt die Stirn. „Aber ... da war nur so einer mit einem Verband um den Kopf.“

„Genau der. Das ist Tonbo.“

„Ich träume manchmal von einem Jungen. Mit dunkelgrauen Augen. Ungefähr ... genau so wie er da.“

„Ach ja?“, fragt Shintaro und mustert das Bild eingehend. „Wie merkwürdig.“

„Sind die drei ihr Team?“, fragt Mamoru.

„Oh, ja. Das einzige Genin-Team, das ich je geleitet habe. Tonbo, Ibiki und ...“

Shintaro bricht ab.

„Ibiki?“, fragt Nene amüsiert. „Das ist Ibiki?“

„Ja.“

„So hat er als Kind ausgesehen, mit Haaren und allem? Wie witzig. Und Sie waren sein Sensei? Sachen gibt es ...“

„Das ist Papa!“, sagt Mamoru plötzlich und deutet auf den Jungen in der Mitte. Shintaro beißt sich auf die Lippe.

„Echt? Bist du sicher, Mo?“

„Ja, ganz sicher! Was macht er auf dem Foto?“

„Mizuki war auch in meinem Team“, sagt Shintaro.

Mamoru blinzelt zu ihm auf. „Warum haben Sie das nie gesagt?“

Shintaro zögert. „Ich ... weiß nicht, was das für einen Unterschied gemacht hätte.“

„Ich hätte es einfach schön gefunden“, murmelt Mamoru und betrachtet das Bild. „Es gibt ein Foto von ihm.“

Er streichelt mit der behandschuhten linken Hand über das Glas, ein Lächeln auf dem Gesicht.

„Das ist also dein Vater?“, fragt Nene kritisch. „Besonders ähnlich siehst du ihm ja nicht.“

„Nein, ich weiß. Aber ich bin ja auch keine Mangafigur oder so. Die sehen immer genau so aus wie ihre Eltern. Nur jünger.“

„Also, du wiegst zwar nicht viel, aber auf die Dauer wirst du trotzdem schwer!“ Ächzend setzt Nene Mamoru wieder auf dem Boden ab. „Wieso braucht Mikiko eigentlich so lange?“

In diesem Moment öffnet sich die Tür zur Toilette, und Mikiko kommt heraus. Sie läuft zu Nene und schlingt die Arme um sie.

„Nene. Können wir gehen?“

„Warum denn?“

„Ich hab Bauchschmerzen.“

„Na so etwas“, sagt Nene und lächelt Shintaro an. „Dann werden wir uns mal beeilen. Wir setzen Mikiko eben zu Hause ab, das liegt sowieso auf dem Weg. Danach bringe ich Mamoru weg.“

„Tu das. Bis morgen.“

„Bis morgen, Shintaro-san“, sagt Mamoru und winkt.
 

*
 

Ibiki ist gerade dabei, Izumo und Kotetsu zu erklären, wie die Kaffeemaschine funktioniert, als Mamoru und Nene den Gang hinunter kommen.

„Dieses Mädchen“, sagt Kotetsu sofort und zeigt auf sie. „Die ist heute morgen mir nichts, dir nichts angekommen und hat sich als Praktikantin vorgestellt! Seit wann haben wir so etwas?“

„Die Codeknacker sind um Nachwuchs besorgt“, antwortet Ibiki achselzuckend. „Hat euch niemand gewarnt, dass dort bald noch mehr Dilettanten beschäftigt sind als sowieso schon?“

„Nein.“

„Dann wisst ihr es jetzt.“

„Und was macht sie hier unten?“, fragt Izumo. „An den Anblick von Ihrem Mündel hat man sich ja schon fast gewöhnt, aber ...“

„Mündel?“, wiederholt Kotetsu.

„Ja, ist doch die korrekte Bezeichnung für den Kleinen. Adoptiert ist er ja nicht.“

„Was in aller Welt ist ein Mündel?“

„Na, ein Kind, das einen Vormund hat!“

„Und was zum ...“

„Seid still“, knurrt Ibiki. „Wir wollen doch nicht, dass Nene den Eindruck bekommt, ihr beiden hättet von nichts eine Ahnung – nur, weil es stimmt.“

Izumo und Kotetsu würden gerne irgendetwas dazu sagen, tun es aber nicht, weil Nene und Mamoru sie mittlerweile fast erreicht haben.

„Guten Abend, Ibiki-san!“, sagt Nene.

„Guten Abend. Hattet ihr einen schönen Tag?“

„Ja, Ibiki-san“, antwortet Mamoru mit großen Augen.

„Es war große Klasse“, bestätigt Nene und klopft ihm auf die Schulter. „Dann also bis morgen ... oh!“

Sie deutet auf Izumo und Kotetsu. „Ihr beide hattet heute morgen etwas von einer blauen Tür erzählt. Hier gibt es keine blauen Türen!“

„Natürlich nicht, wenn du ins falsche Stockwerk fährst“, erwidert Izumo trocken. „Das hier sind nicht die Codeknacker.“

„Nicht?“, fragt Nene verwirrt.

„Haben Sie ihr das etwa nicht gesagt?“, fragt Kotetsu fassungslos, an Ibiki gewandt.

„Bin gerade dabei“, antwortet Ibiki trocken. „Nene ... ich habe ein paar Informationen über dich eingeholt. Und ich habe das Gefühl, anstatt zu den Dechiffrierern würdest du viel besser in meine Abteilung passen. Was sagst du dazu, wenn du vorläufig hierher kommst?“

„Oh, da habe ich nichts gegen“, sagt Nene fröhlich. „Die ist nett, ihre Abteilung! Was, Mamoru?“

„Dann ist es beschlossen“, antwortet Ibiki und nickt Izumo und Kotetsu zu. „Ihr wisst auch Bescheid, lasst sie morgen durch. Ich werde den Papierkram für sie erledigen.“

„Also gut“, sagt Kotetsu, offensichtlich überfordert.

„Mir gefällt das“, sagt Nene. „Ein bisschen spontan und so. Na ja, ich muss los! Mach's gut, Mamoru! Bis morgen!“

„Bis morgen“, antwortet Mamoru. Nene strubbelt ihm grinsend durch die Haare, winkt zum Abschied in die Runde und geht.

„Ich komme mit diesem Mädchen nicht klar!“, platzt Kotetsu heraus, sobald sie einige Schritte weit weg ist. „Ich habe ja nichts gegen fröhliche Gemüter, aber sie ist ... sie ist irgendwie unmöglich!“

„Ich habe mich über sie informiert“, sagt Ibiki bedächtig und sieht ihr nach. „Ihre Eltern standen einmal unter Verdacht, Dienstvorschriften verletzt zu haben, aber ich habe sie verhört – sie waren unschuldig. Ich habe persönlich dafür gesorgt, dass die Anklage fallen gelassen wurde. Abgesehen davon ist die Familie nur durch eines aktenkundig geworden, nämlich dadurch, dass mehrere Eltern anderer Kinder sich über Nene beschwert haben. Sie hätte an der Akademie sadistische Züge gezeigt, hieß es. Bei einem Kind wie ihr wurde es nicht weiter verfolgt, aber ich habe mich ein wenig schlau gemacht. Es sieht aus, als hätte Nene einfach kein Einfühlungsvermögen.“

„Kein Einfühlungsvermögen?“, fragt Izumo verwirrt. „Aber das ist krank, oder?“

„Ich finde es faszinierend.“ Ibiki zuckt die Achseln. „Andere Angestellte von mir müssen lernen, ihr Mitgefühl bei Bedarf abzuschalten. Wenn Nene erst gar keins mitbringt, können wir uns die Einarbeitung sparen. Und abgesehen davon dürfte sie gute handwerkliche Fähigkeiten haben.“

„Handwerkliche Fähigkeiten?“

„Ihre Eltern sind Metzger.“

„Das ist nicht ihr Ernst!“ Kotetsu zieht eine Grimasse. „Sie wollen das Mädchen anstellen, um an irgendwelchen Gefangenen herumzuschnipseln?“

„Wir sind eine ANBU-Abteilung, kein Ponyhof“, erwidert Ibiki streng. „Ich kann nie genug Mitarbeiter haben, die ihre Befehle ausführen, ohne moralische Bedenken anzumelden. Nene kommt mir da gerade recht. Und außerdem kann sie sich ein bisschen mit Mamoru beschäftigen – der auf seine Art genauso skrupellos ist wie sie.“

Mamoru hat still da gestanden und gewartet, bis sie fertig sind. Er schreckt auf, als er seinen Namen hört.

„Hattest du mit Nene deinen Spaß, Mamoru?“, fragt Ibiki.

„Wir waren auf dem Spielplatz!“, sprudelt es aus Mamoru hervor. „Und ich bin geflogen, also geschaukelt. Auf der Schaukel an der Akademie. Und ich habe Mikiko getroffen, die ist Nenes Schwester. Mikiko ist jetzt meine Freundin. Und die Sonne hat geschienen!“

„Das klingt ja hervorragend. Hast du Hunger?“

„Weiß nicht.“

„Was heißt hier weiß nicht, sowas muss man doch wissen, Junge!“

„Ich weiß aber nicht. Tut mir leid, Ibiki-san.“

„Dann entscheide eben ich, dass du den ganzen Nachmittag nichts gegessen hast und Hunger haben solltest. Geh in die Kantine und hol dir dein Abendessen. Sag einfach, ich bezahle es später.“

Mamoru zögert. „Glauben sie mir denn, wenn ich das sage?“

„Natürlich glauben sie dir. Niemand würde es wagen, unerlaubt meinen Namen für irgendetwas zu benutzen.“

„Dann mache ich das, Ibiki-san.“

„Und denk daran, deine Tabletten zu nehmen.“

„Die weiße vor dem Essen, die orange danach.“

„Du bekommst das schon hin. Jetzt geh. Wenn du gegessen hast, gehst du ins Bett, dein Tag war lang genug. Du weißt du ja, wohin du dich zurückziehen kannst.“

„02/C139. Zweites Untergeschoss, Korridor C, Raum 139.“

„Guter Junge.“

„Gehen Sie jetzt nach Hause, Ibiki-san?“

„Nein, ich habe noch viel zu arbeiten. Aber wenn später irgendetwas ist, frag Izumo und Kotetsu, die haben Nachtschicht. Vermutlich sitzen sie im zweiten Untergeschoss an der Treppe und schlagen Zeit tot. Und jetzt lauf und hol dir etwas zu essen, man kann ja nicht mit ansehen, wie dürr du bist!“

„Mache ich, Ibiki-san!“

Mamoru dreht sich auf dem Absatz um und läuft davon.

„Wissen Sie“, sagt Kotetsu zu Ibiki. „Es ist echt krank, zu beobachten, wie Sie sich als Vater inszenieren.“

„Ich bin nicht sein Vater“, erwidert Ibiki scharf. „Er ist nur ein kleines ... Experiment.“

„Ein Kind, das Sie aus den Verliesen geholt haben?“, fragt Izumo.

„Ja.“

„Wäre es nicht einfacher gewesen, den Jungen ... na ja ... verschwinden zu lassen?“

„Jemanden zu töten, ist meistens der einfachste Weg“, sagt Ibiki trocken. „Deswegen muss es nicht immer der beste sein. Mamoru ist mir gegenüber bedingungslos gehorsam und trotzdem nicht dumm, was eine seltene Kombination ist. Ich sehe gute Chancen, dass er ... wie sagt man so schön? Dass er sich zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft entwickeln kann.“

„Immerhin braucht die Gesellschaft gewissenlose Folterknechte ohne Familienbindungen“, sagt Kotetsu mit einem vielsagenden Seitenblick auf Izumo.

„Das habe ich überhört“, knurrt Ibiki. „Ihr beide achtet ein bisschen auf ihn, verstanden? Er hat Angst vor jedem, der eine ANBU-Maske trägt, aber mit euch kommt er zurecht.“

„Wir haben ein Auge auf ihn, Ibiki-san.“

„Mitten in der Nacht den Wachtposten zu spielen, ist sowieso nicht besonders aufregend.“

„Falls irgendetwas mit dem Jungen sein sollte, wo finden wir Sie?“

„Ich bin im dritten Untergeschoss. Ein Spähtrupp ist gerade zurückgekehrt, und die Hokage hat bei der Auswertung der Ergebnisse höchste Priorität angeordnet.“

„Dann werden wir Sie lieber nicht stören ... es sei denn, es ist dringend.“

„Sehr gut. Und noch etwas.“ Ibiki sieht sie finster an. „Ich bin nicht sein Vater. Ich bin Morino Ibiki, und ich habe einen verdammten Ruf zu verlieren. Wenn ihr nutzlosen Ratten irgendjemandem erzählt, wie drollig ihr mein Benehmen findet, seid ihr euren Job los, und vielleicht auch das eine oder andere Körperteil.“

Kotetsu schluckt.

„Verstanden, Ibiki-san“, sagt Izumo. „Wir sagen kein Sterbenswörtchen.“

„Das will ich euch auch geraten haben. Dann also frohes Schaffen.“
 

*
 

Beim Abendessen langt Mikiko nicht so zu wie sonst, aber gesprächig ist sie wie eh und je.

„Mamoru ist nett. Er sieht nur ein bisschen komisch aus. Oder, Nene?“

„Fand ich nicht.“

„Du findest nie etwas komisch“, sagt Shinichi und schnappt Nene den Reis vor der Nase weg. Sie tritt ihm gegen das Schienbein.

„Wer ist denn Mamoru?“, fragt Shuichi. „Ein Freund von dir, Mikiko?“

„Ja. Und ein Freund von Nene.“

„Ich habe ihn bei der ANBU getroffen“, erklärt Nene. „Und Ibiki-san hat gesagt, ich sollte ihn ruhig mitnehmen. Und Shintaro-san auch.“

„Ibiki-san?“

„Ja. Wie es aussieht, ist der mein neuer Arbeitgeber. Er ist echt in Ordnung!“

Mama und Papa tauschen einen Blick.

„Ich dachte, du wolltest ein Praktikum bei den Codeknackern machen“, sagt Papa langsam. „Und Ibiki-san ist ... nicht bei den Codeknackern beschäftigt.“

„Oh nein.“ Mama und rückt Teller und Glas zurecht, als wisse sie nicht, wohin mit ihren Händen.

„Wo denn dann? Woher kennt ihr ihn?“

„Wir hatten ein ... kurzes Gespräch mit ihm.“

„Wann?“, fragt Shuichi verblüfft.

„Kurz vor Mikikos Geburt.“

Nene und die Jungen senken die Blicke auf ihre Teller. Darüber wird nicht gesprochen.

„Was war denn da?“, fragt Mikiko arglos.

„Gar nichts, Prinzessin.“ Papa streicht ihr flüchtig über die Wange. „Es war nur ... ein kleines Missverständnis.“

„Ibiki-san hatte ein sehr autoritäres Auftreten. Aber ... ich muss sagen, er war gerecht.“ Mama zieht die Schultern hoch. „Wir haben ihm beteuert, dass wir unsere Dienstpflichten nie verletzt haben, und er hat uns geglaubt. Er war der Erste überhaupt, der das getan hat. Anscheinend hatte sein Wort so viel Gewicht, dass die Anklage kurz darauf fallen gelassen wurde.“

„Welche Anklage, Mama?“, fragt Mikiko, verstört von der angespannten Stimmung am Esstisch.

„Es war gar nichts“, sagt Papa noch einmal.

„Aber ein zweites Mal über den Weg laufen muss ich diesem Mann nicht“, fügt Mama schnell hinzu und schaudert. „Diese Narben ... Er sieht grauenhaft aus. Und er vermittelt einem den Eindruck, dass er kein Stück harmloser ist, als er aussieht. Eher im Gegenteil.“

„Ich fand ihn ganz in Ordnung“, sagt Nene überrascht. „Sehr höflich.“

„Du bist ja auch komisch“, murmelt Shinichi, und Nene boxt ihn auf den Arm. Mikiko lacht schrill, mit einem verzweifelten Unterton, weil sie nur will, dass alles wieder gut ist. Und der Rest der Familie tut ihr den Gefallen und lacht mit.
 

*
 

Shintaro kann nicht schlafen, ein dumpfer, ziehender Schmerz im rechten Unterschenkel hält ihn wach. Mit eigenen Augen zu sehen, dass dieser Unterschenkel nicht mehr da ist, ändert leider auch nichts. Seit einer halben Stunde steht er am Küchenfenster, sieht hinaus auf die dunkle Straße und ringt mich sich, ob er eine Schmerztablette nehmen soll – dafür sind sie schließlich da. Aber wenn er sie zu oft nimmt, wird er sich womöglich daran gewöhnen, und irgendwann helfen sie gar nicht mehr.

Und außerdem bist du immer allein zurecht gekommen, was, Shintaro? Du willst von nichts und niemandem abhängig sein. Schon gar nicht von Tabletten.

Er versucht, an etwas anderes zu denken – aber das Einzige, was ihm einfällt, ist Nene. Seit dem Nachmittag geht sie ihm nicht aus dem Kopf. Ein wenig erinnert sie ihn an das kleine Mädchen, das am Ende gar nicht mehr so klein war. Beide haben gemeinsam, dass sie sich nicht an seinen Verletzungen gestört haben. Vielleicht sollte er sich ärgern über Nenes Indiskretion, aber er tut es nicht.

Das Bein wird nicht eines Tages einfach nachwachsen, Shintaro.

Shintaro ist ein guter Shinobi. Er kann wie eine Maschine funktionieren, wie er will. Er kann Gedanken einfach nicht denken, wenn er will. Es müssen andere Menschen sein, wie Mamoru oder wie Nene, die irgendwie dafür sorgen, dass er die Gedanken doch denkt. Sein Bein ist weg. Für immer. Er ist nicht mehr derselbe wie damals, vor seiner letzten Mission.

Und das ist elf – nein, schon fast dreizehn Jahre her, Shintaro. Zeit, den nächsten Schritt zu wagen. Zeit, deinen Stolz entweder zu schlucken oder beim Versuch zu ersticken. Nene hat gesagt, es gibt Prothesen heutzutage. Vielleicht sollte ich mich schlau machen. Das mit der Krücke kann doch so nicht weitergehen. Ja. Vielleicht sollte ich mich erkundigen.

„Nicht heute“, sagt er laut und sieht zu, wie sein Atem sich trüb auf der Fensterscheibe niederschlägt. Er atmet. Das heißt, er ist am Leben.

„Nicht heute. Aber gleich morgen früh werde ich es tun.“

Er nickt und beschließt, eine Schmerztablette zu nehmen und ins Bett zu gehen.
 

*
 

Mikiko atmet schon ruhig unter ihrer Decke und Nene ist gerade dabei, einzunicken, als die Tür zum Flur sich öffnet und ein schmaler Lichtstreifen herein fällt.

„Nene?“, flüstert Papa.

„Ja?“

Er lehnt die Tür hinter sich an und setzt sich auf die Bettkante. „Ich muss dir etwas sagen“, beginnt er.

„Was denn?“, fragt Nene und blinzelt zu ihm auf.

„Mama und ich ... machen uns Sorgen.“

„Warum?“

„Darum, woran du da geraten bist.“

„Ihr wart doch ganz begeistert, als ich gesagt habe, solange mein Team nicht wieder fit ist, besorge ich mir eine andere Beschäftigung.“

„Aber da wussten wir ja noch nicht, worauf das hinausläuft.“ Papa zögert. „Nene ... ich will nur nicht ... Mama und ich, wir wollen nicht, dass du irgendetwas tust, was du nicht willst. Hast du gehört?“

„Ich tue immer nur, was ich will“, sagt Nene verblüfft.

Papa lacht leise. „Das ist mein Mädchen. Versprich mir, dass du bei dieser Einstellung bleibst, ja? Und was auch immer passiert – du kannst jederzeit zu Mama und mir kommen und mit uns reden. Egal, welche Probleme du hast, wir finden eine Lösung. In Ordnung?“

„Okay“, murmelt Nene und gähnt. Papa beugt sich über sie und küsst sie auf die Stirn.

„Dann gute Nacht.“

„Gute Nacht, Papa.“
 

*
 

„Ibiki-san? Ibiki-san!“

„Was ist denn?“, fragt Ibiki unwillig und sieht von seinen Akten auf. Kotetsu steht in der Tür, noch zerzauster als sonst, sofern das möglich ist.

„Können Sie mal eben nach Ihrem Mündel sehen?“

„Meinem was?“

„Ich habe Izumo doch gesagt, das Wort kennt keiner!“

„Worum verdammt nochmal geht es, Kotetsu?“

„Um den Jungen, den Sie neulich angeschleppt haben.“

„Warum sagst du das nicht gleich? Ist es dringend?“

„Er ist gerade aus einem Albtraum aufgewacht und hört nicht auf, zu schreien. Ich weiß nicht, für wie dringend Sie das halten.“

Ibiki runzelt die Stirn und steht auf. „Ich komme.“

Mit langen Schritten folgt er Kotetsu durch die Gänge. Er hört niemanden schreien, aber als sie dem Zimmer näher kommen, in dem er Mamoru untergebracht hat, erklingt gedämpft die Stimme von Izumo.

„... und dann hat Kotetsu zu mir gesagt, Hey, kennst du dieses blöde Gefühl, dass du irgendetwas ganz Wichtiges vergessen hast? Und ich habe gesagt, Na klar, deine Hose hängt immer noch aus meinem Küchenfenster.

Mamoru kichert leise, seine Stimme zittert. Sobald Ibiki den Raum betritt, zuckt er von Izumo weg, der sich neben ihm auf die Matratze gesetzt hat, und weicht bis an die Wand zurück. Er gibt keinen Ton von sich, sein Gesicht ist leichenblass, die Augen weit aufgerissen. Ibiki mustert ihn kurz und gibt Izumo einen Wink.

„Lass uns allein.“

„Sind Sie sicher, Ibiki-san?“, fragt Izumo mit einem prüfenden Blick auf den Jungen.

„Ganz sicher. Ich kläre das mit Mamoru.“

Langsam ziehen Izumo und Kotetsu sich zurück, Kotetsu schließt die Tür hinter ihnen. Obwohl er nicht wirklich damit gerechnet hat, ist Ibiki froh, dass Mamoru davon absieht, wieder los zu schreien.

„Mamoru? Ist es okay, wenn ich mich zu dir setze?“

Mamoru sieht ihn mit großen Augen an und nickt. Behutsam lässt Ibiki sich neben ihm nieder, eine Armeslänge Abstand zwischen ihnen. Er könnte den Jungen nicht mit einem Griff erreichen, er soll sich sicher fühlen. Seit langer Zeit hat Ibiki nicht mehr mit so viel Behutsamkeit eine Unterhaltung geführt. Normalerweise sind seine Gesprächspartner Kriminelle oder Spione, je mehr man sie einschüchtert, desto besser. Im Moment versucht er, seine Verhörtechniken ins Gegenteil umzukehren, um harmlos zu wirken. Es ist schwieriger als gedacht.

„Kotetsu hat mir gesagt, du hättest einen Albtraum gehabt.“

Ein zaghaftes Nicken.

„Kannst du mir erzählen, was du geträumt hast?“

Mamoru starrt Ibiki an. Sieht er die Narben, die sich in Ibikis Gesicht gegraben haben und nur eine Ahnung von dem vermitteln, was er in seinem Leben schon erduldet hat – und bereit ist, jedem anderen anzutun? Oder sieht er den Mann, der ihm das Leben gerettet hat?

„Sie haben ... Sie ... haben mir ...“

Er beißt sich auf die Lippe, und Tränen schießen ihm in die Augen.

„Fang von vorne an, Mamoru“, sagt Ibiki ruhig. „Ganz von vorne. Wir haben alle Zeit der Welt.“

Mamoru schließt kurz die Augen und atmet tief durch. „Ich habe ... gemacht, was Sie gesagt haben. Ich bin etwas essen gegangen, es gab Fisch, den mag ich. Und ich habe meine Tabletten genommen, die weiße vor dem Essen, die orange danach.“

Ich meinte, fang am Anfang DES TRAUMS an, nicht bei der Erschaffung der Welt! Ibiki muss sich zusammenreißen, um nicht in seinen Verhörmodus zu fallen. Hauptsache, der Junge redet.

„Dann bin ich schlafen gegangen, und ... ich habe geträumt ...“ Mamoru schüttelt den Kopf und wischt sich über die Augen. „Ich träume das ganz oft, aber ich habe irgendwie zum ersten Mal verstanden, dass Sie das waren. Sie und ... Papa.“

Ibiki erinnert sich an den schwach beleuchteten Verhörraum, an den bewusstlosen Fünfjährigen auf dem Boden und an Mizukis gehetzte Frage. Kann er uns hören?

„Sie haben mit Papa geredet. Darüber, was er gemacht hätte. All so was. Sie haben auch über mich geredet, dass ... dass ... Ich weiß nicht mehr genau. Es hat mir Angst gemacht.“

„Und dann?“

„Ich weiß nicht“, flüstert Mamoru. „Ich glaube ... nein, ich weiß es nicht. Ich glaube, dass Sie irgendetwas Schlimmes gemacht haben, aber ... ich kann mich nicht erinnern, was es war. Ich kann mich nicht erinnern.“

„Soll ich dir verraten, was es war?“

Mamoru starrt ihn an.

„Ein Genjutsu“, antwortet Ibiki ruhig.

„Aber ... nein. Das war es nicht. Sie sind irgendwie auf mich zugekommen und haben irgendetwas gemacht, was ... was wehgetan hat, aber ... Man merkt doch, wenn das ein Genjutsu ist, oder?“

„Schau mal bitte nach rechts, Mamoru.“

Er blinzelt, dreht den Kopf und schnappt nach Luft. „Da ist ein Schmetterling!“

„Wirklich?“

„So einen großen hab ich noch nie gesehen. Der ist schön, so rot und blau. Wie kommt der hier rein?“

„Streck deine Hand aus, Mamoru“, sagt Ibiki.

Mamoru tut es, er nimmt die rechte, die mit den zweieinhalb Fingern. „Warum kommt der zu mir, Ibiki-san? Seine Beinchen sind so haarig, das fühlt sich komisch an. Aber er ist so schön.“

Langsam dreht er den Kopf, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. „Ibiki-san? Träume ich?“

„So ähnlich“, antwortet Ibiki, beugt sich hinüber und berührt seine Schulter. „Kai.“

Mamoru blinzelt hektisch, starrt seine Hand an, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. „Der Schmetterling ist weg!“

„Er war nie da, Mamoru.“

„Aber ... ich habe ihn doch ...“

Er bricht ab.

„Das, kleine Ratte, war ein Genjutsu“, sagt Ibiki mit einem gewissen Stolz.

„Aber ... Haben Sie das gemacht? Ich habe gar nichts gemerkt!“

„Natürlich nicht. Bei einem guten Genjutsu erkennt der Betroffene die Illusion gar nicht als solche.“

Mamoru schüttelt den Kopf. „Aber das war echt!“

„Du konntest den Schmetterling sehen“, erklärt Ibiki ruhig. „Anfassen auch, und falls du auf den Gedanken gekommen wärst, ihn aufzuessen, wäre auch das kein Problem gewesen. Ein Genjutsu kontrolliert alle deine Sinne und täuscht sie.“

„Aber ... wie funktioniert so was?“

„Es arbeitet nicht in erster Linie mit dem Chakra des Anwenders, sondern mit dem des Betroffenen. Also in diesem Fall mit deinem, nicht mit meinem.“

„Ich denke, ich habe kein Chakra.“

„Du hast kaum welches, und ich kann dir sagen, es war verdammt kompliziert, das Jutsu anständig anzuwenden. Aber es hat geklappt.“

Mamoru beißt sich auf die Lippe. „Und das in meinem Traum ... damals ... das war ein Genjutsu?“

„Ja.“

„Was für eins?“

„Es war eine Illusion, die dir Angst gemacht hat“, sagt Ibiki ruhig. „Willst du wirklich wissen, was für eine?“

Nach einem kurzen Zögern schüttelt Mamoru den Kopf. „Im Moment nicht. Vielleicht irgendwann.“

„Vielleicht irgendwann“, stimmt Ibiki zu.

„Aber warum haben Sie das gemacht, Ibiki-san? Ich habe doch nichts Böses getan. Oder?“

„Nein. Aber es war die schnellste und effektivste Möglichkeit, deinen Vater zum Reden zu bringen.“

„Warum?“

„Weil er dich beschützen wollte“, sagt Ibiki schroff. „Er war dein Vater, verdammt nochmal. Nur, weil jemand ein Schwerverbrecher ist, lässt es ihn nicht automatisch kalt, seinen kleinen Sohn leiden zu sehen.“

Mamoru nickt langsam, und Ibiki zögert. Sein Job mag es unter Umständen erfordern, Kinder zu verletzen, aber es ist nicht seine Scheiß-Aufgabe, besagten Kindern ins Gesicht zu sehen und ihnen den Grund dafür zu erklären. Er ist Morino Ibiki. Er hat sich vor niemandem zu rechtfertigen, ausgenommen die Hokage persönlich. Und doch.

„Es war die effektivste Möglichkeit, Mamoru. Ich habe getan, wofür ich bezahlt werde.“

„Ich weiß“, erwidert Mamoru ernst. „Weil Sie sind groß und schlau, Ibiki-san – viel schlauer als ich. Wenn Sie was entscheiden, ist das schon richtig. Und ich weiß, dass Sie ein Guter sind. Sie haben mich aus den Verliesen geholt. Sie haben das mit meiner Hand gemacht, damit ich nicht sterben musste. Ich weiß das.“

Ibiki spürt es, wenn Menschen lügen, und Mamoru sagt nichts als die Wahrheit. Er weiß, was Ibiki seinem Vater und ihm selbst angetan hat, und trotzdem nimmt er es ihm nicht übel. Legal war die Sache natürlich auch nicht, aber wo kein Kläger, da kein Richter. Insgesamt ist es wohl ein Segen, dass Mamoru ein Kind mit einem entsprechend schwarz-weißen Moralempfinden ist: Ein guter Mensch kann nur gute Dinge tun. Was für eine verkorkste Welt ist das eigentlich, denkt Ibiki, in der jemand wie er ein Guter ist? Noch dazu, weil er Mamorus Hand nur deswegen versorgt hat, weil sein Tod zu diesem Zeitpunkt Mizukis Dilemma gelöst hätte, den Jungen selbst zu töten oder ihn nach seinem Tod Ibiki zu überlassen. Und Ibiki wollte Mizuki in diesem Dilemma sehen. Warum, könnte er selbst nicht genau sagen. Rache? Scham? Langeweile?

Er reißt sich zusammen und räuspert sich. „Ja. Gut, dass wir darüber gesprochen haben, Mamoru. Aber jetzt musst du wieder schlafen. Hast du eine Ahnung, wie spät es ist? Und ich habe noch Arbeit zu erledigen.“

„Ibiki-san?“, fragt Mamoru zaghaft. „Kann ich Sie noch was fragen?“

„Was denn?“

„Ich habe bei Shintaro-san ein Foto gesehen ... von dem Team, das er früher hatte.“

Ibiki runzelt die Stirn.

„Sie waren mit Papa in einem Team. Das wusste ich gar nicht.“

„Ja, das war ich. Ich möchte dich daran erinnern, dass ich nie das Gegenteil behauptet habe.“

„Waren Sie Freunde?“, fragt Mamoru leise. „Papa und Sie.“

„Du kannst vielleicht Fragen stellen, kleine Ratte.“ Ibiki knurrt irgendetwas und sieht finster an die Wand. „Ich war nie gut in dieser ganzen Freunde-Angelegenheit. Wir waren Teamkameraden. Während unserer Missionen haben wir uns gegenseitig das Leben gerettet, für Shinobi ist das schließlich nichts Besonderes. Nachher haben wir öfters zusammen ... abgehangen, wie junge Leute das eben so machen. Wenn du all das als Freunde sein auf den Punkt bringen willst, na schön, dann waren wir Freunde. Aber in meinem Beruf macht das überhaupt keinen Unterschied. Von dem Moment an, in dem dein Vater ein Verbrecher war und ich mit seinem Verhör beauftragt wurde, kannte ich ihn nicht mehr. Er war für mich ein Untersuchungsobjekt – kein Mensch. Verstehst du das, Mamoru?“

„So einfach ist das?“, fragt Mamoru mit großen Augen.

„Ich habe nie behauptet, dass es einfach wäre“, stellt Ibiki klar. „Aber es ist notwendig. Als Shinobi muss man Arbeit und Privatleben trennen, und in meiner Stellung ganz besonders. In einem Verhör ist es mir egal, ob ein Freund oder ein Feind oder die verschollene Großmutter des Raikage vor mir sitzt. Es gibt immer nur eine Wahrheit.“

„Eine Wahrheit“, wiederholt Mamoru.

„Ja, das kannst du meinetwegen auswendig lernen. Hat das deine Frage beantwortet?“

„Ja.“

„Dann leg dich hin und schlaf“, brummt Ibiki und steht auf. „Es ist spät.“

„Ibiki-san?“

„Verdammt, was denn jetzt noch?“

„Wofür braucht man eigentlich ein Genjutsu mit bunten Schmetterlingen?“

Ibiki muss lachen. „Brauchen? Nur, um zu demonstrieren, was ein Genjutsu alles kann. Eine harmlose Spielerei.“

„Ach so“, murmelt Mamoru und kriecht unter seine Decke. Ibiki sieht ihm dabei zu und überlegt kurz.

„Du erinnerst dich doch an die Regeln, die wir aufgestellt haben, nicht wahr?“

„Ja, Ibiki-san.“

„Wie lautet die vierte Regel?“

Vierte Regel“, betet Mamoru herunter. „Wenn irgendjemand nach deinen Eltern (oder deiner Herkunft allgemein) fragt, sagst du, dass sie tot sind und du nicht darüber reden willst.

Nachdenklich kratzt Ibiki die Narbe an seiner Unterlippe. „Nein, das war nicht die, die ich meinte. Was war Nummer fünf?“

Fünfte Regel. Keine Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit, denn einer von uns beiden hat einen Ruf zu verlieren.“

„Ganz genau. Kannst du noch eine Regel hinzufügen?“

„Eine sechste?“

„Nein, besser ... Fünfte Regel, Unterpunkt eins“, sagt Ibiki. „Du erzählst niemandem, dass ich ein Genjutsu mit Schmetterlingen beherrsche, aus demselben Grund.

„Mache ich. Ich meine, mache ich nicht, Ibiki-san.“

„Recht so. Und jetzt geh schlafen, verdammt nochmal, es ist vier Uhr nachts!“

Hai!“

Mamoru zieht die Decke hoch und kneift demonstrativ die Augen zu. Einen Moment lang hat Ibiki den irrationalen Drang, ihm über die Haare zu streichen. Selbstverständlich tut er es nicht, sondern geht zur Tür und löscht das Licht.

„Gute Nacht, Mamoru.“

„Gute Nacht, Ibiki-san.“
 

*
 

Etwas zupft an ihrem Arm. „Nene?“

„Hmm“, macht Nene und dreht sich auf die andere Seite.

„Nene“, wiederholt Mikiko weinerlich. „Ich hab wieder Bauchschmerzen.“

„Was?“

„Ja.“

Mühsam öffnet Nene die Augen. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fällt schwaches Licht, aber sie kann Mikikos zerzausten Kopf erkennen.

„Musst du kotzen?“

„Nee, so schlimm nicht.“

„Willst du zu mir kommen?“

„Hm-hmm.“

„Dann komm.“

Sie hebt die Decke an, und Mikiko kriecht neben ihr ins Bett und drückt ihre kleinen, kalten Füße an Nenes Beine. Nene legt die Arme um sie.

„Bis morgen ist alles wieder gut.“

„Kann ich morgen wieder mit Mamoru spielen?“

„Bestimmt.“

„Ich mag ihn. Er ist ein bisschen komisch, aber nett. Nicht wie andere Jungen, die reden so dummes Zeug und schubsen einen, weil man ein Mädchen ist. Hat er wirklich geweint, weil er einfach müde war, Nene?“

„Ja. Er ist lange krank gewesen, deswegen war heute alles sehr anstrengend für ihn. Aber es hat ihm Spaß gemacht, glaube ich.“

„Hmm. Nene?“

„Ja?“

„Wer ist dieser andere Mann, der dabei war? Ist das Mamorus Vater?“

„Nein. Einfach ... jemand, der auf ihn aufpasst.“

„Hat Mamoru keine Eltern?“

„Sie sind tot. Er möchte nicht über sie sprechen.“

„Das hat er mir auch gesagt. Ich finde das traurig.“

„Ja. Da kannst du froh sein, dass Mama und Papa noch leben.“

„Hmm.“ Mikiko schweigt einen Moment lang. „Nene? Ich muss Hanako Blumenkind auswendig lernen, für die Akademie.“

Nene lacht. „Musste ich auch damals.“

„Kannst du es noch?“

„Klar.“

„Sing es mir vor“, verlangt Mikiko.

„Wenn du mitsingst.“

„Die Strophe mit der Schwester.“

„Die magst du, was?“

„Weil du meine Schwester bist. Ich hab dich lieb, Nene.“

„Ich dich auch.“
 

Die Schwester sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Und wenn dein Liebster stirbt, dann sag ich, freue dich!

Denn nur ein Narr, denn nur ein Kind

Beweint, die in Ehre gestorben sind.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.

Team 15, Teil vier – Es ist eine verrückte Welt.

„Guten Morgen!“

Shintaro sieht auf, als Nene auf den Tisch in der Kantine zukommt, übers ganze Gesicht strahlend, bunte Armbänder an den Handgelenken, genau wie gestern.

„Guten Morgen.“

„Morgen“, murmelt Mamoru, der über seinem Teller sitzt.

„Oh, ihr seid noch beim Frühstück?“, fragt Nene und lässt sich auf den Stuhl neben Mamoru fallen. „Sieht lecker aus!“

„Iss auf, Mamoru“, sagt Shintaro, der schon fast fertig ist. „Immer lässt du so viel liegen.“

„Genau die Hälfte!“, stellt Nene fest und späht auf Mamorus Teller. „Du hast sogar dieses Klößchen-Dings genau in der Mitte durchgeschnitten! Ist das irgendwie ein Tick von dir?“

Sie lacht, und Mamoru errötet.

„Ich habe dir gestern schon gesagt, nimm dir nicht so viel, wenn du es doch nicht schaffst“, sagt Shintaro ungeduldig. „Nie kannst du deinen Teller leer essen.“

„Ist doch nicht schlimm, Mo“, sagt Nene gutmütig und legt ihm den Arm um die Schultern. „Ich war auch nie eine große Esserin.“

„Im Gegensatz zu Mamoru siehst du aber nicht aus, als würdest du beim nächsten Windstoß fortgeweht, Nene.“

Mamoru pickt zwei letzte Reiskörner auf und legt die Stäbchen beiseite. „Mag nicht mehr.“

„Du machst mich wahnsinnig.“ Shintaro verdreht die Augen. „Was soll ich Ibiki sagen, wenn er fragt, ob du anständig gegessen hast?“

„Ibiki-san hat gesagt, ich soll so viel essen, wie ich will.“

„Allerdings, und er meinte damit, dass du dich nicht scheuen sollst, viel zu essen!“

„Hat er aber nicht so gesagt.“

„Kann ich den Rest haben?“, wirft Nene ein.

Mamoru und Shintaro starren sie an.

„Ich meine, nur, wenn du es wirklich nicht willst. Ich hab noch nicht gefrühstückt.“

„Also schön“, knurrt Shintaro. „Das ist immer noch besser, als wenn wir es wegwerfen. Gib es ihr, Mamoru.“

Mamoru schüttelt heftig den Kopf und greift nach dem Teller. „Das geht nicht, das ist für Papa! Für den muss ich doch die Hälfte übrig lassen. Weil, wenn ich aufesse, hat Papa wieder Hunger. Und ich will nicht, dass Papa Hunger hat.“

Shintaro starrt ihn an.

„Aber dein Papa ist tot, Mo“, stellt Nene das Offensichtliche fest.

Unsicher beißt Mamoru auf seiner Lippe herum. Shintaro will irgendetwas sagen, aber er weiß nicht, was.

„Also, mal eine ganz andere Frage“, fährt Nene fort. „Bist du satt, Mo?“

„Weiß nicht. Ich hab vergessen, wie sich das anfühlt, wenn man satt ist.“

„Wie sich das anfühlt?“ Nene blinzelt. „Also ... man fühlt sich, als ob man komplett ist. Wenn du Hunger hast, fehlt irgendwas in deinem Bauch. Und wenn du satt bist, dann nicht.“

Verständnislos sieht Mamoru sie an.

„Jedenfalls wird dein Papa sich riesig freuen, dass du etwas für ihn übrig lässt“, fährt Nene fort. „Ich würde das jedenfalls, wenn ich er wäre. Aber wie Shintaro-san gesagt hat, zum Wegwerfen ist das gute Essen doch zu schade. Also – isst du es, oder kann ich es haben?“

Mamoru überlegt, dann schiebt er den Teller zu Nene hinüber. „Aber nur, weil du es bist“, sagt er ernst. „Und weil Ibiki-san gesagt hat, dass ich dir vertrauen kann, und ich dich mag.“

„Das ehrt mich!“ Nene zieht den Teller zu sich heran und macht sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit über den Reis und den halben Kloß her. Shintaro beobachtet Mamoru.

„Warum erzählst du mir so etwas eigentlich nicht?“

„Was?“

„Mit ... deinem Vater.“

„Sie haben nicht gefragt“, sagt Mamoru.

Shintaro schüttelt den Kopf. „In Zukunft werde ich dafür sorgen, dass du doppelt so viel auf dem Teller hast, wie du eigentlich brauchen würdest.“

„Das ist die einfachste Lösung, Shintaro-san!“, stimmt Nene mit vollem Mund zu.

Er zögert kurz, dann gibt er sich einen Ruck. „Und wo wir gerade von einfachen Lösungen sprechen ...“

„Ja?“

„Ich habe beschlossen, mir ein künstliches Bein anzuschaffen.“

„Wirklich?“, fragt Nene begeistert.

„Ja. Ich bin heute morgen kurz beim Krankenhaus vorbeigegangen, und sie haben mir gesagt, es wäre möglich. Ich soll übermorgen noch einmal wiederkommen, für eine nähere Untersuchung.“

„Das finde ich gut!“ Über den Tisch hinweg zeigt Nene ihm den hochgereckten Daumen.

„Wie wird denn das aussehen?“, fragt Mamoru eifrig. „Kriegen Sie so ein Holzbein, wie ein Pirat?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Schade. Das hätte ich lustig gefunden.“

„Wir könnten Ihnen noch eine Hakenhand und eine Augenklappe besorgen“, fügt Nene hinzu. „Sie würden einen hervorragenden Piraten abgeben, Shintaro-san!“

Er lacht auf. „Das bezweifle ich.“

„Und einen Papagei auf der Schulter“, verlangt Mamoru.

„Ganz genau! Einen bunten, der sprechen kann!“

„Jetzt hört auf, so einen Unsinn zu erzählen. Es wird ein ganz langweiliges Ersatzbein.“

„Schade“, sagt Mamoru noch einmal, und sie müssen alle drei lachen.
 

„Was machen wir heute?“, fragt Nene, nachdem sie die Kantine verlassen haben.

„Ich habe ein wenig Papierkram zu erledigen“, antwortet Shintaro. „Das, was meine einzige Aufgabe war, bevor Mamoru gekommen ist.“

„Können wir wieder Mikiko von der Akademie abholen?“, fragt Mamoru eifrig.

„Nein, leider nicht. Sie ist heute krank.“

Mamorus Augen werden groß. „Krank? Warum?“

„Sie hat Bauchschmerzen und Übelkeit und so. Im Moment ist Mama bei ihr, aber sie muss ab halb elf im Laden arbeiten. Also werde ich bei Mikiko bleiben, ihr ein bisschen die Zeit vertreiben und so. Willst du mitkommen, Mamoru?“

„Ja!“, sagt Mamoru sofort.

„Gut! Das wird sie freuen.“

„Ihr solltet aber erst Ibiki fragen, ob das in Ordnung ist“, sagt Shintaro.

„Machen wir! Wo ist er?“

„Mamoru weiß es.“

Mamoru nickt eifrig und rennt los. „Ich hole meine Jacke!“

„Mach das!“
 

*
 

„Ibiki-san!“, ruft Nene. „Wir gehen zu mir nach Hause, Mamoru und ich.“

„Ach ja?“, sagt Ibiki und sieht Mamoru an. „Und was macht ihr dort Aufregendes?“

„Wir besuchen Mikiko. Sie ist krank.“

„Tatsächlich? Was hat sie denn?“

„Och, nur so ein bisschen Magen-Darm.“ Nene winkt ab. „Das geht gerade um.“

„Also ist es ansteckend.“

„Ja, ich glaube schon.“

„Ich will trotzdem zu Mikiko“, erklärt Mamoru. „Die ist jetzt nämlich meine Freundin. Hat sie gestern gesagt. Und ich bin ihr Freund.“

Ibikis Gesicht verdüstert sich. „Du wirst nicht gehen, Mamoru. Du bleibst hier.“

Mamorus Augen werden groß. „Warum?“

„Du bist körperlich geschwächt, dein Immunsystem ist praktisch nicht vorhanden. Wenn du dich bei dem Mädchen ansteckst, und das wirst du, könnte das dein Tod sein.“

„Aber ... wenn ich ganz vorsichtig bin? Wenn ich ...“

„Das hat mit vorsichtig nichts zu tun, in deiner Verfassung wirst du dich trotzdem anstecken. Willst du das?“

„Nein, aber ...“

„Nein, das willst du nicht. Also bleibst du hier.“

„Aber ...“

„Kein Aber!“, herrscht Ibiki ihn an. „Wie lautet die zweite Regel?“

Mamoru starrt auf seine Füße. „Zweite Regel. Du tust genau, was ...“

„Laut und deutlich, und sieh mich verdammt nochmal an, wenn du mit mir sprichst.“

Zweite Regel. Du tust genau, was ich sage.

„Möchtest du die Regel brechen, Mamoru?“

„Nein, Ibiki-san!“, sagt Mamoru, laut und deutlich.

„Na also. Und genau deswegen wirst du hier bleiben.“ Ibiki nickt Nene zu. „Wenn du zu deiner Schwester willst, geh ruhig. Shintaro kann sich um Mamoru kümmern.“

Damit dreht er sich um und geht den Gang hinunter.

„Meine Güte“, sagt Nene und lacht. „Das war aber mal eine Ansage! Vielleicht hat er schlecht geschlafen.“

„Er will immer, dass man tut, was er sagt“, murmelt Mamoru. „Sonst wird er böse. Aber ... es ist ja auch gut, was er sagt. Ibiki-san ist nämlich schlau.“

„Na, wenn du meinst. Und was machen wir jetzt?“

„Ich bleibe hier.“

„Wirklich?“

Mamoru sieht Nene an. „Sag Mikiko bitte, dass ich gerne gekommen wäre, aber es nicht geht. Okay?“

„Okay“, sagt Nene.
 

*
 

„Ich finde, Ibiki hat genau richtig entschieden“, sagt Shintaro ernst, ohne von dem Buch aufzusehen, in das er lange Reihen von Shinobi-Identifikationsnummern einträgt „Wir müssen dich erst einmal ein bisschen aufpäppeln, Mamoru. So lange solltest du dich von allem fernhalten, was dich krank machen könnte.“

„Aber Mikiko ...“, beginnt Mamoru und verstummt.

„Sie wird bald wieder gesund. Und Nene wird ihr ausrichten, dass du auch an sie denkst. Das wird sie sicher freuen.“

„So sehr, wie wenn ich da wäre?“

„So sehr vielleicht nicht“, gibt Shintaro zu. „Aber auch so wird sie schnell wieder gesund. Dieses Mädchen ist ein Ausbund an Lebendigkeit.“

„Anders als ich, meinen Sie?“, fragt Mamoru und setzt sich unter den Schreibtisch.

„Du bist auch am Leben, Mamoru. Ibiki will, dass das so bleibt. Er macht sich Sorgen um dich.“

Mamoru unter dem Tisch schweigt. Eine Weile lang hört man nur das leise Schaben von Shintaros Stift auf dem Papier.

„Mikiko hat gesagt, sie ist meine Freundin“, murmelt Mamoru. „Ich will nicht, dass sie allein ist.“

„Sie ist nicht allein. Nene ist doch da.“

„Aber ... ich bin nicht da. Und ich meine, nicht, dass ich so wichtig wäre. Mikiko hat ja ganz viele Freunde. Ich habe nur sie, also, in meinem Alter. Aber, ich meine ... sie will mir ja nichts Böses. Und trotzdem glaubt Ibiki-san, mich vor ihr ... beschützen zu müssen. So ist es doch, oder?“

Nachdenklich hält Shintaro inne.

„Ich meine, bestimmt ist es richtig, was Ibiki-san tut. Er tut überhaupt immer das Richtige, weil er schlau ist und einer von den Guten. Aber ... es ist ungerecht. Es ist so, als ob ich Angst vor Mikiko haben würde, obwohl sie mir gar nichts tun will.“

„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, Mamoru“, sagt Shintaro langsam.

„Was für eine Geschichte denn?“

„Sie ist mir gerade eben eingefallen.“

„Ich mag Geschichten.“ Mamoru setzt sich unter dem Tisch zurecht. „Erzählen Sie.“

„Es war einmal ein kleiner Junge, der wohnte in Konoha. Er hatte keinen Vater und keine Mutter mehr, weil sie beide gestorben waren. Jetzt hätte man meinen können, dass die Menschen deswegen Mitleid mit ihm hatten und sich gut um ihn kümmerten, aber das taten sie nicht. Sie hatten nämlich alle Angst vor ihm. Deswegen gingen sie ihm aus dem Weg und verboten auch ihren Kindern, mit ihm zu spielen. Und das machte den Jungen furchtbar traurig, weil er ja niemandem etwas Böses tun wollte.“

„Das ist eine traurige Geschichte“, sagt Mamoru.

„Ja, das ist sie“, stimmt Shintaro zu. „Kannst du dir denken, wieso die Menschen eine solche Angst vor dem kleinen Jungen hatten?“

„Weil er eine ansteckende Krankheit hatte?“

„Nein, das war es nicht.“

Verwirrt lugt Mamoru unter dem Tisch hervor. „Dann vielleicht, weil er ... sehr hässlich war? Sah er aus wie ein Monster?“

„Nein, überhaupt nicht. Er war ein ganz normaler, fröhlicher, kleiner Junge. Am liebsten hätte er den ganzen Tag in der Sonne gespielt und getobt und Eis gegessen ... oder was kleine Jungen eben so wollen.“

„Dann verstehe ich nicht, warum alle Angst vor ihm hatten“, sagt Mamoru fest. „Das ist ein bisschen wie mit Mikiko. Die würde ja auch viel lieber gesund sein und spielen, aber das kann sie nicht, weil sie krank ist. Und als wäre das nicht genug, muss ich auch noch Angst vor ihr haben. Also, sozusagen. Das ist ungerecht.“

„Findest du?“, fragt Shintaro.

„Natürlich! Und das mit dem Jungen ist auch ungerecht! Warum hatten alle Angst vor ihm, Shintaro-san?“

Mamorus Augen blitzen vor Empörung, und Shintaro muss beinahe lächeln, als er es sieht.

„Weil in diesem Jungen der Dämon versiegelt war, der Jahre zuvor das Dorf zerstört hatte.“

Mamoru starrt ihn mit offenem Mund an, die Fäuste noch geballt. Shintaro erwidert seinen Blick, ohne zu blinzeln.

„Aber ... das ist ...“ Mamoru schüttelt den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

„Du verstehst es nicht, weil du die Geschichte nie aus diesem Blickwinkel betrachtet hast“, sagt Shintaro ruhig. „Wenn du ein bisschen darüber nachdenkst, wirst du es verstehen.“

„Aber der Junge mit dem Dämon ist böse! Er muss doch böse sein, wenn er einen Dämon in sich hat!“

„Wenn jemand anderes kommt und dich schlägt, wirst du dann auch zum Schläger?“

„Nein. Also ... nicht unbedingt.“

„Also wirst du auch nicht böse, wenn jemand etwas Böses in dir versiegelt.“

Erneut schüttelt Mamoru den Kopf. Er verkriecht sich unter dem Tisch, und ein paar Minuten lang hört Shintaro nichts von ihm. Er wendet sich wieder seinen Zahlen zu.

„Shintaro-san?“, fragt Mamoru zaghaft.

„Ja?“

„War der Junge denn kein bisschen hässlich?“

„Wieso denn das?“

„Ich hatte mir den Dämonen-Jungen immer so vorgestellt ... mit ganz langen Zähnen und Sabber, und verfilzten Haaren, und vielleicht mit einem Schwanz hinten dran.“

„Nein, den Dämon konnte man von außen nicht sehen. Er war ein ganz normaler Junge.“

Wieder schweigt Mamoru.

„Shintaro-san?“

„Ja?“

„Ich möchte zu dem Jungen gehen und ihm sagen, dass es mir leid tut.“

„Was tut dir leid?“, fragt Shintaro und blättert eine Seite um. „Du hast ihm nie etwas getan.“

„Aber Papa. Und außerdem sagt Ibiki-san, es ist wichtig, was man denkt. Weil wenn man schlechte Dinge denkt, kann das schnell dazu führen, dass man schlechte Dinge tut. Und ich habe gedacht, der Junge wäre böse, und das tut mir leid. Und ...“ Mamoru zögert kurz. „Und außerdem ... macht es mich traurig, was Papa gemacht hat.“

Shintaro schließt die Augen.

„Er hat alles falsch verstanden“, sagt Mamoru langsam. „Papa, meine ich.“

„Ja, das hat er wohl.“

„Und er kann sich nicht mehr dafür entschuldigen. Shintaro-san?“

„Ja?“

„Glauben Sie, wenn man tot ist, weiß man alles?“

„Ich weiß es nicht. Aber ... ich denke schon, dass die Toten eine ganze Menge mehr verstehen als wir.“

„Dann wird Papa es mittlerweile auch verstanden haben“, sagt Mamoru. „Und wenn ich zu dem Jungen gehe und ihm alles erkläre, vielleicht verzeiht er Papa dann auch?“

„Das käme wohl auf den Versuch an.“

„Wissen Sie, wie der Junge heißt?“

Shintaro zögert. „Das darf ich dir nicht verraten.“

„Sie dürfen mir nicht verraten, ob Sie es wissen, oder Sie dürfen mir den Namen nicht verraten?“

„Beides.“

„Aber wenn ich zu dem Jungen gehen und mich entschuldigen will“, sagt Mamoru in einem Anflug von Panik, „dann muss ich seinen Namen doch kennen!“

„Mamoru ...“

„Und außerdem will ich ihn nicht mehr der Dämonen-Junge nennen, weil er doch einen Namen braucht! Ich bin nur so ein Kind ohne Eltern, und selbst ich habe einen Namen!“

„Er heißt Naruto.“

Shintaro zuckt heftig zusammen und hebt den Kopf. Ibiki lehnt am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Uzumaki Naruto. Und soweit ich weiß, hält er sich zur Zeit nicht in Konoha auf.“

„Aber wenn er wieder zurück ist“, sagt Mamoru eifrig, „dann will ich zu ihm gehen!“

„Das kann ich nur unterstützen, kleine Ratte.“

Ibiki betritt den Raum und geht vor Mamoru, der immer noch unter dem Tisch sitzt, in die Hocke. „Dritte Regel?“

„Die ist geheim.“

„Sehr richtig, und lautet wie?“

Dritte Regel. Es wird nicht über den Dämon gesprochen. Mit niemandem. Unter keinen Umständen. Sollte dir irgendetwas rausrutschen, will ich sofort darüber informiert werden.

„Es sieht aus, als hättest du diese Regel gerade gebrochen, Mamoru“, sagt Ibiki ernst. „Was schlägst du als Bestrafung vor?“

Shintaro hört, wie Mamoru nervös hin und her rutscht.

„Komm schon. Ich sehe, dass du etwas weißt.“

„Morgen gibt es Fisch in der Kantine“, nuschelt Mamoru.

„Dein Lieblingsessen?“

„Hm-hmm.“

„Sprich laut und deutlich mit mir.“

„Ja, Ibiki-san.“

„Du bekommst morgen keinen Fisch.“

„Nein, Ibiki-san.“

„Damit wäre das erledigt. Da fällt mir ein ... ich habe ebenfalls über den Dämon gesprochen und damit die dritte Regel gebrochen. Meine Bestrafung wird sein, dass ich morgen meinen Fisch an dich abtrete.“

„Wirklich?“

„Erste Regel?“

Erste Regel. Keine Lügen.“

„Na also. Wenn ich so etwas sage, meine ich das ernst.“

„Danke, Ibiki-san!“

Ibiki richtet sich wieder auf und sieht Shintaro an, der ein Lachen unterdrücken muss. Er schmunzelt und beugt sich etwas näher.

„Ich bin heilfroh, dass diese Dämonen-Angelegenheit endlich geklärt ist“, raunt er ihm zu. „Gute Arbeit, Sensei. Und gut, dass Sie an die Sache so unvoreingenommen herangehen können – Sie waren ja nicht da in den Jahren, in denen der junge Uzumaki ganz Konoha terrorisiert hat ...“

„Gern geschehen. Allerdings ist es verboten, über diesen Jungen zu sprechen, Ibiki. Nicht nur nach deinen Regeln, sondern per Gesetz. Das hast du nicht vergessen, oder?“

„Nein. Aber Mamoru ist sowieso noch nicht strafmündig.“

„Ich habe dabei eher an dich gedacht.“

„An mich? Ich bitte Sie, ich bin Morino Ibiki. Was soll mir schon passieren?“

„Was reden Sie da?“, fragt Mamoru neugierig und streckt den Kopf unter dem Tisch hervor.

„Erwachsenengespräch“, erwidert Ibiki und drückt ihn zurück. „Geht dich nichts an.“

„Davon steht aber nichts in den Regeln, Ibiki-san.“

„Werde nicht frech, oder ich stelle noch ganz andere Regeln auf! Geh jetzt gefälligst in dein Zimmer und ... spiel irgendetwas, oder was Kinder eben so tun. Das ist ein Befehl!“

„Ich schreibe einen Brief an den Jungen“, verkündet Mamoru. „An Naruto. Wo drin steht, dass Papa das falsch verstanden hatte und es mir leid tut.“

„Du kannst nicht schreiben, Mamoru, du kannst ein paar Hiragana malen. Aber meinetwegen versuche dich an dem Brief. Wenn ich mal nichts Wichtiges zu tun habe, werde ich sehen, ob ich ihn entziffern kann.“

„Danke, Ibiki-san!“, ruft Mamoru und läuft hinaus. Ibiki und Shintaro sehen ihm nach.

Falsch verstanden hatte er es also“, knurrt Ibiki. „Das muss die drolligste Rechtfertigung für einen versuchten Doppelmord sein, die ich jemals gehört habe. Und Sie können mir glauben, ich habe schon verdammt drollige Geschichten gehört.“

„Egal, was passiert“, sagt Shintaro langsam. „Mamoru wird niemals aufhören, nach Entschuldigungen für Mizuki zu suchen. Oder?“

Ibiki zuckt die Achseln. „Wahrscheinlich nicht. Aber solange er nicht herumläuft und Leute umbringt, soll mir alles recht sein.“
 

*
 

„Erzähl mir was“, sagt Mikiko.

Nene zieht den Vorhang halb vor das Fenster und setzt sich an ihr Fußende. „Klar. Was willst du hören?“

„Was Lustiges.“ Mikiko drückt das Kissen hinter ihrem Rücken zurecht und sieht Nene erwartungsvoll an.

„Was Lustiges?“

„Egal, was. Denk dir einfach was aus.“

Einen Moment lang überlegt Nene, dann muss sie lachen. „Nein, noch besser. Ich erzähle dir eine Geschichte, die mir selbst passiert ist.“

„Wirklich?“

„Pass auf. Wo fange ich an ...“ Nene zupft die Decke zurecht. „Also. Als ich noch ganz klein war, vor ... lass mich rechnen. Vor mehr als vierzehn Jahren.“

„Da warst du zwei“, sagt Mikiko.

„Anderhalb“, korrigiert Nene. „Shu war vier und Shinichi drei. Mama und Papa waren auf einer Mission und haben uns bei Oma gelassen. Das war Mamas Mutter.“

„Mama erzählt manchmal von ihr. War sie nett?“

„Ich weiß noch, dass sie mich immer Aoi genannt hat und allgemein ziemlich zerstreut war. Aber sie ist gestorben, als ich noch ziemlich klein war. Jedenfalls hat sie im Wald gewohnt, in einem alten Häuschen. Es gefiel ihr da, hat sie gesagt. Aber dann ist ein Dämon gekommen. Ein Fuchs. Habt ihr das an der Akademie gelernt?“

„Der Kyuubi?“, fragt Mikiko.

„Ganz genau.“

„Aber ich dachte, das wäre schon ganz lange her. Hast du ihn gesehen, Nene?“

„Nein ... also, doch, aber ich erinnere mich nicht daran. Er hat jedenfalls im Wald gewütet, und Shinobi sind gekommen und haben uns nach Konoha in Sicherheit gebracht. Also, Oma und Shinichi und Shu. Mich haben sie vergessen. Ich war ja so klein.“

„Oh je!“

„Ja, aber zum Glück ist einer von ihnen noch einmal zurückgegangen und hat mich gefunden. Er hat mich gerettet. Es war ein Junge mit dunkelgrauen Augen. Ich kann mich praktisch an nichts mehr von ihm erinnern, außer an die Augen.“

„Nene, man kann sich nicht an Sachen erinnern, die so lange her sind“, sagt Mikiko belehrend. „Du warst anderthalb Jahre alt bei dem Fuchs. Jetzt bist du sechzehn. Ich bin erst sechs, und nicht mal ich weiß, was passiert ist, als ich so klein war.“

Nene zuckt die Achseln. „Ich weiß. Aber ich erinnere mich trotzdem noch.“

„Du bist komisch.“

„Ich weiß. Vielleicht liegt's ja daran. Aber der Junge hatte diese Augen. Also, glaube ich. Kann auch sein, dass ich es geträumt habe. Nein, Moment, kann nicht sein. Ich habe ihn ja gesehen, auf einem Foto. Shintaro-san hat ein altes Bild von seinem Team im Flur hängen, das Geninteam, das er mal hatte, und da war dieser Junge drauf! Ich habe seine Augen sofort erkannt. Ich habe Shintaro-san gefragt, wo er jetzt wäre, und er meinte, er arbeitet in Ibiki-sans Abteilung. Ich habe ihn gestern sogar schon getroffen! Also, da noch ohne zu wissen, dass er es war. Ich muss ihm demnächst mal einen Strauß Blumen mitbringen, glaube ich. Dafür, dass er mir damals das Leben gerettet hat.“

„Machst du das wirklich?“, fragt Mikiko. „Einfach so?“

„Klar!“

Sie kichert. „Du bist lustig, Nene.“

„Und weißt du, was noch lustiger ist? Es ist mir im Nachhinein erst aufgefallen. Der Junge, der mir das Leben gerettet hat, heißt Tobitake Tonbo. Es ist der Sohn von Frau Tobitake, unserer Nachbarin! Er ist direkt bei uns nebenan ein und aus gegangen, kannst du dir das vorstellen? Und ich habe ihn nie erkannt. Weil ich mich nur an seine Augen erinnern konnte. Und die sind jetzt weg.“

„Warum weg?“

„Weiß nicht. Er hat einen Verband an der Stelle. Vielleicht eine Kampfverletzung oder so. Wie das Leben so spielt, was?“

„Das ist eine verrückte Geschichte“, murmelt Mikiko, und ihre Augen fallen zu.

„Tja“, sagt Nene und streicht ihr über den Kopf. „Es ist eine verrückte Welt, Mäuschen.“
 

*
 

Ibiki runzelt die Stirn, als er zufällig an der Tür zu Mamorus Zimmer vorbeikommt und bemerkt, dass dahinter immer noch Licht brennt. Es ist halb elf, der Junge müsste längst im Bett liegen.

„Mamoru? Was um Hokages Willen machst du noch so spät?“

Er drückt die Tür auf und verstummt. Mamoru ist am Tisch nach vorn gesunken, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Über die gesamte Tischplatte sind vollgeschriebene Blätter verstreut. Eines liegt direkt vor Mamoru, mit ungelenken Zeichen beschriftet. Es sind nach Gehör aneinandergereihte Laute, von Rechtschreibung kann noch keine Rede sein, aber für seinen Einsatz verdient der Junge eine glatte Eins. Am Schreibtisch eingeschlafen, also wirklich.

Behutsam zieht Ibiki den Brief unter Mamorus schlaffer Hand hervor und beschließt, ihn wie versprochen Probe zu lesen. So leise wie möglich tritt er wieder auf den Gang hinaus.

„Ist irgendwas passiert?“, fragt Tonbo, der gerade vorbeiläuft.

„Was?“

„Ob etwas passiert ist. Es sah gerade fast aus, als würdest du lächeln.“

„Unsinn“, sagt Ibiki schroff. „Mamoru ist am Tisch eingeschlafen. Würdest du ihn mal eben ins Bett legen und zudecken, damit der Junge sich keine Erkältung holt?“

Tonbo sieht ihn schief an. „Kannst du das nicht selbst?“

„Nein“, antwortet Ibiki, dreht sich um und geht.
 

*
 

„Deine Frau kommt mir recht jung vor, Shintaro“, sagt Kaede überrascht. „Aber ein sehr fröhliches Mädchen hast du dir ausgesucht. Das freut mich.“

„Nene ist nicht meine Frau, Mutter!“, sagt Shintaro bestürzt.

„Und das ist wohl euer Sohn?“, fährt sie unbeirrt fort. „Ihr solltet dem Jungen mehr zu Essen geben. Aber abgesehen davon ist er hinreißend. Auch, wenn er dir nicht ähnlich sieht.“

„Mamoru ist auch nicht unser Sohn!“

Kaede sieht ihn an. „Was?“, fragt sie, plötzlich sehr müde. „Habe ich keine Enkel?“

Er reißt sich zusammen. „Du hast zwei. Nene und Mamoru sind beide deine Enkel.“

Ihr Gesicht hellt sich auf. „Ich wusste es! Lass dich umarmen, Shintaro.“

Er streckt die Arme nach ihr aus, und das Traumbild zerfließt zwischen seinen Fingern zu Rauch. Shintaro liegt auf dem Rücken in seinem Bett. Die Sonne geht gerade erst auf, in zehn Minuten klingelt der Wecker.

„Ich habe ein neues Leben, Mutter“, sagt Shintaro leise. „Es spielt sich in einer Geheimdienstabteilung ab, in einer der schlimmsten, wie Ibiki dir sagen könnte. Und ich habe nirgendwo so wunderbare Menschen getroffen wie dort. Es ist eine verrückte Welt.“

Team 15, Teil fünf – Wir haben nicht einmal einen Sensei!

„Auf Nene.“

„Auf Nene!“

Die Gläser stoßen über dem Restauranttisch gegeneinander, so heftig, dass Mikiko sich ihre eigene Limonade über die Hand schüttet und anfängt zu lachen.

„Ich verstehe immer noch nicht, wieso es so ausführlich gefeiert werden muss, dass Nene endlich auch mal die Chuunin-Prüfung bestanden hat“, bemerkt Shinichi spöttisch. „Das wurde mit siebzehn ja wirklich Zeit.“

„Einige brauchen eben etwas länger als andere“, erwidert Papa. „Aber falls sie dich zum Jounin befördern sollten, werden wir das genauso feiern.“

„Was heißt denn hier falls? Natürlich werden sie!“

„Ich weiß immer noch nicht, wie du die Prüfung geschafft hast“, sagt Shuichi kopfschüttelnd zu Nene. „Und Naoko und Tatsumi aus deinem Team auch. Dabei seid ihr immer noch der reinste Hühnerhaufen.“

„Kein Wunder“, sagt Mama. „Nene hat das letzte Jahr über mehr Zeit mit diesen ANBU-Leuten verbracht als mit ihrem eigenen Team.“

„Was hattest du mir versprochen, Mama?“, fragt Nene und fuchtelt mit den Stäbchen in ihre Richtung. „Wenn ich es zum Chuunin schaffe, wirst du mich nie wieder damit nerven, dass Mamoru und Shintaro-san schlechter Umgang für mich sind.“

„Genau, Mama!“ Mikiko drängelt sich auf Nenes Schoß. „Hast du versprochen!“

Sie kichert aufgedreht und schlingt die Arme um Nenes Hals.

„In dieser Limonade muss irgendetwas Falsches drin sein“, sagt Shinichi grinsend. „Unsere Mikiko kommt heute Abend wieder nicht ins Bett.“

„Also gut, ich gebe mich geschlagen.“ Mama lächelt und füllt ihr Glas nach. „Sowieso wirkt Shintaro-san wie ein vernünftiger Mann. Hat Mamoru eigentlich langsam ein wenig zugenommen?“

„Ein bisschen. Aber nicht so, dass Ibiki-san zufrieden wäre.“

„Du solltest den Jungen mal wieder zum Essen einladen, Nene.“

„Kann ich machen. Wann gibt es Fisch?“

„Gleich morgen.“

„Super! Dann werde ich ihn fragen. Das wird er sich nicht entgehen lassen.“
 

*
 

„Ist Mikiko auch beim Essen?“, ist Mamorus erste Frage.

„Klar.“

„Dann komme ich gerne.“

„Gut!“, sagt Nene. „Haben Sie gehört, Shintaro-san? Mamoru kommt heute zum Essen zu mir.“

Shintaro gibt einen undefinierbaren Laut von sich und schreibt weiter in das Buch vor ihm.

„Das heißt, Sie müssen allein zu Mittag essen.“

„Hmmm.“

„Also, viel gesprächiger sind Sie nicht geworden, seit Sie ein zweites Bein haben.“

„Ich spreche auch nicht mit den Beinen“, erwidert Shintaro knapp. „Hör auf damit, Nene.“

Sie klopft gegen sein rechtes Bein aus Metall, das unten aus der Hose heraus ragt. Shintaro hat es lieber, wenn man das Metall sieht, hat er gesagt. Es war schwer genug, sich nach mehr als dreizehn Jahren daran zu gewöhnen, überhaupt wieder zwei Beine zu haben. Außerdem sieht er jetzt ein bisschen wie ein Roboter aus, sagt Mamoru, und das ist aufregend.

„Ich sagte, hör auf damit. Und jetzt macht weiter, wir wollen heute noch fertig werden.“

Nene und Mamoru sitzen auf dem Boden in einem Raum der ANBU, mitten in einem Haufen Fotos. Es sind Bilder aus Verbrecherakten, immer drei gehören zur selben Person, Frontal, Profil, Halbprofil. Die beiden sortieren sie, und Shintaro nummeriert die fertigen Dreiergrüppchen durch und trägt sie in eine Liste ein.

„Wie sind diese Fotos überhaupt so durcheinander geraten?“, fragt Nene.

„Irgendein verdammter Vollidiot hat den Scheiß-Karton fallen gelassen“, antwortet Mamoru geistesabwesend.

„Ach ja?“

„Hat Ibiki-san gesagt.“

„Du solltest dir an Ibikis Ausdrucksweise besser kein Beispiel nehmen“, brummt Shintaro. „Besonders nicht, wenn du zum Mittagessen eingeladen bist.“

„Nicht, dass Mama glaubt, du hättest einen schlechten Einfluss auf Mikiko“, fügt Nene lachend hinzu.

Mamoru scheint nicht richtig bei der Sache zu sein. Er schiebt das Bild eines Mannes mit auffallend großen Ohren hin und her und kaut auf seiner Lippe.

„Holen wir Mikiko heute wieder von der Akademie ab?“

„Ja.“

„Sie ist schon in der zweiten Klasse, oder?“

„Ja, ist sie. Und es macht ihr immer noch Spaß!“

„Wann wird sie Genin?“

Nene zuckt die Achseln. „Je nachdem. Vier oder fünf Jahre wird es bestimmt noch dauern.“

„Und dann kommt sie in ein richtiges Team“, sagt Mamoru trübselig. „Mit einem Sensei und allem.“

„Ich denke mal, ja.“

„Ich werde nie ein Team haben. Nur, weil ich nicht auf die Akademie kann.“

„Fang nicht wieder an, zu diskutieren“, sagt Shintaro warnend. „Du könntest an keinem Fach teilnehmen, außer vielleicht Lesen, Schreiben und Rechnen, was ich dir beibringe. Deine Chakrakontrolle wird sich niemals erholen, und Taijutsu steht bei deiner körperlichen Verfassung nicht zur Debatte.“

„Ich diskutiere ja gar nicht. Ich bin nur traurig.“

„Aber das ist doch alles halb so schlimm, Mo“, sagt Nene und legt ihm den Arm um die Schultern. „Wir beide können dein Team sein, Shintaro und ich! Nicht wahr, Shintaro-san?“

Shintaro brummt nur etwas.

„Aber Shintaro-san ist kein Genin“, sagt Mamoru ernst. „Und du auch nicht. Also könnt ihr nicht in ein Genin-Team.“

„Man muss nehmen, was man kriegen kann“, sagt Nene munter. „In der Not frisst der Teufel Fliegen. Oh, hast du den mit dem einen Auge? Das ist meiner! Danke.“

Sie hebt das Foto auf, legt es zufrieden zu den zwei passenden und klatscht den Stapel auf Shintaros Schreibtisch. Mamoru überlegt immer noch.

„Wenn wir also ein Team wären, wie würden wir uns dann nennen?“

„Wir könnten uns etwas Lustiges ausdenken. Die legendären Sannin oder so!“

„Die gibt es schon“, sagt Shintaro trocken. „Genin-Teams sind entweder nummeriert oder nach ihrem Sensei benannt.“

„Team fünfzehn“, sagt Nene kurz entschlossen. „Das ist meine Lieblingszahl!“

„Und einen Sensei haben wir auch nicht“, murmelt Mamoru.

„Shintaro-san ist der Sensei, ist doch klar!“

„Aber wir brauchen doch drei Mitglieder und den Sensei.“

„Man kann es dir einfach nicht recht machen, Mamoru“, tadelt Nene ihn und schiebt ihm ein Profilfoto einer Frau mit Haarknoten zu. „Dann holen wir eben Mikiko noch dazu, damit wir zu viert sind.“

„Aber die ist doch erst Akademieschülerin, nicht Genin.“

„Du bist noch nicht einmal Akademieschüler.“

„Nene“, sagt Shintaro scharf.

„Was denn?“

„Hör doch auf, das Mamoru ständig unter die Nase zu reiben.“

„Aber es stimmt doch!“

Shintaro seufzt und wirft einen Blick auf die Uhr. „Es ist schon fast halb zwei. Wollt ihr nicht langsam aufbrechen, wenn ihr Mikiko abholen wollt?“

„Was, schon so spät?“ Nene rappelt sich auf. „Na, dann komm, Mamoru! Wir gehen. Bis später, Shintaro-san!“

„Viel Spaß“, sagt Shintaro, den Blick schon wieder in sein Buch gerichtet.

„Dieser alte Brummelsack“, raunt Nene Mamoru zu und kichert. „Vielleicht sollten wir ihn beim nächsten Mal auch zum Mittagessen einladen.“

„Er hätte ein Piraten-Holzbein nehmen sollen“, sagt Mamoru ernst. „Das hätte ihm bestimmt auch Spaß gemacht.“
 

*
 

„Ihr seid spät!“, schreit Mikiko ihnen entgegen, und wie um sich dafür zu rächen, kommt sie nicht sofort zu Nene und Mamoru herüber. Sie spielt mit ein paar anderen Kindern, die noch niemand abgeholt hat, rund um die alte Schaukel auf dem Schulhof der Akademie. Ein Lehrer in Chuunin-Uniform lehnt neben dem Schultor und wirft wachsame Blicke abwechselnd auf die spielenden Kinder und auf die Straße.

„Guten Tag, Iruka-sensei“, sagt Nene fröhlich.

„Oh, Nene. Schön, dich mal wieder zu sehen.“ Iruka lächelt sie an und nickt Mamoru zu. „Hallo, Mamoru.“

„Hallo“, antwortet Mamoru, weil Ibiki-san sagt, er soll immer brav grüßen. Iruka ist nett, aber Mamoru findet ihn irgendwie seltsam, seitdem er mal gesagt hat, er würde Mamoru von irgendwo kennen, wisse aber nicht, woher. Und außerdem ist er Mikikos Sensei, und Mamoru ist ein bisschen neidisch, weil er keinen hat. Obwohl Ibiki-san sagt, dass Neid etwas Schlechtes ist.

Mikiko kommt auf sie zu gerannt, die Schultasche an einem Riemen über der Schulter, die Zöpfe ein wenig zerrupft. „Hallo, Mamoru!“

„Hallo, Mikiko.“

„Ich hab ein Bild für dich gemalt!“

„Oh“, sagt Mamoru mit großen Augen. „Danke.“

Nene lacht und nimmt Mikiko an die Hand. „Also, gehen wir. Tschüs, Iruka-sensei.“

„Bis morgen, Iruka-sensei!“, ruft Mikiko. „Gehen Sie auch nach Hause?“

„Oh, nein. Ich warte noch auf einen Freund.“

„Was für ein Freund?“, fragt Mikiko neugierig.

„Er war lange auf einer Trainingsreise, aber jetzt ist er wieder da, und ...“ Iruka lacht und nickt in Richtung von irgendetwas hinter Mamoru. „Wenn man vom Teufel spricht. Da kommt er ja.“

„Iruka-sensei!“

Ein Junge rennt auf sie zu, ungefähr in Nenes Alter. Er fällt Iruka um den Hals, und Iruka stolpert einen Schritt zurück.

„Naruto! Nicht so übermütig, du bist schwerer als noch vor zweieinhalb Jahren!“

„Naruto?“, rutscht es Mamoru heraus.

Der Junge lässt Iruka los und tritt einen Schritt zurück, breit grinsend. Seine Augen sind blau wie der Himmel.

„Das ist ... das ist ...“, flüstert Mamoru, in dessen Kopf sich alles dreht. Himmelblaue Augen. Keine Reißzähne, keine Krallen, kein tropfender Sabber.

„Was ist denn?“, fragt Mikiko.

„Ich freu mich so, Sie wieder zu sehen, Sensei!“ Naruto kann nicht stillstehen und boxt Iruka spielerisch auf den Arm, noch immer über beide Ohren grinsend. „Wir gehen zu Ichirakus, oder? Sie geben einen aus, oder? Oder?“

Mamoru nimmt seinen ganzen Mut zusammen, reckt das Kinn und zupft Naruto am Ärmel. „Naruto?“

Überrascht sieht er hinunter. „Ja? Wer bist du denn? Neue Schüler von Ihnen, Iruka-sensei?“

„Nicht ganz“, erklärt Iruka. „Mikiko schon, aber ...“

„Ich heiße Mamoru“, sprudelt es aus Mamoru hervor. „Ich kenne dich gar nicht, aber mein Papa hat ... hat gesagt, dass du böse wärst, und ich habe ihm geglaubt. Und er hat versucht, dich umzubringen, und ich fand es gut. Aber jetzt finde ich es nicht mehr gut. Und ich bin traurig deswegen, und ... ich wollte sagen ... es tut mir leid.“

Verständnislos sieht Naruto ihn an. „Äh ... langsam, Kleiner, langsam. Wer bist du?“

„Mein Papa hat versucht, dich umzubringen.“

„Das haben schon einige versucht, weißt du?“ Naruto lacht. „Wie heißt denn dein Papa?“

„Mizuki.“

Einen Moment lang scheint Naruto mit dem Namen nichts anfangen zu können, aber dann verdüstert sein Gesicht sich schlagartig.

„Mizuki?“, wiederholt Iruka fassungslos, aber niemand beachtet ihn.

„Ich wollte sagen, dass es mir leid tut“, murmelt Mamoru und sieht Naruto unsicher an. „Wollte ich nämlich.“

„Hör mal gut zu, Kleiner“, sagt Naruto langsam. Seine Fäuste zittern, er beherrscht sich nur mit Mühe. „Dieses Schwein hat nicht nur versucht, mich umzubringen, sondern Iruka-sensei auch. Das ist zwar schon ein Weilchen her, aber ich nehme ihm das ziemlich übel. Ich bin deshalb nicht sauer auf dich, du bist nur sein Sohn, und dafür kannst du ja nichts. Aber ich verstehe nicht, wieso du ankommst und sagst, es täte dir leid. Er soll kommen und sagen, dass es ihm leid tut, und zwar soll er es verdammt nochmal so sagen, dass ich ihm glauben kann!“

Mamoru schießen die Tränen in die Augen.

„Nimm's nicht persönlich, Mamoru, aber das ist die Wahrheit. Ich finde es nobel, dass du nicht denkst wie er, aber ...“

„Aber er kann ja nicht kommen und sagen, dass es ihm leid tut!“, unterbricht Mamoru ihn schrill. „Wenn er doch tot ist!“

Naruto hält inne, und langsam weicht der wütende Ausdruck auf seinem Gesicht dem von Verwirrung.

„Tot? Er ist tot? Aber ... seit wann?“

„Ganz lange schon. Seit einem Jahr ungefähr.“

„Woran ist er gestorben?“

„Er wurde eingesperrt für das, was er getan hat. Er ist krank geworden und hat angefangen, zu husten und Blut zu spucken. Und dann bin ich irgendwann nachts aufgewacht, und sein Herz hat nicht mehr geschlagen, und er war tot.“

Stille tritt ein. Mikiko drückt sich Schutz suchend an Nenes Bein, die ziemlich verwirrt wirkt. Iruka hat sich von ihnen abgewandt und starrt auf den Boden.

„Sag mal, Mamoru“, sagt Naruto langsam.

„Ja?“

„Bevor er gestorben ist ... hat er je gesagt, dass es ihm leid tut?“

Mamoru beißt auf seiner Lippe herum. Er will nicht die Wahrheit sagen, aber die erste Regel lautet Keine Lügen. Ibiki-san wird böse.

„Nein.“

Naruto verengt die Augen und nickt.

„Aber vielleicht hätte er ja!“, fügt Mamoru hastig hinzu. „Er hatte ja gar keine Chance, sich zu entschuldigen! Vielleicht, wenn er ...“

„Das ist sinnlos“, unterbricht Naruto ihn. „Ich hätte gewollt, dass er mich akzeptiert. Wem bringt es denn etwas, wenn er stirbt, bevor er das tut?“

Mamoru sieht ihn unsicher an.

„Weißt du was, Mamoru?“

„Was?“

Naruto greift nach seinen Schultern. Man sieht seinem Grinsen an, wie viel Mühe er sich dafür geben muss.

„Eines Tages werde ich Hokage.“

„Wirklich?“

„Ja! Und wenn ich Hokage bin, dann werde ich dafür sorgen, dass jeder die Chance bekommt, sich zu entschuldigen.“

„Jeder?“, fragt Mamoru hoffnungsvoll.

„Absolut jeder“, sagt Naruto fest. „Wie findest du das?“

„Das finde ich gut.“

„Ja, nicht?“ Naruto nickt und lässt ihn los. „Und falls ich eines Tages, wenn ich Hokage bin, das vergessen haben sollte – ich bin nämlich manchmal ein bisschen vergesslich –, dann hast du persönlich die Erlaubnis, mich daran zu erinnern. Abgemacht?“

„Abgemacht!“

„Sehr gut.“ Naruto boxt ihm leicht auf den Arm. „Und jetzt gehen Iruka-sensei und ich etwas essen, ich habe einen Mordshunger. Mach's gut, Mamoru!“

„Du auch“, murmelt Mamoru.

Naruto grinst, winkt Nene und Mikiko und wendet sich zum Gehen. Iruka will ihm folgen, bleibt aber noch einmal stehen und mustert Mamoru von Kopf bis Fuß.

„Ich wusste doch, dass ich dich irgendwo her kenne. Mizukis kleiner Mamoru. Ich hätte darauf kommen müssen.“

„Dass Papa auch versucht hat, Sie umzubringen, wusste ich nicht“, sagt Mamoru hastig. „Wirklich nicht! Es tut mir leid.“

Iruka schüttelt entschieden den Kopf. „Dir braucht gar nichts leid zu tun.“

„Es macht mich traurig“, korrigiert Mamoru sich, und Iruka lächelt.

„Ich finde es schade, dass du traurig bist, Mamoru. Meinetwegen brauchst du das nicht zu sein.“

„Kommen Sie schon, Sensei!“, ruft Naruto, und Iruka läuft ihm nach.
 

*
 

„Ich hab's dir ja immer gesagt“, sagt Mizuki zufrieden zu Ibiki. „Zu meinen Lebzeiten sehe ich Shintaro-sensei nicht mehr nach Konoha zurückkommen.“

„Du hast geschummelt“, erwidert Ibiki trocken.

„Hab ich nicht!“

„Mit Ende zwanzig an galoppierender Schwindsucht zu verenden, ist schummeln. Das ist doch kein Tod für einen Shinobi.“

„Es war ja nun nicht vollständig meine Schuld, oder?“

„Aber zu einem guten Teil.“

„Na toll, ihr beiden“, knurrt Tonbo. „Jetzt habt ihr ihn aufgeweckt.“

Die drei Jungen hocken auf der Schreibtischkante, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, Ibiki fast narbenfrei, Tonbo mit Augen und Mizuki lebendig. Ungläubig starrt Shintaro sie an.

„Guten Morgen, Shintaro-sensei“, sagt Ibiki freundlich. „Tut uns leid, dass wir Sie geweckt haben.“

„Träume ich?“, fragt Shintaro langsam.

„Ja“, antwortet Mizuki.

„Oh. Na dann.“

Eine Weile lang sitzen sie da, sehen einander an und lächeln.

„Ich dürfte nicht träumen“, stellt Shintaro fest. „Ich dürfte nicht einmal schlafen. Ich habe Arbeit zu erledigen.“

„Ach, dafür haben Sie später noch genug Zeit“, winkt Ibiki ab. „Das ist doch sowieso nur eine Art Beschäftigungstherapie.“

„Wirklich?“

„Klar.“

„Ich habe gehört, Sie haben ein neues Team“, sagt Mizuki.

„Wir sind kein Team. Wir sind eine sozial völlig inkompetente Kunoichi, ein neunjähriger Zivilist auf Lebenszeit und ein ausrangierter Jounin, also ich.“

„Klingt doch super!“

„Sozial völlig inkompetent?“, fragt Tonbo. „Das erklärt, wieso Nene seit fast einem Jahr hier herum hampelt und es noch nicht geschafft hat, mich darauf anzusprechen, dass ich ihr damals das Leben gerettet habe.“

„Das kommt bestimmt noch“, sagt Shintaro. „Sie ist ja jung, da hat man noch Zeit.“

„Wie alt ist sie jetzt?“

„Siebzehn.“

„Genauso alt wie du in diesem Traum, Tonbo“, stellt Ibiki fest. „Sie könnte glatt deine große Liebe werden.“

„Oh, nein, danke. Romantik zählt nicht zu unseren Genres.“

„Welche Genres?“, fragt Shintaro.

„Und der Zivilist auf Lebenszeit ist wohl mein Sohn?“, mischt Mizuki sich ein.

„Es klingt krank, wenn du das als Sechzehnjähriger sagst“, brummt Ibiki.

„Ist doch aber wahr! Darf ich als Vater vielleicht erfahren, warum der Junge nach einem Jahr immer noch in einer Abstellkammer der ANBU schläft, obwohl er Angst vor Menschen mit ANBU-Masken hat?“

„Weil der Plot sonst nicht so gut funktionieren würde“, antwortet Ibiki achselzuckend.

„Welcher Plot?“, fragt Shintaro.

„Er hält sich jedenfalls ganz gut von den Masken fern“, sagt Tonbo.

„Na, immerhin etwas.“

„Und wie geht es Ihnen so, Shintaro-sensei?“, fragt Ibiki.

„Wir sehen uns fast täglich, Ibiki.“

„Aber ich frage Sie nicht täglich, wie es Ihnen geht.“

„Ganz gut.“

Die drei Jungen tauschen einen Blick, und Shintaro seufzt.

„Wenn das Wetter umschlägt, tun die Narben weh, besonders am rechten Bein. Aber sonst geht es mir hervorragend.“

„Das hört man gern.“

„So, Jungs.“ Ibiki lässt sich von der Schreibtischkante rutschen. „Wir sollten besser gehen und Shintaro-sensei aufwachen lassen. Er soll ja nicht den ganzen Tag verschlafen.“

„Wie du meinst.“

„Auf geht's.“

Sie stehen auf und wenden sich zur Tür.

„Wo geht ihr hin?“, fragt Shintaro erschrocken.

„Dahin, wo Traumfiguren hingehen, wenn man aufwacht“, antwortet Tonbo.

„Aber wir kommen wieder“, fügt Ibiki hinzu. „Verlassen Sie sich drauf.“

„Passen Sie gut auf Mamoru auf“, sagt Mizuki und lächelt. „Versprechen Sie mir das?“

„Und auf Nene“, ergänzt Tonbo. „Sie ist selbst nicht die aufmerksamste Kunoichi, und ich will ihr nicht umsonst das Leben gerettet haben.“

„Das tue ich“, murmelt Shintaro. „Ich passe auf die beiden auf. Versprochen.“

Er hat die Worte noch auf den Lippen, als er aufwacht.
 

*
 

„Warum hat dein Vater gedacht, dieser Naruto wäre böse?“, fragt Mikiko. „Wer ist das überhaupt?“

„Niemand“, sagt Mamoru schnell.

„Niemand? Wieso niemand?“

„Mamoru redet nicht gern über alles, was mit seinem Vater zu tun hat, Mikiko“, sagt Nene ernst. „Der ist nämlich tot.“

„Ach so. Das wusste ich nicht. Also, dass du nicht darüber reden willst, Mamoru.“

„Lass es gut sein, Mäuschen.“

Eine Weile lang laufen sie schweigend die Straße entlang, Mikiko hüpft an Nenes Hand auf und ab.

„Ende der Woche sind wieder Genin-Prüfungen“, erklärt sie. „Das wird toll!“

Mamoru schreckt auf. „Wirklich? Wirst du dann Genin?“

„Nein, natürlich nicht! Aber wir haben immer frei, wenn die höheren Klassen die Prüfung machen. Das ist super!“

„Ach so“, murmelt Mamoru und sieht auf den Boden.

„Wir können irgendetwas zusammen machen an dem Tag“, sagt Nene munter. „Ein Eis essen gehen oder so. Du kommst doch auch mit, oder, Mamoru?“

„Wenn Ibiki-san es erlaubt.“

„Das wird er bestimmt.“

„Aber wenn ich in ein paar Jahren Genin werde“, sagt Mikiko nachdenklich, „dann will ich in ein Team mit Yuki und ... mit dir, Mamoru.“

„Das geht nicht“, sagt Mamoru leise. „Ich werde niemals Genin.“

„Dann mit Yuki und Koza“, entscheidet Mikiko. „Du hast ja sowieso schon dein eigenes Team, Mamoru.“

„Welches meinst du?“

„Mit Nene und Shintaro-san.“

„Wir sind aber kein richtiges Team!“, sagt Mamoru wütend. „Wir haben nicht einmal einen Sensei!“

„Habt ihr wohl“, sagt Mikiko verblüfft und zupft ein Blatt aus einer Hecke. „Ibiki-san ist doch euer Sensei.“

Mamoru starrt sie an, und Nene fängt an zu lachen.

Team 15, Teil sechs – Ich züchte bunte Schmetterlinge.

„Wann ist das Essen endlich fertig, Mama?“, fragt Mikiko und rutscht auf ihrem Platz am Küchentisch hin und her.

„Gleich“, antwortet Mama zum vierten Mal. „Es geht nicht schneller, wenn du ständig fragst. Nimm dir ein Beispiel an Mamoru, der wartet brav.“

Mamoru errötet leicht, und Nene lacht.

„Aber ich kann nicht warten“, sagt Mikiko entschieden. „Das können nur Mamoru und Hanako.“

„Welche Hanako?“

„Na, die aus dem Lied. Die wartet die ganzen Zeit. Auf ihren Liebsten.“

„Ach so.“ Mama lacht, während sie geschnittenes Gemüse in die Pfanne gibt. „Dann sing uns doch das Lied einmal vor, um die Zeit zu vertreiben.“

„Ich hab den Anfang vergessen“, murrt Mikiko und sieht Mamoru an. „Weißt du, wie das anfängt?“

„Das Lied von Hanako?“, fragt Mamoru. „Nein. Ich kenne nur die Strophe mit dem Sohn.“

„Mit dem Sohn?“, wiederholt Mama und sieht sich aufmunternd zu ihm um. „Die kenne ich gar nicht. Lass mal hören, Mamoru ... oh nein, die Möhren!“

Schimpfend rückt sie die Pfanne vom Herd. Mamoru runzelt die Stirn und singt sehr zaghaft vor. Ein bisschen ist er mittlerweile wieder zu Kräften gekommen, aber seine Stimme ist immer noch so brüchig.
 

Das Söhnchen sprach zu Hanako: Hanako, weine nicht!

Wenn alles auch zugrunde geht, ich brauche dich.

Konoha ist blind, Konoha ist taub,

Konoha hat mir den Vater geraubt.

Nicht weinen sollst du, Hanako, Hanako,

Konohas schönstes Kind.
 

„Das ist eine seltsame Strophe, Mamoru“, sagt Mama langsam. „Wo hast du die her?“

Mamoru zuckt die Achseln. „Hat mein Papa mir beigebracht.“

„Sie klingt traurig“, sagt Mikiko. „Nene kann eine lustigere. Stimmt doch, Nene?“

„Welche meinst du?“

„Die mit dem Gemüse!“

„Oh, ja.“ Nene lacht auf. „Ich kann sie dir beibringen, Mamoru.“

„Aber nicht jetzt, Nene!“, sagt Mama und schüttet die Möhren aus der Pfanne in eine Schüssel. „Jetzt wird gegessen.“

„Essen!“ Mikiko streckt die Arme aus. „Ich will zuerst!“
 

*
 

„Was habt ihr jetzt schon wieder angestellt?“

„Gar nichts, Ibiki-san!“

„Verarscht mich nicht!“, faucht Ibiki Izumo und Kotetsu an. „Die Unterlagen, die ihr eingereicht habt, stimmen vorne und hinten nicht! Was habt ihr gemacht? Dasselbe Blatt mit Zahlen dreißigmal kopiert?“

„Das ging jedenfalls schneller als von Hand schreiben“, murmelt Kotetsu.

„Es kommt nie wieder vor, Ibiki-san!“, beteuert Izumo.

„Und wenn doch, seid ihr euren Job los, verlasst euch darauf. Shintaro-sensei! Ich hoffe, Sie haben Ihre Aufzeichnungen nicht kopiert.“

Shintaro kommt näher, hält Ibiki die Mappe in seiner Hand hin und hebt die Augenbrauen. „Wer macht denn sowas?“

„Fragen Sie die beiden da“, knurrt Ibiki.

„Ibiki-san weiß unsere intelligenten Arbeitsvermeidungsstrategien nicht zu schätzen“, wendet Izumo sich klagend an Shintaro.

„Genau. Kein Sinn für Innovation.“

„Ich gebe euch gleich Innovation! Ihr geht zurück auf euren Posten, und zwar plötzlich. Eure Schicht dauert noch drei Stunden.“

„Können wir uns vorher noch einen Kaffee kochen?“

Kochen nennt ihr das? Eine Kaffeemaschine in euren Händen ist eine Massenvernichtungswaffe. Das Gesöff würde ich keinem Menschen zumuten! Na, vielleicht einem Verdächtigen.“

„Wir stecken voller ungeahnter Talente.“

„Also schön, tut, was ihr nicht lassen könnt.“

„Besten Dank, Ibiki-san!“

„Schönen Tag noch!“

Die beiden gehen, und Ibiki seufzt.

„Ich weiß nicht. Im Grunde bin ich mit der Arbeit der beiden zufrieden, aber ... ich habe nicht das Gefühl, dass sie so recht in diese Abteilung passen. Sie bringen zu viel ... Farbe hier herein.“

„Du solltest ein wenig lockerer werden, Ibiki“, sagt Shintaro.

„Oh, das haben Sie jetzt nicht wirklich gesagt.“

„Doch.“

„Warum wollen mich heute eigentlich alle auf den Arm nehmen? Wo ist meine Autorität geblieben?“

Shintaro lacht auf. „Das musst du dich selbst fragen, nicht mich.“

Ibiki schüttelt den Kopf und nickt nach vorn. „Sehen Sie mal. Da kommen schon die nächsten Kandidaten.“

„Die nächsten, die dich auf den Arm nehmen wollen?“

„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand.“

Am Ende des Ganges sind Nene und Mamoru aufgetaucht. Sie kommen langsam näher und lachen über irgendetwas.

„Wo waren die beiden?“, fragt Ibiki.

„Mamoru war bei Shimokawas zum Essen eingeladen.“

„Oh, schön. Dann kann er mal sehen, wie es in einer normalen Familie zugeht. Das ist schließlich etwas, das ihm hier fehlt.“

„Warum genau lebt er immer noch im ANBU-Hauptquartier?“

„Weil mir noch keine vernünftige Alternative eingefallen ist für einen Jungen, der keine Papiere hat und offiziell gar nicht existiert.“

„Trotzdem ist es ziemlich bizarr, dass er seit einem Jahr hier herumstreunt.“

„Natürlich haben Sie völlig recht.“ Ibiki vergräbt das Gesicht in den Händen und seufzt tief. „Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, meine Abteilung verkommt zu einem Kindergarten! Alles, was ich aufgebaut habe ...“

„Nimm es nicht so schwer, Ibiki.“

„Ibiki-san!“, ruft Nene schon von Weitem. „Ibiki-san! Wir haben uns etwas ausgedacht!“

„Was denn?“, fragt Ibiki mühsam beherrscht, und Shintaro muss ein Lachen unterdrücken. Nene kommt näher, strahlend wie üblich, Mamoru an der Hand.

„Wir haben überlegt, dass Mamoru ja kein Team haben kann, weil er nie Genin wird. Und deswegen werden einfach Shintaro-san und ich sein Team sein!“

Ibiki zuckt die Achseln. „Wenn es euch Spaß macht, von mir aus.“

Shintaro blinzelt verwirrt. „Ich hatte das mit dem Team für einen Scherz gehalten.“

„Wir haben es ernst genommen!“

„Und dann habt ihr einfach über meinen Kopf hinweg entschieden, das durchzuziehen, ja?“

„Wenn wir Sie gefragt hätten, wären Sie ja dagegen gewesen“, sagt Mamoru ernst. „Also haben wir Sie nicht gefragt.“

„Eine Nummer haben wir auch schon“, fährt Nene fort. „Nämlich Team 15, weil das meine Lieblingszahl ist. Die sieht so lustig aus! Und alles, was wir jetzt noch brauchen, ist ein Sensei.“

Ibiki hebt die Augenbrauen. „Ich ahne Schreckliches.“

„Wir haben beschlossen, dass wir uns Team Ibiki nennen!“

„Team Ibiki?“, wiederholt Ibiki ungläubig.

„Ja! Weil Sie ja im Grunde unser Sensei sind.“

„Bin ich das?“

„Na ja, eigentlich nur der von Mamoru, und auch das nur so mehr oder weniger“, gibt Nene zu. „Aber Sie sind der beste Sensei-Ersatz, den wir auf die Schnelle finden können!“

„Das ist albern, Nene“, sagt Ibiki schroff. „Schlag es dir aus dem Kopf.“

Mamorus Augen werden groß. „Aber so kriege ich ja nie ein Team, Ibiki-san.“

„Genau! Wenn Mamoru schon nicht auf die Akademie darf, gönnen Sie ihm wenigstens das!“

„Nein, verdammt nochmal!“ Wütend sieht Ibiki Nene an. „Das hier ist kein Spiel, Nene. Wir sind eine ANBU-Abteilung, und zwar eine berüchtigte. Ich habe zwei Verdächtige zu verhören und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich kann es absolut nicht brauchen, dass ihr beiden Kinder hier herumgeistert und Unsinn anstellt.“

„Ich bin kein Kind!“, protestiert Nene. „Ich bin siebzehn! Ich arbeite hier!“

„Und dafür, dass ich dich im letzten Jahr beschäftigt habe, solltest du mir verdammt nochmal dankbar sein. Jetzt tu mir den Gefallen und geh mir aus den Augen. Du auch, Mamoru.“

„Aber ...“, beginnt Mamoru hilflos.

„Zweite Regel?“

„Aber ...“

„Ich habe dich etwas gefragt, verdammt nochmal!“

Zweite Regel. Du tust genau, was ich sage.

„Ist das klar, Mamoru?“

„Ja, Ibiki-san!“

„Na also.“

Er dreht sich um, geht mit großen Schritten den Gang hinunter und wirft eine Tür hinter sich zu. Mamoru zuckt zusammen, als sie ins Schloss fällt.

„Der hat ja eine Laune“, sagt Nene mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Er steht im Moment ziemlich unter Stress“, antwortet Shintaro. „Und er befindet sich in einer kleinen Identitätskrise, wenn man so möchte.“

Mamoru steht reglos da und kaut auf seiner Unterlippe herum.

„Kopf hoch, Mo“, sagt Nene und klopft ihm auf die Schulter. „Wir machen das schon irgendwie.“

„Damals“, erzählt Mamoru leise, „als Ibiki-san mir die Regeln beigebracht hat ... da hat er gesagt, er könnte mich brauchen.“

„Brauchen?“, wiederholt Shintaro verblüfft. „Wofür?“

„Für seine Arbeit. Er meinte, ich könnte das auch.“

„Seine Arbeit?“

Nene runzelt die Stirn, und ein Leuchten tritt in ihre Augen. „Weißt du was, Mo? Ich habe da gerade eine gute Idee.“

Mamoru sieht sie fragend an.

„Ich halte im Allgemeinen nicht viel von deinen guten Ideen, Nene“, bemerkt Shintaro. „Was ist es diesmal?“

„Na, wenn Ibiki-san so im Stress ist, weil er gleich zwei Verdächtig zu verhören hat ... da könnte man doch ...“

„Sprich nicht weiter, Nene. Lass es einfach.“

„Klar könnte man!“, platzt Mamoru heraus.

„Zumindest“, wirft Nene ein, „wenn man wüsste, wo sich besagte Verdächtige befinden.“

„Moment.“ Shintaro massiert sich die Schläfen. „Ihr wollt nicht wirklich ...“

„Das weiß ich“, sagt Mamoru eifrig. „03/D. Drittes Untergeschoss, Korridor D. Alle Zellen haben so kleine Fenster in der Tür. Wir gucken einfach rein.“

„Na, dann kann ja nichts mehr schief gehen!“, sagt Nene munter.

Mamoru zögert. „Aber ... da unten laufen manchmal ANBU herum. So, mit Masken.“

„Und? Meinst du, die halten uns auf?“

„Nein, aber ... ich hab ein bisschen Angst vor denen.“

„Oh. Geht es, wenn ich deine Hand halte?“

„Die linke. Dann vielleicht.“

„Alles klar, versuchen wir es einfach. Gehen wir?“

„Hört mal, ihr beiden!“, sagt Shintaro ungeduldig. „Habe ich in unserem neuen Team irgendein Mitspracherecht?“

„Sie wollten das Team ja nie haben“, informiert Nene ihn. „Von daher sind Sie irgendwie selber Schuld.“

„Aber wenn Sie wollen, dürfen Sie mitkommen, Shintaro-san“, sagt Mamoru tröstend.

„Ihr werdet nicht ... Wir werden nicht da runter gehen! So weit kommt es ja noch!“

„Hören Sie mal, Shintaro-san.“ Nene nimmt Mamorus Hand, die linke. „Ich weiß, Sie kriegen hier nur Ihr Gnadenbrot, aber Mamoru und ich sind noch jung. Das hier ist die ANBU-Abteilung für Verhör und ... Dings. Glauben Sie, wir beide hätten nicht langsam herausgefunden, was man hier tun muss, um sich nützlich zu machen?“

„Zum Beispiel?“, fragt Shintaro.

„Verhör und Dings!“, sagt Mamoru drängend.

Er mustert die beiden, wie sie da stehen, Hand in Hand, zu allem bereit.

„Ich hoffe, euch ist klar, dass ihr krank seid.“

„Ja, wissen wir“, antwortet Nene und grinst. „Und wo sind wir deshalb am besten aufgehoben?“

Shintaro seufzt resigniert und muss dann lachen. „In dieser Abteilung. Gut, ich gebe mich geschlagen. Dann mal los.“

„Was heißt dann mal los?“, fragt Mamoru aufgeregt.

„Ich bin der dienstälteste Shinobi mit dem höchsten Rang – und ich tue mehr, als mein Gnadenbrot zu bekommen, Nene. In Abwesenheit eines Senseis bin ich der Anführer. Team 15?“

„Hier!“, ruft Nene und reckt die Faust.

„Hier!“, wiederholt Mamoru begeistert.

„Team 15 – an die Arbeit!“
 

*
 

Stirnrunzelnd nimmt Ibiki einen Schluck von seinem Kaffee, muss husten und stellt den Pappbecher wieder ab. Er hatte völlig recht, der Kaffee von Izumo und Kotetsu ist ungenießbar. Wie sie selbst ihn trinken können, ist ihm schon schleierhaft. Seufzend ordnet er das Protokoll des soeben geführten Verhörs und will es gerade ins Reine schreiben, als jemand gegen den Türrahmen klopft.

„Ibiki?“

Er dreht sich um. Shintaro, Nene und Mamoru stehen da, alle drei mit einem Leuchten in den Augen, das Ibiki mehr als verdächtig vorkommt. Als hätten sie zusammen irgendetwas ausgeheckt. Dass sie viel zusammen hocken, ist er ja mittlerweile gewohnt, aber diese Heimlichtuerei ist neu.

„Ja? Was gibt es?“

Nene schiebt Mamoru nach vorn, der ein paar Blätter in der Hand hält. Er schluckt einige Male nervös, kommt auf Ibiki zu und hält sie ihm hin.

„Was ist das, Mamoru?“, fragt Ibiki und greift nach dem Papier. „Hast du mal wieder versucht, deinen Namen zu schreiben?“

„Wir waren schnell“, antwortet Mamoru aufgeregt. „Und es stimmt alles, glaube ich.“

„Die Idee war von mir!“, sagt Nene stolz. „Sie war gut, oder?“

„Eigentlich war sie durch und durch hirnrissig“, brummt Shintaro.

„So schlimm kann sie nicht gewesen sein, immerhin haben Sie mitgemacht!“

„Kann mir jemand erklären, was das zu bedeuten hat?“, fragt Ibiki, sieht zwischen den dreien hin und her und wedelt mit dem Papier. „Was ist das hier?“

„Das Geständnis des einen von Ihren beiden Gefangenen!“

Wie bitte?“

„Du hast den einen verhört“, erklärt Shintaro achselzuckend. „Und wir den anderen.“

Fassungslos starrt Ibiki ihn an. „Mit wessen Erlaubnis?“

„Mit den besten Absichten“, antwortet Mamoru.

„Und Mamoru hat nicht mehr als ein bisschen gezittert, als wir jemandem mit ANBU-Maske begegnet sind. Was ein echter Fortschritt ist.“

„Das kann man wohl sagen.“

„Langsam, langsam!“ Ibiki schüttelt ungläubig den Kopf. „Ihr seid einfach nach unten spaziert und habt diesem Gefangenen ein Geständnis abgerungen?“

„Und zu Protokoll genommen“, ergänzt Shintaro. „Ordnungsgemäß.“

„Wie um aller Hokage Willen habt ihr ihn zum Reden gebracht? Der Mann ist Chuunin!“

„War eigentlich ganz einfach“, sagt Nene fröhlich. „Shintaro-san war Anschauungsmaterial, ich habe ihm einfach ein bisschen Angst gemacht ...“

„Verstehe gar nicht, wie du das geschafft hast“, sagt Ibiki trocken.

„... und Mamoru hat ihm zwei Finger gebrochen.“

Was?“

„Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand“, fügt Shintaro hinzu. „Steht aber alles im Protokoll. Streng nach Vorschrift.“

Ibiki starrt Mamoru an. „Wie zum Teufel hast du das angestellt? Allein der Kraftaufwand!“

„Man muss nur wissen, wo man ansetzen muss“, antwortet Mamoru ernst. „So schwer ist das gar nicht.“

„Ich habe ihn ein bisschen beraten“, ergänzt Nene. „Ich kenne mich aus mit Knochenaufbau und so!“

Ibiki schüttelt den Kopf. „Ihr drei seid unglaublich. Was fällt euch eigentlich ein, einfach so meine Gefangenen zu verhören?“

Er holt tief Luft und besinnt sich.

„Shintaro-sensei. Ich weiß, dass Sie niemand sind, der sich auf kindische Spielchen einlässt. Deswegen kann ich mich wohl darauf verlassen, dass Sie bei der Aktion für eine gewisse Professionalität gesorgt haben.“

„Selbstverständlich habe ich das.“

„Mamoru?“

„Ja, Ibiki-san?“

„Du bist ein verdammter Satansbraten von einem Jungen, aber ich schiebe das einfach mal auf meinen eigenen schlechten Einfluss.“

„Tun Sie das, Ibiki-san.“

„Und Nene?“

„Ja?“

„Du, Mädchen, bist einfach unmöglich. Aber du bist diejenige, die euer komisches Grüppchen antreibt und mit den hirnrissigen Ideen füttert. Ich ziehe meinen Hut.“

„Unser Team, meinen Sie wohl!“

„Ihr seid kein Team.“

„Jetzt stell dich nicht so an, Ibiki“, sagt Shintaro schroff. „Du bist doch stolz auf uns.“

„Fallen Sie mir nicht in den Rücken, Sensei!“ Ibiki rollt das Papier zusammen, gibt Mamoru damit einen Klaps auf den Kopf und steht auf. „Ich werde gehen und das Geständnis des Gefangenen überprüfen.“

„Es stimmt alles, wirklich!“, sagt Nene.

„Wenn meine Untersuchung zu diesem Ergebnis kommen sollte, dann ...“

„... dann dürfen wir uns Team Ibiki nennen?“, fragt Mamoru mit leuchtenden Augen.

„Dann lasse ich euch in Zukunft öfter solche Aufgaben erfüllen.“

„Das läuft auf dasselbe hinaus“, sagt Shintaro.

„Wenn Sie meinen.“ Ibiki seufzt und setzt die grimmige Miene auf, die ein Teil seiner Arbeitskleidung ist. „Jedenfalls werde ich jetzt gehen und meinen Job machen.“

Er geht an ihnen vorbei durch die Tür und den Gang hinunter.

„Wie nennt sich eigentlich Ihr Job?“, ruft Nene ihm nach.

„Ich züchte bunte Schmetterlinge“, erwidert Ibiki eiskalt, öffnet eine Tür und wirft sie hinter sich wieder zu.

„In solchen Momenten macht er mir ja irgendwie Angst“, gibt Nene zu.

„Er macht dir Angst?“, wiederholt Shintaro verblüfft. „Das kann nicht sein, Nene. Das wäre eine normale Reaktion, und so etwas kannst du nicht.“

„War das gerade ein Scherz, Shintaro-san?“

„Wenn du dich schon nicht deinem Charakter entsprechend verhältst, dachte ich, es macht bei mir auch keinen Unterschied mehr.“

„Ich mag Ibiki-san“, sagt Mamoru schlicht.

„Er wird sich nicht freuen, das zu hören. Aber dafür wird er sich über Nenes Angst freuen.“

„Wie auch immer!“ Nene klopft Mamoru auf die Schulter. „Jetzt hast du ein Team und die Gewissheit, dass du durchaus zu etwas zu gebrauchen bist, Mo. Zufrieden?“

„Ja“, sagt Mamoru leise. „Sehr.“

„Dann ist ja alles in Ordnung! Du hast dein Team, Shintaro-san hat zwei Beine und gelegentliche Ausbrüche von Humor ...“

„... und Nene hat endlich etwas gefunden, was ihr eine nachvollziehbare Reaktion entlockt?“, fragt Shintaro.

„Genau! An irgendetwas muss der Mensch sich ja freuen.“

Sie sehen einander an und nicken.

„Ich würde sagen, Team 15 hat seine erste Mission zur allgemeinen Zufriedenheit abgeschlossen“, sagt Shintaro. „Und zur Feier des Tages könnte ich mir durchaus vorstellen, euch zu einem Eis einzuladen.“

„Eis!“, ruft Nene.

„Ich will mit Streuseln“, sagt Mamoru.

„Das lässt sich einrichten. Sollen wir gleich gehen?“

„Ja! Gehen wir!“

Sie wenden sich zum Gehen, aber weit kommen sie nicht. Ein Chuunin biegt um eine Ecke des Ganges und bleibt stehen, als er sie drei sieht.

„Tonbo“, sagt Shintaro erfreut. „Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen.“

„Guten Tag, Shintaro-sensei.“ Tonbo nickt ihm zu. „Hallo, Mamoru.“

„Hallo, Tonbo.“

„Oh!“, ruft Nene. „Sie sind Tonbo!“

„Ja“, sagt er überrascht. „Und?“

„Sie haben mir mal das Leben gerettet! Als ich noch klein war.“

„Habe ich das?“

„Ich war das Mädchen! Das in der Hütte im Wald. Als der Dämon angegriffen hat.“

„Aber der Dämon ist eigentlich total in Ordnung“, wirft Mamoru ernst ein. „Also ...“

Shintaro legt ihm die Hand auf den Kopf, und Mamoru verstummt.

„Das kann sein“, sagt Tonbo langsam und sieht Nene an – zumindest ist davon auszugehen, dass er das tut, auch wenn er keine Augen mehr besitzt. „Ein Mädchen in einer gelben Decke. Sie hat geschrien. Aber als wir draußen waren und sie das Feuer gesehen hat, hat sie damit aufgehört. Und nur noch zugesehen.“

„Das war ich“, sagt Nene glücklich. „Das Feuer war wahrscheinlich rot. Das ist meine Lieblingsfarbe!“

„Ach so.“

Tonbo nickt, als sei das durchaus nachvollziehbar, und Shintaro muss schmunzeln.

„Du wirst dich daran gewöhnen, Tonbo. Nene ist ... eine Klasse für sich.“

„Ja, den Eindruck hatte ich auch schon.“ Tonbo grinst kurz. „Jedenfalls ... keine Ursache, Nene.“

Nene erwidert das Grinsen. „Ich wollte Sie schon immer mal darauf ansprechen, aber ich habe nie die richtige Gelegenheit gefunden.“

„Heute ist anscheinend ein Tag, um alte Rechnungen zu begleichen“, sagt Shintaro.

„Shintaro-san?“, fragt Mamoru, der versucht, nicht zu ungeduldig zu klingen. „Gehen wir jetzt ein Eis essen?“

„Oh, natürlich!“, sagt Nene. „Kommen Sie mit?“

„Ich?“, fragt Tonbo verblüfft.

„Ja! Oder wann haben Sie Feierabend?“

„Also ... eigentlich jetzt. Aber ...“

„Super! Dann gehen wir. Komm, Mo!“

„Hast du gerade Tonbo auf meine Kosten auf ein Eis eingeladen?“, fragt Shintaro ungläubig, aber Nene hört schon nichts mehr. Sie hat Mamoru an die Hand genommen, die linke, und zieht ihn den Gang entlang.

„Ich kann auch selbst zahlen“, sagt Tonbo.

„Nichts da, ist schon in Ordnung. Wir sollten sehen, dass wir die beiden einholen.“

Sie heften sich den beiden an die Fersen, die ein ordentliches Tempo vorlegen, und machen sich durch die zahllosen Gänge auf den Weg zum Ausgang. Nene erzählt irgendetwas und gestikuliert, und Mamoru hört zu. Gedankenverloren mustert Shintaro sie aus dem Hintergrund.

„Woran denken Sie?“, fragt Tonbo.

„Daran, was für seltsame Menschen die beiden sind. Und ... ich eigentlich auch. Was wir heute getan haben, war der reine Wahnsinn, wenn man so darüber nachdenkt.“

Tonbo lächelt. „Es ist eine verrückte Welt, Sensei.“

„Da bin ich ganz deiner Meinung“, sagt Shintaro und schüttelt den Kopf. „Zivilisten bei der ANBU, Minderjährige in Ibikis Abteilung ... und dann hatte ich heute auch noch diesen bizarren Traum.“

„Was für einen Traum?“, fragt Tonbo.

Er denkt an die drei Jungen auf der Kante seines Schreibtisches, an ihre hellen Stimmen, an ihr Lachen. Sie sind aufgestanden und dahin gegangen, wohin Traumfiguren gehen, wenn man aufwacht.

„Nicht so wichtig“, sagt Shintaro.

„Und wann hatten Sie diesen Traum? Sie werden doch wohl nicht bei der Arbeit geschlafen haben. Ausgerechnet Sie, der seine Aufgaben als Shinobi so bitterernst nimmt ...“

„Natürlich nicht! Was denkst du denn von mir?“

Tonbo lacht und bohrt nicht weiter nach. Sie treten aus dem Gebäude in die Sonne. Nene und Mamoru sind schon einige Schritte voraus, noch immer Hand in Hand. Sie singen ein Lied, und Shintaro muss lachen, als er die Melodie erkennt.
 

Hanako, Hanako, Blumenkind, sie lief zum Tor

Kartoffeln und Tomaten waren in ihrem Ohr

Sie schälte lang, sie schälte lang,

sie schälte das Gemüse und sang

Zehn Töpfe aß ihr Liebster leer

Sie schälte jeden Tag.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Team 15: Shintaro, Nene, Mamoru – converting all your sounds of woe into hey nonny nonny.
Ich hoffe, ihr hattet euren Spaß an dieser Geschichte, und freue mich jederzeit über Rückmeldungen. :)
Danke an meine Favonehmer, ohne die meine Hochlade-Motivation nach ein paar Kapiteln gegessen gewesen wäre.
Ich verbeuge mich. Vorhang, bitte. Komplett anzeigen

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