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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 3

Vom Gejagten zum Jäger
von

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Einleitung

Als ich ein Kind war, gab es in unseren Straßen einen alten Mann.

Wie er hieß, weiß ich nicht, aber er war bekannt dafür, dass er nur auf dem linken Auge sehen und nur auf dem linken Ohr hören konnte. Aus diesem Grund nannten die Kinder ihn scherzhaft „Den Linken“, denn wir wussten, wenn wir ihn bestehlen oder erschrecken wollten, dann mussten wir es stets von links tun.

Ich mochte den alten Greis, mit seinem schütteren, sehr dünnen Haar, das im Sonnenlicht wie Kristall oder Silber wirkte. Ich weiß noch, dass sein milchweißes Auge mich ängstigen konnte, wenn er wollte. Er achtete stets darauf, dass er sein Geld auf der linken Seite trug, weswegen wir immer wider aufs Neue versagten, wollten wir ihn beklauen.

Dieser Mann, der Linke, war mein erster, ernsthafter Gegner gewesen und ich hatte ihn bis zuletzt nie geschlagen. Wann immer er mich bemerkte, lachte er, zog mich am Ohr oder gab mir Kopfnüsse. Dennoch ließ keines von uns Straßenkindern ihn in Ruhe.

Der Grund dafür war ein geheimnisvolles Täschchen, das an seinem Gürtel hing – links natürlich. Keiner konnte sagen, was darin lag, aber eines wussten wir: Es war unheimlich wertvoll. Er beschützte es, so gut es ging, legte es nie beiseite und wann immer er schlief, hatte er eine Hand darauf. Der Linke war genauso wie wir ohne Dach über dem Kopf und so hatten wir auch nachts die Chance, uns im Stehlen des geheimnisvollen Schatzes zu versuchen. Funktionieren tat es jedoch nie.

Mit der Zeit begannen die Vermutungen, die wir anstellten, ein Eigenleben zu entwickeln. Aus ausländischen Münzen, die ihn als geheimen Kriegsveteran eines verfeindeten Landes entlarvten und Juwelen einer Prinzessin, der er einst diente wurden Knochen von Kindern oder giftige Kräuter, die dafür sorgten, dass die Frauen im Kindbett starben. Mal war er ein dunkler Schwarzmagier und Überbringer der Pest, dann ein alter Greis, der einen goldenen Schlüssel für den geheimen Hintereingang des Schlosses trug. An manchen Abenden saßen wir Kinder am Fluss, baumelten mit den Füßen im Wasser und fast jeder von uns wusste etwas ganz anderes über ihn. Die einen hatten ihn auf dem Friedhof gesehen, wie er verrückt lachend in den Gräbern buddelte, die anderen meinten zu hören, wie er sich mit bösen Geistern unterhielt. Woher die Geschichten kamen, wussten wir nicht, aber es wurden mehr und mehr, sie nahmen kein Ende. Wir fürchteten ihn, aber zugleich konnten wir ihn leiden, denn durch ihn war es nie langweilig und wenn wir hungrig in einem Häusereingang saßen und nicht wussten, wohin, dann erschien er oft mit einem breiten Grinsen und schenkte uns etwas von seinem Essen. Wir spielten ein Spiel mit ihm und er spielte mit, immer.

Irgendwann dann kam der Winter und Annonce versank in Kälte und Schnee. Die meisten Menschen der Straße suchten Schutz in Kirchen oder Armenhäusern, die Kinder in Kinderheimen oder aber, so wie wir, sie gingen in verlassene Gebäude, für die sich niemand mehr interessierte. Jeder kannte die Gruselgeschichten der Heime. Einmal im Armenhaus kam man nie mehr weg und man musste schuften und arbeiten, bis man umfiel. Der Linke sah es genauso, denn auch er lungerte dennoch in den Gassen herum, kaute verdorbenes Brot oder bettelte um Mitleid und Almosen. Wir begannen damit, ihm zu helfen, als er zu alt wurde, um sich selbst um sich zu kümmern und während der Winterzeit geschah es, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Wir mussten zusehen, wie der Linke in der hintersten Raumecke saß, eingewickelt in einem dünnen Stofffetzen und mit eingefallenem Gesicht. Er starb, das wussten wir alle, aber keiner wollte es wahrhaben. Obwohl wir selbst kaum etwas hatten, teilten wir unser Essen mit ihm, besorgten ihm weitere Decken oder erzählten dem Linken, was es Neues gab. Der Winter schien kein Ende zu nehmen und mit jeder Woche, die verging, wurde sein Zustand schlechter.

Als erstes kam der Husten, dann begann das Fieber und am Ende zitterte er und sprach wirres Zeug. Als er erstarb, hatten wir uns bereits so sehr an seinen röchelnden Atem gewöhnt, dass jeder von uns es fast sofort merkte und am nächsten Tag, während seine Leiche schneeweiß und eiskalt vor uns lag, vergoss fast jeder eine Träne für ihn.

Der Linke war tot, einfach so. Er war gestorben, obwohl wir uns um ihn gekümmert hatten und keine Macht der Welt hätte das ändern können.

Da wir kein Geld für ein Begräbnis hatten und nicht den Mut, einen Soldaten anzusprechen, ließen wir ihn einfach liegen und verließen das Haus. Wir suchten uns ein neues Heim und legten ihm immer mal wieder Blumen auf die Türschwelle.

Als wir etwa zwei Wochen später keinen anderen Zufluchtsort fanden, war er einfach verschwunden und mit ihm der geheimnisvolle Beutel. Er war weg, einfach so, zusammen mit seinem Besitzer und mit ihm das Geheimnis und dessen Lösung.

An diesem Tag begriff ich, dass es Dinge gab, die unausweichlich waren. Dinge, die wir nicht ändern konnten, egal wie sehr wir uns anstrengten. Menschen lebten, das war normal und sie starben, einfach so. Auch verstand ich, dass es Dinge gab, die wir nie erfahren würden, wenn wir zögerten. Später, als ich erneut ins Heim kam und von dort aus nach einigen Jahren ins Kloster, dachte ich zurück an den Linken und sein Geheimnis. Ich fragte mich, was es wohl gewesen war, was er so beschützte.

Geld?

Ein geheimer Liebesbrief?

Wirklich ein Schlüssel oder vielleicht ein heidnischer Talisman?

Oder aber...es befand sich nichts darin. Ein Sinnbild dafür, was wir in der Hand haben, wenn es darum geht, gegen das Schicksal anzukommen.

Luft, Leere.

Und es lag an uns, diese Leere zu füllen.

Der Brief (5)

Werter John Anderson O’Hagan, Beauftragter der heiligen Mutter Kirche und inquisitorischer Gouverneur der Bereiche Esas, St. Katherine und Otori,
 

wie lange ist es her, dass ich Euch schrieb? Ein paar Monate, aber mir erscheint es, als wären bereits Jahre vergangen.

In letzter Zeit sehne ich mich sehr nach den alten Tagen, mein Freund. Ich lebe noch immer in meinen Turm, genieße die Aussicht, lausche den Gerüchten der Stadt und den Gesängen der Vögel – aber es langweilt mich. Ich glaube es selbst kaum, aber ich werde unruhig. Wie viele Theater-Stücke habe ich verfasst? Wie viele dieser unglaublich lehrreichen und aussagekräftigen Bücher gelesen, die die Inquisition mir zur Verfügung stellt? Wie viele von Ihnen haben ihren Weg aus dem Fenster gefunden und wie viele Briefe habe ich geschrieben, ohne Sie Euch zukommen zu lassen?

Mittlerweile gelte ich als eine Art Volksheld, so scheint es. Es wurden Geschenke für mich abgegeben, aber natürlich hat mich keines wirklich erreicht. Ich frage mich, woran das liegt, dass ich so beliebt bin. Der alte Henry musste sterben, um eine Legende zu werden. Ich lebe noch. Ob mich das beliebter macht?

Ihr scheint nach wie vor sehr unbeliebt zu sein, denn von Euch hört man sehr wenig und wenn, dann nur schlechtes. Ich frage mich, wieso. Wagt Ihr Euch an keine neuen Eroberungen mehr? Nicht einmal mehr Beschwerden erreichen mich. Alles, was ich höre ist, dass Ihr angeblich krank sein sollt. Ihr macht doch wohl nicht schlapp, alter Freund? Nicht, dass Ihr mein grandioses Ende verpasst!

Mittlerweile habe ich nun bereits ein zweites, vielseitiges Buch verfasst und ich muss sagen, es tut gut, die alten Zeiten wieder aufleben zu lassen. Findet Ihr nicht auch? Man fühlt sich jung, frei. Absurd, wenn man bedenkt, dass wir wohl niemals wirklich frei waren.

Fühlt Ihr Euch frei, Gouverneur? Ich habe unglaublich viel Zeit, über dieses Thema nachzudenken – ich weiß, das ist erstaunlich – und mittlerweile bin ich es fast müde. Ich bin nicht sicher, ob Ihr mein Philosophieren wirklich lesen wollt, aber ich tue Euch den gefallen. Bis auf den Pater habe ich niemanden, der mir zuhört und glaubt es oder nicht: Eine innere Stimme sagt mir, dass er mir nicht ganz folgen kann. Ich sprach von Gott, den Samaritern, verglich ihre Ansichten und diese dann mit einer alten Brücke. Diese, so sagte ich, stand angeblich in Amesia und ab dort verstand der Mann kein Wort mehr.

War ich jemals frei?, das fragte ich mich – und auch ihn.

In meinem Leben gab es etliche Höhen und Tiefen. Welchen Punkt würdet Ihr als den höchsten Punkt meiner Laufbahn bezeichnen? Und welchen als den Euren? Ich denke an unsere Zusammentreffen, aber auch an all jene Menschen, die ich kennen lernen durfte. So einige haben die Welt mittlerweile verlassen und auch, wenn Ihr das gern behauptet – ich bin nicht so herzlos und grausam, dass es mich kalt lässt. Es ist schade, Menschen zu verlieren. Egal, ob man sie kennt oder nicht. Nun, ich gebe zu, über viele Tode habe ich nicht getrauert. Angefangen mit Kai und aufgehört mit -... Nein, ich möchte nicht alle aufzählen, das wäre nicht gerecht ihnen gegenüber. Aber seien wir ehrlich: Es gibt Menschen, um die ist es schade, wenn sie sterben und es gibt Menschen, die sind eben nur Menschen. Könnt Ihr mir folgen?

Ich bin sicher, was Eure Kinder anbelangt, habt Ihr sehr getrauert. Aber wären es meine Söhne gewesen, nun, dann hättet Ihr vielleicht gelacht.

Das zuletzt geschriebene Kapitel ist der Teil meines Lebens, von dem kaum jemand etwas wusste – bis heute. In meinem Innern taten sich Abgründe auf, die ich längst vergessen hatte, als ich anfing, diese Zeilen nieder zu schreiben. Es fiel mir schwer daran zu denken und ich musste mehrmals innehalten und die Feder sinken lassen.

Gefühle und Erinnerungen. Ich hatte so vieles einfach aus meinem Gedächtnis gestrichen, doch nun sehe ich so vieles, nein, alles glasklar vor mir, als wäre es gestern erst passiert.

Die Erinnerung an Mona, an das Feuer, an das absurde Getänzel auf dem Haus – all das erschien mir wieder so greifbar, so real. Als wäre ich wieder dort, zwischen dem Qualm und dem Rauch. Als wäre ich wieder neben dieser wunderschönen Ächatin und würde mich fragen: Ist dieses Leben wertvoll für mich?

Die letzten Kapitel hat das hohe Gericht förmlich verschlungen. Ja, ganz Recht:

Oliver Sullivan O’Neil, der Frauenmörder und Pirat, der Ketzer und Gotteslästerer, ein Kind der Inquisition, ein Spion der Kirche und das auch noch mit Überzeugung! Und obendrein riskiert er für eine Zigeunerin, eine Ketzerin sein Leben und wofür? Um es im nächsten Moment einfach wieder hinzuschmeißen! Ich lasse dieses Geschehen so oft erneut in meinem Kopf passieren und drehe es so oft hin und her, dass ich bis heute nicht weiß, was richtig und was falsch war. Fragt Ihr Euch das, wenn Ihr meine Geschichte lest?

Vor meinem inneren Auge stelle ich mir vor, wie Ihr bei diesen Kapiteln meines Lebens die Stirn kraus zieht und darüber nachdenkt, ob ich Lügen von mir gebe. Es ist absurd, dass jemand wie ich für jemanden wie Domenico arbeiten sollte, nein, wollte. Und ich fürchte fast, dass die heilige Mutter Kirche nicht froh darüber ist, dass man davon erfährt. Ob es viele Männer gibt, die, wie ich, durch das Kreuz ein neues Leben beginnen dürfen? Und wofür? Dafür, dass man erneut mordet oder stiehlt, sündhaft weiterlebt, ohne Rücksicht auf Verluste.

Aber falls es Euch tröstet: Ihr seid das wandelnde Beispiel dafür, dass gottesfürchtige Männer, Vertreter der Kirche, meist schlimmer sind, als das einfache, gottlose Volk.

Aber eines solltet Ihr wissen... Ich bereue nichts, gar nichts. Weder meine sündhafte Liebe zu der Ächatin, noch meine Demut gegenüber Domenico. Ich denke, dass ich das, was ich getan und erlebt habe, wieder tun und erleben würde, könnte ich die Zeit zurückdrehen. Gut, ich weiß nicht, ob all das richtig war. Aber ich weiß, dass es das wert war.

In letzter Zeit bleiben meine Beichten förmlich aus. Stattdessen belassen der Pater und ich es beim gemeinsamen Gebet. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, doch ich fühle mich, als gäbe es wenig, dass ich noch beichten müsste. Als hätte ich nie einen wirklichen, ernsthaften, großen Fehler gemacht, den man mir vorhalten könnte. Alles, was es zu sagen gibt, wird man in den weiteren Zeilen lesen können, die binnen der nächsten Wochen, Monate, vielleicht Jahre folgen werden. Und meinetwegen kann man dies als Beichte sehen.

Und wenn nicht, so werde ich alles mit ins Grab nehmen, vielleicht sogar mit in die Hölle.

Wenn ich eines in den letzten Monaten gelernt habe, Gouverneur, dann das:

Nicht dem Richter bin ich Rechenschaft schuldig. Nicht dem Pater, nicht dem Protokollant und nein, auch nicht Euch, mein alter Freund. Der, dem ich Rechenschaft ablegen werde, ist allein der Herr. Und wenn er an meinem Lebensende nicht zuhören will, dann werde ich das wohl hinnehmen müssen. Bereuen tue ich dennoch nichts von dem, was ich tat. Ganz gleich, ob richtig oder falsch. Gibt es das überhaupt? Richtig? Falsch? Ich fürchte fast, ich werde in meinen alten Tagen noch nachdenklicher, als zuvor.

Aber sei es drum... Ich würde nichts verändern. Alles ist gut so, wie es ist. Wenn ich hier in diesem Turm elendig verrecke, dann ist es eben so.

Und Ihr, Gouverneur? Könnt Ihr seelenruhig schlafen?
 

Hiermit verbleibe ich, in vergeblicher Hoffnung auf Antwort,
 

Oliver Sullivan O’Neil
 

Postskriptum:
 

Der Todestag meines Vaters rückt immer näher – wenn dieser Mann, den ich für ihn halte, denn mein Vater war. Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch und sinniere darüber, was wäre, wäre ich auf freiem Fuß. Lacht Ihr mich gerade aus, da es nicht so ist? Ich fürchte ja. Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude.

Ich frage mich, ob ich Blumen an sein Grab legen würde. Wahrscheinlich nicht. Was ich weiß, ist, dass an mein Grab wohl niemand Blumen legen wird. Vielleicht an meine Statue, später, wenn ich eine bekomme? Leider habe ich keine Friedensbotschaft, die ich an eine Schlosstreppe legen kann, darum ist meine Hoffnung, eine Skulptur zu bekommen, sehr gering. Auch kenne ich keinen Bildhauer. Könnt Ihr mir vielleicht einen empfehlen?

Es würde mich ohnehin wundern, wenn ich ein Grab bekäme. Es ist wahrscheinlicher, dass man meinen Leichnam nach meinem Ableben einfach irgendwo verscharrt, gemeinsam mit dutzend anderen. Wenn nicht, so werdet Ihr dafür wohl eigenhändig sorgen.

Nun, an Euer Grab würde ich Blumen legen. Diese kleinen, lilafarbenen, die an den Wegesrändern blühen, wenn der Frühling beginnt. Ich war so frei, eine Wache zu bitten, mir eine zu besorgen. Sie liegt im Briefumschlag. Wie findet Ihr sie? Riecht mal daran, sie riecht wundervoll. (Aber das tut nach so langer Zeit in einem Turm wohl jedes Unkraut.)

Eine Hexe sagte mir, dass man damit Dämonen Schmerzen zufügen könnte, gar Teufeln.

Wenn das wirklich stimmt, so sollt Ihr nach Eurem Tod tausend Blumen kriegen, nein, zweitausend. Ich würde sie eigenhändig zu Euch tragen, mein Freund. Immer und immer wieder würde ich Sie vor Euren Grabstein legen, nur für den Fall, dass Ihr als unruhiger Geist umher streift. Ich würde sie zu kleinen, hübschen Sträußen mit Schleifen binden und Eure ganze Gruft damit schmücken und dekorieren. Ihr könntet auf mich zählen.

Aber wieso eigentlich warten? Ich denke, ich werde Euch zu meinem nächsten Brief ein weiteres Blümchen besorgen... Vielleicht auch zwei oder drei?

Dafür sind Freunde schließlich da!

Die Spuren der Zeit

Ihre kurzen, hohen Rufe ertönten so kurz und hastig, dass man nicht sicher war, ob sie überhaupt von ihr stammten. Immer wieder aufs Neue hörte man das knappe ‚Tschie-tschiep’. Es verklang ebenso schnell, wie es kam und hätte die Bachstelze den Schnabel nicht kurz geöffnet, hätte man es auch für Einbildung halten können. Dennoch war es irgendwie schön.

Sie stand auf einem Stein, grau, mit weißem Gesicht und schwarzem Kopf, ebenso dunkel wie ihre Brust. Fast wirkte sie stolz durch die graziöse, weißgraue Maserung ihres Gefieders und die dunklen, tiefen Augen.

Ich sah zu, wie sie vom Stein ins Wasser hüpfte, das sich nach dem letzten Regen gesammelt hatte und dann, wie der Vogel anmutig und in weiten Schritten durch die Pfütze stolzierte. Ihre langen, schlanken Beine erinnerten an kleine Stöckchen und ihr Schwanz, der fast permanent auf und ab wippte, bewegte sich synchron zu den rhythmischen Bewegungen ihres Kopfes. Ein paar mal drehte sie ihn, pfiff erneut ihre hohen Laute, dann ging sie weiter. Auf festem Boden angekommen beschleunigte das Tier, nur, um wieder stehen zu bleiben und letzten Endes auf einem niedrigen Ast auszuruhen.

Mehrere Wochen waren nun bereits vergangen, seit ich abermals mit O’Hagan aneinander geraten war. Ich saß am Arthur, jener Fluss, der in seiner Biegung durch Annonce verlief und spielte gedankenverloren mit einem Grasbüschel herum. An das Knurren meines Magens hatte ich mich schon gewöhnt, gleiches galt für meinen Geruch. Ich beneidete die Bachstelze. Sie pflegte ihr Gefieder, drehte zwischendrin immer wieder den Kopf und suchte letzten Endes das Weite. Sie musste sich keine Sorgen um Essen oder einen Schlafplatz machen. Das, was sie brauchte, fand sie hier, in der Natur.

Da ich das Sitzen irgendwann leid war stand ich auf, griff flache Steine und versuchte, sie springen zu lassen. Es funktionierte, aber auch das hatte ich schon viel zu oft getan. Hier war der Fluss noch sauber und rein, aber später verlief er in direktem Weg durch das Kloster, anschließend durch die Stadt und letzten Endes dann ins Meer. Spätestens in Annonce wurde aus dem klaren Wasser eine bräunliche Suppe voller Unrat und Schmutz. Schon mehrmals war ich mit bloßen Füßen durch das kühle Nass gelaufen, hatte kleine Krebse beobachtet, Insekten oder anderes Getier. Ein grünes Blatt hatte von hier eine Reise zu den entfernten Klostermauern begonnen und mein Spiegelbild kannte mein Gesicht mittlerweile wohl in- und auswendig.

Wie lange musste ich noch warten?

Slade hatte einen seiner langen Spaziergänge unternommen und nun war ich bereits ganze zwei Stunden allein und wartete auf seine Rückkehr. Ob er das Weite gesucht hatte?

Obwohl unsere Freundschaft, wenn man es so nennen konnte, in den letzten zwei Wochen enger geworden war, hatte ich noch immer nicht gelernt, ihm vollends zu vertrauen. Der Streuner hatte mich kein einziges Mal enttäuscht, seit wir Brehms verlassen hatten. Dennoch schwebte in meinem Hinterkopf stets die Erinnerung daran, dass er mich im brennenden Haus zurückließ. Gut, er hatte Robin und den anderen sofort erklärt, dass ich mich noch im Innern befand und es stimmte auch, dass er es war, der mich von O’Hagan weg zog. Das änderte aber nichts daran, dass es nichts gab, was uns dem anderen etwas schulden ließ.

Seufzend stellte ich fest, worüber ich schon wieder nachdachte und mein Stein versank ohne den geringsten Hüpfer. Meine Zeit in Brehms war vorbei. Ich hatte die Samariter, aber auch die Deo Volente, einfach hinter mir gelassen. Da Robin es mir verdankte, dass Mona noch lebte, hatte er mir geholfen das Weite zu suchen, aber ich schätze, er war auch froh, mich los zu sein. Ich erinnerte mich daran, wie ich O’Hagan anschrie und auch daran, wie er alles und jeden auf mich hetzte. Wären die Samariter nicht gewesen, wäre ich nun wohl tot. Aber auch die Menschenmasse, die schlichtweg den Weg zu mir blockierte, war nicht ganz unschuldig am Versagen der Soldaten. Ich hatte O’Hagan den Kampf erklärt, ohne darüber nachzudenken und selbst jetzt, am Fluss kurz vor Annonce, bereute ich es nicht. Natürlich trauerte ich um mein gutes Leben in der wunderbaren Stadt Brehms, aber wenn man es realistisch sah, wäre dieses ohnehin bald vorbei gewesen. Die Inquisition hatte einen förmlichen Kreuzzug gestartet und ich konnte nur vermuten, wie viele Tote dies gefordert hatte.

Nein, es war gut so, dass ich gegangen war. Zudem war es an der Zeit, etwas zu verändern. Etwas Grundlegendes.

Von meinen eigenen Gedanken müde ließ ich mich ins Gras fallen, mit den Füßen im Fluss und so starrte ich hoch zu den Wolken. Man hatte mich lange genug verfolgt. Ich war auf dem Meer gewesen, in Annonce, in Brehms, ein Pirat, ein Kopist, ein Spion, ja, sogar ein Diener der Inquisition, ein Samariter – und trotzdem, jedes Mal, hatte O’Hagan mein Leben einfach so zerstört. Egal, was ich anfing – er würde es beenden, früher oder später, bis er mich zwischen die Finger bekam. Es hatte keinen Sinn zu fliehen und sich zu verstecken, das hatte ich eingesehen. Statt immer wieder neu anzufangen, pfiff ich nun auf meine Absolution. Ich pfiff auf Domenico, auf die Kirche und ich pfiff auf mein Leben ohne Sünden. Sullivan O’Neil war ein Frauenmörder. Es war eine Lüge, ja, aber ich konnte diese Lüge nicht aufheben. Alles, was ich konnte, war, damit zu leben. Damit und mit der Tatsache, dass ich Sullivan O’Neil war. Es war mein Name, auch, wenn er besudelt und belastet war und ich würde O’Hagan nicht den Gefallen tun, diesen Namen einfach zu vergessen.

Irgendwann hörte ich etwas im Gras knacken, also setzte ich mich wieder auf und sah zu, wie Slade über ein paar Steine hinweg den Fluss überquerte, um zu mir zurück zu gelangen. Ich muss zugeben, dass ich irgendwie froh über seine Rückkehr war. Ich mochte ihn als Weggefährten, auch, wenn uns kaum etwas verband. Es war angenehmer zu zweit zu sein.

Bei mir angekommen schnaufte er demonstrativ und erklärte: „Ich habe mich verlaufen – ich fürchtete schon, wenn ich zurückkehre, seid Ihr weg.“

„Ihr verlauft Euch oft.“, nun erhob auch ich mich wieder, wenn auch eher träge und klopfte meine Sachen vom Gras sauber.

Der Dieb schnaubte abermals. „Das ist doch kein Wunder. Bäume, Wiesen, etwas anderes gibt es hier nicht! Da wird man wahnsinnig!“

Das brachte mich zum Lachen. „Ihr seid Brehms gewohnt, schätze ich.“

„Ich hätte nie geglaubt, das mal zu sagen – aber ich kann es kaum erwarten, in Annonce zu sein. Jede Stadt voller Unrat und Pest ist mir lieber, als das hier!“

Ich schulterte meinen Stoffbeutel und gemeinsam schlenderten wir über die Graslandschaft Richtung Stadt. Es war nicht mehr weit, das wusste ich. Zwar hatte ich Annonce niemals selbst verlassen, aber wir trafen oft Händler, die uns den Weg genau beschreiben konnten. Insgeheim fragte ich mich, wie lange es der Streuner wohl in Annonce aushalten würde. Einen Tag? Einen halben? Eine Stunde? Ich verstand ohnehin nicht, wieso er mich begleiten wollte. Jetzt sehnte er sich nach Häusern und Menschen, aber spätestens, wenn wir da waren, würde er diese Sehnsucht wohl bereuen. Die Stadt war so viel anders, als seine Heimat.

Das wurde uns besonders dort wieder bewusst, als wir die Hauptstraße passierten, die durch eines der Stadttore führte. Noch auf dem Weg dorthin begegneten uns Armut und Schmutz. Am Wegesrand lag ein Mann zwischen alten Lumpen, tot und zwei Kinder durchsuchten mit feindseligen Blicken seine Sachen. Wahrscheinlich überfallen oder durch die Hitze gestorben, vermutete ich. Nur wenig weiter dann sahen wir die gigantische Mauer.

Es war das erste Mal, dass ich den Stadtwall von außen sah. Er wirkte gigantisch, gebaut aus etlichen Findlingen. Oben gab es einen zinnenbedachten Gang, an denen die Soldaten St. Katherines patrouillierten und rechts und links endeten diese dann in riesigen Türmen, an deren Spitze natürlich die Flaggend es Landes. Es gab sechs Stück dieser Kolosse, an sämtlichen Punkten um die Stadt herum. Zwei von ihnen kannte ich bereits, rechts und links an der Hafenbucht, aber diese hier, an Land und so unglaublich nahe, wirkten fast gefährlich. Ich hielt kurz inne, um hinauf zu starren, zum Wappen unserer Königin und der Inschrift darunter, dass Gesindel hier nicht erwünscht war. Eine Stadt Gottes, so hieß es. Aber Gott hatte sie bereits vor Jahrzehnten verlassen, das war landesweit bekannt. Daran konnte weder das große Jesuskreuz etwas ändern, noch die etlichen bunten, schillernden Farben.

Anschließend warf ich meinen Blick nach rechts zu den Aushängekäfigen. In ihnen klagten jämmerliche Gestalten ihr Lied, Verbrecher wie ich einer war, gefoltert und halb verhungert, undeutlich ob Mann oder Weib. An den Mauern hockten Menschen aller Arten, Frauen, wie auch Kinder und warteten darauf, Einlass gewährt zu bekommen. Manche lungerten hier bereits seit Tagen herum und bettelten, in der Hoffnung, das Geld irgendwann zu besitzen, um hinein zu dürfen. Andere ruhten sich aus, um später Jagd auf unvorsichtige Wanderer zu machen. Slade zischte irgendetwas ächatisches, das klang, wie ein Fluch. Er hatte jetzt schon genug, dabei hatten wir die Stadt nicht einmal betreten. Trotzdem meinte ich den Gestank meiner Heimat bereits in der Nase zu haben. Wir sahen zu, wie eine abgemagerte Frau ohne Zähne gebeugt umher schlurfte und jeden ansprach, den sie fand, nur, um gereizt weg gescheucht zu werden. Sogar auf die Wachen murmelte sie lange ein, zupfte sogar an dessen Ärmeln, ehe sie sich auf dem Boden im Staub wieder fand, hoch rappelte und woanders ihr Glück versuchte.

Zwei Uniformierte starrten uns prüfend an und beobachteten jeden Schritt von uns, machten allerdings keine Anstalten, uns zu kontrollieren. Hier wurden täglich dutzende Bettler vor das Tor geworfen und etliche Händlerkarren fuhren stadtein- und auswärts, um mit den Schiffen im Hafen zu handeln. Da fielen zwei Wanderer wie Slade und ich wenig auf. Alles, was zählte, waren der Wegzoll und den konnten wir bezahlen: Der Rest interessierte hier niemanden.

Dennoch meinte ich, Slade seine Nervosität deutlich anzusehen.

„Wollt Ihr umkehren? Noch könnt Ihr.“, obwohl ich es nicht wollte, klang ich etwas spöttisch, doch der Dieb schüttelte nur den Kopf.

„Denkt Ihr etwa, ich habe Angst vor ein paar verlausten Menschen in Lumpen? Die gibt es in Brehms genauso gut, wie überall anders auch.“, sein Blick allerdings war unruhig, als hätte er eine Art leichte Furcht. Fast, als könnte das Stadttor nach ihm greifen und ihn verschlingen.

„Nun, wenn das so ist?“, ich warf ihm ein Schmunzeln zu, ehe ich weiterging.

Kaum hatten wir das Tor passiert, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen und ging einfach weiter. Dennoch spürte ich deutlich, dass etwas in meinem Innern sich weigerte, die Heimkehr zu genießen. Ich sah die gepflasterten, dreckigen Straßen, die Menschen um mich herum, die uns Reisende nach Geld anflehten, ich sah Kinder, die Ausschau nach greifbaren Geldbeuteln hielten. Es roch nach Tod und Leid, ein Geruch, der in mir unglaublich viele, verdrängte Gefühle hoch holte.

Slade nuschelte irgendetwas davon, dass er mich hassen würde, dafür, dass ich ihn auf diese Idee gebracht hatte – aber ich hasste mich gerade selbst genug. Nie mehr wollte ich einen Schritt in diese Stadt wagen und dennoch hatte ich es wieder getan, sogar dafür bezahlt.

Der Fluss plätscherte noch immer munter zwischen den Gebäuden und bildete die einzige Möglichkeit, den Unrat in die Welt hinaus zu spülen. Es war ein Wunder, dass wir beim Überqueren der Brücke Fische darin schwimmen sahen. Wie damals auch sah man weit hinten die Mauern zum Kloster und wenn man, wie wir, etwas abwärts lief, kam man deutlich dem Hafengeruch näher. Salz, Fisch und Schweiß, Exkremente und andere Gerüche vermengten sich hier zu einem dichten, wirbelnden Nebel, der einem den Atem zu rauben schien. Selbst ich, der es eigentlich seit klein auf gewohnt war, kam nicht drum herum, eine Zeit lang durch den Mund zu atmen. Hier gab es keine Verzierungen, keine Statuen, keine Gottesbilder oder Dekorationen. Hier gab es nur alte Häuser, die ihren Zweck erfüllten – gerade so.

Umso näher wir dem Hafen kamen, desto mehr Menschen drängten sich an uns vorüber. Es war Sommer, die Hauptzeit des Handels und es fiel uns schwer, vorwärts zu kommen. Die Menschen rempelten uns an, schoben sich dicht aneinander vorbei und hier und da spürte man Hände oder Ellenbogen, die sich ihren Weg bahnen wollten. Als wir dann die Bucht erreichten, hatten wir kaum Gelegenheit den Blick aufs Meer zu genießen. Händler lieferten ein uns aus, Marktleute boten schreiend ihre Waren an und überall dazwischen gab es Diebe, Betrunkene und den einen oder anderen Matrosen – manchmal auch alles drei auf einmal. Wir waren da, in Annonce und das bekamen wir mit jeder noch so kleinen Pore, mit jedem Atemzug, mit jedem Blick zu spüren.

Slade und ich blieben kurz stehen, um durchzuatmen und Orientierung zu gewinnen, dann kämpften wir uns weiter. Ich gebe zu, dass ich erst nicht ganz wusste, wo wir lang mussten. Es war lange her, dass ich diesen Weg gegangen war und bereits damals hatte ich mich verlaufen. Als wir dann das Gasthaus erreichten, das ich gesucht hatte, hielt Slade sich gequält die Stirn. Er hatte es die letzte gute, halbe Stunde geschafft, keinen Ton von sich zu geben, ganz gleich, ob wir an Strafkäfigen vorbei kamen, Scheiterhaufen, Müllbergen oder Bettler-Gruppen. Nun aber konnte er nicht anders:

„Bitte sagt mir, dass wir falsch sind.“

Es klang so unglaublich leidend und verzweifelt, förmlich jammernd, dass er mir fast leid tat. Zu seinem Bedauernd waren wir allerdings nicht falsch. Ich musterte den schwarzen Kater und dachte zurück an das, was ich erlebt hatte. Hier hatte ich Nevar kennen gelernt. Hier hatte ich mein Lebens als Sullivan O’Neil beendet, nur, um es jetzt wieder zu beginnen. Hier hatte ich beschlossen, etwas zu verändern. Hier war ich zum Frauenmörder geworden.

Zu meiner Verwunderung wirkte das Gebäude noch heruntergekommener, als ich es in Erinnerung hatte. Ich muss ehrlich sagen, dass es wahrscheinlich Gasthäuser in Annonce gab, die sogar noch besser aussahen, als dieses. Nur noch wenige Fensterläden waren vorhanden, im oberen Stockwerk gab es kaum noch Fensterscheiben und das Dach wirkte löchrig und an manchen Stellen kaputt. Zudem sah eine der Wände fast so aus, als hätte es vor langer Zeit gebrannt.

„Wir sind richtig.“, gab ich ruhig zu und blickte die Straße hinunter. Einige Rotröcke sahen sich mürrisch nach Leuten um, an denen sie ihre Unlust auslassen konnten, aber Kunden schien es nicht zu geben. Die Straße war so gut wie leer. „Es ist nicht das Paradies, aber zumindest gibt es billige Betten.“, wenigstens hoffte ich das. Ich würde es Philipp nicht verübeln, wenn er mich im hohen Bogen raus warf, sobald er mich erkannte. Ich konnte mich noch gut an das Chaos erinnern, das ich vor meiner Flucht veranstaltet hatte. Etliche Rotröcke, die das Haus stürmten und meine Klettereien draußen auf dem Fenstersims.

„Ich verstehe nicht, wieso wir hier rasten müssen. Ihr habt genug Geld für ein angesehenes Gasthaus.“, brummte der Dieb direkt neben mir und zeigte mir deutlich seinen Unmut.

Kopfschütteln meinerseits, dann flüsterte ich: „Ich brauche das Geld für andere Dinge. Tut nicht so, als wärt ihr Luxus gewöhnt.“

Gemeinsam traten wir ein und als würde mir erst dort die Realität wirklich bewusst werden, überfiel mich eine unglaubliche Gänsehaut, als ich das Wehklagen der Katze über der Tür hörte. Innen dann blieben wir stehen und warteten, dass unsere Augen sich an das Dämmern gewöhnten.

Es war traurig.

Von den damals gut zwanzig Tischen waren nur noch etwa fünf Stück übrig, überall lag Staub, es gab viel zu wenig Stühle und auch hier hatte sich mittlerweile der Schimmel in die Wände gefressen. Ich ließ meine Blicke schweifen und erinnerte mich an alte Zeiten. Vor mir lag die Treppe ins Obergeschoss, die auf halbem Wege eine Biegung machte, die Vase allerdings fehlte. Links von mir dann war die Tür zur Küche, direkt hinter dem Tresen. In Erwartung Philipp dort zu sehen ging ich auf diesen zu, doch es war nicht der übliche Wirt, der den Schrei der Katze gehört hatte. Der dickliche Kerl mit den dunklen Augen, der zynischen Art und den breiten Händen.

Stattdessen war es ein hoch gewachsener, junger Mann mit blonder, wilder Kurzhaar-Frisur, fast so groß wie ich, stattlich und ziemlich ungepflegt. Man sah deutlich die Verwirrung in seinem Blick, obwohl er sich über Kundschaft eigentlich freuen sollte.

„Ähm... Ihr wünscht?“, fragte er direkt heraus.

„Ich suche den Wirt dieses Hauses.“, auch ich musste etwas verdattert gewirkt haben, doch als der Junge sich kurz über die Nase rieb, während er antwortete, begann ich zu grinsen.

„Ich bin der Wirt dieses Hauses, Herr – aber wir bewirten nicht mehr, der schwarze Kater ist geschlossen.“

„Aye, ist das so?“, mein Grinsen wurde breiter, denn meine Sicherheit wuchs. Natürlich verunsicherte es den armen Kerl vor mir noch mehr, doch als ich mich vorbeugte, auf den Tresen stützte und so etwas mehr ins Licht der Kerzen kam, blitzte auch in seinen hellblauen Augen Erkenntnis auf. „Bewirtet ihr auch nicht einen alten Freund?“

Es dauerte, doch dann machte es ‚Klick’.

„O’Neil, Ihr?!“, Jack, denn das war dieser mittlerweile ausgewachsene Mann, lachte. „Ich habe Euch nicht wieder erkannt! Eure Haare, euer Bart-... Es ist so lange her!“

Ehe Slade sich versah, umarmten wir uns freundschaftlich und klopften uns auf den Rücken, über den Tresen hinweg. Er freute sich, mich wieder zu sehen und das wiederum beruhigte mich. „Ich dachte, die Rotröcke hätten Euch geschnappt und hingerichtet.“, gab er dann offen zu. „Damals ging eine richtige Hetzjagd los und sie haben hier alles auseinander genommen. Wieso seid Ihr hier? Nevar ist nicht da, falls er es ist, den Ihr sucht.“

„Wir sind hier, weil wir Unterkunft suchen.“, erklärte ich. „Dringend.“, doch Jack schüttelte nur den Kopf.

„Der schwarze Kater bewirtet nicht mehr, er schließt bald, da ich Ende der Woche in die Kaserne umziehe. Ich habe weder Bier da, noch genug Essen. Genau genommen habe ich gar nichts mehr da – sogar die meisten Laken haben die Rotröcke mitgenommen oder verbrannt.“, ein leichtes Seufzen, dann hob Jack die Hand und deutete in den Schankraum. „Ihr seht ja, was aus dem Kater geworden ist. Nach Phils Tod haben sie sich hier regelrecht bedient und die Kundschaft bleibt mehr aus, als zuvor.“

Ich stockte kurz. „Phils Tod?“, hatte ich mich verhört? Der Wirt war gestorben?

Doch nun nickte der Junge. „Sie haben ihn gehängt, etwa eine Woche nach dem Chaos. O’Hagan persönlich hat das veranlasst. Meine Mutter haben sie verbrannt.“, das musste erst einmal sacken. Ich starrte ihn an, dann vor mich und ließ mich auf einen der Stühle sinken. Verbrannt? Durch O’Hagan persönlich? Mir war nicht bewusst gewesen, was ich mit meinem Aufenthalt, geschweige denn mit meiner Flucht verursacht hatte. Ich hatte mir die Gedanken zu diesem Thema förmlich selbst verboten und mich geweigert, mich damit zu befassen. Nun holte mich die Tatsache ein, dass mein Leben hier seine Spuren hinterlassen hatte – ob ich wollte oder nicht. Slade ging währenddessen etwas im Raum umher, er interessierte sich nicht für unser Gespräch. Als er einen Platz etwas abseits fand, setzte er sich, nahm sein Messer und spielte gelangweilt damit herum.

„Das wusste ich nicht.“, ich sprach bewusst leise und gab mir auch keine Mühe, mein ehrliches Bedauern zu verstecken. Der Wirtssohn setzte sich mir gegenüber und lehnte sich ein Stück zurück. „Mein Beileid.“

„Es war klar, dass das früher oder später passiert. Wir galten lange genug als Jakobitenhändler und es war auch kein Geheimnis, was mein Vater von den Katholiken hielt.“, es erstaunte mich, wie locker Jack mit diesem Thema umging. Zeitgleich fragte ich mich, ob es an seiner Reife lag oder ob er es nur spielte. Er war erwachsener geworden, ja, aber auch im Geiste? Nun, wo der junge Mann nicht mehr hinter dem Tresen stand, konnte ich ihn genauer mustern. Er trug wie damals schon die alte Hose seines Vaters, wenn er nicht uniformiert war und noch immer tat sein strohblondes Haar, was es wollte. Einige Pickel und schwarzer Dreck an Hals und Gesicht zeichneten ihn unmissverständlich als Annoncer aus, genauso wie seine verdreckten Nägel. Ich erinnerte mich noch gut an den unsicheren Soldaten, der mir scheu Fragen in meiner Gefängniszelle stellte und versuchte, mich in seine rebellischen Gedanken einzuweihen. Diese Unsicherheit war gewichen und hatte Selbstbewusstsein und Stärke Platz gemacht. Nicht nur den schwarzen Kater hatte die Macht O’Hagans verändert, sondern auch mich und Jack.

Ich fragte leise: „Und du wirst jetzt ganz zur Armee gehen? Und dein Leben hier aufgeben?“, der Junge vor mir nickte. Wie schon damals erklärte er mir:

„Ich habe nicht genug Geld für eine Auslösung und für mein Leben hier reicht es auch nicht. Ich will den schwarzen Kater hinter mir lassen, so lange es noch geht.“

Das klang nur logisch. Wahrscheinlich würde er, würde Jack versuchen den Kater wiederzubeleben, nur im Schuldnerturm landen oder gleich auf dem Schafott. Hier bleiben ging allerdings auch nicht, denn irgendwann würde das Haus ihn wohl unter sich begraben.

„Aber was tut Ihr denn hier?“, unterbrach er irgendwann meine Gedankengänge und schüttelte leicht den Kopf. „Ich verstehe nicht, wieso Ihr nach Annonce zurückkehrt. Wisst Ihr denn nicht, dass O’Hagan Euch überall gesucht hat? Er wird Euch ohne zu zögern hinrichten, wenn er Euch findet, Herr.“

„Genau deswegen bin ich zurück.“, ein leichtes Grinsen meinerseits ließ Jack verwirrt blinzeln. Auch ich beugte mich nun vor, schob die Kerze etwas beiseite und zischte: „Ich habe mein Glück woanders versucht und kläglich versagt. Ich bin es leid, vor ihm davon zu rennen! Ich bin nach Annonce zurückgekehrt, um mich endlich von dieser Hetzjagd zu befreien!“

„Ihr wollt Euch gegen O’Hagan auflehnen?!“, Jacks Augen weiteten sich ungläubig, doch ich erwiderte nur:

„Ich muss es tun, sonst hat das alles nie ein Ende...! Und ich bin hier her gekommen, um dich zu bitten, mir zu helfen!“

Der Wirtssohn zuckte zusammen. „Euch helfen? Seid Ihr verrückt?“

„Ja, das bin ich! Und ich weiß, dass du es auch bist! Ich habe dein Buch gelesen Jack...!“, meine Stimme wurde leiser und verheißungsvoller. Ernst wechselte ich zwischen seinen Pupillen hin und her und griff ihn am Arm, um sicher zu sein, dass er mir auch wirklich zuhörte. „Ich weiß, wie du denkst, wie du fühlst! Und ich weiß, nein, ich hoffe, dass sich das in den letzten fast zwei Jahren nicht geändert hat. Sag mir, dass du nicht tot bist, Jack! Sag mir, dass du noch keine Marionette geworden bist und dass du mir helfen wirst, etwas zu verändern!“

Als könnten sie uns hören, waren wir ganz still, während zwei Passanten draußen vor den Fenstern lachten. Bis sie vollends vorübergegangen waren, starrten wir uns nur an und warteten auf die Reaktion des anderen. Mein Griff wurde fester, als ich merkte, dass von Jack nichts kam. Ich konnte förmlich spüren, dass er zögerte, aber ich spürte auch, dass ich mich nicht irrte. Er hatte sich nicht verändert, was seinen Freiheitsdrang anging.

Leise versuchte ich ihn zu überzeugen: „Du hast mir damals bei Mary-Ann geholfen! Und du wirst mir erneut helfen, nicht wahr? Das wirst du doch? Jack? Das wirst du doch?“

„Ich bin ein Soldat der Krone.“, hauchte der Junge sehr leise und ruhig zurück. „Wenn ich erwischt werde, hängt man mich auf. Ich bin Euch keine Hilfe, wenn ich den Kater verlassen habe! Das wäre viel zu riskant!“

„Dann verlass die Rotröcke!“

„Ich habe kein Geld, Herr! Das wisst Ihr! Ich-...“

Er verstummte abrupt, als ich meinen tiefroten Geldbeutel auf den Tisch fallen ließ. Er rasselte leise und war hörbar schwer. Dabei erklärte ich gelassen: „In diesem Beutel ist genug drin, um dich von der Armee freizukaufen und eine Zeit lang davon zu leben. Wenn du mir hilfst, kannst du es haben und bist frei. Du kannst dir eine anständige Arbeit suchen und ein hübsches Mädchen noch gleich mit dazu.“, der Junge setzte sich aufrecht und nahm so ein wenig Abstand. Verständlich. Bei unserem letzten Zusammensein, war ich so arm gewesen, dass ich auf dem Küchenboden schlafen musste, doch dank Robin hatte sich das geändert. Für meine Pläne brauchte ich Geld und dieses hatte ich jetzt. Zwar nicht endlos und im Übermaß, aber für meine Zwecke würde es reichen – wenn Jack mitspielte.

Er wollte leise wissen: „Und was soll ich dafür tun?“

Die Antwort war einfach. Eine fast gleichgültige Handbewegung meinerseits, ehe ich erklärte: „Du nutzt deine Vorteile als Soldat der roten Armee und findest für mich einen alten... ’Freund’, wenn man so will. Ich brauche seine Unterstützung. Wenn ich Glück habe, ist er hier in Annonce oder zumindest hier im Gefängnis. Wenn er gehängt wurde, will ich das wissen. Hast du ihn gefunden, sagst du mir bescheid und bekommst das Geld für den Freikauf – und natürlich hilfst du mir auch weiterhin.“

„Und wobei helfen?“, Jacks Misstrauen wuchs zwar, aber trotzdem vertraute er mir. Er hatte die kindliche Verehrung, die er mir damals entgegen brachte, nicht vergessen, so schien es. „Was folgt danach?“

„Wir schenken O’Hagan ein paar schlaflose Nächte, zusammen mit ein paar Schweißperlen. Er hat lange genug getan, was er wollte. Und seien wir ehrlich: Was haben wir zu verlieren? Wir müssen nur ein Stück Brot stehlen und sind tote Männer. Warum nicht mit dem Gefühl sterben, gelebt zu haben?“

„Also schön?“, Jack zögerte, ehe er leise hauchte: „Ich habe keine Ahnung, was genau Ihr vorhabt, aber ich bin einverstanden. Ich suche den Mann für Euch und Ihr kauft mich frei. Aber ich kann aussteigen, wann immer es mir recht ist.“, wir gaben uns die Hände und damit war die Sache besiegelt. „Ich werde Euch nicht ewig folgen. Nur, so lange ich es möchte.“

„Einverstanden.“

Slade seufzte im Hintergrund leise, er langweilte sich. Wir sahen zu, wie er aufstand und erklärte, er wolle sich die Stadt ansehen, schon war er verschwunden. Mich störte das nicht. Der junge Soldat vor mir allerdings wirkte noch immer sehr skeptisch ihm gegenüber. Ich fragte mich, ob er das Schlitzohr meines Begleiters bemerkt hatte oder ob es generell an Slades sämtlicher Erscheinung lag, die eher an einen Herumstreicher erinnerte.

Nachdem der Schrei der Katze verklungen war und wir wieder allein, sah Jack erneut mich an und wollte wissen: „Und wen soll ich suchen? Wie heißt der ‚alte Freund’, den Ihr für Euch gewinnen wollt?“

Abermals musste ich grinsen, jedoch deutlich breiter. Es war ewig her, dass ich diesen Namen ausgesprochen hatte. Ich lehnte mich zurück, faltete geduldig die Finger auf meinem Schoß ineinander und flüsterte, ganz langsam:

„Sein Name ist... Mathew Hullingtan Black.“

Nichts steht still

Eine Stadt wächst stetig, so sagt man. Sie wird größer und entfaltet sich in vielerlei Hinsicht. Menschen kommen und gehen, Häuser entstehen und sterben, Läden wachsen oder geraten in Vergessenheit. Man reißt Denkmäler ab oder stellt neue auf, Gerüchte werden geboren und Geschichten pausenlos erzählt. Jede Stadt ist eine eigene Welt, eine Heimat, ein eigenes Land.

Annonce war da keine Ausnahme.

In der kommenden Woche schien ich alle Zeit der Welt zu haben, um mich an meine alte Heimat zu gewöhnen oder eher: Mich wieder in ihr zurechtzufinden.

Ich erinnerte mich an so vieles und dennoch erschien mir umso mehr neu. Der Brunnen auf dem Marktplatz, das alte Kreuz auf dem Dach der heruntergekommenen Kirche, die Rinnen in den Wegen zum Abfließen des Regenwassers, die tiefen Furchen zwischen den buckeligen Findlingen, die endlos tiefen Gassen, dunkel und gefährlich. All das war mir vertraut und nach so langer Zeit in Brehms doch irgendwie fremdartig. Genauso wie damals konnte ich weder dem Gestank nach Teer, noch jenem nach Unrat oder Fisch etwas abgewinnen und viel zu oft fragte ich mich, warum zum Teufel ich zurückgekehrt war. Die wenigen, schönen Dinge, seien es Körbe mit Mirabellen oder farbenfrohe Leinen aus anderen Gegenden, weckten in mir eine Art Gefühl, das man wohl als Heimweh bezeichnen konnte. Brehms war voll von diesen Kostbarkeiten gewesen, aber hier waren es so seltene Dinge, dass sie einem fast unerreichbar erschienen.

Ich nutzte die Tage, um mich umzusehen und alte Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Zwar betrat ich das Klostergelände nicht, aber ich ging über die Brücke hinweg bis an ihre Mauer, diese entlang und lauschte dem Mittags-Läuten der Kapelle. Zwar wohnte ich keinem Urteil bei, aber ich passierte die Galgen auf dem Hauptplatz und betrachtete die Hängenden und jene Gefangenen, die in ihren Käfigen vor sich hin starben. Auch dem Armenhaus von Annonce stattete ich einen Besuch ab, wenn auch nachts, innerhalb der Ausgangssperre. Ich musterte die Gitter zum Tollhaus, das Arbeitshaus, das Kinderheim und etwas weiter das Krankenhaus.

Nichts hatte sich verändert – und doch war nichts beim Alten.

Während dieser Zeit lebten Slade und ich im schwarzen Kater. Es dauerte nicht lange und wir hatten unsere Mittel und Wege ausgetüftelt, billig an Geld oder Essen zu kommen. Gemeinsam gelang es uns, die Gassen und Wege zu unserem Vorteil zu nutzen. Annonce war ganz anders als Brehms, aber die Menschen blieben gleich, was ihre Vorsicht oder ihr Verhalten anging. Weder er, noch ich fingen an diese Stadt zu lieben, aber wir wussten schon bald zu schätzen, welche Vorteile sie für uns offen hielt.

Auf der anderen Seite schien ich eine neue Art von Annonce zu entdecken. Eine Art, die ich als Kind zwar bereits gelebt hatte, die mir aber dennoch niemals so greifbar erschienen war. Nicht nur, dass ich wieder mit dem Bestehlen begann, ich sackte immer tiefer in die Schwärze der Stadt ab und knüpfte Kontakte, die andere lieber mieden.

Zu meinem Erstaunen war besonders Slade sehr gut darin, zwielichte Gestalten kennen zu lernen. Es dauerte nur ein oder zwei Tage, schon hörte ich die mir so vertrauen Sätze „Ich habe einen Bekannten, der...“ oder „Ein, sagen wir, Freund, wüsste da vielleicht...“ und es brauchte nur einen Tag mehr und seine Bekannten waren auch die meinen. Es interessierte mich, was sich so im Hafen herumtrieb und ich wollte wissen, wie man der Ausgangssperre am besten auswich. Für ein oder zwei Silberlinge bekam ich einen Überblick, was die Patrouillen anging und für drei Silberlinge obendrauf sagte man mir obendrein, wo sich O’Hagan zu welcher Zeit befand und wann die Wege der Wachen sich änderten. Man könnte sagen, alles, was um uns herum geschah, wusste ich bereits kurze Zeit zuvor.

Von Black allerdings fehlte anfangs jede Spur. Mehrmals kam der junge Soldat ins Wirtshaus und musste zugeben, dass er nichts gehört oder gesehen hatte. Der alte Pirat schien verschwunden zu sein. Es gab keine erneuten Anklagen, aber auch keine Hinrichtungen, niemand wusste ob er irgendwo angeheuert hatte und von einem Todesfall hatte auch keine Menschenseele etwas gehört. Ich zeigte mich geduldig und da mir bewusst war, dass Jack tat, worum ich ihn bat, kaufte er sich nach einigen Tagen wie versprochen frei. Wir blieben im schwarzen Kater, ließen das Wirtshaus allerdings geschlossen. Von da an dann begannen die ersten Schritte in die von mir geplante Richtung.

Während ich meine Spaziergänge unternahm und besonders nachts immer öfter verschwand, beauftragte ich Jack damit, Papiere zu kopieren. Ich hatte die Idee der Samariter nicht vergessen. Wir fertigten Schriftstücke an, in denen die Samariter dazu aufriefen, sich gegen O’Hagan zu stellen. Kleine Aufklärungsschreiben, simpel gestrickt. Die meisten Annoncer konnten sie zwar ohnehin nicht lesen, aber während der Ausgangssperre verteilten Slade und ich sie heimlich an den Türen der Gelehrten, nagelten sie an die Kirche und einige beförderten wir sogar über die Klostermauer. O’Hagan sollte ruhig spüren, dass er uns nicht besiegte – weder hier, noch in Brehms. Der Wirtssohn machte sich wirklich gut darin, die Seiten zu kopieren und irgendwann fing er sogar an, seine eigenen Texte zu verfassen.

Aber das war nicht alles, was ich vorhatte. Die Schreiben waren nicht die einzigen Gründe für meine nächtlichen Spaziergänge, das verstand auch Slade bald. Wann immer es ging, war der Dieb an meiner Seite.

Das galt auch für jene Nacht, in der ich dem Gouverneur meinen ersten Besuch abstattete.

Wir suchten sein Anwesen auf, das ein wenig außerhalb der Stadt lag, aber noch immer im Innern von Annonce. Es war groß, von einer hohen Mauer umgeben und bildete ein Sinnbild für Glanz und Ansehen. In dieser Nacht war die Luft drückend durch die Hitze des Tages und man konnte die Regenwolken förmlich spüren, die nur darauf warteten, aufzubrechen. Es gab Wachen, die patrouillierten, aber durch meine ‚Freunde’ wusste ich, wann in etwa sie auftauchen würden. Zudem lag der Eingang völlig im Dunkeln und von den entfernten Fenstern aus konnte man uns von den Bäumen oder anderen Schatten sicherlich nicht einmal unterscheiden.

Fast schon ehrfürchtig legte ich beide Hände an die Gitterstäbe und starrte durch das Tor hindurch: Ein schöner Garten mit Kiesweg, der zu einem großen Gebäude zeigte. Drei Stockwerke, helle Wände, dunkle Ziegel und Efeuranken, die daran empor kletterten.

Eine beidseitige Treppe führte zu einer edlen Holztür mit schweren Messingtürklopfern und die Stoffe im Innern wehten leicht durch die offenen Fenster. Überall war das Licht gelöscht, bis auf eines. Ich drehte den Kopf, legte die Stirn an das kühle Metall und musste leicht grinsen. Eine flackernde Kerze erhellte gelblich eines der Zimmer im ersten Stockwerk. Kaum hörbar wisperte ich: „Ihr könnt wohl nicht schlafen, was, O’Hagan? Was ist es, was Euch wach hält...? Sind es die Samariter, mein alter Freund...? Oder ist es Euer schlechtes Gewissen...?“

„Habt Ihr den Verstand verloren?“, Slade hatte ich für einen Moment vergessen, doch sein nervöses Zischen holte mich in die Realität zurück. Er sah sich um, damit wir auch ja nicht verpassten, wenn eine Wache sich näherte. „Es ist Ausgangssperre! Wenn die uns erwischen, müsst Ihr nicht auch noch Selbstgespräche führen, wie ein Wahnsinniger! Tut wenigstens so, als wärt Ihr bei klarem Verstand!“

„Seid Ihr etwa nervös, Slade?“, ich lachte leicht, dann griff ich in meinen Umhang und zog einen der Zettel heraus, den Jack für mich verfasst hatte. Ein wirklich schönes Stück, wenngleich seine Handschrift nicht die Beste war. Anschließend setzte ich einen Fuß auf die untere, waagerechte Stange des Tors, hangelte daran kurz hinauf und spießte das Papier am Zacken der Toroberseite auf. Nachdem mein Kunstwerk vollbracht war, hüpfte ich zurück zu Boden und klopfte meine Handflächen sauber. „Das braucht Ihr nicht sein. Wir besuchen nur einen alten Freund und lassen ihm eine Gute-Nacht-Geschichte hier, das kann kaum etwas Schlechtes sein.“

„In letzter Zeit macht eher Ihr mir Sorgen. Als ich Euch begleiten wollte, tat ich es eigentlich, um dem Kreuzlecker auszuweichen und nicht, um ihn Zuhause zu besuchen.“

Wieder ein kurzes Lachen. „Wollt Ihr zurück nach Brehms?“

„Macht Ihr Witze? Sie nehmen dort alles auseinander, nur ein Schwachsinniger bleibt dort freiwillig!“, darin waren wir uns wohl einig.

Nach einiger Zeit setzten Slade und ich uns in Bewegung und begannen, das große Anwesen zu umrunden, langsam und gelassen. Die Nacht hatte sich über Annonce gelegt, wie ein schwarzer Schleier, aber obwohl es die Ausgangssperre gab, schlief diese kleine Welt nie. Immer wieder hörten wir Bellen oder den Wind, der durch die Äste der Pappeln strich und diesem Ort etwas Geisterhaftes verlieh. Als die Wachmänner uns drohten einzuholen, wichen wir ihnen aus und warteten in einem Gebüsch, bis sie vorüber waren – danach setzten wir unseren Weg fort. Erst, als wir O’Hagans Heim komplett umrundet hatten und wieder am Tor waren, hielten wir erneut kurz an.

Das Tor und der Garten reizten mich, der Kiesweg, aber vor allem auch das Haus. Es schien so einfach, all das durch Klettern zu erreichen, doch natürlich zog ich es nicht wirklich in Erwägung. Alles, was ich tat, war beobachten. Nachdem Slade und ich das Tor zum dritten Mal passierten, war auch das letzte Licht gelöscht.

Wieder legte ich meine Hände ans Gitter, diesmal sprach ich meine Gedanken nicht aus. Was er wohl so lange tat? Ob er über Papier-Stapeln saß? Oder vielleicht betete? Stattdessen wollte ich leise wissen: „Was meint Ihr? Würden wir es schaffen, die Mauer zu überqueren, das Anwesen zu betreten, etwas zu stehlen und zurück zu sein, ehe die Wachen etwas merken?“

„Ihr meint über das Tor?“, der erfahrene Dieb strich mit den Fingern über das raue Metall, dann blickte er nach oben und musterte die Stangen. Ich fragte ihn nicht aus Langeweile, sondern aus ernsthaftem Interesse. Wenn jemand Ahnung von Klettereien und Einbrüchen hatte, dann er. Nach eingehendem Betrachten der Konstruktion, schüttelte Slade allerdings den Kopf. „Keine Chance. Wir kommen zwar rein, aber das Tor ist nach innen leicht gebogen. Wenn man auf dem gleichen Weg wieder raus will, fällt man oder spießt sich womöglich auf. Es sieht einfach aus, aber das ist es nicht.“

„Und über die Mauer?“, erst jetzt löste ich meine Augen vom dunklen Fenster und sah meinen Begleiter aufmerksam an. „Ihr habt sie von allen Seiten aus gesehen, was sagt Ihr dazu?“

„Ich weiß nicht, wie sie von innen aussieht, aber von außen ist sie ziemlich gerade gezogen. Es gibt kaum Vorsprünge, um darüber zu kommen. Ich könnte es vielleicht schaffen, aber Ihr?“, demonstrativ klopfte er gegen den kühlen, dunklen Stein. „Nur runde Steine, man rutscht leicht ab und findet kaum Halt.“

„Also muss man anders hinein.“, ich ging in die Hocke und hob etwas vom Sand an, ließ ihn dann aber zwischen meinen Fingern zurück zu Boden sinken. Slade schien meinen Gedankengang zu erahnen, denn er schnaubte spöttisch.

„Graben? Ist das Euer Ernst? Am besten Ihr fragt die Wachmänner, ob Sie Euch helfen, dann seid Ihr schneller.“

„Es muss aber einen Weg geben. Wir könnten das Tor öffnen, aber das könnte auffallen.“

„Und dann? Was habt Ihr dann vor?“, auch er kam zu mir herunter und gemeinsam starrten wir ins Innere, als gäbe es irgendwo darin eine Antwort, die uns weiterbringen könnte. „Wenn Ihr drin seid? Ich verstehe nicht, was Ihr mit all diesen Jungenstreichen bezweckt. Viel zu holen gibt es im Haus sicher auch nicht – Oder zumindest nichts, was man ungesehen einfach loswird, wenn man keine Freunde hat. Auf dem meisten Zeug dürfte O’Hagans Siegel sein. Ihr riskiert unser Leben für ein paar Spielereien. Und wofür?“

Als ich ihn ansah, musste ich leicht schmunzeln. „Ich dachte, Ihr wolltet schon immer mal in eine gesegnete Bettpfanne scheißen? Er ist nicht der Papst, aber er ist nah dran. Ihr solltet nicht so wählerisch sein, Slade, solch eine Chance kriegt Ihr vielleicht nie wieder. Was meint Ihr? Ist sein Nachttopf vergoldet?“

Auch der Dieb musste grinsen. „Ob wohl ein Kreuz am Grund ist?“

„Wenn ja, scheißt er wohl drauf.“

„Es geht ihm wohl förmlich am Arsch vorbei, aye?“

Während unserer letzten Runde, die wir um das Anwesen zogen, fiel es uns schwer, leise zu sein, trotzdem schafften wir es unbemerkt nach Hause. Meine nächtlichen Besuche wurden zur Alltäglichkeit und irgendwann fing ich an, auch tagsüber O’Hagans Anwesen zu beobachten, was immer es zu beobachten gab. Natürlich gab ich mir Mühe, nicht immer vor dem Tor zu kauern. Ich saß oft nur in einem Abstand herum oder aß mein Brot zufällig in der Nähe. So verstand ich, wo das Kinderzimmer lag, wo das Schlafzimmer und wo die Räume zum Essen oder Arbeiten. Ich bekam einen Überblick über den Rhythmus, dem die Menschen dort folgten und verstand auch, wie was gehandhabt wurde. An manchen Tagen gab es Wachhunde, an anderen nicht. Lieferungen wurden nur von bestimmten Dienstboten angenommen, manche Diener verließen das Anwesen nie, andere waren speziell für Botengänge da. Es gab zwei Kutschen in O’Hagans Besitz. Wenn die schwarze vorfuhr, war er zu wichtigen Angelegenheiten unterwegs. Stand die braune bereit, war seine Reise weniger formell und manchmal hatte er sogar seinen Sohn dabei. Seine Frau sah ich öfters, als ihn. Sie saß oft im Garten, spielte mit ihrem Jungen, fertigte Stickereien an oder widmete ihre Aufmerksamkeit den Blumen. Zwei mal wurde ich bemerkt und weg gescheucht, aber da ich meine Kleidung wechselte, erkannte man zwischen den beiden Treffen keinerlei Zusammenhang.

Leider hatte Slade Recht. Es war nicht leicht, über die Mauer oder das Tor zu kommen, wobei ich allerdings langsam anfing, an der Unüberwindbarkeit der Steine zu zweifeln. Ich hatte eine Idee, nur noch nicht den Mut und genug Gründe, diese umzusetzen.

Nach eineinhalb Wochen dann machte Jack endlich Mathew Hullingtan Black ausfindig und zu meinen Besuchen bei O’Hagan kamen nun auch Spaziergänge in der Hafengegend dazu. Ich wich Männern wie Blackburn oder gar der inquisitorischen Marine bewusst aus, aus Angst davor, an Presser zu geraten oder an mir von damals bekannte Gesichter. Manche von Wilkinsons Matrosen hatten es geschafft, zu überleben und ich meinte sogar kurz einen dieser wieder zu erkennen. Das Gerücht ging um, dass Mathew Hullingtan Black wieder im Hafen unterwegs wäre, aber ich muss zugeben, dass ich anfing, daran zu zweifeln. Er war schon damals nicht der Jüngste gewesen und das Land sein größter Feind. Zudem musste er sich sicherlich mehr vor O’Hagan in Acht nehmen, als ich selbst, denn schließlich war er der Drahtzieher der Meuterei gewesen.

Dennoch entdeckte ich ihn nach einigen Tagen in einem der Wirtshäuser nahe des Kais. Der alte Mann hatte sich verändert, aber erkennen tat ich ihn dennoch fast sofort. Er saß am Tisch des ‚Windjammers’, ein heruntergekommenes Loch, in dem das Bier mehr nach Wasser und Petersilie schmeckte und manche der Huren kaum noch gerade laufen konnten. Man musste geduckt eintreten aufgrund des viel zu niedrigen Türbalkens und außer dem Gestank nach Schweiß und Ausdünstungen nahm man auch deutlich jenen nach Schimmel, Feuchtigkeit und Krankheit wahr.

In solche Schenken kamen die Presser am meisten, darum wunderte es mich, dass Black sich gerade hier aufhielt. Auf der anderen Seite – wer wollte schon einen alten Mann wie ihn zwangsanheuern? Und dass er alt geworden war, älter als ohnehin, stand völlig außer Frage. Ich blieb in einigem Abstand stehen und musterte den Seebären, ergraut und verschwitzt durch die Sommerhitze. Die Männer um mich herum hatten mir allesamt einen kurzen Blick zugeworfen, doch durch meine verdreckte Haut, den alten Umhang und das zause Haar mit Lehmklumpen darin wirkte ich nicht sonderlich gefährlich. Ich gab mir keine Mühe, mich zu verkleiden. Es reichte vollkommen, auszusehen, wie ein Annoncer, um unauffällig zu sein. Einer von ihnen, ein Teil der grauen Masse. Mein Leben in Brehms war nicht einmal mehr zu erahnen, gleiches galt für meine Bildung oder gar meine Vergangenheit als Mönch. Ich hatte dazu gelernt.

Wahrscheinlich war das auch der Grund dafür, dass Black zwar kurz aufsah, dann aber nur seinen Krug griff und einen tiefen Zug nahm. Scheinbar hatte er wieder sein eigenes Rezept aus dem Getränk gemacht, denn er verzog anschließend das Gesicht und klopfte zwei Mal aufs Holz, den Kopf schüttelnd. Ich kannte noch zu gut die Mischung, die er immer trank und in meinen Kieferecken kribbelte es verheißungsvoll, als würde mein Mund sich ebenfalls auf einen Schluck des widerwärtigen Rumfustians vorbereiten.

Da er mir wirklich nicht mehr die geringste Beachtung schenkte, setzte ich mich wortlos ihm gegenüber und musterte ihn nun aus der Nähe. Schon damals war sein Gesicht vernarbt gewesen, alt und rau, doch nun sah man die Spuren der Zeit nur umso deutlicher. Löchrige Pockennarben, eine kleiner Strich neben seiner Nase. Sein Glasauge sah ich nicht, stattdessen hatte der Glücksritter eines seiner zwei Tücher hinunter bis über das Auge gezogen. Sein ungepflegter Bart war ergraut, genauso wie einige Stellen seiner verfilzten Haare, zudem starrte der Mann nur so vor Dreck. Ich kannte den Mantel, den er trug und auch der Dreispitz auf seinem Kopf war mir vertraut. Fast könnte man meinen, er hätte seine Kleidung in den letzten Jahren nicht gewechselt.

Da ich mich nun einfach zu ihm gesetzt hatte, wuchs das Misstrauen im alten Mann und für einen Moment sah Black mich an. Sein Auge schimmerte durch den Alkohol und war gerötet, er hatte viel getrunken, aber das hatte er immer. Nach einigem Schweigen hörte ich ihn knurren: „Kann man helfen?“

„Ich suche jemanden.“, der Wirt brachte mir einen Krug Bier, ohne dass ich danach verlangt hätte, dann verschwand er wieder hinter seinem Tresen. Ich zog ihn zu mir heran und warf einen Blick ins Innere. Etwas schwamm in der Flüssigkeit herum, aber das war normal, wir waren in Annonce. „Einen alten Bekannten.“

„Aha?“, Black zog die Nase hoch und sein Blick wurde deutlich vorsichtiger. Er schien mich nicht zu erkennen. „Und was will der Herr dann von mir?“

„Ihr kennt ihn. Sein Name ist Black, so sagt man.“

Etwas blitzte in seinem Auge auf, doch ich war nicht sicher, wie ich es deuten sollte. Während er sich kurz umsah, beugte er sich vor und zischte dann: „Ich kenne keinen Black, aber wenn er gescheit ist, spricht er diesen Namen nicht zu laut aus.“ Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange es her war, dass er mir seine Fahne ins Gesicht blies. Verfaulte Zähne, einer davon golden, Alkohol und Verwesung. So lange Zeit hatte mich dieser Geruch begleitet.

Trotzdem beugte auch ich mich vor und suchte noch besseren Augenkontakt. Auch meine Stimme wurde zu einem Zischen, als ich wissen wollte:

„Weil er Pirat war?“, doch da Black unbeeindruckt schien, fügte ich fragend hinzu: „Oder...weil er unter Wilkinson segelte, bis O’Hagan die Caroline versenkte?“

Blacks Hand packte so schnell nach meinem Kragen, dass ich vor Schreck fast vom Stuhl fiel. Ich wollte zurückweichen, aber er bekam meinen Umhang zu fassen und noch ehe ich wirklich reagieren konnte, waren wir ganz dicht beieinander. Sein zuvor ruhiger Blick war nun wutverzerrt und drohend, als er zornig zur Antwort gab: „Aye, genug der Spielchen, Junge! Der alte Wilkinson mit dem Teufel in einem Satz, was?! Was zur Hölle willst du?!“

Nun war der Geruch seines Atems so stark, dass er mir fast die Luft nahm. Einige der Umliegenden wurden aufmerksam, aber eingreifen tat natürlich niemand. Viel mehr wollten sie abschätzen, ob es sich lohnte, bei einer Rauferei teilzuhaben.

Ich konnte nicht anders, als den Kopf etwas wegzudrehen.

„Ich will Euch nichts Böses, ich suche nur einen alten Freund.“

„Einen alten Freund, pah! Ich sag dir was!“, sein Griff wurde fester und nun zog Black mich fast über den Tisch hinweg zu sich. Ich war erstaunt, dass er noch immer so viel Kraft hatte, wie damals. „Black hat keine Freunde, nie gehabt, wird er nie! Schon gar nicht eine Landratte, wie dich! Wenn jemand ihn sucht, dann sind’s die Kreuzkriecher und die riecht er meilenweit!“

„Ihr seid nicht dumm, seht hin!“, ich versuchte, einigermaßen zu stehen, aber es fiel mir sichtlich schwer. Die Tischkante drückte mir in die Beine. „Wirke ich wie ein Katholik auf Euch? Wie ein Mann der Inquisition? Aye, eine Landratte, vielleicht, aber eine Landratte mit Pfiff oder nicht? Black? Alter Freund?“

Dieser Satz reichte, damit Black zusammenzuckte. Er starrte mich an, etwas ungläubig, dann zog er mich ein Stück näher zu sich heran und kniff das Auge etwas zu. Ich versuchte den Blick zu erwidern. Durch das Alter war seine Sehkraft schwach geworden, aber jetzt, aus nächster Nähe, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er ließ mich los, setzte sich auf und fast dachte ich, er würde sich bekreuzigen. Stattdessen gaffte er mich einfach nur an.

Grinsend zog ich meine Kleider zurecht und rückte mit dem Stuhl etwas näher an den Tisch. Er hatte endlich verstanden, wer ich war. „Aye, Black, es ist lange her.“

„Beim Jesus, wenn’s ihn denn gibt, im Gesöff war etwas drin.“, der alte Seebär zog seinen Krug zu sich und starrte hinein, dann leerte er ihn mit einem Zug, verzog das Gesicht und starrte mich weiterhin an. „Der alte Black hat’s immer gesagt: zu viel Landgang schadet dem Hirn. Hab ich das nicht gesagt? Immer wieder?“

Mein Grinsen wurde breiter. „Und wie Ihr das habt, Black, jeden Tag aufs Neue. “

„Mehr als die Sonne auf See und da ist der Beweis. Er müsste tot sein, stattdessen sitzt er hier vor mir und ist ein Mann geworden, aye und was für einer. Pfiff, nach wie vor.“

Wieder vollkommen ungefragt kam der Wirt an und tauschte Blacks Krug einfach aus. Ich fragte mich, wie oft er das diesen Abend bereits getan hatte. Nachdem er verschwunden war, hielt Black das Gefäß fest, als würde er deutlich machen müssen, dass es ihm gehörte und ebenso schüttelte er nun schon das zweite Mal den Kopf. „Er lebt und er sitzt vor mir. Ich glaub die Flut hat mir den Grips weggespült, ich muss verrückt sein. Er, Son, aus Fleisch und Blut und das nach so langer Zeit?“

„Unkraut vergeht halt nicht.“, die Arme auf dem Tisch verschränkend kam ich ihm so nahe, wie es mir möglich war. Fast schien es, als hätte es all die Jahre zwischen uns gar nicht gegeben. „Ich war lange fort, weg aus Annonce. Aber jetzt bin ich wieder da und habe einige Fragen an Euch.“

„Vergangenes lässt man ruhen, Son, das sollte er wissen.“

„Das heißt, Ihr wisst, warum ich Euch aufsuche.“, da mir das Thema selbst etwas zu ernst war, rückte ich nun noch ein Stück näher an ihn heran und sah mich kurz um. Die anderen Matrosen zeigten kaum noch Interesse. Es gab keine Prügelei und somit auch keinen Grund, uns Aufmerksamkeit zu schenken.

Aufgrund der Tatsache, dass ich mit meiner Vermutung allem Anschein nach richtig lag, wich Black mir aus und zischte: „Zu tiefe Gewässer sind keine gute Sache, Son. Nicht für ihn.“

„Ihr meint wohl fremde, Black? Es geht um Niemandsland, Ihr seid mir Antworten schuldig. Ich war es, der Euch vom Galgen freikaufte. Wäre ich nicht, wärt Ihr tot.“

„Und ich war es, der ihm half, auf See zu überleben, nicht wahr? Wo wäre er gewesen, wenn der alte Black ihm nicht unter die Arme gegriffen hätte, hä?“, es brauchte nur ein paar Sätze, um alte Bekanntschaften aufleben zu lassen und ebenso wenig, um diese Freude in Missmut zu verwandeln. Black wurde deutlich finsterer. Ihm war nicht nach Reden, nicht zu diesem Thema. Ein Wiedersehen hatte er sich sicherlich anders vorgestellt.

Dennoch konnte ich es nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ich hatte Fragen und nur er konnte mir Antworten liefern. Ich zischte mit Nachdruck: „Also schön, somit herrscht Gleichstand. Trotzdem seid Ihr mir die Antworten schuldig! O’Hagan jagt mich, seit wir auf Niemandsland waren und ich weiß nicht einmal, warum! Ihr müsst mir erklären, was in der Kiste war und wieso er denkt, dass ich sie hätte!“, statt mir zu antworten, trank Black nur, doch als er den Krug zum zweiten Mal anhob, hielt ihn seinen Arm einfach fest. Ich war nicht mehr der unerfahrene Kerl von damals, der sich mit wenigem Wissen zufrieden gab und tat, was sein Kamerad ihm riet. „Wagt es nicht, mich zu ignorieren! Ich habe Euch als Freund gesucht, aber ich zögere nicht, wenn ich diese Freundschaft brechen muss!“

„Er droht mir?!“

„O’Hagan sucht Euch genauso wie mich, Mathew Hullingtan Black...!“

Sein Name klang wie ein bedrohlicher Zauberspruch, so düster und leise zischte ich ihn dem Piraten entgegen. Dieser erstarrte etwas, allerdings nicht geschockt, sondern finster. Allein dieser Name gab mir genug Macht, um ihn damit in die Enge zu treiben. Ich müsste ihn nur zu laut aussprechen und binnen kürzester Zeit wüsste der Gouverneur genau, wo er nach ihm zu suchen hatte.

Irgendwann sah scheinbar auch er das ein, denn er ließ das Bier zurücksinken und spuckte neben dem Tisch auf den Boden. Sein langsames, tiefes Knurren klang unterschwellig aggressiv: „Aye, er hat sich nicht verändert. Etwas weiter ist er, aber mehr auch nicht.

Ich weiß nichts von der Kiste. Sie war in seinem Fass, nicht in meinem und wahrscheinlich ist sie mit der Caroline untergegangen. Es gehen Gerüchte um, dass man sie über Bord geworfen hat, um sie zu retten. Aber er weiß genauso gut wie ich, wie gern die Männer Märchen erzählt haben.“

„Ich glaube Euch kein Wort. Ihr habt sie, nicht wahr? Und Ihr habt die Spuren so gelegt, dass alle Finger auf mich zeigen.“

Blacks Lachen war tief und rau, fast, als würde es ihm Schmerzen bereiten. „Auf ihn?! Wenn ich die Kiste hätte, bei Gott wenn es ihn gibt, was würde mich dann hier festhalten?! Er hat ja keine Ahnung!“, anschließend legte der Glücksritter den Arm um mich und zog mich so nahe an sich heran, dass ich erneut kaum Luft bekam. „Eins kann er mir glauben, Son:

Der alte Black ist kein Idiot gewesen...! Ist er immer noch nicht! Wenn ich was wollte, dann hab ich es bekommen und wenn ich meinen Arsch für was riskiere, dann nicht aus Langeweile, Teufel noch eins!“, seine Pranke schlug auf die Tischplatte und brachte die Kerze vor uns kurz zum Flackern. „Ich habe die verfluchte Kiste nicht, aber wenn ich raus krieg, wo sie steckt, bei meinem Holzbein, ich werde den Bastard finden, der sie hat und ihm jedes Körperteil einzeln abreißen und ihn ertränken und tot prügeln, mein Wort darauf, der setzt die Segel nie wieder!“

„Was war in ihr?“, hakte ich weiter nach, doch Black ließ mich los und trank nur gelassen. „Was war in der Kiste, Black? Wofür all dieses Theater? Ihr segeltet jahrelang unter Wilkinson, das setzt man nicht einfach aufs Spiel!“

„Er hat keine Ahnung?“

„Nein, woher auch?“

Erneut lachte der Mann, laut und dröhnend. Dabei legte er den Kopf kurz in den Nacken und wischte sich eine Träne vom Auge. „Er wird jahrelang gejagt und hat keinen Dunst?! O’Hagan, der alte Hund, er hat scheinbar doch Sinn für Humor!“

Bitter stellte ich fest: „Ich finde das nicht im geringsten witzig.“

„Das glaube ich ihm gern - aber er hat sich den Wind ausgesucht, aye?“, ich kannte es bereits von ihm, dass man mehrmals fragen musste, um Antworten zu bekommen. Meistens endeten solche Ratespielchen damit, dass ich kapituliere und mich zwangsweise mit Schweigen zufrieden gab. In der Vergangenheit zumindest. Diesmal jedoch wollte ich Antworten. Ich beschloss, nicht locker zu lassen und so lange nachzuhaken, bis der Seemann alles preisgab, was es zu wissen gab.

Wahrscheinlich sah man es mir an. Black schien zu erahnen, dass er diesmal nicht weit kam mit seiner ausweichenden Art. Während er einen erneuten Schluck nahm, starrte er mir über den Krugrand hinweg in die Augen und seufzte irgendwann. Ein wenig ernster, aber vor allem deutlich leiser, beugte dann auch er sich zu mir und wisperte, als würde jedes Ohr des Raumes allein uns gelten:

„Aye, er soll gut zuhören. In der Kiste war Gold, jede Menge, aber nicht nur das. Man munkelt, dass darunter auch jede Menge Papier war. Der alte John hat Wilkinson schon lange im Auge gehabt, das kann er mir glauben. Dutzende Male haben wir die Priesterschweine getroffen, dutzende Male haben wir Blut und Männer gelassen. Nicht umsonst hat er ihn niedergeschossen, dieser Hund!“

Ich fragte mit krauser Stirn „Papier?“, doch diesmal sprach der Pirat von ganz allein weiter:

„Aye und nicht irgendwelches. Ich weiß nicht, was genau, aber es ist interessanter als alles Gold, das die vermaledeite Kiste uns bieten könnte! Der alte John war Wilkinsons Soldat gewesen, früher, bei der Marine und der Pfaffe hatte Dreck am Stecken, damals wie heute. Nicht umsonst hat er Wilkinson hinterher gejagt, als er von der Kiste erfuhr. Ich weiß nicht, was auf dem Wisch drauf stand, aber was auch immer: Es war mehr wert, als Gold und Juwelen!“

„Also...“, versuchte ich zu schlussfolgern. „...wart Ihr gar nicht hinter einem Schatz her, sondern nach dem Schreibgut? Ihr wolltet O’Hagan damit erpressen?“

„Als hätten die anderen Idioten etwas damit anfangen können! Diese Hunde!“, wie zuvor bereits konnte ich Blacks schweren Arm auf meiner Schulter spüren, zusammen mit seinem festen Griff, als er mich näher zog. So dann raunte er mir vertraulich ins Ohr: „Aber er, Son, er hatte Pfiff... Wir beide, wir waren unschlagbar, was? Wir hätten das Schiffchen geschaukelt, er und ich. Die Idioten, die waren nur Mittel zum Zweck, ein wertloser Haufen hirnloser Ratten – aber er und ich, wir waren was besonderes, aye? Eine Mannschaft.“

„Wenn wir eine Mannschaft sind, dann sagt mir, wo diese Truhe ist.“

„Ich habe die Truhe nicht verflucht noch mal!“, ich zuckte unglaublich zusammen, als der Mann neben mir laut wurde und auf den Tisch donnerte, rührte mich aber nicht. Stattdessen starrte ich auf das Holz vor mir und hörte sein anschließend noch intensiveres Zischen: „Wenn ich sie hätte, wäre ich längst auf Niemandsland, guter Rum, ein paar Dirnen, bis der Teufel endlich sein Ende gefunden hat und ich meinen Frieden! Ich hätte mehr damit anzufangen gewusst, als diese Kerle, das weiß er selbst! Ich hätte dreimal, viermal, hundertmal so viel rausgeholt, als in dieser Truhe lag!“, Black ließ mich los, griff seinen Krug und trank abermals. Er war zornig, innerlich, aber dieser Zorn galt nicht mir. Er galt den Kerlen, die ihn verraten hatten und der Tatsache, dass alles umsonst gewesen war. Vielleicht lag die Truhe irgendwo auf dem Grund des Meeres, vielleicht war sie irgendwo gestrandet, er wusste es nicht und als ich das gereizte Funkeln in seinem glasigen Auge sah, glaubte ich es ihm. Neben mir saß kein Schauspieler, kein Theaterkünstler. Neben mir saß ein Mann, ein alter Mann, dessen Vorhaben gescheitert war. Er hatte verloren – und ich scheinbar auch, die Kiste war vorerst unerreichbar. Ich griff nun auch mein Getränk, hielt es mit beiden Händen, stützte die Unterarme auf den Tisch und starrte still vor mich hin.

Mein Plan löste sich gerade in Luft auf, obwohl ich ihn nicht einmal richtig begonnen hatte. Weder wusste ich nun, was in ihr war, noch konnte ich die Truhe gegen O’Hagan verwenden. Ich hatte nichts in der Hand, abgesehen von kopierten Zetteln. ‚Jungenstreiche’, Slade hatte wohl Recht. Was bewirkten sie schon? Sicherlich ärgerten die Katholiken sich, aber sie rissen die Papiere einfach ab und mit der Zeit wurde es zur Gewohnheit. Mir würden irgendwann die Mittel für neues Papier oder Tinte fehlen und dann standen wir wieder am Anfang – nur, dass wir nun ein Maul mehr zu füttern hatten: Jack.

Doch dann kam mir eine Idee. Unbewusst zog ich einen meiner Mundwinkel hoch.

Eine Tatsache, einen wichtigen Fakt, hatte ich fast übersehen. Mein Plan war nicht gescheitert, zumindest noch nicht. Einen Trumpf hatte ich noch im Ärmel, nun mehr, als zuvor. Ich hatte nicht verloren, noch nicht. Ich musste nur in die richtige Richtung denken, dann würde ich auch weiterkommen. Pfiff haben eben.

Statt meinen Bierkrug zu leeren, schob ich ihn zu Black hinüber, legte einige Münzen daneben und erhob mich. Dabei erklärte ich: „Ihr habt mir sehr geholfen Black. Und ich bin mir sicher, dass wir uns wieder sehen.“

Der Pirat schnaubte nur. Er wusste nichts von meinen Plänen, also zweifelte er wohl an meiner Aussage. Ruhig griff er mein Handgelenk und zog mich leicht zu sich hinunter.

„Er bleibt also in Annonce, hä?“

„Vorerst schon, denke ich.“

„Aye, es stimmt schon.“, nun ließ der Glücksritter mich los. Seine Hand klopfte mir auf den Rücken, als wäre ich ein Freund aus alten Zeiten. „Er stinkt nach Blut, nicht nach Meer.“

„Gerade Ihr müsst große Reden schwingen!“

„Meine Hände sind sauber, Junge! Nach wie vor!“

Wir lachten und es schien, als wären wir noch immer in der Kombüse der schaukelnden Caroline. Doch alles hatte sich verändert... Er, Annonce. Aber auch ich, das wurde mir nur umso klarer.

Und es würde sich noch viel mehr verändern, dafür würde ich sorgen.

Spiele

Wenn man sich auf etwas konzentriert, gehen die Dinge viel leichter von der Hand, als wenn man sie nebenbei macht. Oder?

Manchmal hatte ich allerdings das Gefühl, dass vieles ganz nebenbei funktionierte. Bei Schach allerdings brauchte man ein Mittelmaß. Entweder man machte sich verrückt oder aber, man bekam nicht einmal mit, was der Gegner für Züge tat. Das Schlimmste war, dieses Mittelmaß irgendwie zu erreichen – besonders in diesem Moment.

Jack wollte wissen: „Er konnte Euch also nicht weiterhelfen?“ Und wahrscheinlich war ihm nicht einmal bewusst, dass er mit dieser winzigen Frage mein Mittelmaß in tausend Stücke zerschlug und das zum gefühlten tausendsten Mal. Er, Slade und ich hatten uns in den schwarzen Kater zurückgezogen, während draußen ein Platzregen die Straßen förmlich ertränkte. Es war Sommer und die Luft drückend, doch nun, wo die Gewitterwolken endlich aufgebrochen waren, wurde es deutlich angenehmer. Das Klappern der Regentropfen auf dem Dach ließ alles monoton und niedergeschlagen wirken. Dazu kam das Dämmerlicht, obwohl es gerade mal Mittag war, zusammen mit der Stille der Stadt. Melancholisch, wenn man so wollte, aber angenehm.

Während der Wirtssohn am Tisch saß und einige Papiere kopierte, hatten der Brehmser und ich auf dem Boden Platz genommen, als wären wir Ketzer aus dem Ausland. Fast erinnerte es mich an meine Zeit in den verstecken Schreibhöhlen, wo wir auf dem Boden kauerten und kopierten.

Wir spielten mit unserem Schachzabel, eines unserer wenigen Mitbringsel aus Slades Heimatstadt und leider hatte ich nicht den Eindruck, dass ich gewann. Noch immer liebte ich dieses wunderbare Stück fast abgöttisch, seien es die kleinen Schnitzereien oder das Brett selbst, verziert mit Ornamenten und Blätterwerk in bunten Farben. Es hatte viel gekostet, aber das war es wert gewesen. Konzentriert starrten wir beide auf das Spielfeld vor uns. Ich war am Zug, aber wie immer schienen wir gleichstark zu sein. Ich musste Acht gaben, nicht falsch zu setzen, wenn ich nicht verlieren wollte. Der Sieger bekam das heutige Bier bezahlt und das konnte bei Slade teuer werden.

Hörbar abgelenkt erklärte ich: „Das kann man so nicht sagen.“, dann wollte ich nach einer der Figuren greifen, hielt aber im letzten Moment inne. Ich war unsicher, was ich setzen sollte und Slades unbeteiligter Blick machte es mir nicht einfacher. Zudem fühlte ich mich etwas unter Druck gesetzt – ich wollte vor Jack nicht verlieren. Würde Slade grinsen, wüsste ich wenigstens, wenn ich Fehler machte. Ruhig zog ich meine Hand also wieder zurück und wiederholte im Hinterkopf abermals, welche meiner Figuren bedroht wurden und welche nicht. Nur ein einziger meiner Venden war noch übrig – der Arzt. Er stand nur wenige Schritte entfernt von meiner Königin und die Versuchung war nur allzu groß, ihn zu nehmen und einen Schritt weiter zu setzen. Wahrscheinlich würde Slade einen seiner Bischöfe nehmen, um auch den letzten Anhänger meines Fußvolkes zu schlagen, aber täte er das, könnte ich mit einem meiner Rocken reagieren. Eigentlich konnte man in diesem Spiel voraus denken, planen was der andere tat, aber ich gebe zu, dass ich das bei Slade nie wirklich schaffte. Fast, als würde er mit Absicht falsche Fährten legen. Wie ein Dieb eben.

Ich war unsicher. Vor allem, da Jack trotz seiner Arbeit ein Gespräch mit mir suchte und weiter nachhakte:

„Das heißt also, er konnte Euch weiterhelfen?“

„Er konnte zwar meine Fragen nicht beantworten, aber er hat mich zumindest in meinem Denken bestärkt.“

Der Brehmser vor mir lachte: „Vielleicht seid Ihr im Denken stärker geworden, schneller jedoch nicht. Wenn Ihr nicht bald einen Zug macht, stauben die Figuren ein.“

„Drängt mich nicht.“, ich hatte mich entschieden und schob meinen Bauern einen Schritt nach vorn – bereute es aber im nächsten Moment, da Slade statt seinen Bischoff einfach seinen Gaukler versetzte. Fast, als würde es ihn gar nicht interessieren, was ich tat und als hätte er längst gewusst, was ich tun würde. Ich warf ihm einen finsteren, vorwurfsvollen Blick zu und wollte deutlich zerknirscht wissen:

„Wollt Ihr ihn nicht besiegen?“

Doch mein Gegenüber schnaubte nur etwas spöttisch. Scheinbar hatte Slade keine Lust, meinen Plänen nach zu agieren. Es war zum verrückt werden!

Für einen kurzen Moment machte Jack eine Pause, ließ die Schreibfeder sinken und musterte unser Spiel, ehe er fragte: „Und was habt Ihr als nächstes vor? Ich habe nun zwei Tage lang fast ohne Pause kopiert. Es wirkt allerdings nicht so, als würde O’Hagan das irgendwie stören, Herr.“, der junge Mann rieb sein Handgelenk etwas, fast wie zur Verdeutlichung seiner Worte.

„Wie kommst du darauf?“, ich sah zu ihm hoch.

Statt Jack antwortete jedoch Slade: „In Brehms hat er einen Kreuzzug veranstaltet, hier ermahnt er nicht einmal das Volk. Man könnte meinen, es interessiert ihn nicht.“

Das stimmte leider. Kurz donnerte es und wir alle sahen nach oben. Das Grollen hielt lange an, als würde es über unser Dach hinweg rollen. Nachdem es etwas verklungen war, gab ich zur Antwort:

„Es interessiert ihn. Aber er wäre ein Idiot, würde er seine Wut offen kundtun.“, diesmal bewegte ich meinen Bischof ohne Zögern, denn durch meinen letzten Zug war der Weg endlich frei, doch kaum bedrohte ich Slades König, machte dieser einen Schritt zur Seite.

„Aber in Brehms hat er das doch getan oder nicht?“, wollte Jack aufmerksam wissen. „Nach dem, was Ihr mir erzählt habt, hat er dort sogar ein Exempel statuiert.“

„Brehms ist anders, als Annonce, Jack..“, ich ließ das Schachzabel nun erneut aus den Augen. Ruhig stützte ich meinen Arm auf das Holzbett neben mir und bewegte die freie Hand beim Reden, während ich fort fuhr: „Brehms und Annonce sind grundverschieden. Du warst nie da, es ist nicht vergleichbar. Brehms ist viel kleiner, schöner und sauberer. Sie sind viel weiter, als wir, was den Ausbau der Straßen oder die Kultur angeht. Im Gegensatz zu Annonce sind dort Gilden erlaubt und durch die Lage haben sie viel mehr Möglichkeiten für Handel.“

„Aber wir haben den Hafen.“, konterte der Junge desinteressiert. „Wir haben auch viel Handel. Außerdem jede Menge Fisch.“

Und Slade stimmte lachend zu: „Und das riecht man meilenweit.“

„Das ist gut möglich. Was ich sagen will ist aber, dass ein Exempel dort viel eindrucksvoller ist, als hier. In Brehms gibt es keine Galgen und Scheiterhaufen mehr, außer bei ganz Besonderen Ereignissen. So gewaltvolles Vorgehen ist für die Menschen dort nicht alltäglich. Für Annoncer schon. Würde O’Hagan jemanden hinrichten lassen, wäre das nichts Neues. Denk an deinen Vater, Jack, an deine Mutter. Hat es irgendjemanden schockiert, dass sie sterben mussten? Nicht mal dich selbst oder? Erschüttert, ja, aber es war nicht überraschend.“

Als ich Jacks Eltern als Beispiel nahm, wich der Junge meinem Blick etwas aus und fuhr sich durch das blonde Haar, ein wenig nachdenklich vielleicht. Es stimmte, er war nie in Brehms gewesen und wahrscheinlich würde er diese Stadt auch niemals erreichen. Weder konnte er sich eine Aufenthaltsgenehmigung leisten, noch würde er eine Arbeit finden. So wie ich damals hatte er, als junger Mann aus Annonce, kaum eine Chance, sich dort einen Namen zu machen. Vor allem, da man bei ihm seine Herkunft viel deutlicher heraushörte, als bei mir.

Nach einigen Sekunden nickte er knapp. „Gut, das leuchtet ein.“, doch dann sah er mich abermals an und legte die Feder nun ganz beiseite. „Aber das zeigt nur umso mehr, dass wir es hier schwerer haben, Herr. Ich gebe mir wirklich viel Mühe mit der Kopier-Arbeit. Ihr wisst, ich tue, was Ihr mir sagt und ich tue es gern. Aber ich habe das Gefühl, dass es umsonst ist. Ich habe das Gefühl, dass ich für nichts Tag und Nacht hier sitze und schreibe.“

„Es ist schwer, damit etwas anzufangen.“, gab Slade grübelnd zu. „Zumindest für Annoncer. Die meisten Menschen können nicht lesen. Zwar lernen es immer mehr, aber nicht hier in dieser Stadt. In Brehms war es leichter, den Menschen die Texte nahe zu bringen. Durch die vielen Gilden und Händler sind viele gebildet. „

Mich störte das Thema ein wenig. Nicht nur, weil die zwei anfingen, an meinen Plänen zu zweifeln, sondern auch, weil sie Recht haben könnten. Ich wandte mich wieder dem Brett zu und beschloss, das Gespräch den beiden zu überlassen. Ruhig versuchte ich weiterzuspielen, doch das Gerede lenkte mich zu sehr ab. Ich hatte schon wieder vergessen, was genau mein Ziel gewesen war. Ein wenig überfordert versuchte ich, die Figuren auf dem Spielfeld durchzugehen. Acht weiße von meiner Seite, neun von Slade. Mit etwas Glück könnte ich vielleicht ein Patt erreichen, so hoffte ich.

„Wie ist es in Brehms, Herr?“, der Wirtssohn drehte sich vom Tisch weg und sah meinen Gegner aufmerksam an. In den letzten Tagen hatten sie das erste Mal angefangen, richtig miteinander zu sprechen und Jacks Skepsis ihm gegenüber schwand allmählich. „Ward Ihr Euer ganzes Leben dort? Und ist Brehms wirklich so schön, wie man sagt? ‚Die goldene Stadt, in der es alles gibt’, nicht wahr?“

„Sie ist schöner, Junge.“, der Streuner grinste ein wenig und zeigte seinen Goldzahn dabei. „Es gibt keine Worte, die meine Heimat beschreiben könnten. Die Märkte sind viermal so groß, wie die hier bei euch. Es gibt dort Dinge, die du dir niemals erträumen könntest. Früchte, die du nirgendwo anders finden kannst und Leinen aus so feinem Stoff, dass sie zwischen deinen Händen dahin gleiten.

Und die Frauen, Jack... Die Frauen...“, sein Grinsen wurde breiter und als ich aufsah, registrierte ich Jacks gerötete Wangen. Sein Blick zeigte deutliches Interesse und innere Aufregung. Und das sicherlich nicht nur, da er schon immer von fremden Orten träumte. „Du glaubst nicht, was die Weiber aus Brehms alles können. Nicht jede, natürlich, aber die guten Dirnen, Jack, die Ihr Fach beherrschen – Ich schwöre dir, du willst kein anderes Weib mehr. Ich weiß noch, als ich eine vollbusige Schönheit mitnahm in ein altes Lagerhaus. Erst war sie ganz zärtlich, doch dann-...“

„Ihr seid am Zug.“, demonstrativ stellte ich meinen Ritter ein Stück nach vorn und bedrohte so sowohl Slades Rocken, als auch abermals seinen König.

Der Brehmser zuckte unwillkürlich zusammen und zog die Augenbrauen hoch. „Ihr greift erneut an?! Lernt Ihr nicht aus Euren Fehlern?! Wollte Ihr Euer ganzes Geld verlieren?!“

„Ich bin eben ein Mensch der Offensive.“, und da Slade nun wieder etwas beschäftigter war, wandte ich mich Jack zu und sprach für den Dieb weiter: „Frauen gibt es aber auch in Annonce genug, dafür musst du nicht in fremde Städte. Und wenn es nach den Plänen der Inquisition geht, dann werden wir eines Tages eine genauso gute Stadt haben.“

„Meint Ihr wirklich?“, ich sah zu, wie der Junge sich ein wenig bequemer hinsetzte und ganz genau beobachtete, was Slade tat. „Es wäre schön, wenn Annonce sich von der Angst befreien ließe. Es traut sich kaum noch einer, etwas laut zu sagen. Oder zu denken – wenn überhaupt noch jemand denkt.“

Gerade wollte ich etwas erwidern, da hörte ich, dass Slade sich wieder aufrichtete.

„Ihr seid.“, es war nervenaufreibend, dass der Brehmser vor mir so schnell fertig war mit seinem Zug, doch viel Auswahl hatte er auch nicht. Ein wenig übereilt vielleicht stellte ich meinen Ritter direkt neben Slades Arzt. Dieser schlug ihn mit seinem Bischoff und ich wiederum diesen mit meinem letzten Venden. Es ging etwas zu schnell, denn ehe ich mich versah hatten wir die Rollen getauscht und mein Gegner war es, der angriff. Erst kam mir sein Arzt immer näher, was ich mit dem Vorrücken meines Bischofs konterte und schon hatte sein Ackermann ihn geschlagen.

Ich war sichtlich überfordert und fasste mir ans Haar, das Gesicht etwas verziehend. Viel Geld hatte ich wirklich nicht mehr, abgesehen von meiner Reserve. Es war nicht meine Absicht, nun schon den zweiten Abend für alles aufzukommen. Der Regen ließ ein wenig nach, es wurde ruhiger im Zimmer, aber helfen tat es mir nicht.

Zufrieden, da ich erst einmal wieder ruhig gestellt war, griff Slade sein altes Thema wieder auf: „Zurück zu den Frauen, Jack. Glaub mir, du hast nicht geliebt, wenn du keine Brehmser Dirne hattest.“

„Die Arbeiten einer Hure haben doch wohl kaum mit Liebe zu tun oder?“

Jacks Frage ließ mich auflachen. Ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln: „Wenn man keine guten Eigenschaften hat, Jack, besteht Liebe eben nur aus Bezahlung.“

„Lacht Ihr nur. Wir werden sehen, wer heute Abend zahlt.“, der Brehmser griff seinen Bierkrug, trank ein wenig und stellte ihn zurück zu Boden. Dann suchte er eine bequemere Haltung. Es war anstrengend, so lange auf dem Boden zu sitzen, aber da es nur noch einen Stuhl im Zimmer gab, ging es nicht anders.

Ich wagte es, seinen König mit meinem letzten Venden zu bedrohen und es dauerte nicht mal fünf Sekunden, da gehörte auch dieser der Vergangenheit an. Ein leiser Fluch, begleitet von der spöttischen Feststellung: „Ihr seid unkonzentriert. Habt Ihr vergessen, dass mein König ebenso gut schlagen kann, wie jeder andere?“

„Ist es verwunderlich, wenn man mich dauernd in ein Gespräch verwickelt?“, da ich ein schlechter Verlierer war, wurde ich mit jedem Verlust deutlich mies gelaunter, doch das hinderte Slade nicht daran, weiterzuspielen wie bisher. Das Wort Mitleid kannte er bei solchen Dingen nicht. Ich starrte auf das karierte Feld vor mir, rieb meine rechte Schläfe und versuchte, mir eine Strategie zu überlegen, was mit fünf Figuren gegen neun alles andere als einfach war.

Leise gab der Wirtssohn zu: „Ich wünschte, ich könnte das Spiel. Es sieht so kompliziert aus, sicher macht es Spaß.“, vielleicht wollte er mich damit aufmuntern, vielleicht war es ernst gemeint, ich wusste es nicht.

Slade lachte. „So kompliziert kann es nicht sein, wenn ein Annoncer es beherrscht – na ja, mehr oder weniger.“

Gereizt versuchte ich mein Glück, indem ich Slades König mit meinem Turm lockte. Es funktionierte, doch kaum rückte ich mit meinem zweiten Turm an, um seinen Bauern zu schlagen und den König zu bedrohen, besiegte er mit diesem meinen ersten. Vier Figuren gegen sieben - Es war zum verrückt werden!

Ein wenig aggressiv stellte ich fest: „Gut, vielleicht bin ich nicht gut in diesem Spiel, wenn ich abgelenkt werde, aber ich wage zu behaupten, dass wir im Grunde gleichstarke Gegner sind.“

„In letzter Zeit lässt Eure Spielart stark zu wünschen übrig.“, wieder umkreisten meine Finger die Figuren, wieder zog ich sie zurück. Wäre ich nicht so stolz, hätte ich wohl aufgegeben, aber diesen Gefallen wollte ich Slade nicht tun. „Besonders, seid wir in Annonce sind, seid Ihr mit den Gedanken woanders.“

Stattdessen antwortete ich schnippisch: „Ich hebe mir mein strategisches Denken eben für ernstere Dinge auf.“

„Wenn Eure Gedanken Euch bei so einfachen Dingen behindern, solltet Ihr vielleicht überlegen, ob Eure Gedanken Euch gut tun.“, Slades Krug war leer. Er erhob sich seufzend, steuerte den Tisch an und füllte ihn. Währenddessen starrte ich auf das Schachbrett und versuchte, seine Worte weg zu schieben.

Ob sie mir gut tun, hm?

Ich hätte damals auf ihn hören sollen. Ich hatte mich verändert, seit wir Brehms verlassen hatten, aber mitbekommen hatte ich es nur gering. Das, was er damals sagte, beschäftigte mich noch lange danach. Es war eine Art Warnsignal – das ich ignorierte.

Verbissen griff ich eine der Holzfiguren und ließ sie dann wieder los, obwohl es gegen die Regeln war. Was wusste er schon? Ich sprach mit keinem der beiden über das, was mir fast permanent im Kopf herumschwirrte. Und durch diese Abwehrhaltung schafften es Slades Worte nicht, etwas in mir vollends zu bewegen.

Um abzulenken, fing ich an zu erklären. „Die Figuren sind übrigens nicht nur dazu da, zu gewinnen. Sie haben eine viel größere Bedeutung. Wenn man weiß, wie, kann man viel aus den Spielzügen herauslesen und so viel über sein Gegenüber lernen. Tut also nicht so, als würdet Ihr mich kennen.“

„Ach ja?“, Jack wurde neugierig und etwas aufmerksamer. „Erklärt Ihr mir, wie, Herr?“, wieder war ich unsicher, ob er sich nur auf das Thema einließ, um mich aufzuheitern oder gar einen Streit zu verhindern. Gelassen ließ sich der Dieb auf seinen Platz zurücksinken, schwieg jedoch.

„Der Ritter.“, ich griff nach einem von Slades Pferden und zeigte es Jack. Ein schönes, schwarz bemaltes Stück. Eines der Ohren war abgebrochen, dennoch erkannte man es noch deutlich. Auf ihm saß ein viereckiger Mann mit lang gezogenem Schild. „Er steht für Mut und Kraft, ist es nicht so? Generell werden den Figuren Eigenschaften zugeschrieben. Nehmen wir die Venden.“, ich stellte das Pferd irgendwo auf das Spielfeld, doch Slade schob den Springer an seine vorherige Position zurück, ein wenig vorwurfsvoll. „Die Bauern, das einfache Volk, sind ein Sinnbild für Fleiß, Zuverlässigkeit oder Ehrlichkeit. Sie geben sich mit einfachen Dingen zufrieden. Unter ihnen gibt es Kaufmänner, Ackermänner, Gaukler, Ärzte...“

„Auch Wirte?“, der blonde Junge kam zu uns auf den Boden und nickend griff ich nach einem der kleinsten Figuren.

„Ja, hier. Das ist ein Wirt, er steht vor dem linken Bischof.“, schon stand mein Wirt wieder an seiner vorherigen Stelle und während ich auch die anderen Figuren wieder aufstellte, fuhr ich im Plauderton fort: „Und über ihnen stehen die Edelleute, siehst du? Ritter, Könige, Bischöfe, das Sinnbild für Weisheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit...“, bei jeder Eigenschaft, die ich aufzählte, hob ich die entsprechende Figur an, zeigte sie Jack und stellte sie zurück. Slades Missmut stieg, denn er konnte sich nicht schnell genug merken, wo welche Schnitzerei stand und am Ende hielt er einen Turm in der Hand, nicht mehr wissend, woher er kam. Unsicher schob er ihn hin und her und ehe er sich versah, stellte ich einen meiner Bauern direkt neben seinen König. „Nehmen wir an, ich stelle nun diesen Bauer hier direkt vor Slades Hoheit. Es wäre symbolisch gesehen genau das, was wir anstreben: Ein Teil des Volkes begehrt gegen den König auf. Oder nehmen wir einen Ritter.“, nun stellte ich mein letztes Pferd, gefolgt vom Läufer, zurück auf je eines der Kästchen. „Oder einen Bischof. Oder-...“, gerade wollte ich die Königin greifen, da schnappte Slade sie mir fauchend weg.

„Der Junge hat es verstanden, nun hört schon auf das Spielfeld durcheinander zu bringen!“

„Ich versuche, ihm etwas zu erklären, also stört uns nicht!“

„Ihr tut das doch nur, weil Ihr verloren habt. Seid ein Mann und spielt bis zum Ende oder ergebt Euch!“

Wir waren Streithähne, aber das waren wir immer. Manchmal scherzhaft, manchmal ernster. So oder so, verstehen taten wir uns trotzdem.

Slade und ich warfen uns düstere Blicke zu, doch als Jack aufstand und lachte, war es schon wieder vergessen. Er erklärte: „Ich glaube, ich kopiere lieber weiter, das Spiel ist nichts für mich.“, und mit diesen Worten ließ er sich zurück an seinen Tisch sinken und nahm die Arbeit wieder auf. Zu meinem Missmut erhob leider auch Slade sich, schnaubte noch einmal demonstrativ und griff dann nach seinem Überwurf. Es war Zeit ins Gasthaus zu gehen, um sich das Abendessen zu besorgen. Ich kam wohl nicht drum herum, mitzugehen – und zu zahlen. Aber ehe auch ich mich erhob, nahm ich einen meiner Venden und schob ich ihn nach vorn, bis Slades Figur einfach umfiel.

Da lag er nun, Slades Bischof – gefallen durch einen einfachen Schreiber. Was interessierte mich der König?
 

Das Gewitter war zwar vorbei, aber noch immer fielen unaufhörlich einige Tropfen zur Erde. Dennoch war es nicht kalt. Die Luft war eher drückend, stehende Sommerhitze, zudem wurde es erst sehr spät dunkel. Trotz der Wärme trugen wir unsere Umhänge, aber wie meistens bereute ich es schon nach wenigen Minuten. Nicht nur, dass ich zu schwitzen begann: Ich hatte das Gefühl, das Hemd klebte förmlich an meinem Körper. Immer wieder wischte ich mir übers Gesicht, da der Schweiß sich auf meiner Stirn oder über meiner Oberlippe sammelte. Mein Nacken war klitschnass und das obwohl ich mein Haar zu einem kurzen Zopf geknotet hatte. Die Luft stand still, kein Windzug wehte. Auf dem Weg zur Schenke, die unglücklicherweise etwas weiter lag, kam ich ein wenig außer Atem. Ich hatte das Gefühl, innerlich auszutrocknen und meine Mundwinkel fühlten sich verkrustet an. Das Schlimmste war, dass das Bier bei diesen Temperaturen den meisten schnell zu Kopf stieg. Am Gasthaus ‚Zum Königstropfen’ angekommen wurde alles noch schlimmer. Draußen saßen Betrunkene und suchten sinnlosen Streit, innen grölten sie herum. Wir betraten das kleine Gebäude, in dem es das wahrscheinlich billigste Angebot der Stadt gab. Überall waren Menschen, Frauen wie Männer, unter ihnen Matrosen, Dirnen, aber auch Soldaten. Slade und ich kannten den Anblick bereits. Wir mussten sparsam sein und das Essen hier machte genauso satt, wie jedes andere in Annonce.

Während wir uns einen Tisch suchten und uns daran niederließen, seufzte der Brehmser vor mir und brummte missbilligend: „Wie ein Zimmer voller Schweine.“

„Meint Ihr das Benehmen der Leute oder den Geruch?“

„Ich meine die Annoncer.“

Unmittelbar neben uns johlte eine Gruppe Rotröcke lautstark auf. Sie machten Witze über schlechtes Bier und ihren Kommandanten. Einer von ihnen lachte so stark, dass ihm die Luft wegzublieben schien. Er wurde knallrot und grunzte bei jedem Einatmen laut, sich weiterhin vor Lachen schüttelnd. Slade fügte hinzu: „Ah und die Geräusche, die sie machen.“

Ich schüttelte nur mit dem Kopf. Man brachte uns Bierkrüge, so wie je einen Teller Suppe und nachdem ich bezahlt hatte, verschwand der Wirtsjunge wieder irgendwo in der Menge. Wie jeden Abend hatten wir vor zu essen, dann würden wir abermals etwas bestellen und es für Jack in einen der Krüge kippen. Wir wollten es vermeiden, gemeinsam mit ihm im Gasthaus zu sitzen. Die Rotröcke genossen in Schenken wie dieser ihren Feierabend und erkannten den strohblonden Jungen trotz fehlender Uniform leicht wieder.

Da die Luft hier zum schneiden war, legten wir unsere Überwürfe neben uns auf den Tisch und ich ging sogar so weit, mein Hemd bis zur Brust aufzuschnüren. Zwar wollte ich niemandem meinen vernarbten Rücken präsentieren, an Hitzetod sterben aber genau so wenig. „Es ist kaum auszuhalten...!“, beschwerte ich mich dabei. Abermals befreite ich mein Gesicht, ich fühlte mich klebrig und für einen Moment wünschte ich mich zu meiner Waschschüssel im Kloster zurück. Manchmal hatte es wohl etwas Gutes, zur Buße nackt auf dem Steinboden zu schlafen.

„In Brehms würde man sich an den Brunnen oder Flüssen abkühlen. Aber erwartet bitte nicht, dass ich mich dem Arthur auch nur ansatzweise nähere.“

Auch Slade glänzte durch den Schweiß, versuchte aber es einfach hinzunehmen. Ich grinste ihn an und konterte:

„Falls es Euch tröstet: Die Suppe hier besteht aus dem gleichen Wasser.“, angewidert verzog mein Gegenüber daraufhin das Gesicht.

„Das weiß ich, aber ich versuche, nicht daran zu denken.“

„Und noch etwas.“, ich tunkte meinen Holzlöffel in meinen eigenen Teller, hob ihn an und ließ die klumpige Flüssigkeit demonstrativ zurück in den Teller platschen. „Habt Ihr schon mal darüber nachgedacht, was mit Eurer Pisse passiert, wenn Ihr sie auf den Boden kippt? Ich habe ein Buch darüber gelesen, im Kloster. Es fließt alles zurück ins Grundwasser.“

„Wollt Ihr mir gerade weiß machen, ich trinke hier meine eigene Scheiße?“

„Was dachtet Ihr denn? Ein wenig wird es durch die Erde gefiltert, wenn ich es richtig verstanden habe, aber im Grunde-...“

Noch bevor ich meinen Satz beendete, schob Slade den Teller ruckartig von sich, sein Gesicht reiner Ekel. Ihm war der Appetit vergangen, doch ich lachte nur.

„Ihr denkt wirklich zu wenig nach - und Ihr seid verwöhnt. Ich habe als Kind oft mit den Beinen im Fluss gesessen und hat es mir geschadet?“

„Wenn ich höre, was für Bücher Ihr lest, kommen mir die Zweifel! Manchmal bin ich dankbar, nicht so gebildet zu sein. Aber Ihr holt es ja mit Freuden nach...!“

Eigentlich wollte ich ihn weiter necken, aber nun wurde es so laut, dass wir unsere Stimmen erheben müssten. Einer der Männer hatte eine Fidel ausgepackt und drauf los gespielt, während die anderen anfingen zu tanzen. Das unterschied die Annoncer von Brehmsern:

Selbst bei Hitze waren sie lebendig.

Einige Männer klatschten im Takt oder wippten mit dem Fuß, andere zeigten kleine Tanzeinlagen. Als dann zwei junge Kerle auf die Tische sprangen, ihre Arme ineinander hakten und sich dabei drehten, jubelten sie auf. Begleitet vom „Hey, hey, hey~“, der Menge zeigten sie abwechselnd, was sie konnten, so dass der Schweiß nur so durch die Luft schleuderte.

Mir wurde schon vom Zusehen schwindelig. Ich beugte mich ein Stück vor und sagte: „Wenn ich so etwas sehe, weiß ich, dass wir noch nicht verloren haben. Solange es Gründe zum Feiern gibt, kann der alte John unmöglich gewinnen!“

„Ihr seid ein Träumer.“, die Hand des Schlitzohrs legte sich um den Griff seines Kruges, doch scheinbar war ihm die Lust nach Bier vergangen, denn er ließ wieder los. Ich hatte wohl eine Möglichkeit gefunden, trotz Verlieren beim Schachzabel billig davonzukommen, was? Durch die Lautstärke bemerkte ich erst gar nicht, dass Slade weiter sprach:

„Und Jack steckt Ihr mit Euren Träumereien an. Er folgt Euch, wie ein Hund - trotzdem lasst Ihr den Jungen im Dunkeln.“

Für einen kurzen Moment warf ich ihm einen Blick zu. „Meint Ihr?“

„Ist die Frage ernst gemeint?“, ich sah zu, wie Slade etwas näher rückte, damit ich ihn besser verstand. „Mich lasst Ihr genauso unwissend! Wenn wir fragen, gebt Ihr uns kleine Häppchen, aber wir sind uns wohl alle einig, dass in Eurem Kopf wesentlich mehr vorgeht. Ich kenne Euch gut genug, um zu wissen, dass Ihr Euch viel mehr überlegt, als Ihr es uns sagt. Man könnte meinen, Ihr misstraut mir.“ In meinem Hinterkopf ruckte etwas und gab mir ein ungutes Gefühl, aber ich verstand nicht, was es mir sagen wollte. Eine Art Alarmglocke. Tatsächlich sah ich Slade ein wenig misstrauisch an. Er wollte wissen: „Traut Ihr mir nicht?“

Statt eine Antwort zu geben, fragte ich: „Traut Ihr mir etwa?“

„Einem Annoncer?! Ihr macht wohl Witze!“, natürlich hatten wir viele Geheimnisse voreinander, aber nach wie vor gab es nichts, was mich das ändern wollen ließ. Der Dieb verdrehte die Augen etwas und knurrte: „Aber es wäre schön zumindest über die nächsten Schritte aufgeklärt zu werden. Manchmal sieht es so aus, als wüsstet selbst Ihr nicht, was genau Ihr eigentlich wollt. Aber ich denke, das täuscht. Man unterschätzt Euch leicht, das ist mein Fehler. Wenn man Euch ansieht, wirkt Ihr wie jeder andere. Kaum verschlagen, kaum düster. Aber das, was in Eurem Kopf ist, das kann gefährlich sein. Ich bin mir sicher in Wahrheit-... Hört Ihr mir zu?“

Slade unterbrach sich selbst und obwohl er zur Antwort ein bejahendes „Mhm...“ bekam, war wohl offensichtlich, dass ich in Gedanken nicht bei ihm war. Mittlerweile standen auf dem Tisch zwei andere, ein Mann und eine Frau und auch drum herum herrschte rege Bewegung. Der Schenkjunge kam mit den Bieren kaum durch die Masse und um ungehindert spielen zu können, erklimmte nun auch der Fidler, mittlerweile begleitet von einer hohen Flöte, eines der Möbelstücke.

Aber das alles war es nicht, was mich ablenkte. Ich starrte wie gebannt an den einzigen, ruhigen Punkt zwischen all den Bewegungen. Jemand saß allein an einem der Tische, gänzlich unbeeindruckt von all der Feierstimmung. Ich sah sein blondes Haar und die wässrigen Augen, vor allem aber: seine rote Uniform. Ich kannte den Rotrock, da war ich mir sicher. Besonders, als dieser sich erst über die Nase und dann über das Hosenbein wischte, war ich überzeugt.

Nur beiläufig bekam Slade ein „Ich bin gleich zurück.“ zu hören, dann steuerte ich Pitt an, meinen Krug nahm ich mit. Es war lange her, dass ich den dummen Kerl aus dem Tollhaus gesehen hatte. Damals war er Charles auf Schritt und Tritt gefolgt, wie ein Köter. Was wohl aus dem aggressiven Zwerg geworden war? Gehörte er nun auch zu den Rotröcken? Oder wurde er gehängt? Den verwirrten Slade ließ ich einfach zurück.

Beim Soldaten angekommen setzte ich mich zu ihm und grinste freundschaftlich. „Pitt! Es ist lange her.“

Bei seinem Namen zuckte der Angesprochene heftig zusammen und starrte mich ein wenig irritiert an. Er schien mich nicht zu erkennen. Sein Blick verriet mir, dass er mehr getrunken hatte, als er sollte. Es war seltsam, den hageren Kerl in solcher Kleidung zu sehen. Weder stand sie ihm, noch schien sie dem dünnen Mann zu passen. Aufmerksam sah ich zu, wie er auf seiner Unterlippe herum kaute und versuchte, sich zu erinnern, wer ich war.

„Kennen wir uns?“

„Du hast mich vergessen?“

„Bin nicht der Hellste.“

„Na ja, ich nehme es dir nicht krumm.“, wieder machte sich Pitts Handrücken an seiner Nase zu schaffen. Währenddessen sah ich mich ein wenig übertrieben nach allen Seiten um. „Wo hast du Charles gelassen? Ist er nicht hier?“ Anschließend blickte ich wieder ihn an. Pitt hatte sich verändert, dennoch erkannte man ihn sofort. Er war dünner geworden, seine Wangen ein wenig eingefallen. Pitts Blick wurde deutlich verwirrter. „Haben ihn gehängt. Vor einem Jahr oder sowas. Üble Sache. Und wir kennen uns wirklich, ja?“

Ein Abwinken meinerseits. „Mach dir darüber keine Gedanken, alter Freund. Es ist lange her.“, an sich war es wohl gut, dass Pitt nichts mehr zu wissen schien. So konnte ich Fragen ausweichen und stand auf sichererem Boden. Ehrlich interessiert schob ich ihm meinen Krug hin und bat ihn:

„Wie ist es dir ergangen, Pitt? Erzähl mir von dir! Du bist jetzt bei der Armee, ja?“

Es war ein leichtes, jemanden wie ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Wie damals bereits musste sich der Rotrock so sehr aufs Thema konzentrieren, dass er keine Gelegenheit mehr hatte, über meine Herkunft nachzudenken.

Er griff seinen neuen Krug, zog ihn zu sich und murmelte: „Charles ist weg und mich wollten sie auch hängen. Aber Simon ist nicht so. Der hat gesagt, so jemand wie mich, den brauchen die. Der Simon, der hat das Sagen hier. Und der meint, ich wär was für die Armee. Jemand auf den Verlass ist und der was kann.“, nicht wenig stolz gingen Pitts Schultern ein wenig nach oben. „Hat mir angeboten zur Armee zu gehen, weil’s Verschwendung wär. Ich bin eine Mangelware. So gute Männer wie ich, mein ich.“

„Da hat er wohl Recht.“, bestätigte ich den Rotrock vor mir und gab mir Mühe, es ernst klingen zu lassen. Statt in seinem Stolz förmlich aufzugehen, öffnete Pitt seine Augen ein Stück mehr und fragte: „Meint Ihr?“

„Aber natürlich. Es kommen harte Zeiten auf uns zu. Da ist es gut, wenn wir uns auf Männer wie dich verlassen können, Pitt. Besonders jetzt, wo...“

Bewusst endete ich, ohne den Satz ganz auszusprechen. Im Hintergrund schwang nun auch der Fidler das Tanzbein. Es wirkte, als würde er eine der Frauen förmlich umwerfen, so sehr umkreiste er sie und warf ihr lächelnde Blicke zu. Eine Weile beobachtete ich ihn, dann die Hüften der brünetten Frau. Pitt hatte keine Augen für so etwas. Viel mehr machte ihn mein Schweigen nervös. Er war unsicher, ob er nachhaken sollte und als er sich traute, hörte man deutlich seine Zweifel:

„Besonders jetzt? Was ist denn?“

„Habt Ihr es denn nicht gehört?“, es war schwer, die Augen von den wippenden Bewegungen der Frau zu nehmen. Dennoch drehte ich den Kopf wieder zu Pitt. Ehe ich weiter sprach, beugte ich mich vor und ließ meine Stimme zu einem geheimnisvollen Wispern werden. Aufgrund der Lautstärke musste mein Gegenüber sich zu mir beugen, um mich zu verstehen. „Die Samariter, die in Brehms für Unruhen gesorgt haben, sind jetzt auch in Annonce.“

„Die Samariter?“

„Aber ja doch!“, als befänden wir uns in einem schlechten Theaterstück sah ich mich um, dann rückte ich abermals näher. „O’Hagan hat sie in Brehms jagen lassen, aber nun sind sie sogar hier unterwegs und verteilen Zettel und bekehren die Ketzer...! Ich habe mit einem der Rotröcke gesprochen. Sie versuchen es unter der Hand zu klären, damit die Annoncer es nicht merken, aber...

Es sollen gut fünfzig Leute sein, überall in der Stadt verteilt! Weißt du das denn nicht?“

Damals, im Tollhaus, hatten Pitt und ich bereits über Gottgläubigkeit gesprochen. Er hielt Mary-Ann für eine Ketzerin und sah es als sinnvoll an, sie zu verbrennen, um ihre Seele zu retten. Der Mann war leicht zu überzeugen – egal, auf welcher Seite man stand.

Das wurde besonders deutlich, als er nun die Augen weitete und seine Augenbrauen in die Höhe zog. „Aber doch, natürlich weiß ich davon!“, behauptete er dann. „Mir sagt man so etwas natürlich sofort. Ich bin ja schließlich nicht irgendwer! Simon redet mit mir über alles.“

„Es ist schrecklich!“, ich versuchte, noch ernster zu klingen, fast besorgt. „Wenn das so weiter geht, kann O’Hagan nichts mehr dagegen tun.“

„Aber was tun die Samariter denn? A-also, ich weiß das natürlich selber, aber-...“

„Du fragst natürlich nur, um zu wissen, was das einfache Volk weiß, nicht wahr?“, der Blondschopf nickte aufgeregt. „Nun, das kann ich dir sagen!

Sie werden immer mehr! Und O’Hagan kann nichts dagegen tun. Ich weiß ja nicht, ob das stimmt, aber... angeblich sollen sie sogar schon in anderen Städten sein und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch da anfangen Zettel zu verteilen und so werden sie immer mehr, Pitt. Ich habe gehört, dass sogar schon Priester heimlich den Samaritern beigetreten sind – ist das zu glauben? In einem Dorf soll es einen Priester geben, der gar nicht mehr aus der heiligen Schrift vorliest! Er weigert sich! Man sollte das wirklich ernst nehmen!“

„Das tue ich!“, mehrmals nickend verschüttete Pitt fast sein Bier. „Das tue ich! Wir gehen dagegen vor! Das war sowieso schon geplant!“

„Aber verrate niemandem, dass ich davon weiß. Ich meine, jeder weiß davon... Aber so etwas spricht man nicht herum, Pitt, wir wollen ja keine Panik, nicht wahr?“

Während ich mich erhob, gab ich Pitt freundschaftlich die Hand. Es war Zeit, mich zu verabschieden. Slade starrte die ganze Zeit über misstrauisch zu mir herüber. Ich konnte es ihm nicht verübeln, schließlich plauderte ich fröhlich mit einem Soldaten. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wünschte ich Pitt alles Gute und ließ mir versichern, dass er die Gerüchte aber bloß nicht weiter erzählen sollte. Natürlich schwor Pitt es mir – und selbstverständlich würde er sich wohl nicht daran halten können.

Der Straßendieb und ich steuerten zeitgleich den Ausgang an und wieder draußen auf der Straße, mit einem Bierkrug Suppe und etwas Brot bei uns, wollte er wissen: „Wer war das?“

„Ein alter Bekannter.“, es wäre auffälliger, mit Kapuze herumzulaufen, mitten im Sommer, als mit meinem Gesicht. Dennoch legte ich mir meinem Umhang zumindest geöffnet um die Schultern.

„Ein Rotrock?“

„Mittlerweile. Er ist ein alter Freund, der uns unwissentlich einen Gefallen tun wird.“

„Unwissentlich?“, mein Begleiter schnaubte, während wir in eine der Gassen abbogen, fern von der Hauptstraße. Wir hatten die Hoffnung, dass es dort zumindest ein wenig kühler wäre. „Seht Ihr? Genau das meinte ich, deswegen traue ich Euch nicht: Annoncer sind gefährlich – besonders, wenn sie etwas im Kopf haben.“

Das brachte mich zum Lachen, so laut, dass es von den Wänden widerhallte. Der Dieb starrte mich verwirrt an und wollte wissen, was so witzig sei, aber ich sagte es ihm nicht.

Stattdessen grinste ich nur vor mich hin und ging weiter.

Annoncer waren gefährlich – wenn sie etwas im Kopf hatten.

Tja... Pitt brauchte er dann wohl nicht zu fürchten.

Verschwörer, Zweifler, Bewunderer und ein Verrückter

In der folgenden Zeit ließ der Regen nach, die Hitze allerdings nichts.

Jeden Tag aufs Neue verbrannte die Sonne erbarmungslos alles, was sie zu greifen bekam. Die Feuchtigkeit des Regens fehlte und so gab es Brände in der Stadt. Es erinnerte an die Sommerhitze vor vielen Jahrzehnten, in denen fast halb Annonce im Feuer untergegangen war – behaupteten zumindest die Alten.

Ich selbst bekam davon nur geringfügig etwas mit. Viel mehr machte mir die Sonne zu schaffen, die vor allem mein Gesicht verbrannte. Es fühlte sich an, als wäre ich wieder auf See. Im schwarzen Kater staute sich die Wärme so sehr an, dass wir alle Fenster aufrissen in der naiven Hoffnung, es würde etwas ändern. Stück für Stück begannen wir damit, unsere eigenen Vorräte an Essen und Trinken zu sammeln, aber die meiste Zeit drückten wir uns davor, die Räume zu verlassen. Wir hatten das Glück, größtenteils im Schatten zu liegen. Während man in den oberen Stockwerken kaum Luft bekam, war es im Erdgeschoss schattig und kühl.

Aber nicht nur die Temperaturen veränderten sich, sondern auch unser Umfeld. Es dauerte nicht einmal drei Tage, da erzählte mir der Wirt, dass sich seltsame Menschen in Annonce herumtreiben würden. Er wollte mich nur warnen, man wüsste ja nie. Seit neustem lungerten mysteriöse Gestalten an den Straßenecken, aber was genau sie wollten, wusste er nicht. Natürlich fragte ich nach, worum es ging und umso amüsierender fand ich die Antwort, die mir der Mann gab: Die Samariter!

Er selbst wüsste nichts Genaues, aber er hatte von einem Freund gehört, dass mit diesen Leuten nicht zu spaßen war. Sie kamen aus Brehms und waren für das Chaos dort verantwortlich – nicht einmal O’Hagan selbst schien mit diesen Menschen zurechtzukommen! Sie waren dunkle Schwarzmagier, die Gott schmälerten und lästerten.

Während er mir das alles nur im leisen Flüsterton erklärte, wurde einer der am Tresen sitzenden Arbeiter hellhörig und mischte sich ein. Auch er war ziemlich leise und aufgeregt, als er mir klarmachte, dass ich vorsichtig sein musste. Seit einigen Wochen waren Leute verschwunden – sicher waren auch daran diese Samariter schuld! Es gab angeblich sogar einen Priester, der zu ihnen gehörte. Es wurde Zeit, dass man etwas tat. Am besten, man verurteilte sie zu Tode!

Jack und Slade wollten mir erst gar nicht glauben, doch tatsächlich gingen die Geschichten um, wie ein Lauffeuer. Es hatte durch Brehms ohnehin schon wenige, kaum beachtete Gerüchte gegeben, doch nun hatten wir förmlich Öl in die Flamme gegossen.

Unsere Arten vorzugehen änderten wir komplett. Wir verteilten weiterhin die Papiere, allerdings stark abseits von unserem Lebensraum und gezielt in anderen, angesehenen Vierteln. Allmählich mussten wir Acht geben, dass es nicht auffiel, was wir trieben. Ich hatte kaum noch Papier-Reserven und würden wir neues kaufen, würden wir nicht nur viel zu viel Geld verlieren, es wäre auch auffällig. Eine Idee wäre es, Robin um Unterstützung zu bitten, dieser hatte in Brehms allerdings sicher genug zu tun.

Statt unsere Schriftstücke irgendwo zu verteilen, legten wir sie in die heiligen Schriften der Kirchen und Kapellen, versteckten sie auf den Anwesen oder in den Kutschen der Adligen, sogar in die Bibliothek schmuggelte ich eines der Blätter hinein. Weiterhin riefen wir dazu auf, die Augen zu öffnen und bewusst zu denken, zu handeln und zu glauben.

Und es zeigte Erfolg – die Stadt reagierte.

Als erneut ein Haus in Flammen aufging und mehrere Gebäude mit sich nahm, äußerte man vor dem Volk, dass dies das Werk der Samariter sei. Es war ein Haus Gottes gewesen, aber mit Gott hatte die Arbeitspflicht im Innern wenig zu tun. Wahrscheinlich geschah es nicht im Sinne O’Hagans, aber der Kommandeur der Einheit sagte es, als wäre es das natürlichste der Welt und nun, bestätigt, wurden die Samariter zum beliebtesten Gesprächsthema.

Anders als in Brehms, wo man nicht darüber sprach oder wo nur die Inquisition davon wusste, begann man nun zu tuscheln und zu vermuten. Ein Rachefeldzug, so sagte man, ein Mahnfeuer. Wenn etwas in Annonce geschah, ganz gleich was, dann waren es die Samariter.

Wir gaben uns Mühe auch weiterhin Geschichten in Umlauf zu bringen. Mal hatten wir gesehen, wie ein Samariter einer Bettlerin das Leben rettete, dann, wie er einem Kind etwas zu Essen gab. Einer von ihnen schaffte es, jemanden von der Pest zu befreien und wieder ein anderer wusste, was bei Fieber zu tun war. Die Samariter vollbrachten das, was die Rotröcke nicht zu tun vermochten – und es wurde real.

Jemand, wir wussten selbst nicht wer, schlug die Rotröcke am Kai nieder, wodurch drei Gefangene entkamen. Alles, was zurück blieb, war ein Zettel: Die Samariter hatten gerichtet.

Unsere Gerüchte machten sich selbstständig und entwickelten ein Eigenleben. Ein wenig machte es mir Angst, aber natürlich gab ich es nicht zu. Schlimmer wäre es gewesen, wenn Schlechtes in unserem Namen geschah. Und siehe da? Plötzlich erzählte mir der Wirt, dass die Samariter das Beste waren, was uns allen passieren konnte.

Alles war perfekt, so schien es zumindest. Wenn wir nicht Schach spielten oder uns über Gott und die Welt unterhielten, dann schlenderten Slade und ich durch die Stadt und amüsierten uns, so gut es ging. Die meisten hatten mein Gesicht vergessen und drohte jemand, mich zu erkennen, sah ich einfach woanders hin. Ich mied das Armenhaus und die Klostermauern, manche Teile des Hafens und manche Schenken, aber ansonsten bewegte ich mich vollkommen frei. Ich fing an, mein Leben wieder deutlich mehr zu genießen. Der erste Stein war ins Rollen gekommen, weitere würden folgen und dieses Gefühl war es, das mir unendlich gut tat.

Noch immer spukte O'Hagan in meinem Hinterkopf herum, als wäre er ein dunkler Geist, ein Schatten der mich einlullte und in sich auf sog, immer mehr, doch mit jedem Tag, der verging, wurden meine Ziele greifbarer, meine Ideen realistischer.

Slade und Jack waren teils verunsichert, teils fasziniert. Sie merkten, wie oft ich in meine Gedanken abtauchte und nicht einmal mehr zuhörte, doch auch sie spürten deutlich die Veränderungen.

Ich begann, ein wenig Abstand zu nehmen und des Öfteren meinen eigenen Weg zu gehen. Weder wollte ich die zwei zusätzlich beunruhigen, noch sie zu sehr in meine Vorhaben mit einbeziehen. Sie gehörten zu meinem Streich mithilfe der Samariter, der Krieg zwischen O'Hagan und mir ging aber nur ihn und mich etwas an. Es war eine Sache zwischen uns, die ich allein klären musste.

Immer öfter unternahm ich eigene Streifzüge, erkundete O’Hagans Anwesen oder umkreiste dessen Mauern. In meinem Hinterkopf zermarterte ich mir teilweise bis spät in die Nacht das Hirn und stellte mir vor, was alles passieren könnte. Als würde ich an einem Theaterstück schreiben, spielte ich die verschiedenen Szenerien immer und immer wieder durch.Es war, als würde ich mir selbst eine Geschichte erzählen, immer und immer wieder, stets mit der Angst, den Sinn für die Realität zu verlieren. Ich wurde verrückt – aber ich bemerkte es nicht.

Das Schlimmste an der Heimlichtuerei war wohl, dass niemand mitbekam, wie sehr mir diese Angelegenheiten eigentlich zusetzten.. Fast, als gäbe es kaum noch etwas anderes n meinem Kopf.

Schlief ich, träumte ich davon, O’Hagan gegenüber zu stehen und ihm alles heimzuzahlen. War ich wach, überlegte ich, wie ich diese Ziele erreichen konnte. Es gab Tage, an denen driftete ich einfach ab und verlor mich in all diesen Gedanken und Vorstellungen. Es ging so weit, dass ich Aggressionen verspürte, sobald ich an O’Hagan dachte – es zeigen tat ich allerdings nicht. Ich konzentrierte mich darauf, die Bevölkerung gegen den Mann aufzuhetzen und trotzdem versteckt zu bleiben. Ich glaubte nicht daran, dass Annonce aufstehen und mit dem Finger auf ihn zeigen würde. Mein einziges Ziel war, dass O’Hagan das Gefühl bekam, ich wäre nicht allein.

Ich wollte, dass er dachte, ich hätte dutzende, vielleicht hunderte hinter mir. In Brehms, aber auch hier, in Annonce. Die Samariter waren überall, das sollten ihm meine Zettel sagen.

Vielleicht wollte ich den Mann wütend machen, vor allem aber demütigen. Er sollte nicht denken, dass er uns mit solchen Drohungen wie in Brehms unterkriegen konnte. Er sollte wissen:

Ich, Sullivan O’Neil, lebe! Ich bin hier, in Annonce und ich habe keine Angst vor Euch!

Der nächste Schritt war, ihn freundlich an seine Truhe zu erinnern.

Auf der anderen Seite wollte ich, dass er die Jagd auf mich wieder aufnahm und diesmal würde ich nicht fliehen, oh nein. Ich würde diese Herausforderung annehmen. Ich würde mich aus meinem Versteck locken lassen, ihm gegenüber treten und dann alles beenden, ein für allemal! Wenn er vor mir stand, um mich endgültig zu töten, dann würde ich über ihn richten! Und so würde ich der Welt zeigen, wie stark die Inquisition war – und wie stark die Samariter.

Auf andere musste es wirken, als wäre ich überzeugt von dem, was ich tat. Ohne es wirklich zu wollen, hatte ich die Rolle des Anführers eingenommen. Zwar hatte auch Slade weiterhin seinen eigenen Kopf, aber meistens bestimmte ich, wie der Tagesplan aussah – besonders Jack gegenüber. Nach wie vor empfand der Junge eine Art Verehrung für mich. Er saß oft neben mir und fragte mich aus – über das Kloster, die Seefahrt oder die Inquisition. Er wollte wissen, wie es in Brehms war, was ich dort erlebt hatte und auch meine Gedanken interessierten ihn. Alles, was ich ihm erzählte, verschlang Jack förmlich. Manchmal fragte er nach so vielen Details, dass selbst ich kaum noch etwas zu sagen wusste und mir wurde erneut bewusst, dass er etwas Besonderes war.

Wir waren uns ähnlich – aber genau das konnte gefährlich sein. Ich konnte sagen, was ich wollte, er war begeistert. Das merkte man vor allem an einem Abend:

Den ganzen Tag über hatte die Sonne der Stadt Annonce zu schaffen gemacht. Der Gestank hing stärker in der Luft als ohnehin und an vielen Stellen vertrocknete der Unrat und zerbrach in kleine, staubige Teilchen, als handelte es sich um Schlamm. Auch zum Abend hin wollte die Wärme nicht aufhören. Obwohl wir die Fenster wie jede Nacht öffneten, gab es keinen Wind, der uns erlösen wollte.

Ich hatte mich den Nachmittag über außerhalb des schwarzen Katers herumgetrieben und war meinen eigenen Vorhaben nachgegangen, weswegen ich es nun kaum erwarten konnte, den beiden meine neue Errungenschaft zu präsentieren. Der Schrei der Katze, als ich die Tür öffnete, wurde noch mehr ignoriert, als ohnehin schon. Ohne Weiteres schloss ich hinter mir ab und verschwand nach oben ins obere Stockwerk. Wir hatten das sauberste und schönste Zimmer für uns beansprucht, um dort gemeinsam zu sitzen, zu lesen oder Schachzabel zu spielen – wobei Jack in seinem vorherigen Zimmer schlief und Slade und ich gemeinsam in einem Einzelnen. Man sah deutlich, welche Räume bewohnt wurden und welche nicht: Während manche nur so zerfielen vor lauter Staub, Schimmel und Spinnweben, versuchten wir zumindest diese zwei sauber zu halten.

Wie meistens, wenn ich oben ankam, klopfte ich beim Vorbeigehen gegen Jacks Tür und lauschte, ob es eine Antwort gab. Meistens nicht, so wie jetzt und dann wusste ich, dass der Junge bei Slade hockte. Entweder er kopiere, las, spielte oder lauschte dann den Frauengeschichten des Brehmsers.

Diesmal war es mir egal, was sie gerade taten. Die Kapuze wurde noch einmal tief ins Gesicht gezogen und überprüfe, ehe ich es wagte.

Ein kurzes Klopfen an 'unsere' Tür, ehe ich sie öffnete und ohne großes Abwarten fast euphorisch verkündete: „Ich bin zurück und habe wunderbare Neuigkeiten!“ Die Stimmen, die man zuvor gehört hatte, wurden ruhig und alle Augen lagen nun auf mir.

Wie erwartet saß Jack auf unserem Bett, auf das Holzgeländer gestützt und Slade im Schneidersitz vor ihm auf dem Boden. Zwischen ihnen lag der Lederbeutel mit den aufgezeichneten Linien und kleinen Steinchen. Sie spielten und es roch nach Schweiß und Schlaf.

„Neuigkeiten?“, wollte der Blondschopf wissen. „Gute oder schlechte?“

„Gute, sonst würde er nicht so grinsen.“, Slade schnaubte, ehe er seinen Stein einfach auf das Leder fallen ließ, dann drehte auch er sich ganz zu mir und sah zu, wie ich die Tür schloss und dann den einzigen Tisch im Raum ansteuerte. Meistens saß Jack hier und schrieb, doch ich schob die Pergamente achtlos beiseite und verschüttete etwas Bier. Es war egal.

Den ganzen Weg über hatte ich mir Gedanken gemacht, wie ich es erzählen sollte, dutzende Dialoge immer und immer wieder neu ausgedacht, doch nun wollte ich es einfach nur noch erzählen. Der Platz war da, also zog ich das große Paket aus meinem Umhang hervor, das ich viel zu sichtbar versteckt herumgetragen hatte. Ein unbekanntes Etwas, weich und in ein schwarzes Tuch gehüllt, fest verschnürt mit einem dunklen Zwirn. Obwohl die beiden hinter meinem Rücken waren, meinte ich spüren zu können, wie Jack den Kopf etwas reckte, um mehr zu sehen. Als wäre ich einer der Zauberer vom Markt. Genau so trat ich nun hinter den Tisch und verkündete stolz: „Darf ich vorstellen? Unser neuer Freund: Dorian Samuel, ein Mann von Ehre und einstigem Wohlstand!“

„Dorian...wer...?“, amüsiert blickte ich in Slades verwirrtes Gesicht, dann zu Jack. Der Jüngere hatte die Stirn in Falten gelegt und starrte das Päckchen an, als könnte darin ein Stück Mensch versteckt sein. Sogar das Spiel war vergessen, weswegen er sein Steinchen neben sich aufs Bett sinken ließ.

„Ich glaube, Annonce's Gestank hat ihm das Hirn benebelt.“, kam es nur spöttisch vom Dieb.

„Lacht nur... Ich lache mehr, wenn ich Euer Gesicht sehe, sobald ich meine Überraschung enthülle! Hier seht Ihr sie: Meine Idee und der erste Schritt, sie in die Tat umzusetzen.“, mit beiden Händen zeigte ich auf das Stück Stoff vor mir. Es bewegte sich nicht und es sah auch nicht wirklich imposant aus.

Jack zögerte, dann stand er auf, kam näher und nach einem kurzen Blick zu mir nahm er es in beide Hände und bewegte es zwischen den Fingern, vorsichtig, ganz langsam nur. „Es fühlt sich weich an.“, stellte er dabei fest. „Aber schwer.“

„Es ist ein Meisterwerk!“, man könnte meinen, was auch immer darin versteckt war, ich persönlich hätte es geschaffen. Ein wenig sehr von mir überzeugt vielleicht setzte ich mich nun auf den Tisch und grinste. „Und ihr werdet Zeugen sein, wenn ich es benutze – in gewisser Weise. Ihr werdet staunen...! Es ist der größte Schritt, den die Samariter je gewagt haben...! Es wird grandios werden...! Tage und Nächte habe ich daran gesessen...!“

„Nun sprecht nicht um den heißen Brei herum! Sagt uns, was drin ist!“

„Eine Eintrittskarte!“

„Eine Eintrittskarte?“, von allen Seiten hatte der Wirtssohn nun die Hülle gemustert und legte es sachte zurück auf den Tisch, schlauer schien er aber nicht zu sein. Ein erneutes Zögern, doch ich nickte, also machte er sich nun daran, die Schleifen zu öffnen. Der Zwirn war fest verschnürt.

„Eine Eintrittskarte.“, kam es abermals von mir. Mein Umhang landete auf der einzigen Stuhllehne und gelassen stellte ich fest: „Ich werde unseren geliebten Freund John Anderson O'Hagan besuchen, ihm eine Grußkarte dalassen und der feundliche Dorian wird mir dabei helfen.“

„Und wie soll er Euch dabei hel-...“, doch Slade brach ab, denn da Paket war offen und das, was er sah, ließ ihn stocken. Auch Jack wirkte mehr als nur verwirrt. Seine Augen zeigten deutlich, was er dachte:

'Was zur Hölle...?'

Er zog die weiße Perücke hervor, hob sie leicht an und musterte sie skeptisch. Helles, weißes Haar, glatt nach hinten gestriegelt und am Ende ein kleiner Zopf mit schwarzer Schleife. Albern, wie ich fand, aber doch angemessen.

„Eine Perücke?“

„Er hat den Verstand verloren.“, die Perücke wurde sachte abgelegt und während Jack nun eine blaue Brokat-Jacke griff, kam auch endlich der Streuner näher. „Jetzt ist es aus, ihm ist nicht mehr zu helfen. Er ist völlig verrückt...“

„Oh ja, das bin ich – und es fühlt sich wundervoll an.“, es war faszinierend zu sehen, wie sich die Erkenntnis auf den Gesichtern der beiden breit machte und dann weiterentwickelte, in völlig unterschiedliche Richtungen. Während Slade fassungslos war und ungläubig, eins nach dem anderen griff und anstarre, strahlten Jacks Augen vor Bewunderung. Man sah deutlich, dass er es kaum erwarten konnte, das Geplante in die Tat umzusetzen. „Ich werde O'Hagan freundlich grüßen, wenn ich ihn sehe.“

Ehrfürchtig hauchte er: „Ich will Euch so gerne begleiten...“, und schon handelte er sich damit eine Kopfnuss ein.

„Sei nicht albern, Junge! Unterstütze ihn nicht noch bei seiner absurden Idee...! Er macht uns nur Probleme damit...!“

„Habt Ihr etwa Angst, Slade?“, ein kurzes Lachen. „Das braucht Ihr nicht zu haben.“

„Angst würde ich es nicht nennen.“, brummte er kühl zurück. „Ich bin nur ein wenig schockiert. Ich wusste, dass Euch in Brehms der Wahnsinn vollends packte, aber allmählich zweifle ich, ob ich Euch zum Tollhaus bringen sollte.“

Gelassen rutschte ich vom Tisch. Erst jetzt zog ich meine Kapuze ganz vom Kopf und zeigte mein kurzes, schwarzes Haar. Ich hatte es abschneiden lassen, damit die Perücke mir keine Probleme machte und tatsächlich erinnerte es ein wenig an den Haarschnitt eines Tollen. Dass ich keinen Bart mehr trug war ohnehin nichts Neues. Während ich den Umhang achtlos beiseite warf und mich in den Brokatmantel schwang, trällerte ich leicht singend: „Da war ich schon, alter Freund und seid Euch gewiss: Sie wollten mich nicht haben!

'Wenn wir zu viel denken, handeln wir zu wenig. Wenn wir handeln wollen, müssen wir die Gedanken abstellen und wollen wir die Gedanken abstellen, so müssen wir handeln! – Florin Fernad.'

Ein schweres Seufzen, ehe Slade sich auf das Bett fallen ließ, mich machtlos anstarrend. Er hatte schon vor Wochen verstanden, dass Diskussionen mit mir nichts brachten. „Bitte vermeidet es, mich Freund zu nennen, während Ihr singt.“, murmelte er leise.

Ich hörte ihm gar nicht zu:

„Ich werde alleine gehen – und ich werde wiederkommen und wenn es klappt, wie ich es mir denke, werde ich danach genug Geld haben, um jedem von uns mindestens drei Bier auszugeben.“

Das Strahlen von Seiten Jacks nahm zu, er schien förmlich zu leuchten. Nachdem er mir die Perücke aufsetzte und lachte, zog ich sie gerade und fuhr ungerührt fort, mit straffen Schultern und verstellter Stimme: „Meine Herren? Es ist mir eine Ehre, Euch mitteilen zu dürfen, dass der alte Teufel dank uns keine ruhige Nacht mehr haben wird. Gebt mit drei Tage und ich versichere jedem der hier Anwesenden:

Das wird er mir niemals vergessen...!“

Und weniger vornehm an Slade gewandt fügte ich hinzu, erst ganz normal: „...Wolltet Ihr nicht schon immer mal in einen Nachttopf Gottes scheißen...“, dann singend und grinsend:

„...alter... Freund?“



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  Pataya
2012-07-09T11:08:17+00:00 09.07.2012 13:08
soooooo,

will ich mal wieder meinen Senf dazugeben =) Hab mich ja beim letzten Kapitel schon nicht gemeldet...

Zu erst zu letzten Kapi:
Ich würde ja mal schätzen, dass Son bald gefasst wird, wenn er so weiter macht. ständig schleicht er ums Gelände von O'Hagan herum. nenene

Zu diesem:
Ich musste echt erst einmal wieder überlegen, wer denn Pitt gewesen ist. Anscheinend sollte ich den ersten Teil wirklich nochmal lesen. Ansonsten finde ich, hat Slade schon Recht, dass Son sehr wenig von seinem Plan preis gibt (auch dem Leser gegenüber). Aber ich schätze mal, das ist besser so, da ja sonst die Spannung weg wär, wenn man alles wüsste.

Joaaa, ansonsten kann ich nicht viel sagen. Hab keine Rechtschreib- und/oder Grammatikfehler gefunden. Es war für mich persönlich nur etwas schwer das Schachspiel nachzuvollziehen, da ich mich mit den alten Bezeichnungen der Spielfiguren nicht auskenne, aber Son hats ja dann noch (sehr zum Leidwesen Slades) recht gut erklärt =)

Hmmm... mehr kann ich gar net dazu sagen =)

*fette umarmung* PAT =)
Von:  Pataya
2012-06-15T05:55:32+00:00 15.06.2012 07:55
uiuiuiuiui... jetzt passiert wieder was =)
Ich musste echt erst einmal überlegen, wer denn Jack war =P, aber als du dann geschrieben hast, er sei Soldat, wusste ichs wieder.

hmmm, ich glaube ja kaum, dass Black noch lebt. Der war doch im ersten Buch schon alt. Oder wenn er noch leben sollte, dann ist er auf jedenfall abgemagert und hat nichts mehr von seiner Autorität übrig.

Naja, ich werds ja, hoffentlich bald, lesen können.

Ansonsten... es sind ein, zwei kleine Rechtschreibfehler drin, aber die beeinflussen den Lesefluss nicht. Die kommen wahrscheinlich einfach nur vom schnellen tippen =)

Alsoooo.... dann mach mal weiter so.

HDL, PAT =)
Von:  Salix
2012-04-13T21:58:09+00:00 13.04.2012 23:58
Der Sarkasmus ist herrlich, besonders gut gefällt mir die Idee mit den Blumen...

Mit diesem Brief komme ich besser zurecht als mit dem Prolog, welcher für mich zu losgelöst von der Hauptsory ist. Der Brief hingegen hat Wiedererkennungswert, weil jeder Teil der Geschichte mit einem Brief von Sullivan an O'Hagan begonnen hat, außerdem passen diese Briefe zu Sullivans Charakter. Hinzukommt, dass diese Briefe einem einen Einblick in Sullivans Denkweise gewähren und man so eine bessere Vorstellung von ihm bekommt.
Es mag hart klinge, aber der Prolog passt für mich nicht zur Geschichte (kann sein, dass ich dafür noch nicht genug von der Story kenne um das beurteilen zu können). Der Text des Prologs macht als spannende, stilvolle Kurzgeschichte echt etwas her, aber für mich sind Sullivans Briefe für die Geschichte bedeutender und die Briefe erscheinen mir für den Plot und den Stil der Geschichte auch wichtiger als der Prolog zu sein.


LG
Von:  Salix
2012-04-13T21:48:24+00:00 13.04.2012 23:48
Hm,

die Szene ist sehr schön geschrieben und beschrieben. Ich konnte es mir richtig bildlich vorstellen, nur irgendwie frage ich mich, wie die überhaupt mit der Hauptstory zusammen hängt.
Außerdem bin ich nach der Endszene des letzten Teil eigentlich eher noch heiß darauf zu wissen, was mit Sullivan geschieht, weswegen ich diese schöne Szene nicht so recht würdigen konnte. Und das hat sie nicht verdient, dazu ist sie zu gut geschrieben.

Lg
Von:  Pataya
2012-04-09T13:17:17+00:00 09.04.2012 15:17
hach, der brief ist mal wieder richtig klasse. schöööön viel sarkasmus dabei, so isses richtig.^^ o'hagan tut mir ja schon n bissl leid, wegen den blümchen...... obwohl.... eigentlich nicht. ^^
Von:  Pataya
2012-04-08T20:09:30+00:00 08.04.2012 22:09
yeah. es geht schon weiter *freu*

zum anfang gleich mal ne frage: "...und nur auf dem rechten Auge hören konnte." wie soll das denn gehen oO? ^^

der prolog ist wie alle anderen kapitel richtig klasse.
man weiß in endeffekt nicht worauf du hinaus willst, aber das klärt sich ja im laufe der geschichte immer alles. ^^

freu mich schon auf die fortsetzung.

fühl dich geknuddelt

PAT


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