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Die vier Phasen

von

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Prolog

Schon im ersten Augenblick, als er ihn sah, wusste er, dass er ihn besitzen wollte.

Er hätte nicht einmal sagen können, was ihn am meisten faszinierte. Sein schlanker, makelloser Körper, den er so mühelos geschmeidig im Rhythmus der Musik bewegte? Sein jungenhaftes Aussehen, obwohl er als Tänzer in diesem Club mindestens achtzehn Jahre alt sein musste? Oder einfach sein ungewöhnlich exotisches Erscheinungsbild mit den schmalen und leicht schräg stehenden Augen der Asiaten?

Erst als die nachfolgend eintretenden Gäste ungeduldig an ihm vorbei drängten, riss er sich von dem Anblick los und schlenderte zur Bar, ohne ihn jedoch wirklich aus den Augen zu lassen. Er hatte alle Zeit der Welt, das wusste er. Die Frage war nicht, ob der junge Mann sein werden würde. Die Frage war nur, wann. Und den Zeitplan bestimmte er selbst. Er hatte immer alles bekommen, was er wollte.

Er bestellte sich ein Bier, und dann ging er gemächlich zu dem Podest, auf dem er tanzte, um ihn aus der Nähe zu betrachten.

Den Trubel um sich herum nahm er nur am Rande wahr: die laute, hämmernde Musik, die zum Takt wogende Menge auf der Tanzfläche, der leichte Geruch nach Schweiß und Parfum, den kalten, prickelnden Geschmack des Bieres auf seiner Zunge.

Von nahem war er noch atemberaubender. Die vollen Lippen glänzten dunkelrosa nach Lipgloss und waren verheißungsvoll leicht geöffnet. Der schwarze Kajalstrich betonte die fremdländischen, dunklen Augen. Das Knabenhafte kam noch mehr zur Geltung; ein wenig femininer geschminkt, und er würde wie ein hübsches Mädchen aussehen. Doch im Moment unterstrich die knallenge und beinlose, schwarze Hose seine Männlichkeit. Dazu trug er ein Netz-Shirt, das den Bauchnabel frei ließ. Er tanzte scheinbar völlig in sich versunken zu der Musik, und sein Blick streifte immer wieder unbeteiligt und unberührt, ja fast herablassend, über die Besucher. Und dennoch liebkosten seine Hände aufreizend seinen Körper, kreiste sein Becken einladend für genau diese. Auf seiner Haut glänzten kleine Perlen.

Dem Mann vor seinem Podest wurde heiß. Er stellte sich den Jungen unter sich vor, wie sich dieser vorzügliche Körper wand vor Lust, vor Schmerz.

Er trank sein Bier aus.

Er ging zurück zur Bar und bestellte ein neues. Er beobachtete den Jungen. Sah, wie sich sein Gesichtsausdruck schlagartig änderte, als er jemandem zulächelte. So konnte er also auch aussehen. Hübsch.

Während er langsam sein zweites Bier trank, führte er kleine Gespräche.

Am Ende wusste er, an welchen Abenden der Junge tanzte, wie er hieß, und dass er Japaner war. Außerdem wusste er, dass die Tänzer manchmal mit Gästen gingen. Der Junge war keine Ausnahme. Sie brauchten alle Geld.

In seinen Gedanken formte sich der Plan. Bisher hatte er immer funktioniert.

Es würde einige Wochen dauern.

Er hatte Zeit.

Die erste Phase

Nach einigen Wochen war ich soweit, mit Phase eins zu beginnen.
 

Phase eins war von entscheidender Bedeutung für einen erfolgreichen Verlauf der Inbesitznahme. Bildlich gesehen war sie die Grundsteinlegung, und trotz meiner kribbelnden Vorfreude traf ich sorgfältig die nötigen Vorbereitungen.

Zunächst brauchte ich Zeit und nahm sie mir. Schließlich leitete ich meine eigene Firma, und wozu war man sein eigener Chef, wenn man sich nicht mal längere Zeit frei nehmen konnte. Das war möglich, denn meine Mitarbeiter waren gut gedrillt, und außerdem war ich ja nicht aus der Welt. Telefonisch und per Internet war ich immer noch erreichbar und konnte alles Notwendige weiterhin regeln.

Dann hatte ich ein passendes Haus suchen, kaufen und entsprechend einrichten müssen.

Während dieser Zeit ging ich ab und an in den Club, ohne mich jedoch allzu auffällig für den jungen Tänzer zu interessieren. Doch ich wollte von ihm gesehen werden, damit ihm mein Gesicht nicht ganz unbekannt sein würde, wenn es so weit war.

Dennoch fand ich einiges über ihn heraus. Er war beliebtes Thema in der Lounge oder an der Bar, trotz oder gerade wegen seiner zur Schau gestellten Unnahbarkeit.

Er war tatsächlich schon dreiundzwanzig Jahre alt, auch wenn er wie sechzehn aussah. Er finanzierte sein Studium mit diesem Job, ansonsten hielt er sich nicht in der Szene auf. Allem Anschein nach konzentrierte er sich ernsthaft auf sein Studium. Das hieß, er hatte kaum nennenswerte Kontakte. Seine Familie war in Japan. Das waren ideale Voraussetzungen. Es würde Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis ihn ernsthaft jemand suchen würde. Es war alles so perfekt, so einfach!

Ich ging sogar ein paar Mal in den Darkroom. Zum einen, um wirklich sicher zu stellen, dass niemand auf die Idee kam, ich käme nur wegen Toshio in den Club. Zum anderen war ich froh über die Gelegenheit, meine angestaute Erregung entladen zu können. Ich nahm die Männer hart und ohne Zärtlichkeit und stellte mir dabei vor, er wäre es.
 

An diesem Abend sollte es beginnen.

Der Junge sah wunderbar aus in einer langen, schwarzen Lackhose, hauteng natürlich. Der Oberkörper war frei. Bestimmt musste er seine Brust nicht rasieren, um sie so schön glatt zu halten. Seine kinnlangen dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht, und er machte keinerlei Anstalten, sie zurück zu streifen.

In einer Pause brachte ich ihm ein Glas Sekt. Zur Feier des Tages. Ich hatte beobachtet, dass er öfter von Gästen Getränke annahm. Ich beobachtete ihn, wie er durstig das Glas leer trank. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Sein Blick war leer.

„Ich sehe dich tanzen“, sagte ich, gerade so laut, dass er mich trotz der lauten Musik verstehen konnte. Dazu musste ich mich vorbeugen, nah an sein Ohr. „Du gefällst mir. Sehr.“

Ich sah, wie sein Blick abweisend wurde. Gut, er hatte keine Lust zu flirten. Also Klartext.

„Ich habe gehört, du nimmst Geld…“

Ich ließ den Satz unvollendet, schwieg dann und ließ ihn wirken.

Und er verstand. Er musterte mich, berechnend jetzt. Sah mein Gesicht, nicht zu bekannt, aber auch nicht fremd. Sah meine gepflegte Erscheinung, mein teures Hemd, die Bügelfaltenhose. Ich war auch nicht unattraktiv, hatte ein markantes, nordeuropäisches Gesicht, eine kräftige, sportliche Figur. Ich war mehr als einen Kopf größer als er, und mein langes, blondes Haar gab einen feinen Kontrast zu seinem schwarzen. Ich trug es heute zu einem ordentlichen Zopf gebunden. Ja, wir werden herrlich zusammen aussehen!

„Für fünfzig blas ich dir einen. Für zweihundert mach ich alles.“

Sein Deutsch war gut, fast so wie meins.

Zweihundert, dachte ich. Junge, du verkaufst dich unter Wert. Ich lächelte. Ich hatte ihn am Haken!

„Gern. Ich warte draußen auf dich.“

„Ich hab um eins Schluss.“

Damit ließ er mich stehen und stieg wieder auf sein Podest. Mich störte sein arrogantes Verhalten nicht. Ich war nur an seinem Körper interessiert.

Er tanzte, und ab und zu streifte mich sein Blick, herablassend und mit einem Hauch Verachtung. Dann wieder schloss er die Augen und fuhr sich mit der Fingerspitze über die Lippen. Das war für mich, bildete ich mir ein. Doch er brauchte mir nicht einheizen, ich glühte auch so. Wenn er damit bezwecken sollte, nachher umso schneller mit mir fertig zu sein, so täuschte er sich gründlich. Aber ach, er war ja noch so ahnungslos!

Ich reagierte nicht auf seine Posen und nicht auf seine Blicke, im Gegenteil. Ich zog mich wieder in die Ferne zurück und trank an der Bar ein Wasser nach dem anderen.

Endlich war es ein Uhr.
 

Er kam wenige Minuten nach eins aus dem Club. Er hatte eine leichte Jacke aus Samt übergezogen, die ihm fast bis zu den Knien reichte und bei jedem Schritt anmutig an seinen Beinen entlang tanzte. Er war noch erhitzt und trug die Jacke offen. Darunter trug er nichts außer der Lackhose. Er hatte einen kleinen Rucksack über die Schulter gehängt. Suchend sah er sich um, und ich trat aus den Schatten heraus, dass er mich sehen konnte und ging dann vor ihm her zum Parkplatz. Ich wollte vermeiden, dass uns jemand zusammen weg gehen sah. Bereitwillig folgte er mir.

An meinem silbernen Mercedes erwartete ich ihn und drückte ihm gleich zweihundert Euro in die Hand. Ich hielt ihm die Beifahrertür auf, und er setzte sich. Ich bemerkte, wie er sich das Nummernschild ansah. Guter Junge, bist vorsichtig. Wird dir aber nichts nützen, ist schon zu spät.

„Ich kenne einen guten Platz hier in der Nähe, da sind wir ungestört“, sagte er. Er schien kein bisschen verlegen, ganz der abgebrühte Profi.

Aber ich tat verlegen: „Hm, im Auto, das ist nicht so mein Ding. Können wir nicht zu mir fahren? Ich wohne auch nicht weit weg.“ Das war gelogen, aber egal. Ich setzte meinen harmlosesten Gesichtsausdruck auf. Jetzt entschied sich, ob es weiter reibungslos lief, oder ob ich auf die harte Tour wechseln musste. Wenn er jetzt ausstieg… oder jemanden anrufen wollte…

Aber er sagte nur. „Das kostet aber hundert extra.“

„Schön. Kein Problem.“ Meine Erleichterung musste ich nicht spielen. Ich konnte natürlich auch anders, aber so war es viel schöner. So konnte ich mich noch ein wenig länger an seiner Ahnungslosigkeit laben und das Tempo nur ganz allmählich steigern.

Natürlich muckte er noch einmal kurz auf, als ich den Wagen durch die halbe Stadt lenkte und schließlich auf den Randbezirk zuhielt.

„Das ist aber nicht gerade um die Ecke“, sagte er verärgert.

„Keine Sorge“, beschwichtigte ich ihn. „Ich zahl dir auch nachher das Taxi. Es wird dir gefallen.“

Er kaute auf seiner Lippe und spielte am Radio herum. Aber er sagte nichts mehr.

Als wir vor dem elektronisch gesteuerten Garagentor hielten, war sein Unmut vergessen. Er war beeindruckt von dem luxuriösen Haus. Stumm ließ er sich von mir in das riesige Wohnzimmer führen und sah sich staunend um, während ich uns aus der Küche den Champagner holte.

„Nicht schlecht“, sagte er.

Ich lächelte nur und schenkte uns ein. Er kippte das erste Glas hinunter wie vorhin den Sekt und ließ sich gleich nachschenken. Seine Augen hatten einen leichten Glanz bekommen. Das gefiel mir. Wahrscheinlich malte er sich schon aus, wie ich sein Stammfreier wurde und sich damit seine Geldsorgen in Luft auflösten.

„Wie heißt du eigentlich?“ fragte ich, obwohl ich seinen Vornamen ja schon kannte. Besser, er wusste das nicht.

„Toshio.“

„Und dein Nachname?“

„Den brauchst du nicht wissen“, schnappte er. „Wie heißt du denn?“

„Pascal Remarque“, sagte ich gleichmütig. Er würde mir seinen Nachnamen schon noch sagen. Natürlich würde er das. Ich fand es amüsant, mehr über Toshios Zukunft zu wissen als er selbst. Ich genoss dieses Vorspiel.

„Franzose?“ fragte er.

„Qui.“

„Gefällt mir, dein Akzent“, sagte er. Meine Auskunftsbereitschaft schien ihn wieder besänftigt zu haben.

„Machst du das schon lange?“ fragte ich.

„Was genau meinst du?“

„Na, das hier. Prostitution.“

„Ich bin Tänzer“, sagte er, sofort wieder ärgerlich. Aber der Ärger verdeckte nur seine Verlegenheit, deswegen begann er sich zu rechtfertigen: „Du hast mir gefallen, und ich brauche das Geld, mein Studium…“

Ich legte ihm meinen Finger sachte über den Mund, und er schwieg. Ich küsste ihn, hauchte ihm meine Lippen über die Wange.

„Du bist süß“, sagte ich. „Lass uns nach oben gehen.“ Als ich bemerkte, wie er zögerte, fügte ich scherzend hinzu: „Da ist das Schlafzimmer.“

Ich könnte wetten, er war nicht halb so erfahren, wie er tat. Mehr als ab und zu einem einen geblasen hatte er wahrscheinlich nicht, höchstens mal im Auto einen kurzen Fick. Vielleicht würde ich ihn später einmal danach fragen. Jetzt würde er mir eh nicht wahrheitsgemäß antworten. Aber eigentlich interessierte es mich auch nicht.

Ich führte ihn, wie meine Braut, an der Hand die Treppe hinauf. Die Tür, die ich öffnete, war jedoch das Bad.

„Du kannst dich noch in Ruhe frisch machen“, sagte ich. „ Hier sind Handtücher. Ich mache es uns in der Zeit schon mal gemütlich.“

Er strich entzückt mit der Hand über den goldenen Wasserhahn. Ich ließ ihn allein.
 

Das Schlafzimmer war direkt gegenüber. Wie alle Räume in diesem Haus war auch das Schlafzimmer sehr geräumig. An der einen Seite stand ein riesiges Bett mit verschnörkelten Metallverzierungen an Kopf und Fußende. Gegenüber war eine mehrtürige Schrankwand aus dunklem Mahagoni. Vor dem Fenster stand ein kleines Tischchen mit einem gemütlichen Sessel daneben.

Ich hatte schon alles vorbereitet. Das Bett sah sehr einladend aus, fand ich. Schwarze Satin-Bettwäsche und dazu passend die schwarzen Fesseln aus Stoff mit Klettverschlüssen, die schon an den vier Bettpfosten festgeknotet waren, die Seile nicht zu kurz gehalten für den Anfang.

Ich zündete die Kerzen an und prüfte die Kamera, nachdem ich sie eingeschaltet hatte. Ich wollte ja nicht, dass er sie sehen konnte. Aber sie steckte gut getarnt in der buschigen Topfpflanze am Fenster. Was ich sonst noch so brauchte, hatte ich ebenfalls schon bereit gelegt, aber ebenfalls so, dass er nichts davon sah. Nur eine schwarze Augenbinde und eine lederne Riemenpeitsche lagen auf dem Nachttisch.

Ich zog mein Hemd aus und legte es sorgfältig über die Sessellehne. Ich löschte die Deckenlampe, sodass der Raum nur von dem flackernden Kerzenlicht beleuchtet war. Dann wartete ich, gespannt auf seine Reaktion. Ich würde mir keine noch so winzigkleine Regung in seinem Gesicht entgehen lassen.
 

Er kam mit geschmeidigen, federnden Schritten herein. Er hatte sich meinen dunkelroten, seidenen Bademantel umgelegt. Seine Haare waren noch feucht vom Duschen und seine Haut vom heißen Wasser gerötet. Sein Mund war weich und einladend geöffnet, als er auf mich zukam. Und dann sah er das Bett, die Fesseln, die Peitsche, und erstarrte mitten in der Bewegung.

Ich ging zu ihm, langsam, er sollte sich nicht vor mir erschrecken. Wieder küsste ich ihn sanft auf die Wange, gleichzeitig streichelte meine Hand seinen Oberschenkel, arbeitete sich langsam unter den Bademantel bis hoch zu seinem strammen Po. Er duftete nach meinem Shampoo. Ich konnte seine Anspannung spüren.

Darauf stehst du?“ fragte er heiser, Beklommenheit in der Stimme.

„Ja“, gab ich flüsternd zurück und streichelte mit der anderen Hand seine Ohrmuschel. „Genau darauf stehe ich.“

„Das war nicht abgesprochen“, sagte er, und jetzt hatte er sich schon wieder ganz gut im Griff, jedenfalls hatte er wieder einen leicht verärgerten Unterton und schob mich von sich.

„Bitte, tu mir den Gefallen“, sagte ich. „Hast du es denn schon mal ausprobiert?“

Ich ging zum Nachttisch, nahm die Riemenpeitsche und gab sie ihm.

Er schüttelte den Kopf, aber befühlte die weichen Lederriemen mit sichtlicher Faszination.

„Wenn du es nicht kennst, weißt du ja gar nicht, ob du es magst oder nicht“, redete ich weiter. Ich begann wieder meine Liebkosungen. „Bitte.“

„Okay“, sagte er schließlich. „Aber das kostet extra.“

Ich seufzte leise, aber ich gönnte ihm diesen Moment Überlegenheit.

„Schon gut“, sagte ich. „Wie viel?“

Er überlegte kurz. „Hundert.“

„Du machst mich noch arm“, murrte ich humorvoll. „Kann ich dir das hinterher geben?“

Er nickte gnädig.

„Können wir dann jetzt anfangen?“ fragte ich, war aber nicht halb so ungeduldig wie ich tat.

„Klar.“ Er hielt die Peitsche jetzt an ihrem Griff und ließ ihre zehn Enden locker durch die Luft schwingen. „Dann leg dich mal da hin.“

Jetzt war es an mir, einen Moment zu stutzen. Dann lachte ich aus vollem Halse.

Er sah mich beleidigt an. „Was ist?“

Ich wurde wieder ernst. „Du“, sagte ich. „Du legst dich da hin.“

Er wich einen Schritt zurück. „Nein, oh nein… das nicht!“

„Fünfhundert“, sagte ich leise.

„Was?“

„Ich zahl fünfhundert mehr, wenn du es tust. Ich verspreche dir, ich mache nichts, was du nicht willst. Wenn dir etwas nicht gefällt, hören wir sofort auf. Versprochen.“

Er zögerte, haderte, kämpfte mit sich selbst. Ich schwieg und wartete, gab ihm die Zeit, die er brauchte, um seine unbezahlten Rechnungen gegen sein Misstrauen mir gegenüber abzuwägen.

Ich siegte.

„Also gut. Aber ich will das Geld jetzt haben.“

„Meinetwegen“, sagte ich und ging das Geld holen. Ich wusste zwar nicht, was das für einen Sinn machte, denn wenn er erstmal da lag, konnte ich es ihm jederzeit wieder wegnehmen. Aber wenn er ihn das beruhigte, bitte sehr.

Als ich zurückkam, stand er noch genau so, wie ich ihn verlassen hatte. Nervös kaute er an seiner Unterlippe. Er nahm das Geld und brachte es zu seinen Sachen, die noch im Bad lagen.

Dann kam er wieder herein, blieb unschlüssig stehen. Ich hatte die Peitsche wieder auf den Nachttisch gelegt und mich lässig in den Sessel gesetzt.

„Dann zieh jetzt den Bademantel aus“, befahl ich mit ruhiger Stimme.

Er warf mir einen überraschten Blick zu, wohl weil meine Stimme sich verändert hatte. Der Befehlston war neu. Kurz regte sich Widerstand in seiner Miene, doch dann entschied er, dass es zum Spiel gehörte und fügte sich. Der seidene Umhang fiel zu Boden.

Ich ließ mir Zeit und betrachtete diesen köstlichen Körper, die weiße Reinheit seiner Haut, die schlanken und doch muskulösen Gliedmaßen und natürlich sein bestes Stück. Er hatte sich rasiert, wie es jetzt modern war. Ich genoss seine zunehmende Nervosität und wie die letzten Reste seiner Coolness von ihm abfielen, während er da so entblößt vor mir stand und von mir gemustert wurde.

„Leg dich auf das Bett“, sagte ich schließlich, und er gehorchte. Er legte sich auf den Rücken und sah mich an. Zum ersten Mal flackerte Furcht in seinen Augen, und ich hatte Sorge, dass er gleich wieder aufspringen könnte. Also machte ich meinen Tonfall wieder eine Nuance freundlicher: „Jetzt streck die Arme aus, Toshio, und spreize die Beine.“

Zögernd tat er es.

„Das machst du sehr gut“, sagte ich jetzt sanft, und trat zu ihm ans Bett. Ich beugte mich herunter zu ihm und streichelte ihn zärtlich. Ich spürte sein leichtes Zittern. Meine Finger glitten seinen Arm hinauf, liebkosend, und dann schlossen sie sich um sein Handgelenk und mit der anderen Hand griff ich nach der Klettmanschette. Das Gleiche geschah mit seinem anderen Arm. Dann machte ich eine kurze Pause.

„Alles in Ordnung?“ fragte ich.

Er nickte verhalten, aber das Zittern wurde nicht weniger.

„Die Fesseln sind ganz weich. Oder tun sie dir weh?“

Er schüttelte den Kopf.

Ich vervollständigte mein Werk, indem ich mich zärtlich seine Beine hinabarbeitete und auch dort die Fesseln oberhalb der Knöchel anlegte.

„Geht es so?“ fragte ich.

„Ja“, sagte er mit tonloser Stimme.

Ich hörte nicht auf, ihn zu streicheln. Die Seile waren nicht straff, sodass er Arme und Beine noch bewegen konnte. Aber die Klettverschlüsse saßen fest. Er würde sich nicht allein befreien können.
 

Jetzt hatte ich ihn da, wo ich ihn haben wollte.

Die zweite Phase

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die dritte Phase

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Rekonvaleszenz

Noch nie in meinem Leben ist es mir so schlecht gegangen.

Und der einzige Mensch, der bei mir ist, ist ausgerechnet der, dem ich das zu verdanken habe.

Ich kann die Tränen einfach nicht mehr zurückhalten. Ich weine und heule und schreie, als er mir diesen erneuten Schmerz zufügt, und kann nicht mehr damit aufhören. Schlimmer als der Schmerz ist das, was er da tut – sich in mich einbrennen. Mich als sein Eigentum brandmarken. Als wäre ich nur ein Stück Vieh.

Der ekelhafte Gestank von verbranntem Fleisch steigt mir in die Nase, und Pascal zieht meinen Kopf auf seinen Schoß und streichelt mir über die Haare und murmelt tröstende Worte. Der ist doch wirklich total verrückt! Erst fügt er mir diese Qualen zu, und dann tut er plötzlich so liebevoll?

Ich will das nicht. Seine Berührung ist mir zuwider. Aber was soll ich tun? Meine Arme sind noch immer an meine Füße gebunden. Ich kann ihm nicht einmal in die Hand beißen.

Ich kann gar nichts tun.

Nur weinen, weinen, weinen, bis ich so erschöpft bin, dass ich nicht mal mehr das kann.

Und selbst jetzt lässt er mich nicht in Ruhe.

„Toshio, so kannst du hier nicht liegen bleiben.“

Ach?

„Du hast dich beschmutzt...“

Wer hat hier wen beschmutzt!

„… und ich muss deine Wunden versorgen.“

Seine freundliche Stimme kann er sich auch schenken. Seine Fürsorge kauf ich ihm sowieso nicht ab.

Er löst die Fesseln, und das wäre vielleicht meine Chance gewesen, mich endlich gegen ihn zur Wehr zu setzen, aber ich kann einfach nicht mehr. Außerdem explodieren meine Finger, als er meinen Arm nach oben streckt. Und dann ist es schon vorbei, und er macht meine Hände irgendwie oben an meinem Nacken fest. Ich ziehe probehalber und merke ein leichtes Würgen am Hals. Ist das ein Halsband? Ich bin doch nicht sein Haustier!

Es kommt aber noch schlimmer. Er hakt eine Kette an das Halsband und erwartet allen Ernstes von mir, dass ich aufstehe, um mit ihm ins Bad zu gehen. Wie soll ich das denn schaffen? Ich komme nicht mal ohne seine Hilfe hoch! Und meine Füße zucken schon zurück, als sie nur den Boden berühren, wie sollen die mich denn tragen?

Gar nicht, stelle ich gleich fest, als er mich gnadenlos hochzieht und mir sofort vor Schmerz die Beine unter mir wegknicken. Er greift mir unter die Arme und verhindert, dass ich umkippe. Ich gebe schon wieder diese winselnden Töne von mir, die ich noch nie zuvor gehört habe. Aber die Schmerzen sind einfach unerträglich!

Seine Stimme passt gar nicht zu dem, was er tut. „Ist ja gut, Toshio, ich weiß, das tut weh, aber ich muss dich sauber machen, und es ist ja nicht weit…“, sagt er aufmunternd. Und schleift mich auf Knien über den harten Boden mit sich, weil ich mich freiwillig nicht in Bewegung setze.

Danke auch. Die Knie hatten bislang noch nicht wehgetan.

…ist ja nicht weit…

Gestern fand ich das auch noch. Die paar Schritte über den Flur habe ich mit Leichtigkeit geschafft. Jetzt jedoch ist es eine endlose Tortur, und im Bad angekommen gerate ich plötzlich in Panik, keine Ahnung warum. Meine Sachen liegen da gar nicht mehr, dieser achtlos dahin geworfene Haufen Stoff, dessen Anblick mir jedoch irgendwie Sicherheit gegeben hätte.

Meine Sachen sind weg!

Ich flippe total aus, und Pascal hat Mühe, mich in die Duschwanne zu zerren. Irgendwie bin ich mit einem Mal überzeugt davon, dass er mich nur ins Badezimmer gebracht hat, um mich hier abzuschlachten, dieser Psychopath, schön in der Duschwanne, damit das Blut ordentlich und sauber abfließen kann und seine schicke Wohnungseinrichtung nicht ruiniert.

Er schlingt die Kette um den Wasserhahn, und dann zieht er mich an sich und sagt Worte, die ich nicht verstehe, als würde er auf einmal Suaheli sprechen.

Dann weiß ich nichts mehr.
 


 

Als ich wieder wahrnehme, liege ich schon wieder in dem Bett. Die Hände sind mir über Kopf zusammengebunden, und als ich mich bewege, höre ich eine Kette leise klirren. Sogleich hat der Schmerz mich wieder im Griff, fließt in heißen Wellen durch meine Glieder, lässt mich unkontrolliert zittern und stöhnen. Anders ist es einfach nicht auszuhalten.

Eigentlich ist es gar nicht auszuhalten. Am schlimmsten ist die Hand. Und die Füße. Ich habe das Gefühl, jeden Moment verrückt zu werden.

Pascal ist schon wieder an mir zugange. Wann hat er endlich genug?

Er schiebt seinen Finger in meinen Po, und der helle Schmerz, den das macht, fährt wie ein Ruck durch meinen gesamten Körper. Ich schreie auf.

„Scht, schon gut, schon gut.“ Sein Tonfall ist immer noch sanft und liebevoll. Ich werde aus dem nicht schlau. „Das ist nur ein Zäpfchen gegen die Schmerzen, gleich geht es dir besser. Das tut nur so weh, weil dein Schließmuskel ein wenig eingerissen ist. Aber das ist bald wieder in Ordnung.“

Er fingert noch ein wenig da unten rum, aber diesmal ist es nicht so schlimm, sondern angenehm kühl.

Dann streichelt er über meinen Rücken. Ich zucke zusammen und versuche, der Berührung auszuweichen. Er soll das lassen!

Er packt mein Haar und zieht meinen Kopf herum zu sich. Au, das tut weh!

Aber er sieht auch ein wenig mitgenommen aus. Seine vorher so tadellose Kleidung zeigt dunkle Wasserflecken und ein paar Haare haben sich aus seinem Zopf gelöst und hängen ihm nun wirr ins Gesicht.

„Jetzt hör mir mal gut zu, mein Süßer.“ Jetzt klingt er nicht mehr ganz so freundlich. „Mit deiner kleinen Aufführung da gerade in der Dusche hast du dir schon ganz schön was geleistet, aber dafür werde ich dich später bestrafen, genauso wie dafür, dass du hier ins Bett gepinkelt hast.“

Davon hab ich gar nichts mitbekommen. Da kann ich doch gar nichts für! Diese Ungerechtigkeit und die Angst, die das Wort „bestrafen“ in mir auslöst, treiben mir schon wieder Tränen in die Augen.

„Aber ich lasse mir von dir nicht gefallen, dass du vor meinen Berührungen zurück zuckst, als fändest du mich Ekel erregend. Falls du das bis jetzt noch nicht verstanden hast, sage ich dir das noch einmal in aller Deutlichkeit: Dein Körper gehört jetzt mir, und ich darf dich anfassen und mit dir machen, was ich will. Dein Wille zählt hier gar nichts mehr, du bist ein Nichts, und dein einziger Daseinszweck ist es von nun an, mir zu dienen und mir Freude zu bereiten. Je schneller du das begreifst und dich fügst, umso besser für dich.“

Seine Worte machen mich schon wieder wütend. Ich bin kein Nichts, und ich werde mich ihm niemals fügen, denke ich. Niemals werde ich dir gehören! Niemals!

Obwohl ich noch die Tränen in meinen Augen spüre, sehe ich ihn standhaft an und lege alle Verachtung, die ich für ihn empfinde, all die Wut über das, was er mir angetan hat, und alle Arroganz, die ich noch aufbringen kann, in diesen Blick. Wenn er wüsste, wie oft ich diesen Blick schon als Kind geübt habe!

Und es funktioniert. Selbst jetzt.

Ich sehe, wie sich seine Augen zornig verschmälern.

Und dann bereue ich zutiefst, was ich getan habe.

Denn er greift nach der Augenbinde, die noch seit der Nacht auf dem Tischchen neben dem Bett liegt.

Nein…

„Dein Körper gehört jetzt mir“, wiederholt er eiskalt. „Und zu sehen ist ein Privileg, das du dir von nun an erst wieder verdienen musst.“

Es wird dunkel.
 


 

Irgendwann muss ich tatsächlich eingeschlafen sein.

Das Zäpfchen hat die Schmerzen zwar nicht genommen, aber sie auf ein einigermaßen erträgliches Maß reduziert, und es hat mich schläfrig gemacht. Pascal hat meinen bebenden Körper an sich gezogen, und ich habe mich nicht mehr getraut, mich gegen ihn zu sträuben.

Jetzt spüre ich ihn nicht mehr. Bin ich allein?

„Hm-hm?“

Keine Reaktion. Steht er am Bett und amüsiert sich über mich? Oder geilt sich an mir auf? Angestrengt lausche ich nach leisen Atemzügen oder raschelndem Stoff, aber ich höre nichts. Also wage ich es und versuche die verflixte Augenbinde abzustreifen, aber die sitzt bombenfest. Dann probiere ich, ob ich den Knebel irgendwie ab bekomme. Auch Fehlanzeige. Die Fesseln halten ebenso jedem Befreiungsversuch stand; das einzige, was ich erreiche, ist ein Heidenlärm von den Ketten, mit denen meine Hände und Füße am Bett befestigt sind. Zumindest hört es sich für mich total laut an. Ich möchte ja nicht Pascal auf mich aufmerksam machen.

Ich bin froh, dass er weg ist!

Also liege ich erstmal wieder still und warte ab, dass das wilde Pochen in den Fingern und den Füßen wieder aufhört, das durch mein Gezappel wieder heftiger geworden ist.

Nicht nur der Schmerz wütet durch meinen Körper, auch der glühendheiße Hass, den ich empfinde, wenn ich an Pascal denke. Doch ich weiß, der kann sich jederzeit in kalte Angst verwandeln, und die ist tausendmal schlimmer.

Ich versuche lieber, an etwas anderes zu denken. Wie spät mag es wohl sein? Patrick wird sauer sein, dass ich unsere Verabredung nicht einhalte. Wie lange wird es dauern, bis sein Unmut zu Sorge wird? Wie lange wird er warten, bis er zur Polizei geht?

Und dann? Ich denke daran, was ich aus dem Fernsehen weiß: achtundvierzig Stunden warten sie, bis sie mich überhaupt als vermisst annehmen. Achtundvierzig Stunden, das sind zwei Tage.

Zwei lange Tage.

Und dann? Wie sollen sie mich hier überhaupt finden? Niemand weiß, dass ich mit diesem Mann mitgegangen bin. Kein Mensch hat uns gesehen. Oder doch? Vielleicht habe ich nur niemanden bemerkt.

Aber wie es aussieht, muss ich mich besser selbst befreien. Aber wie? Mein Handy ist unerreichbar.

Mein Handy! Sie können mich über mein Handy orten!

Aber den Gedanken kann ich schnell wieder verwerfen. Pascal ist bestimmt nicht so dumm, mein Handy eingeschaltet in seiner Wohnung liegen zu lassen.

Die Aussichtslosigkeit meiner Lage raubt mir fast den Atem. Schluchzend ringe ich um jeden Atemzug.

Mein Vater kommt mir in den Sinn. Immer hat er sich über mich lustig gemacht.

„Was strengst du dich so an?“ hat er mich gefragt. Als ich die Schule zu Ende machen wollte. Als ich studieren wollte. „Du hast keine Chance. Du bringst es sowieso zu nichts.“

Wie habe ich ihn verabscheut für diese Worte. Und wie sehr war er mir Ansporn, ihm das Gegenteil zu beweisen! Ich habe sogar Japan verlassen, um nicht so zu enden wie er. In einer Alkoholwolke, ohne Hoffnung.

Und jetzt? Hatte er recht? Hätte ich mir alles sparen können?

Wie gern wäre ich jetzt bei ihm… Wäre ich zu Hause geblieben… in dem Mief, in der Trostlosigkeit… aber dann wäre ich jetzt nicht hier…

Ach, Papa! Dann würde ich jetzt vielleicht mit dir in einer Pachinko-Halle sitzen mit einem Bier neben mir…
 

Eine plötzliche Berührung an meiner Schulter lässt mich erschrocken aufheulen. Ich hab ihn gar nicht herein kommen hören! Mein Herz setzt fast aus vor Schreck.

Aber Pascal macht jetzt wieder einen auf nett: „Du weinst ja schon wieder… du wirst noch an deinem eigenen Schnodder ersticken. Hier, putz dir mal die Nase.“

Zögernd schnäuze ich in das weiche Tuch, das er mir vor das Gesicht hält. Und er wischt mir tatsächlich nur die Nase sauber, ohne mir die Luft abzudrücken.

„Willst du was trinken? Du hast bestimmt Durst.“

Ich nicke vorsichtig und höre zu, wie er Flüssigkeit in ein Glas laufen lässt. Mein Mund ist wirklich wie ausgedörrt, und mein Hals kratzt bei jedem Schluckreflex, den mein Körper trotz der Trockenheit ausführt.

„Dann mache ich dir jetzt kurz den Knebel ab. Aber nur zum Trinken!“

Es tut weh, als er das Klebeband abzieht, aber das ist nicht so schlimm.

Sobald mein Mund frei ist, sprudeln die Worte nur so aus mir heraus: „Bitte, bitte, lass mich gehen, was willst du denn noch, bitte, ich sag auch keinem was, versprochen, aber lass mich gehen, biiiiitte…“

Meine Stimme klingt heiser und dünn und fremd in meinen Ohren.

„… ich will auch das Geld gar nicht, ich will nur nach Hause, ich kann nicht mehr…“

Ich fange schon wieder an zu heulen.

Zärtlich streichen seine Finger über meine Wange. „Irgendwann werde ich dich vielleicht gehen lassen, kleiner Toshio. Irgendwann, wenn du ohne Strafen bist. Wenn ich weiß, dass du zurück kommst…“

„Ich komme zurück“, beeile ich mich zu versichern. „Ich versprech’s! Ich muss nur kurz nach Hause…“

„Jetzt noch nicht, Toshio. Du bist noch nicht so weit.“ Seine Stimme ist so sanft. Wie kann er nur so sein? „Du kannst dich ja nicht mal an dein Redeverbot halten. Oder habe ich dir erlaubt, zu sprechen?“

„Nein, aber…“

„Das war’s jetzt. Die Strafe hierfür bekommst du, wenn du dich erholt hast.“ Er drückt mir das Band wieder über den Mund.

Bestürzt quieke ich auf. Und das Trinken?

„Trinken gibt es erst, wenn du Schweigen kannst. Gehorsam, Toshio. Mehr verlange ich nicht von dir.“

Ich höre, wie er das Glas irgendwo neben dem Bett abstellt.

Unerreichbar für mich.
 


 

Die nächsten Stunden sind schlimm.

Er hat mir noch ein Zäpfchen gegeben. Die Schmerzen gehen also. Mein Bewusstsein dämmert immer wieder weg.

Aber ich zucke bei jeder Bewegung von ihm zusammen. Die Blindheit macht mich so schreckhaft.

Obwohl er sanftmütig bleibt. Jedesmal nimmt er mich in den Arm und streichelt mich beruhigend, wenn ich zitternd und weinend wieder zu mir komme. Geduldig flüstert er mir besänftigende Worte zu und lässt mich die Nase frei schnauben. Er hat mich sogar zugedeckt.

Und ich lasse mir das gefallen. Ich versuche, mir meinen Widerwillen gegen seine Fürsorglichkeit nicht anmerken zu lassen. Es geht, wenn ich mir vorstelle, es sei Patrick, der mich hält, Patricks Hände, die mich berühren…

Patrick, hilf mir! Finde mich, rette mich!

Aber immer wieder ist es doch Pascal, der bei mir liegt. Dieses Monster…
 

Ich bin froh, als er endlich aufsteht und mich allein lässt.

Ich kann ihn unten im Haus werkeln hören und versuche, mich ein wenig zu entspannen. Das ist gar nicht so einfach, wenn einem fast alles weh tut! Liegen kann ich eigentlich nur auf der Seite, aber das wird mit der Zeit auch unbequem. Vor allem, weil ich meine Arme die ganze Zeit hoch halten muss.

Dann ist da der Durst. Meine Gedanken driften immer öfter zu dem Glas, das da noch ganz in der Nähe stehen muss. Ich wusste noch gar nicht, dass Durst so quälend sein kann.

Durchhalten, durchhalten, mache ich mir zur Devise. Durchhalten, bis sich die Möglichkeit zur Flucht ergibt. Etwas anderes bleibt mir wohl nicht übrig.

Plötzlich höre ich etwas, das mein Herz wild klopfen lässt: Es klingelt!

Es hat geklingelt und jemand ist gekommen; ich kann hören, wie Pascal mit jemandem spricht! Eine Männerstimme. Ich drehe mich auf den Rücken, auch wenn sich dadurch das Brandmal auf meiner Pobacke meldet. Ich zerre an den Ketten und brülle um Hilfe, so laut ich kann.

Laut ist das freilich nicht.

Mehr als „HMM! HMM!“ kommt einfach nicht raus.

Trotzdem kann ich nicht anders.

Und tatsächlich! Jemand kommt die Treppe herauf! Hoffnung purzelt durch meine Brust und vor Erleichterung kommen mir schon wieder die Tränen, als sich die Tür zu meinem Gefängnis öffnet. Im Rahmen meiner Möglichkeiten versuche ich deutlich zu machen, dass ich nicht freiwillig hier so liege! Ich kann kaum fassen, dass meine Bitten erhört worden sind, dass meine Rettung schon da ist!

Ist sie auch nicht.

Es ist Pascal.

„Tohio, Toshio…“ Seine gefällige Stimme. Die mir so verhasst ist.

Ich versinke wieder in meinem Meer aus Verzweiflung.

„Möchtest du jetzt etwas trinken?“

Natürlich, du Arsch! Du weißt doch genau, wie lange ich nichts mehr gehabt habe! Ich schlucke meinen Hass hinunter und nicke. Vielleicht ist der andere Mann noch irgendwo im Haus… Oder vor dem Haus, noch in Rufweite. Ich kann es kaum abwarten, bis der Knebel herunter ist.

Dann brülle ich, so laut ich kann: „HILFE! HILF-mpf!“

„Du sammelst Strafen, mein Lieber.“

Viel schlimmer ist, was danach kommt.

Eine fremde Stimme. Der andere Mann. Meine Rettung. Er ist hier im Zimmer! Er sagt: „Er braucht Flüssigkeit. Soll ich ihm eine Infusion legen?“

Da ist keine Bestürzung in seiner Stimme. Kein Mitleid. Nur diese nüchterne Feststellung.

Er ist keine Rettung.

Die Hoffnung zerplatzt wie eine Seifenblase.

„Nein, verdammt.“ Pascals Stimme klingt verärgert. Ich ziehe verängstigt den Kopf ein. „Er muss das lernen.“

„Aber auf die Art…?“ Der andere lässt sich nicht einschüchtern.

Vielleicht doch…?

„Ich habe meine Methoden. Ich mache das schließlich nicht zum ersten Mal. Ich habe dich gerufen, damit du ihn mir auf ansteckende Krankheiten untersuchst, und nicht, um mich von dir belehren zu lassen.“

„Ist ja schon gut.“

Nein. Der andere gibt viel zu schnell auf. Der ist überhaupt keine Hilfe. Vor Enttäuschung fange ich jetzt richtig an zu weinen. Ich habe früher nie geweint. Als Kind vielleicht. Jetzt breche ich wegen jeder Kleinigkeit in Tränen aus.

Ungerührt führen die beiden das Gespräch weiter, während mir die Decke weggenommen wird und die Verbände abgenommen werden. Er untersucht meine Wunden. Das tut weh!

„Hübsch ist er ja. Wo hast du ihn denn her?“

„Aus einem Nachtclub. Er ist Tänzer.“

„Nett. Aber konntest du dir keinen von den Domestizierten nehmen?“

„Er war so schön. Ich musste ihn einfach haben. Du musst ihn dir ansehen, wenn er tanzt. Später dann.“

„Du bringst dich noch in Teufels Küche.“

„Da bringe ich lieber andere hin.“

Die Männer lachen.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Die reden über mich, als sei ich nur ein streunender Kater, den man einfach mit nach Hause nehmen kann. Und was sind „Domestizierte“?

„Hier werden Narben bleiben. Ist er gegen Tetanus geimpft?“

„Woher soll ich das wissen? Er hatte keinen Impfpass dabei.“

„Dann mach ich das gleich mit. Ich gebe ihm auch ein Antibiotikum, damit sich nichts infiziert. Hat er was gegen die Schmerzen?“

„Natürlich. Ich bin doch kein Unmensch.“

„Bist du sicher?“

Wieder lachen sie. Widerlich.

Ich versuche, nicht mehr zuzuhören. Das ist mir zu entwürdigend.

Keine Ahnung, was er mir alles gespritzt hat. Aber nachdem er weg ist, kann ich endlich richtig schlafen.
 


 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Ich unterscheide Tag und Nacht lediglich daran, ob Pascal bei mir liegt. Dann ist es wohl Nacht. Mir sind die Tage lieber, wenn er nur ab und zu vorbei kommt, den Knebel und die Augenbinde kontrolliert und die Fesselung verändert, damit ich nicht immer in der selben Position liege. Trotzdem ist es unbequem, so lange unbewegt zu liegen. Manchmal verpasst er mir eine Spritze in den Bauch. Er wechselt die Verbände und wäscht mich mit einem feuchten Tuch.

Aber ansonsten lässt er mich in Ruhe.

…ich bin noch gar nicht auf meine Kosten gekommen…

Immer wieder versuche ich zu rekonstruieren, wie lange er mich schon gefangen hält. Zehn Tage müssen es schon sein, aber ich bin nicht sicher. Ich zähle die vermeintlichen Nächte, aber manchmal kann ich mich nicht mehr genau an die Zahl vom Vortag erinnern. Außerdem sind die Erinnerungen an die erste Zeit oft sehr verschwommen. Ich muss ganz schön unter Schock gestanden haben. Oder es lag an den Medikamenten. Jedenfalls sind meine Gedanken erst in der letzten Zeit wieder klarer geworden.

Die Schmerzen sind viel besser. Langsam habe ich auch nicht mehr das Gefühl, meine linke Hand und meine Füße wären dick wie ein Ballon. Ich kann die Finger schon wieder vorsichtig bewegen.

…du hast Glück, dass du an mich geraten bist…

Ich bin jetzt auch schön leise und halte den Mund, wenn er mir den Knebel zum Trinken abnimmt und mich füttert. Der Durst hat mich einfach mürbe gemacht. Mein Körper verlangt sein Recht.

Aber das bringt neue Probleme mit sich. Denn was ich zu mir nehme, muss ich auch wieder loswerden.

…dein einziger Daseinszweck ist es von nun an, mir zu dienen…

Er zwingt mich, mich im Liegen zu entleeren, in eine Art Bettpfanne. Am Anfang habe ich mich unglaublich geschämt, und jedes Mal geheult dabei. Inzwischen habe ich mich etwas daran gewöhnt. Schlimmer wäre es, wieder ins Bett zu machen. Ich habe riesige Angst, Pascal zu verärgern.

…es hängt von dir ab, wie es dir ergeht…

Genauso riesig ist mein Hass. Wenn er nicht da ist und ich mich relativ sicher fühle, werde ich unglaublich wütend auf ihn. Ich vertreibe mir die Zeit damit, ihm alle Schimpfwörter in allen Sprachen zu geben, die ich kenne.

…ich verspreche dir, ich mache nichts, was du nicht willst…

Lügner! Ich schwanke zwischen Angst und Wut und Hass und Scham und Verzweiflung und habe das Gefühl, dass mich diese Gefühle innerlich zerfressen.

…du wirst mich hassen, mich fürchten, aber du wirst mich auch lieben…

Dazu kommt diese unglaubliche Langeweile. Ich kann ja nichts tun außer denken, ich kann nicht mal was sehen. Ich liege die ganze Zeit nur herum – meinen Gefühlen, meinen Gedanken, meinem Folterer wehrlos ausgeliefert.

…du wirst dich danach sehnen, mich zu sehen…

Also versuche ich mich irgendwie abzulenken. Ich zähle bis hundert, auf Japanisch, auf Chinesisch, auf Englisch, auf Deutsch. Dann bis tausend. Und wieder zurück.

…dein Körper gehört jetzt mir…

Ich gehe die Texte meiner Lieblingslieder durch und übersetze sie in die anderen Sprachen. Im Geiste tanze ich nach ihnen und denke mir neue Choreographien aus.

…es scheint dir zu gefallen…

Aber immer wieder geistern Pascals Worte durch meinen Geist, verfolgen mich bis in meine Träume. Ich schlafe schlecht. Immer wieder schrecke ich aus Alpträumen hoch. Nur um festzustellen, dass es mit dem Aufwachen noch nicht vorbei ist.

…von nun an bist du mein…
 

In dieser Nacht ist es besonders schlimm. Schon zum dritten Mal habe ich Pascal wach gemacht. Mein Rücken tut weh und meine Schultern, obwohl er so regelmäßig meine Stellung verändert.

Seine Hände, sein warmer Atem an meiner Haut, alles ist mir zuwider. Und es will mir einfach nicht gelingen, mir meinen Freund Patrick an seine Stelle zu denken.

Außerdem muss ich pinkeln. Er hat es vergessen, als er sich zu mir gelegt hat. Ich kann es ihm nicht sagen, also was soll ich tun? Ich bin zappelig und kann nicht ruhig liegen. Immer, wenn ich eindöse, schrecke ich kurz danach wieder auf.

„Verdammt, Toshio! Ich bin müde, lass mich schlafen!“ herrscht er mich an, nachdem ich gerade wieder schweißgebadet aufgewacht bin. Seine Geduld mit mir ist langsam zu Ende.

Sein barscher Ton ängstigt mich. Ich fange an zu zittern. Die Ketten geben meiner Furcht einen leisen Klang.

Pascal seufzt genervt. „Hör auf damit.“

Ich kann nicht… Im Gegenteil: Seine Gereiztheit macht alles noch schlimmer.

„Mir reicht es jetzt!“

Er steht auf, und ich höre mit Schrecken, wie er an diesen verhassten Schrank geht! Erschrocken fiepe ich auf, als er mich grob packt, meine Fesseln löst und mich vom Bett zerrt. Ich falle auf den Fußboden, und er drückt mich nieder, schnürt mir die Arme auf den Rücken, bindet die Beine zusammen und zieht die Füße hoch, bis ich mich nicht mehr rühren kann. Das Halsband macht er am Bettpfosten fest. Der Boden ist kalt und hart. Das Seil schneidet ein. Ich liege auf dem Bauch und meine Blase drückt. Mein Zittern ist jetzt lautlos. Aber ich fange schon wieder an zu flennen.

Ich weiß, dass ich leise sein soll, aber ich bin dazu nicht in der Lage. Ich versuche, so geräuscharm wie möglich zu schluchzen.

Eine Weile geht es gut. Dann höre ich ihn unwillig knurren. Das Bett vibriert, als er wieder aufsteht. Ich atme vor Entsetzen ganz flach. Warum ist er heute so gereizt?

Jetzt tut er mir wieder weh, denke ich, und mein ganzer Körper versteift sich vor Angst. Aber er geht nur an mir vorbei und aus dem Zimmer. Was hat er vor? Seit der ersten Nacht hat er mich nicht mehr gequält – wenn man davon absieht, dass er mich seit Tagen gefangen hält. Sein Tonfall jedoch ist zum ersten Mal deutlich aggressiv. Und ich bin seinen Launen völlig hilflos ausgeliefert! Ich spüre, wie die Angst zur Panik werden will und versuche, mich wieder zu beruhigen.

Ich soll ihm dienen und ihm Freude bereiten, hat er gesagt. Ich erinnere mich deutlich an seine Worte. Also wird er mich nicht umbringen.

Hoffe ich.

Was er wohl mit Dienen meint? Und es könnte ihm durchaus Freude bereiten, mich langsam und qualvoll zu Tode zu foltern…

Den Tod fürchte ich gar nicht. Das „qualvoll“ dabei macht mir Angst. Einen Vorgeschmack hat er mir ja schon geboten.

Ich muss so schnell wie möglich hier weg! Irgendwann wird sich die Gelegenheit zur Flucht bieten, und bis dahin… Bis dahin muss ich versuchen, ihn so wenig wie möglich zu verärgern. So wenig wie möglich „Strafen“ zu erhalten. Das Ganze hier so erträglich wie möglich zu gestalten.

In der Theorie klingt das ganz gut. Aber mir stockt der Atem und meine Haut wird ganz kalt, als er zurückkommt. Er sagt kein Wort. Er kniet sich neben mich. Er löst den Knoten, der mich an den Bettpfosten bindet, und das Seil, das meine Füße oben hält. Er zieht mich hoch und wirft sich meinen Oberkörper über seine Schulter. Wo bringt er mich hin? Mir ist ganz schlecht vor Angst. Der Harndrang wird unerträglich, mein Unterleib stößt mit jedem Schritt an seinen Körper und drückt auf meine volle Blase.

Ihr Götter! Ich möchte nicht wissen, was er mit mir anstellt, wenn ich mich jetzt auf ihm entleere!

Zum Glück geschieht das nicht. Er geht nur ein paar Schritte mit mir. Dann werde ich abgelegt. Auf eine weiche Unterlage. Er deckt mich zu. Und dann wird etwas herunter gedrückt, auf mich drauf, und es wird eigenartig still um mich herum. Nur meine Atemzüge klingen jetzt unnatürlich laut. Ich versuche, den Kopf zu heben und stoße gegen etwas Festes.

Was ist das? Wo bin ich? Es ist furchtbar eng, und ich liege unbequem auf meinen Armen. Ist das… ein Sarg? Das kann er doch nicht machen! Er kann mich doch nicht einfach so hier liegen lassen! Wie lange wird die Luft reichen? Ich werde hier ersticken! Die Luft… ist jetzt schon stickig!

Augenblicklich bekomme ich doch Panik und versuche mit aller Kraft, mich aufzurichten.

Es geht nicht.

Ich zerre an den Fesseln und schlage mit dem Kopf gegen den Sargdeckel.

Ich erreiche gar nichts.

Ich muss mich beruhigen! Ich zwinge mich dazu. Mein Atem geht hektisch und das Blut rauscht durch meine Ohren. Ich konzentriere mich darauf, ruhiger zu atmen. Mit der Zeit geht es, und die Panik ebbt wieder ab.

Dieses beschissene Arschloch! Steckt mich hier in diese Kiste und lässt mich hier elendig verrecken, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen!

Die Wut hilft mir im Moment, mich wieder zu fangen.

Aber während ich so da liege, meine Arme erst schmerzen und dann gefühllos werden, verändert sich allmählich etwas in mir.

Die Wut richtet sich allmählich gegen mich.

Warum konnte ich nicht einfach ruhig sein? Warum war ich so blöd, ihn zu provozieren? Ich bin selbst Schuld, dass ich jetzt hier bin!

Und wo ich gerade dabei bin: Warum hab ich nicht auf meinen Vater gehört? Warum hab ich mich nicht mit meinem Schicksal abgefunden, warum die ganzen Schikanen ertragen, warum mich abgeschuftet für das Schulgeld, die Studiengebühr, den Flug nach Europa?

Ich will nicht sterben!

Pascal muss kommen und mich hier wieder raus holen! Er wird doch kommen…?

Ich hoffe, ich bete, dass er bald kommt! Ich halte das nicht mehr lange aus. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Und meine Blase ist so voll, dass ich schon Krämpfe im Bauch habe. Einmal Strafe wegen ins Bett pinkeln steht mir schon bevor. Und wenn ich überlege, was geschehen ist, bloß weil ich beim Sex ohne Erlaubnis abgespritzt habe…

Bitte, bitte, komm, bevor ich mich nass machen muss! Komm, bevor ich hier drin ersticke!
 

…du wirst dich danach sehnen, mich zu sehen…

…ich bin es, der dich wieder erlöst…

Nie hätte ich gedacht, dass seine Worte Wirklichkeit werden könnten.

Nie.

In der Zwischenzeit

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Phase vier beginnt

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Gehorsam

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In Laurins Blick

Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich das riesige Haus von Monsieur Remarque betreten musste. Das hatte nichts mit dem Gebäude selbst zu tun, als vielmehr mit dem Mann, der es bewohnte. Eigentlich war es egal, wo ich ihm begegnete. Diesen Mann umgab einfach eine furchterregende Aura. Eine Aura, die mich an Schnee denken ließ, Schnee, der blau im Vollmond schimmert. Der Blick aus seinen Augen durchdrang einen bis tief ins Mark, und ich war stets froh, dass ich ihn nicht erwidern musste. Ich blieb dicht bei Raven, meinem Herrn, und hielt den Kopf gesenkt, wie es von mir erwartet wurde, und Raven schien wie immer mein Unbehagen deutlich zu spüren und legte warm und beruhigend seine Hand auf meine Schulter.

Ich wusste, er hätte mir diese Abende gern erspart. Doch Monsieur Remarque ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er meine Anwesenheit und vor allem mein Flötenspiel nach dem Essen zu schätzen wusste. Und wenn Monsieur Remarque etwas wollte, dann bekam er es auch.

„Tu es mir zuliebe“, sagte Raven dann zu mir, obwohl ich gar nicht „nein“ gesagt hatte. „Ich möchte den Monsieur nicht verärgern.“

Das hätte ich nie gewagt. Monsieur Remarque gehörte alles: das Haus, in dem wir wohnten, das Land, so weit das Auge reichte, das Labor und all die Menschen, die in den Kellern darunter lebten. Früher, als ich noch klein war, dachte ich, dass selbst Raven und die anderen Angestellten dem Monsieur gehörten. Erst später begriff ich langsam, dass es noch andere Abhängigkeitsverhältnisse gab als das zwischen Meister und Sklave.

Unwillkürlich wich ich zurück, als die Männer sich freundschaftlich mit Küssen auf die Wange begrüßten. Nie vergaß ich, wen ich da vor mir hatte, egal, wie herzlich sein Umgang mit Raven war und egal, wie vornehm er sich auch verhalten mochte. Monsieur Remarque war bei allen Sklaven gefürchtet, und es kursierten schreckliche Geschichten darüber, was in seiner Privatvilla alles mit einem geschehen konnte. Es hieß, er habe eigens einen Folterkeller eingerichtet, um jedes Fehlverhalten grausam bestrafen zu können.

Mir war nur zu bewusst, dass Raven mein einziger Schutz vor diesem mächtigen Mann war - allein sein Besitzanspruch auf mich bewahrte mich davor, dass Monsieur Remarque über mich bestimmen konnte.

Im Speisesaal schmiegte ich mich sofort Schutz suchend an Ravens Bein, nachdem sie an dem großen, festlich gedeckten Speisetisch Platz genommen hatten. Ich kniete unter dem Tisch zu Ravens Füßen auf dem harten Steinfußboden. Raven verlangte ein Kissen für mich. Wie jedes Mal. Es war wie ein Spiel.

„Du verwöhnst den Jungen zu sehr“, sagte Monsieur Remarque, aber er schickte die junge Frau, die den Wein einschenkte, nach dem Gewünschten. Sie hieß Florence.

Ich mochte es nicht, wenn der Monsieur über mich sprach. Schon als Kind hatte er mir rasende Angst gemacht, einfach durch seine Anwesenheit. Und immer noch verspürte ich in seiner Gegenwart den Drang, mich an Raven festzuklammern. Oft konzentrierte ich mich nur auf den vertrauten Tenor von Ravens Stimme und auf seine Fingerspitzen, die immer wieder liebevoll mit meinem Haar spielten und mir damit Schutz und Verlässlichkeit versprachen, anstatt der Unterhaltung der Herren zu folgen. Florence brachte das Kissen, und kurz darauf kam Ivan und führte an einer langen Kette einen mir unbekannten Mann herein. Das musste der neue Sklave von Monsieur sein!

Ich hielt die Luft an, als ich ihn sah, zum ersten Mal die fremdländischen Züge mit den schmalen, leicht schrägstehenden Augen musterte. Märchenhaft wirkte er, ein feingliedriger Mann, doch voller Spannkraft, und sein glattes Haar war schwarz wie die Nacht und fiel ihm in Strähnen in die Stirn. Gespannt hob sich mein Kopf, um ihn besser betrachten zu können. Er erinnerte mich an jemanden, obwohl er so fremd aussah, aber ich kam nicht gleich darauf, an wen. Ich merkte ihm an, dass er Angst hatte, obwohl er sehr aufrecht ging. Aber was Gefühle anging, konnte mich keiner so leicht täuschen. Seine Handgelenke waren mit einer glänzenden, schwarzen Kette gefesselt, und in jeder Hand hielt er eine dicke weiße Kerze. Gekleidet war er in einen schwarzen, schmal geschnittenen Samtmantel mit einem sehr tiefen Ausschnitt, dessen Saum elegant jeden Schritt umwehte. Darunter trug er lediglich eine hautenge, knielange Hose aus dem selben Material. Die nackte Brust, Hals und Gesicht waren von feinem Goldglitzer überzogen, dazu der edle Schwung der Augenbrauen, die hohen Wangenknochen, die flache, schmale Nase, die vollen, schönen Lippen, und er sah tatsächlich fast wie ein Fabelwesen aus.

Wo hatte Monsieur Remarque ihn nur her? Wo lebten solche Menschen?

Ich wusste, er hatte ihn aus Deutschland mitgebracht. Raven hat mir davon erzählt, denn er hatte ihn damals untersucht. Aber die Sklaven in dem Labor und in den Ställen kamen auch größtenteils aus Deutschland; ich kam aus Deutschland, und dennoch hatte ich noch nie jemanden wie ihn gesehen. Ich war nicht in der Lage, meine Augen von ihm zu lösen.

Ich beobachtete, wie Ivan ihn am Halsband quer durch den Raum dirigierte und etwas entfernt von uns in der Ecke postierte, und sofort tat er mir leid, als ich sah, wie er vor den großen Händen des hünenhaften Ivan einen halben Schritt zurückwich. Ivan sah auch wirklich furchterregend aus mit seinen kurz geschorenen Haaren und den zwei wulstigen Narben, die von seinem Mundwinkeln aus in die Wangen schnitten und seiner Miene stets ein verzerrtes Grinsen verliehen. Er diente schon seit Jahrzehnten in diesem Haus, länger als jeder andere, und das hatte natürlich nicht nur Spuren an seinem Körper hinterlassen. Er zerrte die zierlichen Hände von dem Mann in die gewünschte Position und entzündete die Kerzen. Dann verschwand er lautlos. Wie immer streifte mich sein Blick wie beiläufig, und wie immer schenkte ich ihm ein kleines Lächeln. Ivan lächelte nie. Aber manchmal nickte er mir zu. Er war kein schlechter Mensch.

„Na, habe ich dir zu viel versprochen? Gibt er nicht einen vorzüglichen Kerzenständer ab? Und warte erst, bis du ihn tanzen siehst!“ sagte der Monsieur mit unverkennbarem Besitzerstolz in der Stimme. Mir schien, er sprach extra laut, damit der „Kerzenständer“ ihn auch verstehen konnte. Und seine Worte hatten tatsächlich eine Wirkung, denn der Körper des exotischen Mannes versteifte sich, und er hob ein wenig den Kopf – was seinem Blick einen herablassenden Ausdruck verlieh. Noch nie hatte ich einen Sklaven mit einem solchen Blick gesehen! Fast schon hochmütig schaute er zu uns herüber, und für einen Moment fingen meine Augen die seinen und mir schlug eine solche Feindseligkeit entgegen, dass mir kalt wurde. Dennoch verlor er nichts von seiner magischen Faszination auf mich.

Und plötzlich wusste ich, woher ich ihn kannte: der kleine Elfenjunge aus der Anderswelt, der in einer Muschel wohnte, und mit dem ich als Kind gespielt hatte: Natica.

Raven antwortete dem Monsieur zustimmend, aber wirkte dabei ein wenig geistesabwesend. Auch seine Augen ruhten auf dem Neuen.

Florence kam zurück und trug das Essen auf – dampfende, köstlich duftende und schwer beladene Teller, die sie geschickt auf der Tischplatte verteilte und dabei jedes Mal einen höflichen Knicks machte. Sie war groß und schlank, hatte die braunen Haare stets zu einem Knoten gebunden, und ich mochte ihre runden, dunklen, sanften Augen.

Raven sorgte immer dafür, dass ich zu Hause gut gegessen hatte, denn es war nicht statthaft, dass ich mit den Herren speiste. Trotzdem ich also satt war, genoss ich normalerweise die kleinen leckeren Happen, die Raven mir während des Mahls nach unten reichte. Doch heute nahm ich den Geschmack kaum wahr. Unruhig beobachtete ich, wie die Kerzen in den schlanken Händen leicht zu zittern begannen – mit der Zeit wurde die unbewegte Haltung anstrengend, und die Kerzen wurden zentnerschwer, obwohl sie nicht viel wogen. Natica starrte wie gebannt auf den reich gedeckten Tisch, und ich nahm an, dass er vorher nicht so gut versorgt worden war wie ich.

Ich schloss die Augen, um besser sehen zu können.

Die Angst hüllte ihn ein wie ein blauer Umhang. Das hatte ich ja schon gespürt. Hass tropfte dunkel und schwarz an ihm herab, aber da war noch etwas anderes, etwas Lichtes. Ein grüner Schimmer, der ihn von innen strahlen ließ. Um seinen Fuß war eine Kette, an der ein schwerer Anker hing. In seiner Hand hielt er einen Kompass. Ich war ein wenig enttäuscht, dass da keine spitzen Elfenohren und keine Muschel waren. Meine Fußsohlen brannten, und in meinem Po begann ein dumpfer Schmerz zu klopfen. Die Muskeln in meinen Armen krampften sich zusammen. Kurz bevor ich die Augen wieder aufriss, meinte ich, eine große, schemenhafte Gestalt neben ihm zu sehen, irgendein Tier. Doch dann war es schon zu spät, und ich war wieder in der alltäglichen Wirklichkeit. Mist.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber inzwischen hatte sich leichter Schweiß über Naticas Stirn gelegt. Die Anstrengung zog seine Augenbrauen zusammen. Ich konnte nicht mehr still sitzen. Vorsichtig zupfte ich an Ravens Hose.

„Bitte“, wisperte ich kaum hörbar. „Darf ich zu ihm?“

Raven drückte kurz meine Schulter als Zeichen, dass er verstanden hatte. Er wartete auf eine Pause im Gespräch, dann sagte er zu dem Monsieur: „Mein Kleiner hat Mitleid mit deinem Neuen. Du weißt ja, wie sensibel er ist. Gestattest du, dass er zu ihm geht?“

„Meinetwegen“, antwortete der Monsieur gutmütig.

Ich wartete Ravens Erlaubnis kaum ab, schon war ich auf den Beinen. Natica blickte mir misstrauisch entgegen und wich einen Schritt zurück. Eine Kerze neigte sich bedenklich, als er so abgelenkt wurde, und ich sah schon das Wachs auf das Parkett tropfen.

„Vorsicht!“ sagte ich und streckte hilfsbereit die Hand aus, um die Kerze wieder in die Senkrechte auszurichten. Doch er zuckte zurück, und ein ganzer Schwall flüssigen Wachses schwappte auf den Fußboden.

„Pass doch auf“, wurde ich leise angefaucht, und seine Augen funkelten mich zornig an.

Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden. „Entschuldigung“, murmelte ich verlegen. „Ich will dir nur helfen.“

„Tolle Hilfe“, knurrte er, und ich sah, wie seine Augen dabei ängstlich in Richtung des Hausherrn huschten.

Ich hatte das Gefühl, als würde der Boden unter mir schwanken, als mir bewusst wurde, dass er dafür bestraft werden könnte – und jeder wusste, dass Monsieur Remarque Spaß daran fand, Menschen leiden zu lassen. Ich dachte an die getuschelten Gerüchte über den Folterkeller. Das hatte ich nicht gewollt!

Trotz meiner eigenen Angst, drehte ich mich wie in Zeitlupe herum und ging einen tapferen Schritt auf den Monsieur zu, bevor ich mich auf die Knie sinken ließ. Dabei war mir nur allzu bewusst, dass ich jetzt seine volle Aufmerksamkeit genoss – seine blauen Augen brannten sich förmlich in meine Haut, auch wenn er eher neugierig als wütend wirkte. Jetzt bloß nicht nachdenken, sonst würde ich nie zu Ende bringen, was ich da angefangen hatte! Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust, als ich den Oberkörper tief nach vorne neigte, bis meine Stirn den kalten, harten Boden berührte.

„Verzeiht, Herr. Das war meine Schuld. Bitte bestraft mich dafür“, sagte ich, und meine Stimme klang ganz zittrig und quietschend, obwohl ich mich zwang, laut und deutlich zu sprechen. Das geschah seit einiger Zeit öfter, dass meine Stimme so merkwürdig verrutschte, und Raven hatte mir erklärt, dass das der Stimmbruch sei. Ich hoffte, dass das bald vorbei sein würde!

Die Sekunden schienen sich auszudehnen, während ich hinter mir deutlich die kurzen Atemzüge des anderen Sklaven hören konnte. Vor mir, zwischen den beiden Herren, baute sich eine spannungsgeladene Atmosphäre auf, die mich an ein Gewitter denken ließ. Leider war ich sozusagen der höchste Punkt und damit der Blitzableiter. Ich wappnete mich innerlich gegen den Einschlag.

Der jedoch überraschenderweise nicht kam.

„Für deine Bestrafung ist einzig dein Herr zuständig, Laurin.“ Monsieur Remarque klang ruhig und gelassen, in seinen Worte schwang ein Lächeln mit. Damit löste er auf einen Schlag diese knisternde Stimmung auf, und mir war, als würde eine Last von den Schultern genommen.

Doch dafür trafen mich Ravens darauf folgende Worte wie ein Eisregen, so durchdrungen waren sie von kaltem Zorn: „Das wartet, bis wir zu Hause sind. Dann wirst du dich für dein Vergehen verantworten. Jetzt kniest du dich erst mal zur Wiedergutmachung vor Toshio auf den Boden und bist ihm dabei behilflich, die Kerzen ruhig zu halten!“

„Ja, Herr“, sagte ich zerknirscht und rutschte gehorsam zurück an den Ort des Geschehens. Von Ravens Tonfall einmal abgesehen, war das streng genommen zunächst überhaupt keine Strafe – das war doch genau das, was ich vorgehabt hatte!

Im Gegenteil. Dadurch, dass er mir diese Anweisung gegeben hatte, wusste nun auch Natica, von dem ich jetzt gleichzeitig seinen richtigen Namen kannte, was zu tun war. Ein warmes Gefühl erfüllte mein Herz bei diesen Gedanken. Auf Raven war einfach immer Verlass! Er tat immer alles in seiner Macht stehende, um zu helfen.

Jetzt kniete ich vor dem hübschen Sklaven, doch noch immer war er unsicher und ließ seine Hände frei über meinen Schultern schweben. Ich sah, wie der Monsieur ihm zunickte, und erst danach spürte ich, wie er seine Unterarme auf mir ablegte. Er seufzte leise vor Erleichterung, und das entschädigte mich für die Schmerzen, die sich sehr schnell in meinen Knien einnisteten. Jetzt vermisste ich das Kissen, das mir Raven normalerweise zugestand. Zum Glück war das Mahl der Herren bereits beim Nachtisch angelangt, denn sehr lange würde ich diese unbequeme Haltung auf dem harten Fußboden wohl nicht aushalten, ohne die nächste Katastrophe herbei zu führen. Aus meinen Augenwinkeln sah ich das Flackern der Kerzenflammen neben meinem Gesicht, und die Kette, die sich von Handgelenk zu Handgelenk spannte, drückte kühl in meinen Nacken.

Die beiden Herren ließen sich die Süßspeise schmecken, und immer wieder sahen sie dabei zu uns herüber. Monsieur Remarque hatte ein genüssliches Lächeln auf den Lippen, das mir eine Gänsehaut verursachte, Ravens Blick dagegen war ernst und nachdenklich. Immer, wenn ich die beiden nebeneinander sah, fiel mir auf, wie unterschiedlich sie doch waren. Der Monsieur hatte eine helle Haut, helle Haare, helle Augen. Dafür ein finsteres Gemüt und diese furchterregende Ausstrahlung. An Raven war alles anders, angefangen bei dem kurzgeschnittenen, dunkelbraunen Haar, den braunen Augen, die mich so warm anschauen konnten, und selbst seine Haut war um einige Nuancen dunkler. Raven war auch groß und stark, aber etwas kleiner, etwas schmaler als der mächtige Franzose. Und er lächelte häufiger und war nett zu den Sklaven, nicht so kühl und befehlend wie der Monsieur.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was für ein Bild wir beiden Sklaven wohl abgeben mochten. Wir mussten ähnlich kontrastreich aussehen – Toshios schwarze, glatte Haare und die schwarze Kleidung, und ich mit meinem goldgelben Haar, der hellbraunen Leinenhose und dem beigefarbenen Hemd. Wie mochte Toshios Gesichtsausdruck jetzt sein – etwas weniger angespannt? Und meiner?

Langsam gelang es mir nicht mehr, mich von der qualvollen Haltung abzulenken, aber wieder rettete mich Raven: „Wo soll er denn tanzen? Im Salon? Dann können wir den Kaffee doch dort trinken, was meinst du?“

Der Monsieur scheuchte also Florence mit dem Kaffee wieder fort, und wir zogen um in den Salon. Dabei musste mich Raven stützen, sonst wäre ich wohl bei den ersten Schritten gestürzt, so steif und taub fühlten sich meine Beine an.

„Das ist dir hoffentlich eine Lehre“, raunte er mir ins Ohr, und ich nickte reumütig.

Der Salon war ein sehr großer Raum mit einer breiten Fensterfront, die auf die Terrasse führte und normalerweise, wenn es hell war, den Blick auf den Garten freigab. Jetzt waren die Fenster dunkel. Seit wir das letzte Mal hier gewesen waren, war umgeräumt worden. Alle Möbel waren entfernt bis auf die Schrankwand, hinter deren Türen ich eine Bar und eine Musikanlage inklusive Schallplatten und CDs wusste, und einige Sessel, die neben hochbeinigen Beistelltischen an der Wand aufgereiht waren. Dort erwartete die Herren schon der duftende Kaffee, und Raven ließ sich in einen der Sessel sinken und zog mich zu sich auf den Schoß. Ich kuschelte mich an seine Brust, überließ mich der Trost spendenden Umarmung und beobachtete, wie Toshio die Handfesseln und die Halskette abgenommen wurden. Vorsichtig stellte er die Kerzen an die Seite, während sich der Monsieur zu uns setzte, und dann begab er sich in die Mitte des Raumes, wobei er mit jedem sorgsam auf den Boden gesetzten Schritt ein Stück Angst und Unbehagen abstreifte und dafür an Selbstsicherheit gewann. Atemlos beobachtete ich diese Verwandlung. Wie eine Raupe, die zum Schmetterling wird, dachte ich, und dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er anfing, seine Glieder zu lockern und in äußerst eleganten Bewegungen zu strecken. Als würde er seine Flügel ausbreiten.

Ab und an streifte sein Blick über uns, und einen Moment verharrte er auf mir. Wenn ich aber gehofft hatte, dass er mir jetzt mit etwas mehr Freundlichkeit oder mit Dankbarkeit begegnen würde, hatte ich mich getäuscht. Die Verachtung, mit der er mich betrachtete, ließ mich frösteln.

Ich war froh, als er sich in Pose stellte, seitlich zu uns, einen Arm nach oben gereckt, den anderen locker herunter hängend, den Kopf leicht geneigt und die Augen geschlossen. Bildschön sah er aus.

Monsieur Remarque sagte: „Such dir etwas aus, wozu er tanzen soll.“

Raven überlegte kurz und sagte dann: „Die Moldau. Von Smetana.“

„Oh. Okay.“ Der Monsieur wirkte überrascht und stand noch einmal auf, öffnete die Schranktür und legte eine CD ein. Dann kam er zurück und startete die Musik mit der Fernbedienung.

Und was dann kam, werde ich nie vergessen.

„Die Moldau“ kannte ich natürlich. Sehr gut sogar. Raven hatte mir früher, als ich noch klein war, eine CD geschenkt, wo das Stück drauf war mit Erklärungen für Kinder, wovon die Musik handelte. „Die Moldau ist ein Fluss. In einem Fluss fließt Wasser...“ Ich hatte sie so oft gehört, dass ich sogar den Text noch auswendig konnte.

Aber das, was Toshio daraus machte, hatte ich noch nie gesehen. Sein Körper wurde zu Wasser – er war wie ein Gefäß, das die Musik aufnahm und dann Bewegung daraus machte. Erst bewegten sich nur seine Finger zu der leisen Flötenmelodie, die das Quellwasser, das feine Plätschern des Wassers darstellte. Mit dem Einsetzen der Streicher weitete sich die Bewegung auf die Arme aus, und schließlich setzte er die Füße vorwärts, seitwärts, im Kreis, und sein ganzer Körper bog und streckte sich wie Wellen, und als die Musik an Kraft zunahm mit den Bläsern, sprang und drehte er sich, und ich war so gebannt von seiner Darstellung, das ich alles um mich herum vergaß. Ich wusste nicht, dass Menschen sich so bewegen konnten. Sein Körper sah aus, als seien keine Knochen in ihm, und er war von einer Anmut erfüllt, dass er den Boden kaum mehr zu berühren schien. Erst als die Musik endete, erkannte ich am deutlichen Heben und Senken seines Brustkorbes, wie Kraft zehrend diese Bewegungen voll scheinbarer Leichtigkeit gewesen sein mussten.

„Hat es dir gefallen?“ fragte der Monsieur.

„Großartig.“ Ich hörte an Ravens Stimme, dass er ehrlich beeindruckt war.

„Wähle noch ein Musikstück. Er kann zu allem tanzen!“

Raven probierte noch ein paar Stilrichtungen, sogar ein Heavy Metal-Lied war dabei, und Toshio zeigte uns tatsächlich zu jedem einzelnen wundervoll ausdrucksstarke und genau zu der unterschiedlichen Musik passende Darbietungen. Und obwohl ihm bald der Schweiß hinab lief vor Anstrengung, hatte sein Gesicht dabei einen friedlichen, ja fast glücklichen Ausdruck. Ich hatte den Eindruck, die Musik trug ihn weit, weit fort von uns.

Dann hörte ich meinen Namen.

Raven beugte sich an mein Ohr: „Spiel etwas!“

Ich nickte und rutschte von seinem Schoß. Meine Flöte steckte in einer eigens für sie eingenähten Innentasche meines Hemdes, so dass sie stets schon vorgewärmt und einsatzbereit war. Ich hatte mich für die Chalumeau entschieden, weil ich ihren tiefen, satten Klang so gern mochte. Ich griff das Thema der Moldau noch einmal auf – seltsam war es, dass Raven sich gerade dafür entschieden hatte. Natica aus der Muschel, der Anker, den ich an Toshios Fuß gesehen hatte, dann die Moldau als erstes Musikstück... Wasser schien ein Thema zu sein bei ihm, genau wie bei mir, und Raven hatte mich schon früh gelehrt, dass solche Wiederholungen keine Zufälle waren. Synchronizitäten nannte er das, und ich war sehr stolz, als ich mir das Wort endlich merken konnte!

Toshios Augen blitzten einmal kurz in meine Richtung, dann ließ er sich wieder vollkommen in die Musik hinein gleiten. Über Smetanas Grundmelodie ließ ich wieder ein Wasserszenario entstehen, und genoss es, wie Toshios Arme sich anmutig bewegten wie Wellen. Dann sank die Musik tiefer, auf den Grund des Flusses, auf den Grund des Meeres, hier war es dunkler, ruhiger. Ich versuchte, eine Muschel zu spielen. Tatsächlich zog sich Toshios Körper zu seiner Mitte zurück, bis er fast reglos als kleines Bündel auf dem Boden kauerte. Nur sachte noch wiegte er hin und her, wie von der Meeresströmung bewegt. Und dann stellte ich mir Natica vor, ließ ich den Dunkelelf aus der Muschel hervor kommen, und fasziniert beobachtete ich, wie Toshios schlanker Körper sich stolz aufrichtete und sich bezaubernd langsam um sich selbst drehte, selbstgenügsam, elegant, elfenhaft.

Mir wurde das unheimlich. Mir schien, als würde ich ihn lenken mit meinem Spiel, wie ein Puppenspieler, der eine Marionette an ihren Fäden hielt. Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich ein Gefühl, wie es war, Macht auszuüben. Aber ich wollte das nicht. Ich wechselte zu einem leichten, fröhlichen Tanz aus dem späten Mittelalter, von dem ich wusste, dass Monsieur Remarque ihn gerne mochte.

Fröhlichkeit konnten wir alle gut gebrauchen.
 

Der Abend dauerte nicht mehr sehr lange. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mich dem neuen Sklaven zu nähern, nach dem Tanz blieb er wie eine lebende Statue mitten im Raum stehen.

Ich war froh, dass wir bald aufbrachen. Obwohl ich ihn gern noch länger angesehen hätte. Aber ich hoffte, der Monsieur würde ihn jetzt ausruhen lassen nach seiner beeindruckenden und bestimmt sehr anstrengenden Vorführung.

Die Rückfahrt verlief schweigend. Ich spürte, dass Raven noch immer wütend war und fühlte mich unbehaglich. Solange wir beim Monsieur gewesen waren, hatte er mich das nicht mehr so spüren lassen, aber kaum waren wir zu Hause, ging es auch schon los.

„Was, zum Teufel, hast du dir dabei eigentlich gedacht?“ Sein scharfer Ton trieb mir sofort die Tränen in die Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er mich schon einmal so heftig ausgeschimpft hatte. „Hast du komplett den Verstand verloren?? Dafür hättest du dir wirklich mal eine harte Strafe verdient!“

„Bitte nicht...“ Meine Beine gaben wie von selbst unter mir nach, und schon kniete ich vor ihm auf dem Boden. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich konnte es nicht ertragen, wenn er so böse auf mich war. Meine Unterlippe bebte. „Es tut mir so leid! Ich wollte das Wachs nicht verschütten, ehrlich!“

Einen langen Augenblick schwieg Raven. Ich wagte nicht, den Blick zu heben.

„Laurin, steh wieder auf. Du weißt, ich mag das nicht.“ Seine Stimme klang jetzt nicht mehr zornig. Das war wieder mein Raven. Zögernd stand ich auf. Ich fühlte seine warme Hand an meinem Kinn, wie er mein Gesicht anhob. Er strich mir die Tränen von den Wangen. Er sah sehr ernst aus.

„Um das Wachs geht es mir gar nicht. Laurin, hör mir zu: Du darfst nie wieder, hörst du, nie, nie wieder darfst du dich so in Gefahr bringen. Niemals darfst du Monsieur Remarque darum bitten, dich zu bestrafen! Hast du mich verstanden?“

„Ja. Ich wollte dich nicht verärgern.“

„Ich weiß. Du hast mich nicht verärgert. Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt! Ich hatte Angst um dich.“

„Ich wollte Toshio helfen.“

„Ja. Ich weiß.“ Raven seufzte leise und zog mich an sich. Nur zu gern schmiegte ich mich gegen ihn. Ich war ganz schön gewachsen in den letzten Monaten und reichte ihm schon bis an die Brust. Ich drückte mein Ohr gegen den weichen Stoff seines Hemdes und lauschte dem gleichmäßigen, dumpfen Klopfen seines Herzens.

„Er ist so schön“, sagte ich, als würde das alles erklären. „Wo kommt er her? Hat der Monsieur ihn...“ Mir stockte fast der Atem bei dem Gedanken, der mir gerade kam. „...aus der Anderswelt?“

„Wie kommst du denn darauf?“ Ich konnte in seiner Stimme hören, wie Raven die Augenbrauen zusammenzog.

„Weil... weil ich ihn dort schon gesehen habe. Er ist Natica. Der Elf aus der Muschel. Erinnerst du dich nicht?“

„Natica?“ Er schien sich wirklich nicht zu erinnern. „Das ist Unsinn, Laurin. Toshio kommt aus Japan, das ist zwar am anderen Ende der Welt, aber durchaus noch in der realen Wirklichkeit. Ich kann es dir auf der Landkarte zeigen. Dort sehen alle Menschen so ähnlich aus wie er.“ Er seufzte erneut. „In Geographie habe ich gründlich versagt, scheint mir.“

„Japan...“, wiederholte ich und versuchte mir ein Land vorzustellen, in dem alle Menschen wie Elfen aussahen. „Ist das im Meer?“

Raven lachte leise und schüttelte den Kopf. Er schüttelte öfters über mich den Kopf. Ich kann ziemlich dumme Fragen stellen, fürchte ich. „Am Meer. Aber nicht im Meer. Kein Mensch lebt im Meer. Du kennst dich in der Anderswelt bald besser aus als hier auf der Erde. Das ist meine Schuld. Ich werde dir ein paar Bücher über Asien besorgen, wenn du magst.“

„Au ja!“ Begeistert nickte ich. Ich wollte alles über Toshio erfahren.

„Aber jetzt gehst du schlafen. Ich muss noch arbeiten.“ Sanft schob er mich von sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Bevor ich ins Bett ging, wühlte ich allerdings noch in meinem Zimmer nach meinen alten Lichtbüchern. Sie waren eine Art Tagebuch; jeder, der schamanisch oder in irgendeiner Art magisch arbeitete, sollte so ein „Buch der Schatten“ führen, das hatte Raven mir von Anfang an beigebracht, obwohl ich da noch gar nicht schreiben konnte. „Buch der Schatten“ gefiel mir aber überhaupt nicht, darum waren das für mich eben die „Lichtbücher“. Ich nahm die beiden ältesten mit in unser Schlafzimmer.

Eigentlich war das Ravens Schlafzimmer, und ich hatte ein eigenes Bett in meinem Zimmer. Aber früher hatte ich jede Nacht schreckliche Alpträume, und darum durfte ich bei Raven schlafen. Irgendwann, als ich älter wurde, wollte er das nicht mehr, aber ich schlief einfach schlecht allein in meinem Zimmer. Die Alpträume kamen wieder, und so kroch ich doch fast jede Nacht zu ihm unter die Decke. Schließlich gab er auf, und es war wieder alles beim Alten. Das ersparte mir das nächtliche Aufstehen, und durchschlafen konnte ich seitdem auch wieder.

Ich fand das erste Bild von Natica sofort, ziemlich am Anfang meiner Aufzeichnungen. Obwohl die allerersten Seiten nur irgendwelche undefinierbaren Formen und Farben zeigten, konnte ich mich erinnern, dass Raven mich mit einer Leichtigkeit in die geistigen Welten geführt hatte, wie andere Kinder mit ihren Vätern zum Spielplatz gingen. Und Natica war nach meinem Krafttierbegleiter mein erster Freund dort gewesen. Wenn ich jetzt darüber nachsann, hatte unser Kontakt in dem Maße abgenommen wie meine Alpträume besser wurden. Ich hatte ihn nicht einmal groß vermisst. Unsere gemeinsame Zeit war einfach zu Ende gegangen. Ich hatte seine Existenz fast vergessen, bis ich heute wieder an ihn erinnert wurde.

Ich starrte auf die kindliche Zeichnung von ihm. Die Muschel neben ihm war hausgroß. Er war kaum mehr als ein besseres Strichmännchen (ich konnte noch nie besonders gut malen), aber dennoch fand ich die Ähnlichkeit mit Toshio schon wieder verblüffend: die schmalen Augen, das glatte, schwarze Haar, der schlanke Körper, selbst der etwas finstere Gesichtsausdruck (schließlich war er ein Dunkelelf, und es war unsere erste Begegnung). Auf den späteren Bildern blickte er etwas freundlicher. Aber woran ich mich noch deutlich erinnerte, war die Anmut seiner Bewegungen – und wie grobschlächtig und tollpatschig ich mich neben ihm immer gefühlt hatte – er schwebte dahin, und ich trampelte nebenher. Selbst dieses Gefühl war identisch! Ich dachte daran, wie ungeschickt ich nach Toshios Hand gegriffen hatte, so dass er das Wachs verschüttete.

Ich schloss die Augen und stellte mir Toshio vor. Seinen ganzen Tanz ließ ich noch einmal Revue passieren, die Eleganz seiner Erscheinung. Als Raven kam, war ich noch wach. Stolz zeigte ich ihm ein Bild von Natica, wo die Ähnlichkeit besonders groß war, eins von den besseren, älteren Bildern.

„Siehst du? Er sieht genauso aus!“

Ein zweifelndes „Naja“ war alles, was Raven dazu meinte, nachdem er meine Kinderzeichnung aufmerksam gemustert hatte. Ich konnte nicht verstehen, dass er das Offensichtliche nicht erkennen konnte.

„Aber... der Anker und die Moldau!“ holte ich meine anderen Trümpfe hervor. „Er hat eine Verbindung zum Element Wasser, genau wie ich! Das hat bestimmt etwas zu bedeuten.“

Immerhin hatte ich jetzt Ravens volle Aufmerksamkeit, auch wenn er mich mit diesem stirngerunzelten Blick ansah, den er immer dann bekam, wenn er zu unterscheiden versuchte, ob ich nur wieder herumspann oder ob ich recht hatte.

„Was für ein Anker?“ fragte er.

„Ich habe an seinem Fuß einen Anker gesehen – an einer Kette.“

„Das muss nichts mit dir zu tun haben.“ Muss nicht. Aber könnte. „Es ist schon nach zwölf, du solltest längst schlafen. Hast du schon Zähne geputzt?“

Resigniert schüttelte ich den Kopf. Damit war das Thema Toshio wohl fürs erste beendet, und ich tappte ins Bad, um das Versäumte nachzuholen.
 

Am nächsten Morgen wachte ich auf, als Raven die Haustür hinter sich zuzog. Er ging immer in aller Frühe eine Runde joggen. Gewöhnlich blieb ich noch liegen und schlief wieder ein, bis er zurück war und mich wecken kam. Oder ich blieb wach im Bett liegen, denn ich mochte es, wie er sich über mich beugte, mir über den Kopf strich, mir einen Kuss auf die Stirn hauchte und leise sagte: „Es ist Zeit, aufzustehen, mein Kleiner.“ Dann war der Frühstückstisch schon gedeckt.

Doch heute hielt mich nichts im Bett, ich war noch viel zu aufgewühlt von dem gestrigen Abend, denn sobald ich wach war, waren meine Gedanken schon wieder bei dem ungewöhnlichen Fremden aus dem fernen Japan.

Ich füllte die Kaffeemaschine für Raven und kochte Wasser für meinen Kamillentee. Ich stellte Teller und Tassen an unsere Plätze und leerte fast den kompletten Inhalt des Kühlschranks auf den Esstisch. Ich liebte die gluckernden Geräusche der Kaffeemaschine und wenn der erste Kaffeeduft mir in die Nase stieg, auch wenn ich das bittere Getränk selbst nicht mochte. Aber das Aroma war unwiederbringlich mit Ravens Person verknüpft. Für Raven schien es eine Art Lebenselixier zu sein. Einen Moment stand ich ganz reglos barfuß im Schlafanzug auf den kühlen Kacheln und lauschte auf das Zischen und Fauchen, mit dem die Maschine die letzten Reste des heißen Wassers in den Filter spie. Das ließ mich immer an Drachen denken. Als Kind stellte ich mir vor, wie ein kleiner Feuerdrache in der Kaffeemaschine saß und das Wasser zum Kochen brachte. Inzwischen wusste ich natürlich, dass es nicht so war, aber ich hörte ihr trotzdem immer noch gerne zu (das war auch so eine meiner Eigenarten, über die Raven den Kopf schütteln konnte).

Als er nach Hause kam, mit frischen Brötchen in der Hand und dem Geruch nach Wind im Haar, war er überrascht und erfreut, dass ich schon auf und der Kaffee schon fertig war. Er hatte wohl damit gerechnet, dass er mich nach der kurzen Nacht schlecht wach kriegen würde! Er ging duschen, und ich konnte es kaum erwarten, bis er endlich neben mir am Küchentisch saß.

„Wann sind wir wieder beim Monsieur?“ platzte es sofort aus mir heraus. Ich konnte richtig sehen, wie sich seine gute Laune bei dieser Frage verflüchtigte.

„Der Japaner lässt dir keine Ruhe, was?“

„Er hat so schön getanzt... Hat es dir nicht gefallen?“

„Doch. Das war großartig. Ich hatte nicht gedacht, dass er so gut tanzen würde.“

„Hat der Monsieur ihn deswegen gekauft?“

„Bestimmt auch deswegen. Aber er hat ihn nicht gekauft. Er hat ihn... sich genommen.“

„Oh“, machte ich. Das erklärte immerhin den Hass, den ich an ihm gesehen hatte. Ich konnte mir gar nicht richtig vorstellen, wie es wohl sein mochte, frei zu sein. Und schon gar nicht, frei zu sein und dann gefangen zu werden. Aber es musste schlimm sein. Manchmal kamen neue Sklaven ins Labor, um die Gene aufzubessern, und nicht alle waren schon vorher unfrei gewesen. Und die hatten alle Probleme, sich einzugewöhnen.

Ich war selbst irgendwann frei gewesen. Aber an die Zeit konnte ich mich so gut wie gar nicht erinnern. Und ich hatte Glück gehabt, dass ich bei Raven bleiben durfte.

Die anderen hatten nicht so viel Glück.

„Er ist etwas Besonderes“, stellte ich nach einem kurzen Schweigen fest. „Und ich glaube, er hat eine Verbindung zu mir.“

„Vielleicht“, sagte Raven unbestimmt und fügte dann umso bestimmter hinzu: „Aber er ist Monsieur Remarques Lu... Haussklave, vergiss das nicht. Wir können nichts für ihn tun.“

Fast hätte er sich verplappert, aber ich wusste, was er sagen wollte. Auch wenn Raven das Wort noch nie benutzt hatte, ich war nicht blöd, und ich bekam so einiges mit, was die Sklaven sich erzählten.

„Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Haussklaven und einem Lustsklaven?“ nutzte ich die Gelegenheit, um zu fragen, was mich schon länger interessierte. Die Laborsklaven und die aus der Zucht redeten zwar viel, aber ich hatte schon manchmal mitbekommen, dass sie oft auch nicht mehr wussten als ich. Raven war ein zuverlässigerer Auskunftgeber.

Er verschluckte sich an seinem Brötchen und hustete und wurde ganz rot im Gesicht.

„Naja... wie der Name schon sagt... Die Haussklaven sind für die Hausarbeit, und die... die anderen für die Bedürfnisse des Hausherren. Sie dienen einzig seinem Vergnügen. Zum Beispiel durch Tanzen.“

„Aber die anderen vor Toshio konnten nicht tanzen.“ Ich ließ nicht locker. Ich war jung und naiv. Aber nicht dumm.

Raven seufzte. Ich merkte ihm an, dass das zu den Themen gehörte, über die er mit mir nicht sprechen wollte. Davon gab es einige. Deswegen war ich erleichtert, als er weiter sprach. „Es gibt viele Arten, seinem Herrn Vergnügen zu bereiten. Meist teilen sie das Bett mit ihm.“

„So wie wir?“

Auf einmal wurden Ravens Augen ganz traurig, was nicht so oft passierte, und er legte eine Hand auf meine Wange. „Nein, Laurin. Nicht so wie wir. Und das ist auch kein Thema fürs Frühstück.“

Er schwieg, und ich fragte nicht weiter. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, wann er nichts mehr sagen würde.

Und vielleicht wollte ich es auch gar nicht so genau wissen.
 

Die Wochen gingen dahin, und ich fieberte ganz im Gegensatz zu früher jeder Einladung des Monsieurs entgegen. Gleichzeitig verschlang ich in jeder freien Minute die Bücher über Japan, die Raven mir wie versprochen besorgt hatte.

Am meisten beeindruckten mich die heißen Quellen und der Shintoismus. Und natürlich die zahlreichen bunten Bilder von Drachen! Gute Drachen, die den Menschen Glück verhießen, nicht solche feuerspeienden Scheusale wie hier in Europa. Sogar Wasserdrachen gab es! Ein besonders schönes Bild von einem schnitt ich sorgfältig aus dem Buch und legte es auf meinen Krafttieraltar. Er sah Pan sogar ein wenig ähnlich, fand ich. Ich wunderte mich, dass Raven mir Japan nicht früher gezeigt hatte, er wusste doch, wer mein Krafttierfreund war. Aber vielleicht war ihm nicht bewusst gewesen, dass Drachensymbolik in der japanischen Kultur so eine große Rolle spielte. Vielleicht tat sie das auch gar nicht, und mir kam es nur so vor. Vielleicht waren in den Büchern, die er mitbrachte, besonders viele Drachenbilder, weil die Bücher für mich waren. Oder ich sah Drachen, wo andere keine sahen.

Immerhin war ich ja auch der einzige, der die doch so offensichtliche Verbindung zwischen Toshio und mir erkannte. Selbst Toshio selbst merkte anscheinend nichts davon. Unsere Freundschaft blieb einseitig. Ein typisches Gespräch zwischen uns sah so ungefähr so aus:

Ich: „Hallo, schön, dich wiederzusehen.“

Er: „...“

Ich: „Dein Tanz letztes Mal war toll. Wo hast du das gelernt?“

Er: „Halt endlich die Klappe!“

Oder:

Ich: „Hallo Toshio, ich habe ein Buch über deine Heimat gelesen. Warst du schon mal in einer heißen Quelle?“

Er: „Lass mich in Ruhe!“

Aber immerhin ließ er sich von mir helfen, wenn er wieder Kerzen, Weingläser oder sonstiges halten musste. Da wurden wir ein richtig gutes Team, fand ich. Genau wie bei der Musik. Nur dann, wenn er nach meiner Flötenmusik tanzen durfte, wurde sein Gesichtsausdruck sanfter. Ansonsten behielt er seine Feindseligkeit mir gegenüber bei.

Raven erklärte es mir schließlich, nachdem ich eines Abends unglücklich von meinen misslungenen Kontaktversuchen berichtete. Er vermutete, dass Toshio nicht mit mir reden durfte. Für Lustsklaven galten manchmal besondere Regeln. Ich fand das zwar unlogisch, aber es passte zu Monsieur Remarque, dass es ihm Vergnügen bereiten konnte, solche gemeinen Regeln aufzustellen. Da ich keinesfalls wollte, dass Toshio wegen mir bestraft wurde, sprach ich also nicht mehr mit ihm. Ich beschränkte mich von nun an darauf, mein freundliches Lächeln durch einen verächtlichen Blick erwidern zu lassen.

Ich versuchte, in der Anderswelt unterstützend für Toshio zu wirken und sprach Pan, meinen Krafttierfreund, darauf an. Mehrmals. Falls man Drachen auf die Nerven gehen konnte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Aber ich bekam immer wieder dieselbe, unverständliche Antwort: Ich sollte Geduld haben. Es sei noch nicht die rechte Zeit dafür. Im Übrigen sei schon für ihn gesorgt.

Das war nicht das, was ich hören wollte. Aber ich erinnerte mich an die merkwürdige Tiergestalt, die ich am ersten Tag neben Toshio gesehen hatte, und gab mich wohl oder übel damit zufrieden.
 

Und dann kam jener Abend, der die Wende bringen sollte.

Es begann an dem Tag davor, als Raven verkündete, er sei abends mit dem Monsieur verabredet.

„Nein, nein“, beeilte er sich hinzuzufügen, als er meine Miene aufhellen sah. „Wir gehen außer Haus. Du bleibst hier.“

Er zog sich festlich an, einen seiner guten Anzüge, ganz in schwarz. Gleichzeitig packte er seine Arzttasche, ein großes, beuliges schwarzes Ding. Ich brannte vor Neugierde, was sie vorhatten. Es musste etwas mit Sklaven zu tun haben, denn wenn sie sich nur so vergnügen gingen, nahm Raven seine Arztsachen nicht mit. Und wenn es was Dienstliches wäre, würde er sich anders kleiden.

„Nehmt ihr Toshio mit?“ wagte ich schließlich schüchtern zu fragen, während ich Raven beobachtete, wie er in seinen Jackentaschen nach dem Autoschlüssel suchte.

Er hielt in der Bewegung inne und lachte leise. „Kannst du auch noch an was anderes denken? Ja, wir nehmen deinen Toshio mit – und nein, keine Sorge, er wird bestimmt nicht verkauft werden. Es ist nur eine Party, keine Auktion. Monsieur Remarque möchte nur ein wenig mit ihm angeben vor den anderen Meistern.“

„Nimmst du mich auch mit? Bitte?“ flehte ich. Ich wollte zu gern auch einmal auf so einer Sklaven-Party dabei sein und andere Meister mit ihren Sklaven ansehen . Und dann auch noch mit Toshio... Ich wollte einfach dabei sein! Ich wollte sehen, wie der Monsieur mit ihm angab! Allen Grund dazu hatte er schließlich. Toshio war ein ganz besonderer Sklave. Hoffentlich ließ der Monsieur sich nicht doch überreden, ihn zu verkaufen!

Aber Raven bekam wieder diesen super ernsten Gesichtsausdruck. „Nein, Laurin. Dorthin nehme ich dich ganz gewiss nicht mit.“

Er sagte das mit solchem Nachdruck, dass ich nicht weiter bettelte. Und ihn nicht weiter suchen ließ. „Der Autoschlüssel liegt übrigens in der Küche auf dem Kühlschrank.“

„Oh, okay. Danke.“ Er wuschelte mir durch das Haar, drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich schloss kurz die Augen, um diesen Moment der Nähe, die warmen Berührungen auszukosten. „Warte nicht auf mich, ja? Es wird spät werden.“

Früh meinte er wohl. Diese Partys pflegten bis in den Morgen hinein zu dauern.

Am nächsten Tag war Wochenende, und Raven konnte sich leisten, erst mittags aufzustehen. Ich blieb einfach neben ihm liegen, eng an ihn gekuschelt. Ich hatte lange gelesen und unruhig geschlafen, aber auch sonst hätte ich keinerlei Probleme damit, zwölf Stunden am Stück zu schlafen. Ich bewunderte Raven dafür, dass er mit so wenig Schlaf auskommen konnte.

Am frühen Abend rief dann der Monsieur an. Ich spitzte die Ohren, als ich Raven sagen hörte: „Ah, bonsoir, Pascal, was kann ich für dich tun?“ Leider konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, ich konnte nur Raven beobachten, dessen Miene sich verfinsterte.

„Ich habe dir gleich gesagt, das ist zu viel für das erste Mal“, sagte er, mit leichtem Ärger in der Stimme. Ich kannte keinen, der es wagte, so mit dem Monsieur zu sprechen. Außer Raven. Ich war dann immer besonders stolz auf ihn. „Ich bin gleich da.“

Er legte auf. Ich musste gar nichts sagen. „Du kommst mit“, wandte er sich an mich.

Mehr sagte er nicht. Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und nickte nur stumm. Ich wusste sofort, dass etwas mit Toshio nicht in Ordnung war. Beklommen beobachtete ich, wie er ein paar Fläschchen in seine Arzttasche packte, aber ich achtete nicht darauf, was er da mitnehmen wollte.

Was hatte der Monsieur mit Toshio gemacht? Warum durfte ich nie mit auf diese Partys? Und warum erzählte Raven auch nie etwas über diese Nächte? Warum nahm er immer seine schwarze Tasche mit dorthin? Und warum hatte ich das Gefühl, dass er nie wirklich gern hinging, obwohl er doch sonst Monsieur Remarques Gesellschaft stets zu genießen schien.
 

Die Begrüßungsküsschen fielen dieses Mal etwas unterkühlt aus.

„Wo ist er?“ fragte Raven sofort.

„Oben. In meinem Zimmer. Ich weiß nicht genau, was mit ihm ist. Er hat plötzlich hohes Fieber bekommen.“

War da ein Hauch Besorgnis in der Stimme des Monsieur? Ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Wie immer in diesem Haus hielt ich mich dicht bei Raven. Wie ein Schatten folgte ich ihm die breite Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Hier war ich noch nie gewesen. Aber soweit ich sehen konnte, war es mit den gleichen antiken, dunklen Möbeln eingerichtet wie der Rest der weitläufigen Villa. Unglaublich, dass hier nur ein einziger Mann lebte. Ich dachte an Ravens kleines Haus, das modern und hell eingerichtet war. Um nichts hätte ich tauschen wollen.

Wir betraten den Raum, in dem nur eine kleine Nachttischlampe leuchtete – das Schlafzimmer des Monsieur! Mir stockte fast der Atem, als würden wir ein Heiligtum betreten. Das Heiligtum des Hauses...

Meist teilen sie das Bett mit ihm, kamen mir Ravens Worte wieder in den Sinn. Und das Bett war riesig! Das könnten drei Sklaven mit ihm teilen! Vor dem Bett stand ein großer Hundekorb aus Weidenzweigen, in dem ein dickes, schwarzes Halsband lag, welches mit einer Kette am Bettpfosten befestigt war. Das war wohl Toshios Platz.

Jetzt aber lag er im Bett seines Herrn.

Ich fühlte den weichen, flauschigen Teppich unter meinen Füßen und blieb an der Tür stehen, während Raven sofort auf das Bett zuging und sich vorsichtig an der Seite neben die flache Wölbung unter der Bettdecke setzte. Von Toshio war nur ein schwarzes Haarbüschel zu sehen, aber ich spürte augenblicklich, dass es ihm sehr schlecht ging, noch bevor Raven langsam die Decke zur Seite schob und den Blick auf das schöne Elfengesicht freigab. Er war sehr blass, nur seine Wangen waren fiebrig gerötet. Mit einem kläglichen Wimmern hob er abwehrend die Hände, und ich hörte eine Kette klirren. Sie führte vom Kopfende des Bettes zu Toshios Hals.

„Schhh, es ist gut, Toshio, ich bin's nur, ich tue dir nichts, hab keine Angst, ganz ruhig.“ Ravens beruhigender Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht; Toshio ließ zu, dass er eine Hand auf seine Stirn legen konnte. Ich wusste, wie gut sich diese simple Geste anfühlte, wenn man krank war, auch wenn Raven damit wahrscheinlich nur seine Temperatur abschätzte. Aber ich konnte deutlich erkennen, wie sich Toshios Körper entspannte, und er die Augen wieder schloss.

„Hast du Schmerzen?“

Toshios Antwort war so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte, aber Raven nickte.

„Ich fühle jetzt deinen Puls“, kündigte er seine nächste Handlung an und griff nach Toshios Handgelenken. Ich starrte auf die roten, bandförmigen Male an seinen Unterarmen, die auf eine zu straffe Fesselung hindeuteten. Oder auf ein zu heftiges Zerren an den Fesseln. Was war mit ihm geschehen in dieser Nacht? Warum erzählte mir Raven nie Details von diesen Partys?

Sachte legte er die Arme wieder ab. „Mach deinen Mund auf, sag 'ah' – so ist brav.“ Gehorsam befolgte Toshio die Anweisungen. „Jetzt höre ich dich noch ab, nicht erschrecken, das fühlt sich kalt an.“ Raven zog die Decke noch ein wenig zur Seite, legte das Stethoskop an verschiedene Stellen und hieß Toshio, tief ein und aus zu atmen. Dann hielt er ihm das Fieberthermometer ans Ohr. Danach griff er nochmal in seine Tasche und zog eine Spritze auf. „Du bekommst eine Spritze. Ein kleiner Pieks nur, dann geht es dir gleich besser, halt schön still, ja, so ist brav.“

Toshio zuckte nicht mal mit der Wimper. Dabei kannte ich Sklaven, die bei jeder Injektion jedes Mal so ausflippten, dass zwei Männer sie halten mussten. Aber im Labor war das sicherlich auch etwas anderes als hier. Und außerdem konnte Raven auch wirklich gut spritzen, da merkte man kaum was. Er deckte ihn wieder zu, strich ihm noch einmal über das Haar, dann stellte er sich zu dem Monsieur und sprach mit gedämpfter Stimme. Ich weiß nicht, ob er sich darüber bewusst war, dass ich mithören konnte, da ich ja noch neben der Zimmertür stand. Toshio jedenfalls bekam bestimmt nichts von dem Gespräch mit.

„Das Fieber müsste gleich runter gehen. Und nimm ihm bitte das Halsband ab, das ist im Moment Gift für ihn.“

„Er muss sich erkältet haben heute Nacht“, sagte der Monsieur, ohne richtig die Augen von seinem kranken Sklaven zu nehmen. Jetzt war ich aber sicher, dass das Sorge in seinem Gesicht war. Das war eine Seite an ihm, die ich noch nicht kannte.

Raven schüttelte kaum merklich den Kopf. „Das ist nicht das Problem. Ich habe dir gleich gesagt, das war zu viel gestern. Seine Seele hat Schaden genommen. Es wird nicht reichen, ihm ein fiebersenkendes Mittel zu spritzen.“

Jetzt blickte der Monsieur doch zu Raven, eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen. So ähnlich sah Raven aus, wenn er versuchte zu entscheiden, ob ich gerade wieder zu viel Phantasie hatte oder ob ich nur von etwas sprach, womit er sich nicht so gut auskannte.

„Was soll das, Ben?“ Auch der Monsieur sprach jetzt leise. „Meinst du, mir ist nicht klar, dass seine 'Seele Schaden nimmt' bei dem, was ich mit ihm mache?“

Raven erwiderte furchtlos seinen Blick und zuckte nur mit den Schultern. „Die Frage ist, wie lange du noch deinen Spaß mit ihm haben willst.“

Der Monsieur musterte Raven, und seine Augen verschmälerten sich gefährlich. Aber dann war der Moment vorbei, und er seufzte unhörbar. „Also gut. Was schlägst du vor?“

„Nimm ihm vorerst die Fesseln ab. Er kann doch sowieso nicht fort. Und ich möchte, dass Laurin noch ein wenig mit ihm arbeitet – der Kleine hat gute Fortschritte gemacht. Erlaube ihm, sich mit Laurin zu unterhalten. Nicht nur sein Körper braucht Regeneration.“

„Na schön, wenn du meinst.“

Ich war froh, dass er so schnell nachgab und nicht wütend auf Raven wurde. Während er Toshio das Halsband abnahm, beugte sich Raven zu mir. „Ist das okay für dich?“

Ich nickte zögernd. „Ja... schon. Aber ich weiß nicht...“

„Pst“, unterbrach er mich. „Lass dich von deiner Intuition leiten, wie wir das geübt haben. Du kannst nichts falsch machen. Ich bleibe in der Nähe. Wenn was ist, ruf mich.“

„Ja.“

Ich wartete, bis beide Herren das Zimmer verlassen hatten, dann erst näherte ich mich langsam dem Bett. Es war so still, dass ich mein Herz klopfen hörte – neben unseren leisen Atemzügen war das das einzige Geräusch im Raum. Ich konnte nichts falsch machen? Das fühlte sich aber ganz anders an! Wenn ich an meine bisherigen Annäherungsversuche zurück dachte, konnte ich eine ganze Menge falsch machen! Ich hatte keine Ahnung, wie ich es richtig machen sollte. Und was überhaupt?

Mit ihm reden – gut. Aber selbst das war in der Vergangenheit mehrfach schief gegangen.

„Hallo, ich...“, quietschte ich los und brach gleich wieder ab, um mich zu räuspern. „Ich bin's, Laurin“, beendete ich schließlich ziemlich lahm meinen Satz und kniete mich neben das Bett auf den weichen Teppich. Was für ein dämlicher Anfang!

Toshio hob nicht einmal richtig die Lider und warf mir nur durch die Wimpern einen kurzen Blick zu. „Du schon wieder“, sagte er müde.

Das klang nicht sehr freundlich. Eher so, wie man einen Pickel begrüßen würde, den man doch gestern erst ausgedrückt hatte, und der heute schon wieder prall gefüllt im Gesicht blühte.

„Ja“, machte ich hilflos. „Der Monsieur hat erlaubt, dass wir uns unterhalten.“

„Der 'Monsieur'...“, wiederholte er tonlos.

Dann entstand eine Pause, in der ich fieberhaft überlegte, was ich als nächstes sagen sollte. Aber mir fiel absolut nichts ein! Schließlich brach Toshio als erster das Schweigen: „Ich möchte mich aber nicht mit dir unterhalten.“

„Oh... gut.“ Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, was mir nicht gut gelang. Er ist krank, sagte ich mir, aber ich wusste natürlich, dass seine Ablehnung andere Gründe hatte, auch wenn ich nicht wusste, welche. In all der Zeit hatte er nicht einen einzigen freundlichen Blick für mich gehabt. „Du musst nichts sagen, das ist schon in Ordnung“, beeilte ich mich zu versichern, obwohl ich es schade fand, keinen Zugang zu ihm zu finden – noch nicht einmal, wenn es ihm so schlecht ging. Meiner Sympathie ihm gegenüber machte sein abweisendes Verhalten wie immer gar nichts aus. „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich hier bei dir bleibe? Ich bin auch ganz still.“

„Wenn's dich glücklich macht“, murmelte er undeutlich.

Lieber wäre es mir, wenn es dich glücklich machen würde, dachte ich, aber ich sprach es nicht aus. Besser nicht. Lieber überlegte ich, was ich für ihn tun könnte.

'Lass dich von deiner Intuition leiten', hatte Raven mich angewiesen. Das hörte sich gut an, aber ich hatte keine Idee. Reden wollte er nicht, ihn anzufassen wagte ich nicht – was blieb da noch übrig? Also schloss ich einfach die Augen und wartete auf Intuition.

Stattdessen kam Pan.

Ich sah ihn nicht, aber ich konnte seine Gegenwart spüren wie so oft. Ich brauchte schon lange kein schamanisches Trommelritual mehr, um Andersweltkontakt zu haben.

„Was kann ich nur tun?“ fragte ich stumm.

Genauso stumm antwortete Pan, und ich folgte ihm. Mit Leichtigkeit überschritt ich die Schwelle, jetzt sah ich den hübschen Drachen klar vor meinem inneren Auge, seine langgestreckte, blau schimmernde Gestalt, und wie immer, wenn Pan bei mir war, fühlte ich mich stark und voller Selbstvertrauen, nicht so klein und schwach und tolpatschig wie in der alltäglichen Wirklichkeit. Wenn das ginge, würde ich auf der Stelle umziehen! Aber sowohl Pan als auch Raven sagten immer wieder, dass das nicht möglich war.

Und tatsächlich blieb auch immer ein Teil meines Bewusstseins in der Wirklichkeit zurück, keinen Augenblick verlor ich den Kontakt zu meinem Körper und war mir in jeder Sekunde, in der die Anderswelt vor meinem geistigen Auge Gestalt annahm, bewusst, dass ich vor Toshios Bett kniete. Ich spürte den Druck in meinen Knien, hörte seine ruhigen Atemzüge, das Rascheln des Bettbezuges, als er ein wenig die Lage veränderte und sein leises Stöhnen dabei. Nur das Zeitgefühl ging mir jedes Mal währenddessen komplett verloren.

Mein Drache führte mich an eine düstere Lichtung inmitten eines toten Waldes. Die dunklen, abgestorbenen Bäume umstanden uns drohend. In der Mitte der Lichtung war eine Art Geröllhaufen, auf dem eine bleiche, nackte Gestalt zusammengekauert lag. Toshio!

Doch genau wie im wirklichen Leben konnte ich nicht zu ihm gelangen, denn rings um das Gestein war ein breiter, mit schwarzem Wasser gefüllter Graben. Da herum tänzelte ein majestätischer Hirsch mit einem beeindruckenden Geweih auf dem zierlichen Kopf. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, schemenhaft neben Toshio am ersten Abend, als er die Kerzen halten musste. Ich verstand, dass es sein Krafttier oder Totem sein musste. Höflich trat ich an ihn heran, und seine weiche Nase schnaubte in meine Handfläche. Sein Atem roch nach frisch gemähtem Gras. Ich bewunderte seine kraftvolle und gleichzeitig Anmutige Erscheinung. Seine Augen blickten unglaublich sanft. Er war genau richtig für Toshio.

Mir war sogleich klar, wo das Problem lag – der Hirsch konnte den Graben nicht überwinden. Und natürlich würde ich ihm behilflich sein. Ich blickte mich auf der Suche nach einer Lösung um, und dann begann ich Stöcke und Reisig vom Waldboden aufzulesen, alles was ich finden konnte. Ich legte das Holz auf die dunkle Wasseroberfläche und baute auf die Art eine schwimmende Brücke. Es war mühsam und langwierig, schließlich musste sie stabil genug sein, um den Hirsch zu tragen. Ich fühlte mich erschöpft, als ich endlich fertig war und der Hirsch über den Damm balancierte und sich endlich Toshio nähern konnte. Er senkte den Kopf und beschnupperte den leblosen Körper. Dann sah er wieder auf und zu mir herüber. „Er hat den Anker verloren.“ Er hatte eine angenehm weiche, tiefe Stimme.

Ich erinnerte mich – der war an der Kette gewesen, die ich an Toshios Fuß gesehen hatte. Ich nickte. Und dann bat ich Pan, mir zu helfen. Alleine hätte ich das nicht mehr geschafft. Es war nicht so, dass diese Reisen körperlich anstrengend waren, aber es war geistig ermüdend, denn ich brauchte meine volle Konzentration, um nicht mit den Gedanken abzudriften oder in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Pan führte mich zu einem klaren Gebirgssee und tauchte mit mir unter die Oberfläche. Selbst unter Wasser war die Gegend schön, aber ich hatte keine Muße, mich in Ruhe umzusehen. Eine gefühlte Ewigkeit suchten wir den Grund ab, bis ich zwischen Schlamm und Schlingpflanzen endlich fündig wurde. Der Anker war schwer, und Pan nahm ihn mir ab, indem er die Kette zwischen seine spitzen Zähne nahm und den Anker mit allen vier Klauen packte. Zum Glück herrschen in der Anderswelt andere physikalische Gesetze, sodass er einfach zurück fliegen konnte. Und ich auch.

Ich war wirklich müde, als ich schließlich die Kette um Toshios schmale Fessel legte, und ich verabschiedete mich nicht einmal richtig von den Krafttieren, denn fast augenblicklich verschwand das Szenario, und ich fand mich in Monsieur Remarques Schlafzimmer wieder. Ich lehnte den Kopf gegen die Matratze und hätte mich am liebsten auf dem flauschigen Teppich zusammengerollt. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Es konnten Minuten, es konnten genauso gut Stunden sein. Ich glaube, ich bin dann eingeschlafen, denn ich schrak hoch, als Toshio plötzlich sagte: „Du bist ja immer noch hier.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht sehr viel Wert auf meine Anwesenheit legte.

„Ja... ich... ehm. Geht es dir besser?“

„Was kümmert's dich?“ knurrte er.

Es ging ihm besser, eindeutig. Er sah auch nicht mehr so fiebrig aus. Er hatte sich auf die Seite gedreht, und seine dunklen, schmalen Augen fixierten mich.

„Es kümmert mich eben. Ich mag dich.“

„Aber ich mag dich nicht.“

So deutlich musste er es ja nun auch nicht unbedingt sagen, fand ich. Mit Toshio zu sprechen war so angenehm wie eine kalte Dusche. Ich war müde, und mir fiel keine Antwort darauf ein. Also schwieg ich.

Er redete trotzdem weiter: „Du bist doch nur hier, weil dein 'Herr' es dir befohlen hat.“ So wie er „Herr“ sagte, klang das sehr abwertend. Mich konnte er ja meinetwegen nicht mögen, aber auf Raven ließ ich so schnell nichts kommen!

„Das stimmt nicht“, verteidigte ich mich. „Er hat mich gefragt, und ich habe 'ja' gesagt. Er würde mich nie zu etwas zwingen.“

„Ach ja!“ Es war mehr als deutlich, dass er mir nicht glaubte. „Sag bloß, du machst das alles freiwillig!“

„Was genau meinst du mit 'alles'?“

„Na, dein bescheuertes devotes Getue, dein kriecherisches Verhalten – hast du gar keinen Stolz?“

„Ich... weiß nicht“, entgegnete ich unsicher. Ich hatte mein Verhalten nie in Frage gestellt. Ich wusste nicht einmal, was devot war, aber so wie er das sagte, schien das etwas Schlimmes zu sein. „Ich benehme mich, wie Raven es mich gelehrt hat. Und ich bin stolz darauf, einen so starken und gütigen Herrn zu haben. Ja, ich mache 'das alles' freiwillig, denn ich liebe Raven, und ich möchte, dass auch er stolz auf mich ist, und dass er sich auf mich verlassen kann. So wie ich auf ihn.“

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Vierzehn.“

Toshio schnaufte abfällig. „Wie pervers. Und wie lange bist du schon bei ihm?“

„Schon lange. Seit dem...“ Ich stockte kurz. „Seit dem Tod meiner Eltern.“ Ganz übles Thema. Ich spürte meine Handflächen feucht werden, und meine Narben begannen zu schmerzen. Toshio hatte sich auf den Unterarm hochgestützt und betrachtete mich eingehend. Noch nie hatte ich einen Sklaven erlebt, der sich so benahm – so eindringlich befragt wurde man sonst nur von den Herren. Ich senkte den Blick. „Ich weiß nicht genau, wie alt ich da war. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Ich weiß noch, dass ich Flötespielen von meiner Mutter gelernt habe. Alles andere hat mir Raven beigebracht, auch Lesen und Schreiben und Rechnen.“

Wir schwiegen eine Weile. Toshio setzte sich jetzt ganz auf.

„Schlägt er dich? Tut er dir weh?“ fragte er schließlich.

„Nein. Überhaupt nicht.“ Ich blickte wieder zu ihm hoch. Sein Ausdruck hatte sich verändert, auch im Gesicht. „Er hat mich noch nie geschlagen. Zu Hause muss ich auch nicht knien – und ihn auch nicht 'Herr' nennen. Er ist nicht so streng wie Monsieur Remarque...“

Wir schwiegen wieder, doch zum ersten Mal war es ein einvernehmliches Schweigen. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie es sein musste, Monsieur Remarque zu gehören. Toshios Fragen waren deutlich genug. Und ich hatte natürlich auch früher schon immer wieder Spuren von Züchtigungen auf seinem sonst so makellosen Körper gesehen.

Wieder brach Toshio die Stille. „Dann scheinst du ja noch Glück gehabt zu haben“, stellte er neidlos fest. „Und warum kümmerst du dich um mich? Komm doch hoch hier aufs Bett, du musst nicht da unten hocken.“ Er rutschte ein Stück zur Seite.

Ich setzte mich auf die Bettkante. „Ich möchte dir einfach ein wenig helfen. Ich kenne Monsieur Remarque... es ist bestimmt schwierig, ihm zu dienen.“

Seine Augen verdüsterten sich wieder. Aber diesmal nicht meinetwegen. „Wenn du mir helfen willst, dann hilf mir zu fliehen“, sagte er.

„Das... das geht nicht!“ Erschrocken sah ich ihn an. „Das kann ich nicht. Und das... das darfst du nie versuchen, Toshio! Es ist unmöglich, sie kommen alle wieder... Bitte, du weiß nicht, was mit Sklaven passiert, die weg laufen!“

„Viel schlimmer kann es ja nicht werden“, entgegnete er tonlos.

„Doch, Toshio. Glaub mir. Es kann schlimmer werden. Bitte, sprich nie wieder davon! Du musst das vergessen!“

„Das ist mir egal“, sagte er trotzig. „Ich werde weglaufen, auch ohne deine Hilfe. Dann bin ich eben der erste, dem die Flucht gelingt.“

„Das ist Wahnsinn!“

„Hierbleiben auch.“

„Du verstehst nicht...“

„Ich verstehe sehr gut“, fiel er mir ins Wort. „Danke für deine Warnung. Ich will jetzt schlafen. Ich bin müde.“ Er ließ sich wieder auf das Kissen sinken.

„Ja, natürlich. Soll ich gehen?“

„Nein, bitte... Ich weiß nicht warum, aber es fühlt sich ganz gut an, wenn du da bist.“

Ich lächelte glücklich. „Ich kann hierbleiben, bis du eingeschlafen bist.“

„Danke.“ Er schloss die Augen.
 

Von da an war es nie mehr so wie vorher. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, durften wir miteinander sprechen. Und bald schon hatte ich das Gefühl, dass sich Toshio genauso wie ich auf unsere Treffen zu freuen begann. Manchmal hatte er sogar den Hauch eines Lächelns für mich. Wie viel hübscher er dann noch aussah!

Früher hatte ich nur äußerst ungern Monsieur Remarques Haus betreten, doch jetzt bedrängte ich Raven regelrecht, wann er das nächste Mal den Monsieur besuchen wolle, und ob ich mit dürfe, um Toshio zu besuchen.

Manchmal hatten wir dann richtig Zeit, uns in Ruhe zu unterhalten. Toshio bat mich nie mehr, ihm zur Flucht zu verhelfen. Aber je länger und besser wir uns kannten, umso häufiger versuchte er mich zu überreden, mit ihm zu fliehen! Für mich kam das natürlich nicht in Frage. Wo hätte ich auch hin gehen können? Ich kannte niemanden da draußen in der Welt, nicht so wie Toshio. Mein Platz war bei Raven. Es machte mir Angst, dass er diesen Gedanken trotz meiner Warnungen nicht fallen lassen wollte und sprach auch mit Raven darüber. Der meinte nur, dass der Monsieur schon aufpassen würde, dass Toshio keine Dummheit begehen könnte. Ich wusste nicht, was ich mir wünschen sollte – ich hatte ja trotz meiner Sorge den Eindruck, dass Toshio erst wieder glücklich werden konnte, wenn er wieder frei war. Und ich würde es ihm von Herzen gönnen, wenn er das Unmögliche schaffen könnte!

Vielleicht würde der Monsieur ihn ja auch irgendwann wieder gehen lassen. Raven gab mir keine richtigen Antworten darauf, was mit Toshios Vorgängern geschehen war. Es gab natürlich Gerüchte... aber konnte es wirklich sein, dass kein einziger Sklave jemals wieder frei wurde, selbst dann nicht, wenn er aus Freiheit kam? Konnte es wirklich sein, dass Monsieur Remarques Lustsklaven nicht einmal mehr fürs Labor taugten, wenn er ihrer überdrüssig wurde? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es stimmte. Ich wollte es mir nicht vorstellen! Es raubte mir den Schlaf, wenn ich darüber nachdachte. Die Laborsklaven erlebten viel Schlimmes, und sie hatten eine blühende Phantasie. Man konnte ihnen nicht alles glauben.

Toshio fragte mich oft aus. Dann war ich eigentlich ganz froh, dass ich ihm zu dem Thema sagen konnte, was ich wusste – nämlich nichts.
 

Und dann kam der Tag, als der Monsieur Toshio mitnehmen wollte auf Geschäftsreise. Nach Japan. Raven packte seine Arzttasche und wollte, dass ich zu Hause blieb.

„Aber ich muss mich verabschieden!“ protestierte ich.

„Sie sind doch nur zwei Wochen fort. Ich gehe allein.“

„Bitte, Raven, bitte“, verlegte ich mich aufs Flehen. Ich hatte Angst, dass sich auf der Reise eine Fluchtgelegenheit bieten würde und ich Toshio nicht wiedersah, ganz egal, ob ihm die Flucht gelingen würde oder nicht.

„Nein, du bleibst hier. Ich möchte nicht, dass du das siehst.“

„Was soll ich nicht sehen? Bitte, ich bin doch kein kleines Kind mehr. Und ich bitte dich so selten um etwas!“

Raven sah mich ernst an. „Das stimmt.“ Er verdrehte die Augen. „Ich weiß nicht, wem von euch beiden der Japaner mehr den Kopf verdreht hat. Aber ich warne dich: Es wird dir nicht gefallen.“
 

Toshio saß in einem Rollstuhl – so einer mit dicken Armlehnen, hohem Rückenteil und Kopfstütze. Ich hatte ihn noch nie zuvor in normaler Hose und Pulli gesehen. Er sah ganz anders aus. Und aus seinen Augen sprach die blanke Angst. Arme, Beine und Brustkorb waren mit breiten Gurten an dem Rollstuhl fixiert. Selbst mein Anblick hellte seine Miene nicht auf. Warum auch? Ich war ihm keine große Hilfe.

Ich durfte zu ihm, aber mein Hals war wie zugeschnürt. Ich legte nur meine Hand auf seine. Ich hatte ihm so viel sagen wollen – dass er mir fehlen wird, dass ich ihm Glück wünsche, dass ich in Gedanken bei ihm wäre und für ihn beten würde. Aber kein Wort brachte ich heraus. Toshios Finger zuckten, als wolle er nach meiner Hand greifen, aber er bekam den Arm nicht gedreht. Er sah mich nicht an. Ich schob meine Finger in seine, und er drückte sie kurz.

„Mach's gut, kleiner Laurin“, flüsterte er heiser.

Ich konnte nur hilflos die Schultern heben. Raven zog mich schließlich sanft zur Seite. Toshios Augen hefteten sich auf ihn, vor Furcht geweitet. Schockiert beobachtete ich, wie Raven ihm mehrere Spritzen gab – in die Nackenmuskulatur, in die Lippen, in die Zunge. Der Monsieur sorgte mit festem Griff dafür, dass der Mund offen blieb dabei. Ich hatte Raven schon öfter ähnliche Dinge tun sehen. Aber im Labor war das irgendwie etwas anderes, die Sklaven dort waren schließlich extra dafür gezüchtet worden. Toshio nicht. Und hier ging es auch nicht um wichtige, medizinische Erkenntnisse, sondern nur um das private Vergnügen des Monsieur.

Zum ersten Mal sah ich Ravens Tun aus Sicht eines anderen. Ich sah nicht, wie vorsichtig er die Spritzen setzte, wie beruhigend er dabei mit Toshio sprach. Ich sah nur, dass er gegen Toshios Willen und trotz seiner Angst in seinem Handeln fortfuhr.

Während Raven schon mit Monsieur Remarque über die Dauer der Wirkung, die Nachmedikamentation und über den Rückflug sprach, konnte ich meine Augen nicht von Toshio nehmen, der rasch die Kontrolle über seine Muskeln verlor. Der Kopf wankte gefährlich von rechts nach links und kippte immer wieder ruckartig nach vorne. Nur mühsam konnte er ihn wieder heben. Seine Unterlippe hing schlaff herunter, und Speichel tropfte ihm aus dem Mund.

Ich senkte betroffen den Blick. Ich hätte nicht kommen dürfen, ich hätte auf Raven hören sollen! Es musste schrecklich beschämend für Toshio sein, dass ich ihn so sah.

Das Bild, wie er da verängstigt und gelähmt in dem Rollstuhl saß, verfolgte mich noch, als ich im Bett lag und nicht schlafen konnte. Wieder und wieder musste ich daran denken, und dann kamen mir die Tränen. Was, wenn er fortlief und erwischt wurde? Japan war schließlich seine Heimat, da kannte er sich aus, würde er nicht dort am ehesten fliehen können? Und was, wenn der Monsieur ihn verkaufen würde an einen japanischen Master? Aber am schlimmsten war das Bild in dem Rollstuhl... wie furchtbar musste das für ihn sein, gerade für ihn, wo er sich doch gerne so stolz gab!

Zum ersten Mal drückte ich mich nicht Trost suchend an Ravens warmen, starken Körper, der abends im Bett immer so schön nach Seife duftete. Zum ersten Mal weinte ich vollkommen lautlos und ließ die Tränen in mein Kissen rinnen, das Gesicht von Raven abgewandt.

Etwas hatte begonnen, sich zu verändern.

Die Freiheit des Menschen

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Hakujiros Party

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Das Spiel der Herren

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Sklavengeflüster

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In your room

Dieses Kapitel ist Depeche Mode gewidmet,

deren Musik mich immer so wunderbar inspirieren kann!
 

Danke wie immer an -cC- für das zuverlässige Korrekturlesen

und an me-luna für unser tolles Crossover – allerdings trennt sich in diesem Kapitel meine Geschichte wieder von unserem RPG. Die nächsten Kapitel könnten also leider wieder etwas länger dauern.

Und natürlich Dank an alle, die Kommentare hinterlassen! :-)
 


 

In your room
 


 

Jetzt also sollte er tanzen? Toshio stand vorsichtig auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und richtete seinen Rücken auf. Der Plug war zu einem dumpfen Gefühl in seinem Inneren geworden. Dass er da gerade auf dem Boden gekniet und diesen dunkelhaarigen Fremden angefleht hatte, ihm ein Metallstück in den Hintern zu schieben, obwohl er das da gar nicht haben wollte, fühlte sich mit einem Mal total unwirklich an. Ob das an seiner veränderten Körperhaltung lag, dass er mit einem Mal wieder anders empfand? Er hatte sich bei Ricardo bedanken wollen! Wie absurd kam ihm das jetzt vor.

Tanzen! Das war die einzige Freiheit, die ihm geblieben war. Soviel hatte sich gar nicht geändert. Seit seiner Kindheit war das Tanzen seine Flucht aus der Trostlosigkeit der Realität. Wenn die Musik von seinem Körper Besitz ergriff, war kein Raum mehr für die Erniedrigungen des Alltags. Er tanzte nicht für Pascal, nie, und er würde auch nicht für Ricardo tanzen. Er tanzte ganz alleine für sich selbst.

Aber hier war keine Musik.

Er drehte den Kopf und blickte zu Pascal. Der nickte ihm zu, und dann war es da wieder, dieses merkwürdige Gefühl von Verbundenheit, das ihn öfter auf solchen Partys beschlich, wenn sein Ausgeliefertsein zu einer öffentlichen Selbstverständlichkeit wurde und Pascal ihm plötzlich Verlässlichkeit bot. Er verstand einfach nicht, wie er einem Mann vertrauen konnte, der ihn gefangen hielt und zu seinem Vergnügen quälte. Darüber zerbrach er sich den Kopf oft, in den langen Stunden, wenn er zum Nichtstun verdammt und alleine war.

Jetzt jedoch wusste er nach einem kurzen Blickkontakt sofort, dass Pascal ihn verstanden hatte, und dass er sich auf ihn verlassen konnte.

Er sah sich kurz in dem Raum um. Seine Augen streiften Ricardo, diesen Mann mit den harten Gesichtszügen, der ihn dennoch so schonend behandelt hatte. Dann ging er fünf Schritte rückwärts, stellte einen seiner Füße gestreckt zur Seite und berührte leicht wie eine Feder mit der Fußspitze den Boden. Der Arm auf derselben Seite hob sich leicht und verharrte dann mit einer erwartungsvollen Spannkraft in der Luft. Langsam drehte er den Kopf in Richtung der elegant ausgestreckten Finger und neigte den Kopf in einer anmutigen Geste zur Seite. Eine schwarze Haarsträhne löste sich und fiel ihm über die Augen.

Danach stand er völlig reglos. Wie eine Porzellanpuppe sah er aus mit den ebenmäßigen Gesichtszügen und der blassen Haut, auf der sich in starkem Kontrast der schwarze Lack und die breiten, schwarzen Ledermanschetten der Fesseln abhoben.
 

Pascal kommentierte Myros erneute Erektion mit einem Lächeln und hauchte dem wunderhübschen Mann, der noch so unschuldig kindlich wirken konnte, einen Kuß auf die weichen Lippen.

In dem Moment konnte er verstehen, was Ricardo an diesem Sklaven so gut gefiel. Er stellte sich vor, wie es wäre, einen zweiten Lustsklaven zu haben. So einen wie Myro, dem gefiel, was er mit ihm anstellte. Vielleicht sogar mal wieder einen Freiwilligen. Es war ein vollkommen anderer Reiz, den das ausmachte. Aber Pascal wusste auch das zu genießen.

Wie wäre es wohl, wenn Ricardo ihm Myro verkaufen würde? Toshio und er sahen atemberaubend schön aus zusammen, und sie schienen sich zu mögen. Konnte er diese dünnhäutige Blüte, die Myro war, überhaupt besitzen, ohne sie zu zerstören? Und inwieweit würde Myros Anwesenheit Toshios Wesen verändern?

Er blickte im selben Moment zu Toshio hinüber, als sein Sklave ihm hilfesuchend den Kopf zuwandte. Diese Momente der nonverbalen Kommunikation liebte er. Er nickte ihm zu, ja, er hatte begriffen, und er würde sich kümmern.

„Na los, hopp, geh zu deinem Master, Myro.“ Locker schlug er Myro auf den Po, nicht fest, nur als Bewegungsimpuls.

Der kleine Rotschopf machte sich sogleich mit gesenktem Kopf auf den Weg zurück zu seinem Herrn. Mit geklemmten Knospen, einer Verbindungskette und einer deutlich sichtbaren Erregung stand der junge Mann schließlich mit roten Wangen vor Ricardo, der es sich in einem der Sessel gemütlich gemacht hatte.

"Bist du wieder mal viel zu gut davongekommen, Sklave?!" Die Stimme seines Herrn war voller Härte und gerade diese Dominanz ließ den Jungen in einem wohligen Schauer antworten: "Ja, Master.“

Doch Ricardo richtete sein ganzes Interesse scheinbar auf den anderen Sklaven, nur ein aufmerksamer Beobachter konnte erkennen, dass er seinen eigenen Jungen dennoch achtsam im Auge behielt. Für Myro sichtbar gab es hingegen nur ein herrisches Kopfnicken, das ihn augenblicklich auf seinen Platz verwies: zwischen die Schenkel seines Herrn, die Hände gehorsam auf einen der harten Oberschenkel gelegt, um keine Möglichkeit zu finden sich selbst zu berühren. Myro kniete seitlich und legte seinen Kopf legte zwischen die Hände, um Toshio betrachten zu können, der sich im Raum positioniert hatte, bereit zu tanzen.
 

Pascal trat an den Wandschrank. Auf der mittleren Ebene stand eine kleine Mini-Anlage, für den Fall, dass man ein wenig Musikuntermalung zu der Session wünschte. Er betrachtete das CD-Angebot, suchte ein Stück aus und drückte auf Play.

Eine schrille, verzerrte E-Gitarre erklang hinter der Deckenvertäfelung, wo die Lautsprecher verborgen waren.

Pascal drehte die Lautstärke noch ein wenig herauf und blieb dann mit verschränkten Armen an der Seite stehen, wo er sowohl Toshio als auch Ricardo mit seinem Jungen gut betrachten konnte.

Der schrille Ton verwandelte sich in eine langsam gespielte Melodie, die sich Depeche Mode zuordnen ließ.

Toshios Arm bewegte sich nach oben, und wie an einem unsichtbaren Faden gezogen folgte sein Kopf der Bewegung. Wie eine Marionette, die zum Leben erwachte. In einer geschmeidigen Welle senkte er den Arm wieder und ließ die Bewegung übergangslos auf die andere Körperseite hinüber fließen.

Pascal konnte nicht einschätzen, ob er das Lied kannte, welches er für ihn ausgewählt hatte. Toshio tanzte stets so, als würde sich sein Körper ganz spontan von der Musik bewegen lassen, und selbst Lieder, die ihm öfters vorgespielt wurden, interpretierte er niemals auf dieselbe Art und Weise. Er mischte Elemente aus dem klassischen Ballett mit moderneren Arten wie Jazz Dance oder Standard Tanz und eigenen Ideen und machte daraus eine ganz individuelle, geschmackvolle Art von Ausdruckstanz.

„In your room…”

Die tiefe, monotone Stimme von Dave Gahan setzte ein, und Toshio rührte sich noch immer nicht von der Stelle, verlagerte nur sein Körpergewicht, während Körper und Arme sich nach der Melodie bewegten. Langsam neigte er sich nach vorne und streckte ein Bein nach hinten. Seine Hände tasteten sich durch die Luft, als würden sie über eine glatte Fläche gleiten.

„…where time stands still. Or moves at your will…”

Sein Blick brannte sich in Ricardos Gesicht. Dazu musste er den Kopf anheben, sein Oberkörper lag waagerecht in der Luft.

„…will you let the morning come soon. Or will you leave me lying here…”

Er hielt seine Arme jetzt so, dass man tatsächlich den Eindruck haben konnte, er würde auf dem Boden liegen und zu Ricardo aufblicken.

„…in your favourite darkness. Your favourite half-light. Your favourite consciousness…”

In Zeitlupe richtete er sich wieder auf, hielt das Bein jedoch weiterhin schwebend in der Luft. Obwohl man seine Muskeln arbeiten sah, wirkte sein Körper leicht und wie schwerelos.

„…your favourite slave…”

Seine Augen ließ er nicht von Ricardo, und eine Hand glitt aufreizend seine Wange hinunter, über den dargebotenen Hals bis über sein Herz.

Jetzt wurde der Rhythmus des Liedes härter, und Toshio schloss halb die Augen, und jetzt eroberte er tanzend, wiegend, sich langsam drehend den Raum, wobei er immer wieder mit den Händen die Spielgeräte streifte und jede seiner Gesten die Angst und die Qual ausdrückte, die dieser Raum für Lustsklaven bedeutete. Gewürzt mit einer gewaltigen Portion Resignation, die mit der neutralen Stimme des Sängers harmonisierte.

„… I'm hanging on your words. Living on your breath. Feeling with your skin. Will I always be here?”

Während der Refrain am Ende des Liedes wiederholt wurde, nahm Toshio seine Bewegungen allmählich zurück, und ließ sich in einer langsamen Drehung zu Boden sinken.

„Will I always be here?”

Er drehte das Gesicht in Ricardos Richtung.

„Will I always be here?“

Er öffnete die Augen. Sein Ausdruck war gleichzeitig fragend und entmutigt.

„Will I always be here?“

Das Lied klang aus, und er senkte die Lider und blieb auf dem Boden liegen. Das Lied war eine Gemeinheit von Pascal gewesen, aber er würde ihm nicht den Gefallen tun und schon wieder anfangen zu heulen.
 

Ricardo hatte, ohne es zu merken, mehrmals hart schlucken müssen. Es war offensichtlich, dass ihn die Anmut und die Grazie dieses jungen Tänzers beeindruckten. Und dass ihm diese eindringlichen Blicke nahe gingen. Er streichelte seinen Kleinen, der sichtlich ergriffen war, sanft über den wohlgeformten Kopf. Seine eigene Miene um Unkenntlichkeit bemühend, erwiderte er Toshios Blick und wandte sich schließlich dem blonden Franzosen zu, während der junge Japaner noch immer auf dem Boden lag: "Er tanzt beeindruckend. Hat er es professionell gelernt?"

Auf Pascals Gesicht lag ein Lächeln, als er mit gemächlichen Schritten auf Ricardo und Myro zuging. Ihm war die Wirkung von Toshios Darbietung auf seinen neuen Bekannten nicht entgangen, und er war stolz darauf, so einen besonderen Sklaven wie Toshio präsentieren zu können. Ja, da hatte er wirklich und wahrhaftig einen ganz einzigartigen Fang gemacht. In diesem Nachtclub, wo er ihn zuerst hatte tanzen sehen, hatte der junge Japaner nur einen Bruchteil seines Könnens gezeigt. Aber Pascal hatte schon immer ein untrügliches Gespür für das Besondere gehabt.

„Er hatte als Kind jahrelang Unterricht“, gab er bereitwillig Auskunft. „Den Rest hat er sich selbst beigebracht. Er hat großes Talent, nicht wahr? Ich freue mich, dass es Ihnen gefallen hat.“

"Was meinen Sie," ließ Ricardo beiläufig einfließen, "hat sich Ihr Sklave für diesen Auftritt eine kleine Belohnung verdient?"

Pascal zuckte die Schultern. „Meinetwegen. Dachten Sie da an etwas Bestimmtes?“

"Wir könnten eine Belohnung zum Teil des nächsten Spiels formieren, ausgeführt durch Ihren Befehl“, schlug Ricardo diplomatisch vor. „Sie sind natürlich der Herr, Ihnen obliegt diese Entscheidung, ob und wie Ihr Eigentum belohnt werden soll."

Pascal schnippte mit dem Finger. „Toshio, komm her.“

Toshio erhob sich und strich sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann kam er langsam heran, den Rücken noch immer ganz aufgerichtet, Selbstsicherheit ausstrahlend. Ob Pascal wusste, wie sehr er die Musik und das Tanzen brauchte? Selbst dann, wenn manchmal die Lieder selbst ihn an seinen inneren Abgrund führten, war jeder Tanz wie ein Schluck Lebenselixier für ihn. Und für einen Tanz war er auch noch nie bestraft worden. Noch nie.

Pascal legte seinen Arm besitzergreifend um die schmalen Schultern und zog ihn an sich. Toshio ließ es geschehen, das Gesicht ausdruckslos wie eine Maske. Sein Atem ging noch beschleunigt, und seine Wangen waren gerötet von der Anstrengung.

„Das war sehr schön, mon petit, das hast du wirklich gut gemacht“, raunte Pascal ihm auf Deutsch ins Ohr und strich ihm dabei zärtlich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann fügte er lauter und auf Englisch hinzu: „Master Ricardo ist der Meinung, du hast dir eine kleine Belohnung verdient. Du darfst ihm dankbar sein, dass ihn deine mittelmäßige Vorstellung nicht gelangweilt hat.“ Sacht, aber unnachgiebig dirigierte er seinen Sklaven in eine kniende Position.

„Ja, Herr“, erklang leidenschaftslos die Antwort, und Toshio gab auch dem Druck auf seiner Schulter nach und kniete sich auf den harten Boden. Er hielt den Kopf gesenkt, den Rücken aber immer noch sehr gerade. „Ich danke Euch, Herr, Ihr seid zu gütig.“ Automatisch kamen die Worte an Ricardo über seine Lippen, eine Floskel, mehr war das nicht.

Pascal schüttelte darüber den Kopf, aber das Lächeln blieb in seinem Gesicht. „Soll ich mich vielleicht vorher schon einmal um die Utensilien für das nächste Spiel kümmern?“ fragte er Ricardo. „Ich bin sicher, Hakujiro-san hat irgendetwas in der Art da.“

"Gerne“, dankte der Amerikaner dem Franzosen und stimmte sich dann über einem Blick mit diesem ab. "Komm zu mir, Toshio“, erklang der ruhige Befehl, mit dem er nun seinerseits den zierlichen Asiaten auf den Boden neben seinen Sessel befahl. Ruhig, bestimmend und als wäre es die größte Selbstverständlichkeit, deutete er Toshio auf alle Viere zu gehen und begann beruhigend dessen weiche Haare zu streicheln.

Geht denn diese Nacht nie zu Ende, fragte sich Toshio müde. Gerade eben hatte er noch das Gefühl von Selbstbestimmung über seinen Körper beim Tanzen gespürt, und schon kniete er wieder auf dem Boden.

Werde ich immer hier sein?

Nein, nein und nochmals nein! Er würde weiterhin seinen Prinzipien treu bleiben, und auch wenn er gehorchte, nie wollte er vergessen, dass er das tun musste, um zu überleben. Er vergaß nie, dass er niemandem gehörte, auch wenn sich die ganze Welt anders verhalten würde. Er vergaß nie, wie sein Leben mit Patrick verlaufen war. Verlaufen wäre. DAS war die Wirklichkeit. Nicht das hier.

Dennoch schob sich sein Kopf der kosenden Hand entgegen.

Wie wäre es wohl, wenn Pascal ein wenig mehr wie dieser Ricardo wäre, nur ein kleines Bisschen weniger grausam? Würde es ihm dann auch noch gelingen, sich der permanenten Gehirnwäsche zu widersetzen? Oder wäre er dann jetzt schon wie Myro, der ernsthaft an seinem Herrn zu hängen schien? Genau wie Laurin an Raven hing... Der war allerdings auch seit seiner Kindheit bei ihm. Und Raven stellte auch nicht solche Sachen mit ihm an.

Ricardo fuhr durch die seidigen, durch das Tanzen ein wenig verschwitzen Haare des jungen Japaners. Sanft koste er mit seinen Fingern den dargebotenen Kopf und wanderte dann ein wenig tiefer zu Toshios Nacken, den er beruhigend und entspannend mit leichten Kreisen massierte.

"Gut gemacht, Toshio“, lobte er den jungen Mann und verteilte seine Streicheleinheiten auf die beiden Sklaven, von denen sein Junge genießend die Augen geschlossen hatte und dankbar annahm. Myro kauerte an seiner anderen Seite und hatte den Kopf noch immer brav zwischen seine Hände auf dem Schenkel seines Herrn abgelegt.

Ein Blick zu Pascal zeigte Ricardo, dass dieser noch eine kleine Weile mit der Auswahl der Kostüme für das nächste Spiel beschäftigt sein würde. In dem Schrank fand der Franzose nämlich nicht das, was seinen Vorstellungen entsprach. Wortlos verständigte er sich mit Ricardo, dass er gleich wiederkäme, und verließ das Spielzimmer.

Auf dem Weg zu Hakujiro überlegte Pascal ernsthaft, wie er Toshio belohnen sollte. Eine echte Belohnung war eigentlich unmöglich, zumindest, wenn sie in das nächste Spiel einfließen sollte.

Das Spiel abzublasen, darüber würde sich Toshio vermutlich freuen. Alles andere, und sei es noch so freundlich gemeint, würde von seinem sensiblen Sklaven sowieso nur als demütigend wahrgenommen werden.

Toshio im Katzenkostüm… Eine köstliche Vorstellung, noch dazu mit Myro zusammen. Aber Pascal war sich sicher, dass Toshio das Petplay überhaupt nicht gefallen würde.

Und wenn er wieder störrisch reagierte, führte das unweigerlich zu einer erneuten Strafe.

Aber eine Belohnung? Schwierig…
 

Früher hatte Toshio diese devoten Sklaven verachtet. Inzwischen konnte er sie verstehen. Er begann ja schon selbst manchmal, wie Pascal zu denken. Er würde gern fragen, wie lange Myro schon bei Ricardo war, aber er wollte keine weitere Strafe riskieren. Obwohl Ricardo bisher sehr rücksichtsvoll gewesen war, fühlte er sich merkwürdig unsicher ohne Pascal in seiner Nähe. Pascal war natürlich immer eine Gefahr, aber gegen den Sadismus von fremden Mastern war er der einzige Schutz.

Mit einem unauffälligen Drehen des Kopfes versuchte er, wenigstens einen Blick auf Myro zu erhaschen.

Der schien sich einfach nur noch auf die Nähe und Zärtlichkeit seines Herrn zu konzentrieren, sah genießend zu der streichelnden Hand hinüber, die den fremden Sklaven an dessen anderer Seite koste, und fing Toshios fragenden Blick auf. "Bitte, Herr“, hauchte er daraufhin und hob ein wenig eine seiner Hände.

Mit einem knappen Nicken erteilte Ricardo ihm die Erlaubnis, so dass Myro seinen Arm nun ganz offiziell nach Toshio ausstrecken durfte. Sanft streichelte er über den geschnürten Rücken und hielt dabei respektvollen Abstand zu der Hand seines Herrn, die sich ebenfalls sicher über den schmalen Körper bewegte.

Toshio seufzte lautlos. Myro war an seiner Seite, und das gab ihm Sicherheit. Er versuchte sich ganz und gar auf seine federleichten Berührungen zu konzentrieren, und die andere Hand zu ignorieren. Myro durfte ihn anfassen, das war okay.

Ricardo hatte ebenfalls den fragenden Blick von Toshio bemerkt und wandte sich nun an den ungewöhnlichen Sklaven mit den wundervollen Tanzkünsten: "Du kannst sprechen, Toshio.“

Überrascht ruckte Toshios Blick zu Ricardo. „Ja?“ entfuhr es ihm, und er vergewisserte sich, dass von Pascal nichts zu sehen war, bevor er wieder zu Boden starrte. Damit hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Noch nie hatte einer der Herren mit ihm sprechen wollen, wenn ihre Lust befriedigt war. Er hatte Zweifel, ob Pascal das erlauben würde. Der war jedoch nicht da, und dieser Master verlangte es. Und hatte er nicht allen Mastern zu gehorchen, war das nicht gerade die Lektion gewesen?

Aber was sollte er denn sagen? Durfte er oder musste er jetzt sprechen?

„Darf ich…“ setzte er zögernd an und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. „Was wollt Ihr denn hören, Herr?“ fragte er kaum hörbar. Unsicher verlagerte er das Gewicht von einem Arm auf den anderen.

Seine Verlegenheit entlockte Ricardo ein leichtes Schmunzeln. "Was du sagen möchtest, Toshio. Du kannst fragen oder erzählen, was immer dir gerade einfällt oder durch den Kopf geht."

Eine Falle, dachte Toshio sofort. Etwas anderes konnte das doch gar nicht sein. Unmöglich, dass der streng wirkende Master plötzlich so nett war. Oder? War das wirklich so abwegig? ‚Er behandelt mich immer gut’, hatte Myro schließlich über Ricardo gesagt. Dass er bei ihm bleiben wollte. Sobald er dich streichelt, ist das Spiel zu Ende, und er ist wieder sanft... Und er hatte sich ja selbst im Spiel nachsichtiger als andere Herren gezeigt.

„Ich würde gern wissen…“ Toshio zögerte wieder, doch er konnte die Gelegenheit zu einem Gespräch nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er hatte so selten die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Nur wachsam musste er sein! „Ich würde gern wissen, wie lange Myro schon bei Euch ist, Herr. Und… wie Ihr ihn kennen gelernt habt.“

Myro versteifte sich etwas und sah ein wenig unsicher zu Ricardo hinauf. Dieser schien überrascht, dass sich Toshio nach Myro erkundigte.

"Myro ist seit über einem Jahr bei mir“, antwortete er vorsichtig und behielt beide Sklaven genau im Auge. Den nächsten Satz sagte er mit neutraler, beinahe schon harter Stimme: "Ich habe ihn bei einem Händler gekauft."

Myro zuckte zusammen, und sein ganzer Körper verkrampfte sich. Sein Blick ging nun gen Boden, nicht schnell genug, als dass man die Trauer und den Schmerz darin nicht erkannt hätte.

Toshio griff zur Seite und legte nun seinerseits eine Hand mitfühlend an Myros Rücken. So kurz erst war er bei Ricardo? Toshio hätte wetten können, dass Myro schon ganz lange bei diesem Herrn war, ähnlich wie Laurin bei Raven. Aber er wusste ja auch nicht, wie lange Myro bei diesem Händler gewesen oder was davor geschehen war. Für Myro schien die Erinnerung jedenfalls nicht angenehm zu sein. Armer Myro! Das musste schlimm gewesen sein. So schlimm, dass ihm Ricardo nun wie sein Retter erschien? War das nun ein weiterer Fall von Realitätsverdrehung, das ihm als abschreckendes Beispiel dienen konnte, oder wollte Myro tatsächlich freiwillig bei diesem Mann bleiben?

"Möchtest du sonst noch etwas wissen oder erzählen, Toshio? Du kannst frei sprechen, bis dein Herr wiederkommt“, unterbrach Ricardo seine Gedanken.

„Ihr habt ihn gekauft“, wiederholte er bitter Ricardos Worte. „Und… liebt Ihr ihn jetzt, Master Ricardo?“ Mal sehen, ob er wirklich frei sprechen durfte. Er hatte keine Ahnung, welcher Teufel ihn gerade ritt und diese Frage stellen ließ, und er zog schon ein wenig den Kopf ein in Erwartung einer ärgerlichen Reaktion darauf.

Die jedoch nicht kam.

Ricardo dirigierte beinahe schon behutsam die beiden jungen Männer noch näher an seine Schenkel. Myro schmiegte sich augenblicklich an und wisperte aufgewühlt: „Ich liebe dich, Herr.“

Die kaum mehr als gehauchten Worte gaben Toshio einen Stich ins Herz. Warum sagte Myro das? Wollte er Ricardo besänftigen? Wollte er ihm die Antwort ersparen - oder fürchtete er die Antwort? Augenblicklich bereute Toshio, seine Frage gestellt zu haben. Warum musste er diesen friedlichen Moment zerstören, anstatt einfach Ricardos Freundlichkeit zu genießen? Der dominante Mann beugte sich zur Seite und drückte seinem Sklaven einen Kuss in den Nacken, bevor er Toshio auf die Beine hob.

"Würdest du dir wünschen, dein Master würde dich lieben?" flüsterte er dem jungen Mann eine Gegenfrage ins Ohr.

Toshio versteifte sich augenblicklich. Falsche Frage, ganz falsche Frage. Er hatte auf etwas anderes hinaus gewollt, aber plötzlich begriff er, dass diese Leute sich ja gerade aus vermeintlicher Liebe Sklaven hielten.

Ricardo war sein Schweigen wohl Antwort genug. Laut fragte er weiter: "Wie lange bist du schon bei deinem Herrn, Toshio, und woher kommst du?"

„Ich habe in Deutschland studiert, bis dieser…“ Im letzten Moment konnte er sich zurücknehmen und eine andere Formulierung wählen als die, die ihm auf der Zunge gelegen hatte. „… bis dieser ‚Herr’ mich entführt hat. Damals war Sommer. Jetzt ist Winter. Ein verdammtes halbes Jahr hat er mir schon gestohlen. Ich gehöre ihm nicht. Niemand gehört irgendwem.“ Sein Blick streifte zu Myro. Seine Stimme, die beim Sprechen immer lauter geworden war, wurde jetzt zu einem tonlosen Flüstern: „Ich wollte im Frühjahr heiraten. Wenn ihr uns wirklich lieben würdet, würdet ihr uns gehen lassen.“ Tränen fingen sich in seinen Wimpern, und eine löste sich und hinterließ eine glitzernde Spur auf seiner Wange.

Ricardo sah ihn für einen Moment nachdenklich an. Dann zog er ihn in seine Arme und raunte ihm ganz nahe ins Ohr: "Versuche durchzuhalten, Toshio, vielleicht bekommst du deine Freiheit eines Tages wieder." Zärtlich streichelte er ihm eine der weichen Haarsträhnen aus dem Gesicht, während sein Blick auf Myro weilte.

Toshio gab ein aufgebrachtes Schnaufen von sich, das genauso gut ein Schluchzen sein konnte. „Ja, ja, durchhalten. Immer durchhalten. Und wohin hat mich das gebracht?“ Dennoch drückte er sich an den warmen, starken Körper. Er konnte Trost und Aufmunterung gut gebrauchen, und Ricardo wirkte ehrlich, auch wenn er einer der Herren war. Ganz leise, fast unhörbar, fügte er hinzu: „Pascal wird mich eher töten, bevor er mich gehen lässt.“

Schweigend hielt Ricardo ihn einfach, während Toshio ein weiteres Mal mit den Tränen kämpfte. Gedacht hatte er diese Worte schon öfter, in Momenten der absoluten Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, doch einmal ausgesprochen wirkte diese simple Feststellung wie ein Kübel Eiswasser und goss Todesangst in seine Eingeweide. Er wollte doch nicht sterben, und wenn, dann nicht durch Pascals Hand! Fast unmerklich begann er zu zittern und legte nun gleichfalls die Arme um Ricardos muskulösen Oberkörper, drückte sich an ihn und versuchte, sich beim Lauschen auf den gleichmäßig dumpfen Herzschlag unter den muskelbepackten Rippen wieder zu beruhigen. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Ricardo seinen Kopf ein wenig drehte und seine Lippen direkt an sein Ohr brachte. Seine Worte waren so leise, dass Toshio sie kaum verstehen konnte, ja fast den Eindruck hatte, er würde sich ihre Existenz nur einbilden.

„Viel kann ich nicht für dich tun, Toshio. Ich weiß nicht, ob das je von Nutzen für dich sein wird, aber diese Nummer kannst du jederzeit anrufen. Merk sie dir gut.“

Und er flüsterte ihm tatsächlich eine Telefonnummer zu.
 

Pascal fand Hakujiro in der Lounge an der Bar, wo er sich in einer fröhlichen Runde augenscheinlich prächtig amüsierte. Drei Herren und zwei Damen saßen bei ihm, und neben ihnen knieten Sklavinnen, die ihre Getränke hielten, und ein Sklave lag rücklings auf dem harten Boden und massierte einer der Damen die Füße.

„Pascal-san, setz dich zu uns und trink mit uns“, begrüßte Hakujiro ihn überschwänglich, als er näher kam, und stellte ihm die anderen vor. Seine Aussprache war leicht verwaschen, sein Gesicht gerötet. Das Weinglas neben ihm erklärte diesen Zustand. „Wo ist dein süßer kleiner Sklave geblieben? Hat Takamuras ungehöriges Benehmen ihn verschreckt? Du musst ihm verzeihen, es ist seine erste Party, und es war ihm nicht bewusst, wie sehr er mit seinem Verhalten die Etikette verletzt. Für ihn ist das alles nicht mehr als ein spannendes Spiel. Ich habe mit ihm gesprochen, er wird sich bei dir entschuldigen, Pascal-san.“

Pascal winkte ab. „Das ist nicht nötig. Mir reicht es, wenn er es nicht wieder tut. Wir haben alle mal angefangen.“

„Nein, nein“, widersprach Hakujiro und wiederholte: „Er wird sich bei dir entschuldigen.“

Pascal war bemüht, sich seine zunehmende Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Er hatte keine Lust, sich noch einmal mit dem Anfänger herumzuplagen, und er mochte auch diese enthemmte Leutseligkeit von Betrunkenen nicht – selbst dann nicht, wenn er die betroffenen Personen im nüchternen Zustand durchaus wertschätzte. Hakujiro hatte er zuvor noch nie derart angetrunken erlebt. Aber Pascal wusste, dass es in Japan ein absolutes Tabu war, sein Gegenüber in Verlegenheit zu bringen, noch dazu vor Zeugen, und darüber hinaus war es eine bekannte Tatsache, dass in Japan Betrunkene mit größter Nachsicht behandelt wurden. Hakujiro war ein guter Kunde, ein alter Bekannter, ein hervorragender Kontakt und außerdem momentan sein Gastgeber.

Und so sagte er lediglich: „Es ist wirklich nicht nötig, Kondo-san. Ich wollte auch nur fragen, ob es hier irgendwo Kostüme für Petplay gibt.“ Er wechselte lieber schnell das Thema, bevor Hakujiro oder einer seiner Freunde auf die Idee kommen konnte, ihn noch einmal nachdrücklich zum Verweilen einzuladen. Doch die Sorge erwies sich als unbegründet.

„Petplay?“ Hakujiros Augen leuchteten auf. „Was genau suchst du denn?“

„Ich dachte da an ein paar Katzenkostüme für Mendozas und meinen Kleinen.“

„Oh, ich habe gehofft, dass du das sagst.“ Hakujiro klatschte begeistert in die Hände, und Pascal dachte innerlich Augen rollend einmal mehr, wie sehr doch Alkohol die Menschen veränderte. Er selbst trank zwar auch gerne mal ein oder zwei Gläser Wein und schätzte die entspannende Wirkung der Droge, aber er betrank sich nie so sehr, dass er die Kontrolle über sich verlor.

Hakujiro führte ihn in einen Raum, der für die Partygäste nicht zugänglich war. Hier standen einige Spinde und Bänke, anscheinend war dies der Ort, wo sich das Personal umziehen konnte. An der einen Wand waren ungefähr ein halbes Dutzend Koffer und Kisten gestapelt, und Hakujiro zog eine große Kiste hervor und öffnete sie.

„Das ist nicht die richtige“, kommentierte er ihren Inhalt und hielt ein weißes Lackteil mit einem roten Kreuz darauf in die Höhe. „Klinikspiele. Hm, dann müssten die Kitten-Sachen in diesem hier sein...“

So war es, und Pascal stand bald staunend vor der größten Auswahl an Katzen-Verkleidungen, die er je gesehen hatte. Für jeden Geschmack war etwas dabei: von dezenten schwarzen Ansteckohren bis hin zu roten, pinkfarbenen oder türkisen Ohren mit Tüll und Taft, Rüschchen und Glitter und unglaublich kitschig. Es gab einfache Kostüme, die nur aus Ohren und Schwanz bestanden, aber auch Ganzkörperfelle, zu denen sogar eine Maske mit Katzengesicht gehörte.

Pascal stand nicht auf Plüsch und Kitsch und suchte sich unter den schlichteren Kostümen mit realistischem Katzenfellmuster zwei aus, und als er sich die unterschiedlichen Befestigungsmöglichkeiten für die Schwänze besah, kam ihm eine Idee für die Belohnung seines eigenwilligen Sklaven. Allerdings war er sicher, dass Toshio sie nicht zu würdigen wissen würde, denn als Kater verkleidet zu werden, dürfte kaum nach seinem Geschmack sein, egal mit welchem Schwanz.

Hakujiro hatte geduldig daneben gestanden, während er seine Wahl traf, und betrachtete jetzt mit glänzenden Augen die beiden Kostüme. „Ihr führt die beiden aber gleich auch öffentlich vor, oder? Du bringst hier den hübschesten Burschen weit und breit an, und dann verschwindest du den ganzen Abend in den Separees“, maulte er unzufrieden.

„Ich muss erst mal sehen, wie mein Kleiner auf die Verkleidung reagiert – es ist sein erstes Petplay. Außerdem ist er ein wenig angespannt seit der Begegnung mit Takamura-san gleich zu Beginn der Party.“ Es konnte nicht schaden, dem fremden Dom mit dem schlechten Benehmen ein wenig Schuld in die Schuhe zu schieben.

„Ach ja, dieser Trottel! Er muss sensiblen Umgang mit den Sklaven noch lernen. Da hat Mendoza schon ein besseres Händchen.“

„Stimmt. Kennst du ihn gut?“

„Geht so. Aber er ist absolut in Ordnung, keine Sorge. Hat einen einmaligen Ruf bei der Erziehung von Wildfängen. Nicht wenige fragen ihn um Rat, wenn sie Schwierigkeiten mit ihren Süßen haben. Und bislang soll er noch jeden Sklaven auf seinen Platz verwiesen haben.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Pascal war erleichtert, sich in seiner neuen Bekanntschaft nicht getäuscht zu haben. Und jetzt wollte er so schnell wie möglich wieder zurück. Guter Ruf hin oder her, er ließ Toshio nur äußerst ungern so lange mit einem fremden Meister allein.

Hakujiro hatte es dagegen gar nicht eilig, obwohl er einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr warf. „Es ist schon drei Uhr, und ich habe noch gar nichts von dir und deinem Katerchen gehabt. Bitte erlaube mir ein kleines Spielchen mit ihm, damit ich ihm zeigen kann, dass nicht alle japanischen Master so ungeschickt sind. Ja?“

Pascal betrachtete seinen alten Freund aufmerksam. Hakujiro war zwar angetrunken und klang gerade wie ein nörgelndes Kind, aber er war dennoch einer der mächtigsten Männer Japans und daher wichtig für Pascal. Er konnte es sich nicht leisten, ihn zu verärgern, und auch wenn Hakujiro lediglich eine Bitte geäußert hatte, kannte Pascal ihn gut genug, um zu wissen, dass es ihn ernsthaft verstimmen würde, wenn sie ihm nicht gewährt würde.

Ganz davon abgesehen, dass die subtile Art, in diesem Land ein „Nein“ zu formulieren, ohne sein Gegenüber zu diskreditieren, für Pascal noch immer ein Rätsel blieb. Wie so vieles andere auch.

Also gab er nach.
 

Als er in das Spielzimmer zurück kam, sah er sofort, dass Toshio schon wieder geweint hatte. Ricardo saß noch an der gleichen Stelle, beide Sklaven dicht bei ihm. Toshio hatte gerade gesprochen und schwieg jetzt abrupt, als Pascal den Raum betrat. Nun, das war nicht ungewöhnlich, Toshio reagierte schließlich immer angespannt, wenn sein Herr in seine Nähe kam. Aber warum wirkte er so verstört?

Ricardo schien ganz entspannt und sagte noch etwas, das Pascal jedoch nicht verstehen konnte. Toshio starrte auf den Boden.

„Ich bin fündig geworden.“ Pascal hob die Katzenkostüme in die Höhe. Beide waren getigert, eins grau-schwarz und das andere schwarz-rot, passend zu den Haarfarben der beiden Jungen. „Leider wünscht Hakujiro-san Toshios Gesellschaft, und es wäre zu unhöflich gewesen, ihm diesen Wunsch auszuschlagen“, teilte Pascal dem Kolumbianer auf Französisch mit, echtes Bedauern in der Stimme.

Ricardo war gleichfalls anzumerken, dass ihn das vorzeitige Ende ihrer gemeinsamen Session leid tat, aber er zeigte auch Verständnis für Pascals gesellschaftliche Verpflichtungen. Dankend nahm er das Kostüm für Myro entgegen, und Pascal zitierte Toshio zu sich und führte ihn zu dem schwarz bezogenen Bett auf der anderen Seite des Zimmers.

„Worüber habt ihr gesprochen?“ verlangte er zu wissen.

„Über Myro, Herr“, antwortete Toshio ohne Zögern.

Pascal ging davon aus, dass er die Wahrheit sagte, so gut kannte er ihn inzwischen. Was hatte ihn an einem Gespräch über den rothaarigen Jungen so verwirrt? Woran dachte Toshio gerade?

„Du magst Myro, nicht wahr?“ Pascal beobachtete ihn genau. Es war köstlich zu sehen, wie sich in Toshios Gesicht die Überlegung abzeichnete, ob diese Frage harmlose Konversation oder eine Falle war, gefolgt von Resignation – was machte es schließlich für einen Unterschied?

„Ja, Herr.“ Wozu das Offensichtliche abstreiten.

„Wünschst du dir, Master Ricardo würde dich kaufen?“

Schmale, dunkle Elfenaugen blickten zu ihm auf, forschend erst, vielleicht ein wenig überrascht, dann schoben die Augenbrauen sich über dem Nasenrücken zu einer trotzigen Falte zusammen, bevor die Lider mit den dichten, schwarzen Wimpernkränzen wieder senkten. Selten konnte Pascal so deutlich in dem Gesicht des Jungen die widerstreitenden Gefühle lesen.

„Was soll das, Pascal?“ Toshios Stimme war leise. „Ich bin müde. Lass mich doch einfach in Ruhe.“

Pascal reagierte nicht böse auf diese Unverschämtheit. Er lachte. Der Junge war einfach köstlich! Wer sonst könnte es schaffen, nach all dieser Zeit der Gehorsams- und Unterordnungsübungen, nach all den Misshandlungen und Demütigungen solch eine Antwort zu geben? Das zeigte nur wieder, dass er noch nicht gebrochen war, dass er seine Rolle als Sklave nur widerstrebend spielte, aber noch lange nicht angenommen hatte. Der ungleiche Kampf zwischen ihnen, der Kampf, bei dem Toshio nicht den Hauch einer Chance hatte, war noch längst nicht beendet. Und Pascal war zum ersten Mal unsicher, ob er ihn überhaupt bis zur letzten Konsequenz gewinnen wollte, denn dann wäre es endgültig vorbei mit solch amüsanten Wortwechseln, die ihm Toshio immer mal wieder lieferte.

Natürlich würde er trotzdem eine Strafe für diese Worte bekommen, aber nicht jetzt, nicht hier.

„Du hast wohl vergessen, dass du noch deine Belohnung bekommst für deinen kleinen Tanz. Und im Übrigen weißt du ja, dass ich bestimme, wann du deine Ruhe hast. Die Nacht ist noch nicht vorbei.“ Er packte seinen Sklaven hart am Kinn und zwang seinen Blick zu sich nach oben. Bei der nächsten Anweisung war jede Freundlichkeit aus seiner Stimme verschwunden: „Und den Rest der Nacht benimmst du dich wieder, wie ich es dir beigebracht habe, hast du verstanden?“

Toshio hielt noch kurz stand, dann schlug er die Augen nieder. „Ja, Herr.“

Pascal genoss seinen kleinen Sieg und war gespannt, wie dem jungen Japaner das Kittenplay schmecken würde. Er ließ das grauschwarz getigerte Kostüm auf das Bett fallen.

„Schau“, sagte er. „Ich weiß ja, dass du dein heutiges Outfit nicht sonderlich gerne magst. Darum habe ich dir ein neues besorgt.“ Mit Genugtuung registrierte er, mit wie wenig Begeisterung Toshio die Katzenverkleidung beäugte. Hätte Pascal auch sehr gewundert, wenn sein Kleiner Freude an Petplay gefunden hätte.

Wie sehr es Toshio allerdings wirklich gegen den Strich ging, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Beschmutzt

Es bereitet Toshio Mühe, sich auf Pascal zu konzentrieren.

Noch immer kreisen seine Gedanken um das merkwürdige Gespräch, das er mit Ricardo geführt hat. Noch immer wiederholt er im Geiste die Telefonnummer, die Ricardo ihn hat auswendig lernen lassen. Eine Nummer in Tokyo.

Und noch immer fragt er sich verzweifelt, ob das ein echtes Hilfsangebot von dem fremden Mann ist oder ein mit Pascal abgesprochenes Spielchen. Wird er bestraft werden, wenn Pascal erfährt, dass er sich die Telefonnummer gemerkt hat? Wird er bestraft werden, wenn er sie vergisst?

Oder anders: Glaubt Ricardo ernsthaft, er wird im Notfall einen anderen Sklavenhalter um Hilfe bitten? Wird er damit nicht vom Regen in die Traufe kommen? Oder an Pascal verraten werden?

Dennoch. Er gibt sein Bestes, sich diese Folge von Zahlen einzuprägen. Man weiß ja nie. Außerdem hat er zu gehorchen, um nichts anderes geht es hier doch.

Und dann kommt Pascal, zwingt seine Aufmerksamkeit auf diesen Haufen gestreiften Stoff, der aussieht wie eine Faschingsverkleidung, und faselt etwas von Belohnung.

Was soll daran eine Belohnung sein? Das sieht doch aus wie ein Tierkostüm. Wie paralysiert starrt er auf die scharzgrau getigerte Verkleidung und die steifen herzförmigen Ohren, die an einem Haarreif befestigt sind. Noch weigert sich sein Verstand, zu begreifen, was das bedeuten soll. Noch geistern die Zahlen der Telefonnummer durch seinen Kopf. Um sich diese zusammenhangslose Abfolge von Ziffern merken zu können, hat er sich einen Trick ausgedacht: Er macht einfach eine Choreographie daraus.

Drei: Die Füße stehen in der dritten Position des klassischen Balletts, die Ferse des einen Fußes seitlich am Fußgewölbe des anderen. Neun: Die Arme formen einen Kreis über dem Kopf, ein Bein hebt nach hinten ab. Acht: Die Hände malen eine Acht in die Luft. Eins: Die Füße gehen in die erste Position, Fersen an einander, Fußspitzen weisen nach außen. Zwei: zweite Position, eine Fußbreite weiter auseinander. Vier: vierte Position, Schrittstellung. Zwei: zurück in die zweite Position. Neun: Arme wieder über den Kopf. Acht: Arme malen eine Acht. Japan, Tokyo, die Vorwahlnummern kennt er; also wieder von vorne: Die Füße stehen in der dritten Position; Kreis über Kopf, Bein hebt ab; Hände ziehen durch die Luft; erste Position ...

„Zieh das an“, drängt ihn Pascal, der wohl merkt, dass Toshio mit den Gedanken woanders ist. „Du darfst dir aussuchen, wie du den Schwanz an dir befestigen möchtest.“

Zögernd nimmt er die Ohren in die Hand, blickt auf gestreifte Stulpen, deren eines Ende geschlossen und wie Pfötchen geformt ist. Da ist ein Plug mit einem langen Schwanz aus plüschigem Fell daran. Tatsächlich: ein Tierkostüm.

Yottsu!

Sein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Einen Moment ist ihm schwindelig vor Entsetzen. Nein! Das will er nicht anziehen! Seine Hände zittern. Sein Denken ist blockiert, sein Körper ganz taub.

„Nein ... bitte nicht ...“ Ohne sein Zutun formt sein Mund diese Worte, kraftlos und mit bebender Stimme. In seinem Geist steigen Erinnerungen auf, als sei es erst gestern gewesen: diese hochnäsigen Jungen auf dem Pausenhof, die ihn nie in Ruhe lassen konnten. Die ihm sein Essen aus der Hand schlugen und dann auf den Boden deuteten: „Du bist ein Tier, also iss wie ein Tier!“ Die um ihn herumstanden und ihn im Chor verhöhnten. „Yottsu! Yottsu! Yottsu!“ Während ihm vor hilflosem Zorn Tränen die Sicht verschleierten und er in ohnmächtiger Wut die Hände zu Fäusten ballte. Aber er hielt den Kopf erhoben und den Rücken gerade, so wie Nanao-sensei ihm das beigebracht hat. Und er hat das Essen natürlich nicht vom Boden gegessen, niemals! Lieber hat er den ganzen Tag gehungert. Damals hat er noch die Kraft gehabt, standhaft zu bleiben.
 

Pascals Antwort holt ihn in die Gegenwart zurück: „Wenn du dich nicht selbst anziehst, dann tu ich es. Und dann hast du nicht die Wahl, welchen der Katzenschwänze du lieber haben willst.“

Die Drohung, die in den Worten mitschwingt, hilft Toshio, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Keiner der damaligen Kontrahenten ist anwesend, niemand, der um seine Herkunft weiß, nicht einmal ein Japaner. Nur die drei gaijin, die keine Ahnung haben, was es für ihn bedeutet, sich als Tier zu verkleiden. Und, soweit es Pascal betrifft, soll das auch besser so bleiben!

Manchmal muss man nachgeben, um standzuhalten, wiederholt er im Stillen einen seiner Leitsätze und vermeint schon wieder die tröstliche Anwesenheit der Hirschgestalt neben sich zu spüren. Er zwingt sich, das Kostüm genauer anzuschauen. Wenn dort eine Belohnung versteckt ist, dann ist es ratsam, sie auch zu finden.

Mit fest aufeinander gepressten Kiefern und noch immer zittrigen Händen setzt er sich widerwillig den Haarreif mit den spitz zulaufenden Ohren auf den Kopf. Die Armstulpen mit den Handpfötchen legt er zunächst beiseite. Darunter liegen große, tatzenförmige Füßlinge, wie diese lustigen Hausschuhe, die es in allen möglichen Varianten gibt. Toshio hat die noch nie gemocht.

Yottsu!

Pascal steht die ganze Zeit dicht bei ihm, er kann seine Blicke fast auf seiner Haut spüren und riecht seinen herben, männlichen Duft, der dezent sein Aftershave durchdringt.

Auch die Füßlinge lässt Toshio noch liegen und hebt nun mit klopfendem Herzen den Katzenschwanz in die Höhe. Unwillkürlich entweicht ihm ein gequältes Stöhnen bei der Aussicht, schon wieder den gerade erst hineingeschobenen Plug entfernen zu müssen, nur um einen neuen verpasst zu bekommen. Doch im selben Moment sieht er, was Pascal gemeint hat: Auf dem Bett liegt noch ein zweiter Schwanz, der über einen breiten Gürtel an der Taille befestigt wird. Darf er tatsächlich frei wählen? Pascal bestätigt seine unausgesprochene Frage mit einem gnädigen Nicken, und rasch, bevor es sich der Franzose wieder anders überlegen kann, schlingt sich Toshio das Teil um den Bauch. Er zieht die gestreiften Stulpen über die Unterschenkel, nötigt seinen Füßen die Tatzenhausschuhe auf und streift sich schließlich den ersten Armstulpen über. Bei dem zweiten muss Pascal ihm behilflich sein, denn seine Hände werden sofort nutzlos, sobald sie ihn den Pfötchen stecken.

Blöd. Er kommt sich total blöd vor.

Aber Pascal scheint zufrieden, hebt sein Kinn an, streicht mit dem Daumen über seine Wange, drückt ihm einen Kuss auf die Lippen. Sein Atem riecht etwas nach Rotwein, aber nicht unangenehm.

„Niedlich siehst du aus“, sagt Pascal. „Seltsam, dass ich nicht eher die Idee hatte ... Jetzt noch schön auf den Boden, und perfekt ist der kleine Kater.“

Toshio zögert nur kurz, kaut auf seiner Lippe, doch dann geht er gehorsam auf alle Viere. Manchmal muss man nachgeben ...

Es macht ja eigentlich keinen Unterschied, ob er mit Katzenpfoten auf dem Boden kniet oder ohne. Und doch ist es ein gewaltiger Unterschied! Obwohl der Raum gut temperiert ist und die Stulpen ihn zusätzlich wärmen, wird ihm innerlich ganz kalt.

„So ist brav, komm, miez-miez, na komm“, lockt ihn Pascal neckend, und widerstrebend rutscht Toshio ihm auf Händen und Knien hinterher. Dabei muss er acht geben, dass er die Tatzenschuhe nicht verliert. Der Schwanz baumelt an ihm herunter und streift weich seine nackten Oberschenkel.

Durchhalten!

Pascal redet irgendetwas mit Ricardo, wieder auf Französisch, sodass Toshio nichts verstehen kann. Ricardos Französisch klingt anders als Pascals, härter und nicht ganz so melodiös.

Toshio wagt nicht aufzusehen, zu sehr schämt er sich in dieser lächerlichen Verkleidung. Er erhascht einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel auf Myro, der das gleiche Kostüm, nur in anderen Farben, trägt. Er scheint damit nicht solche Probleme zu haben, aber er hat ja schon vorher wie ein junger Hund neben seinem Herrn gesessen. Ob ihm diese Art Spiele Spaß machen?

„Warte hier“, befiehlt Pascal und entfernt sich von ihm.

Toshio starrt auf die Pfoten, zu denen seine Hände geworden sind. Dies ist ein Alptraum in einem Alptraum. Ein Gefühl von Unwirklichkeit ergreift von ihm Besitz.

Kurz darauf ist Pascal wieder zurück und stellt einen kleinen silbernen Fressnapf in etwa einem Meter Abstand vor ihm auf den Boden.

Du bist ein Tier, also iss auch wie ein Tier ...

Pascal krault ihm den Nacken, eine Geste trügerischer Zärtlichkeit. Die nächste Grausamkeit lässt bestimmt nicht auf sich warten.

„Was macht ein Kater vor einem leeren Futternapf, Toshio?“

„Ich weiß nicht, Herr“, würgt Toshio hervor.

„Er maunzt.“

Toshios Arme beginnen zu zittern. „Ich bin aber kein Kater, Herr“, wispert er kläglich. Wenn er doch nur entkommen könnte!

Durchhalten ...

Die Finger in seinem Nacken hören mit den Liebkosungen auf und greifen in die Muskulatur.

„Im Moment schon. Komm schon, Toshio, spiel das Spielchen mit. Dann bekommst du auch deine Belohnung. Sag: Miau.“

„Nein, bitte ... Au!“ Der Druck auf seine Nackenmuskeln verstärkt sich.

„Fast“, sagt Pascal ungerührt. „Fehlt nur noch ein „M“ davor.“ Unbarmherzig drückt er zu.

„Aah! Hnnmm ... au ...“

„Na also, geht doch. Jetzt noch einmal, aber diesmal schöner.“

„... miau ...“

Nachgeben ...

Endlich löst sich der feste Griff um seinem Hals, und Toshio muss der Versuchung widerstehen, sich mit der Hand – mit der Pfote! – darüber zu reiben, um den Nachhall des Schmerzes zu vertreiben.

„Braver Kater“, lobt Pascal und wechselt erneut einige französische Worte mit Ricardo. Dann füllt er eine rote Flüssigkeit in den Futternapf. „Deine Belohnung“, sagt er zu Toshio. „Ich erinnere mich noch gut, was für ein kleiner Schluckspecht du früher gewesen bist. Also lass dir den Wein schmecken, mon chère.“

Toshio wird abwechselnd kalt und heiß, während ihm das fruchtig säuerliche Aroma des Weins in die Nase steigt.

Iss wie ein Tier. Yottsu! Yottsu!

„Komm, miez-miez, komm fein trinken, na komm ...“ Pascal spricht zu ihm wie zu einem Haustier. Er muss wissen, wie demütigend das für Toshio ist. Da dieser sich nicht überwinden kann und wie angefroren ist, fügt der Franzose, immer noch mit freundlicher, lockender Stimme hinzu: „Oder muss ich mein kleines Katerchen etwa zu seiner Belohnung zwingen?“ Irgendwie kommt plötzlich eine kurze Gerte in seine Hand, mit der er leicht auf den Boden schlägt. „Du hast die Wahl“, flötet er unschuldig.

Das Klopfen der Gerte löst Toshios Erstarrung. Er hat keine Lust auf Schläge, die er vermeiden kann. Die Freiheit des Menschen, kommt ihm wieder in den Sinn. Warum eine Strafe wählen, wenn er eine Belohnung haben kann? Und Pascal hat recht, er hat früher wirklich ganz gern mal ein Gläschen getrunken – das hat manches erträglicher gemacht, wenigstens kurzfristig. Das letzte Mal hat er Alkohol getrunken in dieser verhängnisvollen ersten Nacht mit Pascal. Ihn schaudert bei der Erinnerung an den teuren Champagner und wie der ihn geblendet hat, zusammen mit Pascals unübersehbarem Wohlstand und seinem zur Schau gestellten Charme.

“Für fünfzig blas ich dir einen. Für zweihundert mach ich alles“, hat er ihm damals gesagt. Wie bescheuert! Für zweihundert mach ich alles ... Wie unglaublich naiv kommen ihm diese Worte vor, jetzt, wo er weiß, was „alles“ bedeuten kann.

Ach, Scheiß drauf!

Er will seine Belohnung. Gehorsam kriecht er auf Pascal zu, schluckt seinen Stolz hinunter, beugt seinen Kopf über den Napf und trinkt. Köstlich rinnt der Wein durch seine Kehle und breitet sich warm in seinem Bauch aus. Er hat das Gefühl, schon der erste Schluck steigt ihm zu Kopf. Kein Wunder, er ist ja nichts mehr gewohnt, und dann auch noch auf nüchternen Magen!

„Hey, hey, nicht so hastig, mon petit!“

Mit der Gerte schiebt Pascal ihn ein Stückchen zurück. Anscheinend hat er nicht vor, die Belohnung in ein hemmungsloses Besäufnis ausarten zu lassen. Schade eigentlich. Toshio hat Lust, sich zu besaufen, aber so richtig! Am besten bis zur Besinnungslosigkeit. Er leckt sich einen Tropfen von der Lippe. Das Bild von seinem besoffenen Vater, der auf dem Sofa rumhängt, kommt ihm in den Sinn. Zum ersten Mal fragt er sich, was sein Vater wohl damit vergessen wollte. Hat er auch einst Stolz besessen, den er hinunter schlucken musste? Rotwein eignet sich gut dafür ...

Nach und nach darf er den Napf leeren. Bis auf den letzten Tropfen leckt er ihn aus. Dabei konzentriert er sich einzig auf die schreckliche Futterschüssel mit dem herrlichen Wein und Pascals machtvolle Präsenz, die sein Leben so maßgeblich prägt. Dass noch zwei weitere Personen im Raum sind, sucht er tunlichst zu verdrängen. Nur am Rande seines Bewusstseins streift ihn Ricardos tiefe Stimme, er kann nicht einmal sagen, mit wem er spricht oder in welcher Sprache. Von Myro bekommt er gar nichts mit.

Am Ende ist er schon so beschwipst, dass er seinen katzenbeohrten Kopf Pascals streichelnder Hand entgegen schiebt, mit einem erwartungsvollen „Mau!“ demonstrativ in den leeren Futternapf stiert und ihn mit der Pfote anschubst. Dabei muss er ein irres Kichern unterdrücken, dass sich in seiner Kehle sammelt und aus seinem Mund zu sprudeln droht. Die ganze Szene ist so lächerlich absurd! Und das Albernste daran ist noch, wie willig er jetzt mitspielen kann!

Leider spielt Pascal nicht weiter mit. „Nein, mon petit matou, das ist genug für dich“, bestimmt er und hakt eine dünne Leine in das Halsband ein. „Wir haben noch eine kleine Verabredung.“ Auffordernd zieht er an der Leine und setzt sich in Bewegung.

Toshio ist so benebelt, dass er einen Moment braucht, bis er merkt, was Pascal vorhat. Zu den ganzen Japanern? In diesem Aufzug? Unmöglich!

Ohne nachzudenken, bleibt er stehen, stemmt sich mit den Pfoten gegen den Leinenzug. „Ich geh da nicht raus, niema- au! Ah!“

Die Gerte klatscht ohne Vorwarnung auf seinen Po, mehrmals hintereinander. Der dünne Lackstoff des Rockes ist nicht in der Lage, die harten Schläge zu mildern. Da Toshio nicht nach hinten ausweichen kann, weil Pascal die Leine noch immer auf Zug hält, wählt er, ohne groß nachzudenken, die Flucht nach vorn. Er krabbelt zu Pascal hin, umschlingt seine Beine mit beiden Armen und legt die Stirn auf seine Schuhe.

„Bitte, verlang das nicht von mir, Pascal ... Herr! Ich tue alles, nur nicht das, bitte, ich kann das nicht, bitte, Herr, bitte nicht ...“
 

Pascal hält mit Schlagen inne, als Toshio sich an ihn klammert, und blickt unwirsch auf das wimmernde Häuflein Elend zu seinen Füßen. Was, bitte schön, ist jetzt das? Gerade eben war sein Sklave noch ein – relativ – williges Spielzeug, und nun zeigt er schon wieder totale Verweigerung. Ist der Rotwein doch keine gute Idee gewesen? Dabei hat es so gut angefangen, und Toshio hat die Belohnung sogar annehmen können. Es ist ja eigentlich auch ganz nett, wie er sich an seine Beine schmiegt, so unterwürfig ist Toshio selten.

Aber warum gerade jetzt, wo Pascal das gar nicht richtig genießen kann? Wo er ganz im Gegenteil seine Wut über die Verweigerung zügeln muss, um Toshio nicht grün und blau zu schlagen und damit alles noch viel schlimmer zu machen. Unmöglich kann er mit einem heulenden, unwilligen Sklaven in den Gemeinschaftsbereich zurück gehen. Selbst wenn echte Sklavenhalter unter sich sind, führt so etwas nicht selten zu leidigen Diskussionen, wie man sein Eigentum zu behandeln hat. Nicht auszudenken, was auf einer offenen Party wie dieser hier dann los wäre!

Sicherheitshalber legt er also die Gerte beiseite und zieht den aufgelösten Jungen hoch in eine feste Umarmung.

„Beruhige dich, Toshio“, sagt er streng und streicht dabei über den bebenden Rücken. Über Toshios Kopf hinweg wechselt er einen vielsagenden Blick mit Ricardo – das wird noch einen Moment brauchen, es ist besser, wenn der Südamerikaner mit seinem Kleinen schon einmal vorgeht. Schade, wirklich schade, dass sie die Jungen nicht gemeinsam vorführen können. Myro sieht herzallerliebst aus in dem Katzenkostüm.

Ricardo nickt ihm zu und führt sein Kätzchen hinaus, nicht ohne Toshio noch einen langen Blick zugeworfen zu haben. Pascal wartet, bis die Tür hinter ihnen geschlossen ist, dann fasst er Toshio rechts und links an den Schultern und schiebt ihn ein Stück von sich.

„Du reißt dich jetzt zusammen und gehst gleich mit mir da raus, auf allen Vieren als mein Kater, so wie ich es wünsche. Hast du das verstanden?“

„Bitte nicht ...“

Pascal schüttelt ihn, so heftig, dass seine Zähne aufeinander schlagen. Er packt ihn knapp unterhalb des Kiefers und zieht ihn hoch, bis seine Fußspitzen in den großen Tatzenschuhen kaum noch den Boden berühren, und bringt das Gesicht nah an seines heran.

„Jetzt hör mir gut zu, meine kleine Wildkatze. Wie du schon bemerkt haben solltest, ist mir scheißegal, was du möchtest oder nicht möchtest. Mein Wille geschehe, Amen. Und ich will gleich mit dir dieses Zimmer verlassen und zwar ohne, dass ich dich hinter mir her schleifen muss. Ist das klar?“

Seine Worte bleiben nicht ohne Wirkung. „Ja, Herr“, würgt der Junge nach kurzem Zaudern hervor.

Pascal lässt los, und Toshio sinkt vor ihm auf dem Boden zusammen, fasst sich mit einer Pfote an den Hals und ringt nach Luft. Noch immer flennt er, aber nicht mehr so hysterisch wie vorher. Gut.

„Ich komme gern ein andermal auf dein Angebot zurück, dass du alles für mich tust“, spottet er. „Nicht, dass du das nicht sowieso machen müsstest, aber so eine nette Einladung von dir lasse ich mir doch nicht entgehen ... Bien, aber jetzt sorgen wir dafür, dass du da draußen eine einigermaßen gute Figur machst, nicht wahr, chéri? Die anderen müssen ja nicht unbedingt sehen, was für eine Heulsuse du bist, oder?“

Noch während er spricht, lässt er Toshio kurz allein, um in dem Schrank mit den Utensilien nach passenden Hilfsmitteln zu suchen. Er denkt an die Katzenmasken und bedauert einen kleinen Moment, keine von ihnen mitgenommen zu haben. Aber er ist kein Mann, der sich lange mit solch nutzlosen Gefühlen aufhält. So wählt er eben eine schlichte schwarze Augenbinde, welche die verheulten Augen verbergen und weitere Tränen auffangen wird, und einen Trensenknebel, der ihm eine leichtere Führung des Sklaven ermöglicht und nebenher das Sprechen bis fast zur Unverständlichkeit erschwert.

Als er zu Toshio zurückkehrt, stellt er zufrieden fest, dass dieser sich – trotz oder gerade wegen seiner Schmährede - wieder einigermaßen gefasst hat. Hasserfüllt blitzen die dunklen Augen ihn an, bevor der Kopf wieder gesenkt wird.

Sehr gut. Noch immer lodert die Wut in Toshio stark genug, um Verzweiflung und Hysterie zu vertreiben, wenn es Pascal gelingt, sie zu entfachen. Der Japaner scheint eine ganze Menge davon zu besitzen, und sie stellt einen schier unerschöpflichen Vorrat an Kraft für ihn dar. Sollte die Wut als solche ihn nicht in den Wahnsinn treiben, ist sie ein guter Schutz vor demselben.

Die Wut und das Tanzen, diese beiden Dinge halten Toshios Seele am Leben, machen ihn zu dem besonderen Sklaven, der er ist. Pascal wird den Teufel tun, ihm diese zwei lebensnotwendigen Stützen zu nehmen.

Er baut sich vor dem am Boden kauernden Jungen auf. „Wirst du jetzt wieder gehorsam sein?“

„Ja, Herr.“

Pascal seufzt hörbar und schüttelt den Kopf dabei. „Du hättest es leichter haben können. Jetzt muss ich dir einen Knebel verpassen.“

„Ja, Herr. Verzeihung, Herr.“

Ohne weitere Gegenwehr kann Pascal ihm den Knebel und die Augenbinde anlegen. Er löst die Leine von dem Halsband und befestigt statt dessen einen schmalen Zügel an den beiden Metallringen, die seitlich an der dicken Gummistange, die nun Toshios Kiefer spreizt, angebracht sind. Mühelos kann er so den Kopf des Jungen in alle gewünschten Richtungen dirigieren. Eine Trense passt zwar nicht wirklich zu dem Catboy-Kostüm, aber sie erfüllt ihren Zweck.

Was hat Toshio nur schon wieder zu diesem Ausbruch von Widerspenstigkeit veranlasst? Er hatte sich doch in das Katzenspiel schon einigermaßen gefügt gehabt. Warum benimmt er sich nur so merkwürdig auf dieser Party? Pascal erinnert sich an seine Vermutung, dass Toshio auf irgendeine unerklärliche Art mit seinen Landsleuten nicht zurecht kommt. Das kann die Erklärung sein. Vor Ricardo und Myro hat er sich noch überwinden können, als Kater aufzutreten, vor japanischem Publikum scheint es ihm ungleich schwerer zu fallen.

“Ich lasse mir von denen hier nichts mehr gefallen“, hat Toshio vorhin gesagt nach dem Spiel mit Takamura. Pascal kann sich gut vorstellen, dass sein kleiner sturer Wildfang mit dem streng hierarchischen Gesellschaftssystem seines Heimatlandes nicht gut zurecht gekommen ist. Anscheinend hat er sich genug von seinem Hochmut bewahrt, um sich vor anderen Japanern noch weniger devot zeigen zu wollen als er das ohnehin tat.

Japan ist ein stolzes Volk. Pascal wundert sich, dass er nicht eher daran gedacht hat, welche besondere Schmach es für Toshio bedeuten kann, als Sklave in seine Heimat zurückzukehren. Was weiß Pascal als Europäer schon wirklich von der japanischen Mentalität? Noch im zweiten Weltkrieg haben sich Japaner lieber das Leben genommen, als in Gefangenschaft zu gehen. Auf ausländische Kriegsgefangene haben sie verachtend herabgeblickt.

Nicht, dass solche Überlegungen, früher vorgenommen, irgendetwas an Pascals Vorgehensweise geändert hätten. Der Aufenthalt in Japan und die Teilnahme an einer öffentlichen SM-Party sind lediglich eine weitere, besondere Lektion in Demut für seinen Lustknaben. Dennoch beschließt er, dass Toshio ein wenig Aufmunterung gut tun wird. Er dirigiert ihn zurück auf Hände und Knie und legt ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Deutlich spürt er die Anspannung, unter der sein Junge steht. Der Kiefermuskel arbeitet und zeigt, wie sehr Toshio die Zähne zusammenbeißt, wie viel Überwindung dieses kleine Spiel ihn kostet.

„Das Schlimmste hast du für heute doch schon überstanden“, sagt Pascal sanft, obwohl er da selbst gar nicht so sicher ist. Toshio leidet sehr unter den Schmerzen, die ihm zugefügt werden. Allerdings scheint die Unterwürfigkeit, die ihm abverlangt wird, ihm noch wesentlich mehr zuzusetzen.

Hakujiro steht nicht auf die harte Tour, er ist ein eher gutmütiger Herr, kein Sadist. Aber er ist Japaner, und es kann sein, dass es für Toshio schlimmer ist, ihm (mehr oder weniger) willig zu Diensten zu sein, als einfach nur den Hintern versohlt zu bekommen. Vielleicht soll Pascal seinen Freund bitten, lediglich eine kleine Bondage-Session vorzunehmen.

„Wenn wir jetzt gleich diesen Raum verlassen, dann denk daran, dass Katzen edle Tiere sind, die sich keinem Herrn unterwerfen. Das müsste dir doch eigentlich gefallen.“ Er kann nicht erkennen, ob seine Worte für Toshio ein Trost sind, jedenfalls reagiert er nicht sichtbar darauf. Als Pascal sich in Bewegung setzt, folgt er ihm ohne Widerstand.

Pascal hält die Zügel kurz, sodass Toshio den Kopf aufrecht halten muss. Die schwarzen, herzförmigen Ohren ragen hübsch nach oben. Der lange Schwanz pendelt grazil an den Beinen entlang, wenn das Becken bei jedem Schritt seitlich vor und zurück schwingt. Pascal geht langsam, denn er weiß um die natürliche Anmut von Toshios Bewegungen, wenn man ihm den Raum dafür lässt. Der Junge setzt die Pfoten bedächtig, aber nicht zögernd und ängstlich. So viel Vertrauen hat er inzwischen, zu wissen, dass sein Herr ihn nicht einfach blind irgendwo gegen stoßen lässt, wenn er ihn führt. Pascals Quälereien sehen anders aus.
 

Im Gemeinschaftsbereich angekommen genießt er die bewundernden Blicke, die sich seinem Sklaven zuwenden. Und dann vibriert auf einmal der Boden unter seinen Füßen.

Im ersten Moment glaubt er, dass es sich um eine persönliche Missempfindung handelt, doch dann bemerkt er das Klirren der Gläser an der Bar, und auch die Deckenlampen wackeln in ihren Halterungen. Er erstarrt. Ein Erdbeben!

Das ganze Gebäude gerät ins Schwanken, und Pascal muss seine aufsteigende Panik unterdrücken, die in ihm den unwiderstehlichen Drang auslöst, sich entweder auf den Boden zu werfen oder das Hochhaus fluchtartig zu verlassen, am besten beides zugleich. Er kann sich gerade noch vor einer Blamage bewahren, weil ihm zum Glück rechtzeitig auffällt, dass die Japaner nicht einmal ihre Gespräche unterbrechen. Auch Toshio bleibt ganz ruhig neben ihm stehen.

Pascal zwingt seine Gedanken auf eine rationale Ebene, damit sich sein Herzschlag wieder beruhigen kann. Erdstöße gehören in diesem Land zum Alltag. Kleinere Beben wie dieses bringen hier niemanden aus der Fassung. Unter Japan treffen vier Erdplatten aufeinander, von daher sind tektonische Plattenbewegungen keine Seltenheit. Erdbeben formen das Land seit Jahrmillionen und gleichzeitig prägen sie die Menschen, die es bewohnen. Einmal mehr denkt er, wie fremd ihm die hiesige Mentalität ist und immer sein wird. Was weiß er schon wirklich von seinem jungen Sklaven und wie es in ihm aussieht?
 

Hakujiro nickt ihm zu und leert noch schnell mit einem Zug sein Weinglas, bevor er sich von seinen Freunden verabschiedet und an Pascal herantritt.

„Niemand beherrscht es wie du, sich einen dramatischen Auftritt zu verschaffen, mein Freund“, sagt er lachend. „Wenn du den Saal betrittst, erzittert das ganze Gebäude.“

„Kannst du mal sehen“, lächelt Pascal. „Das muss mir erst mal jemand nachmachen.“

„Und auch die Wahl deines Haustieres ... wirklich süß!“ Hakujiro krault das schwarze Haar zwischen den Katzenohren. „Er schnurrt sogar!“

Pascal lässt diese Aussage unkommentiert, obwohl er sicher ist, dass Toshio gerade eher ein leises Knurren von sich gibt. Er registriert auch, wie sein getigerter Kater wieder vor wachsender Anspannung zu zittern beginnt. Sicherheitshalber nimmt er die Zügel etwas fester.

„Spielen wir öffentlich?“ fragt Hakujiro.

Pascal schüttelt den Kopf. „Besser nicht.“

„Na gut.“ Hakujiro ist nicht enttäuscht. „Dann lass uns mal sehen, welcher Raum frei ist.“

Jetzt folgt Toshio schon nicht mehr ganz so willig. Pascal muss ihn energisch hinter sich her ziehen. Das ist zwar der Eleganz seiner Bewegungen abträglich, aber wenigstens ist der Widerstand noch nicht so groß, dass der Junge über den Boden geschleift werden muss.

Obwohl es schon so spät ist, sind die meisten Separees noch belegt. Pascal hat keine Lust, in denselben Raum zu gehen, aus dem er gerade gekommen ist, und so landen sie in einem relativ kleinem Spielzimmer, in dessen Mittelpunkt ein prachtvoller Thron aus schwarz und golden lackiertem Holz steht. Als einziges sonstiges Spielgerät dienen ein paar Ösen an der Wand, an denen ein paar silberne Ketten einladend befestigt sind. Zum Glück hat das Beben der Erde schon wieder aufgehört, die Fesseln hängen ganz ruhig.

„Sitz!“ Pascal drückt Toshio in den Fersensitz, die Hände bleiben vor ihm auf dem Boden, und nimmt ihm Knebel und Augenbinde ab, während Hakujiro die zwei Stufen zu dem Thron hinaufsteigt und dort Platz nimmt.

Toshios Augen sind wider Erwarten trocken, sein Gesicht ist bleich und starr wie eine Maske.

„Du wirst Herrn Hakujiro zu Diensten sein und tun, was er dir sagt“, befiehlt Pascal.

„Ja, Herr.“

Trotz dieser Zusage muss Pascal ihn ein wenig anschubsen, nachdem Hakujiro Toshio zu sich zitiert. Langsam kriecht der Junge auf den Thron zu; jeder zögernde kleine Schritt vorwärts zeigt sichtbar seinen Widerwillen. Pascal ist auf der Hut und bereit, jederzeit einzugreifen, falls Toshios Unwille sich zu massivem Widerstand steigert.

Auf das, was dann allerdings geschieht, ist er nicht vorbereitet.
 

Selbstgefällig lehnt Hakujiro in dem Herrschersitz. Toshio krabbelt bis kurz vor ihn hin und verharrt schließlich unsicher in angespannter Haltung.

„Komm näher, Sklave“, sagt Hakujiro. „Komm und leck mir die Schuhe. Wenn du brav bist, wird dir nichts geschehen, Junge.“

Toshio zögert und wendet den Blick Pascal zu. Sein Gesicht ist jetzt nicht mehr ausdruckslos; Verzweiflung liegt in seinen Augen, hilfesuchend und flehend sieht er Pascal an. Ich will das nicht, spricht jede Faser seines Körpers.

Gehorche, formen Pascals Lippen tonlos. Drohend hebt er die Hand – wenn es sein muss, wird er den Jungen windelweich prügeln, damit er tut, wie ihm geheißen.

Toshio sieht die Unerbittlichkeit und senkt die Lider. Unendlich langsam dreht er sich zurück zu Hakujiro und kriecht die zwei Stufen zum Thron hinauf. Er neigt den Kopf und leckt über das schwarze glänzende Leder der Schuhe. Ein würgender Laut entweicht seiner Kehle, aber er macht trotzdem weiter.

Pascal und Hakujiro wechseln einen zufriedenen Blick. Pascal sucht sich einen Platz auf einem der kleinen Sessel am Rand, von wo aus er die Szene gut im Auge hat, und Hakujiro lässt Toshio noch eine ganze Weile weiter an seinen Schuhen schlecken, bevor er ihm erlaubt, wieder damit aufzuhören. Toshio zittert inzwischen deutlich sichtbar, und ein dünner Schweißfilm bedeckt seine Haut. Zeichen genug für den japanischen Herrn, ihm eine Pause zu gönnen, auch wenn er nicht versteht, was genau dem jungen Sklaven so zusetzt. Die Furcht vor dem Kommenden, mutmaßt er und redet beruhigend auf Toshio ein.

„Das hast du gut gemacht, kleiner Kater“, lobt er. „Komm her, leg deine Pfötchen hier auf meine Beine. Ich tu dir nicht weh, hab keine Angst. Braves Kätzchen.“

Toshio richtet sich auf und legt seine bepfoteten Hände auf Hakujiros Oberschenkel und lässt sich den Nacken kraulen. Seine Lippen sind fest zusammengepresst, sein Blick geht ins Leere. Er weiß, von Pascal ist keine Unterstützung zu erwarten. Und genauso weiß er, dass er das, was Hakujiro als nächstes verlangt, unmöglich tun kann.

Der nämlich nestelt an seiner Hose herum, öffnet den Reißverschluss und holt sein Geschlecht hervor.

„Und nun leck mich“, fordert er heiser. „Leck mich bis ich komme, kleiner Kater.“
 

Gebannt beugt sich Pascal in seinem Sessel ein wenig vor. Damit hat er, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. Es ist ihm zwar bekannt, dass Hakujiro bisexuell ist, allerdings mit deutlich ausgeprägterer Neigung zum weiblichen Geschlecht hin. Pascal kann sich nicht erinnern, ihn jemals in sexueller Aktion mit einem männlichen Sklaven gesehen zu haben. Liegt es am Alkohol? Vielleicht. Wahrscheinlich in Kombination mit Toshios androgynem Aussehen, verstärkt noch durch den Minirock, den er heute trägt.

Selbst aus der Entfernung sieht er, wie Toshio sich versteift. Hakujiro muss seinen Befehl mit Nachdruck wiederholen. Pascal ist nicht überrascht, dass sein Sklave sich weigert. Aber Toshio scheint nicht nur ein einfaches Nein formuliert zu haben. Hakujiro wird mit einem Mal kreidebleich und zieht vor Überraschung die Augenbrauen hoch.

Nani?“ fragt er ungläubig. „Sag das noch einmal!“

Toshio wiederholt seinen Satz mit zittriger Stimme, aber laut und deutlich. Nur leider in japanischer Sprache, sodass Pascal kein Wort versteht.

Hakujiro versteht ihn dafür umso besser, und sein Gesicht verzerrt sich zu einer Fratze aus Wut und Abscheu. Bei allen Heiligen, was hat Toshio zu ihm gesagt? Pascal springt auf, aber es ist zu spät. Hakujiro brüllt irgendetwas auf Japanisch und tritt Toshio so fest mit dem Fuß von sich, dass der Junge die zwei Stufen hinunter fliegt und sich auf dem Boden einmal überschlägt. Die Katzenohren und eine der Fußtatzen gehen ihm dabei verloren. Toshio schreit auf, vor Schreck und vor Schmerz, und dann ist Pascal auch schon bei ihm, und Toshio kriecht auf allen Vieren zu ihm und bringt sich hinter seinen Beinen in Sicherheit.

Und das nicht ohne Grund, denn Hakujiro, der vor Wut tobt, streift angeekelt seine Schuhe ab und wirft sie ihm hinterher. Einer fliegt zu weit nach rechts, der andere trifft Pascal, der ja inzwischen vor Toshio steht, am Bein.

„Spinnst du? Was soll das?“ Auch Pascal wird jetzt wütend, so geht man nicht mit seinem Eigentum um. Ganz davon abgesehen, dass der Schuh ihn empfindlich am Schienbein getroffen hat!

„Bring dieses ...“ Hakujiro ringt nach dem richtigen Wort und fuchtelt mit dem Arm in Toshios Richtung. „... dieses Vieh hier weg, sofort!“

Er sieht reichlich lächerlich aus, wie er da vor dem Thron steht: ohne Schuhe und mit offenem Hosenstall, aus dem sein schlaffer Penis hängt. Aber Pascal ist gerade überhaupt nicht nach Lachen zumute.

„Was?“ fragt er irritiert. „Warum denn? Was ist denn los?“

„Das verstehst du als gaijin sowieso nicht!“ Hakujiro richtet seine Hose und strafft seine Gestalt. Er wirkt mit einem Mal völlig ernüchtert. Aber noch immer bebt seine Stimme, auch wenn er jetzt bemüht ruhig weiter spricht: „Du bist weiterhin mein Gast, Pascal-san. Aber sorge dafür, dass dieses Individuum mir nicht mehr unter die Augen kommt! Und jetzt schaff ihn hier fort, auf der Stelle!“

Und damit rauscht er davon und knallt die Tür hinter sich zu.
 

Einen langen Augenblick herrscht Stille. Nur Toshios unregelmäßige Atemzüge sind zu hören.

Pascal holt tief Luft und lässt sie langsam wieder entweichen. Er wendet sich seinem Sklaven zu, der unverändert auf dem Boden kauert, die Arme mit den Pfotenstulpen ängstlich über den Kopf gelegt. Hilflos. Schutzbedürftig. Es stimmt Pascal milde, dass er sich hinter ihm verkrochen hat. Außerdem richtet sich im Moment sein Ärger gegen Hakujiro, der ihn herumkommandiert und dann stehen gelassen hat wie einen seiner Untergebenen. Nie wieder, schwört sich Pascal, wird er einen angetrunken Meister mit seinem Sklaven spielen lassen. Egal, womit der Sklave einen Herrn provoziert, niemals darf der Herr während des Spiels die Kontrolle dermaßen über sich verlieren, dass der Sklave zu Schaden kommen kann – zumindest, wenn der Sklave einem nicht selbst gehört und keine Erlaubnis vorliegt.

„Was hast du ihm gesagt?“ fragt Pascal das zittrige Bündel zu seinen Füßen.

Er muss die Frage wiederholen, bevor er eine Antwort bekommt. Toshio wirkt wie unter Schock.

„Nichts ...“ antwortet er verzagt.

„Toshio, verkauf mich nicht für dumm. Und nimm die Arme runter, ich tu dir ja nichts. Also?“

„Ich habe ihm gesagt, dass ich Eta bin.“ Toshios Stimme ist so leise, dass er kaum zu verstehen ist, und er hält die Pfötchen jetzt vor die Brust gezogen.

„Dass du was bist?“

„Eta, Herr.“

„Eta?“

„Ja, Herr.“

„Und was ist das?“

„Das sind Beschmutzte, Herr.“

„Beschmutzte? Erklär mir das.“

„Wir sind Burakumin, Leute aus speziellen Dörfern. Verfemte, Rechtlose. Meine Vorfahren wurden verachtet, weil sie in religiös unreinen Berufen tätig waren. Weil sie Kontakt zu Fleisch, Blut und Tod hatten. Damit sich die feinen Herren ihre Hände nicht schmutzig machen mussten. Und als Dank dafür wurden wir aus der Gesellschaft ausgestoßen.“ Er spricht ohne Modulation, ohne erkennbare Emotion, wie auswendig gelernt.

„Davon habe ich noch nie gehört. Das muss doch schon ewig her sein.“

„Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts sind eigentlich alle Japaner gleichgestellt. Aber wie bei George Orwell sind manche Japaner eben gleicher als andere ... Viele Unternehmen stellen keine Buraku ein, es gibt geheime Listen ... Viele Menschen wollen mit uns nichts zu tun haben ... So wie er gerade eben ...“ Mit einer fahrigen Geste wischt Toshio sich über die Augen. Er zittert noch immer am ganzen Körper.

„Hast du deswegen dein Glück in Europa versucht?“ fragt Pascal neugierig.

„Ja. Ich wollte das alles hinter mir lassen.“

„Und dann kam ich.“

„Ja. Dann kamst du.“

Sie schweigen einen Moment. Schließlich hebt Pascal ihn hoch und schlingt die muskulösen Arme um den schmalen Körper.

„Und ich bin froh, dass ich dich habe“, sagt er und spürt, wie ein Schaudern durch Toshios Körper geht, obgleich der junge Mann sich an ihn schmiegt. Pascal schmunzelt. „Ja, ich weiß, dass wir unterschiedlicher Meinung darüber sind.“

Er führt Toshio zu dem Sessel an der Wand und setzt ihn hinein. Er streicht ihm durch das bleiche Gesicht.

„Bist du verletzt?“ fragt er besorgt.

Hakujiro hat ganz schön fest zugetreten, und nicht vergessen ist auch der Sturz die zwei Stufen hinunter. Erneut lodert Zorn in Pascal auf, erstaunlicherweise immer noch nur gegen Hakujiro. Toshio hat getan, was in seiner Lage nur logisch ist: Er wollte nicht tun, was verlangt wurde und wusste sich nicht anders zu helfen. Pascal hätte besser acht geben müssen, und er hätte nicht gestatten dürfen, dass ein Betrunkener mit Toshio spielt – er weiß schließlich besser als jeder sonst, wie unberechenbar sein Sklave ist und wie nervenaufreibend provozierend er sein kann! Aber dass jemand anders als er selbst ihm unkontrolliert weh tut, erregt nicht nur seine Empörung, sondern weckt auch eine Art Beschützerinstinkt in ihm, der ihm neu ist.

Toshio schüttelt den Kopf, Pascal untersucht ihn trotzdem. Nur um sicher zu gehen. Er findet eine Beule am Hinterkopf, eine Hautabschürfung am Ellenbogen, und die Rippen sind wohl leicht geprellt, dort, wo Hakujiro ihn getroffen hat. Fast apathisch lässt Toshio alles über sich ergehen. Die seelische Verletzung scheint gravierender zu sein als die äußerlichen Blessuren. Pascal kann nur eine Ahnung davon haben, wie alt und tief die Wunde sein muss, die jetzt wieder aufgebrochen ist – und in der auch er mit seiner Sklavenerziehung immer wieder herum gebohrt haben muss. Er erinnert sich noch gut daran, wie vehement sich Toshio anfangs geweigert hat, zu knien, und dass er fast gestorben wäre, nur um sich nicht für seine erste Lektion zu bedanken. Wie viel Diskriminierung mag Toshio in seiner Jugend erfahren haben?

Immerhin kann Pascal seine Allüren jetzt besser verstehen, wo er ein wenig mehr von seiner Herkunft weiß. Also hat Toshios Verhalten an diesem Abend tatsächlich mit der Sprache und den Menschen hier zu tun – das muss eine Menge unliebsamer Erinnerungen wach gerufen haben. Das Thema mit der verachteten Gesellschaftsschicht in Japan ist Pascal vollkommen unbekannt, und er nimmt sich vor, sich demnächst noch eingehender darüber zu informieren.

Doch zunächst ist erst einmal Toshio wichtig, und dass er ihn möglichst schonend hier heraus und in sein Apartment zurück bringt. Der Junge hat eindeutig genug für heute. Mit hängenden Schultern sitzt er da, alle Kraft scheint ihn verlassen zu haben. Er braucht dringend eine Pause.

Pascal hebt den Tatzenschuh und den Haarreif mit den Ohren vom Boden auf. Reglos lässt Toshio zu, dass ihm beides wieder angezogen wird. Pascal befestigt die Zügel an dem Halsband.

„Ich möchte, dass du hoch erhobenen Hauptes mit mir hinaus gehst“, sagt Pascal mit fester Stimme. „Du wirst Hakujiro nicht den Gefallen tun und gebrochen an ihm vorbei schleichen, hast du verstanden?“

Toshio schaut ihn mit großen Augen an. „Ja, Herr.“

Er braucht noch eine Weile, bis er sich soweit gefangen hat, dass sie gehen können. Pascal zieht ihn in den Stand, lässt ihn den Rücken aufrichten und massiert ihm die verspannten Schultern.

Als sie den Raum endlich verlassen, führt er Toshio zwar an der Leine, aber er geht aufrecht neben ihm her, und in seiner Miene zeigt sich der alte hochnäsige Ausdruck, der Pascal schon damals im Spotlight an ihm aufgefallen ist.

„So ist`s gut, Toshio. Hervorragend machst du das“, raunt Pascal ihm zu.

Er verabschiedet sich noch schnell von seinen guten Bekannten, viele findet er sowieso nicht mehr in der Lounge. Die meisten sind schon gegangen oder noch in den Separees verschwunden. Von Hakujiro ist nichts zu sehen, er sei auf der Terrasse, wird Pascal informiert. Anscheinend möchte er ihm jetzt nicht mehr begegnen. Pascal ist das nur recht.

Toshio bewahrt Haltung, bis sie beim Auto angekommen sind. Während Pascal ihm die Hände zusammenbindet, sackt er wieder in sich zusammen. Pascal erlaubt ihm, sich auf den Rücksitz zu legen und holt eine Decke aus dem Kofferraum, die er sorgsam über dem Jungen ausbreitet. Da hat Toshio die Augen schon geschlossen.
 

Es ist nicht weit bis zu Kondo Hakujiros Anwesen.

So streng Pascal seinen Sklaven am ersten Abend behandelt hat, so liebevoll umsorgt er ihn nun. Er löst alle seine Fesseln und entkleidet erst ihn und danach sich. Gemeinsam duscht er mit ihm und entfernt behutsam den Plug. Toshio lässt alles stumm geschehen, nur ab und zu stöhnt er leise, wenn Pascal ihm trotz aller Vorsicht weh tut. Nachdem er ihn abgetrocknet hat, versorgt Pascal noch seinen wunden Schließmuskel mit kühlender Heilsalbe.

Diese Nacht darf Toshio mit ihm im Bett schlafen. Pascal hält ihn fest im Arm und streichelt über seine samtweiche Haut, bis er merkt, wie Toshio sich langsam entspannt. Erst dann lässt er sich in den Schlaf gleiten.

Am nächsten Morgen ist die Betthälfte neben ihm leer. Ein kurzer Blick zur Seite zeigt ihm, dass Toshio friedlich zusammengerollt in dem Körbchen neben dem Bett liegt.

„Habe ich dir etwa erlaubt, aufzustehen?“ fragt Pascal noch schläfrig und wischt sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Komm her hier, ich will kuscheln.“

Sofort springt Toshio auf, bleibt allerdings zögernd vor dem Bett stehen.

Was für ein herrlicher Anblick direkt nach dem Aufwachen, denkt Pascal. Von Anfang an hat ihm gefallen, dass Toshio nie schamhaft seine Nacktheit zu verdecken sucht – er bewegt sich nackt mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie angezogen. Und warum auch nicht. Sein Körper ist schön von Kopf bis Fuß. An dem jungen Mann ist kein Gramm Fett zu erkennen, statt dessen zeichnen sich die schlanken Muskeln unter der Haut ab. Es ist ihm unverständlich, wie Hakujiro den gleichen Mann mit soviel Abscheu im Gesicht ansehen konnte.

„Was ist, worauf wartest du?“ drängt er ungeduldig.

„Ich ... Bitte, Herr, ich muss pinkeln. Darf ich, bitte ...?“

„Na gut“, brummt Pascal. „Aber beeil dich.“

„Ja, Herr. Danke, Herr.“

Artig lässt Toshio die Tür zum Bad offen und ist auch sogleich wieder da, um zu seinem Herrn unter die Decke zu kriechen. Verkrampft liegt er in Pascals Arm, bis er merkt, dass dieser tatsächlich nur vor dem Aufstehen noch ein wenig schmusen will. Pascal weiß, wie anstrengend die letzte Nacht für seinen Sklaven gewesen und wie wichtig jetzt eine Pause ist.

Deswegen gestattet er ihm später auch, den Hausanzug anzuziehen: eine weite Hose, die oberhalb der Knöchel endet und ein enges kurzärmeliges Oberteil, das den Bauchnabel frei lässt, beides aus schwarzem Satin. Auch darin ist Toshio ein wahrer Augenschmaus, und gleichzeitig ist es für ihn ein Zeichen, dass Pascal nicht zu spielen beabsichtigt und kann sich von daher ein wenig entspannen.

Pascal wirft sich den Yukata über, der für ihn bereit liegt und beordert per Haustelefon das Frühstück, welches Paolo kurz darauf bringt.

Der junge Spanier schiebt einen Servierwagen in das Zimmer und deckt den Tisch mit einem japanischen Frühstück, bestehend aus mehreren Schüsseln mit eingelegtem Gemüse, geröstetem Fleisch, Reis und Misosuppe. Dabei wagt er kaum den Blick zu heben. Toshio kniet auf den Tatami-Matten neben Pascal, und am Ende nimmt Paolo zwei Näpfe unter einem rund gewölbten Deckel hervor und stellt sie zu dem jungen Sklaven auf den Fußboden.

Ein unangenehmer, aber merkwürdig bekannter Geruch steigt Pascal in die Nase, und ein kurzer Blick nach unten zeigt ihm die Herkunft desselben. In einem von Toshios Näpfen sind kleine runde bräunliche Kügelchen, und das andere, aus dem auch der Gestank aufsteigt, enthält eine Art matschiges Gulasch. Toshio sitzt wie versteinert und starrt auf das, was er offenbar essen soll.

„Hey, Paolo! Was ist das da?“ Pascal erwischt mit seinem Zuruf den Spanier gerade noch, bevor der aus der Tür huschen kann. Er deutet auf die zwei Näpfe.

Sichtlich verlegen bleibt Paolo stehen und knetet seine Finger. „Das ist Katzenfutter, Herr“, antwortet er nervös.

„Das soll ein schlechter Witz sein, oder?“ fragt Pascal ohne jeden Humor.

„Nein, äh ... tut mir leid, Herr, aber Master Kondo hat das angeordnet.“ Paolo zieht den Kopf zwischen die Schultern, als würde er Schläge erwarten. „Er sagt, das sei das richtige Essen für den Eta.“

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ explodiert Pascal und haut mit der Faust auf den Tisch, dass die Suppe überschwappt und beide Sklaven zusammenzucken. „Jetzt hat er komplett den Verstand verloren! Na, warte ... Ich werde das klären! Du wirst das nicht essen, Toshio.“ Er steht auf und schiebt mit dem Fuß die Näpfe zur Seite. „Und du, Paolo, nimm diesen Fraß wieder mit! Wo finde ich Kondo-san?“

„In seinem Arbeitszimmer, Herr. Aber ...“

Aber da ist Pascal schon an ihm vorbei.
 

Das folgende Gespräch zwischen Hakujiro und ihm verläuft unerfreulich und stellt ihre langjährige Freundschaft auf eine harte Probe. Der Japaner bleibt uneinsichtig und beharrt auf seinem Standpunkt, dass ein Eta (und er spricht das Wort aus, als hätte er einen vergammelten Fisch im Mund) ein Tier sei und von daher in seinem Hause die einem Eta angemessene Nahrung erhalte. Das Katzenfutter sei von erstklassiger Qualität, und wenn Pascal der Geruch störe, so könne er sich ja auf das Trockenfutter beschränken.

„Toshio ist ein Sklave, aber er ist immer noch ein Mensch, und Katzenfutter ist keinesfalls angemessene Nahrung für ihn!“ stellt Pascal klar.

„Wie du ihn behandelst, ist deine Sache“, gibt Hakujiro zurück. „In meinem Haus jedenfalls bleibt er Eta und wird auch so behandelt und damit Ende der Diskussion. Du bist Ausländer, du kannst das nicht verstehen. Du bist auf sein hübsches Aussehen hereingefallen, aber in seinem Inneren ist er Schmutz. Glaube mir, er wird dir noch viel Unglück bringen. Er ist unrein. Natürlich kannst du mit ihm bleiben, du bist mein Gast. Aber bringe ihn in Zukunft nicht wieder mit her, er beschmutzt mein Haus. Ich verzeihe dir deine Unkenntnis, denn du konntest das nicht wissen.“

„Nein“, entgegnet Pascal. „Das konnte ich nicht wissen. Und du hast vollkommen recht: Ich verstehe es auch nicht.“

Damit beendet er das Gespräch, denn er weiß, wann er mit rationalen Argumenten nicht weiter kommt. Er ist mit dem Phänomen Rassismus vertraut, immerhin ist er damit aufgewachsen. Ungewöhnlich ist nur, dass Toshio nicht einmal einer anderen Rasse angehört – er ist schließlich Japaner wie Hakujiro selbst auch.

Nachdenklich geht er zurück zu seinem Quartier. Was soll er jetzt tun? Er kann natürlich Toshio tagsüber wie geplant unter Hakujiros Obhut lassen. Aber Pascal hat sich das anders vorgestellt, er ist davon ausgegangen, dass sein Sklave hier gut untergebracht sei. Das ist nun jedoch offensichtlich nicht der Fall. Und gerade nach der letzten Nacht hat er Toshio eigentlich ein wenig Erholung gönnen wollen, keine weiteren Schikanen.

Es ist ja nicht so, dass Pascal seine Sklaven noch nie irgendetwas Ekliges, sei es Tiernahrung oder sogar Fäkalien, hat essen lassen. Aber wenn, dann war es stets gezielte Erniedrigung als Teil der Erziehung oder einer Strafe. Ansonsten achtet er auf eine zwar einfache, aber ausgewogene und gesunde Kost, schließlich müssen die Sklaven leistungsfähig bleiben. Und das gilt nicht nur für seine Lustsklaven, denen er immerhin körperlich einiges abverlangt, sondern genauso für die Laborsklaven - es sei denn, einseitiges oder ungesundes (oder gar kein) Essen ist Bestandteil des jeweiligen Versuches.
 

Toshio hockt noch genauso am Boden, wie Pascal ihn zurück gelassen hat. Sein Körper zittert, und er zieht den Kopf ein, als Pascal den Raum betritt. Der geht zunächst scheinbar achtlos an ihm vorbei, setzt sich an den Tisch und beginnt ohne großen Appetit zu frühstücken. Dabei kreisen seine Gedanken weiterhin um die unvorhergesehene Komplikation.

Selbst wenn sich Pascal in einem Land aufhalten würde, in dem er die Sprache beherrscht, wäre es schwierig, kurzfristig eine geeignete Unterkunft für seinen aufmüpfigen Sklaven zu finden. In Tokyo wahrscheinlich generell schwierig; und zu weit außerhalb darf es auch nicht sein, da sonst der Anfahrtsweg zu weit wird.

Einmal angenommen, er fände ein Hotel oder Apartmenthaus im Stadtgebiet, in dem er absolute Diskretion erwarten darf, dann muss Toshio dennoch die meiste Zeit gut gesichert (gefesselt und geknebelt) allein verbringen. Die Wände in japanischen Häusern sind dünn und hellhörig. Da Pascal davon ausgegangen ist, dass er seinen Aufenthalt wie immer bei Hakujiro verbringen wird, hat er jetzt kein geeignetes Personal für die Betreuung seines unberechenbaren Leibsklaven dabei. Und je öffentlicher das Gebäude wäre, desto dichter muss der Knebel sein, was wiederum die Erstickungsgefahr um ein Vielfaches erhöht.

Anfangs hat er zwar Toshio diesem Risiko ausgesetzt, aber da hat das mit zu seinem Erziehungsprogramm gehört. Im Moment jedoch möchte Pascal den Jungen auf keinen Fall verlieren. Ganz davon abgesehen, dass er ihn lebend haben will, wäre es für ihn in diesem fremden Land auch ungleich schwerer, wenn nicht gar unmöglich, eine Leiche unauffällig verschwinden zu lassen.

Als ahne Toshio, worüber sein Herr gerade nachdenkt, stöhnt er verhalten und verlagert vorsichtig sein Gewicht, um seine Knie ein wenig zu entlasten.

„Mon bijou, komm her.“ Pascal winkt ihn zu sich und dirigiert ihn auf seinen Schoß. Toshio gehorcht und schmiegt die Wange an seine muskulöse Brust.

Ein warmes Gefühl macht sich in Pascal breit, und er streicht dem Jungen liebevoll über das schwarzglänzende Haar. Ah, dieses wunderbare Phänomen, dem die Psychologie den Namen „Stockholm-Syndrom“ gegeben hat und das die Seele des Opfers aushöhlt und dem Täter in die Hände arbeitet. Nein, Pascal möchte zum jetzigen Zeitpunkt nicht, dass sein Lieblingssklave undosierten Erniedrigungen ausgesetzt ist.

Aber was soll er tun, wo soll er Toshio lassen? Morgen beginnen die Meetings, dann wird Pascal den ganzen Tag unterwegs sein. Und abends wäre es unhöflich die sicherlich kommenden Einladungen zu Essen und Vergnügungen auszuschlagen. Ganz zu schweigen von dem Wochenendtrip nach Kyoto, den der japanische Chemie-Konzern angekündigt hat.

Langsam und ein wenig geistesabwesend beginnt er, Toshio mit den Resten seines Frühstücks zu füttern. Paolo hat reichlich aufgetragen, und Pascals Appetit leidet unter dem ungelösten Problem, sodass genug Essen für Toshio übrig ist.

Es gibt in Tokyo natürlich einen Club, wie in vielen anderen Metropolen der Welt, wo Menschen wie Pascal ihre Gelüste ausleben können, auch ohne selbst einen Sklaven zu besitzen. Dort wäre es sicherlich möglich, Toshio unterzubringen. Aber nach der Erfahrung mit Hakujiro möchte Pascal nicht das Risiko eingehen, Toshio von Japanern betreuen zu lassen. Wäre ja möglich, dass auch dort Toshios Herkunft bekannt wird, und woher soll Pascal wissen, dass man dort nicht genauso darauf reagiert wie Hakujiro das getan hat.

Erstaunt registriert Pascal, wie heftig das Bedürfnis mit einem Mal ist, Toshio beschützen zu wollen. Interessant, wie sich seine Gefühle verändern können, wenn jemand anders als er selbst seinem Jungen Schaden zufügen will. Eine bislang unbekannte, aber nicht unangenehme Emotion.
 

„Danke, Herr“, sagt Toshio verschüchtert, als er den letzten Bissen hinunter geschluckt hat.

Ausnahmsweise sagt er das so, als würde er tatsächlich Dankbarkeit empfinden und nicht erzwungen, monoton oder mit sarkastischem Unterton wie sonst. Wieder wird Pascal davon innerlich ganz weich und zieht ihn erneut in eine Umarmung, was Toshio willig geschehen lässt. Plötzlich erinnert sich Pascal an Myro, und wie er gestern noch gedacht hat, dass sanftmütige Fügsamkeit auch ihren Reiz hat. Und dann schlägt er sich gedanklich gegen die Stirn: Natürlich! Das ist die Lösung! Warum ist ihm das nicht eher eingefallen?

Es kostet ihn ein paar Telefonate, um Ricardos Nummer herauszufinden (ohne zu ahnen, dass Toshio sie auswendig weiß), aber schließlich hat er sie.

Und wie er erwartet hat, ist Ricardo hoch erfreut, Toshio ein paar Tage bei sich aufnehmen zu dürfen.

Reisende - Teil 1

Ja hej!
 

So viele Kommentare von Euch zum letzten Kapitel! Vielen, vielen Dank dafür!!
 

Dieses Kapitel habe ich zweimal angefangen und dann komplett wieder gelöscht, dies ist also der dritte Versuch.

Dafür ufert es jetzt ein wenig aus, aber damit Ihr nicht noch länger warten müsst und womöglich denkt, dass ich gar nicht weiter schreibe, stelle ich hiermit wenigstens die erste Hälfte schon online.

Ich hoffe, Ihr habt weiterhin so viel Geduld mit mir

und wünsche Euch viel Spaß beim Weiterlesen!
 

Eure Jin
 


 

Reisende
 

(ein halbes Jahr vorher, in Deutschland)
 

Das laute Pochen an seiner Zimmertür weckte ihn nicht, riss ihn nur aus dem halbschlafähnlichen Zustand, in dem er vor sich hin dämmerte. Wie jeden Morgen versuchte er den Zeitpunkt des Aufwachens und die damit verbundene Notwendigkeit des Aufstehens so lange wie möglich hinauszuzögern.

Es tat zu weh, immer noch. Wachsein tat weh.

Auch an Tagen, an denen er keinen Kater hatte.

Das Klopfen wiederholte sich, fordernder diesmal. „Schläfst du etwa noch? Es ist gleich vier Uhr!“

Er zog die Decke über den Kopf. Vier Uhr – na und? Egal um wie viel Uhr, jeden Tag brach aufs neue das Verlustgefühl über ihn herein. Und er wusste nicht, wie lange er das noch aushalten konnte. Eigentlich konnte er das jetzt schon nicht mehr aushalten. Deswegen hatte er sich auch angewöhnt, sich abends so richtig schön volllaufen zu lassen. Dann konnte er wenigstens einigermaßen einschlafen. Denn neben dem Aufwachen war das Einschlafen das Schlimmste, war er sich der Leere neben sich am meisten bewusst.

Die Tür wurde gnadenlos aufgestoßen.

„Tatsächlich! Los – aufstehen ... boah, stinkt das hier! Wie hältst du das aus?“

Scheppernd rollten die Jalousien hoch, und eine Welle frischer Luft wehte ins Zimmer, als das Fenster geöffnet wurde. Als nächstes war die Bettdecke dran. Ein Ruck und schutzlos war er dem neuen Tag ausgeliefert. Die Sonne schien ungehindert auf sein Bett und stach ihm unangenehm in den Augen. Nie wieder so viel Alkohol schwor er sich zu trinken.

„Muss das sein“, maulte er, drehte sich auf den Bauch und grub das Gesicht in das Kopfkissen. Ein Fehler, wie er sofort merkte, denn die plötzliche Bewegung verursachte ihm zu den Kopfschmerzen jetzt auch noch Übelkeit. „Lass mich doch einfach hier liegen ...“

... und sterben , fügte er in Gedanken hinzu.

„Nix da.“

Kleine Schwestern konnten echt nervig sein. Auch ohne sie zu sehen, wusste er, wie sie jetzt vor seinem Bett stand: breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt. Er hörte, wie ihr Fuß ungeduldig auf den Teppich klopfte. Er kannte keinen Menschen, der so schnell und so oft ärgerlich wurde wie Karoline.

„Ich habe jemanden mitgebracht, extra für dich, eine Japanerin, eine echte diesmal, und die ist sogar nett und will uns helfen, sie wartet im Wohnzimmer, und darum stehst du jetzt auf und kommst gefälligst runter, sonst hab ich sie ganz umsonst mit deinen Problemen belästigt und – oh Gott, siehst du scheiße aus!“

Ächzend hatte er seinen alkoholvergifteten Körper in eine sitzende Position gebracht, was eine erneute Schwindelattacke auslöste. Schwankte er oder schwankte das Zimmer? Ihm war schlecht, und in seinem Kopf saß ein kleiner gemeiner Zwerg und hämmerte gegen seine Schädeldecke. Einzig, dass Karoline tatsächlich genau in der Pose da stand, wie er sich das vorgestellt hatte, bereite ihm eine gewisse Befriedigung.

„Okay. Du gehst am besten erst mal duschen, vielleicht macht das wieder einen Menschen aus dir, und ich koche dir in der Zwischenzeit einen megasuperstarken Mörderkaffee, wie findest du das?“

„Super“, stöhnte Patrick ergeben und war froh, als er wieder allein war.
 

Frisch geduscht und rasiert und mit zwei Aspirin im Magen fühlte er sich schon etwas besser. Zumindest gut genug, um nach unten zu gehen und sich zu vergewissern, ob er Karolines Redeschwall tatsächlich richtig verstanden hatte und sie wirklich jemand aus Japan angeschleppt hatte. Eigentlich wunderte ihn das, schließlich machte sie kein Geheimnis daraus, wie rücksichtslos und gemein sie Toshis Verhalten fand. Und wie wenig sie verstand, wieso Patrick ihn immer noch in Schutz nehmen konnte.

„Der hat dich eiskalt abserviert, wann kapierst du das endlich?“ hatte sie erst gestern geschimpft. Dabei hatte sie Toshi immer gern gemocht, sogar ein wenig für ihn geschwärmt, wie Patrick fand. „Irgendwo muss doch der Haken sein“, hatte sie früher oft scherzend über das Glück ihres Bruders gelästert, „bist du sicher, dass er dich nicht nur wegen der Staatsbürgerschaft heiraten will?“ Das war nach so einer Sendung über Scheinehen im Fernsehen eine Art Running Gag zwischen ihnen geworden. Natürlich nur, wenn Toshi nicht dabei war. Aber jetzt schien der Spaß für Karoline bittere Realität geworden zu sein.

Und seit der Begegnung mit diesem Pascal Remarque in Toshis Wohnung begann auch in Patrick der Zweifel zu nagen. Vielleicht hatte er sich ja doch in Toshi getäuscht? Was wusste man schon wirklich davon, wie es in einem anderen Menschen aussah? Nur weil er geglaubt hatte, dass Toshi seine Liebe mit gleicher Intensität erwidert hatte, musste das nicht zwangsläufig auch so sein. Der Tropfen auf der Rückseite des Fotos konnte auch etwas anderes als eine Träne sein. Und dann war da ja auch noch das, was Toshis Kollege im Spotlight über ihn berichtet hatte – nach dem dritten Cocktail, den Patrick ihm ausgegeben hatte. Dass Toshi nämlich seinen kleinen verdammten Nebenverdienst wieder aufgenommen hatte. Aber war das verwunderlich, wenn das Geld so knapp war? Warum nur hatte Toshi nie über seine Probleme gesprochen, das war das eigentliche Problem!
 

Er hatte nicht vorgehabt sich anzuschleichen und zu lauschen, aber er setzte seine Schritte so vorsichtig, um jede unnötige Erschütterung in seinem Kopf zu vermeiden, dass Karoline ihn nicht die Treppe herunter kommen hörte und er ungewollt Zeuge ihrer Worte wurde. Die Tür war nur angelehnt, und er legte die Hand auf die Klinke.

„Vielleicht bringt ihn das ja wieder zur Vernunft“, sagte Karoline gerade. Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee schwängerte die Luft. „Ich jedenfalls wäre fuchsteufelswild, wenn man mich so sitzen lassen würde!“

Patrick drückte die Tür auf. „Dann ist ja gut, dass dich die Sache nicht betrifft. Wie oft soll ich es noch sagen – ich wurde nicht sitzen gelassen.“

„Nenn es wie du willst, es ändert nichts an den Tatsachen“, konterte sie. „Und es betrifft uns alle, solange du hier mit uns wohnst!“

Sie warf der asiatischen Frau, die ihr gegenüber auf dem Sofa saß, einen Blick zu, in dem deutlich „Genau das meine ich“ geschrieben stand, wurde von dieser jedoch komplett ignoriert, was ihr bei Patrick sogleich die ersten Sympathiepunkte einbrachte.

Sie wirkte etwas verlegen und irgendwie auch einen kurzen Moment lang verwirrt, als sie aufstand und sich vor Patrick in einer automatisierten Bewegung zweimal verbeugte, bevor sie ihm nach deutscher Sitte die Hand entgegen streckte.

Toshi hat sich nie verbeugt, dachte Patrick und ergriff die Hand. Sie fühlte sich angenehm an, warm und trocken, und sie hatte einen festen Griff. Und genauso war ihr Blick, mit dem sie ihn musterte: fest, warm und aufmerksam. Sie war eine schlanke Person und einen guten Kopf kleiner als Patrick, aber sie strahlte mit jeder Faser ihres Körpers soviel Selbstbewusstsein aus, dass Patrick nicht das Gefühl hatte, größer zu sein als sie. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie sich so kerzengerade hielt (Toshi hatte das auch immer getan), während sich Patrick in letzter Zeit schlaff und schwermütig in vorgebeugter Haltung der Schwerkraft ergab.

„Das ist Patrick, mein Bruder“, ergriff Karoline wieder das Wort. „Und das ist Nami Midorawa aus Japan. Wir haben uns im Großen Garten ..., äh, getroffen.“ Jetzt war es an Karoline kurz verlegen zu sein, ein eher untypischer Zustand für sie.

„Nami Midorikawa“, korrigierte die Japanerin ihren Namen mit einem Lächeln und half Karoline aus der Verlegenheit heraus, indem sie gleich weiter redete: „Freue ich mich, Sie lernen zu kennen. Ihre Schwester erzählt mir, Sie Hilfe können mit japanischem Schriftstück?“

Sie sprach sorgsam und mit einem starken Akzent. Patrick fiel auf, dass sie überhaupt keinen Schmuck trug, und auch nicht geschminkt war, obwohl sie ansonsten ein elegantes Erscheinungsbild hatte. Sie trug eine schwarze, figurbetonende Stoffhose mit leichtem Schlag und dazu ein cremefarbenes tailliertes Hemd, das die Arme frei ließ. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung zeichneten sich unter der leicht gebräunten Haut deutlich die Muskeln ab, was Patrick an Toshi denken ließ und auf irgendeine regelmäßige sportliche Aktivität hinwies. Die Schuhe waren ohne Absatz aus braun glänzendem Leder. Das glatte schwarze Haar umrahmte kinnlang ihr Gesicht, das nicht die für viele Asiatinnen typische rundliche Form aufwies, sondern eher oval war mit einer hohen Stirn. Die Augen waren mandelförmig, aber nicht so schmal und auch nicht so schrägstehend wie Toshis. Ihr Gesicht besaß auch nicht die gleiche malerische Schönheit, dazu war der Mund mit den vollen Lippen vielleicht ein wenig zu klein, die schmalen Augenbrauen vielleicht einen Tick zu kurz und die Ohren standen etwas zu sehr ab. Dennoch fand Patrick sie hübsch.

Er kratzte sich am Kinn und stellte bei der Gelegenheit fest, dass er sich nicht gründlich rasiert hatte und ein paar Stoppeln stehen geblieben waren.

„Ja, ehm ... Wir können alle kein Japanisch, und ich möchte einfach verstehen, was geschehen ist“, sagte er. „Allerdings gibt es da ein Problem.“

„Und das wäre?“ fragte Karoline.

Beide Frauen sahen ihn erwartungsvoll an.

„Naja, ich habe es nicht mehr. Der ganze Schriftkram ist mit den anderen Sachen aus der Wohnung geräumt worden.“ Patrick drehte die Handflächen nach vorne und zuckte die Schultern. „Alles weg.“

„Nein. Ist es nicht“, entgegnete Karoline triumphierend. „Weil ich die Unterlagen gar nicht zurück gegeben habe!“

„Du hast sie noch?“

„Yes!“

„Ach ... Na, dann ... Dann ist ja gut.“

„Du könntest ruhig ein wenig mehr Begeisterung an den Tag legen.“

Patrick fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das feuchte Haar und zerwuschelte seine Frisur so noch mehr. Wenn er ehrlich war, wusste er gar nicht mehr, warum er so unbedingt hatte wissen wollen, was genau zu Toshis Geldproblemen geführt hatte. Was würde das schon ändern – Toshi brachte es ihm nicht wieder zurück.

„Ich komme nicht zurück“, hämmerten die Worte aus Toshis SMS immer wieder durch seine Gedanken. Aber was ist mit der Träne, fragte sein Herz. Und solange Piku bei ihm war, konnte er die Hoffnung einfach nicht aufgeben, Toshi wiederzusehen.

Wiederzusehen – schön. Und dann? Was, wenn Toshi mit seinem neuen Lover an der Hand nur wieder käme, um die Gegenstände, die Patrick ohne zu fragen an sich genommen hatte, einzufordern?

Aber seine ganzen Sachen sind doch auf dem Müll, dachte er dann wieder. Toshi weiß ja gar nicht, dass ich Piku hier habe!

Unvorstellbar, dass Toshi zugestimmt haben sollte, all die kleinen Dinge, die ihm so wichtig waren, einfach wegzuwerfen. Seine ersten Tanzschuhe. Die kleine Muschel von seinem ersten Freund. Und Piku. All das war unersetzbar!

„Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?“ fragte er ihren fremdländischen Gast.

„Ja gern, vielen Dank.“

„Der ist aber extra stark“, warnte Karoline.

„Das macht nichts. Ich bin gewohnt, zu trinken starken Kaffee.“

„Nehmen Sie Milch? Zucker?“ fragte Patrick.

„Nein, danke. Schwarz.“

„Gut. Ich bin gleich wieder da.“

„Und ich hole schnell die Briefe“, sagte Karoline.
 

Kurz darauf saßen sie alle drei um den niedrigen Couchtisch herum, und die Geschwister beobachteten gespannt, wie Midorikawa aufmerksam die Schriftstücke studierte. Genau wie bei der Frau vom Deutsch-Japanischen-Freundeskreis hatte Patrick das Gefühl, dass auch Midorikawa länger als nötig auf die Papiere blickte, bevor sie wieder aufsah. Aber wenigstens lächelte sie kein falsches Lächeln wie die andere Japanerin, deren Mimik sich gemeinsam mit ihrer Hilfsbereitschaft abgekühlt hatte. Midorikawa lächelte gar nicht.

„Es tut mir leid ...“, begann sie und schien dann erst nach den richtigen Worten suchen zu müssen.

„Das macht nichts“, sagte Patrick rasch. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, schließlich war es schon toll, dass sie überhaupt mit Karoline mitgekommen war und ihre Zeit für ihn opferte. „Aus den Schreiben geht einfach nicht hervor, warum sie ihm das Geld gestrichen haben.“

„Doch“, widersprach Midorikawa leise. „Ich glaube, ich weiß.“ Sie nahm einen vorsichtigen Schluck von dem heißen Kaffee und verzog keine Miene dabei. Entweder war sie wirklich gewohnt, ihn so stark zu trinken, oder ihre Selbstbeherrschung war bewundernswert. Patrick trank seinen mit Milch und hatte, nachdem er probiert hatte, noch einen Löffel Zucker extra genommen.

„Hier steht, dass der Fehler geschehen ist. Das ... ehm, das Geld hat nicht gegeben werden dürfen an ihn.“

„Das wissen wir bereits“, sagte Patrick. „Steht da auch, was das für ein Fehler gewesen sein soll?“ Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem Mal war er nicht mehr sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte. Was, wenn es Toshis Fehler gewesen war? Was, wenn Karoline nur so viel Energie in die Aufklärung dieses Rätsels investiert hatte, um ihm vorzuführen, dass Toshi nicht zu trauen war? Dass er von vorneherein Dreck am Stecken gehabt hatte, kriminelle Energie?

Midorikawa wählte ihre Worte mit Bedacht. „Hier steht, dass Tsuzuki-san hat bereits, wie heißt auf Deutsch? Scholarship?“

„Stipendium“, übersetzte Patrick.

„Danke. Stipendium er bekommen hat vorher, darum nicht weiteres bekommen kann. Sie nur geben Stipendium an solche, die noch keines bekommen. Er hätte sagen müssen. Aber weil sie hier das nicht geprüft haben, er nicht muss zurück zahlen Geld.“

„Also ein Betrugsversuch?“ fragte Karoline, und Patrick meinte Triumph in ihrer Stimme zu vernehmen.

„Das reicht mir jetzt“, sagte er und stand auf. Dabei stieß er an den Couchtisch und brauner und schwarzer Kaffee schwappte auf die Tischplatte. „Ist doch auch egal. Ich gehe jetzt eine rauchen.“

„Seit wann rauchst du denn wieder?“ Die Frage hätte sich Karoline auch schenken können.

„Hab ich denn aufgehört?“ fragte er gereizt zurück. Und überhaupt – was mischte die sich überhaupt überall ein?

Auf der Terrasse atmete er erst einmal tief ein und ließ sich auf einen der Gartenstühle fallen. Es war ein sonniger, freundlicher Tag, die Vögel zwitscherten, und zwischen den bunten Blumen, die in großen Keramikkübeln und in dem Beet, das die Terrasse umgab, wuchsen, summten fleißige Bienen. Die friedliche Stimmung passte so gar nicht zu der in seinem Inneren. Er nestelte eine zerdrückte Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und zündete sich eine an. Gleich beim ersten Zug merkte er, dass das ein Fehler war. Ihm war trotz der Aspirin noch latent übel, und der Zigarettenrauch verstärkte das nur. Davon abgesehen schmeckte es beschissen. Aus reinem Trotz rauchte er weiter.

Er hatte das Rauchen aufgegeben, damals, für Toshi, weil Toshi den Geruch nicht mochte und weil er es ungesund fand. War es ja auch. Es hatte Patrick nicht gestört, damit aufzuhören, doch jetzt hatte er keinen Grund mehr dazu. Im Spotlight, wo er die letzten Abende verbracht hatte, hatte einer von Toshis (ehemaligen!) Kollegen eine Kippe angeboten, er hatte angenommen, und das war es dann gewesen mit Nichtrauchen.

„Ich glaube nicht, Betrug.“ Midorikawa stand in der Terrassentür, die zwei Kaffeebecher in der Hand. „Darf ich?“

„Natürlich.“ Patrick rückte mit dem Fuß einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich zu ihm.

„Möchten Sie auch eine?“ fragte er und deutete auf die Zigarettenschachtel.

„Nein, vielen Dank.“

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein gerade eben. Karoline und ich verstehen uns eigentlich gut, aber manchmal können Geschwister einem furchtbar auf die Nerven gehen.“

„Ja“, entgegnete sie, und er sah, wie sich ihre Züge verhärteten, bevor sie ihr Gesicht abwandte. Ihr Blick ruhte auf dem kleinen Reihenhausgarten, der für japanische Gartenverhältnisse schrecklich ungepflegt erscheinen musste, aber Patrick hatte das Gefühl, dass sie eigentlich an etwas anderes dachte.

„Haben Sie auch Geschwister?“ fragte er.

„Nein.“

Sie schwiegen einen Moment. Patrick nahm noch einen letzten tapferen Zug von seiner Zigarette, dann drückte er sie in einem der Blumenkübel aus, mit dem festen Vorsatz, die Kippe wieder zu entfernen, bevor seine Eltern sie entdecken konnten. Sie würden zwar nichts dazu sagen, dass er wieder mit Rauchen angefangen hatte, aber eine Kippe in den Blumen würde zu einer leidigen Moralpredigt über Benimmregeln führen.

„Ich glaube auch nicht an Betrug“, brach er das Schweigen. „Toshi war immer ehrlich.“ Bis auf das, was er verschwiegen hat, fügte er still hinzu.

„Wie nah waren Sie befreundet?“ fragte sie.

„Sehr nah. Wir wollten nächstes Jahr heiraten.“

„Heiraten?“ vergewisserte sie sich, ob sie richtig verstanden hatte.

„Ja. Der Termin stand schon fest. Hat Lina Ihnen nicht erzählt, dass ich schwul bin? That is gay in English.“

Er wunderte sich über Karolines Diskretion in diesem Punkt und wusste doch gleichzeitig, dass er seiner Schwester unrecht damit tat – an ihrer Loyalität war eigentlich nichts zu zweifeln. Obwohl er kein Geheimnis aus seiner Homosexualität machte, hatte sie es in der Vergangenheit doch immer ihm überlassen, wann er sich wem gegenüber outen wollte.

Und wie immer, wenn er es tat, beobachtete er sein Gegenüber sehr genau dabei. Die junge Frau hatte sich allerdings bemerkenswert gut im Griff. Oder sie hatte tatsächlich überhaupt kein Problem damit, jedenfalls wirkte sie nach ihrer anfänglichen, kurzen Überraschung nicht verlegen oder peinlich berührt und auch nicht abgestoßen oder irritiert. Eher ein wenig nachdenklich, aber sie erwiderte offen seinen Blick.

„Oh, Entschuldigung. Nein, hat erzählte sie nicht. Nur, dass Sie in eine Wohnung wohnten gemeinsam.“

„Naja, das war Toshis Wohnung. Aber die ist jetzt ja auch weg.“ Der Schmerz stieg in Patrick auf und trieb ihm das Wasser in die Augen. Die Wohnung war Toshi so wichtig gewesen. Wie sehr, wurde noch deutlicher, als das Ausmaß seiner Geldsorgen zu Tage getreten war – warum hatte er nicht im Studentenwohnheim oder wenigstens in einer WG gewohnt? Stattdessen hatte er neben Studium und dem Tanzen zeitweise noch in einem Sushi-Laden gejobbt, um die Miete zusammen zu kriegen. Patrick hatte sich oft gefragt, wo er die Energie für das alles hergenommen hatte.

„Und er hat nichts gesagt, bevor gegangen?“ fragte Midorikawa mitfühlend.

Patrick schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist es ja gerade. Es war alles vollkommen in Ordnung.“ Naja, bis auf die Sachen, die eben nicht in Ordnung gewesen waren. Mahnungen. Nichtbezahlte Rechnungen. „Er ist nur einfach nicht nach Hause gekommen. Und spricht seitdem nicht mehr mit mir. Das passt alles gar nicht zu ihm.“

„Was sagt Polizei?“

„Gar nichts. Er hat sich per SMS bei mir gemeldet. Und seine Wohnung und alles ordnungsgemäß gekündigt. Er hat seine Schulden bezahlt. Für die Polizei ist der Fall erledigt. Sie können ihm ja nicht vorschreiben, mit mir zu reden.“

„Hat er denn mit Polizei geredet?“

„Nein. Soweit ich weiß. Das ist es ja gerade! Ich habe ein ungutes Gefühl. Jemand könnte ihn dazu gezwungen haben, die SMS zu schicken. Vielleicht hat er sie nicht mal selbst geschrieben.“ Er dachte an die Träne auf der Rückseite des Fotos.

„Und seine Schulden bezahlt? Wer?“

„Naja, sein neuer ... Freund.“ Irgendwie hatte sie eine freundlich interessierte Art, mit ihren Fragen das Gespräch in eine Richtung zu lenken, die sie eigentlich gar nichts anging. „Oder was auch immer der ist. Jedenfalls hat der Geld. Ein hohes Tier in der Wirtschaft ist der.“ Die Erinnerung an den großen blonden Mann mit den stahlblauen Augen ließ ihn frösteln. Toshi mit dem ? Freiwillig? Niemals! Patrick erinnerte sich noch zu gut daran, was Toshi für eine an Feindseligkeit grenzende Reserviertheit stets Menschen in Führungspositionen gegenüber an den Tag gelegt hatte. Es reichte schon, wenn jemand nur einen Anzug trug. Selbst zu Patricks Vater, der als hoher Angestellter in der Stadtverwaltung Hemd, Krawatte und Jackett als Arbeitskleidung trug, zeigte Toshi anfangs ein äußerst distanziertes Verhalten. Erst als sein Vater sich zum ersten Mal im Freizeitdress mit ihm unterhalten hatte, war er aufgetaut.

„Ist das denn nicht möglich, dass er für Geld Sie verlassen hat?“ fragte sie vorsichtig. „Karoline-san scheint zu glauben das. Und Polizei.“

„Die Polizei kennt ihn nicht. Das passt überhaupt nicht zu ihm! Dieser Typ ... dieser Remarque passt überhaupt nicht zu ihm. Ich glaube, Toshi steckt mächtig in Schwierigkeiten, und es macht mich wahnsinnig, dass er nicht mit mir redet und dass ich ihm nicht helfen kann!“

Die junge Frau nickte mitfühlend. Und dann wechselte sie abrupt das Thema: „Hat er Ihnen erzählt, wo er Herkunft?“

„Ja. Natürlich. Er kommt aus Kamioka. Danach ist er nach Tokyo gezogen. Warum fragen Sie das?“

Sie antwortete mit einer Gegenfrage. „Nein, ich meinen, hat er gesagt, wie er hat gelebt? Wissen Sie, dass er kommt aus dowa-chiku? Zumindest ich glaube das.“

„Nein ... Er hat nicht viel von früher erzählt.“ Nervös spielten seine Finger mit der Zigarettenschachtel herum. „Was bedeutet das?“

Midorikawa zögerte. „Ich weiß nicht genau. Tsuzuki-san möchte sicher nicht, dass ich erzähle.“

„Tsuzuki-san ist aber nicht hier – und ich wollte auch nicht, dass er ohne ein Wort einfach verschwindet!“ entgegnete Patrick heftiger als beabsichtigt. Sofort zwang er sich wieder zu einem gemäßigteren Ton: „Ich mache mir fürchterliche Sorgen. Ich liebe ihn. Bitte ... erklären Sie es mir. Was ist dowa-chiku?“

Lange sah sie ihn an, zumindest kam es ihm so vor, und er erwiderte ihren Blick. Schließlich seufzte sie resigniert. „Ja, gut. Er ist nicht hier. Vielleicht es hilft Ihnen, zu verstehen. Vielleicht er hätte Ihnen selbst sagen sollen, aber es ist so, leider in Japan besser ist, nicht zu sagen, wenn kommt aus dowa-chiku. Darum er hat geschwiegen, ich denke. Das ist spezielles Gebiet, speziell Teil von Stadt. Menschen von dort sind oft arm, oft keine Arbeit, viele ohne Schulabschluss. Es ist dunkles Kapitel in japanischer Gesellschaft, es ist nicht gerecht. Niemand gerne darüber redet. Leute aus dowa-chiku haben schwer zu finden Arbeit, große Firmen haben solch verbotene Listen. Manchmal vor Heirat, Familien haben Privatdetektiv, ob andere Familie hat Vergangenheit in dowa-chiku. Ich schäme mich, zu sagen, aber es gibt noch viel ... wie sagen? It's descrimination in English. Entschuldigung bitte mein schlecht Deutsch, ich kann nicht besser erklären.“

Sie starrte auf seine Hand, und erst als er ihrem Blick folgte, bemerkte er, dass er die Zigarettenschachtel so fest umklammert hielt, dass er sie zerdrückt hatte. Ihm war schon wieder schlecht – oder immer noch? Er konnte sich seinen Toshi nur schwer in einer solchen Umgebung vorstellen, umgeben von Armut und Diskriminierung, abgelehnt von der Gesellschaft, und doch ergaben ihre Worte sofort einen erschütternden Sinn und erklärten viele von Toshis Merkwürdigkeiten. Die Abneigung seiner Heimat gegenüber und gegen Menschen in gehobenen Positionen. Seine arrogante Fassade. Die Geldprobleme und die Überweisungen nach Japan. Sein fast manischer Lerneifer, um nur ja gute Noten zu erzielen. Dass er so gut wie nie von seiner Familie sprach. Und so weiter. Es gab viele kleine Begebenheiten oder Äußerungen, die Patrick nun in neuem Licht sah.

Er erinnerte sich an eine Szene, als Toshi hier auf der Terrasse gesessen hatte, fast auf dem gleichen Platz wie Midorikawa gerade, und ihm beim Rasenmähen zugesehen hatte. Das Vokabelheft lag aufgeschlagen in seinen Händen, aber seine Augen ruhten voller Liebe auf Patrick, der schwitzend in der Sonne den elektrischen Rasenmäher vor sich her schob und ständig mit dem langen orangen Kabel zu kämpfen hatte, das irgendwie immer wieder im Weg lag. Patrick war stehen geblieben, um sich das T-Shirt auszuziehen, und als er es Richtung Terrasse warf, fing er Toshis Blick auf. Er lächelte und strich sich aufreizend über den nackten feuchten Oberkörper, während er sich langsam näherte.

„Na? Gefällt dir, was du siehst?“ fragte er, bemüht, seiner Stimme einen erotischen Klang zu geben.

Toshi bekam rote Wangen und versenkte sich in sein Vokabelheft. „Ich muss lernen“, murmelte er ausweichend.

„Das sah aber gerade eben noch ganz anders aus“, schäkerte Patrick und kam jetzt erst recht heran. So sexy Toshi sich beim Tanzen auch bewegen konnte, im Alltag war er manchmal unglaublich schüchtern. So wie jetzt. Patrick fand das so süß, dass er ihn einfach küssen musste. Er beugte sich zum ihm hinunter, doch Toshi wich zurück.

„Nicht … wenn uns jemand sieht!“

„Wer soll uns denn sehen? Wir sind allein zu Haus“, hauchte Patrick an Toshis Hals und biss leicht hinein. So schnell ließ er sich nicht abwimmeln.

Toshi schob ihn energisch weg und sah sich unruhig um. „Patrick! Die Nachbarn ...“

Ach so, darum ging es! Patrick richtete sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn. „Die wissen alle Bescheid, kein Problem. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich schwul bin. Sie dürfen ruhig alle sehen, was für einen attraktiven Freund ich habe.“ Er griff nach Toshis Hand und drückte einen Kuss auf den Handrücken.

„Du bist so mutig“, sagte Toshi bewundernd und hielt seine Hand und seinen Blick fest. „Du bist das Beste, das mir im Leben passiert ist.“

Patricks Herz hatte Purzelbäume geschlagen. Er kam sich oft klein, linkisch und unscheinbar neben seinem Freund vor, der so viel ehrgeiziger, disziplinierter und dazu noch hübscher war als er selbst. Er hatte Toshi hoch gezogen und ihn leidenschaftlich geküsst, und diesmal hatte Toshi es zugelassen. Das Vokabelheft war auf die Steinplatten gefallen und hatte seitdem geknickte Seiten gehabt, die ihn immer wieder an diese kleine Begebenheit erinnert hatten.

„Du bist das Beste, das mir im Leben passiert ist.“ Patrick hatte das für eine Floskel gehalten, was sich Liebende eben so sagen. Aber Toshi hatte das mit so viel Ernst gesagt, dass sich dieser Satz eingeprägt hatte. Und mit dem Wissen über dowa-chiku erfasste er jetzt erst seine tiefere Bedeutung. Wieviel von dem, was Patrick für kulturelle Unterschiede aufgrund ihrer verschiedenen Nationalität gehalten hatte, hatte seinen wahren Ursprung in der Armut, in der Toshi anscheinend aufgewachsen war?
 

Eine federleichte Berührung an seiner Hand brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Eine Wespe hatte sich auf seiner Haut niedergelassen, und Patrick wartete geduldig, bis sie sich von alleine wieder in die Luft erhob. Sie schien sich für den Kaffee zu interessieren, doch dieses starke Gebräu konnte er dem kleinen Tierchen trotz des vielen Zuckers nicht empfehlen. Mit einer ruhigen Bewegung schob er sie beiseite und trank die Tasse in einem Zug leer.

„Ihr Deutsch ist vollkommen in Ordnung, Midorikawa-san. Besser jedenfalls als mein Japanisch“, sagte er und versuchte ein kleines Grinsen, das sie nicht erwiderte. „Aber wenn Sie möchten, können wir auch in Englisch weiter sprechen“, bot er an.

„Oh ja, das ist nett“, antwortete sie erleichtert und in englischer Sprache. „Und ich weiß, dass mein Deutsch nicht in Ordnung ist. Ich lerne noch.“ Ihr Englisch jedenfalls war bis auf einen unüberhörbaren Akzent fehlerfrei.

„Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?“ fragte sie nach einer kurzen Pause.

„Ja“, entgegnete Patrick knapp und schaute auf die Tischplatte. Schon wieder stiegen Tränen in seine Augen.

„Sie müssen ihm verzeihen, dass er mit Ihnen über all das nicht gesprochen hat“, sagte Midorikawa sanft. „Wahrscheinlich war er froh, dass man hier in Deutschland über diese Thematik kaum etwas weiß. Gut möglich, dass er überhaupt deswegen ins Ausland gegangen ist.“

„Aber dann hat ihn seine Vergangenheit doch wieder eingeholt. Darum geht es doch in diesem Schreiben? Oder woher wissen Sie das alles?“

„Ja, darum geht es. Sie erwähnen ein Stipendium, das er während der Schulzeit erhalten hat, ein Stipendium der BLL – das ist die buraku kaihô dômei, die Buraku-Befreiungsliga. Buraku werden die Menschen aus dowa-chiku genannt, politisch korrekt sagt man heute lieber „hisabetsu burakumin“. Die BLL setzt sich sehr vehement gegen die Diskriminierung ihrer Leute ein, und sie vergibt Stipendien nur an Burakumin – was wiederum andere Minderheiten diskriminiert, die Koreaner beispielsweise, aber das ist wieder ein anderes Thema.

Jedenfalls bin ich deswegen ziemlich sicher, dass Tsuzuki-san einen Burakumin-Hintergrund hat, und es ist leider gut möglich, dass die Stiftung, die ihm das Sprachstudium finanziert hat, ihm genau wegen dieses Hintergrunds die Gelder gestrichen hat, auch wenn sie das natürlich anders begründet. Dafür spricht auch, dass er das unrechtmäßig erhaltene Geld nicht zurück zu zahlen braucht – das scheint der Preis zu sein, den sie zu zahlen bereit sind, wenn Tsuzuki-san die Sache auf sich beruhen lässt. Niemand hat gern Ärger mit der BLL, die gehen nicht gerade zimperlich vor. Und auch wenn niemand hisabetsu burakumin in seiner Firma oder seiner Familie – oder eben von seiner Stiftung finanziert - haben möchte, will doch keiner öffentlich der Diskriminierung beschuldigt werden. Die Stiftungsgesellschaft hat sich gewiss rechtlich gut abgesichert, sonst hätten sie nie gewagt, die BLL in ihrem Schreiben zu erwähnen, so hat Tsuzuki-san sicherlich gut daran getan, auf ihr Angebot einzugehen.

Vielleicht ist er es auch nur leid, zu kämpfen. Wenn er es bis auf eine Universität geschafft hat, muss das ein sehr anstrengender Weg gewesen sein. Viele hisabetsu burkaumin brechen schon in der Oberschule ab, meist wegen Diskriminierungen oder mangelnder Perspektive. Selbst mit einer guten Ausbildung bleibt man immer Burakumin, das gesellschaftliche Ansehen steigt nur innerhalb der eigenen Gruppe.“

„Sie kennen sich ja gut aus“, sagte Patrick, der aufmerksam zugehört hatte. Warum nur hatte Toshi nie mit ihm darüber geredet? Vielleicht wäre dann jetzt alles anders!

Midorikawa lächelte ein freudloses Lächeln. „Ich interessiere mich eben auch für die Schattenseiten des menschlichen Daseins.“

„Sind Sie Sozialarbeiterin?“

Jetzt lachte sie kurz auf. „Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Ich war auf der Polizeischule. Aber jetzt arbeite ich bei einem privaten Sicherheitsdienst.“

„Oh“, machte Patrick überrascht. „Das klingt spannend.“ Und der Besuch einer Polizeischule erklärte immerhin, warum sie ihn vorhin so geschickt ausgefragt hatte.

„Es klingt spannender als es ist“, wehrte sie ab. Dann neigte sie sich ein wenig zu ihm hinüber und sah ihm ernst in die Augen. „Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Auch ich habe kürzlich jemanden verloren, den ich sehr gern gehabt habe. Es tut weh. Aber nach dem, was ich Ihnen erzählt habe – wenn ich Sie jetzt noch einmal frage, ob es nicht doch möglich ist, dass er wegen des Geldes zu diesem anderen Mann gegangen ist, was würden Sie dann jetzt antworten?“

„Ich ...“ Patrick unterbrach sich, denn er wusste gar nicht genau, was er sagen wollte. In seinem Kopf drehte sich alles. Natürlich wirkte das alles jetzt relativ harmlos: Armer, junger Mann trifft auf reichen Geliebten und ergreift die Chance, ein unbeschwertes Leben im Luxus zu führen. Dramatisch nur für Patrick, der die Rolle des verlassenen Liebhabers inne hatte. Aber warum dann weigerte sich Toshi, mit ihm zu reden? Doch vielleicht hatte auch das eine ganz einfache Erklärung, schließlich hatte Patrick keine Ahnung, wie Toshi seine Beziehungen zu beenden pflegte.

Er atmete tief durch, schloss die Augen und stellte sich Toshi neben diesem reichen Industriellen im Anzug vor, stellte sich vor, wie dieser Remarque seine muskulösen Arme um Toshis schlanken Körper schlang … Nein, nein, nein, irgendetwas daran war ganz und gar nicht in Ordnung! Er weigerte sich, das zu akzeptieren!

„Okay“, sagte er leise, und sah Midorikawa dabei direkt an. „Möglich, dass er nicht im klassischen Sinne entführt worden ist. Aber selbst wenn er für Geld bei diesem Typ lebt, ist das noch lange nicht freiwillig. So oder so ist er in Not, und er hat mir Hinweise darauf hinterlassen.“ Er dachte an die Träne auf dem Foto und an Piku, der oben in Patricks Bett lag, obwohl er doch zu Toshi gehörte. „Sie kennen ihn überhaupt nicht. Kann es nicht sein, dass Sie aufgrund seiner Herkunft die Situation verharmlosen – weil er hisabetsu Burakumin ist? Kann es nicht sein, dass Sie Vorurteile haben?“

Die Frage traf sie, und er bereute sofort seinen bissigen Ton, zu dem er sich hatte hinreißen lassen.

„Ich wollte nur ...“, setzte sie an, doch in diesem Moment wurde mit einem schnaufenden Geräusch die Terrassentür aufgedrückt, und ein schneeweißer, mittelgroßer Hund stürmte auf sie zu und umkreiste sie beide hechelnd und wedelnd. Er war hochbeinig und schlank und hatte einen schmalen, intelligenten Kopf. Sein kurzes Fell war am Schwanz, den Beinen und um die dreieckigen Ohren herum länger, was ihm ein etwas struppiges und freches Aussehen gab.

„Hallo Kimba ...“, sagte Patrick überrascht und konnte dem Tier gerade eben zur Begrüßung über den Kopf streichen, da war er auch schon wieder weg, schnüffelte kurz an Midorikawas Hosenbein, rannte dann auf die Wiese und hob das Bein am Johannisbeerstrauch. Gut, dass Patrick sowieso keine Johannisbeeren mochte. Er stand auf. „Das ist der Hund von ...“

Er wurde unterbrochen durch ein schrilles Kreischen aus dem oberen Stockwerk des Hauses: „Kimba!“ Das war Karoline.

Der Hund antwortete mit einem ebenso schrillen Jaulen und raste ins Haus zurück.

„Hey, nicht so stürmisch, junger Mann“, beschwerte sich jemand im Wohnzimmer, dessen Stimme Patrick sofort erkannte, und dann trat auch schon sein älterer Bruder Oliver in den Sonnenschein auf der Terrasse. Geblendet kniff er die Augen zusammen, und ehe er sich versah, hatte er Patrick am Hals hängen.

„Noch so ein stürmischer junger Mann“, sagte er lachend, obwohl er nur fünf Jahre älter war, und erwiderte die Umarmung.

„Was machst du denn hier?“ fragte Patrick und erhaschte kurz den vertrauten Duft nach Wind und Sonne und Räucherstäbchen, der seinem Bruder seit jeher anhaftete. Diesmal allerdings vermischt mit einer leicht ungepflegten muffigen Unternote.

„Ein lieblich Vögelein hat die Kunde an mich bis in die Tiefen des bayrischen Waldes getragen, dass mein holder Bruder mich zu sprechen wünscht, und schon eilte ich herbei, denn siehe, dein Wunsch mir stets Befehl ist.“

„Ach“, machte Patrick und fragte, da er seinem Bruder fast alles Übernatürliche zutraute: „Was denn für ein Vogel?“

„Das lieblich Vögelein war Tandavi“, klärte Elin grinsend auf, die hinter Oliver aus dem Haus gekommen war. Sie strich sich eine ihrer langen und eigensinnigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Elin und Tandavi waren zwei der drei Musiker, die mit Oliver zusammen vor fast zehn Jahren die Gruppe „Pans Lieder“ gegründet hatten und die auch privat sehr eng miteinander befreundet waren, so dass sie praktisch schon zur Familie gehörten.

Patrick löste sich von seinem Bruder, um Elin zu begrüßen. Sie umarmten sich herzlich.

„Tandavi sagte, du hättest so dringend geklungen, dass wir beschlossen haben, gar nicht erst nach München zu fahren, sondern gleich zu dir“, erklärte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als würde Hannover auf dem Weg liegen und nicht einen Umweg von ungefähr sechshundert Kilometern ausmachen.

Oliver hatte sich inzwischen schon Midorikawa zugewandt, die aufgestanden war und ein wenig so aussah, als würde sie am liebsten jetzt gehen.

„Ich bin Oliver, Patricks Bruder“, stellte sich Oliver vor und hielt ihr die Hand hin.

Die junge Frau ergriff sie und verneigte sich. „Nami Midorikawa.“

„Hallo Nami“, sagte Elin und nahm zwar die entgegengestreckte Hand, zog die Japanerin aber gleich darauf ebenfalls in eine kurze Begrüßungsumarmung, ehe diese dazu kam, sich wieder förmlich zu verbeugen. „Ich heiße Elin. Bist du eine Freundin von Toshi?“

„Ich ... Nein. Eigentlich ich zufällig hier.“

Elin lächelte. „Es gibt keine Zufälle im Leben.“

„Das glaube ich auch“, entgegnete Nami leise und erwiderte das Lächeln, allerdings ein wenig gezwungen, wie Patrick fand.

Er fragte sich, wie die beiden bunten Gestalten wohl auf die Japanerin wirken mochten. Genau wie sie selbst schienen sie in diesem gutbürgerlichen deutschen Reihenhausgarten wie Besucher aus einer fremden Welt in ihren flatterigen Klamotten und den nackten Füßen in den staubigen Trekkingsandalen. Beide waren braungebrannt mit einem leichten Sonnenbrand auf Nase und Wangen, beide hatten vom Wind zerzauste Haare. Olivers waren rötlichbraun wie Patricks, nur eine Nuance heller, weil von der Sonne gebleicht, und länger, zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, aus dem genauso viele Haare heraushingen wie im Gummiband zusammengehalten wurden. Elins Haar fiel ihr in Korkenzieherlocken blond den Rücken hinunter bis fast zu den Hüften. Beide sahen etwas schmuddelig und ungepflegt aus – kein Wunder nach ungefähr zwei Wochen Aufenthalt im Wald.

„Sie hat mir geholfen, ein japanisches Schreiben zu übersetzen“, erklärte Patrick.

„Aha“, machte Oliver. „Wo ist denn Toshi?“

„Toshi ...“ Patrick musste schlucken. „Toshi ist weg. Er hat mich verlassen.“ Dann brach er in Tränen aus.

Reisende - Teil 2

„Ich koche uns jetzt erst mal einen Tee“, sagte Elin in die betroffene Stille hinein, die nur von Patricks vergebens unterdrückten Schluchzern durchbrochen und von dem lieblichen Gesang einer Amsel untermalt wurde.

„Nami, kommst du mit und hilfst mir mit den Tassen?“ Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es der jungen Japanerin gerade ebenfalls nicht besonders gut ging, und auf ihr Gefühl hatte sich Elin immer verlassen können. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber Nami wirkte trotz ihrer undurchdringlichen Miene, mit der sie starr in den Garten blickte, als könne auch sie gleich anfangen zu weinen.

Außerdem schien es ganz gut, die Brüder einen Moment für sich zu lassen, damit Patrick sich wieder beruhigen konnte.

Elin kannte sich in der Küche gut aus und griff sich zielstrebig, was sie brauchte. Während das Wasser warm wurde, holte sie vier Tassen aus dem Schrank.

Nami machte eine abwehrende Geste. „Ich brauche keine. Ich denke, besser ist, wenn ich gleich gehen.“

„Nein, gar nicht“, entgegnete Elin. „Wir wollten dich nicht vertreiben. Du kannst ruhig bleiben.“

Nami schob ihr eine Tasse zu. „Nein, wirklich. Stören will ich nicht.“

„Du störst überhaupt nicht“, sagte Elin und stellte die Teekanne ab. Zwei Teebeutel baumelten an ihrer Hand. Sie fand die zierliche Frau, die sich so selbstsicher gab, äußerst interessant, und sie war nicht gewillt, sie gehen zu lassen, ohne mehr über sie zu erfahren. „Oder hast du heute noch was vor?“

„Nein, das ist es nicht.“

„Wartet jemand auf dich?“

„Nein.“

„Na, also.“ Sie schob die Tasse wieder zurück zu den drei anderen. „Was für ein sogenannter Zufall hat dich denn hier her geführt?“ fragte sie neugierig. „Hast du beruflich in Deutschland zu tun?“

„Nein. Ich bin in Urlaub. Erst in Berlin, dort ich habe ein Freundin besucht. Jetzt ich will noch das bisschen Deutschland schauen; ich habe Zeit, aber kein richtig Ziel.“

„Das ist gut“, sagte Elin und fand Namis Art, Deutsch zu sprechen sehr niedlich. Dabei war niedlich ein Adjektiv, das sonst gar nicht zu der Japanerin zu passen schien. Vielleicht fand Elin gerade diesen Kontrast so reizvoll. „Das sind ideale Voraussetzungen, um die Schicksalskräfte wirken zu lassen. Und für Patrick scheinst du ja zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Der Arme! Dabei wirkte Toshio immer so glücklich mit ihm.“

„Manchmal können Menschen nicht die Entscheidung haben, die Glück bringt“, sagte Nami.

Da war sie wieder, die Traurigkeit, die Elin an ihr schon auf der Terrasse gespürt hatte. Aber sie kannten sich noch nicht gut genug, um nachzufragen. Also entgegnete sie nur: „Da hast du leider recht.“

Sie hängte die Teebeutel in die Kanne und goss das inzwischen kochende Wasser hinein. Jasminduft breitete sich in der Küche aus.

Kimba kam in die Küche gehechelt, dicht gefolgt von Karoline. Elin begrüßte sie mit einer Umarmung und fragte, ob sie auch einen Tee wolle.

„Nein, danke“, wehrte Karoline ab. „Patrick will euch sicher das ganze Drama erzählen ...“ Sie verdrehte die Augen. „Ich kann`s bald nicht mehr hören.“ Sie füllte eine Schüssel mit Leitungswasser und stellte sie auf den Boden. Gierig trank Kimba davon und verteilte glänzende Tropfen auf den Fliesen.

„Es ist nicht leicht, jemand zu verlieren, den man liebt. Das wirst du auch noch merken“, sagte Elin.

„Vielleicht. Aber Patrick jammert nur rum! Ich wäre so sauer an seiner Stelle!“ Deutlich war ihr anzumerken, dass sie nicht nur sauer wäre, sondern sauer war.

„Jeder geht anders mit seinem Schmerz um“, entgegnete Elin sanft.

„Naja ...!“ machte Karoline zweifelnd. Dann wechselte sie das Thema: „Darf ich mit Kimba spazieren gehen? Er hat bestimmt Lust zu laufen, nach der langen Autofahrt.“

„Klar.“ Elin hatte selbst Lust zu laufen. Aber Kimba hatte bestimmt nichts dagegen, am Abend noch einen zweiten Spaziergang zu machen.

„Wo ist denn sein Halsband?“

„Das liegt vorne im Wagen, die Leine auch. Kannst du dir raus holen.“

„Komm, Kimba, ausgehen!“

Begeistert lief der Hund hinter Karoline her, drehte sich dann aber in der Tür noch einmal um und schaute Elin fragend an. „Na, lauf schon!“ sagte sie. „Ich warte hier auf dich.“ Und weg war er.

„Ist Kimba dein Hund?“ fragte Nami.

„Naja, ich sag mal so: Er wohnt bei mir. Wir haben uns in Spanien getroffen, und er war der Meinung, wir passen gut zusammen. Ich fand ihn nett, also habe ich ihn mitgenommen. Und ich habe es nicht bereut, er ist so süß! Er hat es, glaube ich, auch nicht bereut. Damals war er halb verhungert, du kannst dir nicht vorstellen, wie er ausgesehen hat. Er hatte mehrere eitrige Geschwüre, in denen schon die Fliegenmaden saßen ... Aber jetzt geht es ihm wieder gut. So, ich glaube, der Tee ist fertig. Nimmst du die Tassen, bitte?“
 

Als sie auf die Terrasse zurück kamen, sagte Patrick gerade: „Die Polizei macht gar nichts. Die gehen der Sache nicht einmal richtig auf den Grund! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihnen von der SMS gar nicht erzählt.“ Er klang sehr verzweifelt, aber er weinte wenigstens nicht mehr.

Die beiden Brüder hatten sich an den Gartentisch gesetzt, Oliver saß dicht neben ihm. Schweigend verteilte Nami die Tassen, und Elin schenkte den Tee ein. Danach setzten sie sich zu ihnen.

„Und was ist das für ein Typ, bei dem Toshi jetzt ist?“ fragte Oliver.

„Ach! So ein reicher Industrieller. Dem gehört ein riesiges französisches Unternehmen, der hat wahrscheinlich Kontakte in alle Himmelsrichtungen, an den komme ich nicht ran – und die Polizei anscheinend auch nicht. Würde mich nicht wundern, wenn der seine Finger mit dabei hat, dass die nicht ermitteln. Womöglich hat er die alle bestochen, Geld genug hat er bestimmt!“

„Wo lernt man denn so einen vermögenden Mann kennen?“ fragte Elin.

„In der Disko“, antwortete Patrick unbestimmt, kam aber mit dieser ausweichenden Antwort nicht durch.

„In der Schwulen Sau?“ fragte Oliver erstaunt. „Da gehen solche Leute hin?“

„Nein ... Im Spotlihgt. Das ist etwas gehobeneres Milieu. Toshi hat dort gearbeitet. Als Gogo-Tänzer“, fügte er schließlich noch widerwillig hinzu, und tatsächlich bekam Oliver große Augen.

„Toshio hat als Gogo-Tänzer gearbeitet?“

„Ja. Na, und? Er kann schließlich tanzen, und er brauchte das Geld. Und Gogo ist reiner Animationstanz, kein Striptease oder so!“ Das Thema war Patrick unangenehm, auch weil er wusste, dass Toshi nicht gern über diesen Nebenjob gesprochen hatte – und weil er wusste, dass er eben zeitweise doch mehr getan hatte als Animation, und das war ein leidiges Streitthema zwischen ihnen gewesen. Aber das ging niemanden sonst etwas an!

„Habt ihr denn gestritten? Oder war sonst zwischen euch irgendwas nicht in Ordnung?“ lenkte Oliver das Gespräch wieder auf das eigentliche Problem zurück.

„Nein, es war alles gut. Darum dachte ich ja erst, es muss ihm irgendwas zugestoßen sein ... aber jetzt ... na ja, vielleicht haben ja alle recht, und er hat einfach eine bessere Partie als mich gefunden ...“

„Hm“, machte Oliver zweifelnd. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihm Geld so wichtig ist.“

„Es könnte aber sein“, sagte Patrick leise. „Er hat Schulden. Ich hab die Mahnungen gefunden.“

„Wieviel Schulden?“

„Keine Ahnung ... bei der Uni, beim Vermieter, den Stadtwerken ... vielleicht fünftausend Euro insgesamt.“

„Hm. Aber das hätten wir doch hinbekommen, wenn er was gesagt hätte. So viel ist das doch nicht. Mama und Papa hätten ihm was leihen können.“

„Ich weiß es doch auch nicht! Vielleicht liebt er ja auch diesen Schnösel!“

„Was denkst du denn, was los ist?“ fragte Elin. „Lass mal diese ganzen rationalen Gedanken beiseite, was denkst du dann?“

Sofort schossen Patrick wieder die Tränen in die Augen. „Ich denke, dass es Toshi total schlecht geht! Ich träume immer von ihm, jede Nacht, und jedes Mal fleht er mich an, dass ich ihm helfen soll! Aber ich weiß ja nicht, wie. Ach, Scheiße! Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll ...“ Er legte die Hände vor sein Gesicht und atmete tief durch, um nicht schon wieder loszuheulen.

„Das solltest du auf jeden Fall ernst nehmen“, sagte Elin, beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf das Knie. „Wie können wir dir helfen?“

„Ich dachte ...“ Patrick schniefte und nahm die Hände wieder herunter. Er griff nach seiner Teetasse und umklammerte sie, als könne ihm das Halt geben. „Ich dachte, vielleicht könnt ihr ja mit so einer schamanischen Reise seine Seele finden, oder so. Ich weiß ja nicht, was genau man da macht, aber könnt ihr nicht heraus finden, wo er ist? Wie es ihm geht? Oder könnt ihr Kontakt zu ihm aufnehmen und ihm sagen, dass er mit mir sprechen soll? Dass ich … dass ich ihm nicht böse bin … und … dass er jederzeit zurück kommen kann. Ich hab keine Ahnung, ob das wirklich geht. Und ob ihr das könnt. Oder vielleicht kennt ihr jemanden …?“

„Das geht“, sagte Oliver. „Elin kann das.“

„Nun übertreib nicht“, entgegnete Elin. „Ich kann vieles – aber seinen Aufenthaltsort in der realen Wirklichkeit finden? Das übersteigt meine Möglichkeiten.“ Sie bemerkte Patricks enttäuschten Gesichtsausdruck und sprach schnell weiter: „Trotzdem können wir eine ganze Menge tun – hilfreich für dich und Toshio wäre es allemal. Wenn auch vielleicht anders, als du dir das wünschst. Die geistige Welt funktioniert nach anderen Maßstäben als die, in der wir leben. Und wir müssen natürlich vorher klären, ob wir überhaupt ohne Toshios Einwilligung mit ihm arbeiten dürfen.“

„Aha. Und wen fragt man da?“ fragte Patrick.

„Das erledige ich dann schon. Den Rest machen wir dann gemeinsam.“

„Gemeinsam?“

„Na, klar. Ihr helft mir natürlich alle. Je mehr wir sind, desto besser. Umso mehr können wir erreichen. Energie potenziert sich – deswegen finden sich seit jeher Menschen zu rituellen Handlungen zusammen. Gemeinsam ist man stärker.“

„Aber ich kann das doch gar nicht“, protestierte Patrick.

„Jeder kann das. Du hast es höchstens noch nie gemacht.“ Sie wandte sich Nami zu. „Bleibst du noch? Wir werden ein schamanisches Trommelritual durchführen. Ich würde mich freuen, wenn du auch dabei wärst. Und ...“, sie zwinkerte ihr mit einem Lächeln zu, „... so etwas erlebt nicht jeder auf seiner Europa-Reise.“

„Wenn Patrick-san nichts dagegen hat ...“ antwortete Nami vorsichtig.

„Ich habe nichts dagegen“, sagte Patrick sofort. „Ich wollte Sie vorhin auch nicht so anfahren, tut mir leid. Ich bin zur Zeit nicht ganz gesellschaftsfähig, fürchte ich.“

„Nein, ich muss Entschuldigung“, widersprach sie. „Ich wollte nicht reden wie discrimination. That's not me.“

„Schon okay. Wollen wir uns vielleicht auch einfach duzen?“

„Ja, gut. Nami-desu.“ Sie stand auf und verneigte sich förmlich.

Elin lächelte. „Dann ist ja alles geklärt.
 

Knapp eine Stunde später saßen sie wieder zusammen, diesmal in Olivers früherem Zimmer, das inzwischen als Gästezimmer fungierte.

Elin und Oliver hatten geduscht und sich frische Sachen angezogen, während Patrick und Nami alle Möbel beiseite rückten und Kissen auf dem Teppich verteilten, so dass sie jetzt im Kreis auf dem Boden sitzen konnten. In der Mitte brannte eine dicke Stumpenkerze und daneben hatte Elin Räucherstäbchen, eine Feder, eine Muschel, einen Stein und ein Stück verkohltes Holz verteilt. Eine Rahmentrommel, die mit durchsichtigem Kunstfell bespannt war, lag zwischen ihr und Oliver.

Patrick legte ein Foto von Toshio in die Mitte. Er hatte eins ausgewählt, auf dem Toshi in Tanzpose stand: den Oberkörper leicht nach hinten gedehnt und ein wenig gedreht, ein Arm schräg nach hinten unten, den anderen nach vorne oben ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt und den Blick nicht in die Kamera, sondern selbstvergessend ins Nirgendwo gerichtet. Es war nicht sein Lieblingsbild von Toshi, da mochte er natürlichere, ungestellte Bilder lieber, auf denen Toshio in die Kamera lachte, aber er hatte es ausgewählt, weil Toshi den Tanz so liebte, und auf diese Weise noch ein weiterer Aspekt, der Toshi ausgemachte, mit auf dem Bild abgebildet war.

Nami nahm es in die Hand und betrachtete es. „Hübsch sieht er aus.“

„Ja, und er kann wirklich richtig gut tanzen“, schwärmte Elin. „So gern hätte ich ihn mit uns auf der Bühne gehabt – statt dessen macht er Gogo in einem Nachtclub!“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

„Da gab es eben mehr Geld zu verdienen“, sagte Patrick und warf Nami einen unbehaglichen Blick zu. „Vielleicht hab ich ja doch ein falsches Bild von ihm gehabt ...“

„Also, mir hat er als Begründung gesagt, dass er sein Studium nicht unterbrechen will“, schaltete sich Oliver dazwischen. „Ich kann nicht glauben, dass es ihm plötzlich nur noch ums Geld geht.“

„Ja, danke“, sagte Patrick erleichtert. „Ich weiß schon nicht mehr, was ich denken soll.“

„Denk am besten gar nicht so viel“, riet Elin ihm. „Vertraue lieber auf dein Gefühl. Erzähl uns doch einfach, wie ihr euch kennengelernt habt.“

„Ach, das war ganz unspektakulär“, sagte Patrick. „In der Mensa. Obwohl, nein, gesehen habe ich ihn zum ersten Mal in der Disko, in der Schwulen Sau. Da tauchte er eines Nachts plötzlich auf, ohne Begleitung, zumindest habe ich keine gesehen, und er verließ die Tanzfläche kein einziges Mal. Ganz versunken hat er stundenlang getanzt, als gäbe es nur ihn und die Musik. Ich konnte kaum die Augen von ihm lassen, und es ging nicht nur mir so.“ Patricks Gesicht bekam bei der Erinnerung einen weichen, wehmütigen Ausdruck. „Ich habe ihn da aber nicht angesprochen, habe mich nicht getraut, weil … Hm, wie soll ich sagen, seine ganze Ausstrahlung lud einfach nicht dazu ein. Er sprach aber auch mit sonst keinem, er tanzte nur und war dann genauso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Als ich ihn dann drei oder vier Wochen später in der Mensa sitzen sah, wirkte er eigentlich genauso unnahbar. Er saß allein und sah nicht rechts und links, nur auf den Teller vor sich. Ich erkannte ihn sofort wieder, und diesmal wollte ich mir die Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Ich setzte mich zu ihm.“

Patrick musste lächeln, als er an ihr erstes Gespräch dachte, das alles andere als glücklich verlaufen war. Was unter anderem daran lag, dass Patrick gleich zu Beginn in ein Fettnäpfchen tappte, welches er allerdings erst viel später als solches erkennen sollte.

„Hi, ist hier noch frei?“, hatte er es ganz harmlos angefangen.

Toshis Blick hatte ihn nur beiläufig gestreift (dieser kleine Augenblick, als sich ihre Augen trafen, rief allerdings schon ein heftiges Kribbeln in Patricks Bauch hervor), und dann hatte er mit einem wortlosen Nicken sein Ja zu verstehen gegeben.

Patrick rutschte beim Hinsetzen vor Aufregung fast sein Teller vom Tablett, gerade rechtzeitig hatte er noch verhindern können, die Nudeln mit der Soße über den Tisch zu verteilen, nur die Gabel verriet laut klirrend seine Nervosität, als sie erst auf die Tischplatte und von dort auf den Boden fiel. Mit hochrotem Kopf bückte sich Patrick, um sie aufzuheben, und wischte sie an seinem Hosenbein ab, was von Toshio mit einem Hochziehen der Augenbraue schweigend quittiert wurde.

Oh je, wie dumm, dachte Patrick, gleich so einen trotteligen ersten Eindruck zu machen! Da konnte nur eine beherzte Offensive helfen.

„Bist du neu in der Stadt?“ fragte er das erste, was ihm einfiel. Und was, zugegebenermaßen, nicht besonders originell war.

„Nein. Du?“ war die knappe Antwort.

„Nein. Ich bin hier schon in den Kindergarten gegangen.“ Patrick kicherte verlegen und schlug sich gleichzeitig innerlich gegen die Stirn, dass er sich so albern benahm. Aber es ging nicht anders, die Anspannung musste einfach irgendwo hin, und dämliches Verhalten war ein beliebter Weg, den sie einzuschlagen pflegte.

Toshio blieb dummerweise total ernst. Er war hauptsächlich mit Essen beschäftigt.

Also musste Patrick einen weiteren Vorstoß wagen, und was war besser geeignet, um näheren Kontakt herzustellen, als ein unverfängliches Coming Out aufgrund der Diskothek, in der man gewesen war?

„Ich habe dich neulich tanzen sehen, in der Disko“, platzte Patrick also heraus, nicht ahnend, dass er damit das genaue Gegenteil von Nähe erzielen würde.

„Schön für dich. Ich muss los.“ Die Stuhlbeine quietschten über die Steinfliesen, als Toshio aufstand. Dabei hatte er noch gar nicht aufgegessen!

Auch Patrick erhob sich, so hastig, dass sein Stuhl umfiel. Er hatte es völlig vermasselt, und was hatte er sich überhaupt eingebildet, dass so ein gut aussehender Mann sich ausgerechnet mit ihm würde abgeben wollen?

„Na, gut, dann … vielleicht sehen wir uns ja demnächst mal wieder in der Sau“, stammelte er mit glühenden Ohren.

„In der Sau?“ Die Hände, die gerade nach dem Teller und der daneben liegenden Serviette greifen wollten, hielten mitten in der Bewegung inne.

„Ja, in der Schwulen Sau. Habe ich doch gerade gesagt, dass ich dich da gesehen habe.“

„Ach so“, sagte Toshio, und Patrick hatte in dem Moment noch nicht verstanden, warum er so erleichtert klang. Damals hatte er ja noch nichts von Toshios Nebenjob im Spotlight gewusst, und dass er es tunlichst vermied, Schnittstellen zwischen Uni und Nachtclub entstehen zu lassen.

„Ich fand toll, wie du getanzt hast“, konnte sich Patrick nicht verkneifen zu gestehen.

„Danke.“ Toshio hatte jetzt seinen halbgeleerten Teller in der Hand, schien es aber mit einem Mal nicht mehr ganz so eilig zu haben. Zum ersten Mal sah er Patrick richtig an.

Und dem wurde heiß und kalt unter der unverhofften Aufmerksamkeit. Leider fiel ihm gerade jetzt nichts mehr ein, was er sagen könnte. Sein Kopf war völlig leer.

„Na dann ... gehe ich jetzt“, sagte Toshio.

Und bevor Patricks Sprachzentrum wieder mit ausreichend Blutzufuhr versorgt war, hatte Toshi sich schon umgewandt. Er konnte ihm nur noch hinterher schauen, wie er seinen Teller auf den Geschirrwagen stellte, und dann war er auch schon hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
 

„Unser erstes Gespräch war sehr kurz“, fasste er das Erlebnis für die anderen zusammen. „Und ich muss gestehen, ich war so verknallt, dass ich in dieser Mittagspause nicht einen Bissen gegessen habe.

Bei Toshi hat das allerdings noch etwas länger gedauert. Die nächsten Male, wenn wir uns begegnet sind – rein zufällig natürlich – war er nicht unfreundlich zu mir, aber höflich distanziert. Das war nicht gerade ermutigend. Aber ich konnte einfach nicht von ihm lassen … Er war meistens allein, und ich hatte ja auch nicht wirklich das Gefühl, dass er mich nicht mochte ... Am liebsten traf ich ihn – rein zufällig – in der Mensa, wenn das Essen ihn zwang, nicht gleich wieder weg zu laufen.“ Patrick grinste bei der Erinnerung, wie viel Zeit er investiert hatte, nur um seinen Schwarm für wenige Minuten am Tag zu treffen. „Es hat eine Weile gedauert, bis sich bei meinem Anblick zum ersten Mal ein echtes Lächeln in seinem Gesicht zeigte. Aber da wusste ich, dass sich meine Beharrlichkeit ausgezahlt hatte! Ich kann euch gar nicht sagen, wie glücklich ich war, als wir uns das erste Mal außerhalb der Uni verabredeten. Und als er mich zum ersten Mal geküsst hat ...“ Seine Stimme schwankte, und seine Stimmung kippte zurück in die Traurigkeit. „Ich wollte immer nur, dass er glücklich ist. Und das will ich immer noch. Wenn ich nur glauben könnte, dass es ihm gut geht mit diesem Remarque, dann ...“

Er ließ offen, was dann wäre, und schwieg. Nami legte das Photo zurück neben die Kerze.

„Remarque heißt der Typ?“ vergewisserte sich Elin mit belegter Stimme, ob sie sich nicht verhört hatte. „Etwa der Remarque von der Pharmaindustrie?“

„Ja, genau. Remarque-Pharma. Die mit der Werbung: Pharmacie pour la vie. Kennst du ihn?“

„Nein, persönlich nicht.“ Elin war ganz blass geworden. Jetzt sah man deutlich die Sommersprossen auf ihren Wangen. „Aber ich habe von ihm gehört und zwar nichts Gutes. Eine Freundin von mir, sie war gegen Tierversuche aktiv, hatte mit ihrer Gruppe ein paar Konzerne besonders intensiv unter die Lupe genommen, und Remarque-Pharma gehörte dazu. Sie redete von fast nichts anderem mehr. Bald zehn Jahre ist das schon her. Und dann kam dieser merkwürdige Autounfall. Wenn es denn ein Unfall war“, schloss sie bitter.

„Oh, Gott“, stöhnte Patrick. „Das wird ja immer schlimmer. Meinst du, die Pharmaindustrie hatte damit zu tun?“

„Es gibt keine Beweise, dass es mehr war als ein Unfall“, sagte Oliver beschwichtigend. „Und diese Leute mögen in unseren Augen Verbrecher sein, aber sie müssen deswegen nicht von Grund auf „böse“ sein. Sie denken schließlich, dass sie mit ihren Forschungen einen Dienst an der Menschheit tun.“

„Die gehen über Leichen, im wahrsten Sinne des Wortes“, warf Elin ein.

„Das machen die meisten unserer Mitmenschen, wenn sie ihr Mittagessen zubereiten“, entgegnete Oliver.

„Ich habe über Remarque gegoogelt“, berichtete Patrick. „Der Konzern ist seit vier Generationen im Familienbesitz. Früher haben die ordentlich mitgemischt bei den Menschenversuchen in Auschwitz im Dritten Reich. Nach Ende des Krieges haben sie einfach wieder mit Tieren weitergemacht, ohne je für ihre Taten belangt zu werden. Natürlich steht das so nicht in den Texten zu der Firma, aber wenn man ein bisschen herum sucht, findet man entsprechende Artikel. Das ist widerlich.“

„Entschuldigung, aber vielleicht ist besser, wenn wir bleiben bei Toshio-san in Gedanken vor Zeremonie“, sagte Nami und fiel damit Elin ins Wort, die schon zu einer Erwiderung angesetzt hatte.

„Ja, genau“, stimmte Oliver ihr zu. „Nami hat recht. Es geht uns jetzt schließlich um Toshi und nicht um Remarque – und auch nicht um Hanna“, fügte er sanft hinzu, nahm Elins Hand und drückte sie kurz.

Elin öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber dann nickte sie nur.

„Am besten fangen wir einfach an. Soll ich mit dem Abräuchern beginnen?“ fragte er.

Wieder nickte Elin stumm, und er nahm gleich drei Räucherstäbchen aus der Packung, zündete sie an der Kerze an und kniete sich neben Patrick. Langsam bewegte er die Räucherstäbchen vor seinem Bruder hin und her, von oben nach unten und wieder hoch, dann über den Kopf und hinter seinem Rücken hinunter.

„Der Rauch reinigt dich und hilft dir, offen für Neues zu sein“, erklärte er kurz.

Das Gleiche wiederholte er bei Nami und Elin, danach räucherte Elin ihn ab und zum Schluss noch ihre Trommel, wobei ihre Lippen lautlose Worte formten. Sie behielt die Trommel in der Hand und überließ die Räucherstäbchen der Erde einer Grünpflanze, die auf dem Fensterbrett stand. Das Fenster war offen, sodass die Stäbchen weiter einen angenehmen Duft im Zimmer verbreiteten, ohne dass es zu stickig wurde.

Jetzt schlug sie die Trommel in einem Rhythmus, der an das Klopfen des Herzschlages erinnerte, und ging mehrmals bedächtig im Kreis hinter den Sitzenden entlang, während sie einen melodiösen, aber unverständlichen Singsang anstimmte. Das war ihre ganz persönliche Art, die Elementarkräfte einzuladen, ihr Krafttier zu rufen und gemeinsam mit ihm einen Schutzkreis zu ziehen.

Schließlich setzte sie sich wieder an ihren Platz, und ohne mit Trommeln aufzuhören – sie änderte nur den Rhythmus, wurde langsamer und leiser – sagte sie: „Bevor wir beginnen, erkläre ich euch, was ihr zu tun und was ihr zu beachten habt. Von Oliver weiß ich, dass er Erfahrung hat, von Patrick, dass er keine hat. Wie ist es mit dir, Nami?“

„Ich kenne meditieren. Und als Kind ich war in Trommelgruppe, taiko. Aber dies ich kenne nicht.“

„Das macht überhaupt nichts. Ich werde euch zu Beginn ein wenig anleiten. Wichtig ist, dass ihr euch auf das einlasst, was sich euch an inneren Bildern zeigt. Ich werde einen schnellen Rhythmus schlagen“, sie machte vor, was sie meinte, „und dann nach ungefähr fünfzehn bis zwanzig Minuten unterbreche ich und schlage sieben einzelne Schläge. Das ist das Rückrufsignal, danach habt ihr noch kurz Zeit, Euch zu verabschieden und den Rückweg anzutreten. Geht bitte ganz bewusst den selben Weg zurück, den ihr am Anfang genommen habt, bis ihr wieder am Ausgangspunkt der Reise angekommen seid.

Wir reisen in die Anderswelt durch eine Art Tunnel, der in die Erde führt. Der Eingang kann ein Fuchsbau sein, ein Loch zwischen den Wurzeln eines Baumes oder ein Felsspalt. Oder etwas anderes. Stellt euch das vor, was euch am meisten anspricht oder nehmt das, was sich als erstes als Bild in eurem Kopf zeigt. Versucht, es euch so genau und detailreich wie möglich vorzustellen und seht euch gründlich um: Wie ist der Boden, erdig, steinig, sandig; sind da Wurzeln oder kleine Tiere, vielleicht ist da ein Geruch, den ihr wahrnehmt.

Euer Krafttier wird euch erwarten, entweder am Anfang oder am Ende des Tunnels. Begrüßt es, stellt euch vor und nennt ihm den Grund unserer Reise. Es wird euch begleiten, führen und beschützen.

Sollte sich kein Tier zeigen, dann könnt ihr es rufen und bitten, zu erscheinen. Wenn ihr dann immer noch keins wahrnehmen könnt, ist das nicht schlimm. Cloud, mein Krafttier, wird euch dann abholen. Sie wird da sein, auch wenn ihr sie vielleicht nicht seht, stellt euch dann einfach einen weißen Drachen vor.“

„Woher soll ich denn wissen, was zu der Anderswelt gehört und was ich mir nur einbilde, wenn ich mir alles selber vorstelle?“ fragte Patrick verwirrt.

„Das merkst du dann schon“, beruhigte Elin zuversichtlich. „Plötzlich passieren Sachen, auf die du nie gekommen wärst oder die völlig anders ablaufen, als du es erwartest. Wichtig ist nur, dass du am Anfang deine innere Vorstellungskraft aktivierst, denn über deine inneren Bilder nehmen die Geistwesen Kontakt zu dir auf.“

„Und woher weiß ich, ob das Tier, das ich sehe - wenn ich denn eins sehe - wirklich mein Krafttier ist, und was ist ein Krafttier überhaupt?“

„Krafttiere sind spirituelle Führer. Jeder hat eins. Sie lehren dich und lernen gleichzeitig von dir. Wenn sich dir ein Tier zeigt, und du bist nicht sicher, ob es dein Krafttier ist, frag es einfach. Du wirst eine ehrliche Antwort erhalten. Wenn es wieder verschwindet, war es nicht dein Krafttier. Sonst noch Fragen?“

„Nein, erst mal nicht“, seufzte Patrick und klang noch immer nicht sehr zuversichtlich, dass er bei diesem Ritual irgendwem irgendwie hilfreich sein würde.

Elin lächelte ihm aufmunternd zu. „Es klingt schwieriger als es ist. Im Übrigen sind wir ja nicht wirklich weg, und der schamanische Trance-Zustand bedeutet auch nicht, dass wir völlig weg driften. Wenn ihr also zwischendurch unsicher werdet, Angst bekommt oder noch wichtige Fragen habt, dann fragt ruhig. So ...“ Sie begann, die Trommel lauter und schneller zu schlagen. „Ich erkundige mich jetzt als erstes, ob wir überhaupt auch ohne Toshios Einverständnis mit ihm und für ihn arbeiten dürfen.“

Sie schloss die Augen, und bevor sie noch den Ausgangsort einer jeder ihrer Andersweltreisen, einen hohen, breiten Felsen, imaginieren konnte, schwebte schon Cloud vor ihr. Der weiße Drachen mit dem schillernden, schlanken Leib schien bereits ungeduldig auf sie gewartet zu haben, ihre grazilen Barten bebten leicht, und sie hatte ihre pergamentdünnen und fast durchscheinenden Flügel weit ausgebreitet. Ihre ganze Körperhaltung drückte aus: „Na, endlich! Los jetzt!“

Sie ließ Elin keine Zeit für eine Begrüßung oder Erklärung, sondern drehte sofort ab und erhob sich in einer eleganten Bewegung voller Leichtigkeit in die Lüfte.

„He! Warte!“ Elin zögerte nicht, ihrer langjährigen Begleiterin zu folgen. Die physikalischen Gesetze der realen Welt existierten hier nicht, so dass Elin mühelos hinter dem Drachen herfliegen konnte. Cloud reduzierte ihre Geschwindigkeit gerade so weit, dass ihre menschliche Freundin aufholen konnte, dann ließ sie sich in einer schnellen Drehung nach unten gleiten, kam mit sanftem Schwung wieder hoch und platzierte Elin auf diese Weise rittlings auf ihrem Rücken. Sofort schmiegte sich Elin an den schuppigen Drachenkörper, und die hauchzarten Schwingen legten sich schützend um sie herum und ließen sie beide verschmelzen zu einem Wesen. Elin liebte es, mit ihrem Drachen eins zu werden; das geschah nicht oft und zeigte ihr die Dringlichkeit ihrer Aufgabe. Sie wusste nun ohne große Erklärungen, dass Toshio tatsächlich Hilfe brauchte, sie wusste, dass es eilte, und sie wusste, dass es keiner weiteren Erlaubnis dafür bedurfte. Cloud würde wissen, wenn es falsch wäre.

Gleichzeitig wusste Elin aber auch, dass Oliver, Nami und Patrick auf eine Antwort von ihr warteten, vorher würden sie ihr nicht in die Anderswelt folgen. Ungeduldig stoppte Cloud ihren Flug und wartete reglos, als hätte jemand bei einem Film auf Pause gedrückt, und Elin öffnete ihre Augen, blickte kurz in die Runde und sagte knapp: „Es ist in Ordnung. Ich habe jetzt keine Zeit, aber ich habe es euch ja schon erklärt. Sucht euch euren Eingang, ruft euer Krafttier, der Rest geht von allein. Es ist ganz einfach.“

Damit ließ sie sie allein, schloss wieder die Augen und sauste mit Cloud zusammen weiter, dem Licht entgegen, das in der Höhe mild leuchtete, und von dem sie wusste, dass es ihr Ziel war.

Die Zeit drängte.
 

Patrick blinzelte verwirrt. Hatte Elin nicht gesagt, dass sie sie zu Anfang anleiten wollte? Das hatte er sich allerdings anders vorgestellt. Elins Getrommel hatte ihn in einen angenehmen Dämmerzustand versetzt, jetzt allerdings war er wieder hellwach und wusste nicht recht, was er tun sollte. Die anderen sahen hochkonzentriert aus und saßen mit geschlossenen Augen ganz still. Er jedoch begann seine Knie zu spüren, die langsam gegen die ungewohnte Haltung aufbegehrten. Möglichst lautlos versuchte er, seinen Sitz ein wenig zu verändern, doch dadurch beschwerte sich nur sein Knöchel, auf dem jetzt das Körpergewicht zu liegen kam. Wie sollte er sich denn dabei bitte schön irgendeinen Eingang vorstellen können? Ein Ächzen unterdrückend setzte er sich jetzt ganz um, so dass seine Beine nach vorne ausgestreckt lagen. Aber das war auch unbequem, das merkte er sofort. Also zog er sie an, schlang die Arme um die Unterschenkel und legte das Kinn auf die Knie. So konnte es gehen. Ein Rundblick zeigte ihm, dass sich die anderen anscheinend durch sein Herumgehampel nicht hatten stören lassen, und so versuchte auch er sich wieder auf die Aufgabe zu besinnen: einen Eingang finden, ein Krafttier rufen. Doch er sah nur schwarz mit rötlichen Sprenkeln, als er die Lider senkte. Elin hatte zwar gesagt, er solle sich am Anfang einfach etwas vorstellen, und normalerweise hatte er damit auch gar kein Problem, nur verstand er noch immer nicht, wie das Toshi helfen sollte, wenn er sich jetzt irgendetwas ausdachte. Er begriff nicht, wo der Unterschied zwischen Einbildung und Realität sein sollte – und war die Anderswelt überhaupt real?

Er spürte, wie er schon wieder in einen durch das gleichmäßige Trommeln herbeigeführten Dämmerzustand sank. Einschlafen wäre auch nicht schlecht, aber Toshi brauchte ihn, und darum riss er sich zusammen und zwang sich, ein Loch in der Erde zu visualisieren. Sah aus wie der Eingang zu einem Kaninchenbau. Wie sollte er da denn rein passen? Ratlos rief er nach seinem Krafttier, aber das einzige Tier, das in seiner Vorstellung erschien, war ein winziger Marienkäfer. Das konnte wohl kaum ein Krafttier sein.

Frustriert gab er auf und lauschte nun doch nur noch der Trommel, bis er tatsächlich fast einschlief. Er lief durch einen Wald. Stachelige Ranken, Wurzeln, die aus der Erde ragten, und dichtes Unterholz erschwerten das Vorwärtskommen. Er wusste, dass er im Kreis gegangen war, und er wusste, dass Toshi hier war, irgendwo in diesem Wald, und dass er genauso herum irrte wie er selbst.

Vielleicht hatte er geschnarcht, weswegen Elin ihn leise ansprach, ohne das Trommeln zu unterbrechen: „Patrick, hast du den Eingang gefunden?“

Wieso fragte sie ihn und nicht Nami? Er sah sie an und zuckte die Achseln. „Nein. Wenn ich mir einen Eingang vorstellen will, sehe ich nur so ein kleines Kaninchenloch, da passe ich nicht durch.“

„Doch, das geht“, widersprach sie lächelnd. „Du kannst dich einfach klein machen. Ist dir dein Krafttier begegnet?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Da war nur ein Marienkäfer. Ich hab doch gesagt, dass ich das nicht kann.“

Nun war es Elin, die den Kopf schüttelte. „Ich denke schon, dass du das kannst. Du kannst es nur nicht glauben, dass du es kannst.“

„Nein, ich kann das eben einfach nicht“, maulte Patrick.

„Kann nicht gibt`s nicht“, sagte Elin bestimmt, und das Lächeln verschwand aus ihren Zügen. Sie rutschte näher an Patrick heran und senkte die Stimme noch weiter zu einem eindringlichen Flüstern, um die beiden anderen Reisenden so wenig wie möglich zu stören. Keinen Moment geriet ihr Trommeln aus dem Rhythmus. „Ich habe Toshio gerade gesagt, dass er erwartet wird, und dich will er mit Sicherheit am ehesten sehen, und ich glaube dir, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckt und dass es wirklich dringend ist, dass wir etwas tun für ihn, gerade du, wo du ihn so sehr liebst und ihm das Liebste bist, also gib dir gefälligst Mühe!“ Sanfter fügte sie hinzu: „Ich helfe dir auch.“

„Pfh“, machte Patrick entnervt, wagte aber keinen Widerspruch mehr.

„Gut. Dann schließ jetzt die Augen. Du stehst wieder vor deinem Kaninchenbau, doch diesmal gehst du einfach hindurch.“ Sie sprach langsam und ließ genügend Pausen zwischen den Sätzen, um Patricks Vorstellungskraft Raum zu geben. „Der Eingang und du, ihr habt genau die passende Größe, dass du bequem hindurch passt. Am anderen Ende des Tunnels erwartet dich Cloud. Siehst du den weißen Drachen?“

„Ja. Naja – zumindest kann ich mir einen vorstellen. Ich weiß ja nicht, wie sie aussieht.“

„Egal. Energie kann viele Formen annehmen. Begrüße sie, stell dich ihr vor und bitte sie, dir zu zeigen, wo oder wie du Toshio helfen kannst.“

Sie überließ die beiden sich selbst und suchte sich wieder eine gemütlichere Sitzposition. Nami und Oliver hatten sich von ihrem Gespräch mit Patrick nicht stören lassen und saßen unbeweglich mit ruhigen Gesichtern. Elins Blick verweilte einen langen Moment auf der kerzengerade auf den Füßen sitzenden Gestalt der schlanken Japanerin. Kurz gestattete sie sich die Frage, wie deren Gesicht wohl aussehen mochte, wenn sie aus tiefsten Herzen entspannt lachen würde. Und wie sich ihre Haut wohl anfühlte, wenn Elins Fingerspitzen leicht wie eine Vogelfeder über sie strichen. Sie bemerkte eine kleine steile Falte zwischen den schmalen Augenbrauen, die von angestrengter Konzentration zeugte, und war gespannt, was Nami wohl gleich von ihrer Reise berichten würde.

Soweit Elin das beurteilen konnte, musste Toshio ernsthafte Probleme haben. Oder warum sonst war das Thema ihrer Reise gewesen, Toshios Seele davon abzuhalten, in das Tor aus Licht zu gehen? Auf Patricks Bauchgefühl war allem Anschein nach Verlass.

„Ein Drache geleitet mich ins Jenseits“, hatte Toshio gedacht, und war sich damit vollkommen bewusst, dass er sterben sollte. Vielleicht sogar sterben wollte, denn der Gedanke gefiel ihm. Schlecht hatte er ausgesehen, bleich, mit schwarzen Ringen unter den Augen, verzweifelt, krank, verwelkt. Dem Tode nah. Und dennoch hatte er sich bereitwillig von ihr wegführen lassen vom Friede verheißenden Licht. Toshio war stark, war er immer gewesen.

Elin hatte gelacht, um der Situation etwas Leichtigkeit zu schenken, außerdem war Toshio nie jemand gewesen, der bemitleidet werden wollte. Aber innerlich war sie erschrocken.

Und sie hatte ein Versprechen gegeben: „Das mache ich gern, Toshio. Aber jetzt ist es noch nicht so weit.“ Sie wusste das, denn die beiden Lichtgestalten vor dem Tor hatten die Speere gekreuzt gehalten. Sie hätten Toshio hindurch gelassen, wenn er darum gebeten hätte, aber sie erwarteten ihn nicht.

Oder war es Cloud gewesen, die das wusste, und die solch ein weitreichendes Versprechen abgab? Wie auch immer, Elin war von nun an mit Toshio verbunden, untrennbar, bis zu jenem Tag, an dem sie das Versprechen würde einlösen können.

Sie hoffte zumindest, dass sie dazu in der Lage sein würde, später dann, wenn es so weit war.

Denn irgendetwas verhinderte, dass sie den Kontakt zu Toshio halten konnte, etwas Dunkles, Machtvolles schob sich zwischen sie, während sie von der Oberwelt hinunter kamen. Unaufhaltsam, zunächst fast unmerklich wurden sie getrennt, und als sie die Unterwelt erreichten, hatte sie Toshio verloren. Auch das dunkle, unheilvolle Gefühl war fort, einzig eine lange, tiefschwarze Feder segelte vor ihren Augen sanft schaukelnd durch die Luft und senkte sich langsam zu Boden.

Sie spürte, dass ihre Aufgabe hier zunächst getan war, und kehrte zu den anderen zurück. Jetzt konnte sie Toshio nur noch helfen, indem sie Patrick in seiner Hilfe unterstützte.
 

Sie gab ihm noch zehn Minuten, dann schlug sie das Rückrufsignal, sieben einzelne laute Schläge mit einer deutlichen Pause dazwischen. Danach trommelte sie einen schnellen, leichten Rhythmus.

„Es ist Zeit, zurück zu kommen“, gab sie leise ihre Anweisung dazu. „Kommt zum Abschluss, bedankt euch, und bittet eurer Krafttier, euch wieder zu dem Tunnel zu bringen. Kommt ganz bewusst den ganzen Weg zurück. Dann verabschiedet euch, und wenn ihr so weit seit, öffnet die Augen.“

Nacheinander kamen sie zurück.

Elin schenkte allen frischen Tee nach und war sehr neugierig, was die anderen zu erzählen hatten.

Oliver machte den Anfang.

Sein Krafttier, ein zierlicher Baumdrache, der Oreon hieß, hatte ihn zunächst in die Oberwelt geführt, wo er einen kupfernen Kessel mit einer matt leuchtenden, gelblichen Flüssigkeit und kleine rot glitzernde Edelsteine überreicht bekam. Danach ging es wieder hinunter zu dem Ort, an dem er für Toshio hilfreich sein durfte. Sie kamen an eine Lichtung in einem grünen, dichtbewachsenen Wald. Er hörte das tiefe Kollern von Raben, die in den Bäumen sitzen mussten, sich jedoch nicht zeigten. Den Geräuschen nach zu urteilen, musste es ein ganzer Schwarm sein.

Auf der Wiese lag ein großes Tier mit bräunlich rotem Fell, an dessen mächtigem Geweih Oliver beim Näherkommen einen Hirsch erkannte. Zunächst dachte er, der Hirsch sei tot, so reglos lag er da. Die Atmung war so flach, dass man sie kaum erkennen konnte, die Augen blickten trüb, der Bauch war eingefallen, und Knochen zeichneten sich viel zu deutlich unter dem stumpfen Fell ab. Als er Oliver bemerkte, gab er ein schwaches verzweifeltes Schnaufen von sich und versuchte vergebens, den schmalen Kopf mit dem schweren Geweih zu heben. Der Hirsch war nicht tot, aber er lag im Sterben.

Und ohne groß nachzudenken, wusste Oliver, dass die Flüssigkeit in seinem Kessel ihn retten würde.

Doch er kam nicht an das totgeweihte Tier heran. Als er sich ihm näherte, stürzten die schwarzen großen Vögel zwischen den Bäumen hervor und attackierten ihn mit ihren kräftigen Schnäbeln und scharfen Krallen in einer Heftigkeit, dass sich Oliver nur schwer seiner Haut erwehren konnte. Sie ließen nur von ihm ab, sobald er sich wieder zurück zog.

Er musste aber zu dem Hirschen, so viel war sicher. Also griff er sich die einzige Waffe, die zur Hand war, einen dicken Ast, der am Boden lag, und warf sich wild schreiend und um sich schlagend in den Kampf, der härter und erbitterter geführt wurde, als jede Auseinandersetzung, die er je in der Anderswelt zu überstehen gehabt hatte. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, und ohne das beherzte Eingreifen von Oreon wäre es ihm möglicherweise gar nicht gelungen, den Schwarm zu bezwingen. Doch schließlich zogen sich die Vögel in die Tiefen des Waldes zurück. Nur ein besonders großer Rabe blieb in dem Wipfel einer Kiefer sitzen und beobachtete mit klugen, schwarz glänzenden Augen, wie Oliver neben dem Hirsch in die Knie ging und ihm behutsam den heilenden Trank aus dem Kupferkessel einflößte. Doch er war schon zu schwach, um zu schlucken.

Voller Angst, das stolze Tier könne ihm nun doch noch unter den Händen wegsterben, bat Oliver eindringlich die Wesenheiten der Wiese und des Waldes um Hilfe. Und tatsächlich traten winzige, elfenhafte Mädchen und Frauen aus den Blumen hervor und bildeten einen engen Kreis um den Hirsch. Mit merkwürdigen, wellenartigen Bewegungen ihrer Arme spannen sie eine Lichtkugel um den Sterbenden, der schließlich tief einzuatmen begann und sich sichtbar erholte. Jetzt konnte Oliver ihm von dem Trank geben. Sie tanzten solange, bis das Tier sich endlich langsam aufzurichten begann. Es stand noch unsicher, aber senkte das Haupt, um den Kessel leer zu trinken. Danach sah es schon wieder gesund und kräftig aus.

Und dann kam auch schon Elins Rückrufsignal.

Oliver bedankte sich bei den Elfen und schenkte ihnen die roten Kristalle. Dann warf er noch einen unsicheren Blick zu dem Raben hinauf und hatte ein unbestimmtes, ungutes Gefühl dabei, ihn mit dem Hirsch jetzt wieder allein zu lassen. Die Angelegenheit schien noch nicht bereinigt. Der jedoch stupste ihn an, als wolle er sagen, dass es gut sei. Oliver streichelte zum Abschied über das glatte Fell am Hals des Tieres. „Pass gut auf dich auf!“

Dann ließ er sich von Oreon zurück bringen.

„Ich weiß nicht, was dieser Hirsch mit Toshio zu tun hat. Ich hoffe, ich bin nicht am Thema vorbei gereist“, beendete er seinen Bericht. Jetzt erst fiel ihm ein, dass er ja einfach mal hätte fragen können. Aber dafür war es nun zu spät.

„Glaube ich nicht“, sagte Elin nachdenklich. „Das Thema war zumindest das Gleiche wie bei mir. Ganz existenziell.“ Und eine schwarze Feder hatte sie auch gesehen. Gut möglich, dass es eine Rabenfeder gewesen war. Merkwürdig.

Sie wandte sich an Nami. „Wie war es bei dir? Konntest du dich darauf einlassen?“

Nami nickte. Ihre schlanken Finger umfassten die Teetasse, als wolle sie sich wärmen trotz der sommerlichen Temperatur. „Ich rief Krafttier, und sofort kam Drache.“

„Das war bestimmt Cloud. War es ein weißer Drache?“ fragte Elin.

„Nein, ich nicht glaube. Ich glaube, war Drache von mein Großmutter, Drache aus Fluss, wo sie hat gelebt. Es sah aus, wie sie hat erzählt.“

„Ein Wasserdrache? Du hast einen Drachen als Krafttier? In der dritten Generation?“ Elin gab sich keine Mühe, ihre Begeisterung zu verbergen. „Dann ist es wirklich kein Zufall, dass wir uns hier treffen!“

Nami zuckte leicht die Schultern und setzte ein entschuldigend wirkendes Lächeln auf. „Ich nicht weiß. Vielleicht mein Großmutter schickt mir zu Hilfe. In Japan, wir glauben, dass Seelen von Toten leben weiter. Jedenfalls Drache kam und bringt mich in Anderwelt. It is okay for you, if I tell it in English?“ Nachdem niemand etwas dagegen hatte, fuhr sie wesentlich flüssiger auf Englisch fort. „Ich kam zu einer Ebene, durch die sich ein sehr breiter Fluss schlängelte, der ins Meer mündete. Dunkle Gewitterwolken standen tief am Himmel, und Blitze zuckten durch die Luft. Es war sehr stürmisch, und der Wind riss an meinen Haaren, und Regen peitschte mir entgegen. Alles in allem wirkte die Szenerie sehr bedrohlich. Das Meer war unruhig und schwarz, und ich sah eine Art Boot bei der Flussmündung und ging darauf zu. Es sah aus wie eine Mischung aus einem Floß und einer Sänfte, aber ich konnte nicht in das Innere sehen. Ein junger Mann mühte sich vergebens damit ab, das Floß ans Ufer zu ziehen.

„Ich helfe dir“, sagte ich und fasste mit an. „Bist du Toshio-san?“

„Ich schaffe es nicht allein“, sagte er nur, aber ich war sicher, dass er es war. Er sah aus wie auf dem Foto.

Das Floß war schwer und ließ sich schlecht anfassen, es war unmöglich, es an Land zu bekommen, im Gegenteil: Der Sog der Strömung sorgte dafür, dass wir es nur mühsam an Ort und Stelle halten konnten, immer wieder drohten die Wellen, es fortzureißen. Lange würde das nicht mehr gut gehen.

Bei jedem Blitz zuckte Toshio zusammen und duckte sich ängstlich. Es war aber auch beängstigend, wie das Gewitter um uns herum tobte.

„Wir müssen hier weg“, sagte ich.

„Ich kann nicht weg“, antwortete er. „Ich brauche Hilfe.“

„Ich helfe dir“, wiederholte ich.

Jetzt, wo ich es erzähle, fällt mir erst auf, dass wir gar nicht Japanisch gesprochen haben, sondern Englisch.“

„Das passt zu Toshi“, warf Patrick ein. „Toshi mag so ziemlich gar nichts, was aus Japan kommt.“ Sie tauschten einen wissenden Blick miteinander. Burakumin.

Was allerdings gar nicht zu Toshi passte, war, dass er um Hilfe bat.

Warum hast du das nur nicht früher getan, dachte Patrick wehmütig, aber dann lauschte er weiter auf Namis Erzählung.

Sie verstand, dass das Floß Toshios „Seelengefährt“ war. Wenn es davon trieb, würde er seine Seele verlieren, und er war kurz davor, es nicht mehr halten zu können. „Ich schaffe es nicht allein“, hatte er immer wieder gesagt, und Namis Stimme stockte ein paar Mal, so sehr war sie wieder von seiner Verzweiflung ergriffen, als sie die Situation erneut durchlebte.

Da sie ratlos gewesen war, bat sie den Drachen um Hilfe. Und auf diese mysteriöse, wortlose Art, wie es sie nur im Traum oder in Trance gab, wusste sie plötzlich, was zu tun war. Sie schwang sich auf den Rücken des Drachen, um gemeinsam etwas zu suchen, womit sie das Floß festbinden konnten.

„Halt nur noch kurz durch!“ rief sie Toshio Mut zu. „Wir sind gleich wieder da.“

Doch wo sollte sie in dieser kargen Landschaft ein Seil finden – und selbst wenn sie eins ausfindig machen würde, wo sollte sie dann das Floß befestigen?

Doch der Drache schlug einen anderen Weg ein und tauchte mit ihr in das tosende Meer hinab. Sie glitten durch das Wasser, während über ihnen die Blitze zuckten, und schließlich gelangten sie an ein altes moderndes Schiffswrack. Schlingpflanzen wucherten aus dem löchrigen Holz hervor, und kleine Fische huschten in das Innere des Schiffsbauches, als sie sich näherten. Auf den ersten Blick entdeckte Nami nichts Brauchbares, doch dann bemerkte sie eine eiserne, algenbewachsene Kette. Fast so gut wie ein Seil, entschied sie und griff danach. Aus dem morschen Holz konnte sie das eine Ende der Kette mit Leichtigkeit lösen, das andere Ende jedoch hing im Schlick des Meeresgrundes überraschend fest. Sie zog und zerrte umsonst und begann schließlich im weichen Boden zu graben, um die Kette zu befreien. Was sie zu Tage förderte, war ein großer Anker, hätte sie ja auch gleich drauf kommen können. Und gleichzeitig dachte sie, wie genial das war – so würde das Floß nicht wegtreiben können, und sie brauchten auch keine Halterung am Ufer.

Rasch kehrten sie mit ihrem Fund zu Toshio zurück. Und fanden ihn als zusammengekauertes Bündel am Boden hocken. Das Floß trieb auf das Meer hinaus.

Wieder verständigte sie sich wortlos mit dem Drachen, der sich sogleich davon machte, das Floß zurück zu holen. Nami schlang ihre Arme um Toshio und wiegte ihn sanft. Da sie keine Worte fand, sang sie ein altes japanisches Wiegenlied dabei. Sie hatte das Gefühl, ein zweiter, blauer Drache war bei ihnen, aber sie war nicht sicher.

Da kam das vereinbarte Zeichen zur Rückkehr. Sie befestigte den Anker an dem Floß, dass nun nicht mehr abtreiben konnte.

„Sag oka-san, dass ich sie vermisse“, bat er zum Abschied.

„Alles wird gut, Toshio. Alles wird gut“, versprach sie aus einem inneren Gefühl heraus, ohne zu wissen, ob sie recht behalten sollte.

Sie verließ ihn, um zurück zu kehren.
 

Niemand sprach, nachdem Nami geendet hatte.

In die Stille hinein sagte Patrick: „Ich hab nicht so viel zu erzählen. Und bei mir sind auch keine tollen Drachen aufgetaucht. Nur ein Marienkäfer.“ Seine Frustration war ihm deutlich anzumerken.

„Sag das nicht so“, versuchte Oliver ihn aufzumuntern. „Nur weil ein Marienkäfer klein ist, ist er nicht weniger wert. Marienkäfer ist ein uraltes Glückssymbol. Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich dir einer zeigt. Das bedeutet, dass du auf dem richtigen Weg bist und auf eine glückliche Wendung hoffen kannst.“

„Vielleicht ist er auch gar nicht dein Krafttier“, tröstete Elin, die Patricks Gesichtsausdruck entnahm, dass ihn Olivers Worte nicht überzeugen konnten. Das musste ja auch ein blödes Gefühl sein, wenn alle von Drachen oder stolzen Hirschen erzählten und man selbst lediglich ein kleines Insekt vorzuweisen hatte. „Es gibt auch sogenannte Helfertiere, die uns nur für eine gewisse Zeit oder eine bestimmte Aufgabe zur Seite stehen. Hast du ihn denn gefragt, ob er dein Krafttier ist?“

„Nein“, gab Patrick zu. „Ich dachte, dafür ist er eh zu klein ... Jedenfalls hab ich mir dann vorgestellt, mit deinem Drachen durch diesen Kaninchentunnel zu kriechen.“ Er verzog kurz das Gesicht: Kaninchen, noch so ein unrühmliches Tier. „Zum aufrechten Gang hat da meine Fantasie einfach nicht ausgereicht, und dann kam ich in so einen Trödelladen oder Antiquitätengeschäft oder so, jedenfalls war der Raum voll gestellt mit so ollem Kram. Da war eine alte Frau, die könnte Japanerin gewesen sein, aber ich weiß nicht genau, denn ich glaube, sie sprach Deutsch. Eigentlich sprach sie gar nicht richtig, ich wusste nur irgendwie, was sie sagte ... äh, oder so ähnlich. Jedenfalls sollte ich mir in ihrem Laden etwas für Toshio aussuchen. Da gab es so viel Krimskrams, Möbel, Porzellan, alte Bilder und so halt. Ich hatte keine Ahnung, was davon Toshi gebrauchen könnte. Ich hab dann einen alten, staubigen Kompass genommen, weiß nicht, warum. Oder ... na ja, vorhin hatte ich so eine Art Traum gehabt, und da war dieses Gefühl, Toshi hätte sich verirrt und läuft im Kreis ... Ich dachte ... na ja, so ein Kompass kann einem ja helfen, sich zu orientieren. Jedenfalls hab ich ihn also ausgesucht, vor dem Laden war dann allerdings nichts mehr, nur“, er korrigierte sich rasch, „außer diesem Marienkäfer schon wieder. Und dann hat Elin schon zurück gerufen, und ich hatte keine Ahnung, wie der Kompass denn nun zu Toshi kommen sollte. Das hat dann irgendwie der Marienkäfer gemacht …? Macht das Sinn?“

Elin nickte ermutigend. „Vielleicht hilft der Kompass Toshio, zu dir zurück zu finden. Oder wenigstens zu sich selbst zurück zu finden.“

„Das wäre schön“, seufzte Patrick nicht sehr überzeugt.

„Jedenfalls glaube ich, dass es gut und richtig und wichtig war, dass wir diese Trommelreise gemacht haben“, sagte Elin, und sie war tatsächlich überzeugt davon. „Dein Gefühl, dass er in irgendeiner Art in Not ist, Patrick, hat sich jedenfalls in jeder Reise bestätigt – teilweise sogar auf sehr dramatische Weise.“ Sie berichtete in knappen Worten, was sie selbst mit Toshio in der Anderswelt erlebt hatte.

„Und was machen wir jetzt?“ fragte Patrick.

„Jetzt können wir nur abwarten“, antwortete Elin. „Vielleicht meldet er sich ja demnächst. Oder du rufst ihn noch mal an, und er ist jetzt bereit, mit dir zu sprechen.“

Patrick schüttelte den Kopf. „Er hat seine Handynummer schon abgemeldet. Können wir denn gar nichts sonst tun?“

„Wir haben schon eine ganze Menge heute getan“, entgegnete Elin gefühlvoll. Sie sah Patrick seine Enttäuschung an, und er tat ihr leid, auch wenn sie ihn vorher gewarnt hatte, dass spirituelle Hilfe anders aussehen würde, als er sich das wünschte. „Wir können höchstens noch weitere Reisen machen, um ihn weiter zu unterstützen, und um einige Themen, die aufgetaucht sind, noch tiefer zu beleuchten. Zum Beispiel, welche Verbindung der Hirsch zu ihm hat. Gut möglich, dass er sein Krafttier ist. Das Wohlbefinden des Einen hängt eng mit dem Zustand des anderen zusammen. Indem wir sein Krafttier heilen, helfen wir auch ihm unmittelbar.

Und dann ist da auch noch dieser geheimnisvolle Rabe. Wäre vielleicht auch ganz interessant, in dieser Richtung noch genauer zu schauen – um eventuell für Toshio destruktive Kräfte zu bekämpfen oder zu integrieren, ja nachdem, was das Thema ist.

Aber nicht mehr heute. Ich schlage vor, wir essen jetzt erst mal was. Ich hab einen Bärenhunger!“

„Sehr gute Idee“, stimmte Oliver zu. Und zu seinem Bruder gewandt sagte er: „Toshio schien bei uns allen bereit, Hilfe anzunehmen. Vielleicht manifestiert sich das in der realen Wirklichkeit und es kommt tatsächlich bald eine glückliche Wendung, wie dein Helfertier verheißt. Du könntest auch versuchen, über diesen Remarque in Kontakt zu kommen.“

Wieder schüttelte Patrick traurig den Kopf: „An den kommt man überhaupt nicht ran, leider.“

„Mal schauen, ob uns da vielleicht nicht doch was einfällt. Aber jetzt sollten wir wirklich etwas essen!“

„Du bleibst doch noch?“ fragte Elin in Namis Richtung.

Die blickte besorgt zur Uhr. „Besser, ich gehe jetzt. Ich muss noch finden Hotel für die Nacht. Das habe ich noch nicht.“

„Ach, darüber mach dir mal keine Gedanken, du kannst bestimmt auch hier schlafen – du gehörst ja jetzt irgendwie zu uns“, sagte Elin. Fragend sah sie Oliver an.

„Ich kann ja bei Patrick schlafen“, überlegte der. „Dann könnt ihr beiden Frauen hier das Gästezimmer haben. Wenn das für euch in Ordnung ist.“

„Meinetwegen“, sagte Patrick. Als Kinder hatten sie oft in einem Bett geschlafen und später auch noch einige Male, wenn das Haus voller Besuch gewesen war.

„Na gut, wenn macht nicht zu viel Umstände“, sagte Nami nach kurzem Überlegen.

„Wie schön“, strahlte Elin.

„Nur Koffer ist noch in Schließfach bei Bahnhof.“

„Das ist überhaupt kein Problem. Den holen wir sofort nach dem Essen“, sagte Elin fröhlich.

Und Patrick hatte das sichere Gefühl, wenn er Elin so ansah, wie sie Nami ansah, dass ihrem Vorschlag mehr zugrunde lag als pure Gastfreundschaft.

Und er sollte recht behalten.

Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
 


 

Hallo!
 

Ich weiß nicht, wie es euch geht,

aber ich habe an dieses Kapitel inzwischen keinerlei schriftstellerische Ansprüche mehr,

ich bin einfach nur froh, dass es endlich zu Ende ist!
 

Ich hoffe, euch gefällt es trotzdem,

und vielen, vielen Dank wie immer für eure Rückmeldungen!!! *Schoki und Kekse für euch* ^^
 

LG,

Jin

Erinnerungen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Herzensangelegenheiten

„Warum müssen sie denn jetzt alle sterben?“

„Das weißt du doch.“ Raven war in seine Arbeit vertieft. Er verglich die Daten der letzten drei Blutuntersuchungen. Die Leberwerte hatten sich stabilisiert, die Entzündungsparameter waren fast vollständig zurück gegangen. „Der Versuch ist vorbei, und wir brauchen den Raum.“

„Aber das ist so gemein!“

Etwas war da in dem Tonfall der Worte, das Raven veranlasste, ihm nun doch seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Laurin stand vor dem geöffneten Käfig und ließ zwei Ratten auf sich herumlaufen. Er wich seinem Blick aus. Seit dem Frühstück verhielt er sich schon merkwürdig. Nein, verbesserte sich Raven in Gedanken. Schon seit mehreren Tagen. Seit Pascal abgereist war, um genau zu sein. Oder wahrscheinlicher: Seit Toshio abgereist war.

Dieser verdammte Japaner! Warum war er nur so blöd gewesen, sich von Pascal einfangen zu lassen? Seit Raven ihn zum ersten Mal gesehen hatte, wusste er intuitiv, dass er eine große Veränderung bringen würde. Er hatte das zunächst nicht auf sich bezogen, und sah sich durch Pascals wachsende Begeisterung für seinen neuen Betthasen darin bestätigt. Raven wollte keine Neuordnung in seinem Leben, jetzt noch nicht! Allerdings zeigte ihm dann Laurins Reaktion auf ihre erste Begegnung, dass er sich geirrt hatte. Die Änderungen, die Toshios Erscheinen angekündigt hatte, würden viel weitreichender sein und schlossen auch Laurin und damit sich selbst mit ein.

Laurin behauptete, Toshio aus der Anderswelt zu kennen. Natica. Natürlich erinnerte sich Raven an den kleinen Elf aus der Muschel. Er hatte Laurin damals geholfen, über den Verlust seiner Eltern hinweg zu kommen und sich an sein neues Leben zu gewöhnen. Welche Bedeutung sollte jetzt Toshios Erscheinen für ihn haben? Bestimmt war es kein Zufall, dass Natica in Gestalt einer realen Person im Diesseits wieder aufgetaucht war.

Vielleicht interpretierte er aber auch zu viel hinein in die ganze Situation. Wie hatte Freud schon gesagt: Manchmal ist eine Zigarre auch nur eine Zigarre. Nicht alles, was einem begegnete, musste ein Zeichen sein, nicht alles ein Symbol für etwas Tiefliegenderes. Laurin war in der Pubertät, da war es normal, sich seltsam zu benehmen. Da war es üblich, sich von den Eltern zurück zu ziehen (und Raven wusste, dass er für Laurin durchaus so etwas wie ein Vater war), und es war auch normal, Dinge in Frage zu stellen, die vorher selbstverständlich gewesen waren. Laurin war nicht mehr der kleine süße Junge, der an seinem Rockzipfel hing.

Leider.

Und leider war auch das nur ein weiterer Hinweis auf Veränderungen, denn je älter Laurin wurde, desto weniger Zeit blieb ihnen ... Er wollte sich nur nicht damit auseinandersetzen. Jetzt noch nicht!

Tief in seinem Innersten wusste Raven, dass er sich etwas vormachte. In seiner schamanischen Ausbildung hatte er gelernt, dass natürlich alles auf der Welt eine tiefer gehende Bedeutung hatte. Die ganze Welt war symbolhaft zu sehen. Er konnte die Augen davor verschließen, aber das würde nichts an den Tatsachen ändern. Es würde die Umwälzungen in ihrem Leben nicht aufhalten.

„Du hast recht, es ist nicht schön“, sagte er sanft und schob in einer automatisierten Bewegung seine Brille zurecht. „Aber es ist notwendig. Die Forschungen sind wichtig, um kranken Menschen helfen zu können ...“

„Das weiß ich“, fiel ihm Laurin ins Wort. „Ich weiß, dass sie ihr Leben opfern für die Menschheit. Aber warum werden sie zum Dank dafür getötet? Das ist nicht gerecht! Warum kann man ihnen nicht nach dem Versuch einen schönen Lebensabend schenken? Als Ausgleich für das, was ... was wir ihnen antun?“

„Der Ausgleich ist, dass wir vielen Menschen helfen können mit den Erkenntnissen, die wir durch die Versuche gewonnen haben.“

„Toll! Davon haben die Ratten hier auch was!“

Die Bitterkeit in Laurins Worten war neu. Das war es, was Raven aufgefallen war.

„Es ist, wie es ist. Die Welt der Menschen ist nicht gerecht, sie ist es nie gewesen. Diese Ratten sind extra dafür gezüchtet worden, dass wir an ihnen forschen können. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, ist ihr Leben beendet, so einfach ist das. Wenn du mich fragst, ist der Tod nicht das Schlimmste, was ihnen hier passiert.“

Was er sagte oder mehr noch die Härte, wie er es sagte, trieb Laurin die Tränen in die Augen. Eine der Ratten hatte sich in seine Ellenbeuge gekuschelt, und er drückte sie schützend an sich. Plötzlich war er doch wieder ein Kind. „Können wir nicht wenigstens diese beiden hier retten? Sie haben sich mit mir angefreundet, und ...“ Die Stimme versagte ihm.

Es war Raven ein Rätsel, wie der Junge die weißen Laborratten voneinander unterscheiden konnte, nicht einmal die Käfige boten Anhaltspunkte zur Individualität. Alle sahen gleich aus: Eine durchsichtige Plastikwanne war mit Einstreu und zu vielen Ratten auf zu engem Raum gefüllt, und ein Gitter bildete den Himmel, in dessen Vertiefung die Futterpellets und die Trinkflaschen die Grundbedürfnisse der Käfiginsassen befriedigten. Für Raven sahen alle gleich aus, aber Laurin schaffte es innerhalb kürzester Zeit, den Tieren Persönlichkeiten zuzuordnen. Bei den Ratten genauso wie bei den Kaninchen, bei den Mäusen und bei den Meerschweinchen. Bei den Affen und Menschen sowieso.

Raven unterdrückte ein Seufzen. „Nein, das geht nicht. Und ändern würde es auch nichts. Das sind nur zwei von Tausenden. Morgen sind es zwei andere, und übermorgen wieder ...“

„Aber mich hast du doch auch mit genommen!“

„Ja, genau. Und diese gute Tat reicht mir auch für die nächsten Jahre.“ Er brachte es nicht übers Herz, Laurin zu gestehen, dass er ihn keineswegs gerettet hatte. Das fühlte sich für Laurin nur so an. Offiziell gehörte er immer noch Remarque Pharma. „Ich möchte keinen Zoo zu Hause haben.“

„Nur diese beiden“, wiederholte Laurin leise. „Ich schwöre.“

Die Ratte auf seiner Schulter richtete sich auf und schnupperte in sein Ohr. Das kitzelte wohl, denn Laurin legte den Kopf schief. Die andere Ratte hockte bewegungslos auf seinem Arm und ließ sich streicheln. Raven kam es vor, als ahne sie, dass es hier gerade um ihr Leben ging. Er war versucht, nachzugeben. Aber es war nicht das erste Mal, dass Laurin diese Bitte an ihn heran trug. Und bestimmt nicht das letzte Mal. Und außerdem wollte Raven keinen Käfig in der Wohnung haben.

„Nein.“

Laurins Antwort war ein ersticktes Schluchzen, und er drehte sich von ihm weg.

„Laurin ...“ Raven legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Mit einer abwehrenden Schulterbewegung wies Laurin seinen Trost ab. Er rückte noch einen Schritt von ihm fort und drückte Lippen und Nase in das weiche Fell der gerade zum Tode Verurteilten.

„Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst dein Herz nicht so an sie hängen“, sagte Raven und zwang seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Aber er konnte sich nicht mehr auf die Zahlenreihen konzentrieren. Laurins Ablehnung schmerzte ihn. Mehr als er es je für möglich gehalten hätte. Dabei sollte doch diese kleine Geste, wie Laurin sich von ihm ab- und der Ratte zuwandte, nichts Neues und schon gar nichts Schmerzliches für Raven sein: Der Junge stand tatsächlich den Laborratten näher als ihm, ob Laurin sich dessen bewusst war oder nicht.

Zum ersten Mal kamen Raven Zweifel, ob er überhaupt noch in der Lage war, Laurin zurück in das Labor zu geben. Könnte er die Enttäuschung in den grün schimmernden Augen aushalten, die jahrelang vertrauensvoll zu ihm aufgeblickt haben? Er vergaß nicht einen Tag lang, unter welchen Bedingungen ihm das Leben des Jungen anvertraut worden war. Und dennoch ... Laurins Heranwachsen ging ihm viel zu schnell. Je näher der Zeitpunkt heranrückte, desto unwohler war Raven bei der Vorstellung, den Jungen für seine Forschungen zu verwenden. Seinen Jungen ... der ihm blind vertraute. Dessen ausdrucksstarke Augen ihn so liebevoll ansehen konnten. Der sich nachts an ihn kuschelte, und der nichts davon ahnte, dass Raven ihn aus purer Berechnung zu sich genommen und seine kindliche Naivität ausgenutzt hatte, um ihn in seinem Sinne zu prägen.

Und doch hatte sich Raven schon manches Mal gefragt, wer hier wen mehr geprägt hatte. Unmerklich hatte sich der kleine, unschuldige Junge einen Platz in seinem Herzen erschlichen. Und manchmal schien es ihm, als wäre es von Anfang an nicht Kalkül sondern Mitgefühl gewesen, das ihn bewogen hatte, um sein Leben zu bitten. Doch dieses Hirngespinst schob er jedes Mal weit von sich.

„Dann möchte ich wenigstens dabei sein, wenn der Raum geleert wird.“

Laurins Worte unterbrachen seine Gedanken und lenkten sie wieder dem aktuelle Problem zu. Laurin, der gerade schon wegen des bloßen Wissens um das Sterben der Tiere Tränen vergossen hatte, sollte dabei zusehen, wie einer Ratte nach der nächsten das Genick auf die Tischkante geschlagen und danach der Hals aufgeschlitzt werden würde?

„Nein.“

„Aber wenn ich ihnen schon nicht helfen kann, dann will ich wenigstens bis zum Schluss bei ihnen sein.“

„Nein, Laurin.“

„Aber ...“

„Ich diskutiere das nicht mit dir. Es bleibt dabei.“

Ein paar Sekunden herrschte Stille zwischen ihnen, nur unterbrochen durch das Surren der Lüftung und dem Rascheln der Ratten in den Käfigen um sie herum. Eigensinnig hielt Laurin seinem Blick stand, dann erkannte er, dass weiteres Betteln sinnlos wäre.

„Ich hasse dich!“ entfuhr es ihm, und gleich darauf weiteten sich seine Augen vor Schreck, dass er das gesagt hatte. Er wich zurück. „Ich ... das wollte ich nicht ...“

„Ist schon gut, Laurin.“

Überraschenderweise traf Raven die entgegen geschleuderte Wut weniger als das schlichte Abwenden zuvor. Es zeigte ihm nur, wie wichtig dem Jungen die Angelegenheit war. Gleichzeitig wusste er, dass Laurin es nicht so meinte – obwohl er allen Grund hatte, ihn zu hassen.

„Ich verstehe dich ja. Trotzdem erlaube ich es dir nicht. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Ich gebe diesen beiden die letzte Spritze. Dann kannst du bei ihnen sein, und sie schlafen friedlich ein. Wie findest du das?“

Er gab schon wieder nach, er wusste es ja selbst. Aber Laurin bat ihn so selten um etwas, und wenn, dann meist nicht für sich, sondern für andere. Er war nur froh, dass Pascal nicht dabei war. Der würde ihn bis in alle Ewigkeit damit aufziehen, dass sich all seine Warnungen zu bewahrheiten schienen. Unzählige Male hatte er ihn ermahnt, strenger zu dem Jungen zu sein und ihn nicht so zu verwöhnen, sonst würde er ihm bald auf der Nase herum tanzen. Doch Raven hatte darauf bestanden, seine eigene Methode zu haben. Laurin war so sensibel, und das wollte er nicht zerstören. Schwierig genug war das unter den Umständen, ein wahrer Drahtseilakt, auch ohne dass er ihn mit unnötiger Strenge verstörte.

Laurin nickte zögernd. Was blieb ihm auch anderes übrig? Dieser Kompromiss war das Beste, was er in dieser Situation für seine Lieblingsratten herausholen konnte.

„Und ihre Freunde auch, bitte?“

Raven folgte seinem Blick zu dem Käfig, in dem die beiden Ratten mit vier Artgenossen ihr kurzes Dasein gefristet hatten. In Ravens Augen war der Tod bei so einem Leben eine Erlösung, egal auf welche Art er herbei geführt wurde. Die Tischkantenmethode mochte brutal aussehen, war jedoch schnell und effektiv. Kostensparend, nicht zu vergessen. Die Spritze war genauso ein Akt der Gewalt. Aber für Laurin machte es einen Unterschied. Also gab Raven seiner Bitte nach. Schon wieder.
 

Als es soweit war und Raven die erste Spritze aufgezogen hatte, war Laurin ganz ruhig geworden. Er hatte die beiden Ratten zurück in den Käfig gesetzt, der jetzt auf Ravens Schreibtisch stand. Nacheinander holte er eine Ratte heraus und drehte den anderen den Rücken zu, damit die Verbliebenen nicht mit ansehen mussten, was ihnen bevorstand, wie er Raven erklärte. Jedes Tier bekam die gleiche Aufmerksamkeit, die gleiche liebevolle Zuwendung. Laurin hielt sie im Arm, streichelte sie und redete leise und beruhigend mit ihr.

„Gleich ist es vorbei, es ist gar nicht schlimm, nur ein kleiner Pieks, und dann wirst du ganz müde und schläfst ein ...“

Und Raven spritzte die Überdosis Betäubungsmittel so vorsichtig wie möglich, damit Laurins Versprechen eingehalten wurde. Manche quiekten nur, einige wehrten sich gegen den Einstich, eine drehte sogar ruckartig den Kopf, und Raven war sicher, dass sie beißen wollte. Laurins Finger waren aber zwischen dem pieksenden Schmerz und den Zähnen, und sie biss nicht zu.

Freunde. Tatsächlich.

Danach wurden sie alle schnell schläfrig, verloren das Bewusstsein, und die ganze Zeit streichelte Laurin sie weiter und summte eine leise Melodie. Raven wartete geduldig, bis Laurin sagte: „Jetzt ist es vorbei.“ Dann nahm er sein Stethoskop und kontrollierte die Herztöne. Kein Herzschlag. Er wusste, wie schwierig es war, bei starker Betäubung und so kleinen Tieren die Vitalparameter ohne Instrumente exakt zu bestimmen, aber Laurin irrte kein einziges Mal.

Am Ende ruhten sechs leblose kleine Körper wie aufgebahrt nebeneinander. Niemandem sonst hätte Raven erlaubt, tote Ratten auf seinen Schreibtisch zu legen.

„Und jetzt?“ fragte er behutsam. „Willst du sie beerdigen?“

Laurins Augen, die den seinen die ganze Zeit ausgewichen war, streiften ihn kurz. „Wozu? Ihre Seelen sind schon fort.“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

„Ich habe gesehen, wie sie gegangen sind.“

„Das kannst du?“

Darum hatte er gewusst, wann die Tiere tot waren.

„Kannst du das nicht?“ fragte Laurin zurück.

Raven antwortete darauf nicht. „Seit wann siehst du die Seelen Verstorbener?“

Laurin zuckte die Schultern. „Schon länger“, entgegnete er knapp. Er wandte sich wieder den Ratten zu. Jeder einzelnen wurde noch einmal über ihr struppiges Fell gestrichen, bevor sie sanft und liebevoll zurück in den Käfig gelegt wurden.

„Beerdigungen werden nicht abgehalten für die Seelen der Gestorbenen“, griff Raven das Thema noch einmal auf, „sondern für die Seelen der Zurückbleibenden, für die Lebenden.“

„Meine Seele ist in Ordnung. Da gibt es andere hier, die dringend mal auf eine Beerdigung gehen sollten.“ Laurin nahm den Käfig, drückte ihn fest an die Brust und ließ Raven einfach stehen.

Der war so verdattert, dass er einen Moment brauchte, bis er ihm folgte. Hatte Laurin damit ihn gemeint? Wusste er, wie es um seine Seele bestellt war? Wie gut war Laurins feinstoffliche Wahrnehmung inzwischen? Die Zeit war offensichtlich vorbei, wo er ihm in kindlicher Begeisterung alles neu Erlernte gleich mitgeteilt hatte. Bald konnte Raven ihm nichts mehr beibringen, vielleicht war es sogar schon so weit. Pascal hatte recht, es wurde langsam Zeit, Laurin in das Labor zurück zu geben.

Nur hatte Raven es versäumt, den Jungen darauf vorzubereiten. Jahrelang hatte er es vor sich her geschoben, um schließlich zu erkennen, dass es den richtigen Zeitpunkt dafür nicht gab. Vielleicht war es sogar ganz gut so. Womöglich hätte das Wissen darum seine Ausbildung nur behindert. Er würde es ihm schonend beibringen müssen. Letztendlich war er auch später noch auf Laurins Kooperation angewiesen, wenn die Experimente gelingen sollten.

Er folgte dem Jungen den Gang entlang zurück zu dem Versuchsraum. Laurin stellte den Käfig in das Regal zwischen die vielen anderen völlig identischen Käfige.

„Im Tod sollen sie wieder bei den anderen sein“, murmelte er, bevor er sich zu Raven drehte: „Und die Menschen im Untergeschoss? Was passiert mit denen?“ Wie jede Testreihe wurde auch diese parallel in den unteren Stockwerken an Menschen durchgeführt, aus denen die wirklich wichtigen Ergebnisse resultierten.

Warum stellt er schon wieder eine Frage, deren Antworte er eigentlich wissen müsste, fragte sich Raven still, aber gab dennoch geduldig Auskunft: „Die dürfen sich erholen, bis wir sie das nächste Mal benötigen. Menschenmaterial ist zu teuer, um für jeden Versuch neues zu besorgen. Und Menschen kann man auch nicht so schnell vermehren. Sie werden also gründlich auf Organschäden untersucht, und daraufhin entscheide ich, für welche Tests sie noch zu gebrauchen sind.“

Laurins Gesicht war blass und starr wie eine Maske, und Raven konnte nicht erkennen, welche Emotionen seine Worte diesmal in dem Jungen auslösten. War er erleichtert, nicht noch mehr Tote betrauern zu müssen? Jedenfalls stellte er keine weiteren Fragen.
 

Den Rest des Tages war Laurin verschlossen und einsilbig. Fast mit den Händen greifbar hatte sich eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen aufgebaut.

So war Raven auch nicht überrascht, als Laurin abends zu Hause gleich sein Bettzeug aus dem Schlafzimmer holte und in sein Zimmer brachte. Er zwang sich, das mit Gelassenheit zur Kenntnis zu nehmen. Der Junge war alt genug, allein zu schlafen, und es wurde allerhöchste Zeit, dass er sich abnabelte. Und schließlich hatte Raven ihn nie dazu aufgefordert, nachts neben ihm zu liegen – er hatte es ihm lediglich erlaubt.

Die Vernunft sagte ihm, dass es völlig in Ordnung so war, doch das Herz sprach eine ganz andere Sprache. Er schalt sich selbst einen Narren. Laurin zog bloß ein Zimmer weiter. Wie sollte sich das erst anfühlen, wenn er den Jungen im Labor zurück lassen würde?

Die Zeit der Trennung naht, dachte er. Es ist gut, wenn wir uns schon vorher innerlich und äußerlich voneinander entfernen.

Und trotzdem verursachte dieser Gedanke ein dumpfes, ziehendes Gefühl. Und er wusste, dass nichts, aber auch gar nichts Laurins empfindsames Wesen auf das vorbereiten konnte, was ihm in naher Zukunft in den neonbeleuchteten Räumen bevorstand.

Raven trat ans Fenster und ließ seinen Blick durch den verwildert anmutenden Garten schweifen. Nur zweimal im Jahr durfte ein Gärtner kommen und die nötigsten Arbeiten verrichten. Von den künstlichen Arrangements, die andere Menschen in Parks und Gärten anstellten, hielt Raven nichts. Er mochte Natur, die sich selbst überlassen blieb. Der Garten war ihm bei der Wahl seines Wohnsitzes wichtiger gewesen als das Haus, doch nicht unter dem Aspekt, wie prächtig er angelegt war, sondern wie wenig er von den Nachbarhäusern sehen ließ und umgekehrt. Dafür sorgten zuverlässig die dichten und hochgewachsenen Koniferen an den Grundstücksgrenzen.

Es hatte tagsüber geschneit, und eine frische, zentimeterdicke Schneeschicht hatte einen weißen Mantel über der Welt ausgebreitet. Der Anblick erinnerte ihn an das erste gemeinsame Spiel mit seinem Schützling.

Er hatte gedacht, es würde reichen, den Jungen zum Spielen in den ersten Schnee des Winters hinaus zu schicken, damals vor neun Jahren. Aber nur kurz nachdem er in den Garten gegangen war, stand Laurin schon wieder vor ihm, ein kleiner Stöpke, eingemummelt wie ein Polarforscher und gerade mal so hoch wie die Schreibtischplatte, der einen dunklen Fleck aus geschmolzenem Schnee auf dem Teppich zu seinen Füßen hinterließ. Mit glänzenden Augen und geröteten Wangen schaute er zu ihm auf und bat schüchtern: „Hilfst du mir dabei – einen Schneemann bauen?“

Zunächst widerwillig hatte Raven zugestimmt. „Aber nur kurz!“

Und dann war er überrascht, wie viel Freude ihm das simple Aufeinanderstellen von Schneekugeln gemacht hatte, und wie schnell die Zeit vergangen war.

Wie überhaupt die ganzen neun Jahre unheimlich schnell vergangen waren.

Dabei hatte sich Raven nie viel aus Kindern gemacht. Er fand sie nervend, laut und albern.

Laurin war nichts von all dem. Vielleicht war Laurins introvertiertes Wesen einfach Teil seines Charakters. Doch möglicherweise war es das Resultat traumatischer Erlebnisse. Vielleicht war er ein fröhliches, albernes, lautes und nervendes Kind gewesen, bevor seine Eltern in die Fänge von Remarque Pharma geraten waren. Nach ihrem grausigen Tod hatte Raven seine Wunden geheilt, körperliche wie seelische, aber natürlich blieben schmerzende Narben zurück.

Raven sah, wie sich ein schmaler Schatten vom Haus löste und durch den Schnee zu dem kleinen Vogelhäuschen stapfte. Er beobachtete Laurin, wie er neues Futter hinein und auf den Boden darunter streute, und es war einfach, sich vorzustellen, wie Meisen, Spatzen und Amseln herbei geflogen kämen, um sich auf Laurins Schultern zu setzen und mit seinen Haarsträhnen zu spielen. Für ein solches Szenario war es jedoch schon zu spät am Tag.

Allerdings trat Laurin nur drei Schritte zurück und schon huschten zwei kleine Gestalten herbei, um sich die Körner zu holen. Ratten. Das Thema des Tages.

Nicht nur diese speziellen Ratten wussten, dass von Laurin keine Gefahr ausging, auch andere wilde Tiere verspürten kaum Scheu vor ihm. Etwas musste besonders sein an der Art, wie sich der Junge bewegte, oder vielleicht war es sein Geruch oder seine Körperhaltung. Oder die Art seiner Gedanken. Dank Ravens spezieller Erziehung kannte sich Laurin in der schamanischen Geisterwelt besser aus als auf der Erde. Möglich, dass die Tiere diese tiefe spirituelle Verbundenheit instinktiv respektierten. Eigentlich gehörte der Junge in den Wald und nicht in einen fensterlosen sterilen Laborraum tief unter der Erde. Eigentlich waren Ravens geplante Forschungen an ihm eine unglaubliche Verschwendung von Talent, eine Sünde gegen Mutter Erde.

Und doch war sich Raven gewiss, dass er nie wieder ein geeigneteres Objekt finden würde. Es wäre auch nicht seine erste Versündigung.

Er konnte nicht erkennen, ob Laurin ihn am Fenster stehend bemerkte, als er sich umwandte und ins Haus zurückkehrte. Noch immer strafte er ihn mit Missachtung, indem er sofort in sein Zimmer ging, obwohl sie um diese Uhrzeit normalerweise gemeinsam zu Abend aßen. Kurz darauf schwebten gedämpfte Flötentöne durch das stille Haus wie Nebelschwaden. Raven lauschte der melancholisch anmutenden Melodie, bis Laurin mit seinen Fingerübungen begann und Tonleitern und Dreiklänge spielte. Damit wäre es dann auch bald vorbei. Das Haus würde leer sein ohne Laurin. Er stellte sich vor, wie das wäre – er alleine hier, endlich wieder allein, frei und ungebunden, während Laurins Körper am Primatenstuhl fixiert dahin siechte. Blass würde der Junge aussehen, wie blutleer, durch den Mangel an Tageslicht, die goldenen Haare wären abgeschoren und würden struppig und stumpf nachwachsen, ihres Glanzes beraubt, und wie eine Apfelsine, die zur Winterzeit mit Nelken geschmückt ist, würden die Kabel aus dem Schädel ragen und Laurins Hirnaktivität genauestens aufzeichnen. Grundlagenforschung. Laurins große, grüne Augen würden sich in Ravens Erinnerung fressen und wären das Einzige, was er abends von seinem Jungen mit nach Hause nähme. Nicht einmal vorwurfsvoll sahen diese Augen in seiner Vorstellung aus, nein. Ängstlich. Denn Laurin wusste, was einem im Labor widerfuhr. Enttäuscht. Denn er hatte geglaubt, er sei bei Raven sicher. Verletzt. Denn er hatte ihn geliebt.

Aber was war die Alternative? Er konnte Laurin ja schlecht den Rest seines Lebens wie einen gut dressierten Therapiehund als Assistent an seiner Seite halten. Abgesehen davon, dass Pascal ihm den Jungen zwar überlassen, aber nicht geschenkt hatte. Laurin war immer noch Eigentum von Remarque Pharma.

Vielleicht konnte er Pascal überzeugen, dass Laurin für das Labor als medizinischer Helfer wertvoller war, als wie geplant im Versuch zu enden. Einfach würde das allerdings nicht werden, denn Pascal erwartete die Ergebnisse mit derselben Spannung, die Raven damals empfunden hatte, als ihm die Idee dazu gekommen war. Damals, als er Laurin noch nicht kannte. Und Pascal war nicht gerade für sein großes Mitgefühl bekannt. Auch wenn er sich Raven gegenüber stets großzügig verhielt, bezweifelte er doch, dass er auf eine so einmalige Gelegenheit, auf die Raven ihn auch noch selbst immer wieder hingewiesen hatte, verzichten würde – eine einmalige Studie der Selbstheilungskräfte. Darum ging es, um diese wundersame Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu regenerieren, um wahre Heilung. Der Erzfeind der pharmazeutischen Industrie.

Pascal war schon damals wütend gewesen, als Laurins Eltern, beide begnadete sogenannte Heiler, sich der Testreihe so erfolgreich widersetzt hatten. Noch einmal würde er wohl kaum darauf verzichten. Zwar war Pascal als Inhaber eines Pharmakonzerns nicht daran interessiert, Selbstheilungskräfte und Geistheilen zu vermarkten, aber er sagte immer gern, dass es besser war, seinen Feind gut zu kennen, wenn man ihn sich vom Leib halten wollte.

Ravens Gedanken drifteten ab zu Pascal. Eine merkwürdige Freundschaft verband ihn mit diesem charismatischen Mann aus der wohlhabenden Oberschicht. Sie hatten an der Universität mehrere Vorlesungen miteinander geteilt und schnell erkannt, dass sie Brüder im Geiste waren, auch wenn ihre Lebensumstände nicht viel miteinander gemeinsam hatten. Ravens Familie besaß nicht viel, und als er sich zwischen ihr und dem Geld, das er unrechtmäßig an sich genommen hatte, entscheiden musste, hatte er das Geld gewählt. Damit konnte er Amerika verlassen und sein Medizinstudium finanzieren.

Ihn hatte Pascals Skrupellosigkeit beeindruckt. Zum ersten Mal in seinem Leben traf er auf einen Menschen, der die Dinge nicht mit zweierlei Maß bewertete, der keinerlei Doppelmoral besaß - er besaß gar keine. Oder vielmehr seine eigene. Raven fand das faszinierend. Streng genommen verfügte Pascal über gar kein Unrechtsbewusstsein, während Raven wenigstens noch wusste, dass er sich unmoralisch verhielt.

Er teilte zwar seine Gewissenlosigkeit mit ihm, nicht aber Pascals nahezu unersättlichen Sadismus. Es erregte ihn nicht, anderen Menschen weh zu tun, aber es regte ihn auch nicht auf.

Sie hatten die gleiche Art finsteren Humor und denselben schonungslosen Blick auf die Welt. Sie hatten sich beide entschieden, in diesem Leben keine Opferrolle zu spielen, wobei Pascal in eine wohlbehütete Welt der „Herrenmenschen“ hineingeboren worden war, während Raven sich bewusst entscheiden musste – und bereit war, die Konsequenzen dafür zu tragen. Er hatte nicht seinen vorbestimmten Platz als zukünftiger Schamane des Stammes eingenommen, er hatte seine Familie verlassen, das Land seiner Väter. Er fürchtete weder Gott noch Teufel, und einen Industriellensohn schon gar nicht. Er hegte den Verdacht, dass gerade das dazu geführt hatte, dass Pascal sich damals mit ihm angefreundet hatte. Pascal schien es erfrischend zu finden, wenn ihm auch mal jemand widersprach, denn offene Kritik bekam er sonst kaum zu hören, und auch wenn er oft unwillig darauf reagierte, ernstlich sauer wurde er nur sehr selten.

Wobei sich Raven auch Mühe gab, es soweit nicht kommen zu lassen. Er hatte zwar keine Angst, aber er war sich durchaus bewusst, dass Pascals Freundschaft für ihn äußerst nützlich war.

Dass Laurin nun allem Anschein nach zu einer Herzensangelegenheit geworden war, war so nicht geplant gewesen. Solche Gefühle machten schwach und verletzlich. Raven musste sich eingestehen, dass er selbst in die Falle getappt war, vor der er den Jungen immer gewarnt hatte: sein Herz nicht an die Versuchstiere zu hängen.

Und nun? Er konnte die Entscheidung über Laurins Schicksal noch weiter vor sich her schieben, aber nicht endlos lange. War es klug, sich Pascals Plänen – und seinen eigenen! – zu widersetzen?

Er zuckte fast zusammen, als er neben sich ein beinahe körperlich hörbares „Kroh kroh“ seines Raben vernahm. Ohne es zu spüren oder zu wollen, war er in eine leichte Trance gefallen.

Also gut, dachte er und schloss die Augen. „Dann sag deine Meinung dazu, wenn du schon ungefragt erscheinst.“

„Du kennst die Antwort selbst“, sagte der Rabe..

„Nicht so kryptisch, bitte. Klartext.“

Der Rabe neigte den Kopf mit einem klugen Ausdruck. „Du hast diesen Weg eingeschlagen. Geh ihn zu Ende.“

„Wie bitte? Du rätst mir tatsächlich, ihn in den Versuch zu nehmen?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Schön.“ So viel zum Thema Klartext. „Sondern?“

„Ich zeige es dir.“

Der Rabe breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Raven folgte ihm, ebenfalls in Rabengestalt. Sie flogen über einen dichten Wald aus Nadelbäumen auf ein Gebirge zu, dessen spitze Gipfel sich vor dem Horizont abhoben.

„Raven? Darf ich dir eine Frage stellen?“

Laurin hatte auf lautlosen Sohlen das Wohnzimmer betreten. Raven war gar nicht aufgefallen, dass das Flötenspiel aufgehört hatte. Er schaltete innerlich auf Standby.

„Natürlich. Frag.“

„Hatten meine Eltern ein Begräbnis? Oder wurden sie auch über die Kadavertonne entsorgt?“

Es war das erste Mal überhaupt, dass Laurin ihn nach seinen Eltern fragte. Er trug das Armband seiner Mutter, zierliche Blattornamente mit schwarzen Halbedelsteinen, und er hütete es wie seinen Augapfel. Von daher ging Raven fest davon aus, dass er sich erinnerte, von wem es stammte. Noch nie hatten sie über dieses heikle Thema gesprochen.

Sein Krafttier musste warten.

Er drehte sich zu Laurin um, der als schwarze Silhouette vor dem hellen Viereck der Flurtür stand. Im Wohnzimmer war es dunkel, und er konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er hatte seine provokante Haltung nicht verloren.

„Sie hatten ein Begräbnis.“

„Warum?“

„So hatte die Sache ein Ende. Wären sie nur verschwunden, hätte die Suche nach ihnen nicht aufgehört.“

„Und ich?“

„Du giltst als vermisst. Aber man geht davon aus, dass du den Autounfall nicht überlebt hast. Es war eine abgelegene Gegend. Ein umherirrendes Kind hat dort keine Chance.“

„Ein Unfall?“

Raven nickte. „Der Wagen ist von der Straße abgekommen. Das passiert häufig an der Stelle, wenn man die Strecke nicht kennt und mit überhöhter Geschwindigkeit in die Serpentinen hinein fährt.“

Laurin ließ die Lüge unkommentiert und wechselte stattdessen das Thema. Vielleicht wechselte er auch gar nicht das Thema, sondern beleuchtete es nur von einer anderen Seite.

„Toshio sagt, es ist verboten, Menschen gegen ihren Willen gefangen zu halten. Und er will nicht bei Monsieur Remarque sein. Er sagt, es ist nicht erlaubt, was der Monsieur tut, und auch nicht ...“ Hier stockte Laurin kurz, und als er weiter sprach, schwang Unsicherheit in seiner Stimme mit. „Auch nicht, was du tust. Er sagt, Sklaverei ist gegen das Gesetz. Gegen das Gesetz, das ... draußen gilt.“

„Hast du ihm von den Laborsklaven erzählt?“ fragte Raven scharf.

„Nein.“

„Und jetzt glaubst du also, unsere Forschungen im Labor sind auch gegen das Gesetz der Menschen draußen?“

Laurin erwiderte nichts darauf, doch sein Gesichtsausdruck und wie er dazu die Schultern hob, waren Antwort genug. Raven spürte plötzlich eine irrationale Wut in sich aufsteigen, dass Toshio es geschafft hatte, einen Keil zwischen ihn und seinen Jungen zu schieben.

Er bemühte sich um einen neutralen Tonfall: „Na gut. Laurin, komm her. Ich erzähl dir mal ein bisschen von der Welt, aus der dein Toshio kommt.“ Raven knipste die Stehlampe neben der Couchgarnitur an und deutete auf das Sofa, blieb jedoch selber stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Laurin setzte sich und schaute ihn aufmerksam an. Nur seine unruhigen Finger verrieten seine aufkeimende Nervosität. Vielleicht spürte er den Zorn, den Raven innerlich empfand, und Laurin konnte nicht wissen, gegen wen sich dieser Zorn richtete. Vielleicht war er jetzt in seinem Trotz zu weit gegangen?

„Du hast teilweise recht“, begann Raven. „Die eine Hälfte des Labors, die in den Untergeschossen, ist tatsächlich gegen geltendes Recht. Und trotzdem stimmt, was ich dir immer wieder erklärt habe, dass unsere Arbeit dort medizinisch sinnvoll und richtig ist. Im Endeffekt kommen durch unsere Forschungen wesentlich weniger Menschen zu Schaden als ohne sie. Du hast selbst schon bemerkt, dass bei den Versuchen an den Tieren oft unterschiedliche Ergebnisse heraus kommen, die sich auf Menschen nicht übertragen lassen. Paradoxerweise sind aber genau diese Tierversuche nicht nur nicht verboten, sondern sogar vom Gesetz vorgeschrieben. Es gibt Arzneimittelprüfrichtlinien, an die sich die Pharmaindustrie zu halten hat. Auch die chemische Industrie ist an weltweite wirtschaftliche Rechtsvorschriften gebunden. Dazu gehört auch zum Beispiel der LD 50-Test, den du so hasst, was ich gut verstehen kann. Aber wir sind vom Gesetzgeber verpflichtet, ihn durchzuführen.

Im übrigen ist die Gesetzgebung allgemein so eine Sache. Jedes Land hat eine eigene, und manchmal existieren da eklatante Unterschiede. Hat Toshio dir erzählt, dass auf Homosexualität in gar nicht so wenigen Ländern die Todesstrafe steht? Nein?

Dann hat er dir sicherlich auch nicht erzählt, dass in seinem eigenen Land – Japan und auch Deutschland – die Sklaverei keineswegs abgeschafft wurde. Die Menschen haben sich da nur selbst ausgenommen, offiziell zumindest, und selbst das ist noch gar nicht allzu lange her, erst hundertfünfzig Jahre ungefähr. Nichtmenschliche Lebewesen werden weiterhin versklavt, und wenn ich mir die Massentierhaltung so anschaue, dann hat die Sklaverei in den letzten Jahrzehnten sogar nie gekannte Ausmaße angenommen.“

„Massentierhaltung?“ fragte Laurin, der mit großen Augen Ravens Worten lauschte.

„Genau. Tierhaltung in Massen. Das kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht gesehen hat. Tiere, also Schweine, Rinder, Hühner, Puten, werden in riesigen Ställen gehalten, meist ohne Fenster, zu Hunderten auf engem Raum zusammengepfercht, um dann, noch bevor sie das Erwachsenenalter erreichen haben, zum Schlachthof gekarrt zu werden, wo ihnen ein Bolzen ins Gehirn geschossen und der Hals aufgeschlitzt wird. Und das Ganze in Massen, Laurin, Millionen Tiere pro Jahr in jedem Land. Dann werden sie portionsgerecht zerhackt und in die Supermärkte gelegt, damit sich das Volk an ihrem Fleisch krank essen kann. Die meisten Menschen essen nicht nur ab und zu Fleisch, so wie der Monsieur, sondern jeden Tag und zu fast jeder Mahlzeit. Frag mal Toshio, wie viele Tiere er schon verspeist hat, und ob er jemals einen Gedanken daran verschwendet hat, wie es ihnen in ihrem kurzen Leben ergangen ist.“

Laurin starrte ihn in ungläubigem Entsetzen an. Er kannte das nicht, dass Menschen Tiere aßen, denn die Sklaven bekamen grundsätzlich nur das Nötigste zu essen, und Raven hatte gelernt, dass tierische Kost die Spiritualität beeinträchtigte und ernährte sich vegetarisch. Sogar Pascal aß nur ganz selten Fleisch, allerdings aus rein pragmatischen Gründen – in zu vielen medizinischen Studien war herausgekommen, dass zu viel tierisches Eiweiß der Gesundheit schaden konnte.

Obwohl Raven bewusst war, dass er gerade ein ebenso einseitiges Bild von der Welt zeichnete wie Toshio, konnte er sich nicht bremsen. Die Worte sprudelten weiter aus ihm heraus, von dem Drang beseelt, die heile Welt, die Toshio seinem Jungen vorgegaukelt hatte, zu zerstören. Er hätte nicht einmal sagen können, warum. Für jede Grausamkeit im Bereich der Sklaverei fiel ihm ein Pendant in der normalen Gesellschaft ein.

„Glaub mir, dagegen geht es den meisten Tieren bei uns im Labor noch gut!

Und dann kannst du ihn auch gleich noch fragen, ob er je ein Haustier gehabt hat, und ob er sich je Gedanken darüber gemacht hat, ob das sogenannte Haustier nicht vielleicht auch lieber in Freiheit leben würde. Haustiere sind Tiere, die sich Menschen zum Vergnügen halten, ungefähr so, wie Monsieur Remarque sich Haussklaven hält. Es gibt Geschäfte, dort kann man sie kaufen mit Käfig und allem drum und dran, eine ganze Industrie lebt davon. Es schert sich kein Mensch darum, wie die Tiere zu Hause dann gehalten werden, viele fristen ein trostloses Dasein in viel zu kleinen Käfigen, die sie nie verlassen dürfen, werden von Kindern durch die Gegend geschleppt und mit undosierter Zuneigung vergewaltigt, bis sie dann vergessen werden, viele haben nicht einmal einen Artgenossen und bleiben ihr Leben lang allein. In den meisten Ländern werden Menschen auch nicht bestraft, wenn sie ein Tier leiden lassen, und das Töten von Tieren ist sowieso überall erlaubt – du kannst mir glauben, dass die Welt da draußen nicht einen Deut besser ist, als das hier, was du kennst. Du weißt um die energetischen Gesetze: Wie innen so außen. Wie im Großen so im Kleinen.“

Laurin schwieg dazu, aber Raven redete sowieso gleich weiter.

„Toshio fordert für sich selbst Rechte ein, die er anderen nicht zugesteht, aber so sind die Menschen. Sie formen ihre Gesetze, ihre Regeln, ihre Werte und Normen ganz nach ihrem eigenen Ermessen und zu ihrem eigenen Vorteil, und wer keine Stimme hat, wer kein Geld, keine Macht und keinen Einfluss hat, der wird gnadenlos ausgebeutet. Das betrifft bei weitem nicht nur die Tierwelt. Ganze Länder werden arm und abhängig gehalten, ganze Völker vernichtet. Völkermord gab es auf jedem Kontinent, zu jeder Zeit, bis heute. Die Natur wird zerstört aus Profitgier, Tierarten und Naturvölkern die Lebensgrundlage geraubt. Die Ozeane werden leer gefischt, das Wasser und der Erdboden vergiftet, die Luft verseucht. Nichts ist den Menschen mehr heilig außer sie selbst, so bezeichnen sie sich auch als ‘Krone der Schöpfung’, und als Krönung dieser Entwicklung gehen dann solche Menschen hervor wie Pascal Remarque, der sich wirklich die Erde Untertan macht ...“

Hier unterbrach sich Raven. Vor einem Sklaven, selbst wenn es Laurin war, einen anderen Herren zu kritisieren verstieß gegen die Regeln, an die sich auch Raven zu halten hatte.

Eine bittere Stille breitete sich zwischen ihnen aus.

Schließlich sagte Laurin: „Aber ein Unrecht rechtfertigt doch nicht ein anderes Unrecht.“

Diese simple, mit verzagter Stimme geäußerte Feststellung ließ mit einem Mal Ravens Zorn verrauchen. Dem Zorn, der sich gegen Toshio gerichtet hatte, gegen sich selbst und gegen die ganze Welt. Nur nicht gegen Laurin.

Er liebte den Jungen, wie er noch nie zuvor in seinem Leben etwas geliebt hatte, wurde ihm in diesem Moment klar.

„Ich mache uns jetzt etwas zu essen“, sagte er.
 

Obwohl Laurin dann doch wieder die Nacht in Ravens Bett verbrachte, war am nächsten Morgen die Welt immer noch nicht wieder in Ordnung. Raven wollte dem Jungen eine Freude machen und ihn mit zum Flughafen nehmen, um Pascal und Toshio abzuholen, doch selbst das konnte Laurin nicht aufmuntern. Nachdem nur kurz die erwartete Freude über die Rückkehr seines Freundes in seinen Augen aufstrahlte, verfinsterte sich das Gesicht sofort wieder, und Laurin lehnte ab.

„Meinst du nicht, dass Toshio sich freuen würde, dich zu sehen?“ fragte Raven.

„Nein. Nicht dort. Später.“

Raven fuhr also allein. Und war überrascht über den Anblick des ungleichen Paares, das da aus Japan zurück kehrte. Toshio saß im Rollstuhl, war aber nicht festgebunden. Mit beiden Händen klammerte er sich an Pascal, der aufrecht und strahlend neben ihm schritt. Japan schien ihnen gut getan zu haben.

Pascal war hocherfreut, Raven neben seinem persönlichen Leibwächter Maurice Lautrec stehen zu sehen, und begrüßte die beiden Männer herzlich, ohne seinen Sklaven auch nur einen Moment loszulassen. Aus der Nähe betrachtet wirkte Toshio benommen und leicht desorientiert. Pascal hatte ihn also diesmal anders ruhig gestellt als auf dem Hinflug. Sicher war es für den hochmütigen Japaner angenehmer, wenn sein Verstand gelähmt war und nicht nur seine Muskeln. Raven war neugierig zu erfahren, was Pascal zu dieser Gefälligkeit veranlasst haben mochte.

„Die Reise war großartig“, berichtete Pascal gutgelaunt. „Ich habe neue Kontakte geknüpft, und wir haben den Vertrag. Kommst du zum Abendessen? Dann können wir alles besprechen. Ich habe viel zu erzählen. Und bring Laurin mit. Toshio braucht Gesellschaft.“

Toshio brauchte Gesellschaft? Das waren ja ganz neue Töne.
 

Neu war auch, dass Toshio mit bei Tisch sitzen durfte. Wobei das für die Sklaven eher unter dem Tisch bedeutete. Zum ersten Mal knieten die beiden Jungen nebeneinander zu Füßen ihrer Herren, und zum ersten Mal hatte auch Toshio ein Kissen unter den Knien. Zum ersten Mal sah Raven, wie Pascal ihn von seinem Teller fütterte.

„Meinst du nicht, dass du ihn zu sehr verwöhnst?“ neckte er ihn.

„Die Gefahr besteht eigentlich nicht“, gab Pascal gutmütig zurück. Er griff in Toshios Haar und zog seinen Kopf nach hinten, beugte sich hinunter und zwang ihm einen Kuss auf die Lippen.

Raven spürte, wie Laurin sich versteifte, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sofort schmiegte sich der Junge an sein Bein.

Auch Toshio lehnte sich an Pascal, aber eher müde als vertrauensvoll. Die gemeinsame Reise hatte das Verhältnis zwischen ihnen eindeutig verändert. Aber Raven teilte Pascals Optimismus nicht.
 

Er hatte den Jungen vor dem Essen gründlich untersucht. Er diagnostizierte eine schlimme Prellung vorne am Brustkorb, harmlos zwar, aber äußerst schmerzhaft. Pascal berichtete, was vorgefallen war. Dieser japanische Herr musste mit viel Kraft zugetreten haben. Doch mehr Sorge bereitete Raven Toshios Teilnahmslosigkeit. Nicht einmal über Laurins Anwesenheit schien er sich zu freuen.

„Er geht dir ein“, prophezeite Raven düster.

Sie sprachen französisch, so dass die beiden Sklaven sie nicht verstehen konnten. Wobei sich Raven manchmal fragte, wie viel französisch Laurin inzwischen allein durch Zuhören zumindest vom Sinn her erfassen konnte.

„Unsinn“, widersprach Pascal. „Er braucht nur eine Pause.“

„Es gibt Menschen, die kann man nicht zähmen.“

„Er erholt sich wieder“, beharrte Pascal.

„Vielleicht, wenn du ihn frei lässt.“

„Ben, was soll der Quatsch? Ich kann ihn nicht frei lassen!“

„Warum nicht? Er gehört dir.“

„Ja, und ich will ihn behalten.“

„Na gut. Ich verordne ihm ein Schmerzmittel. Drei mal zehn Tropfen. Du hast selbst gesagt, er braucht eine Pause. Wirst du ihm das geben?“ Er hielt ein Fläschchen Tramal hoch.

Pascal griff danach. „Wenn du das sagst. Du bist der Doc.“

Mehr konnte Raven nicht für den Jungen tun, und selbst das war schon ungewöhnlich viel. Selten konnte er Pascal dazu überreden, seinen Betthasen ihre Schmerzen zu erleichtern.

„Hast du ein Glück mit deinem fürsorglichen Herrn“, murmelte Raven auf Deutsch und fing sich dafür einen finsteren Blick von Toshio ein. Gar so teilnahmslos war er also vielleicht doch nicht, auch wenn er für Ironie gerade nicht viel übrig hatte. Ein wenig Mut schien er sich jedenfalls bewahrt zu haben, direkt neben Pascal einen unerlaubten, wenn auch kurzen Blickkontakt herzustellen. Pascal bekam von dem Fehltritt glücklicherweise nichts mit, denn er hatte sich gerade abgewandt, um das Tramal beiseite zu stellen. Die leise gesprochenen Worte hatte er allerdings sehr wohl vernommen.

„Genau. Und weil ich sehr fürsorglich bin, möchte ich, dass er in nächster Zeit nicht so viel alleine ist. In Tokyo hat ihm die Gesellschaft eines anderen Sklavenbengels sehr gut getan, darum habe ich mir überlegt, dass er hier auch einen Freund gebrauchen kann. Findest du nicht, dass sich Laurin dafür hervorragend eignet? Die beiden verstehen sich doch so gut, und du fängst mit dem Jungen im Moment eh nichts Sinnvolles an. Also spricht eigentlich nichts dagegen, dass Laurin von nun an bei mir wohnt.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage!“ Raven wurde abwechselnd heiß und kalt. Obwohl Pascal in anlächelte, war er sich der Intensität, mit der er betrachtet wurde, durchaus bewusst. Er versuchte, sich seinen inneren Aufruhr nicht anmerken zu lassen und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. „Ich habe Jahre in den Jungen investiert. Du weißt, dass ich andere Erziehungsmethoden habe als du, und du hast mir damals freie Hand gegeben. Laurin ist sensibel, und eine einzige impulsive Handlung von dir könnte meine ganze Arbeit zunichte machen. Er bleibt auf jeden Fall bei mir, alles andere ist inakzeptabel.“

Pascal hob beschwichtigend die Hand. „Schon gut, schon gut. War ja nur eine Idee. Ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet, dass du zustimmst. Aber denk daran, du kannst den Jungen nicht ewig bei dir behalten. Häng dein Herz nicht zu sehr an ihn.“

Dafür ist es zu spät, und er weiß es genau, durchfuhr es Raven, als Pascal fast exakt die Worte benutzte, die er selbst erst kürzlich zu Laurin gesagt hatte. Er wandte sich von Pascal ab, unter dem Vorwand, seine Utensilien in die Arzttasche zu sortieren. Es war nur logisch, dass Pascal Bescheid wusste, schließlich war er sozusagen ein Fachmann auf dem Gebiet der Sklavenhaltung. Pascal war damit aufgewachsen.

„Das ist mir durchaus bewusst“, entgegnete Raven kühl.

Er spürte Laurins Blick auf sich ruhen.
 

Bis zum Abendessen hatte sich ihre Gesprächsführung wieder normalisiert. Pascal plauderte munter über seine Erlebnisse in Japan, während sie sich die von Florence aufgetragenen Köstlichkeiten schmecken ließen. Als Vorspeise gab es warm marinierten Friséesalat mit Räuchertofu und eine klare Suppe mit Wirsing und Pilzen, der Hauptgang bestand aus Kartoffel-Gemüse-Röstis und Brokkoli mit Olivenöl und Pinienkernen, und als Dessert servierte Florence Blutorangensorbet auf Kiwisalat. Die alte Köchin kannte Raven nur, weil er vor Jahren einmal eine tiefe Schnittwunde an ihrem Finger versorgt hatte. Sie war die meiste Zeit unsichtbar und musste schon für Pascals Eltern gekocht haben. Sie hätte jedem Gourmetrestaurant Ehre gemacht. Ihr Essen schmeckte wie immer himmlisch.

Und Florence als Serviermädchen war noch das Sahnehäubchen oben drauf. Wie üblich sah sie zum Anbeißen aus in ihrem kurzen Schürzchen, den dunklen Nylons, die ihre wohlgeformten Schenkel betonten, und einer schwarzen, Rüschen besetzten Bluse mit tiefem Dekolleté, das einen schönen Einblick auf ihre kleinen, runden Brüste gewährte. Sie machte brav einen Knicks nach dem anderen während sie die Tabletts und Schüsseln auf dem Tisch verteilte und mied jeden Blickkontakt, selbst als Raven „Danke, Florence“ sagte, nachdem sie ihm ein Glas Wasser eingeschenkt hatte. Raven mochte die schüchterne, junge Frau gerne, und so manches Mal hatte er ihr ein Stückchen Süßigkeit zugesteckt, wenn er sie alleine in der Villa angetroffen hatte. Wie ein guter Geist war sie ständig damit beschäftigt ihren Herrn zu bedienen oder zu putzen, Staub zu fegen und zu wischen, und Raven war bei ihrem Anblick immer an diese kleinen Staubsauger-Roboter erinnert, die unaufhaltsam langsam durch die Wohnung rollten und jedes Mal, wenn sie irgendwo anstießen, die Richtung änderten. Einerseits bedauerte Raven, dass sie in diesem finsteren Haus mit seinem finsteren Herrn ein trostloses Leben führen musste. Sie war hübsch und fügsam, eine domestizierte Sklavin aus Pascals eigener Zucht, und Pascal würde ein Vermögen für sie bekommen, sollte er sie je verkaufen. Raven dachte sich manchmal, dass sie es woanders besser haben könnte. Andererseits war ihr jetziger Herr homosexuell und ließ sie zumindest in dieser Hinsicht in Frieden, was bei einem neuen Herrn wahrscheinlich nicht der Fall wäre. Und im Labor, wo sie herstammte, war es sowieso noch schlimmer. Vielleicht hatte sie es also gar nicht so schlecht getroffen. Ravens kleine Geschenke nahm sie dankbar entgegen, und das waren die einzigen Momente, wo Raven sie lächeln sehen konnte. Reizend sah sie dann aus.

Mehr als einmal hatte Pascal ihm angeboten, sie zu nehmen, aber Raven lehnte jedes Mal ab. Er mochte keinen Sex mit Sklavinnen, zumindest keinen erzwungenen, und überhaupt war dieses ganze Dom-Sub-Getue nicht sein Ding. Manchmal ließ er sich auf einer der SM-Partys auf eine kurze, befriedigende Nummer ein, dann aber nur mit einer Freiwilligen oder einer Dom und nur ohne BDSM-Spielchen dazu. Purer Sex auf Augenhöhe, mehr wollte er nicht. Florence konnte ihm das nicht bieten, egal wie hübsch sie aussah.
 

Als das Gespräch auf den neuen Forschungsauftrag kam, wurde der ungezwungene Tonfall wieder ernst. Der japanische Chemiekonzern wollte ein Insektizid mit einem neuartigen Wirkstoff auf den Markt bringen und brauchte nun Studien zur Giftigkeit des Mittels. Dazu musste die Haut- und Schleimhautverträglichkeit getestet werden, eine mögliche krebserzeugende Wirkung, Hinweise auf Erbgutschädigung oder Schädigung der Frucht im Mutterleib, und die akute orale Giftigkeit, was bedeutete, dass die tödliche Dosis der Chemikalie ermittelt wird.

Ausgerechnet, dachte Raven schlecht gelaunt. Ein Tötungsversuch im Labor, und dann auch noch so ein grausamer, bei dem die Vergiftungssymptome dokumentiert wurden, war nicht gerade geeignet, um Laurins aufkeimende Zweifel über die Richtigkeit ihres Tuns zu zerstreuen. Und dabei machte es wohl auch keinen Unterschied, dass das neue Mittel später dem weltweiten Bienensterben entgegen wirken sollte.

Pascal ließ den Kaffee im Salon servieren, wie so oft, wenn Toshio nach dem Essen noch etwas tanzen sollte und Laurin dazu Flöte spielte. Raven wappnete sich schon innerlich auf einen erneuten Disput zu der Frage, ob es klug sei, Toshio mit seiner Verletzung tanzen zu lassen, aber Pascal überraschte ihn ein weiteres Mal: Vor dem Fernseher lag ein schwarzer viereckiger Kasten auf dem Boden, der sich als PlayStation entpuppte, an dem die Jungen sich die Zeit vertreiben konnten, während die Herren ihr Gespräch zu Ende führten. Doch nicht einmal ein solches Zugeständnis von Pascals Seite konnte Toshios Lebensgeister wecken, ganz im Gegensatz zu Laurin, der sogleich begeistert an den Knöpfen des Controllers herumzuspielen begann. Toshio sah aus, als würde er lieber schlafen gehen, wagte aber wahrscheinlich nicht, eine entsprechende Bitte zu formulieren.

„Na, ich muss zugeben, du gibst dir richtig Mühe“, bemerkte Raven verwundert.

„Toshio ist etwas ganz Besonderes für mich. Ich möchte ihn noch eine Weile behalten.“

So geht es mir auch, dachte Raven, und sein Blick ruhte dabei auf dem blonden Jungen neben Toshio. Laut sagte er: „Aber ich glaube nicht, dass solche kleinen Nettigkeiten viel bringen werden. Siehst du nicht, wie fertig der Junge ist?“

„Doch. Natürlich. Aber ich habe eine Erklärung dafür.“

Und er erzählte, was er über Toshios Herkunft erfahren hatte und wie tief Hakujiros Demütigung getroffen haben musste. Seinen eigenen Anteil an Demütigungen, die dem voraus gegangen waren, blendete er wohlweislich aus.

Raven runzelte die Stirn und betrachtete den jungen Japaner nachdenklich. Änderte sein Wissen über Eta und Bura-wie-auch-immer etwas an seiner stillen Abneigung Toshio gegenüber? Wohl kaum. Auch Ravens eigenes Volk war Jahrhunderte langer Diskriminierung ausgesetzt, und dennoch hätte ihrer beider Biographie unterschiedlicher nicht verlaufen können. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie er auf Gefangenschaft und Folter reagieren würde. Er wusste natürlich, dass Toshio daran keine Schuld traf, aber gleichzeitig war er überzeugt, dass sein in jungen Jahren gefasster Entschluss, niemals ein Opfer in dieser Welt zu werden, dafür entscheidend war, dass er sich mit Pascal Remarque angefreundet hatte, statt von ihm versklavt zu werden.

Bald wandte sich ihr Gespräch wieder der Arbeit zu. Ein LD 50-Versuch, bei dem die letale Dosis bei fünfzig Prozent der Versuchsobjekte festgestellt wurde, stellte immer eine besondere logistische Herausforderung dar. Die Tiere konnten problemlos und auf legalem Weg bei entsprechenden Züchtern bestellt werden, bei dem Menschenmaterial sah das anders aus. Sie beschlossen, bei dem menschlichen Versuch nur die Hälfte an Probanden zu verwenden, als bei dem Tierversuch vorgeschrieben waren, aber selbst dann würden zwanzig bis dreißig Menschen den Tod erleiden, Menschen, die nicht ohne Weiteres zu ersetzen waren.

„Es ist sowieso gut, das Erbgut von Zeit zu Zeit aufzufrischen“, sagte Pascal dazu und tätigte sofort ein Telefonat, um diesbezüglich Abhilfe zu schaffen. Es stellte sich heraus, dass in den nächsten Wochen eine Auktion in der Nähe der deutschen Grenze stattfinden würde. Pascal wollte selbst hingehen, um sein „frisches Erbgut“ vor dem Kauf persönlich in Augenschein zu nehmen.
 

Die Zeit bis dahin verging wie im Flug und war angefüllt mit den Auswertungen des abgeschlossenen Versuchs und Vorbereitungen für den LD 50-Test. Berichte mussten geschrieben, Anträge gestellt, Tiere bestellt und Sklaven ausgewählt werden. Dies war eine gute Gelegenheit, sich einiger weniger fügsamen Charaktere zu entledigen. Außerdem wählte Pascal ein paar sehr hübsche Exemplare aus, was Raven zunächst wunderte, bis ihm aufging, dass Pascal wahrscheinlich die Gelegenheit nutzten wollte, sich den Todeskampf der Probanden zu versüßen. Pascals Neigung, aus dem Leid anderer Lust zu ziehen, kannte keine Grenzen und überschritt jedes Maß an herkömmlichem SM, und es wäre nicht das erste Mal, dass er jemandem beim Sterben zusah. Warum sollte er nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, schließlich waren die Menschen sein Eigentum.

Für seinen momentanen Bettgefährten konnte es nur von Vorteil sein, wenn sein Herr seinen Sadismus anderweitig befriedigte. Tatsächlich schien Pascal ihn noch immer weitestgehend in Ruhe zu lassen, und dennoch wirkte Toshio deprimiert und kraftlos, seit er aus Japan zurück war. Nicht einmal Laurin vermochte ihn aufzuheitern.

Ob es unter diesen Umständen ratsam war, dass Pascal ihn mit zu der Auktion nehmen wollte, bezweifelte Raven, stellte die Entscheidung aber auch nicht in Frage. Vielleicht half es dem jungen Mann ja auch, sein Schicksal zu akzeptieren. Vielleicht war die Depression nur ein Symptom dafür, dass er auf dem Weg war, seine Rolle als Sklave anzunehmen.

Auch Laurin durfte mit, was er zunächst mit einem ungläubigen Blick und dann mit einem wahren Freudentanz beantwortete. Inzwischen war er alt genug, mit auf Auktion zu gehen, ohne dass Raven Angst haben musste, für allzu pädophil gehalten zu werden. Außerdem besaß er einen beruhigenden Einfluss auf andere Sklaven, was besonders bei Wildfängen von Vorteil sein konnte. Deswegen fuhren sie in dem Lieferwagen mit, der die Neuerworbenen zum Labor transportieren sollte. Aufgeregt tastete Laurin immer wieder an seinem Halsband herum, an dem ein schwarzer Anhänger in Form eines Rabenfußes befestigt war – deutliches Zeichen auf die Besitzansprüche und somit Schutz für Laurin vor etwaigen begehrlichen Übergriffen. Des weiteren hatte Raven dafür gesorgt, dass auch Laurins Kleidung möglichst wenig aufreizend wirkte, auch wenn die weite, cremefarbene Stoffhose und das schmucklose dunkelbraune Shirt kaum seine schlanke Figur verbergen konnten, und sein hübsches, junges Gesicht mit den goldenen Haaren mit Sicherheit bei einigen Käufern auf Interesse stoßen würde. Raven hatte sich vorgenommen, trotz des Halsbands und des Anhängers, trotz der unauffälligen Kleidung seinen Schützling nicht einen Moment unbeaufsichtigt zu lassen.

„Oh, da ist Toshio“, sagte Laurin sofort, nachdem sie ausgestiegen waren, und seufzte. „Wie schön er ist!“

Der kleine Laster hatte auf dem Parkplatz eines hohen, weitläufigen Fabrikgebäudes gehalten. Soweit Raven wusste, wurden hier Autoteile für eine bekannte französische Marke hergestellt. Allerdings gab es einen großen unterirdischen Bereich, der gelegentlich anderen Zwecken diente. Dieser Bereich war heute ihr Ziel. Es war helllichter Tag, doch obwohl Wochenende war, würde niemandem die Aktivität auf dem Firmengelände verdächtig vorkommen.

Pascal stand mit seinem Sklaven vor dem hohen Eingangstor und unterhielt sich mit einem älteren Herrn mit dicker Hornbrille und schon ergrautem Haar, den Raven sofort als Harald Neubauer, den Veranstalter dieser Auktion, identifizierte. Sie kannten sich gut, denn auch Pascal versorgte ihn hin und wieder mit neuen Sklaven aus seiner eigenen Zucht, die stets einen guten Gewinn abwarfen.

„Guten Tag, Doktor Connor. Schön, Sie zu sehen. Noch dazu in so entzückender Begleitung“, begrüßte ihn Neubauer und schüttelte ihm die Hand. Seine wachen, intelligenten Augen musterten Laurin, und Raven musste den Impuls unterdrücken, seinen Jungen, der bescheiden den Kopf gesenkt hielt, schützend an sich zu ziehen. Drinnen würde es noch schlimmer werden. Es war das erste Mal, dass Raven Laurin den gierigen Blicken anderer Sklavenmeister und -meisterinnen aussetzte. Solange sie allerdings in der Nähe von Pascal mit Toshio blieben, würde aber wohl Toshio die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Gegensatz zu Raven hatte Pascal seinen Sklaven geradezu herausgeputzt, der alte Angeber. Raven wusste, wie sehr Pascal die zugleich begehrenden und neidischen Blicke genoss, und er musste Laurin recht geben: Toshio sah atemberaubend schön aus in dem märchenhaften Outfit, das Pascal ihm für diesen Tag verpasst hatte. Er hatte ihm Elfenohren über die Ohrmuscheln geklebt und künstliche, furchtbar lange Wimpern angesetzt, die jetzt, wo er den Blick gesenkt hielt, auf seinen blassen Wangen lagen. Sein bloßer Oberkörper war mit dünnen Kettchen geschmückt und mit einem großen, künstlichen Tribal Tattoo über dem Schultergürtel verziert. Seine Hände waren mit schwarzen Metallfesseln auf den Rücken gefesselt, und Pascal hielt ihn an einer kurzen Leine, die an einem zierlichen Halsband, ebenfalls aus schwarzem Metall, befestigt war. Auch an Toshios Halsband baumelte gut sichtbar ein Anhänger: Pascals Initialen, mit schwarz glitzernden Edelsteinen besetzt. Die schwarze Hose aus leichtem Stoff saß oben so eng, dass sie nicht wirklich etwas an Toshios Körper verbergen wollte, und ab den Knien lief sie in einen riesigen Schlag aus und war über die gesamte Länge der Unterschenkel geschlitzt, so dass sie seine nackten Füße locker umwehte und seinen Bewegungen einen fließenden, fast schwebenden Charakter verleihen würde. Raven hatte ihn schon tanzen sehen in dieser Hose, und er wusste, dass Pascal ihn heute zum ersten Mal vor einem größeren Publikum auftreten lassen wollte.

Die Sonne schien, doch war die Luft Anfang März noch empfindlich kalt, und Toshio fror in seinem spärlichen Outfit erbärmlich. Laurin war zwar viel zu aufgeregt, um zu frieren, aber für einen längeren Aufenthalt im Freien war auch er nicht passend gekleidet. Darum drängte Raven nach den üblichen höflichen Begrüßungsfloskeln darauf, den Auktionssaal zu betreten.

Die Wände waren stimmungsvoll mit weinrotem Stoff verhangen. Im Raum verteilt standen auf niedrigen Podesten ungefähr zwanzig Holzgestelle, die aussahen wie große Bilderrahmen. Die Ausstellungsstücke, überwiegend junge Männer und Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, waren vollkommen entkleidet in die Rahmen eingespannt worden wie lebende Kunstwerke. Breite, gepolsterte Ledermanschetten umschlossen Hand- und Fußgelenke, und mit Ketten waren sie an den Ecken festgezurrt. Aus verschiedenen Richtungen war leises Weinen zu hören. Im hinteren Bereich des Saals konnte Raven mehrere Käfige ausmachen, in denen das weniger exquisite Material feilgeboten wurde, so etwas wie Sonderangebote und Ladenhüter, also diejenigen, die schon häufig den Besitzer gewechselt hatten und an Körper und Seele bereits Schäden aufwiesen oder schon mehrfach angeboten worden waren, aber aus unterschiedlichsten Gründen keinen Käufer gefunden hatten. Für genau diese Sklaven interessierte sich Raven, aber er wusste, dass sich Pascal auch die hochwertige Ware genau anschauen würde. Wenn ihm jemand gefiel, war ihm kein Preis zu teuer, selbst wenn es nur um Laborsklaven ging. Er umgab sich einfach gerne mit schönen Dingen, und Geld hatte er dafür genug.

Frische Wildfänge, vorerzogen oder komplett ausgebildet – für jeden Geschmack war etwas dabei, und kleine Messingschilder an den Querbalken über den Köpfen der Gefangenen gaben Auskunft über Alter und Stand des jeweiligen Sklaven. Sie waren früh gekommen, doch einige Damen und Herren spazierten schon durch die abnorme Galerie und nahmen die Ausstellungsstücke in Augenschein. Nackte menschliche Körper wurden betastet und befühlt, Münder wurden unsanft geöffnet und intime Stellen untersucht. Die Gefangenen quittierten diese Behandlungen je nach Temperament und Status mit leisem Wimmern, Stöhnen, mürrischen Unmutsäußerungen oder unterdrückten Schreien. Die Ketten klirrten. Die Käufer unterhielten sich in gedämpftem Tonfall. Eine junge Frau begann hysterisch zu schreien und wurde sanft, aber energisch zur Ruhe gebracht. Laurin drängte sich dicht an Raven und schaute mit großen Augen auf das Geschehen. Selbst Toshio hielt sich nah bei seinem Herrn, Pascal hielt die Leine locker in der Hand, und Raven meinte zu verstehen, was ihn dazu verleitet hatte, Toshio dabei haben zu wollen. Auch Raven gefiel Laurins Anhänglichkeit in dieser für ihn ungewohnten Situation und das Gefühl von Macht, ihm Schutz und Halt schenken zu können. Doch gleich darauf rief er sich wieder zur Vernunft. Schutz und Halt waren für all die Sklaven nur eine grausame Illusion. Plötzlich wollte Raven diese Auktion nur noch schnell hinter sich bringen. Er hatte in seinem früheren Leben schon Ähnliches gesehen, als er auf einem Pferdemarkt gewesen war. Auch damals hatte er Abscheu über die Vorgehensweise der Käufer und Verkäufer empfunden, Lebewesen als Ware zu behandeln – nur sein Mitgefühl war für die Pferde größer gewesen, wusste er doch, dass die menschliche Ware in ihrem Vorleben in Freiheit ihre empfindungsfähigen Mitgeschöpfe auf die gleiche Art behandelt hatte, wie sie nun selbst behandelt wurden.

In Momenten wie diesen verabscheute Raven seine Artgenossen zutiefst. So bald wie möglich würde er mit Laurin mal wieder in die Berge fahren. Manchmal wünschte er sich, er könnte einfach mit seinem Jungen in der Berghütte bleiben, nur von Tieren und Pflanzen und den Geistern der Berge umgeben. Aber er wusste, das waren nur Phantastereien.

Dabei fiel ihm ein, dass sein Krafttierfreund ihm ja noch etwas hatte zeigen wollen. Seitdem war er so beschäftigt gewesen, dass er das völlig vergessen hatte. Und der Rabe hatte von sich aus nicht mehr auf sich aufmerksam gemacht. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit eine Reise zu unternehmen, und schickte schon einmal in Gedanken einen Gruß und eine Entschuldigung zu seinem Geistfreund. Er spürte keine Resonanz, aber das war nicht ungewöhnlich, wenn er ihn vernachlässigt hatte. Auch Geistfreundschaften mussten gepflegt werden.

Pascal schlenderte vor ihm her und verschaffte sich einen ersten Überblick über das Angebot des Tages. Ausgerechnet das jüngste Exemplar erregte seine Aufmerksamkeit. „16 Jahre jung, wohlerzogen und sehr folgsam, aus Altergründen in gute Hände abzugeben“ stand auf dem Schild über dem schmächtigen Jüngling, der mit gesenktem Kopf unbeweglich in seinem Holzrahmen stand. Rötlich blonde Locken fielen ihm über die Stirn, und Pascal trat zu ihm hin, Toshio an der Leine hinter sich herziehend, und befahl dem Jungen mit einem Griff ans Kinn aufzublicken und sein Gesicht zu zeigen. Stumm gehorchte er und ließ sich betrachten.

„Ist er nicht wunderschön, was meinst du?“ wandte sich Pascal begeistert an Raven, der missbilligend die Lippen schürzte und statt des Jungen das Schild über seinem Kopf musterte. „Aus Altersgründen“ hieß in diesen Kreisen nicht, dass der Vorbesitzer zu alt geworden war, um sich um seinen Sklaven zu kümmern, sondern vielmehr war der Sechzehnjährige zu alt geworden, um noch Freude zu bereiten. Raven fand es widerwärtig, wenn Leute sich an Kindern vergriffen. Ein klein wenig Skrupel hatte er sich bewahren können. Zum Glück gehörte Kindesmissbrauch nicht zu Pascals perversen Neigungen.

„In gute Hände abzugeben“, sagte er, nur halb im Scherz. „Meinst du, da ist er bei dir richtig?“

„Er ist doch für Toshio. Damit er nicht so viel allein ist. Was meinst du dazu, Toshio? Gefällt er dir?“

Toshio schaute zu dem Rotschopf, und einen flüchtigen Moment trafen sich ihre Blicke. Langsam schüttelte Toshio den Kopf. „Ich möchte keine Gesellschaft, Herr. Es stört mich nicht, allein zu sein.“

Doch sein Versucht, dem anderen das eigene Schicksal zu ersparen, funktionierte nicht. Pascal lachte nur und tätschelte etwas grob seinen Nacken. „Bien, aber du hast das nicht zu entscheiden, mon petit. Ihr werdet euch schon aneinander gewöhnen. Ich weiß, was dir gut tut.“

„Ja, Herr.“

Toshio starrte wieder den Fußboden an, doch Raven bemerkte, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Es erstaunte ihn, dass der Japaner immer noch den Mut fand, Pascal nicht nach dem Mund zu reden und musste sich eingestehen, dass er ihn anscheinend unterschätzt hatte.

Pascal hob die Hand und rief damit einen der Aufseher heran.

„Ich will diesen hier kaufen. Was soll er kosten?“

Der Aufseher wurde sichtlich nervös. „Tut mir leid, Monsieur Remarque. Der Vorbesitzer hat genaueste Anweisungen bezüglich des Verkaufs hinterlassen … Ich fürchte, sie können ihn nicht erwerben. Aber sehen Sie sich nur weiter um, Sie finden bestimmt ...“

„Was soll das heißen? Was für Anweisungen?“ unterbrach ihn Pascal ungehalten. Er war gewohnt zu bekommen, was er begehrte.

„Es tut mir leid“, wiederholte der Mann, und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Da kann ich leider nichts machen. Nur in liebevolle Hände, kein Snuff, kein Sadismus, das sind die Bedingungen für den Verkauf.“

„Ich habe nicht vor, den Jungen zu quälen“, sagte Pascal. „Ich werde mit Herrn Neubauer persönlich darüber sprechen, holen Sie ihn her.“

Der Mann entfernte sich, erleichtert, die weitere Diskussion an seinen Chef abgeben zu können.

„Lass die Sache doch auf sich beruhen“, empfahl Raven.

Aber Pascal blieb stur, allerdings ohne Erfolg. Denn auch Neubauer ließ sich nicht überreden. Sie verhandelten die Angelegenheit in Neubauers Büro unter vier Augen. Toshios Leine hatte Pascal Raven in die Hand gedrückt, und zu viert warteten sie gespannt auf das Ergebnis.

„Du solltest beten, dass du jetzt nicht gekauft wirst“, raunte Raven dem rothaarigen Jungen ins Ohr. Bei dem Gedanken, dass dieser Junge gerade mal zwei Jahre älter war als Laurin, wurde ihm ganz flau im Magen. Er wollte gar nicht wissen, in welchen Alter er in die Hände des Kinderschänders geraten war, der sein Vorbesitzer gewesen sein musste. Ihm blieb nichts weiter, als ihm ein neues Zuhause zu wünschen, in dem er es gut haben würde – also besser nicht in Pascals Umgebung.

Als Pascal mit finsterer Miene zurück kam, war Raven sofort klar, dass es keinen Kauf gegeben hatte. Es geschah nicht oft, dass Pascal seinen Willen nicht bekam. Auch Toshio hatte die Bürotür im Auge behalten, und auch er bemerkte sofort den ungünstigen Stimmungsumschwung seines Herrn. Er gab einen kleinen, verzweifelten Laut von sich, irgendetwas zwischen Wimmern und Aufstöhnen, und sein Körper begann zu beben, wissend, wie sehr sein eigenes Wohlergehen von Pascals Stimmung abhing.

Dem anderen Jungen blieb das erspart. „Da hast du wohl Glück gehabt“, sagte Raven zu ihm, und Toshio strich er unauffällig in beruhigender Art über den Oberarm. „Er wird sich schon wieder abregen.“

Toshio sah ihn kurz zweifelnd an, bevor er wieder den Kopf senkte.

„Spätestens, wenn du nachher für ihn tanzt, wird sich seine Laune wieder bessern“, fügte Raven noch hinzu. „Also gib dir Mühe.“

„Ich tanze für mich, nicht für ihn“, stellte Toshio, fast unhörbar, richtig.

„Das denkst du. Dein Herr sieht das anders. – Ah, Pascal. Du konntest ihn also nicht überzeugen.“

„Nein. Nicht einmal den Namen des Vorbesitzers hat er mir verraten. Wirklich schade.“

„Genau wegen dieser Diskretion wird Neubauer von allen so geschätzt. Von dir auch, normalerweise.“

„Ja ja, ich weiß.“ Er nahm Toshios Leine wieder an sich. „Worüber habt ihr gerade gesprochen? Was sehe ich anders?“

„Es ging um seine Prellung, und ob er damit tanzen kann“, entgegnete Raven, bevor Toshio etwas sagen konnte. „Ich finde es ja noch etwas zu früh dafür.“

„Es wird schon gehen. N`est-ce pas, Toshio?“

„Oui, mon Monsieur.“

„Oh?“ machte Raven. „Sprecht ihr jetzt auch französisch?“ Das erinnerte ihn daran, dass er sich kürzlich erst gefragt hatte, wie viel Laurin wohl inzwischen von dieser Sprache verstand.

Pascal gab Toshio einen leichten Klaps an den Kopf. „He! Deutsch ist Sklavensprache, und damit deine Sprache. Compris, mon amour?“

„Ja, Herr. Verzeihung, Herr.“

Sie schlenderten weiter, ohne den rothaarigen Jungen, der die ganze Aufregung unverschuldet verursacht hatte, noch weiter zu beachten. Ab und zu wechselten sie ein paar Worte mit anderen Interessenten, doch Pascals gute Stimmung war dahin, und selbst Raven schaffte es nicht, ihn wieder aufzumuntern. Was unter anderem daran lag, dass er sich selbst auf unbestimmte Weise deprimiert fühlte. Nicht, weil Pascal den Rothaarigen nicht hatte kaufen können, darüber war er eher erleichtert, aber die Erkenntnis, dass hier Ware feilgeboten wurde, die nur wenig älter war als Laurin, hatte eine Saite in ihm zum Schwingen gebracht, von der er nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte.

Was mache ich hier eigentlich, fragte er sich, während er mit Pascal gemeinsam beschloss, die gesamte Ausschussware zu kaufen. Ich bin nicht besser als diese Pferdehändler, die ich früher so verachtet habe. Er dachte dies ohne Reue oder Bitterkeit, eher aus einer gewissen Distanz heraus erstaunt darüber, was aus ihm geworden war, seit er seine Familie verlassen hatte.

„Willst du bei den Ausstellungsstücken noch einmal schauen?“ fragte er.

Pascal schüttelte den Kopf. „Nein. Wir warten, wer von denen am Ende noch übrig ist. Dann können wir den Preis drücken. Warte du hier, ich gehe noch einmal zu Neubauer. Bestimmt kriegen wir für diese hier Mengenrabatt. Er kann froh sein, dass er sie alle los wird.“

„Okay.“

Diesmal nahm Pascal seinen herausgeputzten Sklaven mit, und Raven betrachtete nachdenklich die bedauernswerten Kreaturen in den Käfigen. Er konnte sich kein Mitleid erlauben, und es war auch nicht wirkliches Mitleid, was er empfand. Vielmehr das deutliche Gefühl, Teil von etwas zu sein, das grundlegend falsch war. Woran er jedoch nichts ändern konnte, und darum hatte er schon vor langer Zeit beschlossen, Kapital daraus zu schlagen. Warum auch nicht? Niemand konnte ihm vorwerfen, der Welt mit derselben Gleichgültigkeit entgegen zu treten wie der Rest der Menschheit auch.

Doch genau das war nicht wahr. Laurin konnte ihm das vorwerfen, und er hatte auch allen Grund dazu, denn er würde eines seiner Opfer werden. Und Laurin war ihm nicht gleichgültig. Was für ein verdammtes Dilemma, für das es scheinbar keine Lösung gab. Vermutlich konnte er es immer noch schaffen, Laurins Vertrauen zu verraten. Das einzige Problem war, dass er es nicht mehr wollte. Die Ergebnisse der Gehirnstrommessung, auf die er damals so scharf gewesen war, waren ihm inzwischen vollkommen gleichgültig, wenn der Preis dafür hieß, Laurins Schädel aufzusägen und ihn den Strapazen einer Versuchsreihe auszusetzen, von denen er sich womöglich nie mehr erholen würde. Ravens Herz begann zu klopfen. Er wusste, er war gerade dabei, etwas zu begreifen. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über die Menschen hinweg, die wie Gegenstände zum Kauf angeboten wurden, über die Menschen, die sich anmaßten, jemanden kaufen und besitzen zu können. Er selbst hatte sich bewusst entschieden, zu Letzteren zu gehören. Er hatte es satt gehabt, ein Opfer der Umstände zu sein. Er hatte diesen Weg eingeschlagen in dem Moment, als der alte Schamane des Stammes das Geld abgelehnt hatte, das Geld, an dem seiner Meinung nach Blut klebte, womit er nicht ganz Unrecht gehabt hatte. Dennoch hatte sich Raven für das Geld entschieden und gegen seinen Lehrmeister, gegen seinen Stamm, gegen seine Bestimmung. Nein, mit höherer Wahrscheinlichkeit hatte er seine Wahl schon vorher getroffen, als er das Geld genommen hatte und dafür ein Mensch sein Leben gelassen hatte. Oder sogar noch viel früher, denn der Tod dieses Menschen, den er zwar nicht verschuldet, aber auch nicht verhindert hatte, hatte ihn nicht berührt, nicht im Mindesten.

Laurin lenkte ihn wieder in die Gegenwart, in dem er ihn sacht am Arm antippte. „Die Frau dort, sie ist ganz krank vor Angst. Darf ich zu ihr?“

Er sah sofort, wen er meinte, sie kauerte in der hintersten Ecke des Käfigs und konnte ihr Schluchzen nur schwer unterdrücken. „Ja, geh nur. Aber pass auf dich auf, und verspreche ihr nichts, was hinterher nicht eintreten kann.“

Laurin nickte knapp, und Raven verfolgte ihn mit seinem Blick, wie er sich zwischen den Käfigen hindurch schlängelte und sich neben ihr auf den Boden hockte. Sie zuckte zusammen, und Laurin sagte etwas zu ihr, was sie beruhigte. Danach hielt er einfach nur ihre Hand. Manchmal waren die einfachen Dinge am hilfreichsten.

Pascal kehrte zurück, Toshio tänzelte elfengleich in seiner Verkleidung neben ihm her.

„Dieses Geschäft hat funktioniert. Sie gehören alle uns.“

„Na, prima“, entgegnete Raven, und in diesem Moment wusste er plötzlich, dass er versuchen musste, Laurin zu kaufen. Er verstand jetzt die Worte seines Krafttierfreundes: Er hatte diesen Weg eingeschlagen, er würde ihn zu Ende gehen. Damit war nicht seine Arbeit im Labor gemeint, sondern diese Welt hier, die Welt der selbsternannten Herrenmenschen und der Sklaven. Raven war in ihre Welt eingetreten, aber er selbst hatte sich nie als Teil von ihr wahrgenommen, und er hatte sich dementsprechend nie selbst einen Sklaven zugelegt.

Bis Laurin kam.

Jetzt hatte er Laurin, und jetzt musste er den Weg zu Ende gehen und ihn zu seinem Besitz machen. Wenn der Junge sein Eigentum wäre, dann konnte er mit ihm machen, was er wollte. Darüber konnte er sich später Gedanken machen, was das sein sollte. Einen Weg zu gehen hieß, einen Schritt nach dem nächsten zu setzen.

Vielleicht würde es doch nicht so schwer werden, Pascal zu überreden. Vielleicht könnte Raven sich sogar Pascals eigene dumme Vernarrtheit in Toshio zunutze machen, und Pascal würde Verständnis haben, dass Raven entgegen aller Vernunft Laurin besitzen musste. Und schließlich hatte Raven ihn noch nie um einen Gefallen gebeten. Er hatte immer vermieden, in Pascals Schuld zu stehen. Für Laurin würde er es tun.

Dann war da ein weiteres Problem finanzieller Natur. Raven wusste nur zu gut, was Sklaven kosteten, und er durfte nicht erwarten, dass Pascal ihm Laurin schenken würde, denn auch Pascal war an den Ergebnissen der ursprünglich angedachten Versuchsreihe interessiert. Schließlich hatte er nur deswegen Laurin überhaupt am Leben und in Ravens Obhut gelassen.

Jetzt bereute es Raven, dass er sein Geld nicht gewinnbringend angelegt hatte. Er verdiente gut bei Remarque-Pharma, und er lebte nicht ärmlich, aber er hatte nie Sinn darin gesehen, Geld anzuhäufen, wo doch jeden Monat welches nachkam. Er hatte sein Haus und seinen Wagen, einen schicken dunkelgrünen BMW mit allen Extras, der wohl seinen einzigen Luxus darstellte neben der teuren Kleidung, die maßgeschneiderten Anzüge, die er sich leistete. Er bezahlte eine Haushälterin und den Gärtner, alles andere hatte er dafür ausgegeben, Land zu kaufen. Von Menschen unberührtes Land, einzig zu dem Zweck, es unberührt zu lassen. Er besaß inzwischen beachtliche Mengen Regenwald in Südamerika und Urwald in Kanada, seiner Heimat. Die Ureinwohner, die dort lebten, waren ihm egal, aber er schützte die Landstriche so vor Abholzung oder sonstiger industrieller Nutzung. Wenn er irgendwann keine Lust mehr zu medizinischer Forschung haben würde, hatte er vor, sich dorthin zurück zu ziehen.

Jetzt würde er sich eine Weile mit Landeinkäufen zurück halten und sein Geld sparen. Gleichzeitig würde er Laurins Schicksal im Labor noch eine Weile hinauszögern. Sobald er genug für eine ordentliche Anzahlung zusammen hatte, würde er Pascal bitten, ihm Laurin zu verkaufen.

Und als allererstes würde er heute Abend gleich eine Andersweltreise unternehmen, um sein Krafttier zu besänftigen und ihm zu danken.
 


 

Ricardo wog den Umschlag in seiner Hand. Noch einmal überdachte er die möglichen Folgen seiner Handlung, sollte er den Brief wirklich abschicken und sollte herauskommen, dass er ihn verschickt hatte. Es verstieß gegen die ungeschriebenen und unbeugsamen Regeln, die Sklavenhalter zu erfüllen hatten. Er selbst hatte Myros Familie ein Lebenszeichen zukommen lassen, aber selbstverständlich hätte er in diesem Fall Toshios Besitzer um Erlaubnis fragen müssen. Was er nicht getan hatte.

Aber wie sollte überhaupt jemals herauskommen, dass dieser Brief geschrieben worden war, wie sollte Pascal oder irgendein anderer Herr davon erfahren? Und selbst wenn, wäre es schwer, die Spur bis zu Ricardo zurückzuverfolgen, denn er würde den Brief in dem großen Umschlag zunächst nach Moskau schicken, von wo er dann von einem guten Bekannten weitergeleitet werden würde. Der Poststempel würde aus Russland kommen. Vielleicht würde sich Pascal denken, dass nur Ricardo Toshio geholfen haben konnte, aber beweisen können würde er es nicht.

Und überhaupt – es stand nichts Verfängliches drin in dieser knappen Mitteilung. Kein Hinweis auf Toshios Aufenthaltsort, kein Hinweis auf Pascal, kein Hilferuf. Nur ein Lebenszeichen. Ricardo hatte Toshio den Text auf Englisch schreiben lassen, damit er kontrollieren konnte, was darin stand. Wieder und wieder hatte er ihn gelesen und ihn Toshio wieder und wieder kürzen und ändern lassen. Bis er sich auf drei Sätze reduziert hatte.

„Lieber Patrick. Bitte denk nicht mehr an mich und suche mich nicht. Ich liebe dich nicht mehr, und es ist mein ausdrücklicher Wunsch. Toshio.“

Ricardo riskierte nicht nur Unannehmlichkeiten für seine Person, viel mehr Sorgen machte er sich um Myro, der von ihm abhängig war. Und doch wusste er, dass Myro, wenn er ihn denn eingeweiht hätte, das Risiko eingegangen wäre, um Toshio diesen Gefallen zu tun. Und auch Ricardo verspürte seit ihrem gemeinsamen Spiel an jenem Abend bei Hakujiro den unstillbaren Wunsch, irgendetwas für Toshio zu tun.

Das Risiko für sich und damit für Myro war gering, entschied er. Er warf den Briefumschlag in den Postkasten.
 


 


 


 

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Ricardo habe ich mir noch einmal ausgeliehen,

falls er Euch ooc erscheint, gehen die Beschwerden also bitte an mich.
 

@Samantha: Ich hoffe, du bist mit meiner Wunscherfüllung zufrieden? Danke an dieser Stelle nochmals für den hundertsten Kommentar! Vielleicht schreibst du ja auch den zweihundertsten, dann darfst du dir wieder was wünschen.

Es hat mir Spaß gemacht, darüber nachzudenken! ^^

Muskat

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Wenn die Hoffnung stirbt

Mit brennenden Augen starre ich in die Dunkelheit. An Schlaf ist nicht zu denken.

Immer wieder ziehen die Erinnerungen der letzten Stunden wie Filmausschnitte an mir vorüber. Pascal, wie er sich selbstgefällig auf dem Bett fläzt. Florence, die mich kurz und tapfer anlächelt. Florence mit verzerrtem Gesicht, ihr Körper voller Blut ... Es ist wie ein Alptraum. Nur dass ich nicht aufwachen kann.

Dieser furchtbare silbern glänzende Dildo.

Meine Unfähigkeit, mich zu widersetzen.

Hinter mir höre ich Pascal leise schnarchen. Ich habe mich von ihm weg gedreht. Seinem Arm, der schwer auf mir liegt, entkomme ich damit nicht. Seinem Atem, der über meine Haut streicht, auch nicht.

Viel zu nah.

Aber ich kann nicht weg. Nicht einmal weg schlafen kann ich mich. Ich möchte Pascal verachten, doch ich verachte nur mich selbst. Warum bin ich so schwach? Warum kann er alles von mir verlangen?

Dabei war ich mir sicher, dass ich diesmal nicht nachgeben würde! Doch dann ...

Noch immer durchlaufen mich kaltheiße Schauer, wenn meine Gedanken zu diesem Moment streifen, diesem Moment, in dem alles vorüber war. Dieser bemerkenswerte Augenblick, in dem nicht die Angst überwog, sondern unendliche Erleichterung. Erleichterung, diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Ich erwartete den letzten entsetzlichen Schmerz, äußerlich zitternd, doch innerlich erstaunlich ruhig. Diesen Dildo in mir hätte ich nicht überlebt.

Und dann die bittere Erkenntnis: Der war gar nicht für mich! Und so hat Pascal mich dann doch wieder in seine Gewalt bekommen. Bloß eine weitere meiner unzähligen Niederlagen.

Wie schon so oft hasse ich mich dafür, nachgegeben zu haben. Plötzlich bin ich sicher, dass er mich hereingelegt hat. Die Muskatreibe muss ein Bluff gewesen sein! Von wegen, ich hätte Florence gerettet, pah! Abscheuliches habe ich ihr getan, Unverzeihliches ...

Mein Arm brennt, wo die Haut offen ist. Geschieht mir recht.

Wie es Florence jetzt wohl geht? Liegt sie wach wie ich, starrt sie in die Dunkelheit, kann nicht vergessen; hasst sie mich, so wie ich?

Ist sie schwanger? Kann man schwanger werden von einmal Sex?

Man kann.

Ihr Kind, unser Kind, ausgeliefert an ein Monster wie Pascal. Mir wird kalt. Die Vorstellung ist so undenkbar, dass ich sie fallen lassen muss.

Ich muss fort.

Zu lange schon bin ich hier.

Niemand findet mich. Niemand sucht mich. Niemand vermisst mich.

Patrick ist nur eine ferne Erinnerung. Meine Botschaft an ihn eine Nachricht ins Nichts. Meine Abwesenheit an unserem Hochzeitstag spricht eine eigene Sprache.

Unwiederbringlich.

Der Arm, der auf mir liegt wird zu einer dicken schweren Python, die mich zu ersticken droht.

Jetzt.

Ich kann nicht mehr warten.

Ich kann nicht weiter machen, ohne es wenigstens versucht zu haben.

Vorsichtig, unendlich vorsichtig, streife ich Pascal ab und erhebe mich langsam. Bloß kein Geräusch machen. Dann stehe ich vor dem Bett, den weichen Teppich unter den Fußsohlen, und weiß nicht, was nun. Ich habe keinen Plan. Nur weg, weg, weg und die Bilder aus meinem Kopf spülen. Mit angehaltenem Atem schleiche ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Die Tür öffnet und schließt leise, ohne Pascal zu wecken.

Alles geschieht wie im Traum, ganz natürlich, es muss gelingen.

Das Haus liegt dunkel vor mir. Ich höre das Ticken der Standuhr, sonst ist alles still. Wie komme ich hinaus? Meine Füße finden von allein den Weg zur Treppe. Die Stufen sind kühl. Durch die Fenster fällt das Mondlicht und erfüllt die Eingangshalle mit fahlem Licht. Da ist die Tür, ich lege die Finger auf das glatte Metall der Klinke, drücke sie hinunter.

Die Tür ist verschlossen.

Es braucht eine Weile, bis diese Information in mein Bewusstsein dringt. Plötzlich bröckelt der tranceähnliche Zustand von mir ab. Bin ich wahnsinnig? Wenn Pascal mich erwischt ... Mein Herz beginnt laut zu hämmern. Meine Gedanken rasen, ohne dass ich einen einzigen zu fassen bekomme. Ich starre auf meine Hand, die noch immer die Klinke umklammert hält. Nur so ein dämliches Türschloss und ein paar Zentimeter Holz trennen mich von der Freiheit.

Ich wirbele herum und renne los. Das Haus ist riesig, aber ich kenne den Weg von der Treppe in den Salon, wo die Terrassentür ist. Im Salon angekommen, verharre ich kurz und schreite langsam weiter. Wie oft habe ich hier getanzt. Eigentlich kann ich sagen, dass dies der einzige Ort im Haus ist, wo ich für kurze Zeit ein wenig Glück gefunden habe.

Bitte, lass mich auch jetzt Glück haben!

Doch auch die Terrassentür lässt sich nicht öffnen.

Wie dumm von mir. Ich dachte doch nicht ernsthaft, dass ich einfach hinaus spazieren kann, nur weil Pascal schläft? Mein Blick schweift durch den mondbeleuchteten Garten, mein Atem lässt die Scheibe beschlagen, draußen bewegt sich ein Schatten. Erschrocken weiche ich zurück. Die Hunde – ich habe die Hunde ganz vergessen! Selbst wenn ich das Haus verlasse, muss ich an den Hunden vorbei, große schwarze, gefährlich aussehende Hunde. Und die Gartenmauer. Das automatisch schließende Tor mit dem Bewegungsmelder, der den Eingangsbereich in gleißendes Licht taucht. Nicht umsonst fand ich eine Flucht bislang unmöglich. Außerdem ... bin ich nackt und draußen ist Ende März.

Ich muss nachdenken, mir muss etwas einfallen, bevor Pascal aufwacht, vielleicht kann ich mich verstecken, ich muss ...

Ein Geräusch lenkt meine Gedanken ab. Ich schleiche auf den Flur hinaus und lausche. Es kommt nicht von oben, dem Himmel sei dank, es kommt aus dem Bereich des Hauses, den ich nicht kenne, dort, wo auch die Küche sein muss. Es ist ein Weinen. Ist das ...?

Florence!

Ich zögere. Vielleicht will sie auch fort, wie ich. Vielleicht können wir es zu zweit schaffen. Sie kennt dieses Haus besser als ich. Es ist so alt, sicher gibt es hier Geheimgänge. Oder bringe ich sie nur unnötig in Gefahr? Wieso sollte Florence geheime Gänge kennen, sie ist genauso gefangen wie ich es bin. Plötzlich habe ich Laurins Stimme im Ohr. Es ist unmöglich, sie kommen alle wieder. Wie oft hat er mich eindringlich davor gewarnt, zu fliehen. Du weißt nicht, was mit Sklaven passiert, die weg laufen.

Ach, Laurin. Du weißt ja nicht, wie es ist, in Monsieurs Haus zu leben.

Für Florence muss es auch schlimm sein. Wie lange mag sie schon hier sein? Und woher hat Pascal sie? Sehnt sie sich auch nach jemandem, den sie zurück lassen musste? Seltsam, dass ich mir vor dieser grauenvollen Nacht noch nie Gedanken über sie gemacht habe.

Das Weinen hat aufgehört, aber ich gehe in die Richtung, aus der es kam. Warum weiß ich nicht. Ich muss sie sehen, mit ihr sprechen. Der Flur, den ich entlang schleiche, ist dunkel, kein Fenster, das den Mond herein lässt. Aber eine der vielen Türen ist nur angelehnt, und ein schwacher Lichtschein lenkt meine Schritte. Bilde ich mir das ein oder schmerzen meine Fußsohlen mal wieder? Wahrscheinlich ist es nur die Kälte. Im gesamten Erdgeschoss ist kein Teppichboden, und ich beginne zu frösteln.

Die offene Tür ist nur noch ein paar Schritte entfernt, da werde ich plötzlich von hinten an den Haaren gepackt. Es fühlt sich an, als würde mir die Kopfhaut vom Schädel gerissen werden, mein Schrei wird erstickt durch eine Hand, die sich auf mein Gesicht presst. Ich kann nicht atmen! Panisch versuche ich, den Griff auf Mund und Nase zu lockern, während der reißende Schmerz an den Haarwurzeln mir die Tränen in die Augen treibt. Ich werde rückwärts gezerrt, dann losgelassen und hart nach vorn gestoßen. Ich stolpere, torkel gegen eine Wand, schaffe es aber irgendwie, auf den Beinen zu bleiben.

Jetzt werde ich erfahren, was mit Sklaven geschieht, die zu fliehen versuchen. Pascal sagt kein Wort, aber das verheißt nichts Gutes.

Das Licht geht an, und ich bin geblendet von der Helligkeit. Pascal packt mich am Arm, zieht mich heran und gibt mir mehrere Ohrfeigen, nicht besonders stark. Er gibt ein knurrendes Geräusch von sich. Moment, das ... das ist gar nicht Pascal! Die hünenhafte Gestalt vor mir, die mich wütend ansieht, das ist Ivan.

Ivan mit seinem vernarbten, fratzenhaft grinsenden Gesicht, das mir beinahe mehr Angst einjagt als seine brutalen Hände. Ivan ist es, der für Pascal die Drecksarbeit erledigt. Er entsorgt meine Exkremente, wenn ich im Käfig hocke, er säubert den Folterkeller mit den „Spielgeräten“ von Schweiß und Blut und den ganzen Ausscheidungen, die mein Körper von sich gibt, wenn nichts mehr unter Kontrolle ist. Auch mich reinigt er oftmals, wenn Pascal mit mir fertig ist. Ivan ist Pascals rechte Hand. Er spricht nicht, er gehorcht nur.

Es macht keinen Unterschied, dass er mich erwischt hat und nicht Pascal.

„Ich konnte nicht schlafen“, stammele ich eine Erklärung, auch wenn ich nicht glaube, dass mir das hilft. „Ich wollte nicht weg laufen, ich konnte nicht schlafen, und dann hörte ich jemand weinen, ich wollte nach Florence sehen, mehr nicht, wirklich ...“

Ivan unterbricht mich mit einem zischenden Laut und schlägt mir mit der flachen Hand auf den Mund. Leicht nur, er weiß genau, wie stark er zuschlagen darf, um keine Spuren zu hinterlassen. Ich wehre mich nicht. Nur ganz kurz schweifen meine Augen umher auf der Suche nach etwas, das sich als Waffe eignet. Doch selbst wenn ich die Vase dort hinten auf der Kommode erreichen könnte, hätte ich keine Chance gegen Ivan. Irgendwann in der Anfangszeit habe ich mir verzweifelte Kämpfe mit ihm geliefert und war immer der Unterlegene, also habe ich schließlich damit aufgehört. Es brachte nichts außer zusätzlichen Schlägen und Schmerzen.

Jetzt ist alles aus.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht blicke ich dem Tod ins Auge. Einem gewaltsamen, qualvollen Tod. Und auf einmal sehe ich mit neuer Klarheit, was ich doch schon von Anfang an gewusst habe: Egal, wie ich mich verhalte, ob ich gehorsam oder widerspenstig bin, ob ich zu fliehen versuche oder nicht – Pascal hält einen grausamen Tod für mich bereit. Niemals wird er mir meine letzten Minuten erträglich gestalten. Ein friedliches Einschlafen im Kreise der Lieben, wie es sich alle Menschen wünschen, ist mir nicht gegeben.

Schicksal.

Und auf einmal sehe ich mit dieser Klarheit die Konsequenz, die sich daraus ergibt. Ricardo hat es mir gesagt. Ich muss mein Schicksal annehmen. Oliver hat auch schon, viel früher, davon gesprochen. Und sie haben recht, es fühlt sich besser an jetzt.

Diese Gedanken gehen durch meinen Kopf und geben mir ein schwebendes Gefühl, während Ivan meinen Körper zur Eingangshalle und dann die breite Treppe nach oben schleift. So eilig hat er es, mich Pascal auszuliefern, dass er nicht einmal das Licht im oberen Stockwerk anmacht. Ich weiß genau, welche der vielen Türen die zu Pascals Schlafgemach ist, und ihr Anblick beendet mein körperloses Gefühl und maßlose Angst bemächtigt sich meiner und vertreibt jeden klaren Gedanken.

Fünf Schritte von der Tür entfernt, bleibt Ivan völlig unerwartet stehen und lässt mich los. Fast wäre ich gestürzt, hätte Ivan nicht erneut nach mir gegriffen. Stützend diesmal. Eindringlich legt er den Finger über die Lippen und schiebt mich vorwärts, von sich weg auf die Schlafzimmertür zu.

Ich verstehe nicht. Kommt er denn nicht mit? Oder soll ich Pascal selbst alles beichten? Die Hand über der Klinke drehe ich mich zu Ivan herum. Er ist mir nicht gefolgt. Noch einmal macht er die Schweigegeste, dann geht er zurück. Auf halbem Weg zur Treppe dreht er sich um und bleibt abwartend stehen.

Ich verharre reglos, kann noch immer nicht begreifen, was gerade geschieht. Es ist das erste Mal, dass Ivan so etwas wie nett zu mir ist. Oder habe ich die anderen Male nur nicht bemerkt?

Und will er später eine Gegenleistung für seine Nettigkeit? Und will ich das überhaupt, ihm etwas schuldig sein?

Meine Gedanken schwirren mir durch den Kopf, mein Herz pocht in meinen Ohren, kalter Schweiß legt sich auf meine Haut. Ich will nicht in dieses Zimmer, in dem Pascal lauert. Nicht eine einzige Zelle in meinem Körper möchte zurück in dieses Zimmer.

Doch Ivan erwartet genau das von mir. Er beobachtet mich. Ich nehme an, meine Alternative ist, dass er mich bei Pascal abliefert.

Das kleinere Übel wähle ich. Wie schon so oft.

So leise ich kann öffne ich die Tür und schlüpfe hinein. Pascals Atemzüge sind lang und gleichmäßig. Er schläft! Jetzt muss ich nur noch unbemerkt zurück an seine Seite gelangen. Keinen Augenblick lasse ich die schlafende Gestalt unter der Bettdecke aus den Augen, und so gebe ich nicht genug auf meine Füße acht und stoße gegen den großen Hundekorb vor dem Bett. Ich kann einen Schrei unterdrücken, aber Pascal regt sich jetzt! Sein Arm tastet zur Seite, wo ich liegen sollte, und findet nichts. Ich halte den Atem an, hoffe, bete …

Doch umsonst.

Ich höre, wie er ein unwilliges Knurren von sich gibt. Schon richtet er sich auf: „Toshio?“

Mein Blut verwandelt sich in Eis. Mit einem kläglichen Winseln lasse ich mich in den Hundekorb vor meinen Füßen fallen. Das Licht geht an.

„Was machst du da?“

Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, rede ich los. „Herr, Verzeihung, ich wollte Euch nicht wecken, ich … ich konnte nicht schlafen, und ich … bitte, ich ...“ Ich zitter mal wieder so stark, dass ich nicht weiter sprechen kann.

Zum Glück versteht Pascal nicht. „Warum bist du denn so aufgelöst? Hast du schlecht geträumt?“

„Ja … Nein … Ja! Genau – schlecht geträumt!“

Pascal runzelt die Stirn und klopft gebieterisch neben sich. Ich presse hart die Lippen aufeinander und stehe wieder auf. Meine Beine wollen mir nicht gehorchen, aber ich zwinge mich, aufzustehen und mich auf das Bett zu knien. Ich wage nicht, den Blick zu heben.

Unerwartet sanft greift er nach meiner Hand. „Was hast du denn gemacht, mon matou“, fragt er. „Das muss ich dir neu verbinden.“

Jetzt erst merke ich, was er meint: Die Kompresse, die er über meine Wunde geklebt hat, ist völlig durchgeblutet. Das muss passiert sein, als Ivan mich gepackt hat. Mein Mund ist ganz trocken, darum nicke ich nur. Und als sei das das Stichwort für den Arm, beginnt die Wunde jetzt zu brennen.

Pascal steht auf, holt frisches Verbandszeug, versorgt mich, streichelt mich, murmelt tröstende Worte, und ich darf sogar noch ein paar Tropfen von dem Schmerzmittel nehmen.

Wenn er wüsste, was für eine skurrile Situation das nach meinem dilettantischen Fluchtversuch ist! Ich kann noch gar nicht richtig begreifen, dass ich wirklich davon geschlichen bin. Und dass Ivan mich nicht verraten hat, begreife ich auch nicht.

Der Morgen ist noch fern, und bald ist Pascal wieder eingeschlafen. Ich liege wieder neben ihm, sein Pythonarm über mir, als wäre nichts gewesen.

Ich würde auch gern schlafen, aber ich kann nicht. Florence' Weinen klingt mir noch in den Ohren. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass ich nicht bis zu ihr gekommen bin. Ich bin wahrscheinlich nicht der Richtige gerade, um ihr Trost zu spenden.

Nachdem sich meine Aufregung wieder gelegt hat, schieben sich wieder die Szenen der Vergewaltigung vor mein inneres Auge. Obwohl Pascal mich streng genommen nur benutzt hat, um ihr weh zu tun, fühle ich mich schuldig. Wenn ich nur die Zeit zurück drehen könnte, dann … Ja, was dann?

Pascal hat nicht geblufft!

Er hätte Florence die Reibe in den Leib gerammt, und dann hätte er sie einfach ersetzt. So wie er eines Tages auch mich ersetzen wird, nachdem … nachdem er mit mir fertig ist.

Ich zwinge mich noch einmal, den Gedanken zu Ende zu denken. Mir wird die Flucht nicht gelingen. Pascal würde mich nicht ungefesselt lassen, wenn ich ihm entfliehen könnte, so dumm ist er nicht. Zu lange schon warte ich auf eine Gelegenheit, fortzulaufen. Sie wird nicht kommen.

Und Patrick? Völlig unrealistisch sind meine Hoffnungen, er könne mir helfen. Er hat gegen einen Menschen wie Pascal genauso wenig Möglichkeiten wie ich. Der Brief, selbst wenn Patrick die versteckte Botschaft versteht, war sentimentaler Quatsch, völlig nutzlos.

Bleibt mir also nur, mich in mein Leben als Lustsklave endlich zu fügen?

NEIN, schreit alles in mir.

Er wird es wieder tun. Wenn Florence nicht schwanger geworden ist, dann wird er mich wieder dazu zwingen. Und wieder und immer wieder. Und danach fällt ihm eine neue Grausamkeit ein.

Ich will das nicht.

Ich kann nicht mehr.

Ich möchte nur noch, dass es vorbei ist.

Am liebsten wäre ich tot.

Wie so oft, wenn ich solche Gedanken hege, vermeine ich die mystische Gegenwart der Hirschgestalt wahrzunehmen. Doch diesmal schiebe ich sie beiseite. Ich will keinen Trost spüren und keine Kraft sammeln zum Überleben! Ich will nur fort, fort, fort. Egal wie.

Nur wie bloß?

Flucht – unmöglich.

Rettung – unwahrscheinlich.

Ich bekomme Kopfschmerzen von diesen ganzen drängenden Gedanken, die sich doch nur im Kreise drehen. Ich beiße an meiner Wange herum. Da ist so eine Stelle an der Innenseite, wo schon eine richtige Verdickung ist, weil ich dort ständig herum knabber, wenn ich nichts mit mir anzufangen weiß. Eine blöde Angewohnheit, die ich mir in den letzten Monaten zugelegt habe. Ich nage, bis es blutet und weh tut, aber das ist wenigstens ein Schmerz, der Pascal keine Freude bereitet, das ist mein eigener Schmerz.

Als sei ein Schmerz, den ich mir selbst zufüge, irgendwie besser. Ich werde wirklich langsam verrückt. Ich muss etwas tun, mich bewegen, tanzen wäre jetzt gut. Sowieso ist tanzen der einzige Lichtblick. Aber selbst das werde ich in Zukunft nicht mehr haben.

Ich werde nicht mehr tanzen.

Und was passiert dann? Was ist ein Leben ohne das Fallenlassen in die Musik?

Das ist kein Leben.

Mein Leben ist schon lange kein Leben mehr. Keins, das sich zu leben lohnt.

Es ist besser, ich sehe das endlich ein und begrabe die Hoffnung auf Flucht, auf Rettung, auf Besserung meiner Situation. Es ist besser, ich füge mich in mein Schicksal. Mein Leben endete an dem Tag, als ich mit Pascal ging.

Aufgeben.

Annehmen.

Loslassen.

Gut. Ich werde sterben, bevor ich Patrick wiedergesehen habe. Ich werde nicht mehr in Freiheit sein in diesem Leben.

Eine tiefe Traurigkeit kommt über mich. Ich trauere um die vielen ungetanzten Tänze. Ich trauere um das ungelebte Glück mit einem Mann an meiner Seite, den ich liebe. Trauere um die Jahre mit Patrick, um die ich betrogen wurde, um die nicht gefeierte Hochzeit. Ich lasse die Tränen kommen und weine um meine Schwester, die ich nie mehr treffen werde. Ich werde nicht erfahren, was für ein Leben sie leben wird. Ich weine sogar um meine Eltern. Und um das Altwerden und Altsein, das ich nie erleben darf.

Ich weine so heftig, dass Pascal wieder wach wird. Aber er umschlingt mich nur und raunt beruhigende Worte. Und ich drücke mich an ihn, an seinen warmen starken Körper und nehme seinen Trost an, denn das ist alles, was ich habe.

Und dann werde ich ganz ruhig.

Ich bin jetzt bereit, den Kampf wieder aufzunehmen. Meinen letzten Kampf. Und diesmal werde ich siegen, das weiß ich. Bislang hatte ich das falsche Ziel vor Augen. Ich werde Pascal meinen Körper schenken, dieses verräterische Stück Fleisch, das er so begehrt, und das ihm sowieso besser gehorcht als mir. Ich will ihn nicht mehr.

Ich schenke Pascal meinen Körper. Meine Seele, die bekommt er nicht.

Meine Seele lasse ich frei.
 

Während der nächsten Tage bin ich viel entspannter. Weil ich weiß, dass ich nicht mehr lange hier sein muss. Ich betrachte die Welt mit ganz neuen Augen.

Zum Beispiel die Höhe der Fenster im oberen Stockwerk. Bislang waren sie zu hoch, um unverletzt hinaus in den Garten zu springen. Jetzt sind sie plötzlich zu niedrig, um sicher in den Tod zu führen. Genauso ungeeignet, doch auf völlig andere Art.

Aufmerksam durchleuchte ich alle Situationen und erreichbaren Gegenstände auf die Möglichkeit, meinem Leben ein Ende zu setzen.

Und gelange innerhalb kürzester Zeit zu der gleichermaßen überraschenden wie deprimierenden Erkenntnis, dass das weniger leicht sein wird als ich dachte. In Pascals Gegenwart und in seinem Haus habe ich mich nie gut behütet und beschützt gefühlt, doch genau das ist der Fall. Es ist erstaunlich, dass ich monatelang von ihm gequält und misshandelt werde, und er gleichzeitig sorgfältig darauf achtet, dass ich selbst mich nicht verletzen, geschweige denn töten kann.

Nun muss ich aufpassen, nicht wieder in mutloser Passivität zu versinken. Pascal hat leider viel mehr Erfahrung mit der Sklavenhaltung als ich, und wie immer sitzt er am längeren Hebel. Mein Leben liegt in seiner Hand. Mein Körper gehört ihm tatsächlich, wie wahr.

Mein einziger Vorteil ist, dass ich bislang noch nie selbstzerstörerisches Verhalten gezeigt habe und Pascal keine Ahnung hat, dass sich meine Neigungen diesbezüglich geändert haben. Wie gut, dass ich ihn in den letzten Wochen, seit wir aus Japan wieder da sind, richtiggehend eingelullt habe mit meiner Fügsamkeit. Nicht aus Berechnung natürlich, ich bin nur einfach so müde. Aber habe ich dadurch nicht mehr Freiraum gewonnen? Habe ich es nicht geschafft, ihn so weit in Sicherheit zu wiegen, dass er nachlässig wird? Ich konnte sogar nachts unbemerkt durch das Haus schleichen!

So ganz unbemerkt war das ja leider nicht geblieben. Aber Ivan benimmt sich genauso wie vorher. Bislang hat er noch keinen Versuch unternommen, mich mit seinem Wissen irgendwie zu erpressen oder Ähnliches.

Auch Florence lässt sich nichts von dem Vorgefallenen anmerken, wenn sie das Essen serviert. Vielleicht sind die Ringe unter ihren Augen früher nicht so dunkel gewesen, vielleicht hat ihre Hand früher nicht gezittert, wenn sie die Getränke einschenkt. Doch ich habe sie in der Vergangenheit zu wenig beachtet, um sicher zu sein, dass das wirklich Veränderungen sind. Ich ertappe mich dabei, mir einzureden, dass gar nichts Ungewöhnliches geschehen ist. Leider belehrt mich der Schorf auf meinem Arm schnell wieder eines Besseren.

Es ist geschehen.

Und es wird wieder geschehen.

Aber ohne mich.

Bis dahin muss ich weg sein.

Die Zeit drängt.

Nur wie soll ich es bloß anstellen? Ich bin kaum allein, entweder Pascal oder Ivan sind in meiner Nähe. Wenn sie nicht anwesend sind, werde ich festgebunden. An langer Leine zwar, aber dennoch schränkt der begrenzte Bewegungsradius auch meine Möglichkeiten ein. Und so viele Möglichkeiten, sich umzubringen, fallen mir sowieso nicht ein. Ich kann mir die Pulsadern aufschneiden. Aber womit? Warum ist mir vorher nie aufgefallen, dass keine spitzen oder scharfen Gegenstände in meiner Reichweite sind? Selbst beim Essen sind Messer und Gabel stets in Pascals Händen.

Erhängen? Aber wie, womit? Und wann, verdammt?

Ich erwäge, es Pascal tun zu lassen. Ihn so sehr zu reizen, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hat und mich tötet. Doch auch den Gedanken verwerfe ich wieder. Habe ich ihn nicht schließlich schon oft genug provoziert? Mehr als einmal fühlte ich mich schon dem Tod nahe. Aber Pascal ist ein Meister seines Fachs. Solange er mich lebend will, wird er mich am Leben halten und nicht töten.

Ich weiß nicht weiter, und frage sogar den Hirschen um Rat. Er sieht mich nur mit großen sanften Hirschaugen an. Wenigstens kommt kein altkluger Ratschlag von wegen Durchhalten. Er spürt vielleicht, dass mich das nicht mehr tröstet, sondern wütend machen würde. Ich hab genug durchgehalten. Genug nachgegeben.

Genug ist genug.

Ich hätte in das Licht gehen sollen, bei meiner ersten Gehorsamsübung, ganz am Anfang, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Wo ist dieser blöde weiße Drache denn jetzt, der mich von dem freundlichen Licht fortgeführt hat? Ich kann mich an den Traum erinnern, als wäre er gestern gewesen. Sterben kannst du später noch, hat der Drache gesagt. Von wegen!

Was ist das nur für eine Welt, in der selbst auf Drachen kein Verlass mehr ist, denke ich, und muss plötzlich kichern. Ivan, der gerade meinen Käfig reinigt, sieht zu mir herüber, als hätte ich den Verstand verloren.

Das habe ich auch, Ivan. Das und noch viel mehr habe ich verloren.
 

Ein paar Tage später, als ich für Pascal tanzen soll, lebe ich noch immer.

Er hat mich in den Salon geführt, langsame und melodiöse Musik eingelegt und sich in einen der Sessel gesetzt. Lässig hat er die Beine übereinander geschlagen und wippt mit dem Fuß.

„Tanz für mich.“

Ich rühre mich nicht. Habe ich gerade gedacht, ich lebe noch? In mir ist alles tot. Nicht einmal Angst empfinde ich in diesem Moment.

„Toshio.“

„Ich sagte doch, ich tanze nicht mehr.“

„Doch, wirst du. Du tust, was ich dir sage. Was ist daran so schwer zu verstehen?“

Ich brauche nicht den Blick heben, um das Amüsement in seinen Augen blitzen zu sehen. Ich höre es in seiner Stimme. Oh ja, er freut sich darauf, mich zu zwingen, mich nachgeben zu sehen. Egal, wie sehr ich mich weigere, am Ende werde ich tanzen, und er weiß es. Und ich weiß es auch. Das Spiel hatten wir schon so oft, das Vergnügen dabei ist stets auf seiner Seite. Ich bin es leid, dieses Spiel, bei dem es nur einen Gewinner gibt. Aber ich spiele nicht mehr mit, Pascal.

„Also gut. Wie Ihr wünscht, mein Herr.“

Ich lasse es mir nicht nehmen, aus den Augenwinkeln einen Blick auf seine Enttäuschung zu werfen, als ich ein paar Schritte zurücktrete und mich in Position stelle. Ein leises Lächeln umspielt meine Mundwinkel. Sicher hat er nicht damit gerechnet, dass ich so schnell kapituliere. Dabei habe ich das gar nicht vor. Diesmal bleibe ich bei meinem Wort. Pascal hat zwar recht – ich muss tun, was er mir sagt. Wenn er sagt „Tanz!“, dann muss ich tanzen. Aber er kann nicht bestimmen, wie ich tanze!

Ich lasse mich nicht von der Musik leiten wie sonst. Ich gebe mir keine Mühe. Ich bewege meinen Körper zu der Musik, doch ohne Hingabe, ohne Leidenschaft, ohne Spannkraft. Ich bleibe nicht einmal richtig im Takt. Es kommt mir vor wie eine Vergewaltigung an der Musik, aber der Musik tut das schließlich nicht weh. Pascals Augen dagegen hoffentlich schon!

Und es klappt.

Pascal besitzt genügend ästhetisches Empfinden, um meine Darbietung unschön zu finden, aber nicht genug Sachkenntnis, um benennen zu können, woran es liegt. Ich bin nicht so dumm, mich allzu offensichtlich plump anzustellen. Aber ich kenne die vielen Kleinigkeiten, ohne die einem Tanz das gewisse Extra fehlt. Nanao-sensei hat mir all diese Fehler ausgetrieben, die ich nun bewusst in meine Bewegungen einbaue: keine Spannung bis in die Fingerspitzen, die Ellbogen einen Tick zu weit gebeugt, die Knie auch, oder aber zu sehr gestreckt, den Fuß zu locker, die Handgelenke führen die Bewegung statt der Ellenbogen, die Wirbelsäule ist nicht genug aufgerichtet, zu wenig Spannkraft hier, zu viel Spannung dort, die Schultern etwas hängen lassen oder unangemessen hochziehen ...

Pascal beginnt, an meiner Vorführung herum zu nörgeln, ohne wirklich etwas am Ergebnis verbessern zu können. Ich gebe mich arglos und genieße innerlich meinen kleinen Triumph. Doch der währt nicht lange. Nachdem ich meinem Herrn den Abend verdorben habe, hat er richtig schlechte Laune, und das ist nie gut für mich.

Dieses Mal büße ich es mit Klammern, die er über meinen Körper verteilt, und erst als ich nur noch um Gnade winseln kann, verschafft er sich an mir Befriedigung und lässt dann endlich von mir ab.

Bald darauf schläft er neben mir, und ich starre wieder einmal in die Dunkelheit, wund an Körper und Seele. Vielleicht, wenn Pascal meine Tanzdarstellungen nicht mehr gefallen, wird er mich entsorgen, und ich muss mich gar nicht selbst um mein Ende kümmern. Oder er verkauft mich, und der neue Herr ist nachlässiger, und dann kann ich es tun. Vielleicht könnte mir bei einem anderen Herrn sogar die Flucht gelingen.

Doch nein. Ich verbiete mir diese Gedanken, die nur wieder Hoffnung in mir wecken, und mich davon abbringen, das Notwendige vor mir her zu schieben.

Morgen, nehme ich mir vor. Morgen wird sich eine Möglichkeit finden. Wenn nicht, werde ich mir eine schaffen. Ich kann nicht ewig warten. Nur leider weiß ich immer noch nicht, wie. Ich kann mir schließlich nicht mit den Fingernägeln die Pulsadern aufreißen.

Oder doch?

Nein. Andere können das vielleicht, ich sicherlich nicht. Ich mag es mir nicht einmal im Detail vorstellen.

Mit dem Gedanken daran, dass ich endlich aktiv werden muss, schlafe ich ein.
 

Am nächsten Morgen bin ich besonders wachsam. Ich beobachte, wie sich Pascal sein Brötchen aufschneidet. Das Frühstücksmesser ist nicht spitz, hat aber eine geriffelte scharfe Schneidefläche. Scharf genug. Kritisch überprüfe ich noch einmal die Vorgehensweise, die ich schon so oft im Kopf hin und her gewälzt habe: Mit einer raschen Bewegung springe ich auf und greife das Messer. Ein paar Sätze fort von Pascal, der vor Überraschung nicht schnell genug reagieren kann. Dann ramme ich mir das Messer in den Körper. Ich habe mich für die Halsschlagader entschieden, alles andere ist zu unsicher. Nur – schaffe ich das schnell genug? Selbst in Gedanken zögere ich, mir die Klinge in den Hals zu stechen. Und dann muss ich möglichst viel Gewebe zerfetzen, damit Pascal, der natürlich sofort zu mir geeilt kommt, mich nicht mehr retten kann.

Der Plan hat mehrere Schwachstellen. Was, wenn ich nicht schnell genug bin? Wenn die Verletzung nicht tödlich ist, weil ich es nicht geschafft habe, das Messer tief genug durch die Haut zu bohren? Schaffe ich es, gleich beim ersten Versuch fest genug zuzustoßen? Bin ich wirklich verzweifelt genug?

Wenn mich Pascal dabei erwischt, dass ich mir das Leben nehmen will, kann ich jeden weiteren Versuch in Zukunft vergessen.

Trotz meines Vorsatzes, kann ich mich wieder nicht entschließen, und das Frühstück ist beendet, ohne dass ich den Versuch unternommen habe.

Pascal bringt mich in den Keller und verabschiedet sich von mir.

„Heute Abend tanzt du wieder“, sagt er und hält mich dabei zärtlich im Arm. „Und diesmal gibst du dir mehr Mühe als gestern.“

Ich nicke geistesabwesend. „Ja, Herr.“ Dann habe ich eine Idee. „Darf ich in den Trainingsraum? Vielleicht muss ich härter trainieren. Meine Kondition lässt nach.“

„Na gut. Ich sage Ivan Bescheid.“

Erleichtert lasse ich mich küssen und krieche in meinen Käfig. Mir steht also kein Tag mit Langeweile und ohne Gelegenheiten bevor. Vielleicht sehe ich Pascal gerade zum letzten Mal. Der Gedanke gibt mir Kraft.
 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis Ivan kommt und mich abholt. Schweigend und mürrisch wie immer geleitet er mich in den Trainingsraum. Erleichtert ziehe ich mir rasch die Trainingshose über, die für mich bereit liegt.

Da mir keine neuen Einfälle gekommen sind, deute ich auf das Laufband. Mein Herz pocht jetzt laut vor Nervosität, und ich muss mir Mühe geben, weiterhin ruhig zu erscheinen. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel und betrete das Laufband. Als Ivan sich anschickt, meine Handfesseln an den Griffen des Gerätes zu befestigen, weiche ich unwillkürlich zurück.

Ist klar, dass Gebete nicht funktionieren.

Ivan brummt verärgert und zerrt an den Seilen.

„Bitte, nicht“, flehe ich. Ich wage nicht, ihn anzusehen und schaue demütig auf meine nackten Füße. „Ich muss die Arme frei haben. Gestern war Pascal unzufrieden mit meiner Vorführung, und ich möchte meine Schultern lockern. Ich möchte den Monsieur nachher nicht verärgern.“

Ich wage kaum zu atmen, aber Ivan entfernt nach kurzem Zögern tatsächlich die Seile von den Handfesseln. Stattdessen zieht er eines durch die Schlaufe am Halsband und bindet mich so auf dem Gerät fest.

„Danke“, bringe ich gepresst hervor.

Ich stelle eine niedrige Geschwindigkeit ein und beginne in einem flotten Schritt zu gehen. Ivans Anwesenheit ist mir bewusst, und ich kreise mit den Schultern und schüttel die Arme aus. Ich bin wirklich völlig verspannt. Aber jetzt bin ich da, wo ich hin wollte. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus.

Leider habe ich das Halsband um und keine Schlinge um den Hals. Aber ich habe gehört, dass beim Erhängen, wenn man es richtig macht, der Tod nicht durch Ersticken, sondern durch Genickbruch eintritt. Nun bin ich nicht gerade der Fachmann für die richtige Technik beim Erhängen. Trotzdem rechne ich mir gute Chancen aus. Davon abgesehen ist mir einfach nichts Besseres eingefallen. Und wenn es schief geht, sieht es wenigstens wie ein Unfall und nicht wie ein Suizidversuch aus, und ich kann es erneut versuchen.

Ich erhöhe die Geschwindigkeit. Langsam komme ich außer Atem. Ich spüre meine Muskeln, spüre mein Herz schlagen. Ganz bewusst nehme ich all dies wahr und verabschiede mich von meinem Körper. Es tut mir leid, dass ich ihm kein besseres, längeres Leben bieten konnte.

Ivan tritt heran und deutet auf seine Armbanduhr. Eine Stunde habe ich Zeit auf dem Laufband, sagt er mir damit. Ich nicke knapp. Pascal hat ihm genaue Anweisungen gegeben, seit er gemerkt hat, dass ich sonst bis zur totalen Erschöpfung trainiere.

Dann bin ich allein.

Ich laufe noch schneller.

Von allen Menschen, die mir etwas bedeuten, nehme ich Abschied. Und ich entschuldige mich bei allen. Meiner Mutter, dass ich ihr kein Geld mehr schicken kann. Meiner Schwester, dass sie nun ohne großen Bruder weiterleben muss. Ich hätte sie gerne unterstützt. Sogar an meinen Vater richte ich einen Gedanken. Dass ich mich nicht mehr bemüht habe, ihn zu verstehen. Laurin wird traurig sein. Wie gern wäre ich mit ihm fortgelaufen. Hätte ihm die Freiheit gezeigt.

Noch schneller. Meine Füße fliegen über das Laufband.

Patrick. Ich habe nicht nur mir meine Zukunft geraubt, als ich mit Pascal ging. Verzeih mir, Patrick. Ich wünsche dir jemanden, der dich glücklich macht. Du bist noch jung genug dazu.

Ich stelle das Laufband auf maximale Geschwindigkeit und renne, so schnell ich kann. Meine Muskeln protestieren, mein Atem brennt in meiner Kehle. Gleich kann ich nicht mehr, gleich ...

Ich lasse mich fallen.

Meine Füße werden nach hinten gerissen, ein Ruck geht durch meinen Körper, etwas knackt.

Geschafft, denke ich noch. Dann wird alles dunkel.
 


 

Er hält inne.

Ich kann es doch nicht , denkt er.

So schlecht er sich auch behandelt fühlt, er kann sich einfach nicht von allem trennen. Und Piku kann ja schließlich nichts dafür.

Er lässt den Deckel der Mülltonne wieder sinken und drückt den Stoffhasenelefanten fest an sich.

Du bleibst bei mir. Toshi hat uns beide sitzen gelassen.

Piku wird in seinem Zimmer bleiben, aber von nun an nicht mehr als Symbol der Hoffnung und der Treue, sondern als bloße Erinnerung an einen schönen Zeitabschnitt in seinem Leben. Die anderen Sachen von Toshi beschließt er, auf den Dachboden zu bringen.

Habe ich die Hoffnung doch noch nicht aufgegeben?

Vielleicht hat Elin ja doch recht mit ihrer obskuren Interpretation von Toshis Brief. Aber eigentlich glaubt Patrick nicht daran. Ihn plagt ein schlechtes Gewissen, dass Pans Lieder ihren gesamten Tourplan umgestellt haben für ihn und seinen verrückten Spleen, dass Toshi entführt worden sein muss. Bloß weil er sich nicht eingestehen kann, dass Toshi jetzt ein Leben in Saus und Braus mit einem superreichen Liebhaber verbringt. Statt mit ihm.

Moskau! Wahrscheinlich reisen die beiden kreuz und quer durch ganz Europa, um zu shoppen und sich zu vergnügen. Toshi ist sich ja sogar zu fein, um schnödes Deutsch zu schreiben. Die europäische Highsociety spricht wohl Englisch.

Wenigstens scheint ihn der geplante Hochzeitstag dann doch noch genug an seinen Verflossenen zu erinnern, um endlich endgültig Schluss zu machen.

Obwohl ... Wenn Patrick ehrlich mit sich ist, hat Toshi von Anfang an keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen: „Mein Entschluss steht fest. Es ist aus. Ich komme nicht zurück.“ Toshi kann schließlich nichts dafür, dass Patrick die SMS nicht geglaubt hat, weil er sich einfach nicht vorstellen wollte, dass Toshi sich so herzlos aus dem Staub machen konnte. Vielleicht hat Toshi ja geahnt, dass Patrick die Hoffnung auf Versöhnung nicht so leicht aufgeben würde – immerhin sind sie nur durch Patricks Beharrlichkeit überhaupt ein Liebespaar geworden – und hat deswegen noch einmal zum geplatzten Hochzeitstag geschrieben.

Dem Brief jedenfalls kann Patrick glauben. Trotz englischer Worte ist das ganz eindeutig Toshis Schrift. Und keine eingebildete Träne dazu wie auf der Rückseite des Fotos. Olivers und Elins Interpretation, dass die verwendeten Verneinungen in dem Brief bedeuten sollen, dass Toshi eigentlich genau das Gegenteil von dem meint, was da steht, klingt für Patrick doch etwas weit her geholt. Auch wenn er zugegeben muss, dass der Brief – von dem Englisch mal ganz abgesehen – merkwürdig formuliert ist. Denk nicht mehr an mich, und suche mich nicht. Warum bildet sich Toshi eigentlich ein, dass er ihn nach den abweisenden SMS und nach so langer Zeit noch suchen würde. Außerdem weiß er ja, wo er ihn finden würde. In den Armen eines reichen Franzosen.

Es ist mein ausdrücklicher Wunsch, hat Toshi geschrieben.

Was denn, Toshi? Wünschst du dir nur, mich nicht mehr zu lieben?

Patrick reibt sich über die Stirn. Er merkt inzwischen sogar selber, dass seine Gedanken sich nur im Kreis drehen. Hinter all das wollte er doch einen Schlussstrich ziehen, als er mit Toshis Sachen zur Mülltonne gegangen ist.

Entschlossen strafft er seinen Rücken und geht langsam zurück zum Haus. Eigentlich ist ein schöner Tag; die Sonne hat schon Kraft, auch wenn die Schatten noch kühl sind. Überall sprießt schon das frische Grün des Frühlings. Er beschließt, am Abend doch Markus' Einladung zu folgen und mit der Clique loszuziehen. Und diesmal, ohne sich zu besaufen. So kann das schließlich nicht endlos weiter gehen.

Inzwischen ist er auch davon überzeugt, dass es nur seine eigenen Ängste gewesen waren, die sich in seinen Träumen von Toshi spiegelten, in denen er ihn um Hilfe anflehte, und nicht eine übersinnliche Wahrnehmung. Es gibt wohl Schlimmeres auf der Welt, als sich einen reichen Liebhaber zu suchen und mit ihm alle Geldsorgen hinter sich zu lassen.

Selbst Toshis Familie ist nicht beunruhigt. Schon gar nicht, weil Toshi ihnen regelmäßig ein wenig Geld überwiesen hat, und diese Überweisungen seitdem keineswegs abgebrochen sind, sondern im Gegenteil der Betrag sich erhöht hat.

Nami ist so nett gewesen und hat sich bereit erklärt, mit Toshis Familie in Verbindung zu treten. Dass sich ihr Sohn oder Bruder nicht mehr persönlich bei ihnen meldete, machte ihnen allem Anschein nach keine Sorgen, auch wenn es sie bedrückte. Der Kontakt war ja auch schon vorher nicht besonders gut gewesen. Toshi hat sich ja sogar geweigert, ihnen von der bevorstehenden Hochzeit zu erzählen!

Vielleicht war er ja nie sicher gewesen, ob die überhaupt stattfinden würde, dachte Patrick verbittert. Aber er hat endlich begriffen, dass er Toshi loslassen muss. Und den Traum einer gemeinsamen Zukunft.

Dass Toshi ihn nicht geliebt hat, kann er nicht glauben. Aber er hat sich nun einmal anders entschieden. Wie gut kennt man schon einen anderen Menschen? Und objektiv betrachtet hat Toshi auch nicht wirklich viel von sich erzählt, von seiner Vergangenheit, von seiner Familie, seiner Herkunft. Und hat er ihn nicht am Anfang sogar gewarnt gehabt?

Und Yoko, seine Schwester, hatte Nami erzählt, dass Toshi schon einmal wochenlang verschwunden gewesen ist. Irgendeine Geschichte mit einer Chinesin, von der er Patrick auch nie etwas erzählt hat. „Wenn es um sein Tanzen geht, ist ihm alles andere gleichgültig. Dafür würde er alles tun“, hat Yoko gesagt.

Soviel zumindest weiß auch Patrick. Selbst die Arbeit im Spotlight hat Toshi geliebt, denn dort bekam er Geld für etwas, das er liebte, und das Publikum liebte ihn. Liebte ihn mehr als Patrick lieb gewesen war.

Und dann war er mit einem aus dem Publikum mitgegangen. Einem mit Geld, viel Geld. Bezahlte ihm Pascal Remarque einen privaten Tanzlehrer? Finanzierte er ihm eine professionelle Tanzausbildung? Wahrscheinlich kann Patrick ihn bald auf der Bühne bewundern oder im Fernsehen. Toshi hat enormes Talent und Patrick zweifelt nicht daran, dass er es weit bringen kann mit der entsprechenden Förderung.

Aber er will nicht auf der Strecke bleiben, während Toshi an seiner Karriere arbeitet. Er ist nicht der erste und wird auch nicht letzte Mensch auf der Erde sein, der verlassen worden ist.

Und auch wenn er sich das im Moment noch überhaupt nicht vorstellen kann, weiß er ganz genau, dass er sich irgendwann wieder neu verlieben kann.

Nicht so wie in Toshi. So wie Toshi wird er keinen anderen Mann lieben können.

Aber es gibt andere Arten von Liebe.

Man muss nur wollen.
 


 

Der Hund aus dem Vorort zerrt an meinen Beinen. Er hat auf mich gewartet, um Rache zu üben, weil er mir gleichgültig gewesen ist. Ich bin sicher, dass ich im Jenseits bin. Jetzt ist er ein wütender Hundegeist, der über mir hockt und seine Zähne in mein Genick schlägt. Er gibt knurrende Laute von sich. Ich werde nach hinten gezogen.

Ich komme zu mir. Ich öffne die Augen und schaue in ein helles Licht. Die Deckenlampe. Da ist kein Hund.

Das ist Ivan. Die Laute kommen von ihm. Er beugt sich über mich mit seinem grotesken Clownsgesicht. Ich muss in der Hölle sein, und der Gehilfe des Teufels hat Ivans Gestalt. Wie passend. Und die Hölle hat die Gestalt von Pascals Trainingsraum. Das passt nicht so richtig, denn dies ist einer der zwei Räume in Pascals Haus, in denen ich einigermaßen gerne bin. Das einzig teuflische hier ist die Hantelbank, die Pascal immer benutzt, und die mich an ihn denken lässt.

Ihn, den Teufel in Person.

Den Teufel auf Erden.

Dies ist nicht die Hölle im Jenseits. Dies ist meine persönliche und ganz irdische Hölle.

Es hat nicht geklappt, ich lebe noch.

Ivan dreht mich herum, und der Schmerz in meinem Nacken raubt mir den Atem. Der Hund hat sich dort festgebissen. Habe ich mir die Wirbelsäule gebrochen?

Der Gedanke schwirrt durch meinen Kopf, aber es ist mir egal. Ich möchte nur tot sein. Warum darf ich nicht sterben?

„Was ist passiert?“ Florence' Stimme.

Damit ist der letzte Zweifel verschwunden, dass ich noch am Leben bin, denn was hätte Florence in der Hölle zu suchen?

Ivan grunzt und gestikuliert, und Florence kommt näher.

„Oh Gott, Toshio, hast du dich verletzt?“

„Ich ... ich weiß nicht ...“ Es interessiert mich wirklich nicht. Ich bin am Leben, das allein ist schlimm.

„Kannst du aufstehen?“

„Keine Ahnung.“

Ich versuche es, Ivan hilft mir, aber sofort schießt ein scharfer Schmerz meinen Rücken hinunter, der mich aufschreien lässt.

„Nein! Es geht nicht ... tut zu weh ...“

Warum, warum, warum nur? Täglich sterben so viele Menschen. Menschen, die leben wollen. Nur ich nicht. Ich krieg es nicht hin.

„Bleib ganz still liegen“, sagt Florence. „Wo hast du Schmerzen?“

„Mein Rücken. Oben, zwischen den Schultern.“

Meine Beine merke ich auch, aber der Rücken ist schlimm. Selbst das Atmen tut jetzt weh. Noch immer macht mir das keine Sorgen. Dann kann ich wenigstens wirklich nicht mehr tanzen, dann kann Pascal mich nicht mehr dazu zwingen. Auch nicht zu anderen Sachen. Das ist gut.

„Ich hole Hilfe. Du rührst dich nicht, verstanden?“

„Florence ...“

„Ja?“

„Wie geht es dir? Wegen ... du weißt schon.“

Sie beugt sich über mich und lächelt. Sie lächelt tatsächlich. „Mach dir jetzt um mich keine Gedanken. Mir geht es gut.“

Sie lügt. Aber sie sieht schön aus, wenn sie lächelt. Sie beugt sich noch tiefer hinab und berührt mit ihren Lippen mein Ohr. „Toshio“, sagt sie. Nur dieses eine Wort. Und doch weiß ich, dass sie mir verzeiht, was ich getan habe.

Mein Herz wird ein wenig leichter.

„Deck ihn zu, damit er warm bleibt. Und sorge dafür, dass er still liegt“, sagt sie zu Ivan, und dann ist sie fort.

Ivan holt eine Decke und breitet sie über mich. Er geht ungewöhnlich sanft dabei vor. Mir fällt auf, dass er sehr blass ist. Ich glaube, zum ersten Mal wird mir wirklich bewusst, dass wir das selbe Schicksal teilen. Obwohl er immer so grob zu mir ist, ich Angst vor ihm habe und ihn manchmal genauso hasse wie Pascal, haben wir doch gemeinsam, dass wir beide Gefangene sind. Immer habe ich in ihm nur Pascals Handlanger, Pascals Komplizen gesehen. Für Florence bin ich genau das ebenfalls gewesen. Nur, dass sie viel souveräner damit umgeht als ich das je könnte. Ich kann ihn nicht mehr ansehen und schließe die Augen.

Es dauert nicht lange, dann ist Florence schon wieder da.

„Doktor Connor kommt sofort. Der Monsieur ist gerade nicht zu sprechen“, sagt sie, und es ist ihr anzumerken, wie erleichtert sie darüber ist.

Auch Ivan wirkt erleichtert. Nur ich hätte ausnahmsweise gerne Pascal hier gehabt, um seinen Gesichtsausdruck zu genießen, wenn der Arzt ihm meine Querschnittslähmung verkündet und ihm klar wird, dass er mich nicht mehr gebrauchen kann. Wenn ich Glück habe, schlägt Connor vor, mir den Gnadenschuss zu geben wie einem lahmen Gaul.

Einziger Wermutstropfen ist die Vorstellung, wie Laurin darauf reagieren wird. Der Kleine hängt an mir, und ich möchte nicht, dass er traurig ist. Ich hoffe, dass Laurin nicht dabei sein wird.
 

Er ist aber natürlich dabei, als der Doktor nur kurze Zeit später herein gerauscht kommt. Florence tritt sofort in den Hintergrund, und Connor kniet sich neben mich. Wie immer beginnt er seine Arbeit, indem er meine Arme greift und meinen Puls fühlt.

„Wo hast du Schmerzen?“ fragt er, sachlich und kühl.

„Mein Rücken. Unterer Nacken“, antworte ich, aber blicke an ihm vorbei zu Laurin, der schräg hinter ihm steht und mit besorgtem Gesichtsausdruck zu mir sieht.

„Sonst noch irgendwo?“ fragt Connor weiter.

„Nein … doch. Meine Beine. Die Knie.“

„Was genau ist passiert?“

„Bin gestolpert. Auf dem Laufband.“

„Und warst mit dem Halsband am Laufband fixiert?“ Er hebt das Seil an, das anscheinend noch an meinem Halsband hängt.

„Ja“, antworte ich. „Ist mein Genick … gebrochen?“ Ich versuche, meine Stimme nicht allzu hoffnungsvoll klingen zu lassen. Dennoch sehe ich, wie sich Laurins Augen nachdenklich verschmälern. Ich weiche seinem Blick aus.

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber dass du deine Beine merkst, ist ein gutes Zeichen.“

Doktor Connor greift in meine Hände. „Drück mal zu, so fest du kannst.“

Mich streift kurz die Idee, eine Querschnittslähmung zu spielen. Doch dann lasse ich den Gedanken gleich wieder fallen. Es ist schwer, Connor etwas vorzumachen. Auf Playpartys ist er dafür zuständig, die Sklaven spielfähig zu halten. Dabei habe ich nie das Gefühl, dass er auf Seiten der Sklaven steht. Und Pascal hat seine ganz eigene Art, die Wahrheit aus mir herauszukitzeln. Also drücke ich, und Connor nickt zufrieden.

„Spürst du das?“ Er streicht erst meine Arme entlang, dann schiebt er die Hosenbeine hoch und prüft bis zu den Füßen, ob ich seine Berührung fühlen kann.

Ich spüre alles. Ich ringe die Enttäuschung nieder, ich will nicht schon wieder anfangen zu heulen.

„Jetzt beweg deine Zehen, Toshio.“

Auch das geht. Verdammter Mist.

„Du bekommst jetzt ein Schmerzmittel. Dazu lege ich dir einen Venenkatheter. Dann versorge ich deine Schürfwunden. Und danach muss ich dich noch genauer untersuchen, deine Wirbelsäule muss geröntgt werden. Ich werde dich also auf die Krankenstation bringen. Und jetzt bleib ganz ruhig liegen.“

Er telefoniert mit seinem Handy, und anschließend lasse ich den Einstich der Nadel über mich ergehen und genieße das betäubende Gefühl, als das Schmerzmittel zu wirken beginnt. Er hat wohl auch ein Beruhigungsmittel dazugegeben, denn ich spüre, dass ich mich entspanne. Vielleicht liegt das aber auch nur an Laurin, der auf Knien neben mich gerutscht ist und jetzt meine Hand hält.

„Da hast du ja einen schönen Sturz hingelegt“, kommentiert Connor die Blessuren an meinen Beinen. „Hat der Notstop nicht funktioniert?“

Ich sage nichts dazu, aber Connor hat schon gesehen, dass der Clip, den man sich eigentlich an die Kleidung heften soll, unbenutzt am Gerät heftet. Er wendet sich an Ivan: „Ist es nicht deine Aufgabe, ihn zu beaufsichtigen, wenn der Monsieur nicht da ist? Warum hast du ihn nicht gesichert?“

„Das war bisher nie nötig“, antworte ich. Ich will nicht, dass Ivan bestraft wird, weil ich absichtlich gestolpert bin. Aber da hätte ich mir besser vorher Gedanken drüber gemacht, jetzt ist es dazu zu spät.

„Das sieht man ja“, schnaubt Connor. „Genau dafür sind diese Sicherheitsvorrichtungen – dass man sie nie braucht. Aber dass sie dann da sind, falls doch etwas passiert. Du kannst froh sein, dass du dir nicht dein Genick gebrochen hast, so wie du ...“ Er unterbricht sich mitten im Satz und sieht mich eindringlich an.

Rasch senke ich die Lider. Manchmal ist es ganz nützlich, dass es einem Sklaven nicht gestattet ist, einem Herrn ohne Aufforderung ins Gesicht zu sehen. Connor schweigt und macht sich wieder an die Arbeit, die aufgeschürfte Haut an den Knien zu desinfizieren und zu verbinden.

Kurz darauf kommen auch schon die Sanitäter. Sie sehen anders aus als die, die uns zum Flughafen gefahren haben, und dieses Mal bin ich sicher, dass es keine ahnungslosen Außenstehenden sind, sondern welche von Pascals Männern. Sie erinnern mich an Skin Heads mit ihren kurzgeschorenen Schädeln, und sie tragen helle Anzüge, die mich an Pyjamas denken lassen. Sie sehen aus wie Schlägertypen, und sie sehen aus wie Sträflinge, jedenfalls nicht wie Sanitäter.

Ich spüre leise Enttäuschung bei ihrem Anblick, und merke daran, dass ich immer noch auf eine Gelegenheit zur Flucht hoffen kann. Das erstaunt mich.

Aber es ist wie immer: vollkommen aussichtslos. Sie schieben vorsichtig von beiden Seiten eine schmale Trage unter mich und heben mich damit auf eine Vakuummatratze. Die Matratze ist ein Sack, der mit Kunststoffkügelchen gefüllt ist, die sich der Körperform anpassen. Dann wird die Luft abgesaugt, wodurch die Matratze fest wird und meinen Körper fixiert. Zusätzlich werde ich noch festgeschnallt. Damit sollen weitere mögliche Schäden an meiner Wirbelsäule vermieden werden. So bewegungslos bin ich selbst in Pascals Hand nur selten, und obwohl Connor mir alles erklärt, fühle ich mich beklommen.

Laurin beugt sich zu mir. „Bestimmt ist es nicht so schlimm. Raven ist ein guter Arzt, du wirst sehen, er kann fast alles heilen.“

Laurin nennt ihn immer Raven. Diesen Namen gibt er sich auf den Partys, wo die Herren anonym sein wollen, und sich nur mit Pseudonym ansprechen. Laurin redet auch immer mit einer Bewunderung von ihm, die ich nur schwer nachvollziehen kann. Aber er kennt seinen Raven ja nicht auf eben diesen Playpartys, wo Menschen bis aufs Blut zum Vergnügen ihrer Herren gepeinigt werden und Raven stets zur Stelle ist, um die Sklaven spielfähig zu halten und das Leid dadurch oftmals noch zu verlängern. Zu diesen Partys nimmt er Laurin wohlweislich nie mit.

Was natürlich ein Glück für den Jungen ist.

„Laurin“, sage ich matt, „halt einfach die Klappe.“ Doch ich drücke seine Hand, um die Worte abzumildern.
 

Ich weiß nicht viel über das französische Rettungswesen, aber das Krankenhaus, in das ich gebracht werde, ist auf keinen Fall ein normales Krankenhaus. Sie fahren den Wagen, der außen schlicht wie ein normaler Lieferwagen aussieht, aber innen hochmodern medizinisch eingerichtet ist, in eine große Halle. Ich werde ausgeladen und meine Liege auf einem Rollengestell befestigt. So schieben sie mich in einen Aufzug, und dann geht es abwärts. Ich habe keine Ahnung, wie viele Stockwerke es in die Tiefe geht, aber mir kommt es sehr lang vor, bis sich die Fahrstuhltüren wieder öffnen.

„Bring ihn zum MRT“, befiehlt Connor dem Sanitäter, der die Trage schiebt. Der andere Mann ist bei dem Lieferwagen zurück geblieben. „Ich rufe dort an, damit sie Bescheid wissen. Laurin, du bleibst bitte bei ihm.“

„Jawohl.“

Obwohl sich Connors autoritärer Tonfall nicht geändert hat, und Laurins Antwort einem Salutieren gleicht, fällt mir auf, dass Connor ihm nicht befohlen, sondern ihn gebeten hat. Vielleicht ist der Raven, den Laurin kennt, tatsächlich ein anderer als der Doktor Benjamin Connor, den ich kenne.

Ich bin froh, dass Laurin an meiner Seite bleibt. Obwohl ich mich nicht wirklich umsehen kann, weil ich den Kopf nicht heben oder drehen kann, ergreift mich ein beklemmendes Gefühl. Alles hier ist so trist und beunruhigend. Die Gänge werden von Neonröhren grell beleuchtet, die Wände sind aus rohem grauen Beton, und die Vorstellung, mehrere Stockwerke unter der Erde zu sein, lässt mich gegen aufkeimende Platzangst ankämpfen. Alle Menschen, die ich sehe, tragen dieselbe einheitliche Häftlingskleidung und haben alle kurzgeschorene Haare, selbst die Frauen.

Wo bin ich hier gelandet? Was ist das für ein Ort?

Eine dunkle Ahnung überkommt mich, dass es vielleicht eine sehr dumme Idee gewesen war, sich am Laufband zu erhängen. Nur dass Laurin neben mir so ruhig bleibt, bewahrt mich davor, panisch zu werden.

„Was ist MRT?“ frage ich ängstlich.

Zum Glück ist Laurin überhaupt nicht nachtragend und spricht sofort wieder mit mir. „Das ist nur eine spezielle Untersuchungsmethode. Dazu wirst du in eine Röhre geschoben. Es ist sehr laut da drin, aber es tut nicht weh, du brauchst keine Angst zu haben. Ich bleibe die ganze Zeit dabei, versprochen.“
 

Die Untersuchung ist dann tatsächlich gemessen an der gruseligen Umgebung nicht besonders schlimm. Eine Ärztin ist dabei, und sie sieht auch aus wie eine normale Ärztin mit normaler Frisur und einem weißen Arztkittel. Mich beachtet sie nicht sonderlich, was mir nur recht ist, aber Laurin begrüßt sie freundlich.

Die Röhre, in die ich geschoben werde, ist eng, und es ist wirklich laut da drin, aber ich habe Ohrenschützer bekommen. Mit Enge habe ich dank Pascal ein Problem, doch es gelingt mir, einigermaßen ruhig zu bleiben. Das Wissen um Laurin vor der Maschine hilft mir dabei.

Anschließend werde ich einfach zur Seite geschoben, und dann warten wir, Laurin und ich. Worauf, weiß ich nicht so genau, ob auf das Ergebnis der Untersuchung, auf Connor oder einfach darauf, was als nächstes geschieht. Laurin wagt anscheinend ohne Aufforderung kein Gespräch mit mir anzufangen und steht einfach stumm an meiner Seite. Ohne ihn würde ich durchdrehen. Jetzt kommen mir auf einmal Gedanken an Pascal, und wie er auf meinen Unfall und dessen Folgen reagieren wird. Sicher wird er wütend auf mich sein, auch wenn er nicht weiß, dass ich absichtlich gestürzt bin. Wird Connor mich vor ihm schützen, falls ich ernsthaft verletzt bin? Wie lange wird Pascal auf Spielchen mit mir verzichten, wenn ich mir die Wirbelsäule gebrochen habe? Vier Wochen? Sechs? Oder acht? Oder gar nicht …?

Die Aussicht auf acht Wochen Urlaub von Pascal ist verlockend.

Aber sicherlich wird er mich dafür bestrafen. Wie? Die wohlbekannte Angst vor ihm kriecht mir in die Knochen.

„Laurin?“

„Hm?“

„Was ist das hier? Wo sind wir?“

„Hat Raven doch gesagt. Das hier ist die Krankenstation.“

„Aber ...“ Langsam dämmert es mir. Eigentlich ist es offensichtlich; weil sich Laurin hier bestens auskennt, genau wie auf dieser Sklaven-Verkaufsveranstaltung, wo wir vor einiger Zeit waren. Laurin, der seit seiner Kindheit bei Connor lebt, kennt sich in der Sklavenwelt schließlich besser aus als in der Freiheit. „Die Krankenstation … für die Sklaven?“

„Ja.“

Und ich dachte, mich könnte nichts mehr schocken. Ein weiterer Irrtum auf meiner Liste

„Und diese kahlköpfigen Leute, sind das auch alles Sklaven?“ Ich kann es einfach nicht glauben.

„Ja. Sie arbeiten gerne hier. Hier geht es ihnen gut.“ Laurins Gesicht bekommt einen wachsamen Ausdruck. Wahrscheinlich darf er mir nicht alles sagen.

Ich will auch gar nicht alles wissen. Dennoch frage ich: „Und wem … wem gehören diese ganzen Sklaven?“

„Dem Monsieur. Alles hier gehört ihm.“

„Oh.“ Einen kurzen Moment wanken die Betonwände um mich herum. Hat Pascal hierfür die ganzen Menschen gekauft auf dieser Auktion? Seit Japan weiß ich ja, dass er richtig mit Menschen handelt. Schlimm genug. Aber dass er so tief verwoben ist in dieses ganze Menschenhandelsmilieu habe ich mir nie vorzustellen gewagt. Ein Fehler, wie mir jetzt klar wird. Mein sentimentaler verschlüsselter Brief an Patrick, meine ganze Hoffnung, die ich auf Rettung hatte, kommt mir jetzt lächerlich vor. Wie soll mich denn ein einfacher Student aus den Händen eines so mächtigen Mannes befreien können? Selbst wenn Patrick mich suchen und ausfindig machen würde, was könnte er schon ausrichten?

„Gibt es denn so viele Sklaven hier in der Gegend, dass sich so eine Station für die Kranken lohnt?“ frage ich, und meine Stimme klingt dünn und verzagt. Wo bin ich da nur hinein geraten? Wieso musste ich nur mit Pascal mitgehen, damals, vor langer, langer Zeit?

Laurins Gesicht verschließt sich. „Es ist gut, dass wir diese Station haben. Hier werden die Kranken gut versorgt“, sagt er nichtssagend, und ich frage nicht weiter.

Wir schweigen wieder.

Die Ärztin kommt zu uns in Begleitung einer dieser Sanitätersklaven. Ich bin nicht sicher, ob es derselbe ist, der mich hergebracht hat, für mich sehen sie alle gleich aus. Ich erwarte, dass sie mir nun die Ergebnisse der Untersuchung mitteilt, doch sie bellt nur den Sklaven an: „Bring ihn auf Station acht, und sei ja vorsichtig mit ihm, er ist der Favorit von Monsieur Remarque.“

Es ist merkwürdig, als Patient so völlig ignoriert zu werden. Aber wenn die anderen Ärzte alle so sind, verstehe ich langsam, was Laurin an Doktor Connor so besonders findet. Ich schließe die Augen und bete, dass ich möglichst schwer verletzt bin.
 

Leider zerstört Connor meine Hoffnungen. Kurz nachdem ich in ein Einzelzimmer gebracht werde, kommt Connor zu uns. Der Raum würde aussehen wie ein normales Krankenzimmer, wenn er Fenster hätte, die Wände gestrichen wären und die Zimmerseite zum Flur nicht aus einer riesengroßen Glaswand bestehen würde.

Ich könnte heulen, als er sagt: „Glücklicherweise ist nichts gebrochen, Toshio, und dein Rückenmark scheint auch intakt zu sein. Trotzdem bleibst du heute Nacht hier, zur Sicherheit. Es kann sich eine Schwellung bilden oder doch noch zu Einblutungen in den Rückenmarkskanal kommen. Also ruf sofort jemanden, wenn du irgendwo Taubheit oder Kribbeln spürst, oder du Hände oder Füße nicht mehr richtig bewegen kannst.“

Das werde ich natürlich nicht tun.

Er löst die Schnallen und hilft mir, mich aufzusetzen. Er untersucht mein Genick und tastet die Wirbelsäule ab. Es tut weh, und ich kann kaum den Kopf bewegen.

„Hier ist es gezerrt und überdehnt. Damit hast du ein paar Tage zu tun.“

Tage? Nur Tage? So wie das schmerzt, müssten doch ein paar Wochen Kranksein für mich drin sein!

„Es hat furchtbar geknackt, als ich gefallen bin“, sage ich. Vielleicht ist das ja eine nützliche Information in Bezug auf weitere mögliche Verletzungen.

Bitte, bitte!

„Hier sind zwei Wirbel blockiert“, sagt Connor und drückt so fest zu, dass ich unwillkürlich aufschreie. „Aber das ist nichts, was der Knochenbrecher nicht wieder in Ordnung bringen kann.“

„Der Knochenbrecher?“ wiederhole ich entsetzt.

Sogleich ist Laurin da. „Das ist nur der Chiropraktiker, das hört sich schlimmer an als es ist.“
 

Er soll recht behalten.

Der Knochenbrecher sieht zwar seinem Namen entsprechend aus, er ist ein bulliger Kerl, und auch kein Arzt, sondern einer von den Sklaven der Krankenstation, aber das Einrenken geht schnell, und danach kann ich gleich den Kopf wieder besser drehen.

Jetzt habe ich eine Halskrause um, sitze im Bett und warte bange auf Pascals Eintreffen. Durch das Panoramafenster beobachte ich die Menschen, die auf dem Gang vorbei gehen. Es sind nur Sklaven, die ich sehe. Und sie werfen mir scheue neugierige Blicke zu, als hätten sie noch nie einen Mann mit asiatischen Gesichtszügen gesehen.

Haben sie vielleicht auch tatsächlich noch nicht.

Müde schließe ich die Augen und lasse mein Bewusstsein weg dösen. Fort aus dieser bizarren, unheimlichen Welt. Laurin ist immer noch bei mir, er hat sich einen Stuhl neben das Bett gestellt und leistet mir schweigend Gesellschaft. Obwohl ich weiß, dass er mich nicht schützen kann, beruhigt mich seine Gegenwart.

Ich muss richtig eingeschlafen sein, denn ich schrecke auf, als Laurin mich am Arm greift. Das Zimmer liegt im Halbdunkel, nur der Flur draußen ist hell erleuchtet.

„Toshio, wach auf, der Monsieur ist da“, flüstert Laurin nervös.

Ich weiß, dass seine Furcht vor Pascal fast noch größer ist als meine, und unser beider Angst steht greifbar wie eine dritte Person im Raum. Draußen stehen Doktor Connor und Pascal und diskutieren auf Französisch. Schade, dass ich nicht verstehen kann, was sie sagen. Aber sie scheinen unterschiedlicher Meinung über irgendetwas zu sein. Da es höchstwahrscheinlich um mich geht, hoffe ich, dass Doktor Connor sich durchsetzen kann.

„Dann solltest du jetzt gehen“, sage ich zu Laurin, doch es ist schon zu spät, in dem Moment geht schon das Licht an, und Pascal betritt das Zimmer.

Laurin weicht sofort von mir zurück, und ich muss blinzeln wegen der plötzlichen Helligkeit und versuche, eine möglichst gelassene Miene zur Schau zu stellen, während mein Herz aufgeregt pocht.

Einen langen Augenblick steht Pascal einfach nur da und schaut auf mich herab, und ich wage nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.

„Morgen hole ich dich wieder nach Hause, so oder so“, sagt er dann. Seine Stimme ist ruhig und leise, dadurch aber nicht weniger bedrohlich. „Du brauchst also nicht auf die Idee zu kommen, irgendwelche Symptome zu simulieren, Toshio.“

Und dann geht er auch schon wieder, und ich bin zwar erleichtert darüber, aber seltsamerweise auch gleichzeitig enttäuscht. Ich denke an Ricardos liebevollen und besorgten Umgang mit Myro, und ertappe mich dabei, mir ein wenig Trost von meinem eigenen Herrn erhofft zu haben.

Verrückt.
 

Gleichzeitig beginne ich jetzt doch zu hoffen, dass keine weiteren Beschwerden auftreten werden. Ich möchte nicht erleben, was passiert, wenn ich gelähmt bin und Pascal mich der Simulation überführen möchte.

Doktor Connor kommt herein, stellt sich neben mein Bett und blättert wie der Arzt in einer billigen Krankenhausserie in meiner Krankenakte.

„Bist du wirklich nur gestolpert vorhin?“ fragt er betont beiläufig, ohne von den Seiten aufzusehen.

Ich fühle mich ertappt und schlucke hörbar in der darauf folgenden Stille. „J-ja. Natürlich. Warum sollte ich lügen?“

Jetzt blickt er mich forschend an. „Ich weiß nicht. Der Monsieur hat mir erzählt, dass du gestern Abend beim Tanzen auch schon Probleme hattest.“

Worauf will er hinaus? Ich schweige lieber, bevor ich etwas Falsches sage.

„Wolltest du nicht vernünftig tanzen oder konntest du nicht?“ bohrt er weiter. „Ich frage, weil ich nichts übersehen möchte. Es könnte eine neurologische Ursache haben, dass du gestolpert bist. Also?“

Ach so, denke ich erleichtert, dass er nicht hinter meine wahren Absichten gekommen ist. Kurz überdenke ich die Option, den Doktor nach einer neurologischen Ursache suchen zu lassen, und verwerfe den Gedanken genauso rasch wieder. Ich kann damit keinen Aufschub gewinnen. Pascals Worte sind unmissverständlich gewesen.

„Ich wollte nicht tanzen“, sage ich also ehrlich und mit so viel Trotz in der Stimme, wie ich noch aufbringen kann. „Und ich will auch nie wieder tanzen. Ich habe mit Tanzen aufgehört.“

Hinter mir höre ich Laurin erstaunt die Luft einziehen. Connor runzelt die Augenbrauen.

„Das ist deine Entscheidung.“ Er klappt meine Akte zu. „Ich sehe nachher noch einmal nach dir. Laurin, du bleibst bitte bei ihm.“

Kaum schließt sich die Tür hinter ihm, fange ich an zu heulen. Ich weiß selbst nicht genau, warum. Vielleicht ist es nur die Anspannung, die von mir abfällt. Oder die Endgültigkeit, mit der ich den letzten Satz ausgesprochen habe. Oder die völlig unnatürliche Enttäuschung, von Pascal nicht mehr Zuwendung nach meinem Unfall erhalten zu haben? Vielleicht auch einfach nur die Erkenntnis, meinem Ziel keinen Schritt näher gekommen zu sein.

Laurin dimmt das Licht und kriecht zu mir ins Bett. Arm in Arm warten wir, bis meine Tränen wieder versiegt sind.

„Willst du darüber reden?“ fragt Laurin.

„Da gibt es nichts zu reden. Es ist alles gesagt. Es ist einfach vorbei.“

„Nichts ist vorbei. Ich weiß, ich kann nicht viel für dich tun, aber manchmal hilft reden. Das weißt du doch.“

„Aber nicht mir dir, kleiner Laurin. Du erzählst doch alles deinem Raven, und der gibt es dann an den Herrn Monsieur weiter, und der … Vergiss es einfach.“

Laurin setzt sich auf. „Ich erzähle Raven nicht alles. Und ich kann dir versprechen, ihm diesmal ganz bestimmt nichts zu sagen. Ehrenwort.“

Ich seufze lautlos. „Schön. Dein Ehrenwort. Aber ich möchte wirklich mit dir nicht sprechen. Du bist zu jung, glaub mir. Dafür bist du wirklich zu jung. Komm, leg dich wieder hin.“

Meine Finger spielen mit seinem Haar. Diesmal seufzt er.

„Ich bin froh, dass du dich nicht ernsthaft verletzt hast bei deinem Sturz“, sagt er. Soll wohl ein Themenwechsel sein.

„Ich nicht“, entgegne ich leise. „Mir wäre es lieber, ich hätte mir das Genick gebrochen.“

„Sag so etwas nicht. Du hast starken Schutz an deiner Seite, dein Hirsch ...“

„Ich pfeife auf den Hirsch! Der soll weggehen! Ich … Laurin, ich kann einfach nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Ich will nur noch weg. Egal wie.“

„Aber ...“

„Nichts aber! Du weißt es doch besser als ich – wie viele wie mich hat der Monsieur schon vor mir gehabt? Und was ist aus den anderen geworden?“

Laurin gibt einen gepressten Laut von sich und drückt sich an mich. „Mit dir ist es anders. Der Monsieur mag dich. Du bist etwas besonderes, selbst für ihn, das weiß ich.“

„Selbst wenn das stimmt, begreifst du nicht, dass das alles noch schlimmer macht für mich?“ sage ich sanft und streichel weiter sein Haar. Es ist so weich, es erinnert mich an das seidige Fell einer Katze. „Ich möchte dich um nichts bitten, was dich in Schwierigkeiten bringen kann, Laurin. Aber dieses Gespräch bleibt wirklich unter uns, ja?“

„Ja. Habe ich dir doch schon versprochen. War das vorhin auf dem Laufband jetzt tatsächlich ein Unfall?“

„Ich bin gestolpert. Nichts weiter.“
 

Wie angekündigt holt mich Pascal am nächsten Tag nach Hause.

Das ist kein freudiges Ereignis, auch wenn Doktor Connor empfohlen hat, dass ich mich noch schonen soll. Was ja eher heißt, dass Pascal mich schonen soll. Er hält sich sogar daran, auch wenn er noch immer wütend auf mich ist, weil ich unachtsam war und mich verletzt habe. Natürlich werde ich dafür bestraft, aber im Schongang, nicht so schlimm. Kein Vergleich zu dem, was mir geschehen wäre, wenn er gewusst hätte, dass es Absicht gewesen ist.

Ivan hatte nicht so viel Glück; ich bin sicher, dass Pascal auch ihn dafür hat büßen lassen, dass sein Eigentum beschädigt worden ist. Ich tippe auf Peitschenhiebe, denn er hält den Rücken ganz steif. Auf dem Gebiet bin ich inzwischen Experte.

Ansonsten darf ich feststellen, dass mein Unfall dazu geführt hat, dass noch besser auf mich aufgepasst wird. Ich darf fast gar nichts mehr, und alles nur noch unter Aufsicht. Wenn die Fürsorglichkeit nicht bald wieder nachlässt, sehe ich schwarz für meinen Plan, diesem Leben ein Ende zu setzen.

Doch was soll ich dann tun? Mit Argusaugen durchleuchte ich noch einmal den Alltag nach Möglichkeiten, doch nichts scheint geeignet, erfolgreich zu sein.

Nachts darf ich in Pascals Bett schlafen, ein zweifelhaftes Privileg. Ich wäre lieber allein, aber für meinen noch immer schmerzempfindlichen Nacken ist das Bett sicherlich die bessere Wahl als das Körbchen oder der Käfig. Ich habe sogar ein Kissen bekommen! Allerdings fesselt mich Pascal neuerdings wieder beim Schlafen, vielleicht hat er ja doch Verdacht geschöpft. Aber woher soll ich wissen, was in seinem kranken Gemüt vor sich geht? Meiner Verletzung wegen lässt er mir die Arme frei und bindet nur die Füße am Bett fest.

Trotz dieser Vergünstigungen kann ich nicht schlafen. Seine ruhigen Atemzüge neben mir halten mich wach. Wie ich ihn hasse!

Zumindest in solchen Augenblicken, wo ich keine Angst vor ihm haben muss.

Der Mond scheint durch die Vorhänge, und ich betrachte Pascals Gesicht. So friedlich sieht er aus im Schlaf. Eigentlich ist er ein attraktiver Mann. Wenn man auf muskuläre Typen steht. Mein Fall ist das nicht. Ich versuche, mir Patricks Gesicht stattdessen vorzustellen. Es will mir nicht recht gelingen. Ich begreife nicht, warum es mir manchmal nicht gelingt, mich zu erinnern. Als würde mein Hirn nicht mehr richtig funktionieren.

Alles, alles hat Pascal mir genommen. Alles, was mein Leben lebenswert gemacht hat. Erst meine Freiheit. Meinen Tanz. Und Patrick. Jetzt sogar schon die Erinnerung an Patrick.

Der Hass auf ihn lodert zerstörerisch durch mein Herz. Ich werde noch verrückt! Es kann doch nicht sein, dass ich ihm nicht entkommen kann, nicht einmal in den Tod!

Er atmet ein, er atmet aus. Ganz ruhig schläft er und verhöhnt meinen inneren Aufruhr.

Ich ertrage es einfach nicht mehr, nicht einen Tag länger. Nie wieder soll er mich anfassen, nie wieder zwingen zu tun, was ich nicht tun will.

Ich bin nicht dein Eigentum, du Arschloch!

Meine Hände sind frei.

Mit einem Mal wird mein Verstand ganz ruhig. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.

Solange er lebt, wird er über mich bestimmen. Solange er lebt, wird er mich nicht hergeben, nicht an Tod und Teufel und nicht an die Freiheit. Solange er lebt, habe ich keine Chance gegen ihn. Solange er lebt, kann ich nicht leben. Und nicht sterben.

Solange er lebt.

Ich setze mich vorsichtig auf.

Er schläft. Ich bin wach.

Ich nehme mein Kissen.

Und drücke es ihm auf sein schönes, schlafendes, friedliches, verhasstes Gesicht.

Freundschaftsdienste

Der Anruf kam mitten in der Nacht.

„Ben, du musst kommen.“

„Jetzt? Weißt du, wie spät es ist?“

Das war eine dumme Frage, und Raven war sich dessen bewusst, kaum dass er sie gestellt hatte. Pascal würde nicht anrufen, wenn es nicht dringend wäre. Und er klang aufgewühlt. Wahrscheinlich war es ihm entweder nicht bewusst oder es war ihm egal, dass er Raven aus dem Schlaf gerissen hatte. Vermutlich beides.

„Du musst ihn abholen“, sagte Pascal. „Ich bring ihn sonst um.“

„Was ist denn passiert? Pascal?“

Doch Pascal hatte längst aufgelegt. Raven fluchte leise. Da war sein Freund der Chef eines riesigen Pharma-Unternehmens, hatte zwei Doktortitel und war nicht einmal im Stande einen ordentlichen Notruf zu tätigen! Jetzt hatte Raven keine relevanten Informationen bezüglich der Art des Notfalls. War jemand verletzt? Welcher Art waren die Verletzungen? Vermutlich ging es um Toshio. Oder um Ivan, schließlich hatte der Hausdiener in der Vergangenheit auch schon Pascals Unmut erregt.

Aber so sehr, dass er ihn abholen sollte? Es musste Toshio sein.

Und wie sollte er ihn transportieren, diesen unwilligen halbgezähmten Sklaven? In seinem Auto etwa?

Raven verfluchte im Stillen seinen Freund ein weiteres Mal und beschloss, einfach die Arzttasche mitzunehmen und dann vor Ort zu entscheiden, was genau zu tun war. Wenn Pascal so wütend war, dass er Toshio umbringen wollte, brauchte er seine Arzttasche höchstwahrscheinlich, und vielleicht reichte die medizinische Grundausstattung nicht einmal, die sie enthielt. Rasch zog er sich an.

Laurin setzte sich verschlafen auf. „Ist was mit Toshio?“ fragte er.

„Ich weiß nicht“, antwortete Raven wahrheitsgemäß.

„Darf ich mitkommen?“ Laurin schwang schon die Beine aus dem Bett.

„Nein.“ Raven sah die Enttäuschung im Gesicht des Jungen und wandte ihm jetzt seine volle Aufmerksamkeit zu. „Hör zu, Laurin. Pascal klang sehr aufgebracht. Ich möchte dich nicht in seiner Nähe haben, wenn er in so schlechter Stimmung ist, du weißt das. Leg dich wieder hin, und versuch noch ein wenig zu schlafen. Ich komme so schnell wie möglich wieder.“

Der Junge antwortete nicht, machte aber auch keine weiteren Anstalten, aufzustehen. Allerdings auch nicht, sich wieder hinzulegen.

Mit wenigen Handgriffen war Raven abfahrbereit. Als er einen letzten Blick in das Schlafzimmer warf, saß Laurin noch immer an der Bettkante. Er trat noch einmal zu ihm und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Er wollte ihm sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, dass, was immer auch geschehen sein mochte, es nicht so schlimm wäre. Aber Laurin kannte Pascal gut genug, und Raven selbst hatte den Jungen in der Vergangenheit immer wieder angewiesen, anderen Sklaven nichts zu versprechen, was vielleicht nie eintreten würde.

Also sagte er nur: „Ich werde tun, was ich kann. Das weißt du.“

„Ja, das weiß ich“, entgegnete Laurin. „Aber viel ist das ja nicht.“

Es lag kein Vorwurf in dieser Feststellung, nur eine tiefe Besorgnis, und dennoch war es das erste Mal, dass Laurin so etwas wie Kritik an Raven äußerte.

„Wie meinst du das?“ wollte er wissen.

„Wird er Toshio jetzt entsorgen?“ fragte Laurin statt einer Antwort, und Tränen schwammen in seiner Stimme.

„Ich glaube nicht, so vernarrt, wie er in ihn ist. Und immerhin hat er mich angerufen. Außerdem weiß ich ja gar nicht, was überhaupt passiert ist.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. „Ich muss jetzt los.“

„Ja. Raven?“

„Was?“

„Pass auf dich auf, bitte.“

„Natürlich. Ich bin so schnell es geht wieder da.“

Laurin schlang die Arme um ihn, nur einen kurzen Moment, dann drehte er sich herum und verkroch sich unter die Bettdecke.
 

Das Bett war noch warm, und er hörte, wie Raven die Haustür hinter sich schloss und dann mit dem Wagen davon fuhr. Ihn fröstelte. Der Monsieur war wütend, und Laurin war sicher, dass er wütend auf Toshio war. Warum musste er ihn auch immer wieder herausfordern? Warum konnte er sich dem Willen dem Willen seines Herrn nicht einfach fügen?

Weil sich fügen bei Monsieur Remarque auch keine Lösung war, beantwortete Laurin seine Frage selber. Monsieurs Lustsklaven hatten die Aufgabe, ihm Lust zu bereiten, und es bereitete ihm Lust, anderen Menschen Schmerz zuzufügen.

Der Gedanke, dass Toshio ihm ausgeliefert war, war unerträglich, und er würde gerne etwas für ihn tun, wusste aber nicht, was. Er befürchtete, Toshio könnte sich wünschen, dass es einfach vorbei war, aber er konnte sich nicht überwinden, für seinen Tod zu bitten. Genauso wenig konnte er sich überwinden, schamanisch für ihn tätig zu werden, denn er hatte Angst vor dem, was ihn da möglicherweise erwartete. Er hatte Angst, dass Toshio schon tot war.

Voller Unruhe stand er schließlich auf, zog sich an und tigerte durch das Haus. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass Raven jetzt schon dort sein musste. Doch dann dachte er daran, dass Raven die Interessen des Monsieur zu wahren hatte, nicht die von Toshio.

Toshios Interessen … Er hatte immer nur fort gewollt. Wieder frei sein. Laurin hatte das nie wirklich nachempfinden können, denn für ihn war die Welt der Sklaven und der Herrenmenschen eine Selbstverständlichkeit geworden. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sich Freiheit anfühlte. War man als kleines Kind überhaupt schon frei? Und seine Eltern … Er wollte nicht an seine Eltern denken.

Bei dem Gedanken daran, dass er Toshio vielleicht nicht wiedersehen würde, fühlte er sich schuldig, weil er ihm nicht besser geholfen hatte. Er hatte gedacht, das Richtige zu tun, als er ihn vor den Folgen einer Flucht gewarnt hatte. Schließlich hatte er die gesehen, die zurück gebracht worden waren. Und er konnte die Vorstellung nicht ertragen, Toshio so enden zu sehen. Toshio dachte, er hätte nichts zu verlieren, aber Laurin wusste es besser. Er konnte es ihm nicht erklären, ohne das Labor zu erwähnen, und das war ihm verboten. Aber auch ohne große Erläuterungen hatte es Toshio irgendwann aufgegeben, ihn um Hilfe anzuflehen.

Dennoch es war vielleicht doch nicht richtig so gewesen, denn Toshio hatte es nicht geschafft, sich in sein Sklavenleben zu fügen. Und selbst wenn, nichts hätte ihn vor der Grausamkeit des Monsieur bewahren können. Aber hätte Laurin ihm überhaupt helfen können, selbst wenn er gewollt hätte? Über diese Möglichkeit hatte er vorher nie nachgedacht. Er fand in sich nur die Antwort, dass Flucht ganz einfach eine Unmöglichkeit war.

Es tut mir leid, sandte er seine Gedanken zu Toshio, aber ich habe so viel Angst. Ich verspreche dir, wenn wir uns wiedersehen, werde ich mutiger sein.

Auf einmal hatte er das drängende Gefühl, dass Toshio am Leben bliebe, wenn er nur seine Angst überwinden könnte. Ein Deal: die Angst für ein Leben. Er überlegte, was Toshio von ihm wollen würde. Was würde er jetzt wollen, wenn er hier bei ihm wäre? Telefonieren vielleicht. Er wollte doch so gerne mit Patrick, seinem Freund von draußen sprechen. Aber Ravens Arbeitszimmer, in dem sich Rechner, Laptop und Telefon befanden, war immer abgeschlossen, wenn er außer Haus war. Laurin probierte es aus, aber die Tür ließ sich nicht öffnen, natürlich nicht. Wen hätte er auch anrufen sollen? Er kannte Patricks Telefonnummer nicht und auch sonst niemanden, dessen Nummer er wählen könnte. Überhaupt kannte er niemanden dort in der Welt, aus der Toshio kam. Höchstens die Bäume, die Tiere, den Mond … Der Mond stand als schmale Sichel am Nachthimmel und lockte ihn nach draußen. Er durfte allein in den Garten, allerdings nur, wenn Raven zu Hause war.

Aber Raven ist jetzt nicht da. Er merkt es gar nicht. Ihm war, als höre er Toshios Stimme in seinem Kopf.

Die Haustür war überraschenderweise nicht abgeschlossen. Er konnte nicht sagen, ob Raven sie nur heute in der Eile des Aufbruchs offen gelassen hatte, da er noch nie zuvor probiert hatte, sie eigenmächtig zu öffnen.

Der Garten empfing ihn in feierlicher Vertrautheit. Die Luft war kühl, und das Gras benetzte seine nackten Füße mit Tau. Es roch nach feuchter Erde und nach Fliederblüten. Alles war wie immer und doch fühlte es sich anders und neu an. Der Mond versteckte sich jetzt hinter Wolken.

Nur so, nur weil er gerade schon dabei war, ging er zum Tor und versuchte auch dort, ob es sich aufschieben ließ.

Es ließ sich öffnen. Ganz leicht.

Überrascht starrte er auf die unbelebte Straße, dann begann sein Herz zu hämmern.

Toshio würde sich nicht mit dem Garten zufrieden geben. Lauf, lauf lauf! rief er in seinem Kopf.

Okay. Laurin schluckte trocken.

Er wusste zwar nicht, wohin er laufen sollte, aber Deal war Deal. Angst gegen Leben. Raven war nicht da. Er würde es nicht einmal merken. Bis er zurück kam, wäre Laurin längst wieder zu Hause. Es war mitten in der Nacht, die Straße unbelebt, niemand würde ihn sehen. Er wollte nur ein wenig draußen herum laufen, nur kurz. Nur einmal versuchen, wie es sich anfühlte, frei zu sein. Die Angst überwinden. Für Toshio.

Er schlüpfte durch das Tor und schob es hinter sich zu. Er wollte es nur anlehnen, aber vor lauter Aufregung hatte die Bewegung wohl zu viel Schwung, und das Schloss schnappte mit einem satten Klicken ein. Von außen ließ es sich nicht wieder öffnen.

Laurin brach der Schweiß aus. Aber er würde schon wieder hinein kommen, das konnte ja nicht so schwierig sein. Vorher würde er sich allerdings kurz umsehen und sich frei fühlen. Danach würde er sich eine Stelle suchen, wo er über den Zaun in das Grundstück zurück klettern konnte.

Vorsichtig und aufgeregt schlich er den Bürgersteig entlang und entfernte sich zum ersten Mal ohne Raven vom Haus.

Ein leichter Nieselregen setzte ein.
 

Wie von Geisterhand schwangen die großen Torflügel auf und gaben den Weg frei auf das weitläufige Grundstück des Familienwohnsitzes Remarque. Lange schon stand das alte Pförtnerhäuschen leer, seit die Einfahrt elektronisch vom Haupthaus gesteuert werden konnte. Das war nur eine der vielen Neuerungen, die Pascal nach dem Tod seines Vaters eingeführt hatte.

Aus dem Dunkel des Gartens lösten sich zwei Schatten, die Ravens Wagen auf dem Weg zum hell erleuchteten Haus begleiteten, und ihn lautlos und freundlich wedelnd begrüßten, als er ausstieg: Thor und Loki, die beiden Dobermänner, die sich nachts und die meiste Zeit des Tages frei auf dem Gelände bewegen durften, und die das einzige Wachpersonal waren, deren dauerhafte Anwesenheit Pascal in seinem Zuhause duldete.

„Um euch geht es schon mal nicht“, murmelte Raven, obwohl er das auch zu keiner Zeit angenommen hatte. Von allen Sklaven, die Pascal besaß, ging es den Hunden wohl noch am besten. Eifrig und anspruchslos kamen sie ihrer Aufgabe nach, das Haus vor Ein- und Ausbrüchen zu beschützen, hatten mit dem Hausherrn selbst wenig zu tun und liebten mit hündischer Hingabe Ivan, der für ihre Versorgung zuständig war.

Raven hatte kaum einen Fuß auf die breite steinerne Treppe, die zum Hauseingang führte, gesetzt, als die Tür aufschwang.

„Da bist du endlich!“, sagte Pascal anstelle einer Begrüßung.

Sowohl an seinem Tonfall als auch an seiner Körperhaltung erkannte Raven, dass er noch immer aufgewühlt war. Eine Aura von aggressiver Macht umgab ihn, und obwohl er nur eine Pyjamahose trug, sah er mit seinen offenen langen Haaren aus wie ein nordischer Halbgott. Auf die Hunde musste er ebenso wirken, denn sogleich sprangen sie die Stufen empor, um ihren Herrn zu begrüßen, unterwürfiger allerdings als sie das zuvor bei Raven getan hatten.

Mit einem einzigen herrischen „Ab!“ und einer entsprechenden Geste verscheuchte Pascal die beiden, drehte sich um und bellte in das Haus hinein: „Ivan! Sperr die Hunde ein, sofort!“

Raven packte mit festem Griff seine Arzttasche und folgte ihm. „Oh, bitte, keine Ursache, es ist doch selbstverständlich, dass ich mitten in der Nacht aufstehe, um zu dir zu fahren“, knurrte er unbeeindruckt von Pascals offensichtlicher Gereiztheit. Es war jetzt kurz vor drei Uhr.

In der Eingangshalle wartete Pascal auf ihn, und Raven registrierte die Scherben der großen Vase am Fuß der Treppe und die Blutspritzer auf den Stufen und dem Fußboden. Und auf Pascals Oberkörper und dem Pyjama.

„Er ist im Keller“, informierte er ihn, die vorigen Unmutsäußerungen ignorierend. „Kümmer dich um ihn, und dann nimm ihn mit. Ich bin mit ihm fertig.“

Seine Stimme vibrierte vor unterdrücktem Zorn, daher sah Raven davon ab, nachzufragen, was geschehen war. Wortlos ging er an ihm vorbei und die Kellertreppe hinunter zu dem großen Spielzimmer, in dem er Toshio vorfinden würde. Spielzimmer war natürlich die verharmlosende Bezeichnung für den geräumigen Folterkeller, den Pascal sich eingerichtet hatte, und in dem sich jedes Gerät befand, das ein sadistisch veranlagter Herr und ein devoter, masochistischer Gespiele sich nur wünschen konnten. Jeder BDSM-Begeisterte würde Pascal darum beneiden. Für Toshio und viele seiner Vorgänger allerdings war dieser Ort die Hölle auf Erden.

Er hing an einer Kette mitten im Raum. Er war an den Armen aufgehängt, seine Füße berührten kaum den Boden, und sein Kopf baumelte herunter. Sein ganzer Körper war voller Blut, das bereits eine beachtliche Pfütze unter ihm gebildet hatte.

Wie gut, dass Laurin nicht hier ist, war Ravens erster Gedanke, dann konzentrierte er sich voll und ganz auf Toshio.

Er war nicht ansprechbar, das war schlecht. Aber er atmete noch, das war gut. Aus der Nähe sah Raven, dass das Blut überwiegend aus aufgeplatzten Striemen heraus lief. Die dazugehörige Singletail, die lange Bullenpeitsche, lag nicht weit entfernt am Boden. Er blutete allerdings auch am Kopf, was besorgniserregender war, und sein Gesicht war von zahlreichen offensichtlich harten Schlägen getroffen worden und schon von der einsetzenden Schwellung entstellt. Pascal hatte ihm keine Manschetten umgelegt, sondern einfach die Kette mehrfach um die Handgelenke geschlungen, und eine der Hände stand in einem ganz unnatürlichen Winkel zum Unterarm.

Als erstes musste er ihn da herunter holen. Als er sich nach der Bedienung der Seilwinde umsah, bemerkte er, dass Pascal ihm gefolgt war.

„Du kannst mir helfen, ihn auf den Boden zu legen“, sagte Raven zu ihm und machte eine entsprechende Geste zu dem Flaschenzug. Er selbst stellte sich wieder neben Toshio und erwartete, dass Pascal die Kette nun angemessen langsam herunter lassen würde. Der ging allerdings alles andere als vorsichtig vor, so dass Raven Probleme hatte, Toshio einigermaßen sanft abzulegen. Fast wäre er auf dem Blut ausgerutscht und mit seinem Patienten gemeinsam zu Boden gegangen.

„Mensch, Pascal, pass doch auf!“ sagte er verärgert und begann umständlich, die Ketten von Toshios Armen zu entfernen. Dabei konnte er kein charakteristisches Knirschen gebrochenen Knochens spüren. Toshios Hand war also wahrscheinlich nur ausgerenkt.

„Sag mal, was hat er denn eigentlich angestellt, dass du ihn so zurichtest?“ fragte er.

„Was er angestellt hat?“ Pascal trat näher heran. „Dieser kleine Scheißer hat versucht, mich umzubringen!“ Er holte mit dem Fuß aus und begleitete seine Worte mit einem heftigen Tritt gegen den am Boden Liegenden.

„Hey!“ Raven sprang auf, um ihn zurückzuhalten, dann überlegte er sich anders und machte mit einer einladenden Armbewegung einen Schritt zur Seite. „Bitte sehr, wenn du dein Werk jetzt vollenden willst, dann mach! Aber um ihn tot zu prügeln, hättest du mich nicht zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett holen müssen!“

Einige Sekunden sah Pascal aus, als würde er tatsächlich wieder auf seinen Sklaven losgehen, aber dann bekam er sich wieder unter Kontrolle. Er wich zurück und raufte sich stattdessen wild die Haare.

„Der macht mich noch wahnsinnig!“ sagte er.

Raven glaubte ihm das sofort. „Das sehe ich“, entgegnete er trocken. „Willst du den Jungen jetzt ins Labor geben? Wir können ihn noch in die Koma-Studie aufnehmen, je nachdem, wie schwer die Kopfverletzungen sind.“

„Nein! Ich möchte, dass du ihn mir wieder herstellst.“

„Du willst ihn also behalten?“ vergewisserte sich Raven.

„Ja, klar! Oder warum, meinst du, halte ich mich so zurück!“ brauste Pascal gleich wieder auf.

„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte Raven. Gemessen daran, wie wütend Pascal war, hatte er sich tatsächlich zurück gehalten – auch wenn der junge Japaner arg zugerichtet war und Raven noch nicht abschätzen konnte, ob er dem Tod oder dem Leben näher stand. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Du bist mir hier jedenfalls keine große Hilfe. Verschwinde, und lass mich in Ruhe meine Arbeit tun. Ruf mir den Krankenwagen, wenn du dich nützlich machen willst. In dem Zustand kann ich Toshio nicht im Auto transportieren. Der ruiniert mir ja meine Sitze mit dem ganzen Blut.“

Pascal antwortete mit einem unwirschen Knurren, doch Raven wandte sich jetzt wieder seinem Patienten zu und bemerkte nur am Rande, dass Pascal ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtete er in Toshios Augen, was sich auf der einen Seite als etwas schwierig erwies, weil das Lid so angeschwollen war, dass es sich kaum noch öffnen ließ. Erleichtert stellte er fest, dass die Pupillenreflexe in Ordnung zu sein schienen, doch große Sorge bereitete ihm das Blut, das aus dem linken Ohr lief. Am Hinterkopf entdeckte er eine große Platzwunde. Ein MRT würde Aufschluss darüber geben, wie schlimm die Schädelverletzungen waren und ob mit Hirnschäden zu rechnen sein würde.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen musste der junge Sklave nun zur Krankenstation gebracht werden, und Raven war sicher, dass sich ein Teil von Pascals Wut eigentlich gegen sich selbst richtete. Es war schließlich Pascals Schuld, dass es soweit hatte kommen können. Als erfahrender Herr von seinem Lieblingssklaven ermordet zu werden – was für eine Schmach wäre das. Da war Pascal ein übler Anfängerfehler unterlaufen, und sicher war er sich dessen voll bewusst. Raven hatte ihn gewarnt, dass sein Junge sich in schlechter Verfassung befand, und Pascal hatte allem Anschein nach die Situation falsch eingeschätzt. Eigentlich konnte man Toshio unter den gegebenen Umständen und objektiv betrachtet nicht vorwerfen, zu versuchen, sich seines Herrn zu entledigen. Es war nur das einfache Prinzip von Ursache und Wirkung. Nun war natürlich Pascal nicht objektiv und natürlich musste ein solches Vergehen streng bestraft werden, egal wieviel Verständnis man für den Sklaven aufbrachte. Wobei nicht einmal sicher war, ob dies schon die Strafe gewesen war oder ob die eigentliche Strafe noch folgen würde, sobald Toshio sich wieder erholt hatte.

Falls er sich überhaupt wieder erholen sollte.
 

Einige der Peitschenhiebe hatten sich tief in die Haut gebissen, was genäht werden musste und Narben hinterließ, die Herrn und Sklaven gleichermaßen noch lange an diese Nacht erinnern würden.

Während Raven sorgfältig einen venösen Zugang legte und seinen Patienten auf den Transport vorbereitete, dachte er, dass er Toshio wahrscheinlich keinen großen Gefallen damit tat, ihn am Leben zu erhalten. Und sich selbst auch nicht. Schließlich verdrehte der Japaner nicht nur Pascal den Kopf, sondern auch Laurin. Raven jedenfalls würde ihn nicht vermissen. Einen winzigen Moment überlegte er sogar, ob er nachhelfen sollte. Jetzt war die Chance, Toshio loszuwerden, ohne dass Pascal jemals Verdacht schöpfen würde.

Tut mir leid, Pascal, aber er hat es nicht geschafft ...

Und Pascal würde ihm nicht einmal Vorwürfe machen können, nur sich selbst. Und das nicht zu knapp, wusste doch Raven von Cadeau, und wie sehr Pascal darunter gelitten hatte, dass sein erster eigener Sklave ihm als Kind eingegangen war.

Aber wer konnte schon sagen, ob Toshios Tod die Veränderungen aufhalten würde, die sein Erscheinen in Gang gesetzt hatte. Wohl kaum. Oft genug vertiefte das Sterben sogar noch die Spuren, die ein Mensch im Leben hinterließ.

Er zuckte innerlich die Schultern und setzte seine Arbeit fort.
 

Unruhig ging Pascal im Flur auf und ab. Er hatte den Anruf getätigt, und jetzt konnte er nur noch warten – was nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung war. Außerdem verspürte er Entrüstung über die Art und Weise, wie Ben ihn herumkommandiert hatte und war doch gleichzeitig erleichtert, dass er in seine Grenzen gewiesen wurde. Genau deswegen hatte er Benjamin schließlich angerufen.

Er trat mit dem nackten Fuß auf eine herumliegende Scherbe und fluchte laut vor sich hin. Das scharfkantige Porzellan hatte seine Haut geritzt, und der Schnitt färbte sich rot.

„Florence!“ rief er ungehalten. „Räum das hier weg! Und wisch auch das Blut auf!“

„Jawohl, Monsieur Remarque.“ Das Dienstmädchen war ungeachtet der Uhrzeit sofort zur Stelle und gleich wieder verschwunden, um Kehrblech und Wischtuch zu holen. Bei dem Lärm, den Pascal verursacht hatte, als er Toshio die Treppe hinunter schleifte, hatte kein Mensch in dem Haus in Ruhe weiter schlafen können.

Er humpelte die Stufen hinauf und versorgte im Bad seine verletzte Fußsohle mit einem Pflaster. Im Spiegel über dem Waschbecken untersuchte er noch sorgfältig seinen Hals nach Spuren und stellte erleichtert fest, dass nichts zu sehen war außer einer leichten Rötung, die bald vollständig verschwunden sein würde. Dann ging er ins Schlafzimmer, um sich Morgenmantel und Hausschuhe überzuziehen.

Das Bett sah wüst aus nach dem Kampf, der dort stattgefunden hatte. Blutstropfen schmückten die Tapete und den Teppichboden. Dort lag auch noch die Kette, die Pascal leichtsinnigerweise viel zu lang gelassen hatte und damit Toshio genügend Spielraum ließ, um mit seinem ganzen Körpergewicht das Kopfkissen auf sein Gesicht zu drücken, um ihn zu ersticken.

Es war unfassbar, dass das hatte passieren können.

Er hob das Kissen auf, das noch vor dem Bett lag, und dachte an diesen grauenvollen Moment zurück, als er wach geworden war und nicht atmen konnte. Selbst jetzt noch, bei der Erinnerung daran, begann sein Herz wieder wild zu klopfen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben solche Angst verspürt zu haben. Todesangst. Noch halb im Traumgeschehen gefangen hatte er erst gar nicht begriffen, was los war und geriet vollkommen in Panik. Er hatte wirklich gedacht, sterben zu müssen.

Ironischerweise war es Toshio gewesen, der ihn wieder zu sich brachte, als er anfing zu schreien: „Jetzt weißt du mal, wie das ist, du Arschloch! Stirb! Stirb! Stirb!“

Nachdem er endlich realisiert hatte, was gerade geschah, gelang es ihm leicht, Toshio von sich zu stoßen. Und dann war ihm der kleine Mistkerl doch tatsächlich mit bloßen Händen an die Gurgel gegangen! Körperlich war er ihm natürlich hoffnungslos unterlegen, und Pascal konnte sich ganz einfach aus dem Würgegriff befreien. Der Schreck saß allerdings tief, und die anfängliche Panik ging über in zügellose Wut. Er versetzte Toshio eine so heftige Ohrfeige, dass er seitlich vom Bett flog und mit dem Kopf gegen die Heizung schlug. Das machte ihn einen Moment benommen, und Pascal sprang ihm nach und drosch in blinder Raserei auf ihn ein.

Doch statt um Gnade zu winseln, verzog Toshio seinen blutigen Mund zu einem Grinsen. „Du mieses Schwein. Ich hab keine Angst vor dir.“

„Das wollen wir mal sehen“, knurrte Pascal, packte seine Hand und zerrte ihn hoch und hinter sich her.

Doch Toshios war noch am Bett fest gebunden, und so kamen sie nicht weit, als ihn die Kette mit einem Ruck zu Fall brachte. Er schlug der Länge nach hin, und sein Handgelenk gab ein scheußliches Geräusch von sich, als im Inneren irgendetwas entzwei riss. Toshio schrie auf und krümmte sich um seine verletzte Hand zusammen, während Pascal grob die Fußfesseln von der Kette löste. Er machte sich nicht noch einmal die Mühe, Toshio in den Stand zu ziehen, sondern schleifte ihn jetzt an den Füßen aus dem Schlafzimmer, den Flur entlang und die Treppe hinunter. Die ganze Zeit überhäufte Toshio ihn mit Schimpfwörtern und brüllte immer wieder: „Ich bring dich um! Ich hab keine Angst!“ Erst auf den Treppenstufen hörte er damit auf, versuchte mit den Armen seinen Kopf zu schützen und gab nur noch unartikulierte Schreie von sich. Endlich im Keller angekommen, wimmerte er nur noch leise vor sich hin und schien kaum noch bei Bewusstsein zu sein. Doch als Pascal ihn mit der Kette um die Handgelenke in die Höhe gezogen hatte, vor ihn trat und wütend zischte: „Du solltest Angst haben, Junge.“, da hob Toshio den Kopf und spukte ihm ins Gesicht.

Welcher Teufel mochte ihn nur geritten haben, ihn derart zu provozieren? Dabei hatte er sich in den Wochen nach Japan so zahm gegeben, hatte Pascal erfolgreich eine falsche Fügsamkeit vorgegaukelt, und nur das hatte dazu geführt, dass Pascal so völlig überrumpelt werden konnte.

Das Gefühl, als Herr versagt zu haben, nagte an seinem Bewusstsein, aber noch war er viel zu wütend für diese Art der Selbstreflektion. Nicht auszudenken, was hätte geschehen können, wenn Toshio nur ein wenig stärker oder Pascal nur ein wenig schwächer wäre! Hakujiros Worte kamen ihm in den Sinn: Du bist auf sein hübsches Aussehen hereingefallen, aber in seinem Inneren ist er Schmutz. Glaube mir, er wird dir noch viel Unglück bringen. Er ist unrein.

Sollte er sich von Toshio trennen? Brachte er tatsächlich Unglück? Selbst Ben hatte ihm mehr als einmal geraten, den Jungen fortzugeben.

Und er würde ein Vermögen für ihn bekommen!

Obwohl – jetzt vielleicht nicht mehr. Das Wort Koma, von Ben ausgesprochen, geisterte unheilvoll durch seine Gedanken. Möglicherweise würde sich die Fragestellung, was er mit Toshio anstellen sollte, von allein erledigen.

Darüber wollte er aber jetzt noch nicht nachdenken. Toshio sollte leben. Und er sollte bezahlen für seine Tat.

Und Pascal wollte ihn behalten. Er war noch nie abergläubisch gewesen, und wenn er ehrlich war, loderte sein Besitzanspruch heiß in seinem Herzen und dämpfte ein wenig seinen Zorn. Er hatte sich einen unbeugsamen Sklaven gewünscht. Er hatte nur bekommen, was er gewollt hatte.

Er ließ die Sanitäter auf das Grundstück und beobachtete wortlos, wie sie Toshio fortbrachten. Danach rief er Florence zu sich: „Ma petite, sei so gut und bring mein Schlafzimmer wieder in Ordnung.“

Sie knickste brav mit gesenktem Blick. „Ja, Monsieur.“

„Und sag Ivan, dass er den Keller sauber macht.“

„Jawohl, Monsieur.“

Sie war schon auf dem Weg, da rief er ihr noch hinterher: „Ach, Florence ...“

„Monsieur?“

„Hast du deine monatliche Blutung bekommen?“

Sie errötete. „Ja, Monsieur. Vorgestern. Verzeihung, Monsieur.“

Mit gebeugtem Kopf erwartete sie seine Reaktion, doch Pascal fluchte nur leise und scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. Heute ging auch alles schief. Er hätte sie zu einem anderen Zeitpunkt fragen sollen, dann wäre die Antwort vielleicht anders ausgefallen. Und dabei hatte er gerade noch gedacht, er sei nicht abergläubisch!

Jetzt hieß es wieder warten. Er duschte lang und heiß, zog sich an, orderte eine Kanne Kaffee und versuchte, sich an seinem Schreibtisch mit Arbeit abzulenken, allerdings erfolglos.

Zwei lange Stunden vergingen, ohne dass Ben sich meldete. Die Sonne war bereits aufgegangen, und die Vögel zwitscherten eifrig ihr Morgenlied. Inzwischen war seine Wut vollständig erkaltet, und er machte sich nur noch Sorgen.

Kurzentschlossen setzte er sich ins Auto und fuhr zum Labor.
 

Raven erreichte ihn auf dem Mobiltelefon.

„Wie geht es ihm?“ fragte Pascal sogleich.

„Er lebt“, antwortete Raven kühl. „Du kannst jetzt zu ihm. Wo bist du denn? Sind das Schweine im Hintergrund?“

„Ja. Ich bin oben, auf Rundgang. Ich komme sofort.“

Ohne ein weiteres Wort unterbrach Pascal die Verbindung. Raven seufzte, nahm die Brille ab und massierte sich den Nasenrücken. Er war müde und wollte nur nach Hause, um sich noch ein Stündchen auszuruhen, bevor der eigentliche Arbeitstag begann. Und er wollte nach Laurin sehen und ihm berichten, was geschehen war. Er war sicher, dass der Junge sich genauso ruhelos fühlen würde wie Pascal, wenn auch beide von unterschiedlicher Qualität Sorge erfüllt waren. Aber vorher musste er mit Pascal sprechen und ihn über die Folgen seines Tuns aufklären.

Auf Rundgang … Das machte Pascal oft, einfach im Labor herum gehen und sich alles ansehen. So blieb er auf dem Laufenden und in Kontakt mit dem Personal. Für das Personal war der Rundgang eine zweischneidige Sache, denn so liebenswürdig und charmant der Chef sein konnte, so gnadenlos und streng war er, und je nach Verfassung rollten da schon einmal Köpfe – im oberen, legalen Teil des Labors eher sinnbildlich. Im illegalen Untergeschoss dagegen auch gelegentlich ganz wortwörtlich. Von daher war es ganz gut, wenn Pascal sich in seiner angespannten Verfassung im legalen Bereich herumtrieb. Dort konnte er nicht so viel Schaden anrichten.

Die oberen Stockwerke waren der Vorzeigebetrieb des Konzerns. Natürlich war auch dieser Bereich nicht der Öffentlichkeit zugänglich, aber die Tiere standen immerhin noch unter gesetzlicher Kontrolle, und die Beschäftigten hatten zwar Schweigepflicht zu wahren, aber, mit Ausnahme einiger sehr weniger, keinerlei Kenntnisse über die Versuche an den Sklaven im unterirdischen Bereich der Anlage. Der gesamte untere Labortrakt existierte völlig unabhängig von den oberen Stockwerken, mit eigenen Zugängen und Zufahrten, weitläufigen Tunneln, Treppen und Aufzügen, und das alles wurde mehrfach gesichert durch Identitätskontrollen mittels Chipkarte und Zahlencodes. Niemand konnte den illegalen Betrieb unautorisiert betreten oder verlassen, ohne dass ein Alarm ausgelöst wurde.

Oben gab es neben dem Stammpersonal Praktikanten, Auszubildende und Studenten. Von dort konnten also noch am ehesten Informationen nach draußen gelangen, von daher hielt Remarque Pharma seine Weste dort oben möglichst weiß und rein, und den Tieren erging es noch relativ gut im Vergleich mit anderen Forschungseinrichtungen. Einen Skandal über misshandelte Versuchsschweine konnte Remarque Pharma sich nicht erlauben, hingegen im Untergeschoss konnte so mancher Sadismus Blüten treiben. Die Sklaven waren durch keinerlei Gesetze geschützt, während die Schweine zusätzliche Quälereien nicht zu befürchten hatten. Was für eine wunderbar paradoxe Welt.
 

Raven erwartete ihn vor den Fahrstuhltüren. Eigentlich hätte Pascal ein paar ironische Bemerkungen verdient gehabt, aber als Raven sein Gesicht sah, verlor er die Lust, eine entsprechende zu äußern.

Pascal sah furchtbar aus. Er hatte als Toshios Herr versagt, und er wusste es. Er hätte den Jungen totschlagen können, verdient gehabt hätte der Junge es. Doch Pascal wollte ihn behalten, und dann hätte er nicht so auf ihn eindreschen dürfen, wie er es den Verletzungen nach getan hatte. Er hatte schlicht die Kontrolle verloren, und das war unverzeihlich.

Also verbiss sich Raven jeglichen Sarkasmus oder auch nur den Hauch von Kritik und äußerte sachlich: „Er liegt auf der Intensiv. Wenn er die nächsten vierundzwanzig Stunden überlebt, stehen seine Chancen gut.“

„So schlimm?“ Pascals Stimme klang belegt.

Raven nickte. „Er hat einige üble Prellungen am Kopf, das ist das Hauptproblem. Da ist eine kleine Hirnblutung, und ich kann noch nicht abschätzen, inwieweit sie oder die Ödembildung ein Problem werden. Gebrochen ist der Schädelknochen zum Glück nicht, da war ihm sein kleiner Dickschädel wenigstens einmal nützlich.“ Er grinste schief, aber Pascal ging auf den Aufmunterungsversuch nicht ein. „Er liegt jetzt im künstlichen Koma und wird rund um die Uhr überwacht. Bislang scheint die konservative Therapie ausreichend. Eine Entlastungs-OP wird erst notwendig, sollte der Hirndruck in kritische Bereiche steigen. Aber du kannst dir gleich selbst ein Bild machen.“

„Das werde ich. Was hat er noch?“

„Einiges“, antwortete Raven, und er brauchte fast den ganzen Weg zur Intensivstation, um Toshios Verletzungen aufzuzählen: das ausgerenkte Handgelenk mit Kapselriss, die Fraktur am Schulterblatt, der abgebrochene Dornfortsatz am siebten Brustwirbel, das geplatzte Trommelfell, Schürfwunden und Prellungen am ganzen Körper und natürlich die Peitschenhiebe, von denen nicht wenige Striemen genäht werden mussten.

Pascal sagte nichts dazu und auch nicht zu dem leblos daliegenden Toshio, dessen Gesicht noch immer so verquollen war, dass man ihn kaum erkannte. Die Prellungen hatten bereits eine satte pupurviolette Farbe angenommen. Mit versteinerter Miene starrte Pascal auf den Monitor, der Blutdruck, Herzschläge und Sauerstoffsättigung anzeigte, während das regelmäßige Pumpen der Beatmungsmaschine das einzige Geräusch im Raum war. Mehrere Schläuche und Kabel führten zu Toshio hin und von ihm weg, und mehrere Infusomaten sorgten dafür, dass die Medikamente kontinuierlich in seinen Blutkreislauf tropften.

„Wir könnten ihn noch in die Komastudie aufnehmen“, schlug Raven vor und kontrollierte den Beatmungsschlauch, der über den Mund direkt in die Luftröhre führte. „Er erfüllt alle erforderlichen Parameter.“

„Nein“, widersprach Pascal. „Er geht nicht in den Versuch. Er wird wie ein Privatpatient behandelt. Ich möchte, dass du alles, wirklich alles, tust, damit er wieder gesund wird.“

„Wie du meinst.“ Raven hob resigniert die Schultern. Normalerweise ließen sie sich keine menschlichen Daten entgehen. Aber mit diesem Sklaven war nichts normal. Raven konnte nur hoffen, dass sich er an seine eigene Schwäche für Toshio erinnerte, wenn Raven um Laurin bat. „Schau dir die Befunde in Ruhe an. Ich habe mich für eine konservative Frakturbehandlung entschieden, da er sich in naher Zukunft sowieso nicht viel bewegen wird. Die Brüche sind nicht disloziert, also werden sie problemlos zusammenwachsen, denke ich.“

„Ich sehe mir die Aufnahmen an“, sagte Pascal. „Aber du wirst das schon richtig entschieden haben.“

Raven neigte in einer spöttisch zustimmenden Geste den Kopf. „Anscheinend kommst du wieder zu Vernunft. Alles, wirklich alles, soll ich für Toshio tun?“ Er wusste, dass Pascal seine spirituellen Ansichten nur bedingt teilte.

„Schaden kann es jedenfalls nicht. Und ihr Schamanen seid doch die Experten für Seelenrückholungen und so etwas. Also verhindere, dass sich seine Seele in den nächsten vierundzwanzig Stunden davon macht.“

„Ich bin kein Schamane“, widersprach Raven. „Doch hast du recht. In der schamanischen Praxis geht viel um abhanden gekommene Seelenanteile. Wir können sie bei jeder traumatischen Erfahrung verlieren. Man holt sie zurück, und der Mensch kann gesund werden. Aber das funktioniert nicht immer. Davon abgesehen wäre das hier eher eine komplette Seele, die überhaupt kein Interesse hat, sich in der realen Wirklichkeit einzufinden. Pascal ...“ Er trat zu seinem Freund und sprach gedämpft auf Französisch weiter. „Er hat dich benutzt, um dir zu entkommen, und fast wäre es ihm gelungen. Der Junge ist am Ende. Es gibt Wesen, die lassen sich nicht zähmen. Wenn man es versucht, gehen sie ein. Erwarte also nicht zu viel von mir. Sollte er sich wieder erholen, und solltest du ihn wirklich behalten wollen, musst du deine Strategie mit ihm ernsthaft überdenken. Und bis dahin – lass ihn am besten in Ruhe. Du bist der letzte, der hier an seinem Bett hilfreich ist. Ich werde Laurin zu ihm setzen. Und ja, einverstanden, ich werde mit ihm arbeiten. Aber jetzt fahre ich nach Hause. Und das solltest du auch tun. Wir können hier nichts mehr für ihn tun. Wir können nur abwarten. Doktor Lancer wird uns benachrichtigen, sollte sich sein Zustand verschlechtern.“
 

Der feine nächtliche Nieselregen hatte sich zu einem morgendlichen Landregen ausgewachsen. Der Regen tropfte von den Bäumen und von den Laternen. Er bildete Perlen auf den Autos und brachte das noch frische Frühlingsgrün zum Glänzen. Der Morgen roch klar und sauber nach der sterilen Luft im Untergeschoss, der immer ein Hauch Desinfektionsmittel, Angst und Todesnähe anhaftete. Die Regenluft dagegen trug den Duft des Lebens in sich.

Raven atmete ein paar Mal tief durch, bevor er sich ins Auto setzte.

Der BMW surrte die Straße entlang. Gern wäre Raven noch ein wenig herum gefahren, ohne ein Ziel, wie er das früher oft getan hatte. Doch jetzt wartete Laurin zu Hause, deswegen fuhr er heim.

Allerdings erwartete Laurin ihn dann nicht zu Hause, sondern vor dem Hause, und dieser Anblick kam so unerwartet, dass Raven ihn im ersten Moment gar nicht erkannte.

Die schmale und triefend nasse Gestalt löste sich aus dem Schatten der Straßenbäume, als Raven die Fernbedienung beiseite legte und darauf wartete, dass das Tor aufglitt. Laurin schlüpfte hindurch, und Ravens anfängliche Überraschung – was macht der Junge hier draußen? - wurde von Ärger überspült. Denkt er etwa, ich sehe ihn nicht?

Betont ruhig fuhr er den BMW in die Garage, nahm den Eingang direkt ins Haus und öffnete die Haustür von innen. Sein Ärger schmolz sofort dahin, als Laurin jetzt so nass und durchgefroren mit hängendem Kopf und hängenden Schultern vor ihm stand. Er hatte nicht einmal Schuhe an!

Trotzdem behielt Raven eine strenge Miene bei, als er ihn eintreten ließ. „Ich verlange eine Erklärung.“

„Ich … Raven, es tut mir leid.“ Laurin wagte nicht, ihn anzusehen. „Das … das Tor ist mir zugefallen, und dann kam ich nicht mehr hinein, ich dachte, ich könnte über den Zaun klettern, aber das hat nicht funktioniert, irgendwie ...“

Raven sah die Kratzer an Laurins Händen, wahrscheinlich von dem Stacheldraht am oberen Ende des Zauns.

„Du weißt, dass du ohne Erlaubnis das Haus nicht verlassen darfst. Und das Grundstück schon gleich gar nicht.“

„Ja, Raven.“

„Und warum hast du es dann trotzdem getan?“

„Ich … Ich weiß nicht genau … Wegen Toshio. Ich wollte ihm helfen.“

„Und wie, bitte schön, soll ihm das helfen? Du handelst dir und mir nur jede Menge Ärger ein, wenn du wegläufst, das weißt du doch!“

„Ich bin nicht weggelaufen“, versicherte Laurin kleinlaut und ließ sich vor ihm auf die Knie fallen. „Du musst mir glauben, bitte, ich wollte nicht weglaufen, ich bin nur nicht wieder herein gekommen … Das Tor war zu.“

„Steh auf! Ich mag das nicht, wenn du das tust.“ Raven packte ihn am Shirt und zerrte ihn wieder auf die Beine, viel gröber als gewollt. Wie nass der Junge war! Nass und kalt. In seinen Haarspitzen glitzerte der Regen und tropfte auf den Teppich. Raven bemerkte jetzt erst, wie sehr er zitterte. Trotzdem, das durfte er nicht einfach so durchgehen lassen. Er ließ ihn nicht los und zog ihn näher an sich heran.

„Was hast du draußen gemacht?“ fragte er. Lauter als beabsichtigt.

Laurin begann zu weinen. „Gar nichts. Wirklich! Ich bin nur ein wenig herumgelaufen, niemand hat mich gesehen, niemand hat mit mir gesprochen, und dann wollte ich wieder rein, aber ich konnte nicht über den Zaun, und dann habe ich gewartet … Ich wollte nur Toshio nah sein … Tun, was er tun würde … wegen meiner Angst... damit er leben kann … Lebt er? Wie geht es ihm? Bitte, bitte, sag es mir, er lebt doch noch, oder?“

Jetzt hob er den Blick, und den tränennassen Augen, in denen die Angst schwamm, wollte Raven sich nicht aussetzen.

Er löste seinen Griff. „Ja, er lebt, und er soll leben. Wir tun für ihn, was wir können.“ Trost spendend strich er über die nassen Haare und ließ zu, dass der Junge sich an ihn schmiegte und sein Hemd mit Regen und Tränen benetzte. Wie oft wird er ihn noch so halten können?

„Wirst du dem Monsieur erzählen, dass ich draußen war? Werdet ihr mich bestrafen?“ fragte Laurin und ein Schaudern rieselte durch seinen Körper.

„Der Regen und der Stacheldraht sind Strafe genug gewesen. Ich werde nichts sagen, und ich verbiete dir, irgendjemandem davon zu erzählen. Begreifst du das? Niemandem!“

„Ja, Raven. Ich verspreche es. Danke.“

Raven wickelte ihn in eine Decke und führte ihn ins Bad, um die Schnitte an seinen Händen zu versorgen. Sie waren nicht sehr tief, aber er wollte sie gründlich desinfizieren. Neben den frischen lagen die alten vernarbten Wunden. Punktförmig bedeckten sie Hände und Unterarme, überzogen den ganzen Rücken und die Rückseite der Beine, wie Raven wusste, und tief gingen sie, bis auf die Knochen, bis in die Seele.

Er hielt die Hände in den seinen, die Handflächen nach oben, und sagte, mehr zu sich selbst als zu Laurin: „Das hätte nicht passieren dürfen.“
 

Er erinnerte sich, wie Laurin als kleiner Junge auf diesem Dornenstuhl gesessen hatte, und wie er geschrien hatte. Er erinnerte sich noch gut, wie er dieses Schreien schon vorher durch die geschlossene Tür auf dem Gang gehört hatte. Ihm war das Blut in den Adern gefroren, und er hatte intuitiv gehandelt und hatte die Tür aufgerissen ohne nachzudenken.

Laurins Eltern waren auf den Primatenstühlen fixiert gewesen, Elektroden im Schädel und mit Apparaten verbunden, die alle Vitalparameter aufzeichneten. Laurins Vater hielt die Augen geschlossen. Seine Mutter zerrte an den Fesseln, heulte und schrie die ganze Zeit: „ … zu dem Licht, Laurin, hab keine Angst, öffne die Tür und geh in das Licht, wir sehen uns dort, geh … Geh!“

Und der Kleine, damals erst fünf Jahre alt und viel zu klein für das Folterinstrument, auf dem er sitzen musste, kreischte vor Schmerz und Entsetzen, während sich die Dornen tief in seinen Körper bohrten.

Doktor Paul Lockley und Professor Edmund Klein wandten sich ihm zu.

„Remarque hat uns freie Hand gelassen. Wir dachten, damit können wir sie ein wenig motivieren ...“

„So funktioniert das nicht“, sagte Raven aufgebracht.

Doch Lockley zuckte nur die Schultern. „Wir haben keine andere Verwendung für den Kleinen.“

„Doch. Ich habe Verwendung für ihn!“ Und Raven begann, den winzigen Körper zu befreien. Als er ihn hochhob, wurde Laurin ohnmächtig. Er war nass von Blut und Urin.

Da seine beiden Kollegen wussten, wie nah Raven dem Juniorchef stand, widersprach keiner von ihnen. Als er den Raum verließ, hatte der Vater die Augen geöffnet und blickte ihn an. Blau stechende Augen, die sich in Ravens Seele bohrten und wohl abschätzten, ob er ihm dankbar sein oder ihn verfluchen sollte.

„Wo bringt ihr ihn hin?“ hatte die Mutter voll Hysterie gekreischt. „Laurin! Laurin!

Noch am Ende des Ganges hatte Raven ihre Rufe gehört. Erst als er um die Ecke bog, das leblose Kind fest an sich gedrückt, und ohne eine Ahnung, wie sehr diese Handlung sein Leben verändern würde, verklangen sie endlich. Der Blick des Vaters allerdings begleitete ihn noch eine ganze Weile.
 

Laurin hatte die grünen Augen seiner Mutter geerbt, und diese grünen Augen schauten ihn nun schweigend an. An wieviel aus der damaligen Zeit konnte er sich wohl noch erinnern? Er sah seine Narben jeden Tag, und Raven wusste, dass sie ihn noch manchmal schmerzten. Er trug das Armband seiner Mutter, schwarze Steine und verzierte Blattornamente, er spielte die Lieder auf der Flöte, die er schon gekannt hatte, bevor er zu Raven gekommen war. Er hütete diese einfachen Melodien wie einen Schatz. Von seinen Eltern sprach er schon lange nicht mehr – bis zu jenem unerfreulichen Gespräch zwischen ihnen vor einigen Wochen. Die nächtlichen Alpträume waren seltener geworden, und Raven wusste nicht, ob sie noch alte Erinnerungen beinhalteten oder eher aktuelle Ereignisse verarbeiteten. Früher hatte Laurin oft im Traum gerufen: „Hier ist keine Tür, Mama!“, und dann wusste Raven genau, wovon er gerade träumte. Aber auch das lag lange zurück.

Wann war es passiert, dass ihm dieser Junge so wichtig geworden war? Er durfte nicht mehr lange warten. Sobald sich Pascal von dem heutigen Vorfall beruhigt haben würde, musste er mit ihm über Laurin sprechen. Jetzt allerdings wollte er zunächst zusehen, dass Laurin seinen kleinen Ausflug ohne Erkältung überstand. Er stellte ihn unter die heiße Dusche und half ihm, sich Schmutz und Kälte vom Körper zu waschen, ohne die verbundenen Hände nass zu machen. Dann packte er ihn ins Bett und warm ein unter zwei Decken, ging in die Küche, um ihm einen Tee zu kochen und sich selbst einen Kaffee. Er süßte den Tee mit drei Esslöffeln Zucker und flößte ihn ihm ein, als sei er noch immer der kleine Junge von einst. Sie schwiegen dabei. Das warme Getränk machte Laurin schläfrig, doch das Zittern seiner Muskeln wollte nicht aufhören. Also legte sich Raven kurzerhand neben ihn unter die Decke und ließ ihn sich ankuscheln.

„Ich wollte wirklich nicht weglaufen“, wiederholte Laurin noch einmal kleinlaut.

„Ich weiß. Sonst hättest du wohl kaum am Tor auf mich gewartet.“ Und Raven strich ihm beruhigend über den Rücken.

So schliefen sie beide ein, es war fast wie früher. Der Kaffee wurde kalt.
 

Zwei Stunden später saßen sie am Frühstückstisch. Doktor Lancer hatte sich nicht gemeldet, was hieß, dass Toshios Zustand stabil war.

„Ich möchte, dass du dich um ihn kümmerst“, sagte Raven und goss sich frischen Kaffee ein. „Er braucht jetzt einen Freund. Gerade Patienten im künstlichen Koma bekommen noch viel aus ihrer Umgebung mit. Sei einfach da, sprich mit ihm, arbeite energetisch oder spirituell mit ihm, alles, was ihm hilft, gesund zu werden.“

Statt seinen Löffel in den Mund zu stecken, wie es Laurin gerade vorgehabt hatte, ließ er ihn wieder sinken und rührte stattdessen in der Müslischale herum. Leise klirrend bewegte der Löffel Getreideflocken und Obststücke durch die Milch. „Was ist denn überhaupt passiert heute Nacht?“ wollte er wissen. Gleichzeitig sah er so aus, als wolle er es eigentlich doch nicht so genau wissen.

„Toshio hat eine große Dummheit begangen.“ Ravens Mitgefühl für Pascals widerspenstigen Sklaven, der seinen ihm zugewiesenen Status einfach nicht akzeptieren wollte, hielt sich in Grenzen. „Er hätte Monsieur Remarque niemals so wütend machen dürfen. So langsam sollte er das wirklich wissen.“

Und Raven hatte wissen müssen, dass Laurin seinen Freund sogleich in Schutz nehmen würde.

„Da kann er wohl kaum etwas für“, sagte Laurin heftig. „Er wollte nie Sklave sein.“ Und trotzig fügte er noch hinzu: „Eigentlich hätte der Monsieur ihn letzten Sommer gar nicht mitnehmen dürfen! Und festhalten darf er ihn auch nicht, und ihm weh tun auch nicht.“

„Natürlich darf er das. Sprich nicht so respektlos von ihm. Das gehört sich nicht für dich.“

„Ja, ich weiß! Aber nicht Toshio ist dumm, sondern der Monsieur, wenn er glaubt -“

„Laurin!“

„Was denn? Es dient wohl kaum der Wissenschaft, was Monsieur Remarque mit ihm tut, und Toshio ist auch nicht zu diesem Zweck gezüchtet worden. Und ich übrigens auch nicht!“

Die Hand rutschte Raven aus, einfach so. Er hatte seinen Jungen nie zuvor geschlagen, und er hatte nie damit anfangen wollen, aber einen winzig kleinen Moment gewann sein Zorn die Oberhand über seine Beherrschtheit. Es war das erste Mal, dass ihm so etwas passierte, und er wusste im selben Augenblick schon, dass es falsch war. Aber entschuldigen kam nicht in Frage. Also sagte er nur: „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht respektlos sein.“

Laurin schwieg. Seine Fingerspitzen lagen an der Wange, als könnten sie den Schlag nicht glauben, und seine Miene war zu einer Maske aus Trotz erfroren. Er starrte auf den Tisch.

Warum Raven es nicht dabei beließ, würde er sich später noch weniger erklären können als die Ohrfeige. Vielleicht wollte er den Jungen nur aus der Erstarrung lösen. Vielleicht wollte er auch einfach nur das Thema wechseln. Jedenfalls war das, was er als nächstes sagte, alles andere als stimmungsbesänftigend.

„Ich werde einen Teil des Urwalds verkaufen“, teilte er in die eingetretene Stille hinein mit.

Immerhin verfehlten seine Worte ihre Wirkung nicht.

„Was?“ Fassungslos sah Laurin ihn an.

„Ich werde einen Teil des Urwalds verkaufen.“

„Aber das darfst du nicht! Wenn du mich damit bestrafen willst, dann bitte nimm etwas anderes … irgendetwas, egal ...“

„Das ist keine Strafe. Ich brauche Geld.“

„Was kann denn wichtiger sein als das Land? Du hast selbst gesagt, dass eine kanadische Firma dort eine Goldmine geplant hat! Sie werden den Fluss vergiften, und die Erde. Was soll denn aus den Menschen werden, die dort leben? Und den Tieren? Wohin sollen sie gehen? Und die Bäume können nicht einmal gehen! Du kannst doch irgendetwas anderes verkaufen, aber … Wenn du den Urwald verkaufst, das werde ich dir nie verzeihen!“

Laurin unterstrich seinen letzten Satz, indem er so heftig aufsprang, dass der Stuhl umkippte. Ein Klecks Milch schwappte aus der Müslischale. Laurin stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

„Du“, antwortete Raven leise. „Du bist wichtiger.“

Hätte er Laurin sagen sollen, dass er das Geld haben wollte, um ihn frei zu kaufen? Vielleicht sollte er doch noch ein wenig warten, bis er einen brauchbaren Betrag zusammen gespart hatte. Bei seinem Gehalt und seinem einigermaßen bescheidenen Lebensstil würde das nicht allzu lange dauern. Und dann könnte ihm das Land vielleicht noch nützlich sein. Es könnte Laurin als Altersvorsorge dienen, als Zufluchtsort, falls Raven ihn nicht mehr beschützen konnte. In den Wäldern von Südamerika würden Pascals Häscher ihn hoffentlich nicht aufspüren können. Und Laurin würde ein Leben bei den Indios womöglich sogar gut gefallen. Zumindest musste sich Raven langsam Gedanken darüber machen, wie die Zukunft des Jungen aussehen sollte. Ein Leben im Labor als medizinischer Mitarbeiter war eine Möglichkeit, die vielleicht auch dann zur Option stand, wenn Pascal einem Verkauf nicht zustimmte. Trotzdem musste es auch Alternativen geben. Schließlich konnte er Laurin nicht ein Leben lang als Haustier halten.

Oh doch, ich kann, dachte er bei sich und nahm einen tiefen Schluck von seinem Kaffee. Aber ich will nicht.

Er hatte Haustiere schon immer schrecklich gefunden.
 

Hohe, großblättrige Pflanzen säumten den schmalen Pfad und raubten ihm die Sicht. Er brauchte einen Moment, um sie als Mais zu identifizieren. Er bewegte sich vorwärts, nahm eine Abzweigung und stellte fest, in eine Sackgasse geraten zu sein.

Ein Maislabyrinth.

Patrick hatte ihm einmal eins gezeigt, und sie hatten sehr viel Spaß dabei gehabt, inmitten von Pärchen mit Kindern durch das Maisfeld zu irren. In jeder Sackgasse, die sie fanden, hatten sie sich geküsst. Und am Ende gewettet, wer zuerst den Ausgang finden würde. Keiner hatte gewonnen, denn sie hatten sich beide verirrt und unterwegs wieder getroffen.

Jetzt war Toshio alleine inmitten der Maispflanzen. Er wusste, dass Patrick irgendwo wartete, aber er wusste nicht, ob er ihn in der Mitte des Irrgartens oder am Ausgang zu suchen hatte. Es spielte auch keine Rolle, da er ebenfalls nicht wusste, in welcher Richtung die Mitte oder das Ende zu finden war. Nur eines war ihm irgendwie klar: Wenn er falsch ging, war das sein Ende. Stehen bleiben war allerdings auch keine Option. Also blieb er in Bewegung, lief die immer gleich aussehenden, kleinen Wege entlang, geriet in Sackgassen und drehte sich im Kreis. Die Maispflanzen reckten sich ihm entgegen, als versuchten sie, ihn zu greifen. Wo sie ihn berührten, fing seine Haut an zu brennen.

„Sei vorsichtig mit ihm“, sagte die eine Pflanze. „Er ist verletzt am Rücken.“

„Aber drehen müssen wir ihn“, entgegnete die andere Pflanze.

Er wich den Blättern aus, aber es war unmöglich. Der Mais war überall um ihn herum.

Dann hörte er Laurins Flöte. Er versuchte, sich in die Richtung zu bewegen, aber er konnte nicht einmal genau erkennen, von wo die Musik kam. Und dann hörte die Melodie auf, und Laurin begann zu weinen. Er saß neben ihm am Bett (wieso lag er plötzlich im Bett?) und hielt seine Hand.

Toshio wollte nicht, dass er weinte. Er hätte ihn gern getröstet, aber er konnte nicht sprechen.

„Toshio, ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Vielleicht ist das jetzt die letzte Chance, die wir haben. Raven wird versuchen, deine Seele an deinen Körper zu binden. Wenn du also wirklich fort willst …“ Seine Stimme brach, und er brauchte einen Moment, bevor er weiter sprechen konnte. „Ich werde dir jetzt helfen, Toshio. Aber du entscheidest, okay? Jetzt konzentriere dich auf deine Atmung. Spüre, wie die Luft ein- und ...“ Wieder unterbrach er sich und schwieg kurz. Toshio konnte sein Achselzucken in den nächsten Worten quasi hören: „Keine Ahnung, wie das bei Beatmung funktioniert. Egal. Also ...“

Toshio versuchte, sich auf Laurins Worte zu konzentrieren und seinen Anweisungen zu folgen. Aber er hatte Probleme, seinen Körper zu fühlen. Ihn zu verlassen war dagegen ganz leicht, als Laurin verlangte, sich vorzustellen eine Treppe aus Licht – das irgendwie aus seinem Kopf strahlen sollte – hinauf zu gehen. Dann sollte er ein Tor visualisieren, vor dem zwei Wächter standen. Soweit kein Problem. Nur hindurch gehen konnte Toshio nicht. Die Wächter, die ihm als gesichtslose helle Schemen erschienen, hielten ihre Speere vor ihm gekreuzt. Auch als er sie bat, ihn durch zu lassen, änderte sich nichts. Er hörte, wie Laurin weiter redete und erzählte, dies sei der Ursprung allen Seins, oder so ähnlich, und dass Toshio dort bleiben könne. Wenn er wollte. Und er verabschiedete sich von ihm. Toshio hörte ihn abermals weinen, und er begriff, wo Laurin ihn hatte hinbringen wollen. Er war nie spirituell gewesen, aber wenn er gekonnte hätte, wäre er zum Ursprung allen Seins gegangen, vielleicht hätte es ja funktioniert. Verrückter als sich mit durchsichtigen Hirschen zu unterhalten war das jedenfalls auch nicht. Er versuchte, sich mit Gewalt vorzustellen, die Wächter zu passieren, aber da löste sich die ganze Visualisierung einfach auf.

Wieder würde er Laurin gerne trösten, wusste aber nicht wie. Und dann fand er sich erneut inmitten des Maisfeldes wieder und lief endlose enge Pfade entlang, ohne zu wissen, wie er jemals den richtigen Weg finden sollte.

Die Pflanzen wurden höher. Der Pfad enger und dunkler. Schließlich kam er auf eine Art Lichtung. Nanao-sensei erwartete ihn dort.

„Du musst auf deine Haltung achten, Toshio-chan“, wies sie ihn zurecht, wie sie es so oft in der Vergangenheit getan hatte. „So kommst du nie ans Ziel. Haltung ist alles. Ohne Haltung ist alles nichts.“

„Das ist mir egal. Da ist kein Ziel. Ich habe einfach keine Lust mehr, Sensei“, sagte Toshio gereizt. „Es war alles umsonst.“

„Nichts ist umsonst.“ Nanao-sensei ließ sich nicht erweichen, wie nicht anders zu erwarten war. Sie hatte nie darauf gehört, wenn er gedacht hatte, nicht mehr zu können. Ähnlich wie Pascal. Aber Nanao-sensei hatte ihn zu seinem Besten und nicht zu ihrem Vergnügen über seine Grenzen getrieben. Und wenn sie gesagt hatte „Doch, du kannst!“, dann hatte das auch gestimmt. Sie war nie wirklich zu weit gegangen wie Pascal.

„Also los!“ befahl sie. „Brustbein hoch. Heb die Arme!“

„Ich wollte nicht mehr tanzen ...“ setzte Toshio an.

„Unsinn! Arme über die Seite hoch, und achte auf deine Ellbogen! Im Alltag sind die Hände wichtig, beim Tanzen führen die Ellbogen die Bewegung. Aber nicht über neunzig Grad anheben, dritte Position, Hände schön locker ...“

„Sensei ...“

Doch sie war schon wieder fort, er lag wieder im Bett. Jemand bewegte seine Arme. Zwei Männer. Sie unterhielten sich.

„Achtung mit dem Arm, auf der Seite ist das Schulterblatt gebrochen. Nicht über neunzig Grad! Wenn das nicht verheilt, bricht der Monsieur uns das Schulterblatt.“

„Ja, gut.“

„Ansonsten einfach wie bei den anderen. Alle Gelenke durchbewegen.“

„Ja. So hübsch finde ich ihn gar nicht. Sein Gesicht ist irgendwie flach. Komisch sieht er aus.“

„Finde ich auch. Pass auf da mit dem Schlauch.“

Ihr seht auch nicht besser aus, wollte Toshio erwidern, aber dann fiel ihm auf, dass er gar nicht sehen konnte, wie sie aussahen. Er konnte die Augen nicht öffnen. Er konnte nur daliegen, ihren Gesprächen lauschen und sich bewegen lassen.

Die meiste Zeit allerdings lief er durch die endlosen Gänge des Maislabyrinths.

Er hörte Laurins Flöte in der Ferne.
 

Viel mehr als Flöte spielen, konnte er nicht für ihn tun. Er wusste, wie sehr Toshio Musik liebte, und hoffte, dass ihm die vertrauten Klänge auf irgendeine Art hilfreich waren.

Er verbrachte jeden Tag viele Stunden an seinem Bett, so wie Raven es ihm geheißen hatte.

Doch so sehr er sich auch gewünscht hatte, dass Toshio überleben sollte, jetzt wo er neben seinem reglosen Körper saß, fühlte er sich wie gelähmt. Wollte Toshio überhaupt weiter leben, fragte er sich nun. Hatte Toshio nicht vor wenigen Wochen nach seinem Sturz sogar gesagt, dass er nicht mehr wollte? Laurin erinnerte sich, wie er behauptet hatte, dass er sich lieber das Genick gebrochen hätte. War der Sturz überhaupt ein Unfall gewesen? Und jetzt diese Provokation, die den Monsieur so sehr gereizt hatte, war das etwa Zufall?

Half es Toshio überhaupt, wenn er überlebte? Oder wollte Laurin ihn nur nicht loslassen? Wünschte er sich nur aus Eigeninteresse, dass er leben sollte?

Er war voller Zweifel, also wendete er sein Wissen über Energieflüsse und Akupunkturpunkte nicht an, um Toshios Körper bei der Genesung zu helfen. Sowieso wusste er, dass Raven und die anderen Ärzte sich darum schon genug kümmerten. Statt dessen versuchte er, ihn energetisch abzuschirmen, um seiner Seele zu ermöglichen, eine Wahl zu haben. Mehr noch: Er ging sogar soweit, Toshios Seele über die Lichtbrücke ins Jenseits zu führen, falls er dorthin wollte, und er behandelte die Energiepunkte, von denen er wusste, dass sie bei der Sterbehilfe nützlich waren.

Damit handelte er Raven direkt entgegen, das war ihm klar. Zum Glück fragte Raven nie, was genau er eigentlich den ganzen Tag machte oder nicht machte, aber er hatte das ungute Gefühl, dass er es dennoch wusste, denn manchmal sah er ihn so merkwürdig an.

Das konnte allerdings auch andere Gründe haben. Sie hatten über die Ohrfeige nicht mehr gesprochen, und auch nicht über den Verkauf des Urwalds. Aber natürlich hatte sich ihr Verhältnis seitdem verändert. Laurin hatte sein Bettzeug in sein Zimmer gebracht und schlief nun konsequent dort. Es war ungewohnt einsam im Bett ohne Raven an seiner Seite, aber er dachte viel nach, und dazu brauchte er Abstand. Die Ohrfeige war gar nicht das Schlimme. Es war ihm nur allzu bewusst, dass er den Bogen in jener Nacht sehr weit überspannt hatte und noch glimpflich davon gekommen war dafür. Anderen Sklaven mit anderen Herren wäre viel Schlimmeres passiert.

Es war Ravens Plan, das Land zu verkaufen, der Laurin den Schlaf raubte. Er glaubte zu wissen, wie wichtig Raven das Projekt war, und jetzt musste er sich fragen, was so wichtig sein konnte, dafür den Urwald zu verraten. Und wenn der Urwald verraten werden konnte, konnte er selbst dann nicht auch fallen gelassen werden? Zum ersten Mal fragte sich Laurin ernsthaft, was Raven eigentlich mit ihm vorhatte. Er war immer davon ausgegangen, ihm in Zukunft als Assistent zu dienen. Wozu sonst hätte er ihm so viel beibringen sollen? Aber ausgesprochen worden war das nie, also konnte er sich dessen eigentlich gar nicht sicher sein. Würde er auch eines Tages in eine ungewisse Zukunft verkauft werden, ohne dass Raven sich schützend vor ihn stellte?

Vielleicht würde Raven ihm sogar wahrheitsgemäß antworten, wenn er ihn fragen würde. Aber er fürchtete sich vor der Antwort. Am Rande seines Bewusstseins lauerten die Erinnerungen an seine Eltern: festgebunden, gemartert und schließlich – tot.
 

Aber es starb sich anscheinend nicht so leicht. Die Beatmungsmaschine pumpte zuverlässig Luft in Toshios Lungen, und sein Herz schlug kräftig und regelmäßig, wie an der gleichförmig gezackten Linie auf dem Monitor schön zu sehen war. Das Piepen des Herzschlags gab den Rhythmus für seine Flötenmelodien vor.

Laurin wagte nicht, soweit zu gehen, den Beatmungsschlauch zu ziehen oder die Medikamentengaben zu manipulieren. So sicher war er sich dann doch nicht, ob Toshio wirklich sterben wollte. Und außerdem hatte er noch nie aktiv dabei geholfen, jemanden zu töten. Auch wenn Raven oft sagte, dass der Tod in manchen Fällen eine Erlösung war, empfand Laurin das anders. Unzählige Male hatte er versucht, Todgeweihten noch ein wenig Zeit im Leben zu verschaffen. Meistens waren das Versuchstiere gewesen, denn mit dem Menschenmaterial wurde stets ein wenig sorgsamer umgegangen. Aber eine Maus oder Ratte kostete im Einkauf so gut wie nichts, so dass oft nach einer Versuchsreihe gesunde Tiere einfach deswegen getötet wurden, weil man sie nicht mehr brauchte. Für Raven war ein Leben im Käfig nicht lebenswert. Nie hatte er ihm erlaubt, auch nur eine Maus mit nach Hause zu nehmen, wie sehr Laurin auch gebettelt und gefleht hatte.

„Du kannst sie nicht alle retten“, war immer Ravens Antwort gewesen.

Das war Laurin auch irgendwann klar geworden, aber er durfte ja nicht einmal eine retten! Später hatte er die Idee gehabt, dass man die Ratten ja auch in den Garten oder bei einem Ausflug in die Berge bringen konnte, wenn Raven keine Tiere im Haus haben wollte. Doch auch davon wollte Raven nichts wissen.

„Da kannst du sie auch gleich hier töten“, hatte er gesagt. „Sie sind im Labor aufgewachsen, sie wissen gar nicht, wie man draußen überlebt.“

Das stimmte wohl. Und das galt für die Versuchssklaven aus den unteren Ebenen ebenso. Wohin sollten sie gehen, wenn sie flohen? Nicht umsonst wurden alle früher oder später wieder zurück gebracht und furchtbar bestraft.

Aber Toshio war nicht im Labor aufgewachsen. Toshio würde wissen, wie man draußen überlebte. Toshio könnte der eine werden, den Laurin retten konnte. Warum hatte er das nur nicht eher erkannt? So oft hatte Toshio ihn doch anfangs um Hilfe gebeten! Aber da musste der Monsieur ihn erst halb tot schlagen, damit Laurin in den endlosen Stunden an seinem Bett zu dieser Erkenntnis kommen konnte.

„Ich werde dir helfen“, flüsterte er mit wild galoppierendem Herzen in Toshios gesundes Ohr. „Ich verspreche es dir: Wenn du wieder aufwachst, dann helfe ich dir zu fliehen.“

Wenn er nur mehr Mut hätte! Er wurde ja schon nervös dabei, nur an Toshios Bett zu sitzen und nicht an seiner Genesung mitzuarbeiten, obwohl er wusste, dass sowohl der Monsieur als auch Raven genau das von ihm erwarteten. Und allein bei dem Gedanken an eine Flucht brach ihm der kalte Schweiß aus. Manchmal wusste er gar nicht mehr, was ihm lieber war – wenn Toshio aufwachte oder wenn er nicht aufwachte.

Dennoch begann er zu überlegen, wie es gehen könnte, ihn frei zu lassen.
 

Am nächsten Tag beendeten die Ärzte das künstliche Koma. Ohne große Komplikationen wachte Toshio auf. Die anfängliche Desorientierung war normal nach der Narkose. Er schien auch Halluzinationen zu haben, denn seine Hände bewegten sich in der Luft, als würde er etwas beiseite schieben. Aber auch das war normal.

Sie konnten den Tubus aus der Luftröhre entfernen, er atmete wieder allein.

Das erste, was er sagte, war: „Wo ist der Ausgang?“

Laurin war es, als schwanke der Boden unter seinen Füßen.

Es ging also los.

Von nun an gab es kein Zurück.
 


 

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Hallo und danke, dass Ihr mir so geduldig die Treue haltet! :-)

Ich hatte dieses Jahr gleich mehrere längere Schreibblockaden, und das ausgerechnet nach diesem – zugegebenermaßen – gemeinen Cliffhanger. Das hatte ich so nicht geplant! Zwischen den einzelnen Absätzen in diesem Kapitel lagen teilweise viele Wochen, sollte der Erzählfluss also teilweise etwas merkwürdig sein, liegt das daran … Entschuldigung! :-(

Über Eure vielen Kommentare und Eure rege Anteilnahme an meinen Charakteren habe ich mich sehr gefreut. Ich sollte wohl öfter fiese Cliffhanger einbauen und Euch lange auf das nächste Kapitel warten lassen, dann bekomme ich viel Rückmeldung … ;-)

(War natürlich nur ein Scherz!)

Ich weiß, dass Teilaspekte meiner Geschichte und einige meiner Charaktere befremdlich wirken können. Das liegt an mir. Ich wirke öfters befremdlich auf meine Umwelt.

(Die Umwelt auf mich aber übrigens auch.)

Ich hoffe, Ihr habt weiterhin viel Lesevergnügen mit Toshio und viel Geduld mit mir.

Bis hoffentlich bald

(ich gebe mein Bestes),

Eure Jin

Entscheidungen

Toshios Genesung schritt nur langsam voran.

Die Wundheilung verlief zwar vollkommen regelgerecht, aber seit er begriffen hatte, was geschehen war und wo er sich befand, sprach er kein einziges Wort mehr und reagierte auf nichts, was man ihm sagte. Nur die Tatsache, dass er kurz nach seinem Aufwachen zwar verwirrt, aber durchaus normal ansprechbar gewesen war, ließ darauf schließen, dass keine hirnorganische Störung die Ursache dafür war.

Darum verordnete ihm Raven weiterhin absolute Ruhe. Das bedeutete, dass außer ihm, Doktor Lancer, dem Pflegepersonal und den Physiotherapeuten nur Laurin zu ihm durfte.

Pascal war damit alles andere als glücklich, aber Raven ließ sich durch nichts erweichen.

„Du hast gesagt, ich soll alles tun, damit er wieder gesund wird“, erinnerte er ihn.

„Ja, und jetzt wird er wieder gesund“, sagte Pascal. „Ich tue ihm doch nichts!“

„Du verstehst es anscheinend wirklich nicht. Schon deine Anwesenheit tut ihm etwas. Soll ich es dir beweisen, indem ich ihn ans EKG anschließe und dich dann zu ihm lasse?“

„Nein, schon gut, nicht nötig“, gab Pascal sich geschlagen. „Wahrscheinlich hast du recht.“

„Gib dem Jungen noch ein wenig Zeit, seine Niederlage zu verarbeiten“, erwiderte Raven versöhnlich. „Warte wenigstens, bis seine Wunden verheilt sind.“

Pascal stöhnte entnervt. Bis die Knochenbrüche und das verletzte Handgelenk kuriert waren, würden vier bis sechs Wochen ins Land gehen.

„Ich finde sowieso, dass euch beiden eine Pause voneinander gut tut“, fuhr Raven ungerührt fort. „Du denkst ja an nichts anderes mehr. Wer hat da jetzt wen eingefangen?“

„Ach, hör schon auf. Oder findest du, meine Arbeit leidet darunter?“

„Naja … in den letzten Wochen ist schon einiges liegen geblieben. Und du hast mehrere gesellschaftliche Pflichtveranstaltungen sausen lassen. Dabei weißt du ja, wie wichtig es ist, die Kontakte zu pflegen ...“

„Du klingst schon wie mein Großvater!“

„Weil er und ich die einzigen sind, die dir unverblümt die Wahrheit sagen.“

„Und Toshio“, entgegnete Pascal wehmütig. „Er traut sich auch, mir zu widersprechen.“

Raven verdrehte die Augen. Egal, welches Thema sie anschnitten, innerhalb weniger Sätze schaffte es Pascal, wieder gedanklich zu seinem Sklaven zurückzukehren.

Mehr als einmal war er dann kurz davor, sein eigenes dringliches Anliegen zur Sprache zu bringen: die Besitzverhältnisse von Laurin. Doch jedes Mal entschied er sich dagegen. Es schien ihm ratsamer zu warten, bis Pascal wieder bessere Laune hatte. Viel zu unausgeglichen war er in diesen Tagen, viel zu unvorhergesehen schwankte seine Stimmung, viel zu missmutig war er darüber, dass er nicht haben konnte, was er begehrte.

Es war klüger zu warten, bis sich eine günstigere Gelegenheit ergab. Raven würde erkennen, wann es soweit war. Bis dahin musste er seine Pläne für sich behalten, denn er wusste nur zu gut, dass er Pascal mit seiner Zuneigung zu seinem Jungen eine Schwäche offenbarte. Und obwohl er den Monsieur nun schon seit fast zwanzig Jahren kannte und sich seiner Freundschaft sicher war, war ihm unwohl bei der Vorstellung, Pascal ein Druckmittel gegen sich in die Hand zu geben. Wohl niemand kannte Pascal so gut wie er, und darum wusste er auch, dass Pascal eine Schwäche ohne zu zögern gegen ihn einsetzen konnte, wenn es seinen Interessen dienlich war – gleichgültig, ob sie Freunde waren. Raven würde es ganz genauso machen.

Doch dazu kam dann noch Pascals schier grenzenloser Sadismus. Es war wirklich besser, zu warten.
 

Auch Laurin wartete.

Er verbrachte weiterhin viele Stunden an Toshios Seite. Eigentlich hatte sich gar nicht so viel verändert, außer dass Toshio außer Lebensgefahr war. In seinem Gesicht waren noch deutlich die Reste der Blutergüsse zu sehen, die jedoch schon langsam zu verblassen begannen. Die Schwellungen waren inzwischen vollständig zurück gegangen, nur das Ohr war noch verbunden, und die verletzte Hand war mit einer Gipsschiene ruhig gestellt. Wie eine lebende Puppe saß er in seinem Krankenbett, ließ sich von den Pflegern füttern und von den Physiotherapeuten bewegen und verweigerte hartnäckig jede selbstständig ausgeführte Bewegung. Nicht einmal Blickkontakt nahm er auf, meist hielt er die Lider gesenkt, wenn jemand im Raum war, und er konnte stundenlang die graue Betonwand anstarren. Nichts von dem, was Laurin versuchte, schien zu ihm durchzudringen. Er sprach mit ihm, er hielt seine Hand, er behandelte Akupunkturpunkte, spielte ihm auf der Flöte vor, und nichts ließ ihn eine Reaktion ernten. Die Therapeuten stellten ihn auf die Füße, doch es war, als könnten Toshios Beine ihn nicht tragen, obwohl die Ärzte versicherten, dass es keine neurologischen Schäden gab.

Langsam befürchtete Laurin, dass es zu spät für Toshio war. Er hatte das schon erlebt, wie Menschen ins Nichts gefallen waren. Manche kehrten aus diesem Zustand zurück, andere nicht. Doch alle brauchten sie Zeit, und er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihnen blieb. Wenn Monsieur Remarque beschloss, seinen Japaner nicht mehr haben zu wollen, kam Toshio womöglich in einen Versuch, in dem er verstümmelt oder gar getötet werden konnte. Oder er wurde verkauft und dann könnte Laurin ihn nicht mehr frei lassen. Wenn er ehrlich mit sich war, fühlte er so etwas wie Erleichterung bei diesen Gedanken. Ich wollte ja. Aber es hat nicht geklappt, leider … Und er schämte sich dafür.

Zum Glück setzte sich Raven bei Monsieur genau dafür ein, dass er Toshio noch Zeit geben sollte. Raven sah also noch Hoffnung. Und Laurin ging davon aus, dass Raven sein ganzes Wissen und Können darauf verwendete, Toshio gesund zu machen – wenn auch aus gänzlich anderen Beweggründen als er.

Wenn Raven ihn also nicht aufgab, sollte Laurin es wohl auch nicht tun. War das vielleicht nur wieder die Angst vor seinem wahnwitzigen Vorhaben, die sich nun, da sein Entschluss feststand, Toshios schlechten Zustand zum Anlass nahm, um die ganze Aktion doch wieder fallen zu lassen? Dabei hatte er sogar schon eine Idee, wie die Flucht gelingen könnte. Aber Toshio musste ihm dabei helfen. Ohne Toshio konnte es nicht funktionieren. Er konnte ihn ja nicht einfach im Bett aus dem Gebäude schieben und dann vor dem Labor stehen lassen!

Laurin war innerlich so angespannt, dass er kaum essen und kaum schlafen konnte. Er hatte so große Angst, dass er es möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Er bildete sich ein, dass ihm jeder ansehen müsste, wie aufgeregt er war. Zumindest Raven musste es doch merken, sprach ihn aber nicht darauf an. Wie sollte er auch darauf kommen, dass sein so wohlerzogener Schützling eine Flucht plante? Trotz Laurins verbotenem Ausflug und ihrer Meinungsverschiedenheiten vertraute ihm Raven noch immer vorbehaltlos. Er bekam die Schlüsselkarte zu dem Krankenzimmer, damit er jeder Zeit auch ohne Raven zu Toshio konnte. Als er darum bat, Toshio in der Küche sein Lieblingsessen zubereiten zu lassen, wurde ihm ohne Zögern auch die Keycard für den Ausgang und der dazugehörige Zahlencode ausgehändigt, mit dem er die Krankenstation verlassen und den Aufzug benutzen konnte. Niemand, wirklich niemand traute Laurin eine Flucht zu. Genau das würde er zu seinem Vorteil nutzen. Wenn alles glatt ging, würde auch hinterher niemand darauf kommen, dass er Toshio geholfen hatte.

Nur, wenn Toshio weiterhin so passiv blieb, würde es gar kein Hinterher geben.

Er kam aus der Küche zurück, ein Tablett mit einem dick belegten Hamburgerbrötchen auf dem linken Arm balancierend. Irgendwann hatte Toshio mal erwähnt, dass er Hamburger mochte. Laurin kannte das nicht, hatte es sich aber gemerkt, weil er es erst lustig fand, ein Gericht nach Stadtbewohnern zu benennen. Es klang, als würde man Menschen essen. So lustig war es bei näherer Betrachtung also eigentlich doch nicht.

Bevor er zu Toshio hineinging, öffnete er die Tür zum Nebenzimmer, die nicht abgeschlossen war. Von dort aus konnte man durch eine einseitig verspiegelte Glaswand in das Krankenzimmer schauen und über Lautsprecher alle im Zimmer geführten Gespräche mit anhören. Raven hatte zwar verfügt, dass Toshio absolute Ruhe haben sollte, deswegen war das große Fenster zum Flur mit einem dicken Vorhang zugezogen. Aber selbstverständlich konnten sie ihn auch nicht gänzlich sich selbst überlassen, und auch der Monsieur sollte eine Gelegenheit haben, sein Eigentum jederzeit betrachten zu können.

Jetzt war der Überwachungsraum allerdings leer. Das war gut. Laurin wusste zwar, dass es noch eine Kamera gab, die zu einem Bildschirm im Pflegerzimmer sendete, aber dorthin wurde kein Ton übermittelt.

Sie waren also vorerst ungestört. Das konnte sich zwar jederzeit ändern, ohne dass sie es bemerkten würden, und deswegen war Laurin sehr nervös, als er den Raum betrat.

Das Kopfteil des Bettes war hochgestellt, sodass Toshio aufrecht saß. Er wandte Laurin nicht einmal den Blick zu. Dieser machte es wie immer und beachtete die Nichtbeachtung einfach nicht.

„Hallo Toshio. Schau mal, was ich dir mitgebracht habe. Das magst du doch, oder?“

Und er stellte den Teller mit dem Hamburger auf den Beistelltisch und schob ihn Toshio direkt unter die Nase.

„Essen musst du aber schon selber“, sagte er und wartete vergeblich auf eine Reaktion. Wäre ja auch sonderbar gewesen, wenn es so einfach ginge. Er griff nach Toshios unverletzter Hand und beugte sich zu ihm. „Toshio, bitte. Ich will dir jetzt wirklich helfen. Ich habe es dir versprochen, und ich halte mein Versprechen. Wenn du also noch fliehen willst, dann unterstütze ich dich dabei.“ Laurin leckte sich über die Lippen und warf einen beunruhigten Blick zu dem großen Spiegel. War der Raum dahinter noch leer? Sein Mund war plötzlich ganz trocken. Eindringlich sprach er weiter: „Es kann funktionieren, ich habe mir das genau überlegt. Aber wir müssen es hier machen, solange du noch auf der Krankenstation bist. Wenn der Monsieur dich wieder zu sich nach Hause holt, ist es zu spät. Von dort kann ich dich nicht raus bringen. Verstehst du, was ich sage? Du hast doch immer davon gesprochen, weg zu laufen. Jetzt kannst du es! Lass mich dir doch helfen!“

Es war sinnlos. Es war zu spät. Der Monsieur hatte es geschafft und ihn innerlich zerbrochen. Raven hatte recht: Das Leben war nicht gerecht und das Schicksal liebte die Ironie. Monatelang hatte Toshio ihn um Hilfe gebeten, und jetzt, wo er bereit war, sie ihm zu geben, wollte oder konnte er nicht mehr. Es war so unfair! Er gab sich diesem Moment der Hilflosigkeit, der Nutzlosigkeit, der verpassten Chance hin, legte den Kopf auf das Bett neben Toshios Hand und verfiel in tiefe Niedergeschlagenheit. Gleich würde er sich wieder zusammenraufen, gleich konnte er versuchen, wieder stark und mutig zu wirken, gleich, gleich…

Doch da spürte er, wie Toshios Hand sich regte, unbeholfen an seinem Haar zupfte. Laurin wagte kaum zu atmen.

„Du kannst mir helfen“, flüsterte Toshio heiser. Er hatte so lange nicht gesprochen, dass er sich ein paar mal räuspern musste, bevor er weiter reden konnte. „Ich brauche mehr Medikamente. Ich habe Schmerzen.“

„Toshio ...“ Laurin setzte sich auf und drückte seine Hand. „Natürlich bekommst du mehr Schmerzmittel. Was tut dir denn weh?“

„Mein Kopf. Der Rücken. Alles. Aber ich will nicht mehr diese Tropfen. Die schmecken eklig. Ich will Tabletten. Kannst du das für mich tun?“

„Ja. Natürlich. Alles, was du willst. Du musst es nur sagen.“

Doch Toshio hatte sich schon wieder verschlossen und den Blick abgewandt. Dennoch fühlte Laurin eine Welle der Euphorie in sich aufsteigen. Auch wenn Toshio nicht viel gesagt hatte, ein Anfang war immerhin gemacht.

„Ich hole dir sofort etwas. Ich bin gleich wieder da.“

Er rannte fast den Gang entlang zum Zimmer des Pflegepersonals. Doch dort teilte man seine Begeisterung nicht.

„Neue Medikamente? Das geht nicht einfach so. Das muss mit den Ärzten abgesprochen werden.“

„Aber er soll doch alles bekommen, damit es ihm besser geht“, widersprach Laurin.

„Ja. Trotzdem entscheiden das die Ärzte.“

Laurins Blick huschte zur Uhr. „Aber Doktor Connor ist jetzt in einer Besprechung.“

„Doktor Lancer ist da“, kam ihm eine junge Pflegerin zu Hilfe. „Sie ist in ihrem Büro.“

„Danke. Dann frage ich sie.“

Das Büro der Ärztin war nur wenige Türen weiter. Laurin klopfte an und wartete auf das „Herein“, bevor er eintrat.

Doktor Lancer saß an ihrem Schreibtisch und blickte ihn über den Rand ihrer Lesebrille an. Laurin mochte sie, zu ihm war sie immer nett, und auch zu den anderen Sklaven war sie nie unnötig grausam. Etwas kaltherzig schon, aber das kam wohl automatisch im Laufe der Jahre, dann wurden aus Versuchsmenschen unweigerlich Versuchsobjekte. Sie war eine begeisterte Forscherin, und etliche Erfolge in der Reduktion unerwünschter Nebenwirkungen von althergebrachten Medikamenten gingen auf ihr Konto. Laurin war überzeugt, dass sie fest an die Wichtigkeit und Richtigkeit ihrer Tätigkeit glaubte.

„Laurin! Ist etwas mit unserem Patienten?“

„Nein. Also, ja, doch. Toshio sagt, er hat Schmerzen, und er mag aber die Tropfen nicht, die er im Moment bekommt. Kann er nicht statt dessen Tabletten nehmen?“

„Tabletten?“ Sie runzelte die Stirn. „Das muss ich vorher mit Monsieur Remarque absprechen.“ Dann erst wurde ihr bewusst, was er noch gesagt hatte. „Er hat mit dir geredet? Wie hast du das denn geschafft?“

Laurin schluckte und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. „Ich habe ihm nur gesagt, dass ich ihm helfen möchte“, antwortete er leise und hatte das unangenehme Gefühl, als müsse sie ihm seine Fluchtpläne im Gesicht ablesen können.

Stattdessen wuschelte sie ihm durch die Haare. „Unser kleiner Laurin. Du bist wirklich ein Goldstück. Was würden wir hier nur ohne dich machen.“

Es störte ihn, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, aber er zwang sich zu einem Lächeln. Es war gut, der „kleine Laurin“ zu sein, dem niemand Sabotage zutraute.

„Ich möchte nur helfen“, entgegnete er wahrheitsgemäß. „Toshio ist mein Freund.“

„Es ist gut, einen Freund wie dich zu haben“, sagte die Ärztin und lächelte.

Oh ja. Und damit Toshio das auch so sehen konnte, war es wichtig, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. „Monsieur Remarque hat Doktor Connor die Versorgung übertragen. Und Sie vertreten doch Doktor Connor, wenn er nicht hier ist. Toshio soll bestimmt keine unnötigen Schmerzen leiden.“

„Nein, das soll er nicht. Aber das kann ich wirklich nicht entscheiden. Monsieur Remarque und Doktor Connor kann ich jetzt nicht stören. Einmal noch wird Toshio wohl verkraften, das Tramal zu nehmen. Ich kann ihm auch ein Schmerzmittel injizieren, wenn ihm das lieber ist.“

„Nein, nein“, sagte Laurin schnell. „Das ist ihm bestimmt nicht lieber.“

„Na gut. Dann sag den Pflegern Bescheid, dass er weitere fünfzehn Tropfen bekommen darf.“

„Danke, Doktor Lancer.“

„Dafür nicht, mein Kleiner.“

Frustriert schloss Laurin die Tür hinter sich und blieb unschlüssig auf dem Gang stehen. Er blickte zum Pflegerraum und überlegte, ob sie ihm auch glauben würden, wenn er behauptete, die Ärztin hätte die Tablettengabe erlaubt. Doch das traute er sich dann doch nicht. Er hatte auch keine Ahnung, welches Medikament und welche Dosierung er nennen sollte.

Mit Mühe rang er seine Enttäuschung nieder. Er hatte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, einen scheinbar so einfachen Wunsch zu erfüllen. Und wenn er schon bei einer solchen Kleinigkeit scheiterte, wie sollte er dann erst das große und nahezu unmögliche Vorhaben meistern, das vor ihm lag? Wie sollte er Toshio dazu bringen, wieder Hoffnung zu schöpfen, wenn er selbst so schnell aufgab?

Seine Füße schienen zu wissen, was zu tun war und setzten sich in Bewegung, lange bevor sein Kopf wirklich entschieden hatte. Wie in Trance legte er den Weg zum Ärztezimmer zurück, wo die Besprechung aller forschender Mediziner gerade stattfand und wo er die beiden einzigen Menschen finden würde, die entscheiden konnten, ob Toshio seine Tabletten bekommen durfte.

Er machte einen weiteren Deal: Wenn ich mich traue, die Herren zu stören, dann wird Toshio es schaffen, sich aus seiner geistigen Starre zu lösen.

Er hatte schon einmal seine Angst überwunden, damit Toshio leben konnte. Angst gegen Leben. Es würde wieder funktionieren, er spürte es.

Dennoch schlug ihm das Herz bis zum Hals, und er nahm kaum wahr, welchen Menschen er unterwegs begegnete. Seine Handfläche war feucht, als er die Finger um die Klinke schloss. Er atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete er die Tür.

Und hatte völlig vergessen, anzuklopfen.

Darum bemerkte ihn zunächst auch niemand. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Monsieur, der am anderen Ende des Raumes saß. Nur die fünf leitenden Mediziner saßen um das schmale Oval des Konferenztisches, jeder einen Notizblock und eine Tasse vor sich, und der aromatische Duft von Kaffee würzte die Luft. Die der Tür gegenüber liegende Wand war mit einer Fototapete beklebt, die das Fenster ersetzte. Sie zeigte das grüne Bild eines sommerlichen Gartens. In den zwei Ecken links und rechts davon standen große Töpfe mit Hydrokulturen mit jeweils einer Tageslichtlampe darüber.

„... vorerst nicht kommerzialisieren lassen“, sagte der Monsieur gerade. „Trotzdem möchte ich, gerade weil sich solche Spontanremissionen so schlecht wissenschaftlich erforschen lassen, dass unser Konzern auch auf diesem Gebiet weltweit marktführend wird. Wir werden alle Publikationen zum Thema zusammentragen, des weiteren werden wir in naher Zukunft eine eigene Versuchsreihe dazu beginnen ...“ Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und blieb an Laurin haften. „... oder vielmehr fortsetzen. Seit zehn Jahren arbeitet Dr. Connor daran, ein geeignetes -“ Er stockte mitten im Satz und sah plötzlich aus, als würde er einen Geist sehen. Er blinzelte ein paar Mal. „Laurin? Was machst du denn hier?“

Alle Blicke wandten sich nun Laurin zu, dem sofort das Blut ins Gesicht schoss. „Ich … äh … Verzeihung, Monsieur“, stammelte er los.

„Ist etwas mit Toshio?“ fragte der Monsieur alarmiert.

„Nein … also, doch, ja ...“

„Ich kümmere mich darum“, sagte Raven. „Sie entschuldigen mich, meine Herren.“ Mit raumgreifenden Schritten kam er um den Tisch herum und führte Laurin hinaus. Sein Griff war so fest, dass es schmerzte.

„Was fällt dir eigentlich ein“, herrschte er Laurin an, sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war. „Unsere Besprechungen sind absolut tabu für dich!“

„Ich weiß“, entgegnete Laurin kleinlaut. Er bemerkte, wie ungewöhnlich blass Raven aussah. Auf seiner Stirn glänzten sogar kleine Schweißperlen. Laurin war nicht bewusst gewesen, dass es so schlimm sein würde, die Sitzung zu stören. Hatte er Raven etwa damit in Schwierigkeiten gebracht? Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie er dann erst aussehen würde, wenn herauskam, dass Laurin Toshio zur Flucht verholfen hatte. Schon bei dem Gedanken daran, bekam er weiche Knie.

Er zwang sich zur Ruhe. Noch war es nicht soweit, und es war ja auch noch völlig unklar, ob es überhaupt zu einer Flucht kommen würde.

„Also?“ Raven schüttelte ihn. „Was war nun so wichtig, dass du uns stören musstest?“

„Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Toshio hat endlich mit mir gesprochen. Und er hat mich um etwas gebeten. Raven, bitte, du tust mir weh.“

Augenblicklich ließ Raven ihn los. „Um was hat er dich gebeten?“

„Er sagt, er hat Schmerzen. Die Brüche tun ihm wohl noch weh. Er möchte ein anderes Schmerzmittel, weil ihm die Tropfen nicht schmecken. Doktor Lancer wollte das nicht entscheiden, aber ich habe ihm doch versprochen, ihm zu helfen … und es soll ihm doch gut gehen hier, oder? Damit er sich erholen kann? Bitte, kannst du mir nicht schnell eine Schmerztablette für ihn geben?“

Raven nahm seine Brille ab und fuhr sich mit den Fingern über den Nasenrücken. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und sagte zu Laurins Erleichterung: „Na gut. Aber ich mache das selber.“ Er setzte sich die Brille wieder auf und sah endlich nicht mehr ganz so angespannt aus. „Das hast du gut gemacht, Laurin. Dass Toshio wieder mit dir redet, ist ein gutes Zeichen. Ich weiß nicht, ob wir das ohne dich geschafft hätten. Ich werde Monsieur Remarque daran erinnern, wie dankbar er dir sein kann, dass du für Toshio da bist.“

Besser nicht, dachte Laurin. Aber er freute sich über das Lob, auch wenn er nicht das Gefühl hatte, es verdient zu haben.

Und kurz darauf verstand er dann auch, warum sich alle mit den Tabletten so angestellt hatten. Erst fand er es ja noch total übertrieben, dass Raven nicht nur daneben stand, als Toshio die Tablette schlucken sollte, sondern sich danach auch noch seinen Mund genauestens ansehen wollte. Und tatsächlich hatte Toshio sie nicht geschluckt, sondern versucht, sie unter der Zunge zu verstecken. Zunächst war es Laurin schleierhaft, warum er das getan hatte, nachdem er doch so unbedingt eine Schmerztablette hatte haben wollen.

Doch Raven war stinksauer. „Hab ich es mir doch gedacht, dass du uns zum Narren halten willst. Dabei sollte dir inzwischen wirklich klar sein, dass wir alle Tricks hier schon kennen. Na los, spuck sie wieder aus!“ Er hielt ihm die geöffnete Hand unter den Mund, und Toshio gehorchte widerwillig. „Und glaub ja nicht, dass es einen zweiten Versuch geben wird. Das nächste Mal kannst du ein Zäpfchen haben, wenn dir die Tropfen nicht schmecken, vielleicht schmeckt dir das besser.“

Toshio presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg. Laurin lief hinter Raven her und holte ihn auf dem Gang ein.

„Was war das denn?“ wollte er wissen und war so aufgewühlt, dass ihm sein ungehöriges Benehmen gar nicht auffiel. „Ist das deine Vorstellung von „schonender Behandlung“? Ich sitze wochenlang an seinem Bett, damit er wieder anfängt zu sprechen, und du machst alles in einer halben Minute zunichte!“

„Laurin, hör mir zu.“ Raven senkte die Stimme, was ihr aber nichts von ihrer Eindringlichkeit nahm. „Pass gut auf, vor welchen Karren du dich spannen lässt. Mit so einer Aktion wie gerade eben kannst du dir jede Menge Ärger einhandeln. Von Toshio erwarten wir im Moment nichts anderes, aber wenn du ihm dabei hilfst, sich zu töten, wird der Monsieur nicht erfreut darüber sein. Gar nicht erfreut. Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst ihn nicht verärgern.“

Laurin schluckte trocken. Er begann jetzt erst zu begreifen, was Toshio anscheinend im Sinn gehabt hatte: Tabletten bunkern für eine Überdosis.

„Das wollte ich nicht“, sagte er wahrheitsgemäß. „Das habe ich nicht gewusst.“

„Ich weiß.“ Raven legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Darum sage ich es dir ja. Und jetzt geh wieder rein zu ihm. Er braucht dich.“

„Ja, Raven. Danke.“

Wenn doch nur Toshio auch endlich einsehen würde, dass er Laurin brauchte! Als Laurin zurück kam, hielt er den Blick noch immer abgewandt und hatte anscheinend beschlossen, ihn wieder wie bisher zu ignorieren.

Merkwürdigerweise machte Laurin das jetzt wütend. Behutsam schloss er die Tür.

„Stimmt das?“ stellte er ihn dann zur Rede und ignorierte es wie üblich, ignoriert zu werden. „Hat Raven recht damit, dass du Tabletten sammeln wolltest? Um dich damit zu vergiften? So funktioniert das aber nicht. So einfach werden sie dich nicht gehen lassen. Und ich Idiot renne auch noch los und hole Raven aus der Konferenz! Weißt du eigentlich, wie ich vor dem Monsieur dastehe, wenn du durch meine Hilfe stirbst? Du bist nicht allein auf der Welt, Toshio, und es müssen andere die Konsequenzen deines Handelns mit tragen! Glaubst du, Ivan wurde nicht bestraft, als du unter seiner Obhut auf dem Laufband gestürzt bist?“

Toshios Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze aus Schmerz. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. „Er hat ihn ausgepeitscht. Natürlich weiß ich das. Hältst du mich für blöd? Aber ich will das alles doch nicht … Ich habe das nicht gewollt.“ Seine Hände krallten sich in die Bettdecke. „Ich habe mir das doch nicht ausgesucht!“

„Was du nicht sagst.“ Laurin musste mit Gewalt sein aufkeimendes Mitleid beiseite schieben. Immerhin hatte er Toshio mit seinen Worten erreicht, und er hatte das sichere Gefühl, dass Mitleid ihn jetzt nicht weiter bringen würde. „Nur ändert das leider überhaupt nichts. Kein einziger hier hat sich das ausgesucht, Sklave zu sein! Ivan hat sich nicht ausgesucht, Haussklave bei Monsieur zu sein, Florence auch nicht, und ich hab mir auch nicht ausgesucht, dass meinen Eltern eine Metallschraube in den Kopf gebohrt wird und ich ...“ Seine Stimme brach, und er musste inne halten.

„Laurin ...“ Toshio streckte den Arm nach ihm aus.

„Nein, lass mich! Ich sag dir jetzt was, Toshio: Ich werde dir helfen, ob du willst oder nicht. Du hast mich so oft um Hilfe gebeten, und jetzt bin ich bereit dazu. Und es ist mir egal, ob du mitmachst oder nicht. Und wenn ich dich in diesem Bett nach draußen schieben muss, ich werde es tun! Aber wenn du nicht mitmachst, werden sie uns erwischen, und die Strafe für Flucht ist fürchterlich. Mir ist das egal, hörst du?! Entweder du kommst endlich wieder auf die Füße, damit du frei sein kannst, oder wir werden eben beide untergehen. Ich meine es ernst. Du hast die Wahl. Und jetzt werde ich nachsehen, ob uns jemand hinter der Spiegelglasscheibe zugehört hat. Dann können wir`s nämlich gleich vergessen.“

Der Überwachungsraum war zum Glück noch immer leer.

„Warum bist du plötzlich so versessen darauf, mir zu helfen?“ fragte Toshio, als er zurück kam. „Du warst es doch, der mir bestimmt hundert Mal gesagt hat, dass Weglaufen zu gefährlich ist. Wieso hast du deine Meinung geändert?“

„Ich habe viel nachgedacht. Ich sehe die Dinge jetzt anders. Und mir ist klar geworden, dass du dich nie mit deinem Schicksal abfinden wirst ...“

„Ich war gerade dabei, das zu tun.“

„Indem du apathisch im Bett liegst und Tabletten sammelst?“

Toshio schwieg.

„Also, mir ist klar geworden, dass es keinen anderen Ausweg gibt“, sprach Laurin weiter. Er musste auch sich selbst immer wieder neu überzeugen. „Auch für mich nicht. Es ist nicht richtig, wenn man sein Leben von der Angst bestimmen lässt. Das habe ich von dir gelernt. Und egal, was du tust, egal, wie du dich verhältst, der Monsieur wird dich nie wieder frei lassen. Ich wollte dir das nie sagen, aber ich glaube, dich erwartet in jedem Fall ein schlimmes Ende. Du hast also wahrscheinlich gar nicht viel zu verlieren.“

Das nahm Toshio sehr gefasst auf. Er war anscheinend schon selbst zu dieser Schlussfolgerung gelangt.

„Aber was ist mit dir?“ fragte er.

„Ich? Ich werde den Rest meines Lebens in dieser Welt verbringen, Toshio. Für mich und für all die anderen hier gibt es kein anderes Schicksal. Wir haben kein Leben dort draußen, wo du herkommst. Wenn alles gut geht, wird mir gar nichts passieren. Aber ich muss es versuchen! Ich will wenigstens einem geholfen haben! Wie sonst soll ich mich weiterhin im Spiegel anschauen? Manchmal muss man sich für eine Seite entscheiden. Ich habe mich entschieden.“

„Wie kannst du dir plötzlich so sicher sein?“

Laurin war gar nicht so sicher, aber das durfte er sich natürlich nicht anmerken lassen.

„Du warst es sogar, der mir die endgültige Bestätigung geliefert hat“, sagte er. „Als du sagtest: „Wo ist der Ausgang?“

Toshio sah ihn nur fragend an.

„Na, das war das erste, was du gesagt hast, als du aus dem Koma aufgewacht bist.“

„Aber Laurin … Das hatte damit gar nichts zu tun. Ich dachte noch, ich irre durch ein Labyrinth aus Maispflanzen, ich habe gar nicht kapiert, wo ich in dem Moment bin. Das hatte mit der Realität überhaupt nichts zu tun!“

„Doch. Es ist alles miteinander verbunden. Es war ein Zeichen. Klar gibt es immer eine rationale Erklärung. Aber auf einer höheren Ebene habe solche Zufälle eine Bedeutung.“

„Du kannst doch nicht wegen eines solchen Zufalls dein Leben riskieren, Laurin!“

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Sie schwiegen eine ganze Weile. Nur ihre leisen Atemzüge waren zu hören und das Ticken der Uhr an der Wand.

„Dann sag mir, was ich tun soll“, sagte Toshio schließlich.

„Zuerst musst du zu Kräften kommen. Arbeite mit den Physiotherapeuten zusammen. Mach deine Übungen. Und fang wieder an, vernünftig zu essen!“

Er schob ihm den noch immer unangetasteten Hamburger zu. Inzwischen war er sicher kalt geworden. Trotzdem begann Toshio ohne Widerspruch zu essen.

Laurin hätte jubeln können vor Freude.

Und sich in die Hose machen vor Angst.

Es würde also tatsächlich los gehen.
 

Nachdem Toshio nun aktiv an seiner Gesundung mitarbeitete, machte er rasch Fortschritte. Er war hartes körperliches Training von Kindheit an gewohnt, und so reagierte sein Körper dankbar auf die Bewegungsübungen. Schon bald konnte er ohne Hilfsmittel den Gang entlang und ein paar Treppen auf und ab laufen. Seine Verletzungen schmerzten ihn noch immer, aber er bekam Schmerzmittel, so viel er wollte – nur eben keine Tabletten mehr.

Schwieriger war es für ihn, genügend zu essen, denn sein Appetit wollte sich nicht wieder einstellen, obwohl Doktor Connor dafür sorgte, ihm seine Lieblingsspeisen vorzusetzen. Tapfer würgte er in kleinen Portionen seine Mahlzeiten herunter, jeden Bissen einzig Laurin zuliebe.

Er durfte Saft und Malzbier trinken, soviel er wollte, aber richtiges Bier oder wenigstens eine Cola wäre ihm lieber gewesen. Er dachte an das Kochevent mit Myro in Tokyo zurück, an den Rum in der Cola und an den Spaß, den sie in diesem Moment gehabt hatten.

Er fragte sich, ob er sich an einen Herrn wie Ricardo, einen Herrn, der weniger grausam als Pascal war, irgendwann hätte gewöhnen können.

Er wusste es nicht.

Pascals Gegenwart blieb ihm weiterhin erspart, aber das Wissen, dass er ihn hinter der Spiegelscheibe jederzeit unbemerkt beobachten konnte, war sehr unangenehm und schlich sich sogar in seine Träume.

Einmal träumte er, sein Spiegelbild zu betrachten, das sich dann in Pascals Gesicht verwandelte. Er griff aus dem Spiegel heraus nach ihm, griff nach seinem Hals und drückte ihm die Kehle zu. Keuchend erwachte er und warf die Bettdecke von sich, deren Gewicht ihn zu ersticken drohte. Doktor Lancer musste ihm in dieser Nacht ein Beruhigungsmittel verabreichen, damit er wieder ruhig atmen konnte.

Oft lag er nachts stundenlang wach, und verfiel wieder in sein stumpfes An-dieWand-starren. Nichts denken, nichts fühlen. Das war angenehmer, als sich mit der Wirklichkeit zu befassen. Aber eine Lösung war das natürlich nicht.

Aber gab es überhaupt eine Lösung?

Selbst wenn er nichts tat, würde er nicht ewig auf der Krankenstation bleiben können. Ihm war schon klar, dass er gerade nur wieder „spielfähig“ gemacht wurde. Was anderes kannte er von Doktor Connor ja nicht. So oft schon hatte er das mit ihm gemacht, auf den Playpartys, und ganz am Anfang. Er brauchte sich keine Hoffnung darauf machen, dass Pascal ihn nun nicht mehr haben wollte und wieder gehen ließ.

Er hatte alles riskiert und mit dem Leben abgeschlossen, aber alles, was er gewonnen hatte, war ein wenig Zeit, eine kleine Pause von seinem Herrn. Und wenn er zurück musste, würde alles noch schlimmer sein. Er wusste genau, dass er für sein Vergehen noch nicht bestraft worden war. Pascal war lediglich völlig ausgetickt, hatte aber noch genau rechtzeitig aufgehört, um Toshios Todeswunsch nicht zu erfüllen. Also lebte er, und in Zukunft würde seine Lage noch miserabler sein, als sie sowieso schon war. Er hatte wieder einmal versagt. Er würde vermutlich nie wieder die Gelegenheit erhalten, Pascal in irgendeiner Form zu schaden, und sich selbst auch nicht.

Zusätzlich würde er fürchterlich bestraft werden.

Vielleicht konnte er die Bestrafung nicht überleben, aber vorher würde Pascal dafür sorgen, dass er bereute, sich jemals das Sterben gewünscht zu haben.

Flucht war noch immer die einzige Alternative, aber Toshio war nicht sicher, was er von Laurins unerwartetem Hilfsbereitschaft halten sollte. War das eine Falle? War Laurin deswegen so nervös?

Oder, wenn es ihm wirklich ernst war, hatte er überhaupt einen funktionsfähigen Plan? Warum weigerte er sich so vehement, mit ihm über die bevorstehende Flucht zu sprechen? Wieder musste er an Myro denken und an die Fluchtpläne, die er so rührend aufgezählt hatte, und die allesamt undurchführbar gewesen waren.

Und durfte Toshio Laurin überhaupt so in Gefahr bringen? Laurin hatte vollkommen recht damit, dass sein Verhalten Auswirkungen auf Dritte hatte, dass wusste Toshio nur allzu gut. Wenn er an Florence dachte, wurde ihm noch immer ganz flau im Magen. Wenn ihm jemand noch vor einem Jahr erzählt hätte, dass er einmal eine Frau vergewaltigen würde, wäre ihm das unmöglich erschienen. Er wusste, dass Pascal dafür verantwortlich war, und trotzdem fühlte er sich schuldig.

Und es würde wieder dazu kommen, das war das Schlimmste daran. So lange, bis sie schwanger war, wenn das Pascals Wusch war. Solange würde er dann wohl noch am Leben bleiben. Vielleicht war das mit dem Kind aber auch nur ein makaberer Scherz von Pascal gewesen und nur der Auftakt für die darauf folgende Session.

Er traute Pascal allerdings inzwischen alles zu.

Wenn er daran dachte, was mit ihm in den letzten Monaten geschehen war, wollte er immer noch am liebsten Tod sein. Aber wenn Laurin ihm dabei half und erwischt würde, wäre er in genau denselben Schwierigkeiten, wie wenn er Toshio half, fortzulaufen. Möglicherweise sogar in noch größeren Schwierigkeiten, denn bei einer Flucht konnte Toshio immerhin auch wieder eingefangen werden, während der Tod unwiederbringlich war.

Davon abgesehen, dass Laurin ihm beim Freitod eh nicht helfen würde.

Also weiter kämpfen , sagte er sich. Wenn du dieser Hölle entkommen willst, darfst du nicht aufgeben.

Und doch fehlte ihm sein alter Kampfgeist. Er fühlte sich einfach nur müde. Wenn er an Pascal dachte, war da kein glühender Hass mehr, der ihn anfeuerte. Da war nur noch Furcht, und die lähmte ihn.
 

„Ist mein Herr noch sehr wütend auf mich?“ fragte er Doktor Connor, als sie einmal alleine waren.

„Was glaubst du denn?“ antwortete der mit einer Gegenfrage, ohne den Blick aus seiner Krankenakte zu heben.

„Ich glaube, dass er mich töten will“, sagte Toshio.

„Wenn er das wollte, wärst du jetzt nicht hier“, entgegnete der Arzt unbeteiligt.

„Er will es langsam machen, er will es genießen, und ...“ Die Stimme versagte ihm.

„Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen. Bevor du so töricht warst, ihn ersticken zu wollen. Mach mal eine Faust.“

„Hätte das denn daran was geändert?“

Darauf antwortete der Doktor nicht. „Wie gut kannst du das Handgelenk bewegen?“ Missbilligend runzelte er die Stirn, als er das Ergebnis sah. „Besser geht das noch nicht? Was machen denn die Physios die ganze Zeit mit dir?“

„Die machen jede Menge“, beeilte sich Toshio zu versichern. Er hatte zwar zu den beiden Physiotherapeuten, die jeden Tag ihre Behandlungen mit ihm machten, keine Freundschaft geschlossen, aber er wollte auch nicht, dass sie seinetwegen bestraft würden. „Aber ich fand andere Sachen wichtiger als das Handgelenk.“ Kraft und Ausdauer erschienen ihm für eine bevorstehende Flucht hilfreicher als frei bewegliche Hände. „Außerdem tut mir das an der Hand noch zu weh.“

„Das wird deinem Monsieur aber nicht gefallen“, sagte Connor. „Ihm sind deine Handbewegungen wichtig.“

„Das hätte er sich vielleicht vorher überlegen sollen“, entgegnete Toshio trotzig. „Bevor er mir die Hand halb abreißt.“

Der Arzt klappte die Krankenakte zu und blickte ihn nachdenklich an. „Du kannst es anscheinend wirklich nicht lassen, was? Und ich kann nicht einmal sagen, ob das gut oder schlecht für dich ist.“

Sein Tonfall ermutigte Toshio zu einer Frage und ließ gleichzeitig seinen Trotz wieder in sich zusammen fallen: „Wann muss ich denn zurück?“

„Lange werde ich dich wohl nicht mehr von ihm fern halten können“, antwortete Connor. Ich verordne dir noch weitere Therapie, aber es kann gut sein, dass dein Herr einfach einen der Physios mit nach Hause nimmt. Eigentlich gibt es keinen medizinischen Grund mehr, dich hier zu behalten. Stell dich also darauf ein, demnächst zurück zu kommen.“

Nun hatte er also die Gewissheit, dass seine Schonzeit bald vorbei sein würde. Er konnte alles mögliche gegen den feinen Doktor hervor bringen, aber angelogen hatte Connor ihn noch nie. Schon bald wäre er wieder in Pascals Haus, endlose Stunden in seinem kleinen Käfig, endlose Momente in Ketten, endlose Demütigungen, Schändungen, Misshandlungen. Ganz zu schweigen von der Strafe, die ihn noch erwartete für seinen Angriff auf Pascal. Was kam da wohl auf ihn zu? Bestimmt irgendetwas mit Atemkontrolle, schließlich hatte er versucht, Pascal zu ersticken. Er hasste das! Diese Atemkontroll-„Spiele“ machten ihm fast noch mehr Angst als alles, was Schmerzen bereitete. Er wollte ja sterben, aber soweit ließ es Pascal dabei natürlich nicht kommen. Und trotz der Todessehnsucht, wehrte sich sein Körper gegen das Ersticken und versetzte ihn in Panik. Es war ein grauenvolles Gefühl. Bestimmt würde er sich schon bald wünschen, nie geboren worden zu sein.

Fort, fort, nur fort drängte es ihn erneut mit aller Macht, egal wie, egal wohin.

Aber mit Laurin?

Erneut packten ihn Zweifel, ob Laurin tatsächlich einen erfolgversprechenden Plan hatte oder ob er sie nur beide ins Unglück stürzen würde. Oder war das eine Falle, ein neues grausiges Spiel, das sich Pascal ausgedacht hatte, diesmal mit Laurin statt mit Florence? Doch den Gedanken verwarf Toshio gleich wieder. Wozu sollte so ein Fluchtszenario dienen, wo ihn doch schon eine Strafsession erwartete? Vielleicht, um ihn mürbe zu machen, indem ihm die Freiheit gegeben und gleich wieder genommen wurde?

Nein, das war Quatsch. Er war schon mürbe. Mürber ging es nicht. Nicht umsonst hatte Doktor Connor ihn so lange auf der Krankenstation behalten. Von Pascal fern gehalten , so hatte er sich ausgedrückt. Als er das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass Connor noch nie verlangt hatte, ihn mit „Herr“ anzureden. Das machte ihn nicht gleich sympathischer, aber Toshio begann zu begreifen, dass Laurin es als Connors Schützling womöglich gar nicht so schlecht getroffen hatte. Durfte er das wirklich aufs Spiel setzen?

Die Antwort war enttäuschend einfach: Nein. Laurin lebte bei seinem Raven in relativer Sicherheit. Das durfte er ihm nicht nehmen, nicht, wenn es nur um seinen eigenen Vorteil ging. Laurin hatte, wenn er ihm half, alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.

Nein, war die Antwort.

Sobald er zu dieser Erkenntnis gelangt war, kamen seine Gedanken wieder zur Ruhe. Die Angst vor Pascal hatte sich als fester Knoten in seinen Eingeweiden eingenistet, aber er begann sich daran zu gewöhnen. Auch mit diesem Knoten konnte er sich in seine geistig emotionale Starre zurückfallen lassen, die es ihm ermöglichte stundenlang die graue Wand anzustarren.

Doch Nichtstun hat den Lauf der Welt noch nie aufgehalten.

Während Toshhio sich wie betäubt fühlte, wurde Laurin von flirrender Unruhe beinahe innerlich zerrissen. Er war unkonzentriert, hörte nicht richtig zu, wenn man zu ihm sprach, und ständig fiel ihm etwas aus der Hand oder er stieß irgendwo gegen. Er sah richtig krank aus, blass und mit dunklen Ringen unter den Augen. Fiel das niemandem auf?

Toshio ignorierte es jedenfalls, bis kurze Zeit nach seinem Gespräch mit Connor ein wie Espenlaub zitternder Laurin vor seinem Bett stand.

„Was ist los?“ Er wollte das Naheliegende nicht wahrhaben.

„Komm“, sagte Laurin. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen.

„Was hast du denn?“ Toshio begriff noch immer nicht.

„Komm einfach!“ herrschte Laurin ihn in höchster Nervosität an, und Toshio gehorchte.

Erst als ihm Laurin auf dem Flur zu wisperte: „Heute lasse ich dich frei.“, begann sein Gehirn wieder zu funktionieren.

„Nein.“

„Was?“ Jetzt war es Laurin, der nicht verstand.

„Nein habe ich gesagt. Ich komme nicht mit. Ich bleibe.“

„Nicht so laut!“ zischte Laurin. Hektisch blickte er sich um. „Hier ist nicht der richtige Ort, um das zu diskutieren.“

„Da müssen wir auch gar nicht diskutieren. Ich ...“

„Du kommst jetzt!“

„Nein!“

Laurin griff seinen Arm und versuchte, ihn einfach mitzuziehen. Toshio stemmte sich dagegen. So ging es nicht vorwärts und nicht rückwärts.

Ihr kleiner Ringkampf wurde jäh beendet, als einer der kahlgeschorenen Sklavenpfleger auf sie zukam.

„Brauchst du Hilfe, Laurin-Schatz?“ fragte er.

In seiner Not sagte Laurin: „Ja! Ich soll ihn in Sektion 42 bringen. Aber er will nicht.“

„Das sieht man. Lass mich mal machen.“ In aller Ruhe umfasste er Toshio von hinten und hob ihn einfach hoch.

„Au, du tust mir weh, du Arsch“, protestierte Toshio.

„Dann hör auf zu zappeln.“

„Lass ihn runter“, schaltete sich Laurin ein. „Er ist verletzt.“

Der Pfleger schnaufte unwillig, ließ Toshio aber wieder auf seine Füße hinunter. „Ist sein rechter Arm auch verletzt?“

„Ja“, sagte Toshio.

„Nein“, sagte Laurin gleichzeitig.

Wieder gab der Pfleger ein missbilligendes Geräusch von sich und drehte Toshios rechten Arm gekonnt auf den Rücken. Mit seiner anderen Hand fasste er ihn am Nacken und konnte ihn nun ganz leicht vor sich her dirigieren. Laurin folgte schweigend. Es ging zum Fahrstuhl, den Laurin mit Keycard und Zahlencode bedienen konnte. Sie fuhren zwei Stockwerke tiefer und gingen wieder einen langen Gang entlang. Hier war noch weniger los als oben auf der Krankenstation, und es gab auch keine Fenster mehr, durch die man in die Räume blicken konnte. Die Türen waren aus Stahl. Aber es roch genauso nach Desinfektionsmittel, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich warm an. Das war immerhin ganz angenehm, da alle Sklaven barfuß gingen.

„Merkwürdig, dass du alleine mit ihm los geschickt wirst“, sagte der Pfleger.

„Normalerweise gehorcht er mir“, klagte Laurin überzeugend. „Keine Ahnung, was heute mit ihm ist.“ Die letzten Worte sprach er sehr betont, sie waren für Toshio bestimmt.

„Tja, so ist das manchmal … Da wären wir. Sektion 42. Bist du sicher, dass du hier richtig bist? Hier ist doch gar nichts im Moment.“

„Ganz sicher“, sagte Laurin und zog die schwere Tür auf.

Der Pfleger schob Toshio hinein. Der Raum war gekachelt, und an den beiden Seitenwänden waren durch deckenhohe Gitter sechs kleine Zellen unterteilt. Die rückwärtige Wand füllte ein Waschbecken mit einer kleinen Arbeitsfläche und einem Schrank. In den Zellen befand sich nichts außer einer einfachen Pritsche. In der Mitte des Raums stand etwas, das Toshio sofort an einen Pranger erinnerte. Laurin öffnete eine der Gittertüren, und Toshio wurde in die Zelle gesperrt.

„Danke, jetzt brauche ich dich nicht mehr“, wandte sich Laurin an den Pfleger. „Ich warte hier bei ihm auf Doktor Connor.“

„Gut, alles klar. Wenn noch was ist, du weißt ja, wie du Hilfe rufst.“

Vor sich hin pfeifend verließ er die beiden. Sie warteten noch, bis sein Pfeifen verklungen war, dann rüttelte Toshio an den Gitterstäben.

„Spinnst du? Lass mich sofort hier raus!“

„Hier können wir in Ruhe reden. Ich lasse dich erst raus, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist.“

„Ich bin vernünftig!“

„Du benimmst dich aber nicht so!“

„Ach ja? Laurin, was du vorhast, ist Wahnsinn! Es ist viel zu gefährlich, und wenn sie uns erwischen ...“

Laurin unterbrach ihn mit einem an Hysterie grenzenden Lachen. Trotz seiner Blässe zeigten sich auf seinen Wangen und am Hals rötliche Stressflecken.

„Vertauschte Rollen“, sagte er kopfschüttelnd und wurde sogleich wieder ernst. „Jetzt sag mir mal, was das soll! Seit ich dich kenne liegst du mir in den Ohren, dass du fliehen willst. Und ausgerechnet jetzt nicht mehr? Erklär mir das!“

Toshio setzte sich auf die Pritsche und verschränkte die Arme. Es war kühl in Sektion 42. Er hörte das leise Rauschen einer Klimaanlage.

„Es geht einfach nicht, ist zu riskant“, begann er, sich zu erklären. „Ich habe nachgedacht. Ich möchte nicht, dass du wegen mir in Schwierigkeiten gerätst, denn die wirst du garantiert bekommen.“

„Da mach dir mal keine Gedanken“, fiel Laurin ihm höhnisch ins Wort. „Das ist ja schon geschehen, dank deiner Weigerung, einfach mit zu kommen. Sonst noch was?“

„Du hättest mir ja auch mal vorher was sagen können! So eine Flucht muss doch geplant werden!“

„Ich habe sie geplant. Ich habe nur nicht eingeplant, dass du es dir nach fast einem Jahr auf einmal anders überlegst! Und außerdem: Wann hätte ich denn mit dir reden sollen? In deinem Krankenzimmer, wo jederzeit Monsieur Remarque oder Raven oder sonst irgendwer alles hätte mit anhören können? Oder auf dem Gang, wo die Wände Ohren haben und man auch nie weiß, wer einem gerade zuhört? Das wäre zu riskant gewesen!“

„Trotzdem“, sagte Toshio, jetzt allerdings schon friedfertiger, „wir hätten reden müssen . So etwas plant man nicht allein. Da kann man viel zu viel übersehen.“

„Ich habe das nicht allein geplant“, entgegnete Laurin.

„Mit wem denn? Mit dem Pfleger von gerade eben?“ wollte Toshio wissen.

„Nein, natürlich nicht. Du kennst ihn nicht. Und das ist auch besser so.“

Dagegen ließ sich nichts weiter sagen. Es schien durchaus vernünftig, dass Laurin den Komplizen nicht nannte, darum fragte Toshio nicht weiter. Wie sich später herausstellen sollte, hätte er das vielleicht doch tun sollen.

„Noch ist es nicht zu spät“, startete er noch einen Versuch, Laurin umzustimmen. „Noch kannst du sagen, es sei nur ein Missverständnis gewesen, mich hier her zu bringen.“

„Nein.“ Laurin blieb fest. Seine Stimme wurde jetzt zwar sanfter, büßte aber nichts von ihrer Entschlossenheit ein. „Es geht um Freiheit, Toshio. Nicht nur um deine. Ich erkläre dir jetzt mal die Möglichkeiten, die du hast: Entweder wir ziehen das jetzt gemeinsam durch, und wenn alles gut geht, und davon gehe ich immer noch aus, dann bist du bald wieder frei. Du musst nicht mehr zu Monsieur zurück. Du kannst Patrick doch noch heiraten. Alles wird gut werden.“

Wenn Patrick mich überhaupt noch will nach einem Jahr, dachte Toshio, sprach den Gedanken aber nicht aus.

„Oder?“ fragte er.

„Oder du bleibst hier, verpasst deine Chance, verkriechst dich wieder in dein Zimmer, bis Monsieur Remarque dich holt, und alles bleibt, wie es ist. Für dich. Denn ich werde dann an deiner Stelle gehen. Ich habe dir schon gesagt, dass ich das auf jeden Fall durchziehe. Daran hat sich nichts geändert. Da ich mich aber in der Freiheit gar nicht auskenne, niemanden habe, den ich um Hilfe bitten kann und überhaupt nicht weiß, wo ich hin soll – werden sie mich wahrscheinlich bald schnappen. Dann werde ich bestraft. Und bei Flucht kann selbst Raven mir nicht helfen. Das war's dann. Danach bin ich so gut wie tot. Und du musst dann damit leben.“

„Du erpresst mich“, stellte Toshio düster fest.

„Nein“, entgegnete Laurin heiter. „Ich lasse dich frei.“

Er öffnete die Zellentür.

„Entscheide dich.“

Verzweifelt blieb Toshio sitzen.

„So oder so … ich reite dich ins Unglück. Ich will das nicht.“

„Das weiß ich doch.“ Laurin setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. „Du sollst nicht die Verantwortung für mich übernehmen. Die trage ich selber. Ich muss es tun. Nicht für dich, sondern für mich. Wenn ich nichts tue, nicht ein einziges Mal es wenigstens versuche, dann muss ich damit leben, verstehst du?“

Toshio verstand es nicht. Der Angstknoten in ihm löste sich und breitete sich aus. Er drohte, ihn zu ersticken.

„Sie werden wissen, dass du es warst, der mir geholfen hat“, sprach er seine Besorgnis aus. „Wer sollte es sonst gewesen sein? Der Pfleger von gerade eben wird ihnen erzählen, dass wir die Krankenstation verlassen haben.“

„Jason sagt vielleicht gar nichts. Er mag mich. Alle mögen mich, schon vergessen?“ Laurin versuchte ein aufmunterndes Grinsen. „Solange nur der Hauch eines Zweifels da ist, wird Raven sich vor mich stellen und mich schützen. Mir kann nicht viel passieren.“

„Ich weiß nicht ...“

„Du musst auch nichts wissen, Toshi. Du musst dich nur trauen.“

Bei diesen Worten stiegen Toshio Tränen in die Augen. Toshi, so hatte ihn Patrick immer genannt, und es war ihm, als wäre es eine Botschaft, dass Laurin auf einmal diese Koseform benutzte. Plötzlich wurde die Sehnsucht nach Patrick übermächtig und überschwemmte ihn mit längst verloren geglaubten Erinnerungen. Auf einmal konnte er ihn wieder vor sich sehen, wusste wieder, wie er sich anfühlte, wie er roch, wie seine Stimme klang. Wie sein Lächeln aussah. Auch er hatte ihm immer Mut zugesprochen, wenn er verzagt war. Musste er immer zu seinem Glück erst gezwungen werden? Lag ihm dieser Hang zum Verharren im Unglück in den Genen?

„Schau, wenn ich mich sogar traue, kannst du das auch“, sprach Laurin unterdes weiter auf ihn ein. „Du bist doch viel mutiger als ich. Nur, wir müssen uns beeilen. Die Ärzte sind in einem Meeting. Wenn das vorbei ist, ist es zu spät für uns. Und morgen kommst du schon zurück in die Remarque-Villa. Entscheide dich. Jetzt oder nie.“

Irgendwann in den letzten Wochen war Laurin unbemerkt von Toshio erwachsen geworden. Sogar seine Stimme war anders, hatte alles kindliche verloren. Das Streitgespräch hatte ihm sichtlich gut getan und ihm einiges von seiner Aufregung genommen. Während er Toshio überzeugen wollte, hatte er anscheinend auch sich selbst überzeugt, das Richtige zu tun.

„Na gut“, gab Toshio nach. „Dann jetzt.“

Mit Beinen, die sich wie Wackelpudding anfühlten, stand er auf. Er schwankte kurz, doch Laurin war sogleich an seiner Seite und stützte ihn.

„Wofür wird dieser Raum eigentlich genutzt?“ fragte Toshio, um das Thema zu wechseln und auf andere Gedanken zu kommen. Gleichzeitig war er gar nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt wissen wollte. Ein anderes Thema fiel ihm nur gerade nicht ein.

Aber er bekam sowieso keine Antwort darauf.

„Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit“, sagte Laurin und spähte hinaus auf den Gang. „Die Luft ist rein. Lass uns gehen.“

Wider Erwarten trugen Toshios Beine ihn doch. Unbehelligt gelangten sie zurück zu den Aufzügen.

„Wir nehmen lieber die Treppe“, bestimmte Laurin. „Beim Fahrstuhl weiß man nie, wer noch zusteigen will.“

Mit seiner Schlüsselkarte öffnete er die Tür zum Treppenhaus. Doch sie hatten nicht einmal das nächste Stockwerk erreicht, da hörten sie über sich Schritte.

Erschrocken quetschten sie sich dicht an die Wand, weit weg vom Geländer, um nicht gesehen zu werden. So konnten sie allerdings auch nicht sehen, wer da kam. Es war nicht einmal auszumachen, ob sich die Person ihnen näherte oder sich entfernte. Toshios Herz schlug sowieso so laut, dass er die Schritte fast gar nicht mehr hören konnte.

Vorsichtshalber entschied Laurin, nicht abzuwarten. Er legte den Finger an die Lippen und bedeutete Toshio stumm, ihm zu folgen. Lautlos schlichen sie die halbe Treppe hoch und flüchteten sich in das nächste Stockwerk. Sie hatten Glück: Der Gang vor ihnen war menschenleer.

„Wir müssen eine Tür finden, die sich nach außen öffnet“, flüsterte Laurin.

Er hielt seine Karte vor den Scanner mehrerer Türen, zog sie kurz auf und schloss sie gleich wieder. Soweit Toshio das sehen konnte, öffneten sie sich alle nach außen.

„Wieso ...“, setzte er zu fragen an, wurde jedoch sogleich mit einem energischen „Scht!“ zum Schweigen gebracht.

„Jetzt nicht!“

Toshio wagte kaum, zurück zur Treppenhaustür zu schauen.

Noch waren sie allein.

Laurin fiel die Karte aus der Hand.

Noch kam niemand.

„Mach schon“, drängte Toshio, der nicht verstand, warum sie nicht einfach irgendeine Tür nehmen konnten.

„Hier“, sagte Laurin endlich.

Er zog ihn in den dahinterliegenden Raum und schloss rasch die Tür. Sollte derjenige, den sie da gehört hatten, nicht zufällig in dieses Stockwerk und in diesen Raum wollen, waren sie vorerst sicher.

Neugierig und zunehmend schockiert blickte Toshio sich um. Der Raum war ähnlich aufgeteilt wie der in Sektion 42, außer dass hier die Zellen nur bis etwa Brusthöhe mit Betonwänden abgeteilt waren. Sie erinnerten Toshio weniger an Zellen, eher an Pferdeboxen. Und aus jeder dieser Boxen richteten sich ein bis zwei Augenpaare auf die beiden.

Die Frage nach den nach außen öffnenden Türen blieb Toshio buchstäblich im Hals stecken.

Der Geruch nach menschlichen Exkrementen hing schwach in der Luft, und die Klimaanlage rauschte hier lauter als in den Räumen zwei Stockwerke höher. Die Luft und der Fußboden waren wie fast überall an diesem Ort angenehm warm. Die Menschen in den Boxen waren ausnahmslos kahlgeschoren, wie alle Sklaven, die Toshio bislang hier gesehen hatte, doch dies waren die ersten, die unbekleidet waren. Schlimmer jedoch war, was Toshio erst bei näherem Hinsehen erkennen konnte: Sie hatten keine Hände! Ihre Arme endeten knapp oberhalb des Ellenbogens in einem ordentlich abgerundetem Stumpf. Teilweise war sogar noch rötlich die Narbe zu erkennen. Aus irgendeinem Grund hatte man ihnen die Arme abgeschnitten.

„Geh nicht so nah ran“, warnte Laurin. „Wir könnten sie mit irgendwas anstecken.“

„Was sind das hier für Leute?“, fragte Toshio fassungslos. „Was wird mit ihnen gemacht?“

„Sie sind im Versuch“, antwortete Laurin und trat unruhig von einem Bein auf das andere. „Wir dürften gar nicht hier drin sein.“

Die Sklaven kamen neugierig näher, und auch Toshio ging trotz Laurins Worten noch einen Schritt dichter an die Boxen heran.

„Was für ein Versuch? Und was ist das da an ihrem Bauch?“

„Bitte, Toshio! Das sind Fisteln, künstliche Darmausgänge. Damit kann Darminhalt direkt aus dem Dünndarm entnommen werden.“

Die Fisteln waren kurze Plastikröhrchen mit Schraubverschluss, die wie Stöpsel ihren Bäuchen herausstanden. Bei einigen sah man ein kleines Rinnsal bräunlich grünlichen Darminhalt am Bauch hinab laufen. Toshio schlang die Arme um sich als sei ihm kalt. Es war jedoch mehr ein inneres Frösteln, das er empfand.

„Wozu macht man so was?“

„Medikamentenforschung“, entgegnete Laurin knapp. „Bitte, geh da weg ...“

Toshio ignorierte Laurin und starrte weiterhin in die Boxen. „Und warum haben sie keine Arme?“

Einer der Gefangenen antwortete, bevor Laurin es tun konnte: „Sie amputieren die Hände, damit wir uns nicht selbst an den Fisteln verletzen können. Früher, als sie das noch nicht taten, mussten die Sklaven mit Fistel die ganze Zeit fixiert werden, manchmal über Jahre.“ Er lächelte. „Da ist das ohne Hände schon besser. Wir sind sehr durstig. Wenn ihr uns vielleicht ein wenig zu trinken geben könntet, das wäre sehr freundlich.“

Da kam Bewegung in die ganze Gruppe. Auch die letzten erhoben sich jetzt von ihren Pritschen und traten vor.

„Ja, bitte!“

„Ein wenig Wasser.“

„Durst, Durst ...“

„Das geht nicht“, rief Laurin dazwischen, während Toshio sich schon nach einem geeigneten Behälter umsah. „Ihr seid im Versuch! Und jetzt leise! Wenn wir hier bei euch erwischt werden, peitschen sie uns die Haut von den Rippen.“

„Dir doch nicht“, erklang noch eine besorgte Stimme aus der Gruppe, bevor sie ruhig wurden.

„Mir vielleicht nicht“, gab Laurin zu und dämpfte jetzt auch wieder seine Stimme. „Aber ihm sicherlich. Toshio, lass das doch bitte! Wir dürfen ihnen nichts geben.“

Toshio, der gerade dabei war, eine kleine Metallschale unter den Wasserhahn zu halten, hielt inne und wandte sich Laurin zu.

„Auch du musst dich entscheiden, Laurin. Mach dir mal Gedanken darüber, auf welcher Seite du eigentlich stehst.“

Als Laurin nicht sofort antwortete, reichte er die gefüllte Schale an den nächststehenden Gefangenen und ließ ihn trinken. Immer wieder füllte er nach, bis jeder seinen Durst gestillt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle versorgt waren.

Laurin half nicht dabei, versuchte aber auch nicht weiter, ihn abzuhalten. Er blieb an der Tür stehen, beobachtete stumm das Tränken der Fistel-Sklaven und versuchte gleichzeitig durch die Tür auf den Gang zu lauschen. Wenn man sie hier fand, waren sie verloren.

Es fand sie niemand.

Sobald Toshio fertig war, drängte Laurin zum Aufbruch.

„Gott segne Euch“, flüsterten die Handlosen dankbar zum Abschied.
 

Dieses Mal konnten sie ungestört die Treppe hinauf schleichen. Sie sprachen kein Wort miteinander, zu konzentriert lauschten sie mit jeder Faser ihres Körpers nach dem Geräusch von Schritten oder sich öffnenden Türen. Toshios Herz klopfte heftig, und er musste sich zu jedem Schritt zwingen. Er fühlte sich wie in einem seiner Alpträume und wartete nur darauf, dass sie von hinten gepackt würden und der Alptraum sich in Realität verwandelte. Doch sie kamen unbehelligt bis zu Connors Büro. Laurin war seine Erleichterung deutlich anzusehen, als er die Tür hinter ihnen leise schloss.

„Wir müssen uns beeilen“, murmelte er und stürzte gleich zu einem schmalen weißlackierten Holzschrank. Während er einen Kleiderbügel herauszog, auf dem einer von Connors Anzügen hing, schaute sich Toshio flüchtig in dem Zimmer um.

Die Einrichtung war nüchtern und funktionell. Nur über dem Schreibtisch hing ein Ölgemälde mit einer Waldlandschaft, und an der einen Wand stand eine gemütlich erscheinende Couch, auf der unordentlich eine Kuscheldecke und aufgeschlagene Zeitschriften lagen. Auf dem Tisch davor lagen Bücher, eine Schale mit Obst, Notenhefte und eine Flöte. Das war dann wohl Laurins Platz. Kein Käfig, keine Kette, kein umfunktionierter Hundekorb, stellte Toshio fest. Es stimmte also, was Laurin ihm immer von Raven erzählte: Er behandelte den Jungen gut. Dennoch …

„Laurin ...“, setzte er an.

„Hier, zieh das an“, wurde er unterbrochen.

Er nahm den Anzug entgegen.

„Was hast du vor?“, fragte er.

Doch Laurin hatte schon wieder seinen Lauschposten an der Tür bezogen. „Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Wir haben sowieso schon zu viel Zeit verloren. Ich bin gleich wieder da. Und dann bist du bitte fertig.“ Und schon huschte er durch die Tür nach draußen und ließ Toshio allein zurück.

Hastig zog er sich um, raus aus der Krankenhaussklaventracht hinein in Connors Anzug. Natürlich war er ihm zu groß. Was dachte Laurin sich nur? Er krempelte die Ärmel möglichst unauffällig nach innen hoch, doch bei der Krawatte musste er passen. Er hatte schon so manche Krawatte gelöst, in seinem früheren Leben bei einigen seiner Kunden, aber er hatte noch niemals eine Krawatte geknotet. Hilflos eilte sein Blick durch das Büro und blieb bei dem Telefon auf dem Schreibtisch hängen.

Vergessen war die Krawatte. So lange schon wartete er auf eine Gelegenheit, unbemerkt an ein Telefon zu gelangen. Durfte er es wagen? Oder barg das zusätzliche unnötige Risiken für Laurin? Hatte er nicht schon genug angerichtet bei den Fistelmenschen?

Jetzt erst kam ihm der Gedanke, dass möglicherweise auffallen würde, dass sie mehr als üblich getrunken hatten. Und selbst wenn sie nicht verraten wollten, wie sie an das Wasser gekommen waren, so wusste Toshio doch aus eigener leidvoller Erfahrung, dass man dazu gebracht werden konnte, zu sagen, was man nie sagen wollte. Und Kameras gab es in den Versuchsräumen wahrscheinlich ebenso wie in seinem Krankenzimmer.

Er fällte einen Entschluss und griff zum Telefon. Wenn er wieder Pascal in die Hände fallen sollte, so konnte er nicht die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, wenigstens noch einmal Patricks Stimme gehört zu haben.

Hoffentlich musste er nicht irgendeine hausinterne Nummer vorweg wählen. Sein Finger tippte die Vorwahl für Deutschland und verharrte dann unschlüssig über der Tastatur. Ihm fiel doch tatsächlich Patricks Handynummer nicht ein. Ricardos Nummer, ja, die spukte sogleich in seinem Kopf herum, aber Patricks Nummer hatte er früher in seinem eigenen Handy abgespeichert und quasi immer nur Patricks Namen angewählt. Sollte er stattdessen Ricardo anrufen? Oder die Polizei? War das hilfreich?

Dann fiel ihm ein, dass er die Festnetznummer von Patricks Familie auswendig konnte. Patrick und Karoline hatten immer so einen albernen selbstgedichteten Jingle gesungen. „Ruf an, ruf an, bei Hallers geht immer jemand ran“, oder so ähnlich und mit der Telefonnummer als Refrain. Mit fiebrigem Finger tippte er die Vorwahl von Deutschland, die Vorwahl von Hannover und die Nummer der Familie Haller und hoffte, dass der Jingle hielt, was er versprach.

Tatsächlich hob nach dem fünften Klingeln jemand ab.

„Karoline Haller, hallo?“

Toshio stand wie gelähmt. Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen von der Achselhöhle aus die Seite hinunter lief.

„Hallo?“

„Hallo“, würgte er schließlich heraus. „Hier ist Toshio.“

„Toshio? Na, du hast vielleicht Nerven, nach der ganzen Zeit hier anzurufen! Weißt du eigentlich, wie sehr du Patrick verletzt hast?“

„Ich … ist Patrick zu Hause?“ Jetzt war keine Zeit für Erklärungen.

„Nein, ist er nicht“, antwortete Karoline spitz und schien sichtlich Freude an ihren Worten zu haben. „Er ist in der Uni, und danach ist er bei Marco.“

Marco war ein guter Freund von Patrick. Und sein Exfreund. Seine erste große Liebe sozusagen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Patrick sich mit ihm traf, aber die Art, wie Karoline das sagte, war denkwürdig.

„Kannst du ihm sagen ...“ Toshio zögerte. Was sollte er ihm sagen?

Er kam nicht mehr dazu, weiter zu reden, denn jetzt kehrte Laurin zurück.

„Was machst du denn da?“ fragte er entsetzt. „Du solltest dich doch anziehen!“

„Karoline, ich brauche Hilfe“, sagte Toshio schnell in das Telefon, und bekam als Antwort nur ein Tuten. Karoline hatte schon aufgelegt.

Laurin nahm ihm das Telefon aus der Hand, legte auf und stellte es zurück auf die Station. „Ist nicht schon genug schief gegangen?“ fragte er. „Raven kann die Nummer sehen, und weiß dann, dass du hier warst.“

„Ich musste es einfach versuchen“, antwortete Toshio kleinlaut. „Und ich habe mir sowieso überlegt, dass es besser ist, wenn du mit mir kommst. Hierzubleiben ist viel zu gefährlich für dich.“

„Nein.“ Laurin schüttelte den Kopf. „Raven wird nicht zulassen, dass mir was geschieht.“

„Selbst wenn er das möchte“, entgegnete Toshio sanft, „heißt das nicht, dass er es auch kann. In Tokyo habe ich gelernt, dass auch die Besitzer der Sklaven nicht so frei in ihren Entscheidungen sind, wie sie wollen. Bist du ganz sicher, dass Raven dich wirklich schützen kann? Gegen den Willen von Monsieur und den anderen Sklavenhaltern? Kannst du mir das versprechen?“

Darauf antwortete Laurin nicht und kniff nur die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Das war Toshio Antwort genug. „Sie werden wissen, dass du mir geholfen hast. Egal, wie perfekt die Flucht gelungen wäre.“

„Ja, weil du unbedingt den Fistelsklaven was zu trinken geben musstest“, begehrte Laurin nun heftig auf. „Sie werden es an der Flüssigkeitsbilanz sehen, und dann werden sie die Überwachungskameras prüfen, um zu sehen, wie sie an das Wasser gekommen sind ...“

„Wir mussten ihnen helfen“, unterbrach Toshio und behandelte Laurins Passivität bei der Angelegenheit einfach als Mithilfe. „Was wären wir sonst für Menschen?“

Wieder schwieg Laurin.

„Ich bin fertig“, sagte Toshio nach einem kurzen Moment. Schließlich war auch ihm klar, dass sie keine Zeit zum Streiten hatten. „Ich kann nur diesen Krawattenknoten nicht.“ Hilflos hielt er beide Enden in die Luft.

„Ich habe Raven das oft machen sehen“, sagte Laurin und versuchte sein Glück. Allerdings musste er feststellen, dass Zusehen und Selbermachen zwei unterschiedliche Dinge waren.

Am Ende kam ein Knoten dabei heraus, der nur entfernt Ähnlichkeit mit einer ordentlich gebundenen Krawatte hatte.

„Das wird schon so gehen“, meinte Laurin nach einem letzten kritischen Blick. „Der Pförtner wird das gar nicht so genau sehen können.“

„Der Pförtner?“

„Ja. Und jetzt rein hier mit dir. Damit ich dich endlich raus bringen kann.“

Jetzt erst bemerkte Toshio, dass Laurin einen Wäschewagen in das Büro geschoben hatte. Diesmal verzichtete Toshio auf weitere Diskussionen und machte schon Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten, da hielt Laurin ihn doch noch einmal zurück.

„Wir sollten dein Krafttier um Beistand bitten. Wir können jede Hilfe brauchen.“ Er deutete auf das Waldgemälde und den darauf abgebildeten Hirschen im Hintergrund, den Toshio noch gar nicht wahrgenommen hatte.

„Wie …?“ fragte Toshio.

„Einfach bitten. Und vielleicht ein kleines Opfer bringen.“

Ungeduldig sah er Laurin dabei zu, wie er in seinen Augen wertvolle Sekunden damit verschwendete, einen Apfel von dem Obstteller zu nehmen, ihn vor das Bild zu legen und kurz mit geschlossenen Augen und aneinander gelegten Handflächen inne zu halten. Dann half er ihm endlich, in den Wäschesack zu klettern, und überdeckte ihn noch mit ein paar schmutzigen Wäschestücken und schob los.

Toshio überließ sich nun ganz Laurins Führung. Entweder der Plan funktionierte, oder eben nicht. Jetzt, wo er zur Bewegungslosigkeit gezwungen war, spürte er das Adrenalin umso kraftvoller durch seinen Körper pulsieren. Im Wäschesack war es dunkel und stickig, und er musste die aufkeimende Atemnot niederkämpfen. Eine Weile konzentrierte er sich nur auf Ein- und Ausatmen, während er durch die endlos erscheinenden Gänge geschoben wurde. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und tauchte vorsichtig zwischen den Wäschestücken auf, um besser atmen zu können. Sollte er hören, dass Laurin angehalten wurde und die Gefahr bestand, dass jemand den Deckel öffnen könnte, konnte er immer noch schnell wieder untertauchen. Den Anzug von Doktor Connor musste er schon völlig durchgeschwitzt und zerknittert haben. Seine Gedanken sprangen ziellos umher: Was mochte Laurin noch vorhaben? Wohin sollte er sich draußen als erstes wenden? Er hatte weder Geld noch seinen Ausweis, er konnte sich nicht einmal in der Landessprache verständigen … Doch obwohl das essentielle Fragen waren, obwohl er gerade erst erfahren hatte, dass in diesem unterirdischen Labor medizinische Forschung an Menschen betrieben wurde, landeten seine Gedanken letzten Endes bei der relativ profanen Tatsache, dass Patrick bei Marko war. Waren die beiden wieder zusammen? Wundern würde es ihn nicht. Marko war Patricks erste Liebe gewesen, mit ihm zusammen hatte er sein Coming Out gehabt, und die beiden waren immer noch sehr eng verbunden auf eine Art, die schnell dazu führte, dass man sich in ihrer Gegenwart wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Sie verstanden sich oft ohne Worte, und ein keines Stichwort genügte, um die beiden in für Außenstehende grundloses schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Irgendwie war Toshio die ganze Zeit davon ausgegangen, dass er, sollte er Pascal entkommen, einfach nach Hause gehen und zu Patrick flüchten konnte. Jetzt musste er sich der Erkenntnis stellen, dass Patrick verständlicherweise nicht endlos auf ihn gewartet hatte und ihn nicht, wie in seinen Tagträumen, mit offenen Armen empfangen würde. Die Befürchtung hatte er natürlich schon des Öfteren gehegt, aber sich jetzt mit der Tatsache konfrontiert zu sehen schmerzte tief und stellte ihn vor die Frage: Wohin und zu wem sollte er fliehen?

Schon fühlte er erneut die Mutlosigkeit in sich aufsteigen, und kämpfte sie nieder. Laurin wagte so viel für ihn, das durfte nicht umsonst sein. Er beschloss, die Probleme in der Reihenfolge abzuarbeiten, in der sie auftauchten, Schritt für Schritt. Erstmal musste er entkommen, und zwar mit Laurin. Danach würde er weiter sehen.

Mit Toshio in dem Wäschewagen versteckt, konnten sie den Fahrstuhl nehmen, und als sie ihn wieder verließen drang ein schwacher Abgasgeruch durch den Wäschesack in seine Nase. Als Laurin ihn endlich wieder aussteigen ließ, befanden sie sich in einer Tiefgarage. Laurin half ihm, den Anzug zu richten und hielt ihm dann den Funkschlüssel von dem BMW, vor dem sie standen, vor die Nase.

„Von jetzt an ist es ganz einfach“, erklärte er stolz. „Der Pförtner kennt Ravens Wagen, er wird denken, dass du Raven bist, öffnet die Schranke, wie er es immer tut, und du kannst einfach an ihm vorbei nach draußen fahren. Wenn er dann seinen Irrtum bemerkt, ist es schon zu spät, und du bist frei.“

„Guter Plan“, sagte Toshio. „Wenn ich Auto fahren könnte.“

„Aber ...“ Laurin wurde blass. „Ich dachte, alle Erwachsenen können Auto fahren.“

„Alle Erwachsenen, die Geld haben vielleicht“, entgegnete Toshio. „Ich aber nicht.“ Nutzlos, Laurin noch einmal darauf hinzuweisen, dass er wegen solcher entscheidenden Kleinigkeiten den Fluchtplan mit ihm hätte besprechen müssen.

„Ist das denn so schwer? Ich meine … kannst du nicht trotzdem …?“

Toshio schüttelte den Kopf. „Leider nein. Wahrscheinlich könnte ich fahren. Aber nicht so, dass dem Pförtner nicht auffällt, dass kein erfahrener Fahrer am Steuer sitzt. Wir brauchen einen anderen Plan. Hast du einen?“

Beschämt senkte Laurin den Kopf und sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Tut mir leid. Jetzt hab ich alles verpatzt ...“

„Blödsinn. Uns fällt etwas ein.“ Toshio drängte die aufkeimende Panik zurück und zwang sich, nachzudenken. Jetzt ging es um das blanke Überleben.

„Ich habe eine Idee“, sagte Toshio, öffnete den Wagen und durchwühlte die Seitentaschen und das Handschuhfach nach brennbarem Material. Er fand ein paar Notizzettel und eine Straßenkarte und fand noch die Zeit zu denken, wie altmodisch das von Connor war. Auf dem Rücksitz lagen ein paar Comic-Hefte von Laurin. Rasch zerriss er die Seiten und schichtete einen kleinen Papierschnipselhaufen auf dem Beifahrersitz auf. Dann drückte er den Zigarettenanzünder und beauftragte Laurin, ein paar Handtücher aus dem Wäschesack zu holen.

„Was hast du vor?“ fragte dieser, kam der Aufforderung jedoch sofort nach.

„Wir legen Feuer.“

Hörbar sog Laurin die Luft ein. „Wir können doch nicht Ravens Wagen anzünden!“

„Doch. Wir sind dann ja weg.“

„Toshio ...“

Doch Toshio hatte schon die glühende Metallspirale an seinen kleinen Scheiterhaufen gehalten, der auch sofort Feuer fing. Das Papier brannte gut, die Stoffhandtücher ließen sich nicht so leicht anzünden. Dafür qualmte das Ganze ordentlich.

„Hör zu, Laurin. Du läufst jetzt zum Pförtner und sagst ihm, dass es hier brennt. Das wird ihn ablenken, und wir können abhauen.“

„Ich kann nicht mitkommen“, protestierte Laurin, allerdings nicht mehr so vehement wie vorher.

„Du kannst nicht hier bleiben“, widersprach Toshio eindringlich. „Es ist wirklich zu offensichtlich, dass du mir geholfen hast.“

„Ich kann doch sagen, du hast mich gezwungen ...“

„Das wird dir keiner glauben. Komm jetzt!“

Sie schlichen sich zwischen den Autoreihen entlang Richtung Ausfahrt. Als das Pförtnerhäuschen in Sicht kam, duckte sich Toshio hinter ein Auto, und Laurin lief laut rufend los: „Feuer! Feuer! Es brennt! Es brennt, ich brauche Hilfe!“

Der Pförtner kam sofort heraus und hatte den Feuerlöscher schon in der Hand.

„Laurin! Was ist passiert?“

„Mir ist der Anzünder runter gefallen, und jetzt brennt das Auto! Da hinten!“ Er deutete in die entsprechende Richtung, wo inzwischen schon Rauchschwaden den Weg wiesen. Jetzt ging auch der Feueralarm los und ließ dem Mann keine Zeit, sich zu fragen, was denn der Junge mit dem Feueranzünder gewollt hatte.

Er ließ Laurin stehen und rannte los, um den Brand zu löschen. Unschlüssig blieb Laurin, wo er stand, doch Toshio verließ seine Deckung, hechtete zu ihm und zog ihn einfach mit sich.

Sie rannten zum Ausgang, duckten sich unter der Schranke durch, liefen die Auffahrt hoch und die Straße entlang, kopflos, ohne zu denken, nur weg so schnell sie konnten.
 

Toshio war der erste, dem die Puste ausging. Sie waren eine von alten Platanen gesäumte Allee entlang gelaufen. Die Autos fuhren vierspurig unbeteiligt an ihnen vorbei. Noch. Natürlich war es nicht klug, an einer so vielbefahrenen Straße zu sein, aber sie wollten zunächst so viel Entfernung wie in kurzer Zeit möglich zwischen sich und das Labor bringen. Aber Toshios Ausdauer ließ keinen kilometerweiten Sprint zu.

„Wir müssen von dieser Straße weg“, japste er und stützte die Hände in die Seiten.

„Dort vorne kommt ein kleiner Park. Dahin vielleicht?“ schlug Laurin vor.

„Okay.“

Etwas langsamer joggten sie weiter und gelangten mit einem letzten kleinen Sprint hinter eine schützende Rhododendronhecke, wo Toshio nach Luft schnappend stehen blieb. Er war noch lange nicht wieder so gut in Form, wie es jetzt nötig wäre. Sein ganzes Leben war er sportlich gewesen und hatte seinen Körper trainiert, und ausgerechnet jetzt, wo er ihn am dringendsten brauchte, hatte er so gut wie keine Kraftreserven.

Laurin neben ihm hüpfte unruhig von einem Bein auf das andere und raufte sich die Haare. „Was hab ich getan, was hab ich bloß getan ...“, murmelte er stereotyp vor sich hin.

„Wir brauchen einen Plan“, unterbrach ihn Toshio, sobald er wieder zu Atem gekommen war. „Wir können nicht einfach so wegrennen. So fallen wir nur auf. Außerdem schaffe ich das auch nicht lange.“

Laurin nickte schweigend. Seine Augen wirkten unnatürlich groß in seinem bleichen Gesicht. Wie jung er noch war. Auf keinen Fall durften sie wieder eingefangen werden!

„Als erstes müssen wir unsere Chips los werden. Du weißt bestimmt, wo wir die haben, oder?“ Während er sprach, hielt er schon Ausschau nach Scherben oder irgendetwas, womit man die Haut ritzen konnte, um einen Chip heraus zu schneiden. In Hannover im Welfengarten hinter der Uni hätte mehr Müll im Gebüsch gelegen.

„Was für einen Chip denn?“ fragte Laurin.

„Na, unser Sender oder was weiß ich.“ Toshio hob einen Kronkorken auf und betrachtete ihn kritisch. Er hatte halb in der Erde gesteckt, mit diesem dreckigen Ding würden sie sich womöglich eine Blutvergiftung zuziehen, aber etwas Geeigneteres sah er nicht. Mit der Infektion konnten sie sich dann später befassen. Ein Problem nach dem anderen. „In Japan hat mir ein Sklave davon erzählt“, erklärte er Laurin, was er meinte, während er die Erde von dem Metall kratzte. „Ein Mikrochip unter der Haut.“

„Davon weiß ich nichts“, sagte Laurin stirnrunzelnd. „Wir haben keinen Chip.“

„Bist du sicher?“ Toshio wog den Kronkorken in der Hand.

Unsicher hob Laurin die Schultern. „Wir haben andere Markierungen. Der Monsieur verwendet traditionell die Tätowierungen, manchmal auch Brandzeichen.“ Er mied Toshios Blick. „Ganz sicher bin ich natürlich nicht. Ich weiß, dass es auf den Auktionen gechipte Sklaven gibt. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass ich von solchen Chips vom Monsieur noch nichts gehört hätte, wenn es sie gäbe. Wo sollten die denn sein, an welcher Körperstelle?“

„Keine Ahnung. Das hat er nicht gesagt.“

Der Kronkorken landete wieder auf dem Boden. Sie hatten keine Zeit, nach einem winzigen Chip irgendwo unter der Haut zu suchen, von dem sie nicht einmal wussten, ob er überhaupt existent war.

„Wir müssen zur Polizei“, stellte Toshio fest.

Laurin wurde noch bleicher als er schon war. „Nein! Auf keinen Fall! Polizisten essen mit dem Monsieur zu Abend, lassen sich von Florence bedienen, dürfen sogar mich sehen! Die wissen Bescheid! Sie haben auch schon entlaufene Sklaven zurück gebracht ...“ An der Stelle versagte ihm die Stimme.

„Aber doch bestimmt nicht alle bei der Polizei“, wandte Toshio ein.

„Und woher sollen wir wissen, wem wir trauen können?“ fragte Laurin hysterisch.

Er hatte recht. Das war ein Problem. Toshio wog das Risiko ab. Es konnten unmöglich alle Polizisten geschmiert sein. Aber was, wenn sie gerade an so einen gerieten? Man würde es ihm ja nicht ansehen. Und selbst, wenn sie Glück hatten, konnte es sich auf der Wache ja herum sprechen, dass zwei Ausländer ohne Ausweise aufgegriffen worden waren, von denen die Beschreibung zufällig auf die zwei entlaufenen Sklaven zutraf ...

Zu gefährlich, beschloss er.

„Aber was dann?“ überlegte er laut. „Ohne Geld kommen wir ...“ Er unterbrach sich. Laurin sah ohnehin schon so aus, als würde er die ganze Aktion bereits bereuen, auch ohne zu wissen, dass man in der Welt der freien Menschen ohne Geld und Papiere so frei gar nicht war.

Da kam es auch schon: „Wenn ich jetzt zurück gehe, freiwillig, dann wird die Strafe bestimmt gar nicht so schlimm“, machte Laurin sich seine eigenen Gedanken.

„Vergiss es! Hilf mir lieber: Wir brauchen ein Versteck. Und wir müssen so schnell wie möglich aus dieser Stadt raus, und das möglichst auf Schleichwegen.“

„Ich kenne nichts, was Raven nicht auch kennt.“

„Wenn ihm etwas an dir liegt, wird er Pascal diese Orte hoffentlich nicht nennen. Ich kenne gar nichts hier. Was schlägst du also vor?“

„Im Wald gibt es einen kleinen Unterschlupf. Abseits der Wege.“

„Abseits der Wege klingt gut.“

„Da müssten wir allerdings einmal durch die Stadt durch. Oder außen herum ...“

„Hier können wir jedenfalls nicht bleiben.“

„Ich habe Angst.“

„Ich auch, Laurin. Ich auch.“
 

Der Taxifahrer hätte schon gewarnt sein können, als seine beiden Fahrgäste ihm keine genaue Adresse nannten, sondern nur „Erstmal Richtung Villaz.“ Auch dass sich das aus der Entfernung sehr gepflegte Äußere des jungen Mannes mit den asiatischen Gesichtszügen aus der Nähe als schlecht sitzender, zerknitterter Anzug herausstellte, hätte ihn misstrauisch machen sollen. Ohne Schuhe! Und Französisch konnten die beiden Gestalten natürlich auch nicht. Und die angespannte Atmosphäre, die sie mit sich führten, war beinahe mit Händen greifbar.

Dafür, dass er sie trotzdem mitnahm, war Toshio ihm natürlich dankbar, dennoch empfand er kein Mitleid für ihn, als er ihn anhalten ließ und in seinen leeren Taschen so tat, als würde er nach Geld fischen, bis Laurin ausgestiegen war, und seine Tür von außen öffnete. Dann sprang er hinaus, und sie rannten los, bis sie die wütenden Flüche, die ihnen hinterher geschleudert wurden, nicht mehr hören konnten.

Es war Toshio natürlich bewusst, dass ein geprellter Taxifahrer womöglich ihre Verfolger zu ihrer Spur führte, aber er wollte so schnell wie möglich aus der Stadt heraus, und er wollte sich gleichzeitig etwas ausruhen.

Wie sich herausstellte, war es auch ganz gut gewesen, seine Kräfte einzusparen, denn die Gegend, die Laurin mit „Wald“ bezeichnet hatte, wäre in Toshios Beschreibung als „Berg“ vorgekommen. Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, liefen sie noch durch eine Wiesenlandschaft, später an einem unruhig gurgelndem Gebirgsbach entlang und schließlich bogen sie ab auf einen zunächst noch sanft ansteigenden Waldweg. Da brannten Toshios Fußsohlen schon wie Feuer. Die Narben an seinen Füßen machten ihm sowieso schon oft Probleme, das Gehen auf rauem Asphalt und pieksendem Schotterweg quittierten sie ihm entsprechend mit beißendem Protest.

Aber natürlich war die Angst größer als der Schmerz.

Dann jedoch schlängelte sich ihr Weg zunehmend steiler in den Wald hinein, und Toshio merkte bald, dass seine angeschlagene Kondition dieser Steigung nicht gewachsen war. Immer länger blieb er stehen, immer kürzer wurde die darauf folgende Gehstrecke. Die Spaziergänger und Wanderer, die ihnen gelegentlich entgegen kamen, warfen ihnen immer schrägere Blicke zu.

„Wie weit ist es denn noch?“ fragte er schließlich, während er sich mit den Händen auf den Knien abstützte und abwartete, dass die vor seinen Augen tanzenden schwarzen Flecken wieder verschwanden.

„Schwer zu sagen“, meinte Laurin und musterte ihn besorgt. „Wir sind hier immer mit dem Wagen her gefahren. Ich hatte nicht gedacht, dass es zu Fuß so weit ist … Aber die Abzweigung zu der Jagdhütte müsste eigentlich bald kommen, da begegnen uns dann wenigstens keine Leute mehr.“

„Willst du zu der Hütte?“

„Nein, die ist entweder abgeschlossen, oder es ist jemand da. Aber von da aus ist es dann nicht mehr allzu weit. Vielleicht eine Stunde noch ...“

„Eine Stunde?“ stöhnte Toshio. Da konnte er sich von der Vorstellung endgültig verabschieden, dass sie in ihrem Unterschlupf eine Weile bleiben und von dort aus Essen und andere Kleidung, vor allem Schuhe, organisieren konnten. Verbissen kämpfte er sich weiter den Berg hinauf und ignorierte so gut es ging das Brennen seiner Füße und seiner Lungen und das zunehmende Schwächegefühl in den Beinen. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund und seine Augen versagten ihm immer wieder kreislaufbedingt kurzzeitig ihren Dienst. Er konnte in dieser Verfassung unmöglich darüber nachdenken, ob es unter diesen Umständen überhaupt Sinn machte, Laurins Unterschlupf aufzusuchen.

Ein Problem nach dem anderen.

Einen Schritt vor den nächsten.

Wenn du denkst, du kannst nicht mehr, geht immer noch was.

Diesen Satz hatte Nanao-sensei ihm schon in der Kindheit eingepflanzt. Und Pascal hatte ihn das noch auf ganz andere grausige Weise gelehrt.

So war es schließlich Laurin, der sagte: „Wir schaffen das nicht. Es ist zu weit.“

Sie hatten immerhin die Abzweigung von dem öffentlichen Wanderweg schon hinter sich gelassen und waren seitdem auch niemandem mehr begegnet.

„Es tut mir leid. Ich dachte nicht, dass es so weit ist. Wir suchen uns am besten hier einen Platz, wo wir eine Pause machen können“, schlug Laurin vor. „Willst du hier warten, dann schau ich mich mal ein wenig um.“

Toshio nickte erschöpft und ließ sich, wo er stand, zu Boden sinken, während Laurin im Wald verschwand. Laurin schien keine Probleme mit seinen Füßen auf unebenem Boden zu haben. Wahrscheinlich lief er öfter Barfuß durch die Gegend. Das ließ ihn an Oliver und Elin denken, die das auch gern im Sommer taten. Die beiden kannten sogar jemanden, der das ganze Jahr über nur ohne Schuhe herum lief. Der hätte jetzt jedenfalls nicht so große Probleme mit seinen Fußsohlen. Toshio schloss die Augen und genoss den Wind auf seiner Haut, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dass er draußen gewesen war. Endlich frei!

Kurze Zeit später kehrte Laurin zurück. „Dort drüben ist eine Baumgruppe, die uns aufnehmen will.“

Ächzend kam Toshio wieder auf die Füße und ließ die Laurin typische Formulierung unkommentiert. Das war auch gut so, sonst hätten sie womöglich das näher kommende Auto, das sie jetzt hörten, zu spät wahrgenommen. Entsetzt tauschten sie einen Blick, dann hechteten sie schnell hinter den nächstbesten Bäumen in Deckung. Dicht auf den Boden geduckt lauschten sie dem knirschenden Kies unter den Rädern und wagten beide nicht, den Kopf zu heben, um zu sehen, wer das war. Wurden sie schon verfolgt? Der Wagen war ihnen entgegen gekommen, waren ihre Verfolger ihnen etwa schon einen Schritt voraus?

Sie verharrten reglos, bis von dem Auto nichts mehr zu hören war. Dann erst erhoben sie sich wieder.

„Wahrscheinlich nur der Förster“, sagte Laurin, aber ihm stand der Schrecken im Gesicht geschrieben.

„Trotzdem besser, wenn wir vom Weg wegkommen“, sagte Toshio.

Obwohl er nicht hätte erklären können, woran das lag, fühlte er sich tatsächlich von den Bäumen willkommen geheißen. Die dicken Wurzeln, die dicht an den Stämmen aus der Erde lugten, luden förmlich dazu ein, sich nieder zu lassen. Es war eine Wohltat, endlich die malträtierten Fußsohlen zu entlasten. Laurins Idee, ihn mit einem Auto auf die Flucht zu schicken, war gar nicht so schlecht gewesen. Aber wieder einmal machte ihm seine Vergangenheit das Leben schwer: Hätten seine Eltern eine bessere Ausbildung gehabt, hätten sie mehr Geld gehabt, hätte er sicherlich seinen Führerschein gemacht, und dann … Aber es war müßig, jetzt darüber nachzudenken, was hätte sein können. Er war hungrig und durstig, vor allem aber war er ratlos. Wen sollten sie um Hilfe bitten, wenn nicht die Polizei? Wo sollten sie hin, wenn nicht zu Patrick?

„Ich mache einen Schutzkreis“, unterbrach Laurin seine trüben Gedanken.

Aus irgendeinem Grund erwartete Toshio, dass er dazu singend und tanzend im Kreis stampfen würde, doch er schloss nur einfach die Augen und atmete tief ein und aus.

Nun, wenn es Laurin half, sich besser zu fühlen, warum nicht. Was wusste Toshio schon von Schutzkreisen. Er beobachtete, wie Laurins Gesichtszüge sich entspannten und sein Rücken sich aufrichtete. Der Wind spielte mit seinem Haar und nicht zum ersten Mal dachte Toshio, dass er wie ein Engel aussah. Ein Engel, der durch schlimme Umstände in der Hölle gelandet war und dennoch sein reines Herz bewahrt hatte. Ein Zauber schien von ihm auszugehen.

Viel zu schnell war dieser Moment vorbei, und kaum dass sich der Junge ihm wieder zuwandte, kehrten Furcht und Unsicherheit in seinen Blick zurück.

„Ich hätte nicht mit dir kommen dürfen“, sagte er kläglich. „Ich gehöre hier nicht her.“

„Doch“, entgegnete Toshio ohne zu zögern. „Du bist genau richtig. Ich brauche dich hier. Es ist gut, dass du hier bist.“

„Aber ich weiß doch gar nicht, wo ich hin soll. Ich kenne hier niemanden.“ Er hockte sich auf den Boden und schlang die Arme um die Knie.

„Du kennst mich. Glaubst du, ich lasse dich einfach allein nach allem, was du für mich getan hast?“

„Aber es geht alles schief. Das Auto ...“ Laurin brach ab. Er kämpfte mit den Tränen. Sein Kinn zitterte.

„Das Auto war eigentlich eine super Idee von dir. Mit dem Auto wären wir jetzt schon über alle Berge.“ Schön wär's. Toshio grinste schief.

„Raven wird sauer sein, dass wir sein Auto angezündet haben.“

„Das Auto ist sicher gerade sein kleinstes Problem.“

„Oh Gott!“ Laurin vergrub die Hände in den Haaren und wiegte sich hin und her. „Was haben wir getan?! Wenn sie uns schnappen, dann schneiden sie uns die Füße ab. Sie tauchen uns in kochendes Wasser und hängen uns an der Decke auf. Sie sezieren uns bei lebendigem Leib, ohne Betäubung, sie ...“

„Laurin, hör auf damit!“ Er wollte das alles gar nicht hören. „Noch haben sie uns nicht, und sie werden uns auch nicht kriegen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir weg kommen und nicht, was passiert, wenn wir es nicht schaffen. Wenn wir jetzt in Angst versinken, bringt uns das auch nicht weiter.“ Er sprach damit nicht nur Laurin Mut zu. Niemand wusste besser als er selbst, wie sehr Angst lähmte. Das konnten sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.

„Und überhaupt“, fügte er dann noch hinzu, „hast du nicht immer gesagt, dass Raven niemals zulassen würde, dass dir etwas so Schlimmes passiert?“

„Ja ...“ Laurin blickte wieder auf. „Du hast recht. Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.“

„Jetzt hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Ich bin schließlich derjenige, wegen dem wir jetzt kein Auto haben und hier fest sitzen. Ich bin den Berg hinauf geschnauft wie eine Dampflok.“

„Eine altersschwache Dampflok“, korrigierte ihn Laurin und ein kleines Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel.

„Wenn ich gewusst hätte, dass ich bei unserer Flucht so einen steilen Berg rauf kriechen muss, hätte ich mich nicht so gesträubt, als Pascal mir das Kriechen auf allen Vieren beigebracht hat“, sagte Toshio und behielt den scherzhaften Tonfall bei.

„Du hättest das ja mit den Physiotherapeuten üben können. Die hätten vielleicht dumm geguckt.“

„Und Pascal erst!“ Bei der Vorstellung, wie Pascal ihn heimlich beobachtete, wie er freiwillig mit den Therapeuten den Kriechgang übte, musste er unwillkürlich kichern.

Nach kurzem Zögern fiel Laurin in sein Lachen mit ein, und dann konnten sie gar nicht mehr aufhören damit. Sie mussten sich nur anschauen und prusteten schon wieder los. Es tat gut, die ganze Anspannung loszuwerden.

Viel zu schnell mussten sie wieder ernst werden.

„Was machen wir denn jetzt?“ fragte Laurin schließlich. „Kannst du nicht einfach Patrick anrufen, und er holt uns ab?“

„Das wollte ich ja“, sagte Toshio. „Vom Labor aus. Jetzt bräuchten wir dazu Geld oder jemand sehr Nettes, der uns aus Freundlichkeit ein Auslandsgespräch führen lässt. Allerdings … Ich weiß gar nicht so genau, ob ich noch zu Patrick zurück kann. Seine Schwester war vorhin so komisch am Telefon. Kann sein, dass er schon einen neuen Freund hat. Möglich, dass er uns trotzdem hilft. Vielleicht ist er aber zu wütend auf mich.“

„Wie kann jemand wütend sein, dass du entführt worden bist?“

„Das weiß er vielleicht gar nicht.“

„Und ich dachte, wenn du erst einmal draußen bist, ist alles ganz einfach ...“

„Wenn dein Plan mit dem Wagen geklappt hätte, wäre es auch einfacher. Oder wenn wir Geld hätten. Aber so … fällt mir jetzt auch im Moment nichts ein. Wenn die sogar die Polizei auf ihrer Seite haben ...“ Toshios Vertrauen in die Ordnungshüter war noch nie sehr groß gewesen, aber dass sie sich jetzt nicht einfach an die Polizei wenden konnten, war doch sehr entmutigend. „Irgendwie müssen wir von hier weg kommen. Wir hätten uns von dem Taxifahrer gleich in die nächste Stadt bringen lassen sollen. Warum habe ich da nicht vorhin dran gedacht? Oder gleich bis über die nächste Grenze. Dann hätten wir jetzt einen größeren Vorsprung. Oder wir hätten gleich weiter trampen sollen. Inzwischen suchen sie wahrscheinlich schon nach uns. Verdammte Scheiße! Warum kann ich auch nicht Auto fahren! Dabei hätte Patrick mir das sogar beigebracht. Aber ich hab mich nicht getraut ...“

„Hätten und sollen bringt uns nicht weiter“, warf Laurin ein. „Wir müssen von hier aus weiter denken. Jetzt. Hier.“

„Du hast recht.“ Wie gut, dass sie sich gegenseitig immer wieder ihre destruktiven Gedankenschleifen unterbrechen konnten. „Trampen ist riskant. Bus fahren geht nicht ohne Ticket. Bahn fahren vielleicht, aber wenn wir beim Schwarzfahren erwischt werden ohne Geld und ohne Ausweise, ruft der Schaffner die Polizei. Außerdem werden sie am Bahnhof bestimmt nach uns suchen. Wir müssen betteln oder irgendwen beklauen … und bis dahin müssen wir wohl oder übel zu Fuß weiter gehen. In welcher Richtung geht es nach Deutschland? Es ist am Naheliegendsten, dass wir versuchen, dorthin zu kommen.“

Laurin sah sich um, um sich zu orientieren. „Wenn wir weiter in die Berge gehen, kommen wir irgendwann in die Schweiz. Dann müsste die deutsche Grenze weiter nordöstlich sein … also von hier aus in diese Richtung.“ Er deutete wage weiter in den Wald hinein.

„Okay. Dann gehen wir nach Süden“, sagte Toshio entschlossen.

„Und wohin da?“

„Keine Ahnung. Aber genau deswegen rechnet vielleicht keiner damit … Unterwegs versuchen wir irgendwie an Geld zu kommen, und dann können wir ...“

„Hörst du das?“ unterbrach ihn Laurin und wurde ganz aufgeregt. „Das ist ein Rabe!“

Jetzt hörte Toshio auch das tiefe Kollern irgendwo über den Baumwipfeln.

„Das ist ein gutes Zeichen! Nach Süden ist bestimmt der richtige Weg.“ Laurin reckte den Kopf, um einen Blick auf den Vogel zu erhaschen. Aber die Bäume verdeckten die Sicht. „Ravens Spirit ist bei uns. Dann kann uns nichts passieren.“

Toshio teilte diese Zuversicht nicht und schwieg dazu. Erstens konnte das doch nur Zufall sein. Und ob ein Rabe wirklich ein gutes Omen war, bezweifelte er ebenfalls. Waren Raben nicht Boten des Todes?

„Wäre schön, wenn Ravens Spirit etwas für meine Füße tun könnte“, sagte er trocken. „Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, weit zu kommen, egal ob nach Süden oder Norden oder sonst wohin.“

„Oh“, machte Laurin. „Ich kann etwas für deine Füße tun. Lass mal sehen.“ Er hockte sich vor ihn und betrachtete kritisch seine Fußsohlen. „Oh je. Das muss ja ganz schön weh tun.“

„Was du nicht sagst“, seufzte Toshio. „Merkst du deine Füße gar nicht?“

„Nö. Ich laufe im Sommer oft barfuß draußen herum. Man gewöhnt sich daran. Ich werde dich jetzt behandeln. Entspann dich.“

Und er begann, bestimmte Stellen an seinem Körper zu drücken und zu massieren. Toshio, der schon zuvor mit Akupunktur oder Akupressur behandelt worden war, hatte längst aufgegeben, sich zu fragen, was Punkte an seinen Ohren oder an den Fingern mit seinen Füßen zu tun haben sollten, lehnte sich zurück und ließ Laurin machen. Als dieser genug an ihm herum gedrückt hatte, formte er vor seinen Fußsohlen schwungvolle Muster mit den Händen in der Luft und summte dabei eine Melodie vor sich hin. Schließlich verstummte er wieder und hielt nur seine Handflächen vor Toshios Füße, ohne sie zu berühren. Dennoch hatte Toshio das Gefühl, dass seine Füße warm wurden und zu pulsieren anfingen.

Es war nicht so, dass Toshio nicht an alternative Heilmethoden glaubte, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie eine solche Behandlung seine wunde Haut heilen sollte, und war entsprechend skeptisch.

Und tatsächlich fühlten sich seine Füße noch genauso wund an wie vorher, als sie weiter gingen.

Aber immerhin konnte er weitergehen, was er eigentlich gar nicht mehr für möglich gehalten hätte. Er quälte sich mit jedem Schritt, aber er konnte nach jeder Pause, die sie machten, aufstehen und weitergehen.
 

Laurin behandelte ihn bei jeder Rast, jedes mal ein wenig anders und manchmal nur, indem er auf seiner Flöte, die er unter seinem Hemd bei sich trug, etwas spielte. Und jedes mal fühlte sich Toshio auf eine nicht zu benennende Art gestärkt, und jedes mal ging es weiter.

Schnell kamen sie allerdings nicht voran, dazu war Toshio in viel zu schlechter körperlicher Verfassung. Das bisschen Gehen auf dem Gang mit den Physiosklaven, konnte ihn nach den vielen Wochen Bettruhe nicht ausreichend auf eine solche Belastung vorbereiten. Der Sprint den Berg hinauf schien schon alle seine Kraftreserven aufgebraucht zu haben.

Sie gingen zunächst denselben Weg zurück, um sich bei der nächsten Möglichkeit nach Süden zu wenden. Das würde vielleicht auch mögliche Verfolger mit Hunden verwirren. Aus demselben Grund wateten sie ein Stück in einem Bachbett entlang. Das kalte Wasser tat Toshios Füßen wohl, die spitzen Bachkiesel hoben diese Wirkung allerdings wieder auf.

Danach fühlten sie sich aber bedeutend sicherer.

Annecy lag an der nördlichen Spitze eines länglichen Sees, der sich am Rande der Alpen entlang zog. Sie brauchten sich also nur zwischen See und Bergen zu halten, um in südliche Richtung zu gehen. An das Ufer gelangten sie nur selten, meist versperrten Privatgrundstücke den Zugang zum See. Und selbst als sie sich weiter von der Stadt entfernt hatten, wurde es nicht besser. Nun reihte sich ein Ferienhaus an das nächste. Es gelang ihnen, sich Kleidungsstücke von einer Wäscheleine aus einem Garten zu stehlen. Mit Jeans, T-Shirt und Pullover sahen sie viel weniger auffällig aus, auch wenn ihnen die Sachen nicht ganz passten und sie noch immer barfuß unterwegs waren. Schuhe fanden sie leider nicht, dafür aber Tennissocken. Toshio zog sich drei Paar übereinander an. Das machte das Laufen wesentlich erträglicher. Dafür trafen sie bald auf das nächste Problem: Sie mussten einige Ortschaften umgehen, weil ihre Angst zu groß war, gesehen zu werden. Dadurch verloren sie weitere wertvolle Zeit, also gingen sie dazu über, sich nachts vorwärts zu bewegen, weil dann auf den Straßen nicht so viel los war und sie nicht so leicht zu sehen waren, und tagsüber ein Versteck zu suchen, wo sie ausruhen konnten. Toshio sank dann sofort zu Boden, immer mit dem Gefühl, nie wieder die Kraft zu finden, jemals wieder aufzustehen, während Laurin zunächst jeden einzelnen Baum und Strauch und Käfer begrüßte, immer verkündete, sie seien willkommen und dann seinen Schutzkreis machte. Toshio wartete auf den Augenblick, wo sie einmal nicht willkommen wären, und er konnte sich nicht vorstellen, dann bereit zu sein, einen anderen Platz aufzusuchen. Doch anscheinend waren Pflanzen und Insekten sehr gastfreundlich, denn das kam nie vor.

Anfangs bewunderte Toshio Laurins Durchhaltevermögen. Während er selbst, sobald er saß, vor Müdigkeit die Augen nur noch schwer offen halten konnte, schien Laurin keine Pause und kaum Schlaf zu benötigen. Sobald er den Platz gesichert hatte, begann er die nähere Umgebung nach essbaren Pflanzen zu durchforsten, und auch wenn es manchmal nur irgendwelche unappetitlichen erdigen Wurzeln waren, die beim Kauen auf den Zähnen knirschten, so hatten sie doch immer etwas zu beißen und etwas im Magen. Toshio war erstaunt, wie viele Blätter, Blüten und Beeren man essen konnte, und war sicher, dass er ohne Laurin irgendwann einfach nicht mehr weiter gekonnt hätte.

Schon bald stellte er jedoch fest, dass Laurins Aktivität von großer innerer Unruhe angetrieben wurde. Als er das erste Mal richtig zur Ruhe kam, schreckte er mit einem gellenden Schrei aus dem Schlaf. Toshio, der vor sich hin dösend Wache gehalten hatte, schreckte hoch und kroch sofort zu ihm.

„Was ist denn? Laurin? Was hast du denn?“

„Nein! Nein! NEIIIIIN!“

Erleichtert begriff Toshio, dass er wohl träumte. Seine heftigen Abwehrbewegungen ignorierend, schüttelte er ihn sanft wach. Laurin schlug die Augen auf und starrte ihn orientierungslos an, das Entsetzen des Traumgeschehens noch im Angesicht. Es dauerte einen langen Moment, bis sich sein Blick klärte. Da Toshio wusste, wie real einem ein Traum vorkommen konnte, streichelte er ihn beruhigend und murmelte: „Es ist alles gut, alles gut, es war nur ein Traum, nur ein Traum, es ist vorbei alles gut.“

Zu seiner Überraschung brach Laurin bei seinen Worten in Tränen aus.

Hilflos rückte Toshio noch näher zu ihm und wartete geduldig. So oft hatte Laurin das für ihn getan: Einfach nur da sein. Es dauerte auch nicht lange, bis das Schluchzen wieder verebbte.

„Er fehlt mir so“, flüsterte Laurin schließlich und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Er zog die Nase hoch und fügte entschuldigend hinzu: „Er war immer für mich da in all der Zeit und hat mich immer beschützt … Es hat ihn nie gestört, wenn ich … also … Ich hatte früher oft diese Träume. Am besten konnte ich schlafen, wenn ich neben ihm lag … Ich kann immer noch nicht begreifen, dass ich ihn nie wieder sehen werde ...“

Darüber solltest du froh sein , dachte Toshio, dem klar war, dass hier nur die Rede von Raven sein konnte. Er selbst konnte einfach keine Sympathie für den Doktor aufbringen, aber er wusste, was er für Laurin bedeutete, und er wusste, wie sich ein Verlust anfühlte. Darum behielt er seinen Gedanken für sich und sagte stattdessen (und hoffte, dass es stimmte): „Du fehlst ihm bestimmt auch. Und wenn ihm wirklich etwas an dir liegt, dann unterstützt er dich so gut es kann auch jetzt noch. Und wer weiß – vielleicht seht ihr euch eines Tages ja doch wieder, irgendwann, wenn du in Sicherheit bist.“

„Das wäre schön“, seufzte Laurin. „Und unterstützen tut er uns schon die ganze Zeit. Du hörst den Raben doch auch.“

Ja, aber für Toshio war das nur ein Rabe, der vor sich hin krächzte und dem sie hundertprozentig herzlich egal waren. Kein Zeichen, er lebte eben zufällig in dem Wald, an dem sie entlang wanderten. Er hatte eher gemeint, dass der Doktor Pascal vielleicht besänftigen oder auf eine falsche Fährte locken könnte. Trotzdem ließ er oft Laurin entscheiden, welchen Weg sie einschlagen und wann und wo sie rasten sollten. Er hielt es für eine gute Idee, ihre Flucht so unvorhersagbar wie möglich zu gestalten, solange sie nur die grobe Richtung nach Süden beibehielten, die ja auch keinen Sinn ergab. Sollte doch Pascal die Grenze nach Deutschland und in die Schweiz absuchen lassen, während sie mal dem Ruf des Raben, mal dem Flug eines Marienkäfers, mal dem Winken einer Blume folgten. Laurins Fantasie schien in Bezug auf Botschaften unbegrenzt zu sein. Und doch fühlte sich diese Vorgehensweise auf eine unsinnige Art gut an. Immerhin war es der dritte Tag in Freiheit, und sie waren noch nicht geschnappt worden.

„Ja, ich höre den Raben“, gab Toshio zu. „Der ist ja auch kaum zu überhören. Aber von jetzt an werde ich auf dich aufpassen, hörst du? Ich kann neben dir liegen, wenn du schläfst, bis du keine Alpträume mehr hast und mich nicht mehr brauchst. Ich werde dich nicht im Stich lassen, niemals. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, Laurin. Was du für mich getan hast, und noch immer tust, dafür stehe ich für immer in deiner Schuld. Das werde ich dir nie vergessen.“

„Naja“, machte Laurin verlegen. „Muss ja nicht gleich für immer sein.“ Er grinste schief. „Nein, im Ernst, du stehst gar nicht in meiner Schuld. Erstens hab ich es ja nicht nur für dich getan, sondern auch für mich. Und zweitens habe ich mich erst ganz schön spät dazu durchgerungen. Fast zu spät ...“

Toshio schüttelte den Kopf. „Ich hätte dich gar nicht darum bitten dürfen, mir zu helfen. Aber das ist mir erst klar geworden, als du bereit dazu warst.“ Und er hoffte, dass Laurin nicht zu viel dafür geopfert hatte. Wenn sie wieder eingefangen werden würden … Doch er verbot sich sofort, den Gedanken weiter zu denken. Im Hier und Jetzt bleiben. Hier saßen sie, und die Mittagssonne wärmte sie. Jetzt waren sie frei.

„Es ist okay, wirklich“, sagte Laurin. „Raven fehlt mir, und ich habe Angst. Die alten Träume kommen wieder, aber im Grunde sagt mir das, dass alles richtig ist, wie es ist. Auch Pan sagt mir immer wieder, dass mein Platz hier bei dir ist.“

„Pan sagt das? Wer ist Pan?“

„Na, Pan, mein Drache.“

„Dein Drache?“

„Mein Krafttier! Hörst du mir eigentlich nie zu, wenn ich dir was erzähle?“

„Doch, natürlich ...“

Manchmal hatte er ihm in der Vergangenheit allerdings tatsächlich nicht richtig zugehört. Wie auch, wenn er Pascals lüsterne Blicke auf sich spürte und wusste, dass ihn nach dem Besuch des Arztes und Laurin noch eine furchtbare Session erwartete. Oder eine solche bereits hinter ihm lag und sein Körper noch ein einziger Schmerz war. Da gab es eben wichtigeres als die Namen irgendwelcher imaginärer Freunde.

„Pan ist mein bester Freund“, erklärte Laurin indes weiter. „Du musst deinen Hirschen auch endlich mal nach seinem Namen fragen. Das gibt eurer Beziehung noch einmal eine ganz besondere Tiefe.“

Toshio hatte nicht vor, noch einmal so tief zu sinken, dass er wieder Hirschhaluzinationen bekommen würde. Er fand es auch Verschwendung, dass Laurin trotz ihrer ständig knurrenden Mägen immer etwas von ihrem Essen beiseite legte – für ihre Krafttiere, für die Ortsgeister, für die Baumelfen, für was auch immer. Doch egal, wie groß sein Hunger auch war, er war abergläubisch genug, den Geistern ihre Opfergaben nicht wieder wegzunehmen. Das konnte nur Unglück bringen. Und wenn es Laurin beruhigte … satt würden sie sowieso nicht werden.

„Und du unterhältst dich richtig mit ihm? So wie wir gerade reden?“

„Natürlich. Also – in meinen Gedanken. Richtig hören kann ich ihn natürlich nicht. Aber ich weiß trotzdem, was er sagt. Kannst du das nicht?“

„Hm.“ Toshio konnte sich natürlich erinnern, dass der Hirsch zu ihm auch schon gesprochen hatte. Aber das waren doch Hirngespinste gewesen, konnte doch nichts anderes gewesen sein als ein Anzeichen für seinen einsetzenden psychischen Verfall, vielleicht die Reaktion auf die fortwährende Gehirnwäsche, der er ausgesetzt gewesen war. Jetzt keimte ein ungeheuerlicher Verdacht in ihm auf: „Sag mal … du hast aber nicht mit ihm unsere Flucht geplant? Mit Pan?“

„Ähm. Ja, doch. Mit wem denn sonst?“ Laurin hatte wenigstens den Anstand, ein wenig verlegen drein zu blicken.

Fassungslos schwieg Toshio. So etwas Wichtiges, diesen Plan, von dem ihr Überleben abhing, hatte Laurin lieber im Geiste mit einem Fabelwesen besprochen als mit ihm? Ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen waren! Und kein Wunder, dass sie ohne Geld, ohne Schuhe und nur mit Bäumen und Raben als Verbündete unterwegs waren! Einen Moment lang dachte er, dass er jetzt wütend werden müsste.

Aber dann lachte er.

Er lachte so lange, bis ihm Tränen aus den Augen rannen und Laurin sich beleidigt von ihm abwandte.
 

In der darauffolgenden Nacht jedoch sollte ihm das Lachen vergehen.

Es fing damit an, dass es zu regnen begann, kaum dass sie losmarschiert waren. Bislang war ihnen das Wetter hold gewesen, und es war unangenehm, wie der kalte Regen langsam die Kleidung durchnässte. Es musste an diesem klammen, nassen Gefühl liegen, vielleicht auch an der Befürchtung, dass sich nun mit dem Wetter ihr Glück wenden könnte, dass Toshio unangemessen heftig reagierte, als Laurin an einer Weggabelung mit einem Mal wieder Richtung Norden gehen wollte. Sie hatten gerade das Südufer des Sees hinter sich gelassen, und jetzt wollte Laurin ernsthaft den Weg nach Annecy zurück einschlagen. Der ganze allmählich angewachsene Unmut über Geisterfreunde, esoterisches Gehabe und Opfergaben, die an Baumwurzeln verschwendet worden waren statt ihre stets hungrigen Mägen zu füllen, entlud sich nun über Laurin.

Toshio hörte nur, wie er etwas mit „Drache“ sagte und dann dorthin deutete, von wo sie versuchten fort zu kommen, und dann explodierte er einfach.

„Mir reicht es jetzt mit deinen verdammten Geistwesen und angeblichen Zeichen! So ein ausgekochter Schwachsinn! Wir gehen weiter nach Süden, und ich will keine weitere Diskussion darüber! Komm!“

„Aber … hier steht doch sogar sein Name! Da: „Pans Lieder“. In Annecy. Wir müssen zurück, ganz sicher!“

„Das ist mir sowas von scheißegal“, schimpfte Toshio und wollte sich schon abwenden, doch dann drang die Bedeutung der Worte doch noch in sein von schlechter Laune umwölktes Bewusstsein.

„Was hast du da gesagt? Pans Lieder ?“

„Ja, sieh doch“, antwortete Laurin und deutete auf ein großes Pappschild, das an dem Häuschen einer Bushaltestelle geheftet war und das anscheinend Werbung für ein Mittelalterfest oder etwas ähnliches machte. Warum mitten im Wald eine Bushaltestelle war, fragte sich Toshio kurz. Vielleicht waren hier Wanderwege oder irgendein Ausflugsziel. Jedenfalls waren da Ritter in silberner Rüstung abgebildet, Gaukler mit Narrenkappe und ein Feuerspucker mit bloßem Oberkörper. Und natürlich ein Drache, der das Plakat von oben umrahmte und der Laurins Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Toshio interessierte jedoch nur eins: Am rechten Plakatrand, in der Liste der auftretenden Musiker ganz unten stand tatsächlich „Pans Lieder“. Seine Finger folgten ungläubig den vertrauten Buchstaben, als könne er seinen Augen nicht trauen.

„Das kann doch nicht sein … Wieso …?“ stammelte er los und zwang seine Gedanken zur Ruhe. Das Wieso war völlig irrelevant. Wann war wichtig. Und wo.

Hektisch flogen seine Augen über das Plakat. „Grand festival médiéval d'Annecy. Transportez-vous hors du temps. Avec grand concert de musique médiévale. Les 25/26 Juin 2016.“

„Welchen Tag haben wir heute?“ fragte er heiser.

„Warum? Was ist denn los?“

„Das Datum, Laurin! Der wievielte ist heute?“

„Ich weiß doch auch nicht … Warte mal … wir sind jetzt die dritte Nacht unterwegs. Dann müsste der fünfundzwanzigste sein. Oder der sechsundzwanzigste? Nein, ich glaube wir haben den fünfundzwanzigsten Juni. Also die Nacht vom vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten.“

„Oh, mein Gott! Wir müssen da hin! Schaffen wir das? Wo genau ist das denn?“

Laurin betrachtete das Plakat konzentriert. „Das müsste irgendwo am diesseitigen Rand von Annecy sein, glaube ich. Hier steht „La Puya“. Zumindest ist es am Seeufer. Und wir brauchen ja nur den Schildern mit dem Drachen folgen, schau.“ Tatsächlich war neben der Haltestelle an einem Zaun ein großer Sperrholzpfeil befestigt, auf dem ein Drache hockte über dem Wort „Médiévales“. „Aber ich denke, du willst nicht zurück gehen?“

„Will ich auch nicht. Aber wir müssen. „Pans Lieder sind unsere Rettung, Laurin!“ Begeistert klopfte er dem Jungen auf seine hagere Schulter. „Na los, Marsch, Marsch! Wir haben es eilig.“

Folgsam lief Laurin neben ihm her. Natürlich stellte er nicht in Frage, dass da, wo der Name seines Krafttieres stand, die Rettung war. Neugierig war er aber doch.

„Erklärst du es mir?“ fragte er nach einer Weile, in der Toshio nichts gesagt hatte, weil er in Gedanken schon dabei war, ihre Chancen zu kalkulieren, einen Weg an einem Tag zurückzulegen, für den sie zuvor drei Tage gebraucht hatten. Jedoch waren sie da auf der Ostseite des Sees gewesen, hatten große Straßen gemieden und viel gerastet. Jetzt mussten sie sich beeilen, wenn sie ihre Rettung nicht verpassen wollten. Das hieß: keine Pause mehr und keine Umwege. Dann konnten sie es schaffen. Es musste einfach zu schaffen sein!

Wenn Toshio wüsste, dass Pans Lieder auch noch am Sonntag anzutreffen wären, hätten sie sogar noch einen Tag mehr Zeit und könnten sich vorsichtiger vorwärts bewegen, aber Toshio wusste, dass die Band in Deutschland manchmal nur ein Konzert am Abend gab. Meistens allerdings spielten die unbekannteren Gruppen über die Markttage verteilt viele kleine Konzerte, wahrscheinlich waren sie also am Sonntag auch noch dort, aber darauf durften sie sich nicht verlassen. Vielleicht waren sie am zweiten Tag auch schon abgereist.

Was machten sie überhaupt in Frankreich? Egal, es war jedenfalls ein Glücksfall. Er begann still zu beten: Bitte, Pan, Gott des Waldes, Drachen-Krafttier, wer auch immer, bitte mach, dass sie noch da sind, mach dass wir schnell genug sind, dann opfer ich auch all mein Essen …

„Toshio?“ Laurin zupfte zaghaft an seinem Ärmel, weil er nicht reagiert hatte. „Wer ist das, Pans Lieder?“

„Pans Lieder.“ Toshio holte tief Luft. „Das sind vier Musiker, die ich kenne. Die Band von Patricks Bruder. Er wird uns helfen. Ganz bestimmt. Du wirst sie mögen. Die reden auch mit Bäumen und Vögeln.“

Bei dem Gedanken an Oliver und Elin hüpfte sein Herz aufgeregt, und er vergaß für den Moment seine Erschöpfung und sogar seine schmerzenden Füße.
 

Sie legten einen wahren Gewaltmarsch zurück. Toshio war selbst erstaunt darüber, wo er die Energie dafür hernahm. Mehr als einmal dankte er im Stillen seiner alten Ballett-Lehrerin, die ihn gelehrt hatte, trotz Schmerzen und Erschöpfung weiter zu machen. Fast könnte er sogar Pascal noch dankbar sein, der diese Lektion ja auf die Spitze getrieben hatte, doch soweit reichte seine Euphorie dann doch nicht. Da überwog eher die Motivation, niemals wieder zu ihm zurück zu müssen, und auch das trieb ihn über seine Grenzen hinaus.

Sie erlaubten sich nur noch kurze Ruhepausen, kamen dadurch nicht mehr dazu, etwas zu essen zu organisieren und hielten sich diesmal an die Hauptstraße, um den möglichst kürzesten Weg zu haben. Toshio beschloss, dass es das Risiko wert war und konnte nur hoffen, dass niemand damit rechnen würde, dass sie so dumm sein könnten, ihren Häschern direkt wieder entgegen zu laufen. Zum Glück führte der parallel verlaufende Fuß- und Radweg meist nicht direkt an der Straße entlang, so dass sie womöglich gar nicht so gut vom Auto aus gesehen werden konnten. Die Ortschaften waren allerdings wieder einmal ein Problem, und an der Hauptstraße trauten sie sich bei Tageslicht dann doch nicht entlang. So verloren sie wertvolle Zeit mit dem Zickzack-Kurs durch kleinere Seitenstraßen. Dabei versuchten sie, möglichst unauffällig auszusehen und auf ihr zu Glück vertrauen.

Laurin war sowieso der Meinung, dass Pan seine schützende Drachenpranke über sie hielt, wenn er ihnen schon so deutlich auf Holzpfeilen den Weg wies, und Toshio schwor, dem Drachen ein riesiges drachenwürdiges Festmahl zu opfern, wenn sie Oliver unversehrt und vor allem rechtzeitig erreichen würden.

Wieder einmal erwies sich Laurins Gegenwart als wahrer Segen, denn ab und zu spielte er im Gehen auf seiner Flöte, konnte stundenlang vor sich hin summen oder singen und machte so die Strapazen wenigstens zeitweise erträglich, indem er von müden und verkrampften Muskeln und wunden Füßen ablenkte. Ansonsten hielten sie sich mit Unterhaltungen wach und bei Laune. Toshio erzählte alles über Pans Lieder, was ihm einfiel. Wie schön ihr vierstimmiger Gesang war, selbst ohne Instrumente. Wie beeindruckt er immer wieder aufs Neue davon war, dass jeder der vier auf jedem beliebigen Musikinstrument, das man ihnen in die Hand drückte, innerhalb kürzester Zeit wunderschöne Melodien hervor bringen konnte. Auf der Bühne gab Tandavi stets mit diversen Trommeln oder Rasseln den Takt vor, Pearl ließ auf dem Didgeridoo sphärische Klänge ertönen, die der Musik ein exotisches Flair verliehen, Elin spielte zauberhaft auf ihrer Harfe, manchmal auch auf der Drehleier, und Oliver rundete das ganze mit seinem Flötensortiment ab. Er konnte sogar auf zwei unterschiedlichen Flöten gleichzeitig zweistimmig spielen. Das konnte nicht einmal Laurin! Toshio erzählte, wie Elin ihm immer in den Ohren gelegen hatte, doch mit ihnen eine Sommertour zu machen und mit ihnen als besondere Tanz-Bühnenshow-Einlage auftreten sollte, und dass er stets abgelehnt hatte, weil ihm sein Studium wichtiger gewesen war. Und sein verhängnisvoller Job im Spotlight, aber das erzählte er nicht. Hätte er doch bloß seine Wochenenden mit Pans Lieder auf Mittelaltermärkten verbracht, statt den Gogo-Tänzer zu geben, wie viel wäre ihm dann erspart geblieben!

Aber Laurin wäre dann noch immer im Labor, und ihn gerettet zu haben, gab im Nachhinein den erlittenen Monaten bei Pascal noch einen Sinn.

Laurin erzählte so viel von seinem Leben mit Raven, dass Toshio schließlich eine Ahnung von dem Menschen hinter dem Doktor bekam. Doch auch wenn sich Raven anscheinend wirklich gut um ihn gekümmert hatte, war Laurin durch seine Nähe zu Pascal dennoch ständig in großer Gefahr gewesen. Das bestritt er auch gar nicht. Aber der Raven, der mit Laurin Ausflüge in die Natur machte, hatte nichts gemeinsam mit dem Doktor, den Toshio von den sadistischen Partys kannte. Wie Doktor Jekyll und Mister Hyde schien er zwei total gegensätzliche Persönlichkeiten zu besitzen. Oder war das einfach etwas zutiefst menschliches? Es war schließlich nichts Ungewöhnliches, dass jemand ein Kaninchen als Haustier hielt, ihm einen Namen gab und es liebte und verhätschelte und trotzdem Kaninchenfleisch essen oder Tierversuchen an Kaninchen sinnvoll finden konnte. In dem Fall war eben das Kaninchen ein Mensch …

Toshio wollte darüber eigentlich gar nicht so tief nachdenken, doch Laurin brachte manchmal das Gespräch auf solch verstörende Themen. So sprach er auch noch einmal die Fistel-Sklaven an. Toshio hatte diese Begegnung inzwischen erfolgreich verdrängt, was er selbst auch ein wenig erschreckend fand. Hatte er doch ursprünglich das alles überlagernde Bedürfnis verspürt, diesen armen Menschen unbedingt irgendwie helfen zu müssen. Doch dann waren andere, dringlichere Probleme in den Vordergrund gerückt. Zunächst musste er seine eigene (und Laurins) Haut retten, was schwierig genug war. Darüber hatte er die anderen komplett vergessen.

„Denk nicht, dass mir das Schicksal der Labormenschen egal ist“, sagte Laurin in bedrückter Stimmung während sich am anderen Seeufer über den Bergen ein beeindruckender Sonnenaufgang zeigte. „Aber wir konnten ihnen wirklich nicht helfen. Du hast ihnen ihren Durst gestillt – ja. Aber das wirkt nur für einen kurzen Moment. Wenn dadurch die Versuchsergebnisse verfälscht werden, fängt der Versuch wieder von vorne an und dauert für sie nur insgesamt noch länger.

„Trotzdem musste ich das machen“, entgegnete Toshio barsch. „Man kann auch nicht einfach nichts machen.“ Unliebsame Erinnerungen an den Hund aus seiner Kindheit kamen ihm erneut vor Augen. Wir können ihm nicht helfen , hatte seine Mutter immer gesagt, und Yoko weitergezogen. Und Toshio war ihnen mit innerer Gleichgültigkeit gefolgt. Die Scham über sein damaliges Desinteresse ließ ihn viel barscher klingen, als es angemessen war.

„Ich kann nicht allen helfen“, verteidigte sich Laurin.„Ich hatte schon genug mit dir zu tun! Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen? Sie alle mitnehmen? Dann hätten wir es niemals bis nach draußen geschafft, die kennen doch nichts anderes als das Labor. Schon in der Parkgarage wären die uns ausgetickt – von hier draußen ganz zu schweigen. Und was hätten sie hier für eine Zukunft? Sie sind extra für die Versuche gezüchtet worden.“

„Was ist denn das für ein Schwachsinn? Du plapperst doch nur nach, was sie dir all die Jahre lang eingetrichtert haben. Du bemerkst die Gehirnwäsche nicht einmal!“ Toshio war genervt und gereizt, am Ende seiner Kraft und unendlich müde. Zu müde, um ein faires Gespräch zu führen.

„Ach ja?“ Jetzt war auch Laurin sauer. „Und stimmt es etwa nicht, was Raven mir erzählt hat? Stimmt es nicht, dass auch die Menschen draußen andere züchten, um Versuche mit ihnen zu machen? Ich hab sie doch selbst gesehen, Remarque Pharma hat schließlich auch die Legalen: Ratten, Mäuse, Kaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunde. Es ist doch total willkürlich zu entscheiden, wen man züchten darf und wen nicht. Wenn die Ratten mitentscheiden dürften, wären sie bestimmt dagegen, für Medikamentenforschung ihr Leben zu geben! Und stimmt es etwa nicht, dass ihr auch Tiere züchtet, um sie zu essen? Ihr züchtet sogar Kuscheltiere! Hast du denen denn geholfen? Hast du?“

„Das ist doch ganz was anderes!“

„Und warum? Doch nur, weil du als Mensch auf der anderen Seite gestanden hast. Du bist auch nicht besser als die Leute, die sich Sklaven halten!“

„Ich hatte nie ein Haustier“, sagte Toshio lahm. Er weigerte sich zwar, den Vergleich zwischen Sklaven und Haustieren hinzunehmen, doch sein eigenes schlechtes Gewissen hielt ihn davon ab, weiter zu diskutieren. Hatte er nicht selbst auch schon solch vergleichende Gedanken gehabt? Aber als Täter wollte er sich nicht sehen! Er dachte an Florences Vergewaltigung und schwieg.

Laurin war aber noch nicht fertig. Wahrscheinlich hatte Toshio bei ihm mit den Fistelsklaven eine ebenso wunde Stelle berührt. „Du kannst ihnen ja immer noch helfen. Du kannst es versuchen. Ich habe von einem flüchtigen Laborsklaven gehört, der es bin in die Nachrichten geschafft hat. Aber keiner hat ihm geglaubt, als er von den Versuchen erzählt hat. Für verrückt haben sie ihn gehalten und weggesperrt in eine Klinik für Geisteskranke. Von dort haben sie ihn dann zurück geholt. Er hat gar nichts erreicht.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, lenkte Toshio ein. Er stellte sich vor, wie er der Polizei oder der Presse von dem berichtete, was er gesehen hatte. Das war tatsächlich schwer zu glauben. Und dann kam ihm noch ein Gedanke, der seine Wangen heiß werden ließ: Müsste er dann nicht auch erzählen, was ihm selbst widerfahren war? Würde er nicht gefragt werden, wie er dorthin gelangt war? Er erinnerte sich an die Videos, die Pascal mit ihm aufgenommen hatte. Videos, auf denen zu sehen war, wie er nackt und wimmernd und mit hoch aufgerichtetem Penis in Pascals Bett lag …

An dieser Stelle musste er seine Überlegungen abbrechen. Er würde niemals jemandem davon erzählen können, er konnte nicht einmal daran denken , es jemandem zu erzählen. Er schämte sich zu sehr.

Sie gingen schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

„Toshio?“ brach Laurin schließlich vorsichtig das Schweigen.

„Hm?“

„Ich hätte dich nicht mit Menschen wie Monsieur Remarque vergleichen sollen. Das war falsch.“

„Schon okay. Wir Menschen können alle ziemliche Arschlöcher sein. Und ich habe mich wirklich nie für andere engagiert. Weder für andere Menschen, noch für Tiere oder die Natur. Ich habe nicht mal Fairtrade oder Bio eingekauft. Ich bin der letzte, der dir mangelnde Hilfsbereitschaft vorwerfen darf. Tut mir leid. Magst du was singen? Ich könnte im Gehen einschlafen ...“

„Na klar. Was bestimmtes?“

„Irgendwas Schönes. Was für's Herz, das könnte ich jetzt gebrauchen.“

Laurin überlegte kurz und begann dann etwas Indisches zu singen. Der Text war kurz, nur vier Worte, die mit zwei Melodien immer wiederholt wurden. Toshio lauschte eine Weile und unterbrach dann: „Was ist das?“

„Ein Mantra. Ein gesungenes Gebet. Übersetzt lautet es: Mögen alle Geschöpfe in allen Welten glücklich sein.“

„Das ist schön.“

„Ja.“

Toshio fiel in das Gebet mit ein.
 

Sie erreichten das Mittelalterfest tatsächlich noch rechtzeitig. Zumindest war das Fest noch im Gange. Es musste am frühen Nachmittag sein, als sie endlich ankamen. Ein Samstag wahrscheinlich, solche Veranstaltungen waren ja meist am Wochenende.

Viel zu müde, um noch klar denken zu können, steuerte Toshio direkt den erstbesten Eingang an. Dazu mussten sie sich nur an den vielen Menschen orientieren, die auf dem Fußweg an ihnen vorbei flossen, je näher sie ihrem Ziel kamen. Die meisten kamen ihnen schon entgegen, viele Familien mit Kindern. Einige waren aber auch wie sie auf dem Weg zum Markt, manche davon in mittelalterlicher Aufmachung, alle aber schneller als sie. Toshio war so erschöpft, dass er schon nicht mehr scharf sehen konnte, und seine schwachen Beine machten jeden Schritt zu einer Qual.

Ein brachliegendes Feld war zum Parkplatz umfunktioniert worden, und obwohl dort nur zwei Parkplatzwärter in Warnwesten standen, wandten die Jungen ihr Gesicht ab und hasteten klopfenden Herzens vorbei.

Schon stieg Toshio der vertraute Geruch nach Holzfeuer in die Nase, Trommeln und eine Dudelsackmelodie tönten ihnen verheißungsvoll entgegen. Er kannte das gut, Patrick hatte ihn auf einige Märkte mitgenommen, vor allem auf solche, wo Pans Lieder auftraten. Toshio hatte vorher von solchen Veranstaltungen noch nichts gewusst. Alles war auf das Mittelalter abgestimmt: die Händler, die Künstler und Schausteller, alle trugen mittelalterlich anmutende Gewandung, Getränke wurden in Tongefäßen ausgeschenkt, altes Handwerk wurde gezeigt und allerlei Gaukelei. Ritterspiele und abends die Show mit den Feuerschluckern waren die Höhepunkte dieser Feste. Und natürlich die Musik!

Toshio liebte all diese verrückten Gruppen, die moderne Musik mit uralten Instrumenten kombinierten. Er mochte sogar diese kleinen Bands, oft nur aus Dudelsack und Trommel bestehend, die irgendwie alle gleich klangen und die immer gleichen Melodien in unterschiedlicher – und manchmal miserabler – Qualität vortrugen. Diese Art der Musik hatte einfach ihren ganz eigenen Charme und war untrennbar mit schönen Erinnerungen verknüpft: mit Patricks einzigartiger Art, ihn zu lieben und sich mit netten Leuten zu umgeben, die ihn akzeptierten. Die Auftritte von Pans Lieder waren immer die kleinen privaten Höhepunkte auf dem Marktgeschehen, und Patrick platzte schier vor Stolz, seinen Bruder auf der Bühne zu sehen. Er wollte natürlich keinen einzigen Auftritt verpassen, und wenn die Band über den Tag verteilt viele kleine Konzerte gab, gerieten sie manchmal regelrecht in Terminstress, jedesmal wieder rechtzeitig vor der Bühne zu sein. Toshio konnte sich an das große mittelalterliche Spektakulum in Hamburg Öjendorf erinnern, wo sie es nicht einmal schafften, sich den gesamten Markt anzuschauen, weil sie auf dem riesigen Areal ständig die Uhr im Auge behalten mussten, um pünktlich vor Konzertbeginn wieder vor der Bühne zu stehen. Und er konnte sich an einen verregneten Nachmittag im Schlosspark Bückeburg erinnern, wo sie vor der Bühne die einzigen Zuhörer gewesen waren. Besonders da merkte man Oliver und seinen Freunden an, dass sie einfach Freude an ihrer Musik hatten und nicht um des Profits wegen spielten. Er fand, es war einer ihrer besten Auftritte gewesen, was vielleicht auch daran lag, dass er das Gefühl hatte, sie spielten nur für sie beide.

Toshio mochte sie alle: den hünenhaften Pearl, dessen Stimme so tief wie seine Haut dunkel war. Und er konnte die schönsten Obertöne erklingen lassen. Der absolute Kontrast zu ihm war Elin mit ihren hellblonden Haaren und ihrer glockenklaren hohen Stimme. Dazu kamen Olivers sanfte, bardenhafte Art zu singen und Tandavis volle Altstimme. Ihre Lieder bestanden oft nur aus wenigen Worten, ähnlich der Gebetslieder, die Laurin auf ihrer Wanderung gesungen hatte, manchmal sogar nur aus Tönen oder gleich ganz Instrumental, aber mit fünf verschiedenen Melodien, die das Lied in Strophen aufteilten. Aus dem Einfallreichtum eines einzigen ihrer Lieder könnte ein anderer Musiker ein halbes Album füllen.

Bei der Aussicht, diese vier besonderen Menschen gleich wieder zu sehen, klopfte Toshios Herz in Vorfreude schneller, und er fühlte sich wieder wach, wenn auch vor Übermüdung wie in Trance.

Und wenn er sich dann vorstellte, sie womöglich verpasst zu haben, wurden seine Knie ganz weich. Dann wäre es ein Riesenfehler gewesen, wieder in Richtung Annecy gelaufen zu sein. Er hatte keine Ahnung, was sie dann tun sollten.
 

Der Markt war schön gelegen: Direkt am Stadtrand von Annecy auf einer großen, von sachten Hügellinien gezeichneten Wiese, auf der vereinzelte Baumgruppen Schatten spendeten. Das Seeufer bildete eine natürliche Begrenzung auf der einen Seite, ein Flusslauf hielt auf der anderen Seite nichtzahlende Besucher fern, der Rest war mit einem nicht sehr mittelalterlichen Drahtgestell abgesperrt, das aber wenigstens großteils mit grobem Stoff überzogen war.

Toshio überlegte gar nicht erst, sich über den Fluss oder den See einzuschleichen, er kam auch nicht auf die Idee, nach Elins altem verbeulten VW-Bus Ausschau zu halten, er konnte nur daran denken, dass Pans Lieder einfach da sein mussten , weil … weil … Weil es einfach keinen Plan B gab.

Gemeinsam mit einem Grüppchen junger Leute, die ganz und gar nicht nach Mittelalter, sondern eher nach Massentourismus aussahen, kamen sie am Eingangsbereich an. Den Tisch zu ihrer Rechten, hinter dem eine Kassiererin saß, bemerkte Toshio gar nicht, ebenso wenig achtete er darauf, dass die jungen Leute alle eine Eintrittskarte und einen Stempel auf ihrer Hand vorzeigten, als sie den Markt betraten. Nicht einmal, als der Mann am Eingang sich ihm in den Weg stellte und irgendetwas auf Französisch zu ihm sagte, kam er darauf, dass der Markt Eintritt kostete. Erst als der Mann auf die Kasse deutete, begriff Toshio, dass sie eine Eintrittskarte benötigten. Und dass sie kein Geld hatten. Und nicht einmal Französisch sprachen.

„Oh, bitte, wir wollen nicht auf den Markt, wir wollen nur zu Pans Lieder, versuchte er auf Englisch zu erklären. Laurin verkroch sich hinter seinem Rücken. „Verstehen Sie? Wir sind keine Besucher. Wir gehören zu der Musikgruppe Pans Lieder, wir müssen nur kurz mit ihnen sprechen, dann gehen wir gleich wieder.“

Der Typ schien nicht zu verstehen, jedenfalls antwortete er nicht gerade freundlich auf Französisch. Vielleicht hatte er auch nur keine Lust, sich mit zwei abgerissenen Gestalten auf eine Diskussion einzulassen. Sie mussten aussehen wie zwei Bettler, mit ihren schmutzigen Klamotten, wunden Füßen, und Zeit zum Waschen hatte Toshio ihnen auch nicht gerade gegönnt auf ihrem Marsch hierher.

„Wir sind Musiker“, behauptete Toshio und versuchte, möglichst selbstbewusst aufzutreten. „Wir … wir hatten einen ... so etwas wie einen Unfall. Sie können jemanden von Pans Lieder her holen, die kennen mich, dann werden Sie sehen … Oder rufen Sie sie wenigstens an, ich ...“

Er wurde von einem schrill kreischenden Flötenton unterbrochen, der hinter ihm erklang. Laurin hatte seine Flöte gezückt und spielte nach diesem missglückten Auftakt, der nur zeigte, wie aufgeregt er anscheinend war, ein paar kurze virtuose Melodien. Trotzdem reichten die paar Takte schon, dass sich die an den Ständen in der Nähe stehenden Menschen zu ihnen umdrehten. Sowieso hatte sich hinter ihnen schon eine kleine Schlange gebildet, die darauf wartete, dass es am Eingang endlich weiter ging.

„Sie können uns glauben“, fügte Laurin seiner Darbietung hinzu, allerdings so leise, dass Toshio bezweifelte, ob das noch jemand anderes hören konnte, der nicht direkt neben ihm stand.

Der Ordner jedenfalls blieb unbeeindruckt. Mit einer Hand hielt er sein Handy ans Ohr, mit der anderen griff er nach Toshios Arm, um ihn vom Eingang weg zu führen.

„He! Nicht anfassen!“ protestierte Toshio und versuchte ihn abzuschütteln, was zu einem kleinen Handgemenge führte, in dessen Folge sowohl das Handy als auch Toshio zu Boden gingen. Drei Männer in mittelalterlicher Gewandung eilten herbei, und einen Moment dachte Toshio schon, sie würden sich auf ihn und Laurin stürzen, aber dann ging auf einmal eine Frau dazwischen und redete schnell und französisch auf den Ordner ein. Dann half sie Toshio aufzustehen und ein paar Schritte zur Seite zu gehen. Sie trug ein grün und gelbes Kleid, dessen Ärmel so lang waren, dass sie fast den Boden berührten. Ihr dunkles Haar war in zwei Zöpfe geflochten, die sie zu Schnecken rechts und links am Kopf festgesteckt hatte.

„Ich gehe Pans Lieder Bescheid sagen“, sagte sie auf Englisch.

„Sagen Sie ihnen, dass Toshio Hilfe braucht“, entgegnete Laurin.

„Toshio“, wiederholte sie, und dann verschwand sie genau so schnell im Marktgetümmel wie sie aufgetaucht war.

Fluchend hob der Ordner sein Handy auf und winkte die anderen Besucher durch, ohne die beiden allerdings aus den Augen zu lassen. Ob er mit seinen Kollegen oder mit der Polizei telefonierte, wusste Toshio nicht zu sagen. Vielleicht ging er ja sogar seinem Vorschlag nach und versuchte, jemanden von den Musikern zu erreichen. Aber sein Gesichtsausdruck sah so unfreundlich aus, dass er letzteres für eher unwahrscheinlich hielt.

Ihnen blieb nichts weiter übrig als zu warten.

Der Geruch von gebratenem Fleisch stieg Toshio in die Nase und ließ ihn bewusst werden, wie hungrig er war. Seine Beine wurden ganz schwach, und er ließ sich auf den Grünstreifen am Wegrand sinken. Laurin schien es ähnlich zu gehen, denn er setzte sich neben ihn und sagte: „Hoffentlich haben sie etwas zu essen für uns.“

„Bestimmt. Du wirst sehen. Das sind die nettesten und hilfsbereitesten Menschen, die ich kenne. Gleich haben wir es geschafft“, antwortete Toshio und hoffte inständig, dass es auch wirklich so war.

„Ja“, sagte Laurin, und dann schwiegen sie.
 

Er konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, als er Laurin neben sich zischend einatmen hörte.

„Oh, nein … Sieh jetzt nicht zur Straße, da hält gerade ein Polizeiwagen!“, flüsterte er nervös.

Natürlich warf Toshio trotzdem einen Blick in die Richtung, und tatsächlich: Am Straßenrand stand ein Fahrzeug der Gendarmerie, und gerade öffneten sich die Türen und zwei Uniformierte stiegen aus. Sein Herz begann zu galoppieren, und er wollte aufspringen, aber Laurin fasste ihn am Ärmel und hielt ihn fest.

„Ganz ruhig bleiben! Wir dürfen nicht auffallen“, warnte er, doch das Zittern in seiner Stimme verriet, dass er selbst ebenfalls alles andere als ruhig war. „Und schau da nicht hin – du fällst schon durch dein asiatisches Gesicht auf.“

„Okay ...“ Toshio zwang sich, sich abzuwenden. „Was tun sie?“

Es könnte ja auch sein, dass sie nur irgendeinen Falschparker zur Ordnung rufen wollten. Obwohl eine Wiese als Parkplatz ausgewiesen war, parkten die Leute natürlich auch überall an der Straße, um sich die Parkgebühr zu sparen oder um den Weg abzukürzen.

Aber ihr Vorrat an Glück schien inzwischen aufgebraucht.

„Sie kommen her“, sagte Laurin mit rauer Stimme.

Toshio stöhnte auf. Was jetzt? Was tun? Wohin? Und wie? Seine Gedanken rasten, und er bekam keinen einzigen von ihnen zu fassen.

Laurin war schneller als er. „Du bleibst hier sitzen. Deine Freunde kommen gleich. Ich lenke die Polizei ab.“ Und damit machte er auch schon Anstalten, aufzustehen.

„Nein, Laurin! Nicht!“ Toshio fasste sein Handgelenk und hielt ihn fest.

„Ich habe dich frei gelassen. Sei frei“, sagte Laurin und sah ihn tief an mit seinen grünen Augen.

Und dann riss er sich los und sprang auf in einer einzigen fließenden Bewegung, deren Entschlossenheit Toshios Griff nichts entgegen zu setzen hatte. Einzig Laurins Armband gab nach und blieb an seinen Fingern hängen. Aufrecht und ohne zu zögern schritt er den Polizisten entgegen.

Toshio wollte ihm hinterher, ihn aufhalten, doch als er auf die Füße kam, ließ ihn sein Kreislauf im Stich. Sein Blickfeld schwärzte ein, und seine Beine gaben unter ihm nach.

Das nächste, was er sah, war ein fremdes Gesicht, das sich besorgt über ihn beugte. Ein Frauengesicht, und es formulierte Wörter, die er nicht verstand. Das nachlassende Klingeln in seinen Ohren verriet ihm, dass er ohnmächtig geworden war. Früher kannte er das gar nicht, aber dank Pascal hatte er auf diesem Gebiet reichlich Erfahrung sammeln dürfen. Irgendjemand hielt seine Beine hoch. Auch eine Frau. Vielleicht hatten Frauen weniger Hemmungen, einen stinkenden und schmutzigen Fremden anzufassen. Die andere Frau redete immer noch unverständlich auf ihn ein, aber er erkannte jetzt immerhin schon wieder, dass sie Französisch sprach. Ihr Tonfall änderte sich, als sie bemerkte, wie das Bewusstsein in seine Augen zurückkehrte.

Flucht, Mittelaltermarkt, Polizei. Laurin! Wie lange war Toshio weg gewesen? Er drehte den Kopf und sah Laurin vor den beiden Polizisten stehen. Er stand mit dem Rücken zu ihm und redete anscheinend eindringlich auf sie ein. Es waren große Männer, die den Jungen um einen Kopf überragten. Sie sahen nicht einmal unfreundlich aus, trotz der brutal aussehenden Stiefel und der Schlagstöcke an ihrem Gürtel. Toshio meinte sogar bei einem ein Pistolenhalfter zu sehen. Was sollte er tun, sollte er zu ihm laufen? Was erzählte Laurin ihnen da bloß? Würde es denn helfen, zu ihm zu gehen oder würden sie dann nur beide gefasst werden? Und konnte er überhaupt aufstehen oder würde er nur gleich wieder umkippen?

Während er noch überlegte, führten die beiden Männer Laurin zu ihrem Wagen. Einer der beiden blickte vorher noch aufmerksam zum Eingang des Marktes, und Toshio wandte rasch sein Gesicht zur Seite.

Laurin!, rief er stumm. Warum hast du das getan? Das war falsch! Er musste zu ihm, versuchen, ihn zu schützen! Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch die hilfsbereite Frau schaffte es ohne Probleme, ihn daran zu hindern. Dabei lächelte sie freundlich und sagte etwas Beruhigendes.

Er spürte, wie eine Träne aus seinem Auge lief und hob den Arm, um sein Gesicht zu bedecken, da bemerkte er, dass er noch immer Laurins Kettchen in den Fingern hielt. Beim Anblick von diesem Schmuckstück, zierliche Blattornamente und schwarze glänzende Steine, das er bislang immer nur an Laurins Handgelenk gesehen hatte, konnte er nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken.

„Toshio? Oh, mein Gott“, hörte er eine bekannte Stimme.

Eine ebenso bekannte Gestalt schob sich in sein Blickfeld. Schlank, fast hager, blonder Zopf und blaue Augen, schwarze, sehr weite Stoffhose und ein schwarzes Hemd, das den Blick auf eine unbehaarte Brust offen ließ. Er kniete sofort neben ihm nieder.

„Oliver ...“, flüsterte Toshio schwach.

„Was ist denn mit dir passiert?“

„Hilf mir, bitte. Bring mich hier weg. Schnell.“

„Oh … okay.“

Ohne weitere Fragen zu stellen, half ihm Oliver auf die Beine und stützte ihn. Patricks Bruder war tatsächlich so hilfsbereit, wie Toshio ihn in Erinnerung hatte. Warum war er nur nicht ein paar Minuten früher gekommen? Oliver wechselte ein paar freundliche Worte mit den Frauen, die erste Hilfe geleistet hatten und auch mit dem Ordner vom Eingang. Jetzt, viel zu spät, ließ dieser Toshio passieren.

Obwohl er sich nicht mehr umdrehte, waren Toshios Gedanken die ganze Zeit bei Laurin. Was würde jetzt mit ihm geschehen? Was für eine Strafe erwartete ihn? Würde Doktor Connor ihn weiterhin schützen können? War es falsch, jetzt mit Oliver fort zu gehen und den Jungen allein einer ungewissen und wahrscheinlich grauenvollen Zukunft zu überlassen?

Natürlich ist es falsch, brüllte alles in ihm. Aber Laurin hatte gesagt: Sei frei. Genau deswegen war er den Polizisten entgegen gegangen. Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, er war freiwillig gegangen, und seine Stimme hatte nicht mehr gezittert bei diesen letzten Worten. Er war sich sicher gewesen.

Er hatte sich entschieden, auf welcher Seite er stand.

Und selbst, wenn Toshio mit ihm gemeinsam zurück ginge, würde er ihm nicht beistehen können bei dem, was ihm jetzt bevorstand.

Oder war er einfach nur feige und ließ ihn im Stich? Würde Laurins Bestrafung milder verlaufen, wenn Toshio mit ihm gemeinsam zurück gebracht wurde?

Elin kam ihnen entgegen gelaufen. Ihre langen Locken leuchteten golden in der Sonne und erinnerten Toshio schmerzlich an Laurins Haare. Sie war im Bühnenoutfit, trug ein langes, figurbetonendes Kleid und hatte Bänder und Blüten in ihr Haar geflochten.

Sie stutzte, als sie sie sah und schaute suchend an ihnen vorbei.

„Bist du allein?“ fragte sie außer Atem und ohne Begrüßung. „Wo ist der andere?“

„Welcher andere?“ fragte Oliver.

Toshio wagte jetzt doch noch einen Blick zurück. Er sah gerade noch den Wagen aus seinem Sichtfeld verschwinden. Er meinte, Laurin auf der Rückbank gesehen zu haben. Goldenes Haar.

Du bist so mutig, sandte er ihm in Gedanken hinterher. Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne. Viel mutiger als ich. Ich werde deinen Wunsch erfüllen. Frei sein.

„Da ist keiner mehr“, sagte er heiser. „Ich bin allein.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Ihr Lieben
und Entschuldigung, dass ich für dieses Kapitel so lange gebraucht habe. Umso dankbarer bin ich für Eure Geduld, für Eure Ermutigungen und Kommentare, dich mich immer wieder zum Weiterschreiben motiviert haben. Danke!
Ich hoffe, es gefällt Euch auch weiterhin und Ihr bleibt trotz der langen Wartezeiten daran interessiert, wie es mit Toshio und Laurin weiter geht. Ich werde mich bemühen, die nächsten Kapitel wieder etwas kürzer zu schreiben, damit es schneller weiter geht.
Wie immer: Sollten Euch Fehler auffallen, immer her damit! In diesem Kapitel werden sicherlich einige sein ... Mit dem Korrektur-Lesen war ich etwas schluderig, weil ich es unbedingt vor Ostern noch hochladen wollte.
Schöne Ostern Euch allen! *hugs*
Eure Jin Komplett anzeigen

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Von:  Helot
2024-05-12T22:46:01+00:00 13.05.2024 00:46
Kann leider die weiteren Kapitel nicht lesen, obwohl ich registriert bin und meine Volljährigkeit verifiziert habe. :-/ Hat da jemand einen Rat?
Von:  Lumium
2022-04-26T21:48:53+00:00 26.04.2022 23:48
Heyy,
Ich muss jetzt einfach auch mal einen Kommentar schreiben. Ich liebe diese Geschichte! Es ist in den letzten 4 Jahren fast ein Ritual dass ich 3-4 mal im Jahr an diese Geschichte denke und sie wieder lesen muss. Womöglich ein wehnig obssesiv aber ja. Ich finde sie ist so unfassbar gut geschrieben, besonders die gedanken der Charaktere, und deren gefühlswelt, und der langsame verfall und nicht verfall von Toshio. Besonders dieses werk hat mich selbst motiviert anzufangen zu schreiben. Ich weiß es ist inzwischen 6 Jahre her das dieses Kapitel herausgekommen ist. Ich gebe die Hoffnung auf eine fortsetzung aber trotzdem nicht auf :D
LG Lumium
Antwort von:  Touki
02.05.2022 09:11
Dem kann ich mich nur anschließen und ich hatte schon befürchtet, dass ich die Einzige bin :D Ich hoffe auch so sehr, vor allem nach dem letzten Kapitel, dass es weiter geht <3
Von:  ReinaDoreen
2022-01-31T17:36:48+00:00 31.01.2022 18:36
Schreibst du denn noch weiter?
LG reni
Von:  Schatz2683
2017-09-21T13:15:35+00:00 21.09.2017 15:15
Hallo Jinshin herzlichen Dank für diese außergewöhnliche ,spannende,herzzerreißende Geschichte.habe sie jetzt bereits zum dritten Mal gelesen,und brauche immer ein paar Tage um wieder ruter zu kommmen .Warte jetzt schon so lange auf eine schöne Fortsetzung bitte ,bitte schreib uns noch ein paar schöne Kapitel. Liebe Grüße
Von:  Liescha
2017-06-16T23:03:54+00:00 17.06.2017 01:03
Huhu,

Hab gerade aus Verzweiflung die Story nochmal angefangen zu lesen. Es ist jetzt über ein Jahr her. ...meinst du, du wirst sie fortsetzen?
Antwort von:  JinShin
04.09.2017 13:49
Sie wird auf jeden Fall noch weiter fortgesetzt, nur wann weiß ich leider nicht. Schreiben geht immer noch nicht. *seufz*
Aber ich habe das nächste Kapitel jetzt aus einer anderen Perspektive angefangen, schreibe häppchenweise daran und hoffe, dass ich so wieder rein komme.
Eigentlich würde ich gerne dieses Jahr noch das Kapitel hochladen. Vielleicht als Weihnachtsgeschenk?
Von:  Meggal
2016-10-31T21:03:21+00:00 31.10.2016 22:03
Hallo JinShin,

ich weiß, ich habe mich bisher noch nicht zu Wort gemeldet (glaub ich zumindest^^'), Asche auf mein Haupt.

Ich verfolge deine Geschichte jetzt auch schon etwas länger und bin jedes Mal gefesselt, wenn ein neues Kapitel rauskommt. Ich bin jetzt echt froh, dass Toshio frei ist und bin gespannt, wie es weitergeht.

Ich hab grade in deinem Weblog gelesen, dass du am Schreiben bist. Da das bereits im Mai war, wollte ich einfach mal nachfragen, wie es inzwischen aussieht. Ich bin nämlich echt gespannt ;)

Lg,
Meggal
Antwort von:  JinShin
16.11.2016 00:10
Asche auf mein Haupt ...
Es geht leider nur kläglich voran. Pascal wollte nicht, Toshi sträubt sich ebenso.
Vielleicht muss ich aus einer ganz anderen Perspektive weiter machen. *?*
Aber es wird weiter gehen, versprochen! Ich hab noch so viele Ideen! Und ich kann ja auch Laurin nicht alleine lassen, n'est-ce pas?
Antwort von:  Meggal
18.11.2016 14:10
Oh je, die beiden sind aber auch stur ;)

Jaa, manchmal kann ein Perspektiven-Wechsel ganz sinnvoll sein^^
Sehr gut, das war es, was wir alle hören wollen ;) Vielen lieben Dank für deine Rückmeldung! Und pass mir bitte auf Laurin auf, er ist, um ehrlich zu sein, mein Lieblings-Charakter.
lg
Von:  Liescha
2016-08-25T15:09:49+00:00 25.08.2016 17:09
So viel spannung! Nichts für meine nerven.!
Ich bin so erleichtert, dass toshio frei ist und hoffe sehr, es bleibt so.
Bitte lad bald wieder hoch. Ich kann es kaum erwarten
Von:  me-luna
2016-04-16T19:54:49+00:00 16.04.2016 21:54
Danke für dieses heftige, starke, wunderschön geschriebene Kapitel, liebe Jin. Toshio und Laurin überwinden hier alle Grenzen und riskieren für ihr Leben den grausamen Tod. Habe mit Beiden bis zur letzten Seite mitgefiebert und das Ende ist wirklich grausam. Bin so gespannt, wie es weitergeht und hoffe irgendwie doch noch auf einen Wink des Schicksals oder auch des Krafttiers für Laurin. Die Geschichte ist wie das Eintauchen in eine unglaublich lebensverachtende, aber so verdammt realistisch anmutende Welt. Danke für dieses Kapitel und sitze hier bis zum nächsten Kapitel mit gedrückten Daumen. Dir ganz viel Muse und immer eine schöne Zeit.
Von:  SakuraxChazz
2016-04-16T19:34:38+00:00 16.04.2016 21:34
Halli hallo^^

Da ist Laurin und Toshio also die Flucht mehr oder weniger geglückt. War natürlich nicht so geschickt, das mit dem Auto. Aber sonst hat Laurin das echt gut ausgearbeitet.
War schon faszinierend zu beobachten wie sich da die Rollen vertauscht haben. Erst war sich Toshio so sicher wegen dem flüchten und dann war es sich Laurin. Da hat er ihm mal erfolgreich ins Gewissen geredet und hätte 'Erfolg' gehabt und will es gar nicht mehr.
Das mit den Versuchssklaven war echt heftig. Das so live mal mitzukriegen. Den Einkauf haben wir ja schon erlebt, aber wie es da dann so unter realen Bedingungen ist... Es schüttelt mich noch immer.
Ich hab mich ja auch schon die ganze Zeit gefragt wann das mit Pans Liedern kommt. Das ist ja vorher schon erwähnt worden, das sich da um Frankreich bemüht wurde und dann ist es so gut aufgegangen.
Ich bete für Laurin, das seine Strafe nicht zu heftig ausfällt. Er wird wohl nie wieder einen Fuß alleine raussetzen dürfen. Hoffentlich macht Pascal jetzt nicht wahr, wofür er Laurin eigentlich hat ausbilden lassen. Diese Selbstheilungsgeschichte. Das wäre die ultimative Strafe für Raven und Laurin. Weil Raven wird es sicherlich auch erwischen. Ohne seine 'mangelhafte' Erziehung äre Laurin nicht abtrünnig geworden.
Aber ich denke mal das Pascal schnell rausfinden wird wo Toshio ist. Die Polizisten sind ja nicht doof. Auch wenn sie nicht mitbekommen haben das da eine zweite Person war, wird Pascal recherchieren was da war. Hat er nicht auch ein wenig recherchiert gehabt wie es um Toshios Freundeskreis bestellt ist? Einfach um Toshio auch besser erpressen zu können und um die Absicherung zu haben, das kaum einer oder zumindest niemand der ihm krumm kommen kann, das man ihn nicht verfolgt.
Stilistisch wieder sehr schön geworden^^ Hat mich gefreut das Kapitel lesen zu können.

LG Saku^^
Von:  ayla45
2016-04-14T06:19:13+00:00 14.04.2016 08:19
hi,
deine geschichte ist der wahnsinn. du schreibst so gut das man nicht mehr aufhören kann zu lesen. und vor allem leidet man so mit. ich wünsche pascal das er das alles mal selbst erleiden muß, was er anderen antut. jetzt kann ichs nicht abwarten bis das neue kapitel kommt. und bitte schreib so weiter.
mit lieben grüßen
ayla45


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