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Die Tage danach

von

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Einsicht

Mit einem Mal kam ihm alles so banal vor. Er fühlte sich verlassen. Einsam. Alleine auf dieser Welt und doch...

Tiefe Trauer war der Ungläubigkeit gewichen. Er starrte auf das offene Meer hinaus. Vor ihm lag nichts als Wasser. Es erfüllte ihn mit Wehmut. Am liebsten wäre er von der Klippe gesprungen.

Eine leichte Brise wehte zu ihm herauf.

Spitze Steinhügel überzogen den Abhang. Steil ging es mehr als hundert Meter nach unten. Von hier oben sah das Wasser weich und einladend aus.

Er spürte ihn kommen. Tief in seinem Innern hatte er sich schon lange aufgebaut. Schon seit er hier saß und er saß schon sehr lange hier. Ein lauter Schrei entwich seiner Kehle. Niemand hörte ihn. Er war wirklich alleine. Ganz alleine.

Ruckartig sprang er auf. Noch immer schrie er. Er riss den Arm nach oben und öffnete die Hand. Der kleine Papierfetzen flog von seiner Handfläche über die Klippe. Das Rot leuchtete in der Sonne.

Mit einem Mal war die Kraft des Windes weg. Er verlor den Fetzen Papier aus den Augen. Er konnte nicht sehen, ob er in den Wellen verschwunden war oder von einer neuen Windbö erfasst wurde.

Er sank auf die Knie und fiel vornüber. Mit den Händen fing er sich ab. Seine Nägel krallten sich in den sandigen Boden. Feuchte Erde setzte sich unter seine Fingernägel. Wimmernd saß er auf allen Vieren.

Er wusste, dass er weg war. Das er endlich gegangen war. Er spürte die Befreiung. Lachend und schluchzend starrte er in den Sand. Eine Träne, die ihm von der Wange tropfte, hinterließ einen dunklen Fleck im braunen Sand.

Auseinander gerissen

Es war das Grauen. Es lachte ihm ins Gesicht.

Ein roter, runder Fleck bildete sich auf dem Hemd. Knapp überhalb seiner Hüfte. Blutige Linien liefen über seine Hose bis zu den Füßen. Eine rote Pfütze um ihn herum.

„Wach' auf! Wach' schon auf“, jammerte Dirk.

Seine linke Hand drückte auf die Wunde. Er versuchte das Blut zu stoppen. Er spürte das nasse Hemd unter seiner Hand. Kleine Blutblaßen quollen zwischen seinen Fingern hervor. Sie platzten. Als schmale Linien liefen sie über seine Finger.

In seiner rechten Hand lag der Kopf seines Freundes.

Nasse Haare klebten ihm im Gesicht. Kleine Schweißperlen rannen von der Stirn über die Wangen. Ein fast unsichtbarer Rinnsal Blutes, vermischt mit seinem Speichel, lief an seinem Mundwinkel hinab.

Er spürte wie sich der Körper in seinen Armen verkrampfte. Das Gesicht blieb regungslos. Die Augenlider flatterten. Dirk sah nur noch das Weiß der Augen. Sein Magen zog sich zusammen. Er spürte einen leichten Windzug an seinem Gesicht. Der Körper entspannte sich.

„Bleib' hier, verdammt!“, er brüllte.

In seinem Rücken spürte er die Augen der Menschen um ihn herum. Irgendjemand schluchzte. Gedämpft, wie durch Watte, hörte er aufgeregte Stimmen. Auf der Straße hupte ein Auto. Doch was ihn am Meisten störte waren die Vögel. Sie zwitscherten noch immer. Als wäre nichts geschehen. Als wäre alles in Ordnung.

„Scheiß Schwuchteln“, irgendwer lachte.

Flucht

„Lass' mich“, Dirk versuchte die Hand abzuschütteln, „Lass' mich los!“

„Nein, Du sollst hier bleiben.“

„Verschwinde!“, schrie er.

Kalter Regen prasselte in sein Gesicht. Die graue Jeansjacke war durchnässt. Unter seinem dünnen T-Shirt fühlte er, wie sich sein ganzer Oberkörper mit Gänsehaut überzog. Drückende Hitze machte ihm das Denken schwer.

Die große Hand hatte seinen Arm fest im Griff. Schmerzhaft bohrten sich die Finger durch den Stoff in sein Fleisch.

Er bemerkte nicht, dass sich Tränen aus seinen Augen stahlen und mit den Regentropfen mischten. Nur sein Gegenüber sah es.

Totale Resignation stand in seinem Gesicht. Verzweiflung sprach aus seiner Stimme. Sein Verhalten zeigte wie hilflos er sich fühlte. Dirk schluchzte laut.

„Ich kann das nicht. Ich will nicht.“

„Er braucht Dich. Du musst.“

„Er ist tot! Er braucht mich nicht mehr.“

„Du musst Abschied nehmen.“

„Nein“, feste traf die Faust das Gesicht.

Dirk zog die Hand zurück. Der Griff an seinem Arm löste sich. Die Welt drehte sich langsamer.

Dirk sah wie sein Gegenüber die Augen aufriss. Er sah den Schmerz, der sich zeitgleich in seinem Gesicht ausbreitete. Wie in Zeitlupe sank der Mann auf die Knie, fiel auf seinen Hintern, stütze sich mit einer Hand auf dem Rasen ab. Das schwarze Jackett bekam dunkle Flecken. Nur kurz waren sie zu sehen. Dann verschwanden sie mit dem Nass des Regens. Blut rann aus der Nase.

„Rod...“, murmelte Dirk.

Er fühlte wie sich der Schmerz in seiner Hand, mit der er seinen Kollegen getroffen hatte, bis zum Ellenbogen ausbreitete. Er betrachtete sich seine Finger. Ohne das er es verhindern zu konnte zitterte sie. Die Knöchel traten rot hervor. Langsam machte er einen Schritt zurück.

„Es...“, begann Dirk.

„Lass' gut sein. Geh' hin. Du musst.“

„Nein“, antwortete er.

Stolpernd rannte er durch das glitschige Gras. Ließ den Friedhof hinter sich zurück.

Stille

Stille. Sie erdrückte ihn.

Sie war überall. Im ganzen Haus. Sie kam aus dem Schlafzimmer. Die Küche schwieg. Nicht mal aus dem Badezimmer drang ein Geräusch. Kein Gluckern aus dem Abfluss. Kein Rauschen des Spülkasten. Kein Tropfen, der unsichtbar aus dem Duschkopf fiel und in der Wanne landete. Alle Geräusche waren mit ihm verschwunden.

Er saß inmitten des Wohnzimmers. Seine Arme hingen schlaf an ihm runter. Die Beine hatte er angezogen und gekreuzt. An seinen Fingern spürte er die weiche Wolle des Teppich auf dem er saß. Er hatte den Boden ausgesucht.

„Nette Farbe, aber am Besten ist, dass man hier nicht jeden Fussel sieht.“

Seine Stimme spukte in seinem Kopf rum. Er war ein Geist geworden. Eine Erinnerung.

Er tat ihm weh. Wäre er nur ganz gegangen. Hätte ihn für immer verlassen und sich nicht in seinem Kopf eingenistet. Dirk schüttelte den Kopf.

Wieder Stille. Doch sie wurde durchbrochen. Er hörte das schmerzhafte Pochen in seinen Schläfen. Seit Stunden hämmerte es. Es machte ihn wahnsinnig. Am Liebsten wäre er eingeschlafen. Nur um diesen Schmerz ein Schippchen zu schlagen. Er hatte es probiert.

Er war durch das Haus gelaufen. Sein Blick immer auf seine Füße gerichtet. Sie hatten so lange gemeinsam hier gewohnt, dass er nicht mehr schauen musste, wohin er lief. Die Einrichtung war seit ihrem Einzug die Selbe geblieben. Er wusste, wo welcher Schrank stand.

Er hatte die Tür geöffnet. Verlassen lag das große Zimmer vor ihm. Es war das größte Zimmer des Hauses. Weiße Wände. Die Linke war mit einer Tür versehen. Eine kleine, weiße Tür. Blaue Schneeflocke waren darauf gemalt. Jan hatte die Idee. Er hatte die Form der Schneeflocken gemocht. Die Tür führte in ein kleines Badezimmer mit Toilette, Waschbecken und einem winzigen Schrank.

Beinahe die komplette rechte Wand wurde von dem großen Fenster eingenommen. Das Rollo war herunter gelassen. Licht fiel nur durch die leicht geöffneten Schlitze. Es warf gelbe Streifen auf das Bettlaken.

Der Platz neben der Badezimmertür wurde von einem schweren Kleiderschrank eingenommen. Dunkles Holz. Helle Türknäufe setzten leichte Akzente, ließen den Schrank sanfter wirken. Als ihm bewusst wurde, dass noch immer seine Kleider darin hangen wandte er den Blick ab.

Seine Hand hatte das weiche Holz des Schreibtisches berührt. Nicht absichtlich. Er hatte nicht gemerkt, dass er ins Schwanken geraten war. Seine Hand war zurück gezuckt.

Er sah ihn auf dem Stuhl sitzen. Vor ihm ein aufgeklapptes Buch. Wie oft war er in den Geschichten versunken. In Erzählungen aus vergangen Zeiten. Geschichten über fremde Länder. In einfachen Schundromanen. Er lächelte schwach als er ihn mit seiner Lesebrille sah, die er manchmal aufgesetzt hatte, wenn er dachte, dass niemand ihn sah.

Er war eitel gewesen. Sehr sogar. Man hatte es nur schwer bemerkt und man hatte es ihm nie angesehen. Er hatte es nie ausgelebt, wenn sie außerhalb waren. Nur zu Hause. Und er hatte es nur gewusst, weil er mit ihm zusammen gewohnt hatte. Es war eine dieser Kleinigkeiten, die er an ihm so geliebt hatte. Plötzlich war ihm kalt geworden.

Der Duft seines Parfüms war ihm in die Nase gestiegen.

Er lag im Bett. Das Gesicht schneeweiß. Seine nassen Haare klebten ihm im Gesicht. Der rote Faden aus Blut und Speichel hing in seinem Mundwinkel. Die Augen leicht geöffnet. Nur das Weiße konnte er sehen. Die Bettlaken voller Blut. Seine Beine hatten im Todeskampf gezuckt.

Er hatte die Tür hinter sich zugeschmissen und war ins Wohnzimmer geflüchtet. Hier hatte er sich inmitten des Zimmer auf den weichen Teppich aus Wolle gesetzt.

Wahnsinn

Dirk stand im Bad. Die Tür war verschlossen.

Es war ein großes Bad. Eine viereckige Badewanne. Eine Dusche. Eine Toilette und zwei Waschbecken. Ein großer Schrank voller Handtücher.

Die Wanne hatte eine Sprudelfunktion. Eifrig stiegen die Bläßchen an die Wasseroberfläche. Laut zerplatzen sie.

Dirk zuckte zusammen. Draußen grollte der Donner. Blitze zuckten über den dunklen Nachthimmel. Immer wieder sah er verschwommen durch das gewellte Glas, wie sie sich ihren Weg zur Erde bahnten. Er fragte sich, wo sie wohl einschlugen.

Nackt stand er vor dem Waschbecken. Der Spiegel vor ihm zeigte sein Gesicht, ein kleines Stück seiner Brust. Dann endete der Spiegel und somit auch sein Bild. Zum ersten Mal seit langem besah er sich die vielen Tattoos auf seiner Haut. Sie hatten sich nicht verändert. Sie waren wie immer. Er fing an sich am Oberarm zu kratzen. Die Bilder mussten weg. Sie zeigten nicht seinen Schmerz. Sie fügten ihm Schmerz zu. Alle wurden sie gemacht als er noch bei ihm war.

Sie mussten weg!

Er sah seine Augen. Trauer sprach aus ihnen. Sie waren gerötet, lagen tief in den Höhlen. Dunkle Schatten um seine Augen betonten das leuchtende blau-grau der Iris. Er hasste seine Augen. Sie waren daran Schuld, dass er sich verliebt hatte. Sie hatten ihn entdeckt. Sie hatten ihn immer wieder angesehen. Sie hatten ihn dazu gebracht seine Schönheit zu sehen und sich zu verlieben.

Sein Gesicht war dünner geworden. Seine Züge härter. Gut sichtbar zeichneten sich seine Wangenknochen ab. Seine Nase passte sich dem männlichen Gesicht an, dass nur noch aus Verzweiflung bestehen zu schien. Er hatte sich verändert.

Er schaute an sich herunter. Er hatte abgenommen. Er konnte seine Rippen erkennen, die sich dezent an seiner Haut abzeichneten. Mit den Fingern fuhr er die Knochen nach.

Erschrocken blickte er auf den roten Strich. Er hatte sich den Arm aufgekratzt. Blut klebte an seinen Fingerspitzen. Jetzt klebte es an seiner Brust, genau auf den Wölbungen seiner Knochen. Dirk faszinierte der Anblick.

Vorsichtig fuhr er über die anderen Knochen. Immer wieder griff er auf die kleine Wunde an seinem Arm. Nur wenige Minuten später hatte er ein rotes Abbild seiner Rippen auf der Brust.

Dirk starrte auf sein Spiegelbild. Er fand den Anblick bizarr. Es erinnerte ihn an den roten Fleck von Jans Hemd. Er versuchte die Schmerzen zu spüren, die auch er gehabt haben musste. Er wollte nicht, dass nur er so leiden musste. Es musste die reinste Qual für ihn gewesen sein. Er fuhr sich durch die struppigen Haare.

„Du bist irre“, sagte er laut zu sich selbst.

Seine Stimme hörte sich eigenartig in seinen Ohren an.

Blinde Wut

Er hielt das schwarze T-Shirt in seinen Händen.

Sein Blick glitt langsam daran hinab, dann wieder rauf. Es roch noch immer nach ihm, obwohl es frisch gewaschen war.

Auf dem Bett lag ein Koffer. Er war geöffnet. Einige seiner Kleidungsstücke lagen fein säuberlich gefaltet darin. Sie mussten raus aus dem Haus. Raus aus seinem Leben.

Er schaute in den Schrank. Der T-Shirt Stapel war verschwunden. Das Letzte hielt er in seinen Händen. Im Fach darunter lag seine Unterwäsche und die Socken. Daneben, auf der Kleiderstange, hingen ein paar Hemden, zwei Jacken und ein paar Hosen.

Er legte das Shirt, was er noch immer in der Hand hielt, zusammen und legte es auf die Anderen im Koffer. Wieder schaute er in den Schrank. Wut kochte in ihm hoch. Wieso sollte er es so lange hinaus zögern? Niemand würde jemals wieder die Kleider tragen. Es machte keinen Sinn sie zusammenzulegen.

„Du Scheißkerl! Wieso hast Du mich einfach hier allein gelassen?“, brüllte er.

Mit Gewalt riss er die Hosen von den Haken. Sie fielen zu Boden. Die Jacken schmiss er mit Wucht auf das Bett. Die Unterwäsche und die Socken lagen verteilt im Zimmer.

Tränen rannen ihm über das Gesicht. Er sackte zusammen, blieb auf den Knien sitzen. Wütend und von Selbsthass zerfressen vergurb er sein Gesicht in einem Hemd. Auch das Hemd roch noch nach ihm.

Gedanken

Ich kann kaum glauben, dass ich jetzt schon seit einem Monat alleine bin.

Das Essen schmeckt mir nicht mehr. Das Schlafen fällt mir schwer. Ich habe keine Lust mehr wegzugehen. Die Musik ist keine Hilfe für mich. Fernsehen ist keine Ablenkung. Menschen meide ich, wenn ich es kann. Ich rede kaum noch. Ich sehe furchtbar aus.

Seit einem Monat schlafe ich auf der Couch. Manchmal auch in der Wanne oder auf dem Fußboden. Wenn ich denn überhaupt schlafen kann. In unser Bett kann ich nicht mehr gehen. Ich habe es probiert. Ich sehe Dich darin. Wie Du im Sterben liegst. Es bricht mir immer wieder das Herz.

Ich habe die Musik aufgegeben. Egal ob ich mich an das Schlagzeug setze, ob ich die Gitarre in die Hand nehme oder etwas Anderes probiere. Alles erinnert mich an unsere gemeinsame Zeit. Es ist frustrierend, denn nicht nur mit der Musik geht es mir so.

Ich sehe mir Dinge an. Bilder, Filme, Bücher oder Albumcover. Ich gehe die Straße lang und sehe Restaurants, Geschäfte, Cafés oder das den Park. Ich betrete die Zimmer in unserem Haus. Das Bad. Das Wohnzimmer. Die Küche. Den Keller. Es ist egal wo ich bin.

Du bist immer da!

Egal wo ich hinschaue, was ich anfasse. Du schwirrst in meinen Gedanken rum und jede Erinnerung schmerzt.

Es ist grausam. Das hätte ich nicht gedacht. Ich weiß einfach nicht, wie ich Dich los lassen soll und ob ich das überhaupt will.

Deine Stimme. Ich kann sie hören. In meinem Kopf. Manchmal unterhälst Du Dich sogar mit mir. Du gibst mir Antworten auf Fragen, die ich mir stelle. Ganz banale Fragen.

Dir scheint das zu gefallen. Und manchmal gefällt es auch mir. So habe ich manchmal wenigstens das Gefühl, dass Du noch da bist. Selbst wenn ich Dich nicht sehen kann. Dich nicht riechen oder fühlen kann.

Du bist nur noch eine schemenhafte Erinnerung, die mich um den Verstand bringt. Und es kotzt mich an, dass ich in Gedanken nicht mal mehr Dein Gesicht sehen kann. Ist das nicht traurig? Ich muss mir Bilder von Dir ansehen um zu wissen, welche Form Deine Augen hatten. Wieso kann ich mir das nicht merken? Vielleicht wäre es dann einfach zu verkraften, dass Deine Stimme mich verfolgt. Dann hätte ich wenigstens ein Bild vor Augen mit dem ich mich unterhalten kann.

Außerdem bin ich sauer. Stinksauer. Nein, wütend. Auf mich. Auf Dich.

Du hattest tatsächlich den Nerv einfach so zu gehen. Ohne ein letztes Wort. Ohne einen Blick, der nur mir galt. Ich kann das nicht glauben. Nenn' mich ruhig Egoistenschwein. Aber ich dachte immer, dass wenn einer von uns Beiden geht, er dem Anderen wenigstens ein letztes Wort oder einen letzten Blick schenkt. Ich weiß, Du hast Schmerzen gehabt. Ich weiß, Du hast gelitten und ich kann mir denken, dass Du in diesem Moment dachtest, dass alles vielleicht nur ein Traum war.

Aber wieso hast Du so schnell aufgegeben?

Du hast nicht mal gekämpft. Du hast Dich einfach Deinem Schicksal hingegeben. Dabei warst Du immer so ein verdammter Kämpfer. Wieso diesmal nicht? Du bist einfach gegangen. Und genau dafür hasse ich Dich.

Du hast mich hier alleine gelassen. Ich sehe keinen Weg mehr. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich kann Dich ja nicht mal mehr fragen, wie es Dir geht. Ob es Dir da, wo Du jetzt auch immer sein magst, besser geht als vorher. Du bist ein Schwein.

...und genau für diese Gedanken bin ich dann wieder sauer auf mich. Ich frage mich, wie ich Dir Vorwürfe machen kann. Wie ich es wagen kann Dir die Schuld zu geben, wo ich doch weiß, dass Du das sicher auch nicht gewollt hast. Trotzdem verfolgt mich jeden Tag eine Frage.

Warum?

Absturz

Dirk lag auf dem Bett.

Er hatte die Arme und Beine von sich gestreckt und starrte an die Decke. Das ganze Haus war erfüllt von seinem lauten Lachen. Neben ihm lagen ein paar Flaschen Bier. In der Hand hielt er eine Flasche Bourbon. Sie war halb leer getrunken. Die kleine Packung Beruhigungspillen war leer. Drei Stück hatte er noch gefunden. Das zuvor noch zusammengerollte Stück Papier lag jetzt als kleine Kugel neben dem Frühstücksbrett. Eine fast unsichtbare, schneeweiße Pulverschicht war darauf zu sehen.

Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und es neben das Bett geschmissen. Sein Herz schlug unregelmäßig gegen die Brust. Er spürte, wie es versuchte seiner Arbeit nachzukommen.

Auf seinem nackten Bauch stand ein Aschenbecher. Auf dem Nachttisch lagen Zigaretten und das Feuerzeug. Das Zimmer wurde von den zwei kleinen Nachttischlampen beleuchtet, welche nebem dem Bett standen.

Auf dem Kopfkissen neben ihm lag ein Bild von Jan. Verträumt lächelnd hatte er direkt in die Kamera gesehen. Seine blauen Augen ließen tief in sein Inneres blicken, wenn man ihn kannte. Er sah aus als wolle er einem ein Geheimnis verraten. Seine blonden Haare waren, wie er es oft getragen hatte, nach oben gegelt. Man konnte das schwarze Hemd erkennen, was er an dem Tag getragen hatte. Unter dem Bild hatte er das T-Shirt von Jan gelegt. Es war das einzige Kleidungsstück was er behalten hatte.

Dirk setzte die Flasche an. Ein großer Schluck. Der scharfe Alkohol brannte in seiner Kehle. Er spürte den Bourbon seinen Hals hinabgleiten. Wärme breitete sich in seinem Magen aus. Sein Hals brannte. In seinem Mund ein leichter Geschmack von Vanille.

An der Decke sah er die Schatten der Blätter, die an dem Baum vor dem Fenster tanzten. Der Wind ließ sie hin und her schwingen. Das ganze Bild drehte sich vor Dirks Augen.

„Siehst Du? Es klappt. Ich lache!“, lallte Dirk der Decke entgegen.

Er zündete sich eine Zigarette an. Mehrere Anläufe schlugen fehl. Er traf mit der Flamme die Zigarette nicht mehr. Erst nach dem zwölften Versuch stieg grauer Rauch in die Luft.

Schielend betrachtete er sich die glühende Zigarettenspitze und ließ das Feuerzeug auf seinen Brustkorb fallen. Nur eine Sekunde später zog er zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. Das Feuerzeug war heiß. Es verbrannte seine Haut. Seine Muskeln spannten sich an, er zuckte, ließ das Feuerzeug jedoch liegen.

„Verdammt“, schnaufte er und betrachtete sich die kleine, runde Rötung.

Er empfand den nächsten Schluck Bourbon als schmerzlindernd.

„Na, was sagst Du? Ich schlage mich ganz gut, was Jan?“

Immer wieder brach er ohne ersichtlichen Grund in schallendes Gelächter aus. Seine Gedanken glitten ab. Mal zu Jan. Dann zu seiner Familie. Er dachte daran, dass er das Haus renovieren lassen sollte. So würde auch das letzte bisschen Farbe, dass Jan berührt hatte, verschwinden.

Du wirst mich trotzdem nicht vergessen, ertönte Jans Stimme in seinem Kopf.

„Ach, was weißt Du schon.“

Du betrinkst Dich um mich los zu werden. Wie lange willst Du das machen?

„Bist Du verschwindest. Für immer.“

Du willst mich also vergessen. Wie soll das gehen, wenn Du ein Bild von mir neben Dich legst und ein Hemd darunter? Du wirst mich nicht vergessen.

„Und ob. Ich bin dabei, Du Spinner!“, Dirk setzte ein weiteres Mal die Flasche an.

Glaubst Du denn wirklich, dass Du die letzten fünfunddreißig Jahre vergessen kannst? Du hast beinahe Dein ganzes Leben mit mir geteilt, egal ob mit Beziehung oder nicht. Wir waren oft zusammen.

„Und wenn ich mein bisheriges Leben komplett vergessen müsste. Du wirst verschwinden. So wie Du mich einfach verlassen hast, werde ich Dich aus meinem weiteren Leben streichen“, sein Blick fiel auf das Bild neben ihm.

Ich wollte nicht gehen. Das weißt Du.

„Du bist aber gegangen. Also habe ich auch das Recht Dich aus meinem Leben zu streichen.“

Das wirst Du nicht können.

„Wieso nicht?“, Dirk drückte Zigarette aus.

Du liebst mich.

Dirk wurde schlecht. Die Schatten an der Decke drehten sich. Er schmiss den Aschenbecher auf das Bett. Die Asche verteilte sich auf dem Bettlaken. Der Teller fiel klirrend zu Boden als er über das Bett kletterte. Die Verpackung der Tabletten knisterte.

Er stolperte ins Bad. Vor der Toiellte fiel er auf die Knie.

Verdrängen

Das Bild war von dem Kopfkissen verschwunden. Das Hemd lag neben dem Bett.

„Von wem ist das?“, hatte sie gefragt.

„Das ist unwichtig“, war seine Antwort gewesen.

Er kannte sie kaum. Ihr Name war Vicky. Sie hatte eine blonde Kurzhaarfrisur. Ihre Augen waren in einem Blau, dass er noch nie gesehen hatte. Hell als würden die Farbe leuchten. Sie hatte keine Modelfigur, trotdzdem war sie durchaus attraktiv.

Er hatte wieder getrunken. Schon bevor er in die Kneipe gegangen war. Schwankend war er in der Kneipe eingefallen. Der leere Platz neben ihm an der Theke war nicht lange leer geblieben. Aus dem Nichts war sie aufgetaucht und er war sofort von ihr fasziniert gewesen.

Ein Getränk nach dem Anderen hatte er ihr spendiert. Ihre Augen waren immer kleiner geworden. Das Weiß hatte sich in ein dunkles Rot gewandelt. Viele Worte hatten sie nicht gewechselt. Er brauchte nicht einmal zu fragen, ob sie mit ihm kommen wollte. Das hatte sie gemacht. Sie hatte sich eingeladen und er hatte nicht verneint. Er wollte ihm zeigen, egal wo er war, dass er ohne ihn glücklich sein konnte.

Er spürte ihre Brüste auf seiner Haut. Kalt und weich. Sie bäumte sich unter ihm auf.

„Ich brauche Dich nicht“, keuchte er.

„Was?“, stöhnte sie ihm entgegen.

„Sei still!“, sein Ton war schroff ihr gegenüber.

Kaum hatte er die Tür aufgeschlossen als sie bei ihm angekommen waren, hatte sie den Schrank mit dem Alkohol gefunden. Während er schon versuchte sie zu küssen hatte sie noch an der Flasche gehangen und Whiskey getrunken.

„Lass' das jetzt und komm' mit“, waren seine Worte gewesen, bevor sie ihm wortlos ins Schlafzimmer gefolgt war.

Siehst Du, dachte er jetzt, ich liege in unserem Bett mit einer Anderen. Ich habe Dich vernichtet. Du wirst keine gestaltloser Geist in meinem Kopf mehr sein. Du bist nur noch eine beschissene Erinnerung, die ich schneller vergesse als es Du es Dir jemals hättest erträumen lassen.

Fast brutal hatte er ihr die Kleider vom Leib gerissen und auf den Boden geschmissen. Er ahnte, dass sie sich morgen ein Hemd oder T-Shirt von ihm leihen musste.

Sie lag unter ihm, er hatte die Augen geschlossen.

Trotz des harten Griffs, den er ihrem Hals zumutete, schien sie es zu genießen. Seine rechte Hand drückte ihr fast die Luft ab. Sie stöhnte und rang immer lauter nach Luft.

Du wirst...verschwinden, dachte er und öffnete seine Augen wieder.

Jan lächelte ihn finster an. Dirk stöhnte erschrocken.

Du wirst mich nicht vergessen. Ich werde nicht gehen. Niemals, sagte er und lachte ihm ins Gesicht. Seine Augen leuchteten in einem ungewöhnlich hellen Blau.

Resignation

Er hatte aufgegeben.

Die Wut war verschwunden. Er war nich mehr sauer. Weder auf sich noch auf ihn.

Seit Tagen hatte er das Haus nicht mehr verlassen. Telefonanrufe ignorierte er. Der Fernseher war seit Tagen aus, das Radio hatte keinen Ton mehr spielen dürfen. Es erschien ihm alles sinnlos. Er wusste, dass niemand ihn jemals ersetzen konnte.

Seit knapp zwei Stunden saß er im Wohnzimmer auf dem Boden und starrte in den Garten hinaus. Die Terrassentür war geschlossen.

Durch die Scheibe beobachtete er die Vögel, die in regelmäßigen Abstand immer wieder auf den grauen Steinen auftauchten. Immer wieder pikten sie in den Rillen zwischen den Steinen nach Essen. Es war das Einzige was ihn in der Realität hielt.

Er hatte sonst nichts mehr. Nur die Vögel und die achteten kaum auf ihn. Der Verlust hatte ihn gezeichnet. In seinen Händen hielt er ein Bild des Mannes, der ihn in diese Trauer sinken ließ. Der Mann, der dafür verantwortlich war, dass er alles aufgegeben hatte. Er war in Gedanken versunken.

Ab und an, so schien es, legte ein Spatz seinen Kopf schief und schaute durch das Fenster. Nicht oft und nur ganz kurz. Doch genau so kam es ihm vor und es fühlte sich gut an. Das warme Gefühl, dass ihm der kurze Blick des Vogel bescherte, ließ ihn für einen kleinen Moment in die Realität zurückkehren. Es riss ihn aus seinen Gedanken und er war dankbar dafür.

Es war einzig und allein die Regelmäßigkeit an die er sich klammerte. Hatte er das Gefühl, dass alles um ihn herum verschwamm, kam einer von den kleinen Spatzen und holte ihn zurück. Trotzdem sah er in Gedanken den Mann, den er noch immer so sehr liebte.

Er sah wie er ihn zum Essen an seiner Lieblingsbude einlud, wie er an dem Schreibtisch saß und las. Wie er singend unter der Dusche stand und nicht bemerkte, dass er ihn beobachtete. Er sah, wie sie zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ihre Zuneigung zeigten und zusammen über die Straße, Hand in Hand, flanierten. Wie er lachend auf der Couch saß, wie er weinend zusammenbrach als er erfahren hatte, dass seine Mutter gestorben war. Er erinnerte sich an gemeinsame Momente. Gute, schlechte und alltägliche. Egal in welcher Situation, sie hatten immer zusammen gehalten. Selbst als sie nur Freunde gewesen waren.

Er sah wie er ihm den kleinen Zettel überreichte. Ein einfaches Herz, nicht mal sonderlich ordentlich, war darauf gezeichnet. Es war mit einer roten Stift ausgemalt worden. Er hatte den Zettel bekommen als Jan alleine verreisen wollte.

„Als Erinnerung“, hatte er damals gesagt und war lachend verschwunden.

Der Gedanke an den Zettel entlockte Dirk ein Schmunzeln. Langsam stand er auf und streckte sich. Seine Beine waren taub, die Füße wollten nicht das machen, was er verlangte. Er rieb sich die Oberschenkel auf dem Weg zu der kleinen Kommode neben dem Fernseher. Er öffnete die Schublade. Er war sich nicht sicher, aber musste schauen. Ohne Hoffnung wühlte er in der Schublade rum. Notizen, Bilder, klebrige Bonbonpapierchen.

„Da bist Du ja“, sagte er und nahm den kleinen Zettel in die Hand.

Das Papier war vergilbt. Die Seiten franzten leicht aus. Trotzdem war das rote Herz gut zu erkennen.

Dirk musste ihn, nach dem Jan wieder nach Hause gekommen war, in die Schublade gelegt haben. Und all die Jahre hatte er hier auf ihn gewartet.

Du hast Recht, dachte Dirk, Vergessen kann ich Dich wohl nie.

Abschied

Es war ein steiniger Weg gewesen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die junge Frau an der Rezeption hatte ihm den Weg empfohlen. Es sei ein beliebter, kleiner Weg der Einheimischen.. Etwas steil, sehr steinig und auch nicht ganz leicht zu finden. Doch die Aussicht wäre unglaublich schön, besonders wenn man oben angekommen sei. Er hatte sich den Weg dorthin in der Umgebungskarte einzeichnen lassen, dann war er dankend verschwunden und hatte sich auf die Suche nach dem Weg gemacht.

Es war ihm nicht leicht gefallen, dass Haus für mehr als ein oder zwei Stunden zu verlassen. Aber er wusste, dass er gehen musste. Wochenlang hatte er sich in seine kleine Welt zurück verzogen. Wochenlang hatte er seinen Gedanken und Erinnerungen nachgehangen. Er musste etwas tun und er hoffte, dass er den richtigen Schritt gegangen war.

~

Der Flug war anstrengend gewesen. War er vor wenigen Monaten noch gerne geflogen hatte er diesmal versucht alles um ihn herum zu vergessen. Die Leute im Flugzeug. Die Stewardess, die ihn mehrmals gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. Er wollte einfach nur raus. Raus und in sein Hotel.

Er floh vor allem, was schön war. Und doch begriff er langsam, dass er alleine zurecht kommen musste. Ob er nun wollte oder nicht. Er hatte ja noch die Erinnerungen. Zum ersten Mal war er froh, dass er sie hatte.

~

Keuchend war er die letzten Schritte gegangen. Dann stand er ganz oben. Er konnte die salzige Luft schmecken. Sie erfüllte seinen Körper. Mit kleinen Schritten ging er auf die Klippe zu. Vor ihm lag das blaue Meer. Die Wellen brachen sich an der steilen Mauer aus Sand, Stein und Gras. Er lächelte nicht. Er fühlte sich nicht gut. Er fühlte sich alleine. Aber zum ersten Mal seit langem quälte ihn der Gedanke daran nicht mehr und es machte ihn stutzig. Es wollte nicht daran glauben, dass er seine Trauer überwunden hatte. Trotzdem war er sich sicher, dass er die schlimmste Zeit seines Lebens hinter sich hatte. Mit einem Mal kam ihm alles so banal vor.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Toozmar
2010-01-06T22:17:30+00:00 06.01.2010 23:17
wow O.O
dein schreibstil bei dieser Story ist echt klasse. Irgendwie kurz, sparsam, verwirrend und verzweifelt. Das passt einfach alles zusammen und es ist einfach nur traurig ;_;
ich weiß gar nicht was ich noch schreiben soll...
einfach nur schön, so richtig herzzerreißend schön traurig!
Von:  aerith_rikku
2009-11-10T07:21:05+00:00 10.11.2009 08:21
ich weiss nicht recht was ich sagen soll ausser: wow.
jedes einzelne kapitel hat mir eine gänsehaut beschert und ich habe fast schon mitgelitten.
Und das morgens früh.
Nur,..wie genau ist er nun eigentlich gestorben? WObei...das muss man bei der gehscichte nicht mal wirklich wissen denke ich.,..ich kann jedenfalls auch ohne das wissen weiter leben ;)
...grosartig bis hierhin...

LG
Caro


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