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Korona, Stein des Feuers

von

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Eine unangenehme Ankündigung

„Justin, bist du da? Geh mal bitte ans Telefon, wenn du da bist… ja, okay, ich merke schon, du bist nicht da. Komm bitte um vier in die Eisdiele, ich muss dir was sagen“, ertönte die vertraute Stimme Melodys aus dem Anrufbeantworter.

Justin musterte fragend die Uhr, die über seinem Schreibtisch hing und seufzte Schicksalsergeben. Es war nach Acht, sie war garantiert schon lange wieder zu Hause und schmollte vor sich hin. Dabei konnte er ausnahmsweise nicht einmal etwas dafür. Er hatte schon um drei zu Hause sein wollen, nicht zu letzt, um zu lernen, da am nächsten Tag eine Prüfung anstand, doch seine Mutter hatte ihn, allen Protest zum trotz, zum Babysitten bei seiner Schwester abgestellt.

Als Lizzie dann endlich an seine Schwester hat weitergeben können, hatte Nadja ihn angerufen und erst mal ordentlich Panik gemacht, sodass er zum Stall gefahren war um dort festzustellen, dass das Mädchen schlicht Langeweile gehabt hatte. Als er dann endlich zu Hause angekommen war, ist seine Mutter der Ansicht gewesen, das er doch mal ein wenig im Haushalt helfen konnte.

Alles Murren hatte nichts gebracht, Gartenarbeit war angesagt. Und jetzt, als er endlich sämtliche Bete von Unkraut und Blumen befreit hatte, war in sein Zimmer hinaufgegangen und hatte diese Bandaufsage anhören können. Mit einem Seufzen warf er das Gramatikbuch aufs Sofa und nahm sich das Telefon vor.

Es war ein altes Ding, noch mit Wählscheibe, aber es war Justins ganzer Stolz. Er selbst hatte den Anrufbeantworter angeschlossen, nachdem er das Uraltteil auf einem Flohmarkt ergattert hatte. Seine Freunde machten sich regelmäßig über das Ding lustig, doch das ignorierte er schlicht. Er setzte sich auf den Sessel, der ihn als Schreibtischstuhl diente und während es in der Leitung klingelte, begann er damit, seinen Schreibtisch aufzuräumen.

Ja, das war seine größte Unart, sobald er ein Telefon in der Hand hatte, musste er irgendetwas aufräumen. Einzig zu diesem Zweck hatte seine Mutter seinerzeit ein schnurloses Telefon besorgt gehabt und sich bei der Nachbarin zum Kaffee hingesetzt, und ihn so lange am Telefon gehalten, bis das Haus geglänzt hatte.

Irgendwann war Justin dazu übergegangen, einfach aufzulegen, sobald seine Mutter diese Taktik wieder einmal verfolgen wollte. Und doch, er konnte es sich nicht abgewöhnen. Das war einer der Hauptgründe, warum er sich niemals ein schnurloses Telefon angeschafft hätte, doch jetzt war es nicht nur das Ding in seiner Hand, das ihn nervös den Schreibtisch aufräumen ließ.

Es dauerte eine ganze weile, bis sich endlich jemand dazu herabließ, abzunehmen.

„Ja?“

Die Stimme von Shadow. Sie hörte sich genervt an.

„Hi Shadow, stör ich?“, fragte er.

„Ja“, fauchte das Mädchen in den Hörer. Ja, Justin hatte sogar ziemlich konkrete Vorstellungen, wobei. Das es nichts mit der Gramatikarbeit am nächsten Tag zu tun hatte, dessen war er sich sicher.

„Ist Melody zu da?“, fragte er, ein Lachen mühsam unterdrückt.

„Shadow, wer ist den das?“, kam es murrend aus dem Hintergrund. Eine männliche Stimme. Timo, sein bester Freund, der nebenher Justins Vermutung bestätigte. Er biss sich auf die Lippen. Er konnte es fast schon vor Augen sehen, wie Shadow unwillig mit der freien Hand in seine Richtung wedelte, zum Zeichen, das er still sein sollte.

„Ja, ist sie, aber sie will nicht mit dir sprechen“, antwortete sie.

„Okay. Sag ihr bitte von mir, dass das ausnahmsweise mal nicht meine Schuld war, das ich nicht da gewesen bin“, bat Justin sie und dann konnte er es sich einfach nicht verkneifen und fügte hinzu: „Und mach Timo nicht allzu sehr fertig. Wir schreiben morgen die Abschlussarbeit, vergiss das nicht.“

Bevor sie noch etwas erwidern konnte, hatte er schon aufgelegt. Leise vor sich hinlachend verließ er sein Zimmer und lief die Treppe hinab in die Küche. Seine Mutter saß hier und kochte das Abendessen.

„Soll ich helfen?“, fragte Justin und setzte sich an den Tisch.

„Nein, es ist eh gleich fertig“, winkte Ginny ab und setzte sich zu ihren Sohn und schaute ihn eine weile mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an. Sie schien mit sich zu ringen und Justin verging langsam das Lachen. Seine Mutter wollte ihm etwas sagen, und es war nichts angenehmes, sonst würde sie es schnell einfach gerade heraus sagen.

„Was ist?“, fragte er leise und fühlte sich unwillkürlich in die Vergangenheit versetzt.

„Ach, man, warum kann Moritz dir so was nicht sagen“, murmelte Ginny unwillig.

„Mam, was ist los“, forderte Justin nun mit Nachdruck und machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst.

„Nun, deine Cousine kommt zu besuch und wird das ganze Jahr über bleiben“, erklärte Ginny dann und seufzte erleichtert.

Justin dagegen starrte sie fassungslos an. Er hatte mit einem Unfall gerechnet, mit Todesfällen in der Familie, und dann kam seine Mutter mit solch einer Kleinigkeit?

„Das ist alles?“, fragte mit einem schrillen Quietschen in der stimme.

„Ja, was hast du den gedacht?“, fragte sie verdutzt.

„So, wie du dich eben angestellt und geguckt hast, hab ich gedacht, dass jetzt Katastrophe pur kommt, aber doch nicht mit so einer Nichtigkeit! Ach man, das hättest du aber auch leichter machen können“, beschwerte er sich lautstark, war zugleich aber unendlich erleichtert, das seine Mutter wegen praktisch gar nichts Panik machte.

Er mochte Robin zwar nicht sonderlich und daraus hatte er nie einen Hehl gemacht, aber er hatte ja hier wenigstens seine Möglichkeiten, ihr aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war sie mittlerweile auch nicht mehr so unausstehlich, wie einst. Als er sie das letzte mal getroffen hatte, war er vierzehn gewesen und hatte ungleich lieber alleine durch die Gegen streifen wollen, doch die Erwachsenen hatten darauf bestanden, das er die damals Zwölfjährige überall mithin nahm, wie die male davor auch.

Das hatte natürlich nicht dazu beigetragen, dass Justin sie sonderlich gemocht hatte. Im folgendem war er jedem Besuch bei seiner Tante nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen, hatte sich krank gestellt oder ähnliches.

„Warum kommt sie den her, und warum gleich für ein ganzes Jahr?“, fragte Justin plötzlich.

„Weil meine Schwester für ein Jahr ins Ausland muss, und sie kann Robin nun einmal nicht so lange alleine lassen, und mitnehmen kommt auch nicht in Frage“, antwortete Ginny, „Sie wird hier zur Schule gehen, auf deine Schule ums genau zu machen, und ich erwarte, das du zu ihr wenigstens etwas freundlich bist, und ihr zumindest ein wenig hilfst.“

„Und wo schläft sie?“, erkundigte sich Justin weiter, ohne auf die Erwartungen seiner Mutter einzugehen. Er war ja kein Unmensch, natürlich würde er ihr helfen, selbst wenn seine Mutter das nicht extra erwähnt hätte.

„Bei dir oben“, antwortete Ginny und als sie Justins aufkeimenden Protest sah, fügte sie mit einem Lächeln hinzu: „Nein, du musst ihr natürlich weder dein Schlafzimmer überlassen, noch dein Wohnzimmer. Das Gästezimmer reicht ihr vollkommen.“

Justin sah nur mäßig beruhigt aus, aber er sagte nichts weiter dazu. Es hätte eh nichts gebracht, wenn er jetzt protestiert hätte. Es war schon alles beschlossene Sache, das sagte ihm die Tatsache, dass sie hier zur Schule gehen würde.

„Ach so, und würdest du dich bitte erkundigen, ob in deinem Stall noch eine Box frei ist? Sie hat nämlich auch ein Pferd, und das kommt ebenfalls mit hierher“, fiel Ginny noch ein.

„Der Gästestall ist fast leer, da muss ich nicht fragen. Das Finanzielle musst du aber mit Tobi abklären“, antwortete Justin. Dann viel ich plötzlich was ein.

„Dann muss ich aber doch bestimmt nicht mehr Babysitten, oder? Dann darf das doch bestimmt überwiegend Robin machen, oder?“

Ginny dachte einen Augenblick nach, dann nickte sie zögernd.

„Kommt drauf an, wie zuverlässig sie ist. Ich habe sie ja auch schon lange nicht mehr gesehen. Und natürlich nur, wenn Helen zustimmt“, schränkte sie aber sogleich ein.

Justin nickte zufrieden. Wenigstens ein Gutes würde der Besuch dann haben.

Ginny stand wieder auf und schaute, ob das Essen mittlerweile gar war.

„Deckst du bitte den Tisch?“, bat sie ihren Sohn.

„Wann kommt sie eigentlich?“, erkundigte der sich und holte Teller aus dem Schrank.

„Morgen“, antwortete seine Mutter und goss das Wasser der Kartoffeln ab.

Justin blieb wie angewurzelt stehen.

„Toll, das du mir so früh bescheid gibst“, knurrte er unwillig.

Ginny lachte.

„Nun, ich hatte mit einem Tobsuchtsanfall gerechnet“, erklärte sie augenzwinkernd.

Ihr Sohn antwortete darauf nichts, sondern deckte den Tisch zu Ende. Dann setzte sie sich beide hin und aßen.

Robins Ankunft und Vorbereitungen

„Was hat sie denn für ein Pferd?“, erkundigte sich Nadja neugierig.

Justin zuckte mit den Achseln und warf den Striegel gekonnt in den blauen Kasten, in dem er die Putzutensilien aufbewahrte.

„Ich habe bis gestern nicht einmal gewusst, dass sie weiß, was ein Pferd ist, geschweige den, dass sie eines hat“, antwortete er gehässig und nahm den Hufkratzer zur Hand. Nadja lacht und zog das Stroh aus der Mähne ihres Isländers Max.

„Ich hoffe nur, dass es sich mit Angel versteht, sie ist ja nun wirklich keine leichte Nachbarin“, meinte sie nachdenklich.

„Oh, Angel hat aber unheimliche Ähnlichkeit mit ihrer Besitzerin, finde ich“, grinste Justin unter den weißen Bauch seines eigenen Pferdes, Sternentänzer, hindurch. Abermals lachte Nadja.

„Wo du recht hast, hast du recht“, nickte sie und holte den Gartenschlauch um den Isländer eine kleine Dusche zu gönnen. Der genoss das kalte Wasser sichtlich.

»Ich will auch«, erklärte Sternentänzer dem rothaarigen Jungen.

Ja, Justin verstand, was der junge Hengst sagte. Er verstand jede Sprache, auch wenn er nicht jede sprechen konnte.

„Wenn ich fertig bin“, wies Justin seine bitte ab und trat auf die andere Seite um die anderen beiden Hufe auszukratzen.

„Und wann kommen sie?“, erkundigte sich Nadja weiter. Sie wusste, das nicht sie gemeint war, den sie wusste, das Justin die Sprache der Tiere verstand. Mittlerweile überging sie so etwas meistens.

„Ich habe keine Ahnung, meine Mutter meinte einfach nur, das sie heute irgendwann kommen, im laufe des Tages“, antwortete Justin.

„Na, dann bin ich ja gespannt. Wir kriegen übrigens heute noch ein neues Gastpferd“, informierte Nadja.

„Ja? Von wem?“, wollte der Rotschopf sogleich wissen.

„Das Pferd von dem Australier, Hunter. Die Familie aus Down Under, die Anfang der Ferien her gezogen ist. Er sieht übrigens nicht schlecht aus“, erklärte Nadja und grinste.

„Er wirkt auch ziemlich nett, ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit ihm zu unterhalten. Sie haben Schafe gezüchtet, oder?“, erkundigte sich Justin.

„Jap. Und eines der Pferde haben sie halt mitgenommen. Ein hübsches Tier, ich hab ein Foto gesehen. Cremefarbenes Fell, dunkelbraunes Langhaar, dunkle Fesseln und Nüstern“, erklärte Nadja und zielte nun mit dem Schlauch auf Sternentänzer. Justin trat zur Seite und warf auch den Hufkratzer in den Putzkasten.

„Ich bin echt gespannt, auf beide“, meinte er und beobachtete, wie sein Hengst sich wohlig streckte. In dem Augenblick fuhr ein Auto samt Pferdehänger auf den Hof. Kaum war der Wagen zum Stehen gekommen, als auch schon seine Cousine aus dem Auto sprang und sich suchend umschaute. Auf der anderen Seite stieg seine Tante aus und blickte sich ebenfalls suchend um.

„Ich geh Papa holen“, meinte Nadja und drehte den Schlauch zu.

»Was soll das den?«, entrüstete sich Sternentänzer und blicke ihr fassungslos hinterher.

„Deine Dusche geht nachher weiter, Dicker“, antwortete ihm Justin, dann ging er zu seiner Tante.

„Robin, Tante Anna“, begrüßte er seine Verwandten und betrachtete beide eingehend.

Seine Tante hatte sich nicht viel verändert, ihr braunes Haar war kürzer geschnitten und einige Falten bildeten sich um die Mundwinkel, aber ansonsten sah sie so aus, wie Justin sie in Erinnerung hatte. Robin dagegen hatte sich ziemlich verändert. Ihre Haare waren rotbraun gefärbt, an den Spitzen jedoch schwarz, sie war etwas größer und viel schlanker geworden. Sie wirkte viel erwachsener, als Justin sie in Erinnerung hatte. Aber er hatte sie auch vier Jahre lang nicht gesehen, und mit sechzehn war man nun einmal erwachsener, als mit zwölf.

Beide Frauen betrachteten ihn derweil mindestens ebenso eingehend. Auch er hatte sich um einiges verändert, und so erkannten sie ihn nicht augenblicklich.

„Oh Gott, Justin! Ich hab dich fast nicht wieder erkannt!“, begrüßte ihn seine Tante mit großen Augen, „Du bist so erwachsen geworden!“

Justin lächelte leicht.

„Bin ja auch schon ein paar Jahre älter, als damals“, meinte er und deutete dann auf den Hänger: „Das Pferd?“

„Ja, da ist mein Pferd drinnen“, nickte Robin und zusammen mit Justin öffnete sie den Hänger.

„Was machst du den ausgerechnet auf einem Reiterhof?“, fragte sie ihn neugierig.

„Mich um mein Pferd kümmern. Der Schimmel, der da hinten angebunden ist, der gehört mir“, erklärte Justin und deutete auf Sternentänzer, der neugierig in ihre Richtung schaute.

»Kommt da ein Neuer?«, fragte er neugierig.

Justin nickte fast unmerklich, trat dann ein paar Schritte zurück, während seine Cousine ihr Pferd hinausführte. Ein Fuchs, größer als Sternentänzer, mit weißen Fesseln und einem weißen Stern auf der Stirn. Neugierig blickte er sich um.

„Du hast echt ein Pferd? Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen“, meinte derweil seine Cousine.

„Brauchst du dir auch nicht vorstellen, immerhin siehst du es ja“, bemerkte Justin und beobachtete, wie seine Tante mit Nadjas Vater, Tobi, zu sprechen begann. Nadja derweil trat an Justins Seite und musterte den Fuchs eingehend.

„Hübsch, aber ich finde ihn zu groß“, kommentierte sie, was sie sah.

Justin ruckte undeutlich den Kopf und wedelte mit der Hand, was er damit allerdings sagen wollte, wusste er selbst nicht.

„Wo ist seine box?“, wollte Robin wissen.

„Komm mit“, meinte Justin und ging in Richtung der Stallungen, bevor er jedoch eintrat, band er Sternentänzer los und deutete dem Hengst mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Ihm war es zu lästig, das Tier zu führen und die Tiere taten auch so, was er wollte, wenn er sie nur lieb darum bat.

»Wer bist du?«, erkundigte sich Sternentänzer neugierig bei dem Fuchs.

»Ich bin Kasimir«, stellte sich der Fuchs vor. Definitiv ein männliches Tier, aber so wie er seine Cousine kannte, ein Wallach. Mit einem Hengst würde sie nicht klarkommen.

»Mein Name ist Sternentänzer. Du bist der neue hier, ja? Der neben meine Mutter einzieht?«, bohrte der junge Hengst gleich weiter.

»Das weiß ich nicht, ich kenne deine Mutter nicht«, antwortete Kasimir.

„Die Box“, sagte Justin zu Robin und deutete auf eine leere Box. Er ging an der Box von Angel vorbei und öffnete die auf der anderen Seite, die ebenfalls leer war. Ohne zu zögern trat Sternentänzer ein und begrüßte seine Mutter Angel.

»Eine hübsche Fellfarbe«, kommentierte diese sofort und widmete sich dem Neuankömmling.

»Finden sie?«, wollte Kasimir sogleich begeistert wissen.

Angel bejahte und sogleich waren sie, ihr Sohn und der Fuchs in einem Gespräch vertieft.

Justin jedoch hörte nicht weiter zu, sondern stellte Nadja und seine Cousine einander vor, dann gingen die drei wieder hinaus, wo Tobi und seine Tante immer noch eifrig miteinander tratschten.

„Er steht neben Angel, und sie hat ihm nicht gleich ein Ohr abgebissen“, erstattete er unaufgefordert Bericht.

„Gut, bei der schwarzen Zicke kann man sich ja nie so sicher sein“, nickte Tobi.

Robin runzelte viel sagend die Stirn, sagte dazu aber nichts, stattdessen zog Justin sie sogleich wieder mit sich und begann damit, ihr alles Sehenswerte zu zeigen. Nadja begleitete sie dabei nicht, sie machte erst Max fertig und erfüllte dann ihre täglichen Pflichten, während Justin und Robin nach einer Stunde wieder zu Anna zurückkehrten.

„Wir müssen mal langsam weiter fahren“, bemerkte diese mit einem Blick auf die Uhr.

„Stimmt, meine Mutter wartet sicher schon ungeduldig. Bis später dann“, meinte Justin und wollte wieder in den Stall laufen, doch seine Tante pfiff ihn wieder zurück.

„Willst du nicht gleich mitkommen?“, fragte sie verwirrt.

„Nein, ich muss noch etwas vorbereiten. Wenn überhaupt sehen wir heute spät abends oder morgen früh oder so. Ich weiß nicht, wann ich wieder nach Hause komme“, erklärte Justin und zog einen Korb aus dem Winkel zwischen der ersten Box und der Stalltür.

„Bis später dann!“, rief er seiner Tante und seiner Cousine noch zu, dann lief er die Stallgasse hinab, bis er bei Sternentänzer ankam.

„So, mein Kleiner, jetzt kriegst du etwas Bewegung“, sagte er zu Sternentänzer und öffnete die Boxentür. Während der Hengst auf die Stallgasse trat, nahm Justin das Zaumzeug und zog es dem Hengst gekonnt über die Ohren. Während der Schimmel schon hinaus trabte, nahm er den Korb und folgte langsam. Vor dem Stall schwang er sich gekonnt auf den Rücken des Tieres.

„Wo willst du denn bitte jetzt mit Sternentänzer hin, wo deine Verwandtschaft da ist?“, erkundigte sich Nadja verwirrt, als sie ihn sah.

„Meine kleine Überraschung für Melody vorbereiten. Ich hoffe, dass sie nachher auch mit mir spricht, wenn ich sie abhole“, antwortete Justin, nahm die Zügel in die eine Hand und hielt mit der anderen den Korb fest.

„Wieso, ist sie mal wieder sauer auf dich?“, hakte Nadja breit grinsend nach.

„Ja. Bist nachher dann, tschüss“, verabschiedete sich der Rotschopf und ließ den Hengst in einem schnellen Galopp vom Hof sprengen.

Sternentänzer kannte den Weg und so ließ Justin ihn einfach laufen, beeinflusste ihn weder in Richtung, noch in Geschwindigkeit. Obwohl er schnell unterwegs war, dauerte es über eine Stunde, bis er dort angelangt war, wo er hin gewollt hatte. Ein versteckt liegender See inmitten der gebirgigen Landschaft um den Ort herum.

Es war ein wundervoller Ort, fernab jeder Straße. An manchen Stellen standen die Bäume schon im Wasser, das Gras reichte an jeder Stelle bis ans Ufer. Das Wasser selbst war kristallklar selbst an der tiefsten Stelle konnte man den Boden erkennen, der übersäht war, von Milliarden weißer Kieselsteine, die funkelten, wie kostbare Edelsteine.

Justin war gerne hier, der Ort hatte etwas Magisches an sich. Vielleicht war es auch so. Er hatte in den vergangen Jahren gelernt, dass Magie nicht etwas war, was man sich ausdenkt. Sie ist genauso wirklich, wie das Sonnenlicht, das des Tages das Land erhellt, und das Sternenlicht, das diese Aufgabe in der Nacht erfüllt. Er stellte die Gegenstände, die gekühlt werden sollten, ins seichte Wasser am Ufer, den Korb in den Schatten eines besonders großen, alten Baumes.

„Meinst du, sie wird sich freuen?“, fragte Justin leise.

»Ich weiß nicht. Mir würde es nicht gefallen«, antwortete ihm Sternentänzer.

„Das war mir klar, ein Haufen Hafer wäre die lieber“, brummte Justin unwillig.

»Dann frag mich auch nicht«, fauchte der Hengst.

„Die Frage war ja auch nicht an dich gerichtet“, konterte Justin giftig.

»Ach, war ich gemeint?«, fragte die Stimmes seines Zwillingsbruders Jerry in seinem Kopf. Die beiden Brüder konnten miteinander reden, selbst wenn sie sich, so wie jetzt, nicht einmal in der gleichen Welt aufhielten. Ebenso konnten sie in den Erinnerungen des jeweils anderen lesen, wie in einem offenen buch. Selbst Schmerz teilten sie miteinander.

Das hatte sich auch nach ihrem kurzweiligen Ausflug ins Totenreich, am Ende ihres großen Abenteuers nicht geändert. Dort hatte sich ihre Seele endgültig aufgespaltet, sodass sie nicht eine Seele in zwei Körpern waren, sondern jeder nun seine eigene Seele besaß. Ihrer Verbindung hatte das jedoch keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Manchmal hatte Justin das Gefühl, das ihre Verbindung stärker war, als jemals zuvor.

„Nein, der Weihnachtsmann“, knurrte er leicht missgelaunt.

»Wie oft den noch, Bruderherz, du brauchst es nicht aussprechen, wenn du mit mir sprechen möchtest. Im Gegenteil, ich habe mir mittlerweile angewöhnt, dann gar nicht zuzuhören, weil ich dann eh nicht gemeint bin«, moserte Jerry. Das war das übliche Streitthema der beiden, doch Justin hatte im Moment keine Lust, auf diese Auseinandersetzung.

„Du wusstest ganz genau, das du gemeint warst“, knurrte er unwillig, winkte dann aber ab, „Ist auch egal. Antworte mir lieber. Meinst du, das es ihr gefallen wird?“

Jerry dachte einen Augenblick lang nach.

»Ich bin mir fast sicher. Sie ist gerne draußen, hatte sie in ihrer Jugend ja nicht gerade oft zeit für so was, und ich hatte immer das Gefühl, das sie diesen See sowieso unheimlich gerne mag…«, wieder überlegte er einen Augenblick, »was auch viel damit zu tun haben könnte, wofür ihr die abgeschiedenen Einsamkeit bevorzugt nutzt.«

Justin konnte das breite Grinsen auf dem Gesicht seines Bruders regelrecht sehen, auch wenn sich Jerry im Moment nicht unbedingt in seiner Nähe aufhielt, und als Falke sowieso nicht grinsen konnte.

Er hatte immer noch keinen Gegenzauber gefunden, obwohl er schon seid einer halben Ewigkeit suchte. Den Fluch eines Gottes aufheben war nun einmal nicht so einfach, wie man es sich vielleicht vorstellen mochte, und so würde Jerry vermutlich auch noch die nächsten Jahrzehnte in dieser Gestalt ausharren müssen.

Auch wenn er sich mittlerweile mit seinen Flügeln angefreundet hatte. Die scharfen Augen und die Fähigkeit zu Fliegen, waren zumindest ansatzweise ein passabler Tausch zu seinem menschlichen Körper.

„Du weißt ganz genau, dass dich das nichts, aber auch wirklich gar nichts angeht!“, knurrte Justin wütend.

»Natürlich weiß ich das, aber du regst dich dann immer so schön auf«, antwortete Jerry, und wieder meinte Justin sein breites Grinsen zu sehen.

„Ach, halt die Klappe“, antwortete Justin genervt und kletterte wieder auf den Rücken des Schimmels, um zurück zu reiten.

»Hey hey, jetzt mal halblang, Justin! Du wolltest doch, das ich etwas sage!«, rief Jerry.

„Jetzt sollst du aber nichts mehr sagen“, knurrte sein Bruder unwillig und genervt.

Auch auf dem Rückweg überließ er es Sternentänzer, Geschwindigkeit und Weg zu bestimmen, und so brauchte er auf den Weg hinab ins Tal fast genauso lange, wie auf dem Weg hinauf. Beim Stall angekommen wurde es dann auch schon Zeit, das er sich fertig machte und so ließ er den Schimmel bloß schnell auf die Weide, die unmittelbar an den Stallungen angrenzte und lief zu der Bushaltestelle, die ganz in der Nähe des Reiterhofs stand.

Er hüpfte in den Bus, der gerade hielt und fuhr nach Hause. Er wollte seine Freundin nicht unbedingt in den gleichen Klamotten abholen, indem er ein paar Stunden zuvor Ställe gemistet und geschwitzt hatte. Leise schloss er die Tür auf und huschte ins obere Stockwerk, ohne, das irgendwer von seiner Ankunft Notiz genommen zu haben schien.

Seine Mutter, seine Tante und Robin saßen im Wohnzimmer vorm Fernseher und schauten irgendeine Sendung, doch niemand schaute auch nur in seine Richtung, als er vorbeiging.

Leise stieg er ins Obergeschoß und ging in sein höchsteigenes Badezimmer. Überhaupt war das obere Stockwerk fast als seine eigene Wohnung anzusehen. Es gab nicht nur das Bad, sondern auch eine voll ausgestattete Küche, die aber nahezu nie in Benutzung war, ein Wohnzimmer und noch einige andere Räume, die Justin für sich erobert hatte.

Seine Mutter kam nur hinauf, wenn sie etwas von ihm wollte, aber er nicht hinunter kam. Während er sich seiner Kleider entledigte, ließ er das Wasser schon ein wenig laufen. Es dauerte immer einige Minuten, bis es warm wurde, und da er sich nicht unter den eiskalten Strahl stellen wollte, selbst an so einem warmen Tag nicht, ließ er es immer laufen, während er sich auszog und neue Klamotten aus seinem Schrank holte, und zwar in genau dieser Reihenfolge, weswegen sich seine Schwester strikt weigerte, das obere Stockwerk zu betreten. Einmal den kleinen Bruder nackt durch die Gegend laufen sehen hatte ihr vollkommen gereicht.

Justin hatte das gar nicht gestört, Jerry sei dank hatte er mittlerweile ein ziemlich dickes Fell, was so was anbelangte. Und auch Robin würde ziemlich schnell begreifen, dass man besser nicht durch die Gegend geisterte, wenn das Wasser im Bad lief.

Schnell hatte er eben jene Kleider gefunden, die er am Abend tragen wollte, und ungestört war er wieder ins Bad gelaufen. Rücksichtsvollerweise schloss er sogar die Tür ab, was er sonst nicht tat, und prüfte, ob das Wasser mittlerweile warm war, dann stellte er sich unter den Strahl. Er brauchte heute länger als sonst, aber trotzdem nicht unbedingt lange, da trocknete er sich auch schon ab, zog sich an, und föhnte sein langes Haar trocken.

Obwohl Sommer war, würde es abends und nachts kalt draußen werden, und er hatte so gar kein Interesse daran, die Sommerferien krank im bett zu verbringen. Dann lief er wieder die Treppe hinunter, schnappte sich die Autoschlüssel, und wollte gerade zu Tür hinaus, als Ginny nach im rief.

„Justin? Wo willst du den jetzt noch hin?“, fragte sie.

„Hab eine Verabredung mit Melody, kann spät werden“, antwortete Justin wahrheitsgemäß und zog die Tür hinter sich zu. Dann kletterte er ins Auto. Seinen Führerschein hatte er noch nicht lange, aber er hatte einen, im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Klassenkameraden.

Immer noch ein wenig nervös, mangelnder fahr Erfahrung wegen, fuhr er zu Melody. Von Nadja wusste er, die sie den Abend alleine zu Hause verbringen wollte, sodass er sich keine Gedanken darum machte, ob sie da sein würde.

Tanz im Mondlicht

Er stellte den Motor ab, zog die Handbremse, stieg dann aus und ging langsam zum Haus seines Onkels. Das Falko sein Onkel war, das hatte er nicht gewusst, als er den gerade mal sieben Jahre älteren jungen Mann das erste mal getroffen hatte.

Auch die Jahre danach hatte es niemand geahnt, erst ein Besuch seiner Großeltern, die Justin bei dieser Gelegenheit hatte kennen lernen können, hatte ans Licht gebracht, das Moritz und Falko Brüder waren.

Melody und Shadow wohnten bei ihm, und waren damit vermutlich auch nicht gerade unzufrieden. Falko ließ die beiden Mädchen machen, was sie wollten, auch wenn er die Verantwortung für sie hatte. Bei Shadow hätte er sowieso auf Granit gebissen, wenn er ihr hätte etwas verbieten wollen.

„Shadow, an die Tür!“, hörte er Falko durch das Haus brüllen, nachdem er geklingelt hatte. Sein Onkel hatte also weibliche besuch. Das war nicht gerade selten, der junge Mann war ein Frauenheld schlechthin. Vermutlich hatte er das arme Mädchen gerade zu etwas unanständigeren Tätigkeiten überredet, ansonsten ging Falko eigentlich lieber selber an die Tür. Man konnte ja sonst nicht sicher sein, wer davor stand.

„Geh doch selber!“, hallte Shadows Stimme durch das Haus zurück.

„Melody, an die Tür!“, befahl Falko lautstark.

Dass kein lautstarker Protest kam, zeigte Justin deutlich, das seine Freundin sogar tat, was Falko ihr zugerufen hatte. Das wunderte ihn ein wenig, normalerweise gab sie bei so einem Ton ebenso biestige Antworten, wie Shadow, doch er konnte sich nicht lange wundern, da ging die Tür auch schon auf.

„Was willst du?“, fragte Melody mit eisiger Stimme und schaute ihn so kalt an, das man meinen könnte, das sie mit diesem Blick den Lavakern der Erde erstarren lassen könnte.

„Ich wollte dich abholen, ich habe eine Überraschung für dich“, antwortete Justin, vollkommen unbeeindruckt von ihrer abweisenden Kälte.

„Ach, eine Überraschung, ja? Kommt da nicht etwas vorher, nachdem du mich einfach versetzt hast?“, knurrte Melody missgelaunt.

„Oh, eine Entschuldigung ist es auch. Eine überraschende Endschuldigung“, meinte Justin und lächelte entschuldigend.

Melody schien einen Augenblick nachzudenken, ob er es wirklich wert war, das sie ihn begleitete, dann gab sie sich einen Ruck.

„Ich bin noch mal weg!“, rief sie ins Haus hinein, nahm sich eine der Jacken vom Hacken und folgte Justin zum Auto.

„Und wo geht es hin?“, fragte sie, nun schon nicht mehr wütend, sondern neugierig.

„Siehst du dann“, lächelte Justin.

„Einen Tipp bitte“, bat sie.

„Rate“, forderte er sie auf.

Melody dachte einen Augenblick lang nach.

„Ins Kino?“, fragte sie dann und Justin schüttelte den Kopf.

„Ganz kalt“, antwortete er, unbeirrt weiterlächelnd.

„In irgendein Restaurante?“, fragte sie weiter.

„Auch nicht und fast genauso kalt“, antwortete er.

Melody runzelte die Stirn.

„Zu irgendwelchen Freunden? Oder einem Fest, das in der Nähe stattfindet?“, fragte sie weiter.

„Nein und nein. Den Abend verbringen nur wir beide.“

„Hmmm“, machte das Mädchen und schaute hinaus, „das ist der Weg zum Stall, machen wir einen Ausritt?“

„Unter anderem, das ist aber natürlich nicht die Überraschung.“

Jetzt war Melody erst richtig neugierig, aber ihr viel nichts mehr ein, und so blieb sie still, bis sie beim Stall ankamen. Sie stiegen aus und wurden schon von Angel und Sternentänzer begrüßt, die fertig gestriegelt, gezäumt, und – in Angels Fall – gesattelt dastanden.

„Hat Nadja dir geholfen?“, fragte Melody, trat zu ihrer schwarzen Stute und streichelte ihr die Nüstern.

„Natürlich, sonst hätten wir die beiden noch putzen und satteln dürfen“, antwortete Justin lächelnd und half Melody in den Sattel, bevor er selbst hinauf kletterte.

„Ein abendlicher ausritt… das alleine finde ich eigentlich schon ganz schön“, bemerkte sie.

„Ich weiß, aber ich fand das nicht ausreichend“, antwortete er und deutete auf den Pfad, der hinauf in die Berge führte, „Da entlang.“

„Geht es hinauf zum See?“, riet Melody weiter und Justin nickte.

„Und da oben wartet eine Überraschung auf mich, ja?“

Wieder nickte der Rothaarige und gemeinsam ritten sie los. sie unterhielten sich über alles mögliche, während sie unterwegs waren. Da sie ungleich langsamer waren, als Justin alleine ein paar Stunden zuvor, ritten sie zwei Stunden, obwohl sie den kürzesten Weg wählten.

Bei der Lichtung, auf der der See lag angekommen, ließen sie ihre Pferde laufen und Justin holte aus dem Schutz der Eiche den Korb. Daraus hervor kramte er eine Decke, die er auf das Gras breitete, dann deutete er Melody, das sie sich setzen sollte.

„Ich hoffe, dass du noch nichts gegessen hast“, meinte er und holte die restlichen Dinge aus den Korb und aus dem Wasser. Es war weiß Gott kein Festmahl, dass er auftischte, mehr ein schnell zusammen geschmissenes picknick, aber Melody freute sich riesig. Gemeinsam aßen sie und legten sich dann auf die Decke und schauten hinauf gen Himmel, an dem der helle Vollmond strahlte und abertausende Sterne funkelten.

„Heute Nacht soll es einen Sternschnuppenschauer geben“, bemerkte Justin eine weile.

„Ja, davon hab ich gehört, aber was sind Sternschnuppen?“, erkundigte sich Melody leise.

„Uff, sicher, das ich dir das jetzt erklären soll?“, wollte Justin ebenso leise wissen.

„Nein, ich meinte nicht, wie sie entstehen oder so. Wie sie aussehen?“, antwortete Melody und Justin drehte verblüfft den Kopf. Wusste sie tatsächlich nicht, was eine Sternschnuppe war? Melody wusste vieles noch nicht, in ihrer Heimat kannte man nicht einmal elektrisches Licht oder dergleichen, aber was mit der Natur zu tun hatte, das hatte sie bisher meistens besser gewusst, als er. Und nun sollte sie keine Sternschnuppen kennen?

„Das sind... es ist schwer zu beschreiben… so eine art Lichtstrahlen am Himmel…“, versuchte er zu erklären.

„So wie das Nordlicht?“, fragte sie neugierig und schaute ihn an.

„Nein. Sie sind nicht Bund, einfach nur… hell. Und sie sehen gänzlich anders aus, und… du wirst welche sehen, also schau wieder hoch“, antwortete er. Und er behielt recht. Es dauerte nicht lange, da blitze auch schon die erste Sternschnuppe über den dunklen Himmel.

„Hast du es gesehen?“, flüsterte er leise Melody zu.

„Ja, habe ich“, flüsterte sie zurück.

„Und so etwas kanntest du bisher wirklich nicht?“, wollte Justin weiter wissen.

„Doch, jetzt wo ich es gesehen habe, weiß ich, was es ist. Wir nennen sie Himmelskinder“, antwortete sie und lächelte.

„Himmelskinder? Warum Himmelskinder?“, wollte er verwundert wissen.

„Nun, bei uns ist man der Meinung, jeder Stern ist ein verstorbenes Wesen und seine Seele erhellt bei Nacht den Himmel. Aber jede Seele muss gepflegt werden, und dazu sind die Himmelskinder da. Sie umsorgen die Seelen solange am Nachthimmel, bis diese sich dazu entschließen, noch einmal zu leben. Das kann Tage oder Wochen oder Jahre, manchmal auch Jahrhunderte dauern, aber die Himmelskinder hegen und pflegen sie in dieser Zeit ohne unterlass. Wenn aber eine Seele wieder zurück auf Erden will, dann hat das Himmelskind seine Arbeit geleistet und fällt vom Himmel. Man darf sie nicht fangen, den dann sterben sie nicht, und tut man es doch, so wird man bestraft, denn wenn ihre Seele wieder lebt, dann dürfen sie nicht mehr leben, sie würden ihrem einstigen Schützling alle Lebenskraft entziehen, damit sie nicht sterben müssen“, erzählte Melody.

„Und woher haben sie ihre Namen?“, erkundigte sich Justin leise nach der kleinen Geschichte.

„Nun, sie leben im Himmel, und manchmal werden sie ja doch gefangen, und dann wenn man sie in den Händen hält, dann sehen sie aus, wie kleine Kinder. Man muss sie aber ganz schnell wieder frei lassen, wenn man nicht schnell genug ist, dann stirbt der Körper, den sich ihre Seelen ausgesucht haben“, erklärte sie.

„Hast du jemals eines gefangen?“

Melody schüttelte den Kopf: „Sie hätten es mir nicht erlaubt, es geziemt sich nämlich nicht.“

Justin überlegte einen Augenblick.

„Ich würde gerne eines fangen“, sagte er dann.

„Aber du musst es ganz schnell wieder los lassen, wenn du es schaffst“, antwortete Melody.

„Oh, du kannst mir glauben, ob du wiedergeboren wirst oder nicht, das hängt so ganz und gar nicht davon ab, ob diese Wesen am Leben bleiben oder nicht“, erklärte er und lächelte milde.

„Das kann ich nicht wissen, ich bin nie wiedergeboren“, meinte Melody.

„Doch, bist du, du kannst dich bloß nicht mehr daran erinnern“, lächelte Justin.

„Von mir aus auch so. Da vorne ist noch eine“, antwortete sie.

„Ich habe es gesehen. Und jetzt tu nicht so desinteressiert, ich weiß ganz genau, das ihr alle wissen wollt, wie es ist, zu sterben“, lächelte Justin und drehte sich zu seiner Freundin um.

„Aber du hast gemeint, das du es uns nicht erzählen wirst, also frage ich nicht“, antwortete die.

„Warum sollte ich euch von etwas erzählen, das ihr alle schon kennt, was ihr nur vergessen habt?“, wollte er wissen und lächelte wieder.

„Genau deswegen, weil wir es vergessen haben“, antwortete sie.

„Sei froh über diesen umstand. Die meisten, die sich daran erinnern sind wahnsinnig geworden. Sie kommen mit den abertausenden Leben einfach nicht klar, und wissen nicht mehr, was jetzt ist, und was einst wahr. Auch mir fällt es manchmal schwer, das auseinander zu halten. Lebe ich gerade wirklich mein Leben, oder ist es eines, das schon lange hinter mir liegt…? Ich vergesse es manchmal…“, erklärte er und sah dabei irgendwie traurig aus.

„Ich kann dir leider nicht helfen, mit diesem Wissen umzugehen. Kannten wir uns eigentlich in der Vergangenheit auch schon?“, fragte sie.

„Ja. Wir begegnen einander immer und immer wieder, und jene, die wir mögen, ohne zu wissen warum, sind jene, die wir einst schon mochten, weil sie uns gute Freunde waren oder uns gutes taten, und jene, die wir nicht ausstehen können sind die, die uns früher Leid zufügten und uns verrieten. Deswegen finden wir auch manchmal gar keine Freunde, weil jene, die wir früher schon Freunde nannten vielleicht noch nicht dazu bereit sind, ein weiteres mal geboren zu werden, und deswegen haben wir auch manchmal so unendlich viele Freunde, weil wir dann wieder alle beisammen sind. Und deswegen bleiben auch manche auf ewig alleine, während andere nicht lange brauchen, um ihre große Liebe zu finden, und mir ihr über Jahrzehnte glücklich zu leben. Weil es immer die gleiche Seele ist, manchmal in einem Körper, die ein wenig älter ist, manchmal in einem der ein wenig jünger ist. Und manchmal finden wir diese Seele nicht, weil sie noch nicht da ist. Oder schon wieder im Totenreich ist“, erklärte Justin.

„Und an all die male, die wir uns kannten, kannst du dich erinnern?“, erkundigte sie sich weiter.

„Ja. Und auch an die unzähligen male, die wir einander nicht gefunden haben, oder gar nicht gleichzeitig lebten. An jedes Leben, das diese Seele jemals gelebt hat. Ich glaube, ich kann es auch nur ertragen, weil ich immer schon zwei Leben gleichzeitig gelebt habe. Anders wäre es mir vielleicht ergangen, wie jedem anderen auch. Ich weiß es nicht genau.“

„Ich kann mit gar nicht vorstellen wie es wohl sein mag, sich an etwas zu erinnern, was man eigentlich nicht wissen kann. Es wäre sonderbar, wenn ich es könnte.“

„Es wäre grauenvoll. Es ist grauenvoll. Man vergisst sich selbst… nach und nach, und unaufhörlich“, sagte er.

„Was geschieht, wenn du irgendwann vollkommen vergessen hast, wer du eigentlich bist?“

„Das wird niemals geschehen. So lange werde ich nämlich nicht leben.“

Melody setzte sich mit einem Ruck auf und schaute Justin wütend an.

„Sag so etwas nicht, du weißt, dass ich das nicht mag“, sagte sie mit einer weinerlichen Stimme.

„Du hast mich gefragt. Ich habe dir nur gesagt, wie es ist. Und ein paar Jahre wird es auch noch dauern“, antwortete er ihre und lächelte beruhigend.

„Ich finde es gruselig, das du immer weißt, was geschehen wird“, erklärte sie und schauderte sichtbar.

„Ich weiß. Aber ich kann es auch nicht ändern. Bedank dich bei Moritz, dass er mir das Traumsehen vererbt hat“, antwortete Justin und lächelte.

„Warum kannst du es eigentlich so gut? Du bist viel besser, als alle anderen, von denen ich jemals gehört habe. Ist es auch eine jener Fähigkeiten, die der Weltenretter haben wird?“

Justin lächelte und schüttelte den Kopf.

„Nein, das Traumsehen ist voll und ganz mein eigen. Sie wird es niemals können, da bin ich mir sicher. Sie wird vieles können, aber das nicht. Sie wird niemals für die Zukunft leben, sondern immer nur für das hier und jetzt“, erklärte er.

Melody seufzte leicht und Justin stand auf.

„Meinst du wirklich, dass es diese Strafe gibt, wenn man die Himmelskinder nicht schnell genug wieder gehen lässt?“, erkundigte er sich leise.

„Nein. Nicht, wenn du sagst, das es nicht damit zusammen hängt, ob man lebt oder nicht“, antwortete sie.

„Ich möchte es versuchen“, antwortete Justin, schüttelte aber zugleich wieder den Kopf. „Leider fallen sie nicht ganz zu Boden, denn hier sind wir nicht in deiner Welt“, meinte er.

„Kann sein“, antwortete Melody und schloss die Augen, „wobei dieser Ort aber eindeutig magisch ist.“

„Wie meinst du das?“, fragte Justin und schaute zu ihr hinab.

„Nun, es ist, wie bei dem Tor im Wald. Es ist nicht meine Welt, aber die Magie meiner Welt ist noch deutlich zu spüren“, antwortete sie und stand nun ebenfalls auf.

Justin schaute nachdenklich hinaus auf den See.

„Vielleicht… vielleicht gibt es ja hier ein Tor. Im See. Bei Jannes Volk war es auch so, da war das Tor im Wasser. Oder jenes, im Meer…“, überlegte er.

„Aber man kann doch bis hinauf auf den Grund schauen, und dort war niemals etwas zu sehen“, widersprach Melody, schaute dabei hinauf in den Himmel. „Ich glaube eher, wenn es hier ein Tor gibt, dann ist es dort oben irgendwo, denn die Magie kommt vom Himmel her.“

Auch Justin blickte wieder hinauf.

„Möglich“, sagte er nur, schüttelte dabei jedoch den Kopf.

Und plötzlich hörten sie leise Stimmen um sich herum. Verwundert blickte Justin sich um, um herauszufinden, woher sie kamen, und ob sie böses im Sinn hatten, oder nicht. Doch Melody lachte nur.

„Es ist ein magischer Ort. Was du hörst, dann sind Mitternachtsfeen“, erklärte sie leise.

Justin schaute sie fragend an. „Mitternachtsfeen?“

Melody nickte.

„Ja. Es gibt Blumen in meiner Heimat, die nur bei Vollmond blühen, und die Feen, die ihre Seele verkörpern, die nennen wir Mitternachtsfeen“, erklärte sie und schaute nachdenklich in den Himmel. „Sie halten Hochzeit.“

„Sie tun was?“, fragte Justin und schaute Melody verwirrt, aber lachend an.

„Sie halten Hochzeit. Wir können uns glücklich schätzen, das zu hören, nicht viele Lebewesen können Zeugen einer Feenhochzeit sein“, erklärte sie.

„Mitternachtsfeen heiraten?“, fragte Justin verdutzt, was Melody zu lachen brachte.

„Nicht in unserem Sinne. Ich weiß nicht, wer diesen Begriff erfunden hat, aber im Prinzip heißt es, das sie eine ganz besondere Feier abhalten. Diese Feiern sind selten und nur wenige Lebewesen, werden von den Feen als seine Zeugen akzeptiert“, erklärte sie leise. Verträumt blickte sie sich um und nun fiel Justin auf, das um ihn herum tausende und abertausende kleine Lichter erschienen waren, die leise vor sich hin sangen und zu tanzen schienen.

„Sie wollen, das wir mitfeiern“, flüsterte Melody leise, trat Justin gegenüber, nahm ihn bei den Händen und zog ihn im Kreis herum. „Lass uns zu ihrer Musik tanzen, lass uns mitfeiern!“

Justin wirkte überrumpelt, doch dann schaute er sich einmal neugierig um, und nickte dann. Er nahm ihre Hand in die linke und legte seine rechte auf ihre Taille und begann langsam mit ihr zu tanzen.

Es war kein wirklicher Tanz, es waren einfach nur ein paar Schritte, die sie nach Lust und Laune ausführten, während der Gesang der Feen immer lauter zu werden schien. Melody wirkte immer losgelöster, immer glücklicher und auch Justin wischte alles denken aus seinen Kopf und genoss einfach nur den Zauber des Augenblicks.

So brauchte er einen Moment, bis ihm auffiel, das Melodys Haar, das in den letzten Wochen und Monaten so hell, so blass, so grau geworden war, wieder tiefschwarz geworden war, schwärzer, als man es sich jemals vorstellen könnte, so schwarz, wie das Nichts.

Einmal darauf aufmerksam geworden, suchte er nach weiteren Veränderungen und sogleich fielen ihm ihre Ohren in die Augen. Lange, abstehende Ohren. Elbenohren. Und auch ihre schneeweißen Schwingen, wegen der er bei ihrem ersten Treffen dachte, das sie ein Engel sei, waren wieder erschienen. Und sie trug ein Kleid, das mitternachtsblau im Licht des Mondes schimmerte. Sie war wieder die Herrin des Nordenreiches, und doch war sie glücklich, wie das verträumte Lächeln auf ihren Lippen ihm deutlich machte.

Und so tanzten sie beide zu dem Gesang der Feen, die nun ganz nahe um sie herum flogen und damit die Nacht erhellten, fast ebenso sehr, wie der goldene Mond über ihnen. Vielleicht vergingen Stunden, vielleicht auch nur Minuten, doch war es ihm, plötzlich, als würden sie hinauf in den Himmel steigen, und als er sich umblickte, sah er weit unter sich das gespiegelte Bild des Mondes im schwarzem Wasser und er konnte weit entfernt, am Horizont, Lichter sehen, die Lichter der Städte und Dörfer der Umgebung. Und plötzlich umschwirrten nicht nur Feen die beiden, sondern auch andere Wesen, die Justin nicht kannte. Sie sahen aus, wie Feen, sie waren klein und zierlich, doch sie leuchteten Blau und sie hatten keine Flügel, sie schienen einfach so in der Luft zu schweben.

Eines der kleinen Wesen schwebte zwischen Melody und ihm und plötzlich vergas Justin den ganzen Zauber um sich herum, er sah nur noch das kleine Wesen, und bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte er auch schon die Hand nach ihm ausgestreckt und es eingefangen. Doch kaum hatten sich seine Finger um das Wesen geschlossen, da war es, als hielte sie nichts mehr im Himmel und sie stürzten zurück gen Erde. Justin sah nur noch das entsetzte Gesicht Melodys und spürte das Gefühl, zu fallen, dann war alles schwarz.

Erst dachte er, er sei ohnmächtig, doch dann wurde ihm klar, dass er nicht ohnmächtig sein konnte, denn dann wäre er sich dieses Umstandes gewiss nicht bewusst gewesen. Doch er war ihm bewusst, doch warum er dann nichts sah, das wusste er nicht zu sagen.

Frevel

»Du hast eines gefangen«, erklärte plötzlich eine Stimme aus dem Nichts. Eine Stimme, die ihm seltsam bekannt vorkam.

„Was gefangen? Wo bin ich hier, was ist los?“, fragte er in die Dunkelheit und schaute sich um.

»Du bist nicht der erste heute Nacht, der eines fing«, erklärte die Stimme und Justin sah vor sich Robin, wie sie alleine im Garten hinter seinem Elternhaus stand, sich umsah und dann ein blaues Funkeln bemerkte. Robin ging ganz arglos darauf zu, vermutlich in dem glauben, dass es nur ein großes Glühwürmchen wäre, und fing das kleine Männchen ein.

»Sie hat auch den Frevel begangen«, erklärte die Stimme.

„Was für ein Frevel denn?“, wollte Justin wissen, denn er verstand nicht, was gerade vor sich ging. Doch es wurde ihm auch nicht erklärt, stattdessen sah er abermals, wie auf einer großen Leinwand im Kino, ein Bild vor sich. Diesmal war es der junge Australier, Hunter. Er schlenderte über ein Feld, da sah er etwas auf dem Boden glühen. Nicht wissend, was er tat, bückte er sich und hob es auf.

»Frevel!«, donnerte die Stimme.

„Das wir die Himmelskinder aufhoben, oder einfingen, oder auch nur berührten?“, fragte Justin verwirrt.

»Auf diesen Frevel steht der Tod«, knurrte die körperlose Stimme.

„Aber keiner von uns wusste, was er tat!“, rief Justin erschrocken und schaute sich hektisch um, als könne er so ausmachen, woher die Stimme kam, wusste er doch, das sie von überall zugleich kam.

»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht«, war die altkluge Antwort.

„Also müssen wir dennoch sterben?“, irgendwie kam Justin diese Situation mit einem schlag einfach nur lächerlich vor.

»Nein«, antwortete die Stimme, »doch Strafe muss dennoch sein.«

„Was denn nun, ich dachte, der Tod ist die Strafe, die darauf steht“, fauchte Justin unwillig.

»Werdet eures Glückes schmied, oder ihr werdet Tod sein«, antwortete die Stimme.



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