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Reaper

Das Ende der Story rückt näher...Das FinalChapter kommt!^^
von

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Prolog

Reaper – Prolog
 

Charlton City – Samstag, 15.32 Uhr
 

„Kann ich ihnen noch etwas bringen?“

Die hübsche, rothaarige Kellnerin blickt ihn mit ihrem aufgesetzten Lächeln erwartungsvoll an, Notizblock und Stift bereits im anschlag.

„Danke, ich würde lieber zahlen.“

Das gekünstelte Lächeln wird noch etwas breiter, während sie Zettel und Kugelschreiber in der Tasche ihrer Schürze verschwinden lässt und stattdessen einen unhandlichen, schwarzen Ledergeldbeutel hervorholt.

„...ähm,okay, das wären dann 3,80.“

Er reicht ihr einen Fünfer und gibt ihr den Rest als Trinkgeld, worauf ihr Grinsen wenigstens für einen Moment natürlicher wirkt, bis sie schließlich zum nächsten Tisch verschwindet und ihre Show von neuem beginnt. Eigentlich hasst er es, um diese Zeit in irgendwelchen Cafès in der Altstadt herumzuhängen und das nicht nur wegen der überall gleichen Affektiertheit der Bedienungen. Unglücklicherweise zwang sein Job ihn des öfteren sich unter die „normalen“ Menschen zu mischen, ob es ihm gefiel oder nicht. Auf der Straße vor ihm herrscht reger Betrieb, während die Leute durch die verschiedenen Läden bummeln, Schaufenster betrachten, oder einfach auf einer der Bänke sitzen und die Sonne genießen. Verärgert steht er auf und schlängelt sich durch die Menge Richtung Marktplatz. All die Zivilisten werden ihm seinen Job wiedermal erheblich erschweren. Seufzend sieht er auf die große Uhr am Rathaus.

Noch zwei Minuten.

Er lehnt sich an die Wand einer geschlossenen Kneipe und wartet. Seine rechte Hand umschließt das kleine goldene Zippo in der Tasche seiner schwarzen Jacke. Vor ihm rennen drei Kinder mit Eistüten vorbei.

Er zählt in Gedanken von 10 herunter.

...5...4...3...

Als er bei 1 ankommt, schallt der Schrei einer Frau über den Platz und ein älterer Mann bricht stöhnend zusammen, mit einer Hand hält er verkrampft seinen linken Oberarm. Als er zuckend auf dem Boden liegen bleibt, bricht eine kleine Panik unter den Passanten aus.

Auch wenn er dieses Szenario schon unglaublich oft beobachtet hat, muss er wieder einmal über das Herdenverhalten der Menschen schmunzeln. Wenn nur einer in der Gruppe ist, der einen Herzinfakt, nicht von einem Terroranschlag unterscheiden kann, verbreitet sich die Panik wie ein Lauffeuer. Er stößt sich lässig von der Wand ab und geht auf die Menge, die sich um den Mann versammelt hat, zu. Die Meisten sind die gewöhnlichen Gaffer, die zwar eine entsetzte Mimik auflegen, innerlich aber darauf hoffen, dass wenigstens ein bisschen Blut zu sehen ist. Einige schreien nach einem Arzt, kommen aber offensichtlich nicht auf die Idee, selbst ihr Handy rauszuholen und einen Krankenwagen zu rufen... Es wäre ohnehin sinnlos, der Mann ist inzwischen tot,... das kann er mit Sicherheit sagen, obwohl er ihn aus dieser Entfernung nichtmal sehen kann. Aber deswegen ist er schließlich hier. Er holt das kleine Feuerzeug aus der Tasche, lässt die Verschlussklappe aufschnappen und wirft es über die Köpfe der geschockten Passanten in die Luft, wo es entgegen aller physikalischen Gesetze einfach hängen bleibt. Als er bei ihnen ankommt, hat er bereits seine komplett schwarze Pistole gezogen.

Er entsichert die Waffe und richtet sie auf den reglosen Körper, des am Boden liegenden alten Mannes...
 

Der Schuss schreckt einen kleinen Schwarm Tauben in der nähe auf, die schließlich mit fließenden Flügelschlägen am blauen Himmel vorbeiziehen und verschwinden.

Ein Treffen entgegen dem Schicksal

Reaper – Kapitel 1

Ein Treffen entgegen dem Schicksal
 

Charlton Highschool
 

„Suki?... Susan Kira Harris! Wärest du wohl so freundlich und würdest aufhören zu träumen und stattdessen dem Unterricht folgen?!“

Der plötzliche Anpfiff ihrer Lehrerin, lässt die 16 Jährige zusammenzucken, sodass ihr Kinn, das eben noch gelangweilt auf ihrer Handfläche geruht hat, abrutscht und ihr Kopf unsanft auf ihrem Tisch aufschlägt. Ihre Klassenkameraden lachen ausgelassen. Die Lehrerin ist bemüht, den Haufen wieder zu beruhigen.

„Suki, ich erwarte dich nach der Stunde, damit du dir eine kleine Zusatzarbeit abholen kannst!“

Sie stöhnt gequält auf, verzichtet aber darauf zu protestieren, da sie selbst am besten weiß, dass sie die Strafe verdient hat. Es war diese Woche schon fast zur Gewohnheit geworden, dass sie, anstatt dem Unterricht zu folgen, gedankenverloren aus dem Fenster sieht. Aber sie kann nicht anders, ihr geht einfach zu viel im Kopf herum, was eindeutig höhere Priorität hat, als Erdkunde...

Ihre Sitznachbarin und beste Freundin Tessa beugt sich mit einem besorgten Gesichtsausdruck zu ihr rüber.

„Suki, du bist schon den ganzen Tag so komisch drauf... Sag bloß du hast immer noch nichts gegen diesen Stalker unternommen?!“

Suki schüttelt genervt den Kopf und versucht dabei möglichst sorglos zu wirken, damit ihre Freundin sich nicht wieder unnötig in die Sache reinsteigert. Sie lag ihr jetzt schon seit zwei Tagen mit dem Vorschlag, die Polizei zu alarmieren, in den Ohren und hatte sich auf dem Schulweg angewöhnt, um jede Ecke herum zu spicken, und sie dann, mit dem peinlichen Satz „ Die Luft ist rein!“ bis zur nächsten Abzweigung zu lotsen. Aber das schlimmste an Tessas paranoidem Verhalten ist, dass es sie immer ansteckt.

Suki selbst, ist sich nichtmal sicher ob sie tatsächlich verfolgt wird... Sicher, da war dieser seltsame Kerl, der immer diese schwarze Jacke trägt, dem sie in den letzten Tagen verdächtig häufig begegnet war, aber sie hatte nie das Gefühl, dass irgendeine Bedrohung von ihm ausgeht... wer weiß, vielleicht fand er sie ja ganz einfach attraktiv...

Bei dem Gedanken muss sie unwillkürlich grinsen, was ihr sofort eine erneute Rüge seitens ihrer Lehrerin einbringt...
 

Als Suki von der Schule und der anschließenden Trainingseinheit mit ihrem Leichtathletikteam nach hause läuft, hat die untergehende Sonne den Himmel bereits in Orange- und Rottöne gefärbt. Die Straßen sind leer und es weht eine laue Brise. Sie dreht die Musik ihres Mp3-Players noch etwas lauter, und balanciert auf dem schmalen Bordstein entlang. Plötzlich spürt sie eine Hand, die von hinten nach ihrer Schulter greift, reisst sich ihre Kopfhörer mit einem spitzen Schrei herunter und wirbelt derart energisch herum, dass sie der Person hinter sich versehentlich eine Ohrfeige verpasst.

„..Autsch, hey, tickst du noch ganz richtig?!“

„Tut mir leid,... das war reiner Reflex,...ich-...“

Als sie bemerkt, wie nahe sie an dem jungen Mann vor sich steht, tritt sie errötet einen Schritt zurück. Sie betrachtet ihn genauer und plötzlich wird ihr klar, dass es sich um den Kerl handelt, der ihr schon die ganze Woche an den Fersen hängt. Instinktiv nimmt sie die Abwehrhaltung ein, die sie mal vor schätzungsweise einem Jahrhundert im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte und macht sich bereit, im Fall des Falles frei nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ zu handeln. In dieser Pose verharrt sie einige Sekunden und fixiert ihren Gegenüber durchdringend. Er ist etwa 20cm größer als sie, was ihre Chancen in einem Kampf nicht gerade steigern würde, hat schwarze, schlecht gekämmte Haare, die ihm bis zu seinen Augen ins Gesicht hängen und sieht im großen und ganzen eigentlich wie ein völlig durchschnittlicher Highschool Schüler aus. Einzige Ausnahme ist die durchdringende Schwärze seiner Augen, in der man nichtmal ansatzweise den Übergang zwischen Pupille und Iris ausmachen kann. Von seinem Blick gefesselt, lässt sie unbewusst die Hände ein wenig sinken. Plötzlich verzieht er den Mund zu einem Grinsen, und bevor sie so recht versteht was los ist, kann er sich vor lachen kaum noch halten. Sie starrt ihn zuerst verwirrt an, wird aber als sie merkt, dass er offensichtlich über sie lacht, schnell gereizt.

„Was zur Hölle ist denn so lustig?!“

Sie lässt den Blick auf ihre geballten Fäuste schweifen, und als ihr bewusst wird, wie lächerlich ein zierliches Mädchen wie sie in dieser „Jackie Chan“-Pose aussehen muss, kann auch sie sich das Lachen nicht verkneifen.

Plötzlich hält er inne und sein Gesicht wird von einer Sekunde zur anderen todernst, als er hektisch auf die Uhr an seinem Handgelenk sieht. Ein blauer Minivan kommt um die Ecke gebogen, gefolgt von einem Motorradfahrer in einer dunklen Schutzjacke. Der Schwarzhaarige wirkt plötzlich unruhig, und sieht sich nervös um. Bevor sie reagieren kann, packt er sie plötzlich am Arm und reisst sie von Bürgersteig in den Eingang eines kleinen geschlossenen Blumenladens. Gerade als sie sich empört losreisst, lässt sie ein lautes Krachen, gefolgt von einem schrillen Quietschen herumwirbeln.

An der Stelle an der sie gerade noch gestanden hatte, liegt, leicht qualmend, das grüne Sportmotorrad. Das Blech ist an mehreren Stellen verbeult und das Hinterrad ist nahezu abgerissen. Der Fahrer liegt einige Meter entfernt auf dem Boden und rührt sich nicht. Der Van, der den Unfall offensichtlich verursacht hat, rast mit kreischenden Reifen um die nächste Kurve. Sukis Herz rast förmlich in ihrer Brust, als sie sich langsam zu ihrem Retter umdreht. Der sieht allerdings keineswegs überrascht oder geschockt aus, wie sie es erwartet hatte. Eher so als, hätte er gerade ein Verbrechen oder ähnliches begangen, und die Polizei wäre ihm bereits auf den Fersen... ärgerlich nimmt sie zur Kenntnis, dass sein Gesichtsausdruck eher so wirkt, als würde er es bereuen, sie gerettet zu haben.

Sie macht auf dem Absatz kehrt um nach dem Motorradfahrer zu sehen, als er sie aufhält.

„Du musst nicht nach ihm sehen, er wird’s überleben. In wenigen Minuten wird ihn eine Frau finden und den Notarzt verständigen. Also-...“

„Wir können ihn doch nicht einfach da liegen lassen! Und woher willst du überhaupt wissen, dass er gefunden wird, wir sind die einzigen weit und breit!“

Sie versucht sich loszureissen, doch er hält sie weiterhin fest.

„Wir müssen jetzt hier verschwinden, klar! Das hätte nicht so passieren sollen... Ich meine, ich hätte nicht eingreifen sollen,... aber ich-... Verdammt, sie werden mir den Arsch aufreissen..!“

„Ich versteh kein Wort! Könntest du mir vielleicht erklären was du von mir willst?“

Anstelle irgendeiner für sie logischen Erklärung, nimmt er sie einfach an der Hand und zieht sie hinter sich her, die Straße entlang. Kurz bevor sie um eine Ecke biegen, blickt sie nochmal zu dem Unfallopfer zurück und sieht gerade noch wie eine junge Frau mit wehendem Sommerrock auf ihn zurennt und sich neben ihm niederkniet.
 

Als die beiden gerade über eine der vielen kleinen Brücken rennen, die den Kanal, der quer durch die Stadt fließt, überspannen, gelingt es ihr ihre schmale Hand aus seiner zu winden und sie bleibt keuchend und mit wütendem Gesicht stehen. Er dreht sich ebenfalls außer Atem und sichtlich genervt zu ihr um. Die Beiden stehen sich eine Weile gegenüber und funkeln sich wütend an. Schließlich gibt er angesichts ihres unglaublichen Dickschädels auf und seufzt resigniert.

„Also gut, hör zu,... ich bin wirklich nur hier um dir zu helfen, also wärest du bitte so freundlich und würdest wenigstens ein bisschen kooperieren.“

„Wie bitte?! Ein mir völlig fremder Kerl schleift mich gegen meinen Willen durch die halbe Stadt und das ohne eine logische Erklärung,... und dann soll ich mich auch noch kooperativer zeigen?!!“

Vor lauter Wut haben sich Sukis Wangen bereits leicht rot gefärbt.
 

Was fällt dem Kerl eigentlich ein, ich bin doch kein Püppchen, das man einfach so überall mit hinzerrt! Der muss verrückt sein! Alles was er bisher von sich gegeben hat war sinnloser Schwachsinn!... Ja, das muss es sein,... er muss aus irgend einer Anstalt geflohen sein!... Ich sollte besser verschwinden...
 

Während Suki noch darüber grübelt ob ihre mehr oder weniger schlechten Leistungen im Sprinten für eine Flucht ausreichen, fährt er sich nachdenklich durch die Haare.

„Schön, wie wärs damit,... wir verschwinden fürs erste von hier und sobald wir außer Reichweite sind, werd ich's dir erklären...“

Der plötzlich ruhige Ton in seiner Stimme überrascht sie, sodass sie glatt ihre geplante Flucht vergisst und ihn nur nachdenklich anstarrt. Eigentlich sollte sie die Gelegenheit nutzen und verschwinden... aber andererseits war ihre Neugier einfach zu groß. Er hatte diesen Unfall und auch die junge Frau eindeutig vorhergesehen... aber wie? Hin und her gerissen steht Suki mehrere Sekunden einfach nur da und sieht auf ihre Schuhe. Aus irgendeinem Grund hat sie aber das Gefühl, dass sie ihm vertrauen kann... auch wenn sie keine Ahnung hat warum, da sie für gewöhnlich ein eher misstrauischer Mensch ist. Aber es ist fast so als würde sie ihn schon seit Ewigkeiten kennen... als wäre sie ihm schoneinmal begegnet... vor langer Zeit. Sie blickt ihm selbstbewusster entgegen und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Also gut, ich komm mit. Aber ich will, dass dir klar ist, dass ich mitgehe weil ich es will, und das heißt ich kann auch nach hause gehen wann immer ich will!“

Er grinst sie erleichtert an.

„Wie du willst.“
 


 

Währendessen in einer kleinen dunklen Bar im südlichen Viertel der Stadt...
 

Er sitz auf seinem Stammplatz, einem abgewetzten, weinroten Ledersessel und zündet sich gerade die dritte Zigarre an diesem Abend an. Nachdenklich fährt er sich durch den mit grauen Strähnen durchzogenen, kurzen Bart. Mit seinem einen Auge überfliegt er einige Listen, die über den kleinen runden Glastisch vor ihn verstreut liegen. Zufrieden nimmt er einen tiefen Schluck aus seinem Scotchglas. Alle Todesfälle die diesen Monat anstanden sind erfüllt worden, die Erinnerungen der Augenzeugen wurden gelöscht oder verändert, sodass es auch im nachhinein zu keinerlei Problemen kam. Und es gab keine unerwünschten zivilen Opfer, während der Einsätze. Aber aufgrund ihrer neuen technischen Ausrüstung sind solche Zwischenfälle ohnehin relativ selten geworden. Vor nichtmal 150 Jahren endeten die meisten größeren Einsätzte noch komplizierter... Er kann sich noch gut an die alten Zeiten erinnern... sie hatten damals eine Menge guter Männer verloren. Unglücklicherweise hatten sich neben ihrer Technik auch ihre Gegner weiterentwickelt... Im Grunde war das allerdings nicht ganz korrekt... eigentlich sind es die Menschen die sich verändert haben... leider nicht zum positiven...

Er seufzt müde auf und zwingt sich dazu, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren, als plötzlich die Tür aufschwingt und ein kleiner, magerer Mann hineinschleicht und direkt auf ihn zukommt.

„Sir,...e-es tut mir leid sie stören zu müssen, aber wir haben hier ein Problem mit der neuesten Transferauswertung... Es sieht ganz so als wäre eine Seele weniger als vorgesehen übergetreten...“

„Wurden die Ergebnisse ordnungsgemäß überprüft?“

„J-ja, Sir! Ich habe sie selbst einem detaillierten Check unterzogen... Fehler sind ausgeschlossen! Eine Seele hat es geschafft ihrer Überführung zu entkommen... Laut dem Raster muss sie aus diesem Distrikt kommen. Zuständig für diesen Bereich ist Nummer ZT-103. Wir konnten ihn allerdings bisher nicht erreichen.“

Er drückt den Stummel seiner Zigarre aus und zupft die Augenklappe über seinem linken Augen zurecht, bevor er sich schließlich erhebt.

„Geht der Sache auf den Grund und schickt vorsichtshalber einen der Himitsu. Ich will, dass die Angelegenheit schnell geklärt wird! Schafft mir diesen ZT-103 ins Hauptquartier und solltet ihr die Seele finden...“

Er wirft sich seinen schweren, dunkelbraunen Ledermantel über und läuft durch den Raum.

„...Solltet ihr sie finden, sorgt dafür, dass sie nicht noch einmal entkommt.“

Fragen über Fragen

Reaper – Kapitel 2

Fragen über Fragen
 

„Ich soll also bereits tot sein? Mal ehrlich, ich persönlich komm mir doch noch ziemlich lebendig vor. Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich dir so einen Schwachsinn abnehme!“

„Du bist nicht wirklich tot... und genau darin liegt das Problem. Du solltest tot sein, bist es aber nicht.“

„Oh, herzlichen Dank! Du scheinst es ja wirklich sehr zu bereuen mich gerettet zu haben!“

Er seufzt gequält auf und fährt sich durch die zerzausten Haare. Im war ja klar gewesen, dass es nicht leicht sein würde ihr das ganze zu erklären, aber dass sie es ihm so schwer machen würde hatte er nicht erwartet. Schweigend betrachtet er Suki, die mit vor der Brust verschränkten Armen auf der billigen Matratze sitzt, die normalerweise sein Bett darstellt. Sie scheint gleichzeitig verärgert und nachdenklich zu sein. Es ist schon eine Weile her seit er einen Menschen gesehen hat, der seine Emotionen so offensichtlich auf dem Gesicht trägt. Man kann ihre Stimmung in ihren Augen lesen, wie in einem Buch.

Suki bemerkt, dass er sie genau beobachtet und lässt ihren Blick betont kühl durch den Raum schweifen. Angesichts der Tatsache, dass er sie ansieht als wäre sie Alien, oder ähnliches fühlt sie sich leicht unwohl in ihrer Haut. Zudem fällt es ihr schwer, die vielen Gedanken die in ihrem Kopf herumwirbeln irgendwie sinnvoll zu ordnen. Sie atmet tief ein und versucht erstmal runterzukommen, indem sie sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer umsieht. Von Einrichtung kann aber eigentlich gar nicht die Rede sein. In dem kahlen Raum ist nichts weiter zu finden als ein schäbiger, alter Kleiderschrank an der einen Wand, und der Matratze auf der sie sitzt an der anderen. Links neben dem Eingang führt eine weitere Tür in ein kleines Badezimmer. Am Ende ihrer „Sitzgelegenheit“ steht eine große, alte Truhe aus schwarzem Holz. Die ursprünglich vergoldeten Henkel an beiden Seiten, sowie das schlichte Schloss an der Vorderseite sind abgegriffen und die, mit Metalleisten verstärkten Ecken und Kanten sind rostig und verschlissen. Die einzigen Lichtquellen sind eine einfache Glühbirne die von der Decke hängt und das große Fenster am Ende des Zimmers, auf dessen Fensterbrett ihr Gastgeber sitzt und sie beobachtet. Sie kann sich kaum vorstellen, dass jemand in so einer Umgebung tatsächlich wohnen kann...

„Jemand der wenig Zeit zu Hause verbringt, so wie ich, kann es ganz gut hier aushalten.“

Sie blickt ihn schockiert an, wobei ihr Gesicht sich leicht rot färbt.

„Hast du etwa meine Gedanken gelesen?!“

„Nichtmal ich kann Gedanken lesen, aber bei dem Gesichtsausdruck, den du drauf hattest als du dich umgesehen hast, ist das auch gar nicht nötig.“

Sie entspannt sich wieder ein wenig, aber die Röte in ihrem Gesicht bleibt. Nach kurzem Zögern, räuspert sie sich.

„Also gut, nehmen wir mal an, ich glaube, was du mir erzählt hast... Woher willst du überhaupt wissen, dass ich tot sein müsste, und vor allem, woher wusstest du von dem Unfall bevor er passiert ist??“

Er sieht sie einen Moment nachdenklich an, bevor er schweigend von dem Fensterbrett springt und zu der Holzkiste trabt. Ein lautes Knarren durchdringt die Stille als er den schweren Deckel aufdrückt. Nachdem er eine Weile in den Tiefen der Kiste herumgewühlt hat, hält er triumphierend ein kleines, in Leder gebundenes Taschenbuch in der Hand, das er wortlos neben Suki auf die Matratze fallen lässt. Als sie das schmutzige Etwas in die Hand nimmt um es genauer zu betrachten, erschreckt sie. In den Einband ist eine verschmierte, aber deutlich erkennbare Skizze von einem Sensenmann eingekratzt. Man kann die skelettierte Hand die die schwarze Sense hält und Teile des blanken Schädels unter der dunklen Kutte erkennen. Vorsichtig fährt sie mit dem Finger über den eingeprägten Titel des Buches.
 

"Non mortem timemus, sed cogitationem mortis."
 

Wir fürchten nicht den Tod, sondern nur die Vorstellung des Todes. Es ist ein Zitat von Seneca.“

Er lässt sich neben ihr nieder und betrachtet das Buch einen Moment lang.

„Es ist eine Art Sammlung... ein Mönch des Benediktinerordens hat es im Jahre 543 geschrieben. Es beinhaltet sein gesamtes Wissen über die Manes,die Seelen der Verstorbenen, oder Schattengeister genannt und deren Weg ins Reich der Toten. Natürlich entsprechen nicht alle seiner Ansichten der Wahrheit, aber er hat mehr über die Seelenwanderung herausgefunden als irgendein Mensch nach ihm.“

„Was meinst du mit Seelenwanderung?“

„Es ist der Weg den eine Seele zurücklegen muss, wenn ihre sterbliche Hülle zerstört wird. Naja, eigentlich ist das Wort >Weg< eher eine Umschreibung, im Grunde ist es ein natürlicher Vorgang, der mit jedem passiert wenn er einmal sterben sollte. Warte mal, schlag Seite 14 auf.“

Leicht verwirrt blättert Suki die porösen Seiten des Buches durch, immer darauf bedacht, das empfindliche Papier nicht zu beschädigen. Auf der gesuchten Seite ist aber kein Text zu finden, nur das grobe Bild eines Menschen, eine Art einfacher Umriss. Aus dem Brustbereich des Körpers entweicht in Schlangenlinien ein blau schraffiertes, geistähnliches Etwas, im Bauch der Skizze ist eine grob gemalte, rote Kugel zu erkennen.

„Was soll das darstellen?“

„Das ist die grobe Darstellung, der Seelenwanderung. Also gut, es ist so, dass jeder Mensch einerseits natürlich mit seiner Geburt eine Seele besitzt. Sie ist es, die den Mensch ausmacht, seinen Charakter, Vorlieben und so weiter. Innerhalb jeder Seele entsteht allerdings im laufe eines Lebens eine Art Dunkelzone. Der Teil des Menschen, der sich aus dessen Ängsten, seinem Hass oder Bosheit definiert. Jeder Mensch entwickelt mit der Zeit so einen >inneren Dämon<, egal wie gut und freundlich er nach außen hin wirkt. Selbst kleine Kinder sind da keine Ausnahme. Jeder Mensch hat dieses böse Etwas in sich, bei einigen ist es nur noch etwas ausgeprägter als bei anderen. Kannst du mir soweit folgen?“

Sie nickt stumm.

„Gut, wenn ein Mensch jetzt also stirbt, verlässt die Seele den Körper und in den meisten Religionen ist die Sache damit erledigt. So einfach ist es allerdings nicht. Da wäre schließlich noch all die negative Energie die sich im laufe seines Lebens angesammelt hat, die seine Seele an die Erde bindet. Der Körper wirkt während der Lebenszeit wie ein Gefängnis für diese Energie, auch wenn bei Einigen ab und zu mal ein wenig davon die Überhand gewinnt, und sie dann jemanden umbringen oder irgendwas zerstören...“

„Heißt das, immer wenn in den Nachrichten von irgendeinem Mord oder ähnlichem berichtet wird-...“

„- dann hat jemand die Kontrolle über seinen inneren Dämon verloren, ganz genau. Aber das ist meist nur von kurzer Dauer, und sie bereuen es meistens kurz darauf. Wenn er allerdings stirbt, zerfällt damit auch dieses Gefängnis, und der Dämon wird so zu sagen von der Leine gelassen. Und das ist der Moment an dem der Typ von der Vorderseite des Buches ins spiel kommt.“

„Der Sensenmann? Ich dachte immer diese grusligen Gerippe sollen den Tod persönlich dastellen, und wären nur dazu da, um Kinder zu schocken...“

Er macht ein beleidigtes Gesicht und fährt verärgert fort.

„Dieses Bild ist nur eine primitive Darstellung der Menschen, für etwas das sie nicht verstehen. Egal ob Sensenmann, Teufel, oder Shinigami. In jeder Kultur gibt diese unbekannte, furchterregende Gestalt die den braven Menschen ihre Seele raubt und sie in die Hölle sperrt. Aber dieses Bild ist völliger Schwachsinn. Die Menschen sind selbst Schuld wenn sie in die Hölle oder was weiß ich wohin kommen. Die Digero greifen erst ein, wenn die Seele bereits den Körper verlassen hat.“

„Digero?“

„Das ist die offizielle Bezeichnung... wobei das auch nicht auf alle von ihnen zutrifft...das ist etwas kompliziert.“

Sie sieht ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck durchdringend an, doch er wendet sich schnell wieder dem aufgeschlagenen Buch zu.

„Gut,..ähm...der Mensch ist also gestorben und die Seele hat den Körper zusammen mit der negativen Energie verlassen, die jetzt die völlig frei ist und sich in den meisten Fällen erstmal richtig austobt... Meistens entläd sich das ganze recht schnell und ohne dass es irgendwelche spürbaren Auswirkungen für die Lebenden hat. Hier beginnt dann die Aufgabe der Digero. Sie halten den verursachten Schaden so gering wie möglich und lösen die Bindung zwischen der Seele und diesem so genannten Seelenschatten, damit die Seele frei ist und dahin abhauen kann wo sie eben hin geht,... manche würden es wohl Himmel nennen... oder Hölle, was weiß ich. Unglücklicherweise ist es aber nicht immer so einfach. Einige Menschen sammeln im laufe ihres Lebens verdammt viel negative Energie an, die ,wenn sie dann erstmal frei ist, ganz schön Probleme machen kann. Sie treten dann nicht als Seelenschatten auf, sondern können sich materialisieren, und sind damit eine echte Gefahr für die Lebenden. Sie sind dann das, was viele wohl einen Dämon nennen würden.“

„Und die Digero töten diese... Monster..?“

„Genau genommen ist es eine Spezialeinheit innerhalb der Digero, aber ja.., so könnte man es bezeichnen.“

Suki sieht ihn mit einem Gesichtsausdruck an, bei dem er schon befürchtet, sie würde ihn noch ein letztes mal einen Spinner nennen und dann ihren Kram packen und verschwinden, doch stattdessen klappt sie das Buch zu und fährt mit ihren Fingern erneut über das Bild auf dem Einband.

„Was mich wirklich interessiert ist, woher du das alles so genau weißt?“

Obwohl er diese Frage erwartet hatte, ist er für einen Moment wie erstarrt. Er versucht einige Sekunden lang die richtigen Worte zu sammeln um das folgende so plausibel wie möglich rüberzubringen, entschließt sich dann aber doch es einfach direkt zu sagen wie es ist.

„Ich bin einer von ihnen. Nummer ZT-103 aus der Digero Spezialeinheit SG7.“

Kaum hat er es ausgesprochen bereut er auch schon seine Offenheit. Er will gerade den Mund öffnen um zu retten was noch zu retten ist, als er plötzlich innehält. Er hat auf einmal das Gefühl als wären sie nicht mehr allein... Bevor sich völlig sicher ist bestätigt ein Ohrenbetäubender Knall dieses ungute Gefühl. Die Tür wird mit einer solchen Gewalt aus den Angeln gerissen, dass Teile des Rahmens mit wegsplittern. Suki stößt einen spitzen Schrei aus und springt auf die Beine, den Rücken an die kalte Wand gepresst. Noch bevor sich der Staub aus der Luft einigermaßen verzogen hat, greift er nach ihrer Hand und zieht sie rüber zum geöffneten Fenster. Mit einem Satz springt er aufs Fensterbrett lehnt sich erschreckend weit aus dem Fensterrahmen.

„Was hast du vor, das hier ist der 5. Stock, schon vergessen! Wir können unmöglich springen!“

„Das einzige was wir nicht können ist hierbleiben! Du musst mir einfach vertrauen, Suki!“

Sie zögert einen Moment lang, doch als sie in seine tiefschwarzen Augen sieht, hat sie wieder dieses komische Gefühl, das sie schon vorhin hatte, als sie einwilligte mit hier herzukommen. Gerade als Schritte im Flur vor der kleinen Wohnung zu hören sind, kriecht sie auf das Fensterbrett und klammert sich angesichts der Höhe an seinem Arm fest. Im nächsten Moment spürt sie einen heftigen Ruck und bevor sie irgendwie reagieren könnte, befindet sie sich auch schon im freien Fall.

Kaum, dass er von dem Fenster abgesprungen ist, greift er mit seiner freien Hand in die Innenseite seiner Jacke und zieht blitzschnell eine kleine, graue Waffe hervor, die eher wie ein Spielzeug aussieht. Er visiert kurz das Dach des Hauses an und drückt den Abzug, woraufhin der vordere Teil der Waffe abspringt und sich während des Fluges wie eine Hand öffnet. Die Kralle klammert sich an der Verankerung einer Satellitenschüssel, die dem Kerl ein Stockwerk über ihm gehört, fest und der dünne Draht der von ihrem Ende aus zu der Waffe in seiner Hand führt beginnt sich augenblicklich zu straffen. Ein stechender Schmerz durchfährt seinen Arm, als ihr Fall von dem Draht abrupt gestoppt wird und er Suki, die er mit dem anderen Arm fest an sich gedrückt hatte, beinahe fallengelassen hätte. Glücklicherweise ist sie selbst ganz gut im festkrallen, wie er schmerzlich feststellen muss. Gerade als sie es wagt ihre Augen wieder zu öffnen ertönt ein Unglück verheißendes Quietschen von oben, als die Satellitenschüssel unter dem Gewicht der Beiden nachgibt, und aus der Wand reisst. Suki spürt wie sie in dem kurzen Flug herumgewirbelt wird und sieht in Gedanken bereits ihre ganzes, ihrer Meinung nach viel zu kurzes, Leben an sich vorbeiziehen. Die Beiden landen lautstark auf dem Dach eines geparkten Autos, welches diese Unhöflichkeit prompt mit dem Ohrenbetäubenden Lärm seiner Alarmanlage quittiert. Suki stöhnt gequält auf, doch zu ihrer Überraschung ist sie relativ weich gelandet und kann keine größeren Verletzungen spüren.

„Äh... Suki wenns dir soweit gut geht, könntest du dann bitte von mit runtergehen?“

Als sie bemerkt, dass sie bauchlinks auf seiner Brust liegt springt sie mit leicht roten Wangen auf und rutscht über die Windschutzscheibe von dem lärmenden, blinkenden Fahrzeug herunter. Kaum untern angekommen wird sie schon wieder an der Hand gepackt. Die Beiden sprinten in eine der dunklen Gassen zwischen den vielen heruntergekommenen Wohnblöcken in dieser Gegend und verschwinden gerade noch rechzeitig in der Nacht, als ein Mann mittleren alters mit gezogener Waffe aus dem Haus kommt und das immer noch blinkende Auto mit einem gezielten Tritt zum schweigen bringt. Er könnte die beiden jetzt wohl zu Fuß verfolgen, aber er hasst diese sinnlosen Jagten. Er ist eher der Typ der seiner Beute aus dem Hinterhalt auflauert und dabei würde er auch diesmal bleiben. Sollen sie doch laufen so weit sie wollen, er wird sie ohnehin wieder aufspüren...

Aus Fremden werden Freunde

Reaper – Kapitel 3

Aus Fremden werden Freunde
 

„Stop,...stop, ich kann nicht mehr!“

Suki lässt sich laut keuchend auf ein altes, kaputtes Sofa fallen, das zwischen einigem anderen Sperrmüll in der dreckigen Gasse vor sich hinmodert. Er lehnt sich, ebenfalls außer Atem, an die kühle Mauer gegenüber.

„Wir sollten uns nicht zu lange hier aufhalten... ich weiß nicht ob sie uns noch folgen...“

„Was zur Hölle ist hier eigentlich los?!... Wer verfolgt uns da überhaupt?“

Sukis Atmung normalisiert sich allmählich aber ihr Herz schlägt immer noch mit rasantem Tempo.

„Es sind Himitsu. Sie jagen uns weil wir gegen die Regeln verstoßen haben... naja, weil ich gegen die Regeln verstoßen habe...“

„...Was??...“

Er stößt sich von der Mauer ab und beginnt unruhig auf und ab zu gehen.

„Ich hab dir doch gesagt, ich bin einer der Digero, ein Seelensammler,... es ist meine Aufgabe, die Seelen von dem, was sie an diese Erde bindet zu befreien, damit sie verschwinden können. Um das tun zu können, sind wir in der Lage den Tod der Menschen vorauszusehen, damit wir unsere Arbeit mit deren letzten Atemzug beginnen können... Und ich... ich... also,.. du wärst mein Auftrag gewesen, ich hätte dort sein müssen, wenn du stirbst und einfach meinen Job machen sollen,... aber ich..hab mich ins Schicksal eingemischt und deinen Tod verhindert... aber das ist verboten, es ist eines der schlimmsten Verbrechen, wenn man den Lauf des Schicksals verändert... und deshalb jagen sie uns. Dich, weil du eigentlich tot sein solltest, und mich,... weil ich...weil ich..“

Er hält von seinem hektischen hin und herlaufen inne sieht sie ausdruckslos an.

„...weil ich die Todesstrafe verdient habe...“

Er lässt sich seufzend neben ihr auf das Sofa fallen und fährt sich mit einer Hand frustriert durch die Haare, was diese noch ein wenig mehr abstehen lässt.

„Warum...warum hast du mich überhaupt gerettet?“

Suki fühlt sich bei der Frage reichlich unwohl in ihrer Haut und fixiert angestrengt ihre Schuhe. Einen Moment lang herrscht eine bedrückende Stille, bei der sie spürt, dass er sie von der Seite beobachtet.

„Um ehrlich zu sein, ich bin da selbst nicht so sicher... Du hast mich an jemanden erinnert, den ich vor langer Zeit mal kannte. Ich weiß selbst, dass das kein wirklich guter Grund ist, aber ich konnte da einfach nicht nur rumstehen und zusehen wie du stirbst... Kann sein, dass es ein Fehler war,... aber im Grunde denke ich immer noch, dass es die richtige Entscheidung war.“

Als Suki aufblickt begegnen sich ihre Augen und sie sehen sich einige Augenblicke lang schweigend an. Gerade als sie ihm sagen will, dass sie selbst auch von anfang an das Gefühl hatte, als würde sie ihn von irgendwoher kennen, hallen schnelle Schritte in der Gasse wider. Er starrt mit leicht zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit aus der die Geräusche kommen, und wendet sie auch nicht ab, als er angespannt in ihre Richtung flüstert.

„Wir sollten hier verschwinden... am besten erstmal aus dem Stadtzentrum heraus, dann überleg ich mir wo wir uns verstecken können...“

Die beiden erheben sich lautlos, doch diesmal ist sie es, die seine Hand greift und die Führung übernimmt. Bevor er irgendwas sagen kann, zieht sie ihn bei der nächsten Abzweigung nach links und von da aus immer weiter Richtung Stadtkanal.

„Hey,... Suki, wohin gehen wir?“

„Wir gehen zu mir nach hause. Ich hab keine Lust die ganze Nacht durch die Stadt zu irren.“

„W-was... meinst du nicht das ist etwas,... naja, du lädst immerhin einen völlig Fremden mitten in der Nacht zu dir nach Hause ein...“

Suki hält inne und dreht sich schwungvoll zu ihm um.

„Gut, dann ist das jetzt vielleicht die Gelegenheit, dass du mir endlich deinen Namen verrätst.“

Er sieht sie kurz verdutzt an bevor er leicht verunsichert antwortet.

„...Sey,...ich heiße Sey.“

„Und weiter?“

„Nix und weiter, einfach Sey.“

„Habt ihr Seelensammler denn keine Nachnamen?“

„Im Grunde haben wir nichtmal Vornamen... offiziell bin ich ZT-103. Ich glaube mich hat seit gut 50 Jahren niemand mehr bei meinem Namen genannt...“

Suki macht einen Moment große Augen, schluckt die neuen Fragen die ihr schon wieder auf der Zunge liegen aber herunter und legt ein breites Lächeln auf.

„Schön Sey, dann lade ich dich jetzt offiziell zu mir nach hause ein. Aber trödel nicht herum, ich hab einen Bärenhunger!“
 


 

Als die Beiden auf der altmodischen Veranda vor dem kleinen Einfamilienhaus stehen und Suki ihre Taschen nach dem Haustürschlüssel durchforstet, lässt Sey den Blick über die friedliche Nachbarschaft schweifen. Es ist nicht gerade das reichste Viertel der Stadt, aber die in Pastellfarben gestrichenen Häuser mit den kleinen Vorgärten, zeugen von der Gemütlichkeit des Vorstadtlebens.

„Na endlich!“

Suki schließt die Tür auf, schaltet mit einem automatischen Griff an die Flurwand das Licht ein und wirft ihre Tasche in die Ecke neben den Schirmständer.

„Du kannst deine Jacke da vorne irgendwo aufhängen. Ich werd den Kühlschrank plündern.“

Während Suki bereits in die Küche hüpft, tritt Sey eher zögerlich in den ordentlichen Eingangsbereich. Die in einem warmen Orangeton gestrichenen Wände sind mit den verschiedensten Bildern behängt. Familienfotos, Portraits und ein paar eingerahmte kindliche Buntstiftzeichnungen. Er geht langsam die Wände ab, betrachtet jedes einzelne Bild, das jedes eine andere glückliche Erinnerung darstellt und mit jedem Schritt fühlt er sich schlechter. Schließlich weiß er, dass dieses friedliche Leben jetzt, wo sogar die Himitsu hinter ihnen her sind, vermutlich vorbei ist. Er spürt einen kleinen Hauch schlechten Gewissens, andererseits glaubt er, dass tot zu sein wohl keine weitaus bessere Option wäre... Wenn er an seinen eigenen Tod zurückdenkt, würde er jedenfalls ein Leben auf der Flucht vorziehen...

Als er sich im Wohnzimmer auf der Couch niederlässt, spürt er an diesem Abend zum ersten mal wie müde er eigentlich ist und dass ihm sämtlich Knochen wehtun, vor allem der Rücken, schließlich ist er vor nicht allzu langer Zeit aus beträchtlicher Höhe auf einem Autodach gelandet... Im Gegensatz dazu scheint Suki, als sie mit zwei reichlich gefüllten Tellern ins Wohnzimmer springt, mehr als fit. Sie stellt einen der Teller vor ihm auf dem Couchtisch bevor sie sich selbst in einen der bequemen Sessel fallen lässt und beherzt in eines der Sandwiches von ihrem eigenen Teller beißt. Er sieht kurz auf den, mit mühe gemachten Haufen Sandwiches direkt vor ihm, bevor er sich verlegen räuspert.

„Ähm... ich hab wohl vergessen zu erwähnen, dass ich im Grunde nicht esse... das heißt, ich könnte zwar, aber es hätte keinen Effekt, und wirklich schmecken kann ich es auch nicht...“

Suki schluckt das Brot in ihrem Mund herunter und sieht ihn fragend an.

„Ich hab so das Gefühl, als ob ich noch nicht so ganz verstanden habe, was genau du eigentlich bist.“

Ihre Augen sprühen geradezu vor Neugier und ihr Hunger ist von einem Moment zum anderen in den Hintergrund getreten. Sey stöhnt erschöpft auf, beschließt aber ihr angesichts der Situation, in die er sie hineinmanövriert hat, wenigstens ein paar Fragen zu beantworten.

„Also schön, was willst du wissen?“

Sie denkt einen Moment nach, bis sich ein breites Grinsen über ihr Gesicht zieht.

„Du hast gesagt, dass dich seit 50 Jahren keiner mehr beim Namen genannt hat... also, wie alt bist du wirklich?“

„Schwer zu sagen... nach der Uhr der Sterblichen wäre ich wohl 18 Jahre alt. Geboren wurde ich allerdings im Jahr 1898. Ich war Soldat im ersten Weltkrieg und bin 1916 zusammen mit 27 Kameraden gefallen. Hatte einen ordentlichen Kopfschuss. So wurde es mir jedenfalls erzählt.“

„Kannst du dich etwa nicht mehr daran erinnern?“

Er zögert einen Moment, als würde er probehalber nochmal konzentriert nachdenken ob ihm nicht vielleicht doch noch etwas einfällt ehe er antwortet.

„Nein, das meiste hab ich vergessen,... von meinem Tod, sowie von meinem Leben.“

Als Suki die Traurigkeit in seinen Augen sieht, hat sie plötzlich ein schlechtes Gewissen so nachgebohrt zu haben und sie versucht möglichst unauffällig das Thema zu wechseln.

„Wie kommt es, dass du jetzt hier vor mir sitzt, ich meine schließlich bist du schon ne ganze Weile tot... macht dich das nicht zu 'ner Art Zombie, oder so ähnlich...?“

Er sieht sie einen Augenblick entgeistert an, bevor er es nicht mehr aushält und in schallendes Gelächter ausbricht.

„Mal ehrlich, ich wurde von euch Sterblichen schon für alles mögliche gehalten, unter anderem für den Tod persönlich, aber noch nie hat mich jemand als Zombie bezeichnet! Ich muss sagen, du hast von allen Menschen mit denen ich seit meinem Tod gesprochen habe, die meiste Fantasie, Suki!“

Er wischt sich eine Lachträne aus dem Auge und lässt sich zurück in die Couchkissen fallen. Suki sitzt nur lächelnd da, unsicher, ob sie die letzte Bemerkung als Kompliment auffassen soll.

„Kommt es denn so häufig vor, dass ihr mit Menschen redet?“

„So kann man das nicht sagen... seit ich tot bin habe ich mit etwa..“

Er zählt mit einer Hand mit.

„...mit etwa 8 Lebenden gesprochen, die wussten, dass ich kein Mensch bin, dich eingerechnet. Und ich muss sagen, du bist von ihnen bei weitem die Gesprächigste.“

Suki runzelt nachdenklich die Stirn.

„Mit wem unterhaltet ihr euch dann. Sag bloß nicht ihr geht zusammen einen Kaffee trinken und tauscht euch über eure Arbeit aus...“

Bei dem Gedanken daran muss er erneut grinsen.

„Nein, also so läuft das eindeutig nicht... eigentlich hab ich von den anderen Digero seit meiner Grundausbildung nichts mehr gehört... wenn man erstmal einem Bezirk zugeordnet wurde, bekommt man höchstens alle paar Jahre eine Bewertung zugeschickt, in der dann steht ob man seinen Job gut macht oder nicht und das wars. Man kommt eigentlich nur dann wieder mit seinesgleichen in Kontakt wenn man Mist baut,... und dann ist das wirklich kein Grund sich zu freuen, glaub mir....“

Er wirft ihr einen verächtlichen Blick zu. Suki versucht sich vorzustellen wie es wohl wäre, wenn sie nicht jeden Tag mit ihren Freundinnen herumalbern könnte, und schüttelt den Gedanken schnell wieder beiseite.

„Ich habe während meiner Ausbildung ein paar Geschichten gehört,... von Digero die ihre Pflichten vernachlässigt haben, weil sie sich unter die Menschen mischen wollten... Nach eigener Erfahrung kann ich aber sagen, dass es sicher nichts weiter sind als Geschichten, ohne ein Körnchen Wahrheit.“

„Warum kann es nicht wahr sein,... ich meine wir reden doch auch ganz normal miteinander, wären heute nicht diese abgefahrenen Sachen passiert, würde ich glauben ein normaler Mensch sitz vor mir.“

„Um ehrlich zu sein, ich habe mich schon gewundert warum du so locker wirkst... Normalerweise haben Menschen uns gegenüber eine Abwehrhaltung. Sie machen das wahrscheinlich unbewusst, aber sie scheinen instinktiv zu spüren, dass wir nicht zu ihresgleichen gehören... und dementsprechend verhalten sie sich dann auch...“

Suki denkt daran, dass sie auch während der Zeit, als sie sich so von Sey verfolgt gefühlt hat, nie wirklich Angst vor ihm hatte oder das Gefühl, dass er ihr Schaden würde... und das obwohl Tessa ihr diese Paranoia beinahe aufgezwungen hatte... Jetzt da sie so darüber nachdenkt, war Tessa, obwohl sie Sey nur ein einziges mal gesehen hat, und das aus einiger Entfernung, vom ersten Augenblick wesentlich besorgter und ängstlicher als Suki selbst. Völlig in Gedanken versunken sitzen beide schweigend in dem schlichten Wohnzimmer, während Suki abwesend auf ihrem Sandwich herumkaut. Als sie schließlich satt ist, steht sie auf und trägt die beiden Teller Richtung Küche, wo sie die übrig gebliebenen Brote in den Kühlschrank packt und die Porzellanteller per Hand abwäscht. Obwohl Suki die meiste Zeit allein in dem Haus verbringt und ihren Vater nur ein- bis zweimal im Monat, sorgt sie sehr gewissenhaft dafür das immer alles seine Ordnung hat. Es macht ihr nichts aus sich um den Haushalt zu kümmern, und da außer ihr niemand da ist der irgendwelches Chaos hinterlassen könnte, hält sich die Arbeit auch in Grenzen. Als sie das grelle Licht in der Küche ausschaltet und in das warme Wohnzimmer zurückkehrt, bemerkt sie, dass Sey letztlich doch die abgetragene, mit Taschen übersäte Jacke über die Couchlehne geworfen hat. Als sie um das Sofa herumgeht um die Jacke zur Garderobe zu bringen, bemerkt sie dass Sey auf den weichen Chouchkissen zusammengesunken ist und tief und fest schäft. Mit einem Schmunzeln greift sie nach seiner Jacke, die ihr aber, aufgrund ihres unerwarteten Gewichts beinahe aus den Händen gleitet. Die Innentaschen sind gefüllt mit verschiedenen metallischen Gegenständen, in einer der Taschen glaubt sie einige Patronen zu spüren. Obwohl Suki mehr als neugierig ist, beherrscht sich und trägt die Jacke in den Flur ohne einen Blick in eine der Taschen zu werfen. Als sie das schwere Bündel an einen der Kleiderhaken hängt, fällt aus einer der Brusttaschen ein pechschwarzer, eckiger Gegenstand und landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppichboden. Als Suki erkennt, dass es sich um eine moderne Schusswaffe handelt, harrt sie einen Moment geschockt aus. Wie in Zeitlupe bückt sie sich und nimmt das schwere Gerät mit beiden Händen hoch. Das mattierte schwarze Metall fühlt sich kühl auf ihrer Haut an. Geräuschlos steht sie auf, kann es sich aber nicht verkneifen den Griff der Waffe locker in die rechte Hand zu nehmen und mit waagrecht nach vorn gestrecktem Arm und einem zugekniffenen Auge, auf die Haustür zu zielen. Mit ihrem Zeigefinger berührt sie sachte den Abzug, zuckt aber sofort wieder zurück, aus Angst versehentlich doch einen Schuss abzugeben. Sie lässt die Pistole vorsichtig wieder in die Innentasche der Jacke gleiten und atmet tief ein, als sie mit dem Verschwinden der Waffe auch bemerkt, dass sie unbewusst den Atem angehalten hat. Nachdenklich und von den Strapazen des Tages erschöpft schleicht sie die Treppe hoch in ihr Zimmer. Als sie einige Zeit später in ihrem Bett liegt, kommt es ihr wie eine Ewigkeit vor, in der sie noch trotz ihrer Müdigkeit, wach ist und versucht die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. Eins ist ihr allerdings klar: Wenn ihr Vater wüsste, dass sie während seiner Abwesenheit einen bewaffneten Kerl, den sie erst einen Tag lang kennt, über Nacht in ihr Haus lässt, hätte sie vermutlich für unbestimmte Zeit Hausarrest...

Erster Schultag

Reaper - Kapitel 4

Erster Schultag
 

Als Sukis Wecker am nächsten Morgen sein monotones Piepen ertönen lässt, hat sie in den ersten verschlafenen Minuten das Gefühl, es wäre alles nur ein Traum gewesen und das wäre der Beginn eines ganz normalen Schultages, genauso wie unzählige Tage zuvor. Aber spätestens als sie sich aus ihrem gemütlichen Kissenberg gequält hat, ist die gesamte Erinnerung an die gestrigen Vorfälle wieder klar vor ihrem inneren Auge zu sehen. Einerseits spürt sie diese unangenehme Angst tief in ihrem Bauch, wo der vernünftige Teil ihres Denkens sich wünscht, das alles wäre nie passiert und sie könnte einfach ihr normales, friedliches Leben weiterleben. Auf der anderen Seite kann sie nicht verleugnen, dass sie, trotz der vermeidlichen Gefahr in der sie jetzt schwebt, froh ist das sie Sey kennengelernt hat, und dass sie es kaum erwarten kann, ihm all die Fragen, die ihr gestern vor dem Einschlafen noch durch den Kopf gingen, zu stellen. Als sie frisch geduscht und in ihrem Lieblingstop gekleidet die Treppe runterhüpft, bemerkt sie, dass im Haus, außer dem Knarren der Stufen unter ihren Füßen nicht ein Laut zu hören ist. Zuerst ist sie sich sicher, dass Sey wohl immer noch schlafen muss, schließlich ist es gerade mal 7Uhr, doch diese Überzeugung wird jäh als falsch abgestempelt, als sie die leere Couch im Wohnzimmer erblickt. Sie lauscht kurz, ob in der Küche nicht doch etwas zu hören ist, bevor sie zügig in den Flur geht, in der Hoffnung seine Jacke an der Garderobe zu finden. Allerdings wird sie erneut enttäuscht. Einen Moment zweifelt sie an ihrem eigenen Verstand und ist sich nicht mehr so sicher ob nicht vielleicht doch alles ein Traum gewesen ist. Aber als sie in die Küche tritt und zwei frisch gespülte und ordentlich neben der Spüle zum trocknen aufgestellte Teller entdeckt, hellt sich ihre Mimik sofort wieder auf. Er war also hier, soviel ist klar. Also wird er sich sicher bald wieder blicken lassen, dessen ist sie sich jetzt sicher. Als sie sich, von einem beachtlichen Magenknurren begleitet dem Kühlschrank zuwendet, bemerkt sie mit den Augenwinkeln etwas silbern glänzendes auf dem kleinen, quadratischen Küchentisch. Es ist eine filigrane silberne Halskette, an der ein kleiner schneeweißer Stein hängt. Die Fassung besteht aus feinen, gewundenen Silberfäden die sich an der glatten Oberfläche des Steins entlangschlängeln und ihn so festhalten. Suki nimmt die Kette in die Hand und lässt das glatte Silberband durch ihre Finger gleiten. Auf dem Tisch liegt außerdem noch ein kleines, gefaltetes Papier das, wie Suki bemerkt, von dem Block, der immer neben dem Telefon auf der kleinen Komode im Wohnzimmer liegt, stammt. Sie entfaltet den Zettel und ließt den kurzen, mehr schlecht als recht hingeschmierten Text darauf.
 

Ich hab noch etwas wichtiges zu erledigen, bin aber bald zurück. Wenn du die Kette trägst brauchst du dir wegen den Himitsu keine Sorgen zu machen... Sie hält sie zwar nicht ab, aber wenn du Probleme hast, kann ich dich finden. Versuch aber keine unnötigen Risiken einzugehen.
 

Sey
 

Suki runzelt die Stirn, beschließt aber die Kette vorsichtshalber zu tragen, auch wenn sie keinerlei Vorstellung hat wie sie ihr in einer Situation wie am Abend zuvor helfen sollte. Sie kann sich nicht wirklich vorstellen, dass in dem hübschen Anhänger ein winziger Sender oder ähnliches versteckt sein könnte, aber eine andere Möglichkeit mit der Sey sie aufspüren könnte, fällt ihr einfach nicht ein.

Sie schlingt ihr wie gewohnt üppiges Frühstück herunter und macht sich wie jeden Morgen auf den Weg zur Schule. Als sie aus der Haustür tritt, muss sie angesichts der warmen Sonnenstrahlen die auf ihr Gesicht treffen und des wolkenlos blauen Himmels lächeln. Sie setzt, wie jeden Morgen, ihre neon-grünen Kopfhörer auf und schlendert die Straße ihres allmählich munter werdenden Vorstadtviertels entlang.

Als Suki wenig später den großen Pausenhof betritt, wird sie augenblicklich von einer finster dreinblickenden Tessa empfangen.

„Hey, Tess... was ist los?“

Tessa verschränkt die Arme vor der Brust und sieht sie vorwurfsvoll an.

„Das fragst du noch? Wir waren gestern Abend verabredet, schon vergessen? Wir wollten uns einen Film bei mir ansehen und du bist einfach nicht aufgetaucht! Ich hab dich bestimmt fünf mal angerufen, aber du bist nichtmal ans Telefon gegangen!“

Bei all der Aufregung hatte Suki natürlich keinen Gedanken mehr an ihren geplanten DVD-Abend verschwendet, und da sie bis spät in der Nacht auf der Flucht war, waren Tessas Anrufe bei ihr zuhause auch ungehört geblieben... Suki öffnet den Mund um etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen, merkt aber sofort, dass es gar nichts gibt, was sie Tessa sagen könnte. Sie will sich gar nicht ausmalen wie Tessa reagiert wenn sie ihr erzählt, dass sie die ganze Nacht mit eben dem „Stalker“ verbracht hat, wegen dem sie gestern noch die Polizei alarmieren wollte.

„Tessa, ich,... also mir ging es gestern nicht so gut, und da hab ich mich etwas hingelegt, und... naja ich bin wohl eingeschlafen und hab das Telefon einfach überhört,... tut mir wirklich leid... ich werd's wieder gut machen versprochen!“

Tessa wirft ihr noch einen letzten giftigen Blick zu, lässt es dann aber fürs erste gut sein während die Beiden zu ihrem Klassenzimmer schlendern.

Die erste Stunde vergeht, so kommt es ihr vor, wie im Flug, was allerdings daran liegt, dass sie mit ihren Gedanken wiedermal woanders ist. Als sich auch die zweite Stunde, Mathematik, ihrem ende zuneigt, wacht Suki allmählich aus ihrer Trance auf und versucht wenigstens ein bisschen von dem Unterrichtsstoff zu behalten. Auch Tessa seufzt angesichts der trockenen Gleichungen an der Tafel frustriert auf. Als der lang ersehnte Klang der Schulglocke, den Beginn der Pause ankündigt, geht ein erleichtertes Raunen durch die Klasse, während sich die Schüler aus dem Zimmer drängeln. Als Suki den Hof betritt und gierig die frische Luft einsaugt, stößt Tessa ihr plötzlich den Ellbogen in die Seite, sodass sie einen Hustanfall bekommt.

„Hey, was soll das?! Das tat weh!“

Ein Blick entlang Tessas ausgestreckten Arms, der quer über den Pausenhof zeigt, lässt Sukis Unterkiefer herunter klappen. Am anderen Ende des Platzes, lässig gegen das geschlossene Eingangstor gelehnt und mit den Händen in den Jackentaschen, steht Sey und beobachtet gelangweilt das bunte Treiben der Schüler um ihn herum. Gleichzeitig geschockt und wütend schreitet Suki zügig auf ihn zu, wobei sie Tessa, die ihr verwirrt folgt, schlichtweg ignoriert. Als Sey sie erkennt, scheint er zunächst erleichtert, doch seine Miene ändert sich schlagartig, als er das wütende Funkeln in ihren Augen erkennt.

„Was tust du hier? Was wenn dich einer der Lehrer sieht?“

Tatsächlich wird ihr erst jetzt klar, wie fehl am Platze Sey mit seiner zerschlissenen Kleidung und dem mürrischen Blick wirkt. Zudem scheinen die meisten Schüler einen Bogen um ihn zu machen, denn der Pausenhof ist in einem Umkreis von etwa fünf Metern um ihn herum wie leer gefegt, was Sey allerdings eher als positiven Nebeneffekt zu verstehen scheint. Als er ihr antwortet, wirkt er jedoch alles andere als gut gelaunt.

„Ich glaube, das ist mein Text, Suki! Du solltest dich doch zurückhalten, und dich nicht unnötig in Gefahr bringen... ich dachte, dir wäre der ernst der Lage bewusst..!“

Bevor Suki dazu kommt ihm zu antworten, spürt sie, wie sie von Tessa zu Seite gezogen wird.

„Suki, kennst du den Kerl etwa?.... Wenn du mich fragst sollten wir einfach wieder reingehen, der Typ hat was grusliges an sich....“

Das Unbehagen in Tessas flüsternder Stimme verblüfft Suki für einen Moment, war sie doch immer ein eher taffes Mundwerk seitens ihrer Freundin gewohnt. Sey tritt einen Schritt auf sie zu, wobei er mit einer schnellen Bewegung ein kleines, goldenes Zippo aus einer der vielen Taschen zieht und es direkt vor Tessas Gesicht aufschnappen lässt. Sie starrt einige Sekunden in die Flamme, doch im nächsten Moment zieht Sey das Feuerzeug schon wieder weg, lässt es mit einem Klicken wieder zuschnappen und in seiner Jacke verschwinden.

„Hattest du nicht vor, in der Pause in die Bibliothek zu gehen?“

Sey sieht Tessa durchdringend an, bis diese sich wortlos umdreht und Richtung Schulgebäude davonschleicht. Suki sieht ihr einen Moment verwirrt nachund wendet sich dann wieder Sey zu, der Tessas Abgang mit einem schiefen Grinsen quittiert.

„Was zur Hölle hast du gemacht? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Tessa ihre Pause niemals freiwillig in der Bücherei verbringen würde!“

„Keine Sorge, ich hab nur ein bisschen an ihrem Gedächtnis herumgedreht... das schadet ihr nicht weiter...“

Suki ist angesichts der Gelassenheit, mit der Sey dieses Geständnis macht schockiert und die brodelnde Wut in ihrem Innern ist kurz davor sich mit ein paar unzüchtigen Wörtern Luft zu machen.

„Also gut, lass uns jetzt abhauen, du kannst wieder in die Schule gehen wenn sich die Angelegenheit mit den Himitsu beruhigt hat... fürs erste sollten wir-...“

„Was denkst du dir eigentlich dabei hier einfach aufzutauchen und mir Vorschriften zu machen?! Ob und wann ich zur Schule gehe entscheide immer noch ich, und ich gehe nunmal sehr gern zur Schule! Und falls du es noch nicht gemerkt hast, das hier ist eine Schule und ich bin Schülerin, im Gegensatz zu dir, du hast hier nämlich überhaupt nichts verloren!“

Einige Schüler beobachten die Szene neugierig, worauf Sukis Wangen sich peinlich berührt, leicht rot färben bevor sie mit gesenkter Stimme fortfährt.

„ Und das nächste mal, wenn du es für nötig hältst meinen Klassenkameraden mit diesem,... diesem Feuer-dings im Gehirn rumzupfuschen, frag mich gefälligst vorher, klar..! Auch wenn du kein Mensch bist, hast du dich hier an die Regeln zu halten, genau wie ich.“

Sey sieht sie einige Sekunden stur an, bevor er tief einatmet und resigniert aufgibt.

„Schön, wie du willst, geh zur Schule wenn du unbedingt willst... aber aus irgendeinem Grund, hab ich mir verdammt viel Ärger aufgehalst als ich dir Gestern das Leben gerettet hab, und ich lass nicht zu, dass das umsonst war nur weil du dich den Himitsu unbedingt wie eine lebende Zielscheibe präsentieren musst!“

„Ach ja, und was willst du dagegen tun?“

„Das wirst du schon sehen!“

Er dreht sich wütend um und lässt Suki alleine auf dem Platz stehen, gerade als das Klingeln der Schulglocke das Ende der Pause signalisiert. Während sie in dem Schülerstrom zurück zu ihrem Klassenzimmer getragen wird, plagt Suki das schlechte Gewissen. Sey war nur um ihre Sicherheit besorgt und sie hatte sich wie eine Zicke benommen... Nach der Schule würde sie sich bei ihm entschuldigen,... wenn er es sich nicht doch anders überlegt hat und gar nicht mehr zurück kommt... Im Klassenzimmer angekommen lässt sie sich seufzend auf ihren Stuhl fallen, wobei sie einen kurzen Blick auf Tessa wirft, die bereits auf ihrem Platz direkt neben ihr sitzt und eifrig in ein dickes Buch vertieft ist. Als die Klasse vollzählig ist kommt auch endlich ihre Lehrerin, eine kleine gemütliche Blondine herein und lässt ihre schwere Tasche auf den Pult vor der Tafel knallen.

„Okay, setzt euch bitte alle hin. Ich weiß, das kommt jetzt etwas überraschend, aber wir bekommen heute noch einen neuen Schüler. Bitte seid höflich und heißt ihn in unserer Mitte willkommen.“

Sie macht eine hektische Handbewegung in Richtung der geöffneten Tür und die Klasse lehnt sich erwartungsvoll nach vorne, weil jeder möglichst schnell einen Blick auf den neuen Schüler werfen will. Schließlich kommt es eher selten vor, dass mitten im Schuljahr ein Neuer in die Klasse kommt.

Als er schließlich, mit den Händen in den Hosentaschen und mit einem Gesichtsausdruck als wäre er am liebsten ganz woanders, den Raum betritt, herrscht zunächst angespannt Stille. Bis Suki zu ihm aufblickt und ihr Schrei sämtliche Köpfe im Raum zu ihr wirbeln lässt.

„SEY!?!“

Angesichts ihres entsetzten Gesichts kann er sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen. Mrs. Walter scheint Sukis Aufschrei allerdings völlig anders zu interpretieren.

„Oh, Suki, du kennst ihn also bereits? Wie schön! Also für alle anderen, dies ist Sey Yamaha, er kommt aus Tokio und wird für den Rest des Jahres unsere Schule besuchen. Da du und Suki euch bereits kennt, warum nimmst du nicht den freien Platz neben ihr, direkt am Fenster?“

Seys Grinsen wird noch etwas breiter als er sich einen Weg durch die Reihen und zu dem leeren Platz direkt am Fensterbrett bahnt.

„Yamaha?! Ist das nicht eine Firma für Elektroartikel?“

Ihr wütendes Raunen klingt eher wie das zischen einer aufgebrachten Schlange. Er dagegen zuckt resigniert mit den Achseln.

„Ich habs draußen auf einem LKW gelesen, na und.“

Wenn Blicke töten könnten, hätte Suki sich gerade eines Mordes schuldig gemacht. Wobei sie sich nicht sicher ist ob das wirklich zählt, da Sey ja im Grunde schon längst tot ist...
 

„Sehr schön, dann lasst uns jetzt zur englischen Grammatik zurückkehren!“

Suki vermeidet es angestrengt in Seys Richtung zu sehen, obwohl das Fenster ihre bevorzugte Ablenkung während des langweiligen Englischunterrichts ist. Ihr schlechtes Gewissen wegen des Streits ist wie weggeblasen, stattdessen ist sie gereizter als je zuvor. Um sich abzulenken lässt sie den Blick durch das Klassenzimmer schweifen, wobei ihr auffällt, dass niemand wirklich Mrs. Walters Erläuterungen zu den Vergangenheitsformen im Englischen Beachtung schenkt. Die ganze Klasse wirkt angespannt, und auch wenn die meisten den Blick nach vorne gerichtet haben, wenden sich beinahe im fliegenden Wechsel hier und da ein Kopf nach hinten um Sey einen prüfenden, ängstlichen oder feindseligen Blick zuzuwerfen. Aber ausnahmslos alle ihrer Klassenkameraden scheinen sich unwohl in seiner Haut zu fühlen,... als wären sie alle verunsichert... verunsichert weil sich da etwas unbekanntes, bedrohliches in ihrer Mitte aufhält... das war es also was Sey meinte, als er ihr erklärte, dass die Menschen tief in ihrem Innern diese instinktive Angst vor Seinesgleichen haben. Erst jetzt, wo sie die angespannte Atmosphäre im Raum selbst spürt, kann Suki nachvollziehen, was das eigentlich bedeutet. Zudem fragt sie sich aber, warum sie diese Angst nie gespürt hat. Sie wendet sich Sey zu, der sitzt jedoch nur gelangweilt auf seinem Platz, den Kopf auf eine Hand gestützt und sieht aus dem Fenster. Wirklich wohl zu fühlen scheint er sich allerdings auch nicht. Suki grübelt darüber nach, was sie wohl von den anderen unterschiedet, warum gerade ihr dieser angeborene Instinkt zu fehlen scheint... was gerade sie, von all den anderen unterscheidet...
 

Nach dem, für Suki fast unerträglichen Englisch- und Chemieunterricht macht sich die Klasse wie gewohnt auf den Weg in den Computerraum, für die letzten beiden Stunden an diesem Tag, den IT-Unterricht. Kaum dass die anderen den Raum verlassen haben, steht Suki mit in die Hüften gestemmten Händen vor Sey, der sich müde von seinem Platz erhoben hat.

„Ich frag mich wirklich was in deinem Kopf vor sich geht... Hast du etwa vor von jetzt an jeden Tag auf Highschool-Schüler zu machen?“

Sey sieht sie gelassen an.

„Du solltest dich nicht beschweren, du bist schließlich diejenige die unbedingt weiter zur Schule gehen will... Ich sorge dabei lediglich für deine Sicherheit... tu doch einfach so als wäre ich gar nicht da. Außerdem-...“

Er grinst sie an und schlendert gemächlich Richtung Tür.

„... Muss ich gestehen, es ist... interessant euch Sterbliche in dieser Umgebung zu beobachten... immerhin ist seit meiner Schulzeit fast ein Jahrhundert vergangen...“

Suki sieht ihn erstaunt an und folgt ihm dann stumm in den Flur, wo sie sich schließlich wieder dem Rest der Klasse anschließen. Als Sey allerdings in den, mit Computern und Druckern vollgestellten Raum tritt, verschwindet sein gerade noch selbstbewusstes Grinsen schlagartig. Suki nimmt diesen abrupten Stimmungswechsel kichernd zur Kenntnis und stubbst ihn mit einen Stoß in den Raum.

„Was ist los? Ich dachte willst hier deinen Spaß haben?“

Er wirft ihr einen giftigen Blick zu und lässt sich frustriert auf einen der Stühle vor dem nächstbesten PC fallen. Suki schnappt sich den Platz neben ihm um ihn auch genau beobachten zu können. Mit einer Hand vor dem Mund, um ihr Lachen zu verbergen, schielt sie zu Sey rüber, der gerade verzweifelt versucht auf der vor ihm liegenden Tastatur den Einschaltknopf zu finden. Gut gelaunt fährt sie ihren eigenen PC hoch, und freut sich schon darauf, dass die IT-Stunden einmal nicht völlig langweilig zu werden scheinen...

Die Wasserdämonin

Reaper - Kapitel 5

Die Wasserdämonin
 

Als die Beiden zwei Schulstunden später auf das große Eingangstor zulaufen, könnte sich ihr Stimmung nicht mehr unterscheiden.

Sey geht mit einigen Schritten abstand voraus, die Hände, wie so oft in den Jackentaschen, mit einer Miene, als würde er den nächsten, der ihm in die Quere kommt, am liebsten krankenhausreif prügeln, nur um ein Ventil für seinen angestauten Ärger zu haben. Suki dagegen springt leichtfüßig und mit, vom Lachen immer noch geröteten Wangen, hinter ihm her. Am Tor angekommen biegt Sey, zu Sukis Überraschung sofort rechts ab.

„Hey? Sey wohin gehen wir? Halloo? Antworte mir gefälligst!“

Sie greift nach seiner Schulter und dreht ihn zu sich um.

„Komm schon, du wirst doch wohl nicht immer noch schmollen?“

Er ignoriert diese Bemerkung und sieht sie nur abfällig an.

„Wir gehen zu Amander. Sie untersteht zwar genau wie ich der Organisation, aber da sie letztlich doch nur ein Mensch ist, macht sich wohl kaum jemand die Mühe sie zu beschatten... Ich denke sie kann uns noch nützlich sein...“

Suki geht nachdenklich neben ihm her.

„Was genau ist diese Organisation eigentlich? Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass auch Menschen für sie arbeiten...“

Sie sieht ihn aus den Augenwinkeln an und bemerkt, dass er genau darüber nachdenkt, wie er auf ihre Neugier reagieren soll. Das unbestimmte Gefühl beschleicht sie, dass es im Bezug auf diese dubiose Organisation Dinge gibt, die er ihr verschweigt und die sie wohl auch nicht aus ihm herauskitzeln kann... Erst nach reichlichem Zögern antwortet er ihr.

„Sie nennt sich Zerberus. Sie beaufsichtigt und reguliert den Seelenfluss auf der Welt und sorgt dafür, dass die normalen Menschen nichts davon mitbekommen. Sie bilden die Digero aus, und befehligen sie, genauso wie die Himitsu... und sie sorgen dafür dass die Regeln eingehalten werden... mehr musst du im Moment nicht darüber wissen...“

Aus seinem Tonfall kann sie entnehmen, dass es keinen Sinn macht weiter zu bohren, weshalb sie sich fürs erste zufrieden gibt.

Als sie schweigend in eine kleine altmodische Gasse einbiegen, die senkrecht zum Stadtkanal verläuft, hält Sey plötzlich inne. Seine eine Hand tastet nach der roten Backsteinwand, die andere presst er stöhnend an seine Schläfe.

„Sey? Alles in ordnung?“

Suki, die nicht die leiseste Ahnung hat, was plötzlich mit ihm los ist, legt ihm verwirrt und übervordert eine Hand auf die Schulter. Als Sey schwer atmend in die Knie sinkt, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Er hält sich mit beiden Händen den Kopf und scheint starke Schmerzen zu haben.

„Sey! Sag schon, was ist los?“

Suki lehnt ihn vorsichtig an die Mauer und überlegt fieberhaft was sie tun könnte, als er plötzlich die Augen aufschlägt und einen erleichterten Seufzer ausstößt. Keuchend lässt er die Hände sinken und lehnt seinen Kopf an das kühle Mauerwerk. Als Suki ihm in die Augen sieht, zuckt sie erschrocken zusammen. Die Iris seiner sonst völlig tiefschwarzen Augen glüht, wie ein blutroter Ring um den geweiteten Pupillen. Doch bevor Suki die Chance hat noch einmal genauer hinzusehen, verblasst das rote Leuchten und sie blickt in die selben dunklen Augen, die sie von ihrem Begleiter gewohnt war. Er wischt sich mit dem Ärmel über das bleiche Gesicht und steht erschöpft und mit der Mauer als Stütze auf. Suki, die befürchtet er könnte jeden Moment wieder umfallen, kommt ihm zur Hilfe, doch er schiebt ihren Arm abwehrend beiseite.

„Geht's wieder? Was war eben mit dir los?“

Die ehrliche Besorgnis die in ihrem Blick liegt, verunsichert ihn kurz.

„Keine Sorge, mir geht’s gut.... Nur ein Memo... unangenehm, aber ungefährlich..“

„Ein Memo?“

„Ich sagte dir doch, wir Digero bekommen unsere Aufträge zugewiesen... das heißt, wir sehen den Tod der Person voraus, und müssen dann unseren Job erledigen... wenn man allerdings einen Auftrag ignoriert, bekommt man eine Memo... und dann noch eine, und noch eine... solange bis man der Job abgeschlossen wurde, oder... ich,... ich hatte nicht damit gerechnet, dass Zerberus in Anbetracht der Ereignisse der letzten Tage, tatsächlich darauf beharrt, dass ich weiterhin meine Arbeit mache als wäre nichts passiert... vielleicht, erhoffen sie sich dadurch einen Vorteil für die Himitsu...“

„Das... das ist... ich meine, wie kann Zerberus das tun? Wie können sie euch Digero einfach so... quälen? Das ist unmenschlich!“

Er sieht sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

„Ich glaube, du hast da was vergessen. Die hohen Tiere von Zerberus sind alles andere als menschlich... Für sie sind wir Digero nur austauschbare Soldaten, Werkzeuge die sie selbst geschaffen haben und die jederzeit ersetzbar sind... ohne einen besonderen Wert...“

Sie schweigt einen Moment und denkt über seine Worte nach. In Gedanken versucht sie sich diese... Wesen, die Zerberus leiten, vorzustellen, aber es gelingt ihr nicht. Trotzdem kann sie nicht verhindern, dass sie, ohne auch nur eine Vorstellung von ihnen zu haben, nicht anders als einen mehr oder weniger unbegründeten Hass auf sie zu verspüren.

Sey reisst sie aus ihren wütenden Gedanken.

„Gehen wir.“

„Warte mal, du willst das einfach ignorieren?“

„Irgendwann werden sie es aufgeben Memos zu schicken... und sie können nicht beliebig viele senden, also kein Grund zur Sorge... ich werd sie einfach aushalten solange es dauert...“

„Und was passiert mit dem Mensch dessen Seele jetzt auf der Erde gefangen bleibt?“

Er bleibt stehen und wendet sich überrascht zu ihr um.

„Ich meine, solange sich kein Seelensammler ihrer annimmt, kann sie nicht... naja wohin auch immer gehen... solange kann sie nicht... frei sein.“

Einen Moment steht er wie erstarrt da, fixiert schweigend Sukis Erscheinung. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnert Suki ihn an sie, nein, mehr noch, Suki ist in diesem Moment, mit dieser Körperhaltung, diesem Gesichtsausdruck, dieser... Emotion die sie ausstrahlt, ein direktes Ebenbild von ihr... Was sich gerade in seinem Kopf abspielt ist keine bloße Erinnerung, nein, es ist vielmehr ein Déjà vu... Eine regelrechte Wiederholung eines Augenblicks, den er vor etwa einem Jahrhundert schoneinmal durchlebt zu haben glaubt. Mit einem Kopfschütteln verdrängt er seine Gedanken um sich wieder der Gegenwart zu widmen.

„Ich weiß, was du denkst... aber wir müssen unsere derzeitige Lage bedenken...“

Der Blick mit dem sie ihn ansieht, hätte wohl mehr als nur Eis zum schmelzen bringen können.

„Ihr Menschen seid wirklich seltsam... ihr seid wohl die einzigen Lebewesen die sich so in das Schicksal anderer einmischen können, obwohl es sie selbst gar nicht betrifft. Fragt sich nur ob diese unnötige Emotionalität auf Dauer von Vorteil ist... naja Glück geht mit Dummheit ja bekanntermaßen Hand in Hand....“

Sie setzt eine trotzige Miene auf.

„Soll das etwa ne Beleidigung sein?“

„Vielleicht... ganz egal. Aber ich glaube du hast recht...“

Ihr Schmollen wandelt sich in Ratlosigkeit.

„Was meinst du?“

„Die Seele. Ich sollte sie nicht im Stich lassen,... schätze nach all den Jahren ist es ganz gut, dass jemand wie du mich mal wieder mit sowas nervt...“

„Was soll das schon wieder heißen?“

Er wendet sich um, geht zügig weiter und antwortet ohne sie dabei anzusehen.

„Mit den Jahrzehnten vergisst man leicht, dass man selbst mal einer der Dummen war...“
 

Sie gehen eine Zeit lang am Rand des Kanals entlang, beide in ihre Gedanken versunken. Als sie auf einen kleinen Betonübergang treffen, bleibt Sey stehen.

„Amander wohnt am Ende der Straße dort drüben, Nummer 23. Klopf dreimal an, wenn du sagst dass ich dich schicke wird sie dich reinlassen. Ich komm dann gleich nach...“

„Was hast du vor?“

Was schon, ich kümmer mich um diese verdammte Seele, das war es doch was du wolltest.“

Sukis Augen beginnen plötzlich zu leuchten, was ihrem Gesichts einerseits ein hübsches Strahlen verleiht, ihm aber andererseits das Gefühl gibt, dass er sich gleich wieder einmal mit ihrem Dickkopf herumschlagen muss. Seine Befürchtungen bestetigen sich prompt.

„Ich komme mit!“

„Vergiss es!“

Sie setzt einen Schmollmund auf.

„Warum? Ich werd dir sicher nicht im Weg stehen,... du wirst gar nicht merken, dass ich da bin!“

„Ich sagte, vergiss es! Die Sache ist viel zu gefährlich, ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren wenn ich gleichzeitig ein Auge auf dich haben muss. Außerdem... ich hab den Auftrag schon viel zu lange ignoriert... der Dämon könnte inzwischen ein echtes Problem darstellen.“

Suki sieht ihn fragend und mit unglaublicher Neugier in den Augen an. Er seufzt geschlagen.

„Je länger der Dämon auf der Erde frei ist, desto ausgeprägter werden seine Fähigkeiten. Deshalb ist es auch so wichtig dass Digero ihre Aufgabe so schnell wie möglich erledigen. Wenn die Seele vom Körper getrennt wird, ist es wie eine Neugeburt,... man könnte also den Dämon daraufhin auch in etwa mit einem Neugeborenen vergleichen... je länger er aber ohne die Einschränkungen seines Gefängnisses bleibt, desto schwerer wird es ihn zu zerstreuen. Jede Minute wachsen seine Kräfte, und sein Verstand... Und genau deshalb sollte ich mich jetzt beeilen. Und du gehst zu Amander!“

„Aber... ich könnte dir helfen!“

Er lächelt sie amüsiert an.

„Suki, ich mache diesen Job jetzt seit fast hundert Jahren... glaub mir, ich brauche deine Hilfe nicht... Und wag es ja nicht mir zu folgen!“

Sie schnaupt beleidigt auf, dreht sich dann aber wortlos um und marschiert über die Brücke davon. Er sieht ihr noch einen Moment nach, um auch sicher zu gehen, dass sie tatsächlich ausnahmsweise nachgibt und tut was er sagt, bevor er sich schließlich umdreht und zügig weiter am Rand des Kanals entlang geht. Als er mit einer Windung des Flusses aus Sukis Sichtfeld verschwunden ist, sieht sie sich vorsichtig in alle Richtungen um und rennt dann lautlos und leicht geduckt über die kleine Brücke zurück und hinter Sey her. Sie kann immer nur seinen schwachen Umriss erkennen, weil sie es nicht wagt näher an ihn ranzukommen, aus Angst er könne sie bemerken. So verfolgt sie ihn einige Minuten, im Zickzack von Mülltonne zu Mülltonne schleichend, bis er völlig unvermittelt stehen bleibt. Sie beobachtet, wie er an dem grauen Metallgeländer steht und an dem mit Gras bedeckten, steilen Abhang entlang, auf die etwa fünf Meter unter ihm liegende Wasseroberfläche des Kanals blickt. Sie erkennt wie seine Hand in die Innenseite seiner Jacke gleitet, die schwarze Schusswaffe, die schoneinmal entdeckt hatte herauszieht und sie entsichert. Er verharrt einige Sekunden mit gezogener Waffe bevor er dem sachte dahinfließenden Gewässer entgegenruft.

„Komm schon raus, ich weiß, dass du da unten bist!“

Suki hält den Atem an, doch es passiert nichts. Zumindest nichts was sie von ihrem Versteck aus sehen könnte, also entschließt sie sich, vorsichtig und so leise wie möglich über das feuchte Gras den Abhang herunter zu rutschen und hinter einem Holzkasten, der wohl einem der vielen Angler- oder Kanu-Clubs der Stadt gehören muss, in die Hocke zu gehen. Von hier hat sie den besten Ausblick auf Sey, der etwa 10m entfernt noch immer hoch oben an dem Geländer steht und das in der Sonne glitzernde Wasser.

Plötzlich tut sich etwas. Ein Plätschern durchbricht das monotone dahinrauschen des Gewässers und erregt ihre Aufmerksamkeit. Mit pochendem Herzen beobachtet Suki wie die Wasseroberfläche nahe dem Ufer von einer kleinen, grauen Hand durchbrochen wird. Sie krallt sich in das Gras, dessen Spitzen gerade so den Fluss berühren und zieht sich daran empor. Nach und nach taucht die Gestalt eines kleinen Mädchens aus dem Wasser auf, mit Algen und anderem Schmutz in den rötlichen, lockigen Haaren und blau-grauer, aufgequollener Haut. Sie trägt ein, von Wasser triefendes, dunkelrotes Sommerkleid und einen roten Haarreif, der schief auf ihrem Kopf sitzt. Als Suki ihr direkt in das tropfende Gesicht sieht, blickt sie in blutrote Augen, die beinahe zu Schlitzen verengt sind, und erkennt eine Reihe spitzer, kleiner Zähne, die wie Nägel aus dem lächelnden, bleichen Mädchenmund ragen. Ihr läuft ein kalter Schauer über den Rücken und plötzlich ist sie sich sicher, dass dies wohl der wahre Grund ist, aus dem Sey sie nicht dabei haben wollte. Im Angesicht dieses Monsters, bereut sie es nicht auf ihn gehört zu haben.

Sey springt mit einem Satz über das Geländer und schlittert mit seinen Schuhen seitlich an dem nassen Hang herunter, etwa bis zu hälfte.

„So du bist also ertrunken, was... Keine Sorge das wird schnell vorbei sein...“

Die Kleine stößt ein schrilles Fauchen aus, die, mit scharfen Krallen bestückten Finger zu Klauen gekrümmt. Sey streckt ruhig seinen bewaffneten Arm aus, nimmt sie ins Visier und gibt einen gezielten Schuss auf den Kopf des Mädchens ab. Das Geräusch des Schusses lässt Suki zusammenzucken, doch als sie die Augen wieder auf das Mädchen richtet, liegt diese nicht wie erwartet, reglos auf der Wiese. Stattdessen beobachtet Suki etwas, das einerseits die Angst in ihrem Inneren beinahe ins unendlich steigert, andererseits aber einer der schönsten Anblicke ist, den sie in ihrem Leben bisher machen konnte. Die Kleine steht aufrecht in der Wiese, den Blick starr auf Sey gerichtet. Hinter ihr erhebt sich aus dem Flussbett ein glitzernder, sich stetig bewegender Arm aus Wasser, der in einem Bogen, scheinbar in die Luft schwebend, um sie herumgleitet und vor ihr ein dickes, unförmiges Schutzschild bildet. Die Kugel schwimmt geräuschlos in dem Wasserschild umher.

Sey stößt beeindruckten Pfiff aus.

„Wow,... sieht aus als wärst du schon viel zu lange tot, Prinzesschen... Ich hätte mich wirklich früher um dich kümmern sollen...“

Das Mädchen lässt ein tiefes Grollen vernehmen, bevor das sie schützende Wasser erneut seine Form verändert. Hunderte kleiner Auswüchse recken sich aus dem Schild in Seys Richtung. Ein kindliches Lachen dringt an Sukis Ohren, aber es steckt eine Kälte darin die sie schaudern lässt. Im nächsten Moment schießen längliche Wassertropfen mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Sey zu, wie ein tödlicher Hagel aus spitzen Pfeilen. Doch er weicht nicht vom Fleck, sodass Suki ihm schon eine Warnung zurufen will, doch der Schrei bleibt ihr im Halse stecken. Die Geschosse prasseln nur so auf Sey nieder, doch aus irgendeinem Grund scheinen sie ihn nicht zu treffen. Er bewegt sich unglaublich schnell, und die Wasserkugeln, denen er nicht ausweichen kann, blockt er mit gezieltem Einsatz seiner Waffe einfach ab. Suki bemerkt einen roten Schimmer in seinen Augen und erinnert sich kurz an die Memo und den unheimlichen Ausdruck den sie in seinem Blick beobachtet hatte. Die an Sey vorbeiziehenden Kugeln hinterlassen kleine, aber tiefe Löcher in dem festen Untergrund. Das Lachen des Mädchens verstummt, als sie merkt, dass ihre Attacke keinen Sinn hat. Doch ein paar ihrer Geschosse treffen ihr Ziel. Als die Angriffswelle verebbt, steht Sey keuchend an dem durchnässten Hang, eine Hand hält er auf eine blutende Wunde an seinem rechten Oberarm, ein weiterer roter Streifen zieht sich über seine linke Wange. Er wischt das kleine Blutrinnsal, das davon herunterläuft schnell beiseite und macht einen Schritt auf das Mädchen zu.

„Schön, du hast es so gewollt...“

Er lässt das Magazin mit einem Knopfdruck aus der Waffe rutschen und ersetzt es durch ein anderes, das er aus einer seiner Taschen zieht. Mit einem Klick rastet es ein. Als Sey sich daraufhin von dem matschigen Hang abdrückt und auf das klatschnasse Wesen vor ihm zusprintet ist Suki sich sicher, das unheimliche rote Glühen in seinen Augen aufleuchten zu sehen. Mit dem Schwung von dem steilen Abhang hält er mit gezogener Waffe auf das Mädchen zu, schlägt aber von einer Sekunde zur anderen einen Haken, als sich ein weiterer, halb durchsichtiger Wasserstrom wie ein lebendiges Wesen aus dem Kanal erhebt und auf ihn zustößt. Er kann gerade noch ausweichen, doch der Strom teilt sich kurzerhand in der Luft und er gerät kurz ins stolpern als er die neue Gefahr aus einer anderen Richtung auf sich zuschnellen sieht. Er nutzt den vom Wasser glitschigen Untergrund aus, duckt sich mit viel Schwung und schlittert unter den, auf ihn zuschießenden Wasserarmen weg, direkt auf das Mädchen zu. Diese stößt ein erneutes Fauchen aus, als sie bemerkt, dass er ihre Verteidigung durchbrochen hat, doch jetzt liegt Sey zu ihren Füßen auf dem Rücken und sie holt mit ihren Krallenartigen Händen nach seinem Gesicht aus. Er hebt die Waffe, doch sie schlägt sie ihm mit einem bedrohlichen Knurren aus der Hand, wobei ihre scharfen Fingerspitzen rote Kratzer auf seiner Haut hinterlassen. Jetzt völlig unbewaffnet und den Klauen des Dämons ausgeliefert bleiben Sey nicht mehr viele Möglichkeiten offen. Also tut er das erstbeste was ihm spontan durch den Kopf geht.Er drückt sich mit einem Arm noch näher an das Monster heran und versetzt ihren zierlichen Mädchenbeinen eine gezielten Tritt, der sie augenblicklich auf den schlammigen Boden stürzen lässt. Sey rappelt sich auf, schnappt sich seine Waffe, die völlig mit Matsch bedeckt ist und richtet sie auf das am Boden liegende Kind. Er hat bereits den Finger am Abzug, als ein jämmerliches Geräusch zu hören ist. Das Weinen eines Kindes. Suki hält es nicht mehr aus und erhebt sich wie in Zeitlupe aus ihrem Versteck. Das hohe Schluchzen wird lauter und als das Mädchen den Kopf hebt sind die spitzen Reißzähne die vorher noch aus ihrem Mund ragten verschwunden und ihre vorher noch eiskalten, blutroten Augen sind klar und blau und schimmern vor Tränen. Suki geht langsam auf sie zu, ohne noch einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie sich eigentlich nicht von Sey hatte erwischen lassen wollen. Er mustert sie ohnehin ohne ein Wort zu sagen, und seine Miene lässt erkennen, dass er sich ihrer Anwesenheit offenbar schon länger bewusst war. Er tritt noch einen Schritt auf das schluchzende Bündel vor ihm zu und macht anstalten den finalen Schuss abzugeben, als Suki sich ihm in den Weg stellt.

„Nicht! Warte noch... sieh sie dir an,... sie weint..“

Sie beugt sich zu der Kleinen herunter, die ihrerseits den Blick hebt, ihre Lippen formen lautlose Worte.

„Ich kann dich nicht verstehen...“

Sie kommt dem Mädchen noch etwas näher und diesmal kann sie die geflüsterten Laute verstehen.

„Mami hat gesagt alles wird gut... aber sie hat gelogen... Ich habe keine Luft mehr bekommen,.. ich konnte nicht atmen... aber sie hat nicht aufgehört...“

„Was hat sie getan?“

Das Gesicht der Kleinen wird ernst und ihre nächsten Worte fallen ihr ausdruckslos über die Lippen.

„Sie hat mich umgebracht.“

Suki schaudert bei dem Gedanken daran und das kleine Mädchen macht einen derart verlassenen und mitleidigen Eindruck, dass sie sie am liebsten in die Arme geschlossen und getröstet hätte. Doch von einem Moment zu nächsten ändert sich dieser Eindruck vollkommen. Die Trauer in den Augen des Mädchens wandelt sich in Wut und sie ballt die kleinen Hände zu Fäusten.

„Warum? Warum hat sie mich im Badezimmer ertränkt? Ich war kein böses Mädchen! Warum hat sie mich getötet?“

Ihre Worte gehen in einen schrillen Schrei über als sie nach der völlig perplexen Suki greift und sie rücksichtslos in das eiskalte Wasser des Kanals stößt. Sie kann weder Seys geschockten Ruf, noch die drei Schüsse die ihm augenblicklich folgen, hören, als ihr Kopf in die Fluten eintaucht. Aber sie spürt wie eine unsichtbare Kraft sie trotz ihrer hektischen Schwimmbewegungen immer weiter nach unten zieht. Sie hat das Gefühl, als würde ein dutzend Hände sie in die Tiefe ziehen. Der letzte Rest Luft entweicht aus ihren Lungen und steigt in einer großen Blase nach oben. Sie glaubt ihre Lungen würden platzen und der Druck auf ihren Ohren wird immer unangenehmer. Irgendwann geben ihre Arme wie von selbst auf sich zu wehren, obwohl sie noch immer sehnsüchtig zu der hellen Wasseroberfläche hinaufstarrt, hinter der ihre Lungen gierig frische Luft erwarten. Vor ihren Augen blitzen allmählich bunte Lichter auf, als wollten sie ihre ausweglose Situation ins lächerliche ziehen. Dann wird es allmählich dunkel um sie herum...
 

An der Oberfläche muss Sey währendessen feststellen, dass dieser Dämon weitaus widerstandsfähiger ist als er vermutet hatte. Seine drei Schüsse, mit den extra starken Spezialkugeln, die für gewöhnlich ihren Zweck erfüllten, haben zwar ein Tennisball großes Loch in den Schädel des Mädchens gerissen und ihren Unterkiefer zertrümmert, aber noch stand sie, und der Turm aus Wasser der sich wie ein wütendes, bedrohliches Ungeheuer hinter ihr aufbäumt verheißt nichts gutes, dessen ist er sich sicher. Mit den Augen sucht er hektisch nach Suki, aber er kann sie auf der aufgewühlten Oberfläche nirgends entdecken. Er hat nur eine Wahl. Er läd seine Waffe nach und erwartet die allesvernichtende letzte Attacke des Dämons. Sie hebt die Arme, und als sie in der Waagrechten stehen bleiben, hört auch der Wasserberg hinter ihr auf zu wachsen. Sie verharrt einen Augenblick in dieser Position bevor sie ruckartig die Arme nach vorne schnellen lässt, woraufhin die Wassermassen wie eine riesige Welle auf Sey zustürzen, aber sorgfältig ein Loch um sie herum auslassen, als wäre der Raum um das Mädchen Wasserabweisend. Sey nutzt die Gelegenheit, seine Augen strahlen in einem dunklen Glutrot als er Anlauf nimmt und, gerade als die Welle direkt vor ihm zum ersten mal den Boden berührt, sich mit aller Kraft abstößt und der flüssigen Wand entgegen springt. Die Kälte beim eintauchen raubt ihm einen Moment den Atem und er spürt wie der Druck ihn zurückzuschleudern droht, doch nach einem Augenblick spürt er bereits wie er die Oberfläche auf der anderen Seite durchbricht. Er befindet sich in dem Hohlraum, den das Wasser um das Mädchen herum gebildet hat, und bevor sie ihrer Verblüffung ausdruck verleihen kann, steht er schon vor ihr und hält ihr die Mündung seiner Waffe an die Stirn, direkt zwischen den schmalen Augenbrauen und drückt ab.

Nicht nur ein Traum?

Reaper - Kapitel 6

Nicht nur ein Traum?
 

Als Suki vorsichtig die Augen öffnet, kann sie um sich herum nur schemenhafte, dunkle Umrisse erkennen. Ihr Hals brennt und sie muss husten. Allmählich werden ihre Sinne klarer und sie erkennt, dass sie sich in einem düsteren Raum aufhält, der hier und da mit grellen Farben gespickt ist. Sie versucht sich aufzurichten, als eine Hand von hinten nach ihrer Schulter greift und sie zurück in die Kissen drückt. Sie dreht sich und sieht in die grünen Augen einer jungen Frau, die hinter der Lehne der Couch steht, auf der Suki offenbar abgelegt worden war. Die Frau hat dunkle, gebräunte Haut, neon-pinke, kurze Haare und mehrere Piercing in dem schmalen, hübschen Gesicht. Zudem rankt sich eine tätowierte Stacheldrahtschlinge aus ihrem Dekolleté hinauf bis um ihren Hals, sodass es aussieht, als wäre es der Strick eines Galgens. Als sie Sukis Blicke bemerkt, grinst sie sie kalt an.

„So, bist also auch endlich erwacht, Dornröschen?“

Die Verächtlichkeit in ihrer Stimmer ist kaum zu überhören.

„Ich bin Amander, meine Freunde nennen mich Amy... aber für dich...“

Sie nimmt einen tiefen Zug an der Zigarette, die sie in der Hand hält und pustet Suki eine Rauchschwade entgegen.

„...Für dich bin Amander, klar?“

Amanders abweisende Art verschlägt ihr einen Moment die Sprache, bis die Erinnerungen an die letzten Ereignisse in ihrem Gedächtnis einschlagen wie ein Blitz.

„Wo ist er?!“

„Wer?“

„Sey! Was ist passiert? Geht’s ihm gut?“

In ihrer Panik setzt sie sich ruckartig auf, wodurch ihr Kopf sich zu drehen beginnt und Übelkeit in ihr aufsteigt.

„Hey, hey reg dich ab, Schätzchen! Er ist da drüben...“

Und tatsächlich, Sey liegt mit geschlossenen Augen auf einem, mit Leopardenmuster versehenen, großen Bett, am anderen Ende des Zimmers. Sein Brustkorb hebt und senkt sich langsam und gleichmäßig. Suki kann ihre Erleichterung nur schwer verbergen.

„Ihm geht’s gut oder?“

Amander drückt den Stummel ihrer Zigarette in der Hand einer hellen Statue aus, die neben einem schmutzigen Aquarium steht.

„Sicher,... was sonst? Diese verdammten Teufel finden immer einen Weg zu überleben... genau wie Ratten, verstehst du.“

„Was ist passiert?“

Amander lässt sich auf einem schmalen Barhocker nieder und schlägt die Beine übereinander.

„Ich hab keine Ahnung, Schätzchen. Alles was ich weiß ist, dass dieser Spinner plötzlich klitschnass und mit dir auf dem Rücken vor meiner Tür gestanden hat. Hat meinen ganzen Teppichboden ruiniert... und ausgesehen hat er, als wär er auf nem schlechten Trip, oder so... Ich hab schon Cracknutten gesehn, die sahen besser aus!“

Sie verzieht amüsiert den Mund zu einem Lächeln.

„Aber in meiner grenzenlosen Güte, hab ich euch beiden Asyl gewehrt... und dafür schuldet ihr mir was!“

Die Wandlung, die mit ihrem Lachen vorgeht während sie diese Worte ausspricht, lässt in Suki Unbehagen aufsteigen.

Nicht, dass sie sich in diesem seltsamen Wohnzimmer nicht ohnehin schon unwohl genug gefühlt hätte... Die Wände des Raumes, sowie die Decke, sind tiefschwarz gestrichen und die düstere Atmosphäre wird nur von einigen, farbigen Neonröhren und dem knallroten Teppichboden aufgelockert. Die Einrichtung besteht hauptsächlich aus einer bunten Mischung aus antiken Möbelstücken aus den verschiedensten Epochen und einer beachtlichen Sammlung an kuriosen, bunten Kunstgegenständen. Die Fenster sind mit schweren, weinroten Samtvorhängen verhängt. Gerade als Amander sich gelangweilt eine neue Zigarette anzündet, bemerkt Suki, dass sie selbst nicht mehr ihre eigenen Klamotten trägt, sondern ein weites, dunkelblaues Top, auf dem mit grellen Farben verschiedene Schusswaffen abgebildet sind und eine schwarze Jogginghose, die ihr wohl gut 15cm zu lang und auch um einiges zu weit ist. Mit geröteten Wangen wendet sie sich fragend Amander zu, die sie offenbar amüsiert beobachtet hat.

„Sieh mich nicht so an, deine eigene Kleidung war völlig durchnässt, von dem langweiligen Style mal ganz zu schweigen... du solltest mir dankbar sein, jetzt trägst du wenigstens ein ansehnliches Oberteil... du solltest mehr Farbe tragen, dann wirkt es wenigstens so als hättest du etwas mehr Oberweite.“

Sukis Kopf wird noch roter und sie dreht sich schnell weg, damit Amander nicht merkt wie unangenehm ihr diese Unterhaltung ist... Als ihr Blick auf Sey fällt, bemerkt sie, dass er noch immer dieselben, nassen Sachen trägt wie vorher, seine Jacke liegt tropfend auf einem Stuhl, unter dem sich bereits ein dunkler Fleck im Teppich gebildet hat. Als eine von Amanders Rauchschwaden von hinten an ihrem Ohr vorbeizieht, zuckt Suki unwillkürlich zusammen.

„... Oder bist du am Ende gar nicht sauer weil ich deine Klamotten gewechselt habe...“

Sie starrt Suki mit einem vielsagenden Grinsen an.

„... Bist wohl nur beleidigt, weil ich es nicht ihm überlassen hab, was...?“

Suki öffnet den Mund um etwas zu erwidern, aber dazu lässt Amander ihr keine Gelegenheit. Mit einem Hüftschwung macht sie auf dem Absatz kehrt und geht Richtung Tür. Bevor sie schließlich den Raum verlässt, hält sie inne.

„Glaub mir Kleine, du solltest nicht den Fehler begehen dich von ihm täuschen zu lassen... diese verdammten Reaper sind echte Meister darin sich zu verstellen, und sowas wie ein Gewissen kennen sie nicht,... bei der ersten Gelegenheit wird er dich ans Messer liefern, das kann ich dir versprechen!“

Suki blickt der, im Türrahmen verschwundenen Amander verunsichert nach. Sie ist sich nicht ganz sicher, was sie von dieser Warnung halten soll. Aber wenn sie sich entscheiden müsste, wäre Sey eindeutig jemand dem sie mehr Vertrauen entgegen bringt, als dieser Amander!... Andererseits,... eine wirkliche Begründung für dieses Vertrauen fehlt ihr noch immer... Mit einem energischen Kopfschütteln, wirft Suki ihre Zweifel beiseite. Immerhin hatte Sey ihr in den letzten 24 Stunden bereits zweimal, nein... sogar dreimal das Leben gerettet! Jetzt noch an ihm zu zweifeln kommt ihr deshalb reichlich undankbar vor. Sie lässt den Blick einen Moment auf dem schlafenden Sey ruhen. Er liegt mit seinen nassen Klamotten rücklings auf dem Bett, so als hätte er sich einfach darauffallen gelassen, kaum, dass er den Raum betreten hatte. Sein linker Arm hängt reglos von der Bettkante herunter, auf seinem Unterarm kann Suki sogar aus dieser Entfernung eine Gänsehaut erkennen. Ein lautes Quietschen ertönt, als sie sich von dem kleinen Sofa erhebt, die warme Decke, unter der sie aufgewacht ist, unter den Arm geklemmt. Mit leicht zögernden Schritten geht sie auf Sey zu und legt sachte die Wolldecke über ihn. Vorsichtig streicht sie einige, noch immer recht nasse Haarsträhnen aus seinem Gesicht. Gerade als ihre Fingerspitze für den Bruchteil einer Sekunde seine Haut berührt, durchfährt Suki ein Gefühl, als würde ein elektrischer Schlag durch ihren gesamten Körper rasen. Ihr wird von einer Sekunde zur anderen schwarz vor Augen und sie fühlt sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Plötzlich reisst die Dunkelheit vor ihr auf und sie kann einige vage Umrisse erkennen, die stetig klarer zu werden scheinen. Verwirrt muss sie feststellen, dass sie sich nicht mehr in dem kuriosen Zimmer in Amanders Wohnung befindet, sondern auf einer kleinen Lichtung, mitten im Wald. Es scheint Herbst zu sein, denn der gesamte Boden ist mit Blättern in den verscheidensten Rot und Gelbtönen bedeckt, und nur einige wenige braune Nachzügler hängen noch an den dürren, grauen Ästen der kahlen Bäume. Eine kalte Brise schlängelt sich zwischen den Stämmen hindurch und weht ihr eine Strähne ihrer Haare ins Gesicht. Als Suki sie mit einer Hand hinter ihr Ohr streicht, bemerkt sie plötzlich, dass ihre Haare um ein vielfaches länger sind als gewöhnlich. Sie trägt auch nicht mehr Amanders seltsames Top oder die Jogginghose, sondern ein altmodisches, schlichtes Klein und eine helle Schürze, deren Ränder mit einem unauffälligen Spitzenstoff verziert sind. Neben ihr auf dem Waldboden steht ein leicht ramponierter, aus Weidenzweigen geformter Korb, indem einige Pilze und andere Gewächse liegen. Wie in Trance hebt Suki den Korb auf und geht einige Schritte nach rechts, einen kaum sichtbaren, schmalen Pfad entlang. Sie hat keine Ahnung, warum sie ausgerechnet in diese Richtung läuft, es ist fast so als würde ihr Körper sich von selbst bewegen. Plötzlich hört sie Stimmen, die sich ihr rasch zu nähern scheinen. Aber da die Bäume die meisten Geräusche um sie herum abdämpfen, kann sie nicht sicher sagen wie weit sie noch entfernt sind oder aus welcher Richtung sie genau kommen. Doch aus irgend einem Grund, ist sie sich plötzlich sicher, dass sie so schnell wie möglich von hier verschwinden muss. Sie läuft so schnell sie kann über den unebenen Waldboden, verliert in ihrer Eile aber den Pfad aus den Augen und bereits nach wenigen Minuten muss sie innehalten, um sich neu zu orientieren. Nachdem sie sich mehrmals um die eigene Achse gedreht hat, in der Hoffnung den Pfad irgendwo in ihrem unmittelbaren Umfeld zu entdecken, fällt ihr Blick plötzlich auf die moosbewachsenen Reste einer alten Steinmauer. Sie verspürt ein Gefühl der Erleichterung, und ohne zu wissen wie sie auf diese absurde Idee kommt, ist sie sich plötzlich sicher, dass sie den Heimweg von dieser Mauer aus genau kennt.

Gerade als sie um die Mauer herumgeht, wird sie plötzlich unsanft am Arm gepackt und auf den Boden geschleudert. Als sie aufblickt, sieht sie in die Augen eines großen Soldaten, der sie einerseits voller Abscheu, andererseits schon fast begierig anstarrt. Neben ihm tauchen zwei weitere Uniformierte auf, beide mit einem unheimlichen Lächeln auf den Lippen. Sie werfen sich ein paar Sätze in einer Sprache zu, die Suki nicht verstehen kann, und brechen daraufhin in schallendes Gelächter aus. Einer von ihnen geht auf Suki zu, umschließt mit einer Hand ihren Hals und zerrt sie grob auf die Füße. Er scheint irgendetwas von ihr wissen zu wollen, doch sie kann kein Wort dieser seltsamen Sprache verstehen. Der große Kerl, den sie als erstes gesehen hatte, schüttelt kurz den Kopf, hebt dann eine Hand an den Mund und stößt einen lauten Pfiff aus, gefolgt von einem gebrüllten Befehl. Nach wenigen Minuten kommt ein weiterer Soldat um die Mauer herum, den Helm tief ins Gesicht gezogen und ein altmodisches Gewehr an einem Band lässig über die linke Schulter geworfen. Er ist ein gutes Stück kleiner als die anderen Drei, und wesentlich schlanker. Von der Statur her würde Suki ihn wohl eher auf etwa 16, vielleicht 17 Jahre schätzen. Der große Soldat versetzt ihm einen leichten Schlag auf den verbeulten Metallhelm und scheint ihm mit grimmiger Miene Anweisungen zu geben. Der Andere nickt stumm, den Blick noch immer auf den Boden geheftet. Als der Große geendet hat, nimmt er ihm das Gewehr ab und stößt ihn unsanft in Sukis Richtung, wo er wenige Meter vor ihr zum stehen kommt und zum ersten mal aufsieht, direkt in ihre Augen. Sukis Herz scheint einen Augenblick still zu stehen, als sie erkennt, dass es Sey ist, der da vor ihr steht. Sein Gesicht sieht etwas schmaler aus, als sie es gewohnt ist, und ist mit all dem Schmutz und den dunklen Augenringen ein großer Gegensatz zu dem Sey, mit dem sie für gewöhnlich zu tun hat... Aber die schwarzen Haare, die ihm bis in die Augen fallen und dieser genervt, mürrische Ausdruck auf seinem Gesicht lassen keinen Zweifel, daran dass es sich tatsächlich um Sey handelt. Das Einzige, was Suki etwas irritiert, ist die Tatsache, dass die Augen in die sie blickt, nicht wie sonst tiefschwarz sind, sondern, wenn auch etwas erschöpft dreinblickend, in einem strahlenden Blau leuchten.

„Wie heisst du?“

Suki schreckt aus ihren Gedanken auf, als sie realisiert, dass er mit ihr spricht.

„...Se- Selena.“

Der Name fiel einfach so von ihren Lippen, bevor Suki überhaupt daran gedacht hatte, zu antworten. In ihrem Kopf scheint ein unglaubliches Durcheinander zu herrschen, und sie hat das Gefühl, als würde sie es von Sekunde zu Sekunde schwerer haben einen klaren Gedanken zu fassen.

Einer der anderen Soldaten ruft ihnen erneut einen Befehl zu, den Suki nicht verstehen kann, doch Sey wendet sich ohne lange zu überlegen wieder zu ihr um, um für sie zu übersetzen.

„Sie wollen wissen, wo dein Dorf liegt... Aber ich rate dir, sie in eine falsche Richtung zu führen, wenn du willst, dass morgen noch etwas von deiner Heimat übrig ist.“

Er wirft einen verstohlenen Blick auf seine drei Kameraden, die aber offensichtlich kein Wort von seiner Übersetzung verstanden haben und ungeduldig auf eine Antwort warten. Suki will Sey eigentlich fragen was hier los ist, aber egal wie sehr sie sich konzentriert, die Worte in ihrem Kopf wollen einfach nicht über ihre Lippen kommen. Stattdessen antwortet ihr Mund wie von einer fremden Kraft gesteuert, und völlig gegen ihren Willen.

„Von meinem Dorf ist ohnehin nichts mehr übrig... Ihr seid nicht die ersten Soldaten, die seit Beginn des Krieges hier aufgetaucht sind... aber...ich verstehe nicht ganz warum du versuchst mir zu helfen..?“

Gerade als Sey den Mund öffnet um ihr zu antworten, taucht einer der anderen Soldaten neben ihm auf und greift nach Sukis Arm. Er wirft ihr ein paar unverständliche Worte ins Gesicht, und zieht sie unsanft zu sich. Sey redet derweil in der seltsamen Fremdsprache auf ihn ein, doch der Kerl lässt sich nicht beirren. Gerade als der Soldat, von den beiden Anderen angefeuert, nach ihren Haaren greift und ihren Kopf grob zu sich zerrt, greift Sey nach seinem Arm. Dann geht alles unglaublich schnell. Sey holt aus und verpasst dem großen rothaarigen Soldaten einen gezielten Schlag ins Gesicht, wodurch dieser mit einem Aufschrei von Suki ablässt und stattdessen die Hände auf seine übel blutende Nase presst. Suki verliert das Gleichgewicht und landet rücklings auf dem Waldboden, gerade als die beiden anderen sich in das Geschehen einmischen. Einer von ihnen packt Sey am Kragen seiner zerschlissenen Uniform und stößt ihn gegen den nächsten Baum wo er ihm diverse Beleidigungen entgegenbrüllt, die Suki zwar nicht versteht, deren Bedeutung aber eindeutig am Gesicht des aufgebrachten Glatzkopfes abzulesen ist. Sey versucht sich aus seinem Griff zu befreien, doch der etwa einen Kopf größere und um einiges breitere Kerl ist ihm in Sachen Kraft eindeutig überlegen.

„Worauf wartest du? Steh auf und verschwinde solange du die Gelegenheit dazu hast!“

Seys Ruf wird von einem keuchenden Husten gefolgt, als der Soldat, der ihn festhält, ihm die Faust in den Bauch rammt. Suki rappelt sich auf, weicht dem dritten Soldaten, der sich bis eben um den Verletzten gekümmert hatte, mit einem weiten Haken aus und rennt so schnell sie kann in den Wald hinein. Sie kann die dumpfen Schläge hören, jedes mal gefolgt von Seys schmerzverzerrtem Stöhnen. Jede Faser in ihrem Körper schreit danach sich umzudrehen und ihm zu helfen, aber ihre Beine bewegen sich einfach von selbst. Sie hat das Gefühl alle ihre Sinne würden sich unaufhörlich im Kreis drehen, als müsste ihr Kopf jeden Moment zerbersten. Sie blickt über eine Schulter nach hinten und sieht gerade noch wie Sey weit hinter ihr an dem Baumstamm herunterrutscht und dort reglos liegen bleibt. Doch obwohl sie sich am liebsten zum Umdrehen zwingen würde, rennt sie weiter... immer tiefer in den Wald hinein, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung, was eigentlich ihr Ziel ist. Plötzlich spürt sie, wie sie von hinten am Arm gepackt wird und ein grober Ruck durchfährt ihren Körper. Ihr wird von einer Sekunde zur anderen schwarz vor Augen und sie hat das Gefühl, als würde sie aus einem eiskalten See auftauchen, fühlt wie ihr Gesicht durch die Oberfläche bricht und wie Wärme durch ihre eingefrorenen Glieder fließt.

Als sie die Augen aufschlägt, starrt sie geradewegs in Seys, jetzt wieder nachtschwarze Augen, wobei ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt ist. Er blickt mindestens genauso verwirrt drein, wie sie sich gerade fühlt. Als sie realisiert, dass sie diejenige ist, die über ihn gebeugt, die Ellbogen auf die Matratze stützt, springt sie mit knallrotem Gesicht auf und versucht, wenn auch eher ungeschickt, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Nachdem sie sich gefangen hat, dreht sie sich hektisch um, in der Hoffnung, dass er ihre glühenden Wangen nicht bemerkt, und findet sich direkt vor Amanders mit Stacheldraht-tattoo versehenem Dekolleté wieder.

„Was zur Hölle soll das hier werden, Schätzchen?“

Suki bringt etwas Abstand zwischen sich und Amander und versucht mit einigen unorthodoxen Gesten und unverständlichem Gestammel zu erklären, was sie im Grunde selbst nichtmal ansatzweise versteht.

„Ein Flashback...“

Suki dreht sich zu Sey um, der inzwischen aufrecht aus dem Bett sitzt und sich mit einer Hand den Kopf hält. Er vermeidet es sie anzusehen und starrt stattdessen ins Leere.

„Was genau hast du gemacht, Suki?“

Sie spürt wie ihr erneut die Röte ins Gesicht steigt, und ringt verzweifelt nach Worten.

„Also ich,..äh.. ich dachte dir ist vielleicht kalt.... also, wegen der nassen Kleidung und dann... äh.. naja... ich muss dich wohl... irgendwie... ausversehen berührt haben, und im nächsten Moment war ich auf dieser Waldlichtung...“

Sey blickt sie völlig entgeistert an.

„Du warst wo? Warte mal, soll das heißen, du warst da?“

„... Sicher, ähm... du hast mich doch gesehen.. ich war das Mädchen mit dieser altmodischen Schürze... aber ich verstehe nicht ganz was das alles-...“

Sey steht mit einem Satz auf und läuft unruhig hin und her, wobei er sich mit einer Hand nachdenklich durch die Haare fährt.

„Das ist unmöglich, das einzige Mädchen, das dort war, ist... Ich meine, es ist schließlich meine Erinnerung...“

„... Deine Erinnerung? Es war also nicht bloß irgendein Traum? Soll das heißen, diese Soldaten... und dieses Mädchen, indem ich irgendwie dringesteckt habe... das ist alles wirklich passiert?“

Sey blickt ihr durchdringend und gleichzeitig etwas abwesend in die Augen, fast so als würde er angestrengt über etwas nachdenken und hoffen die gesuchte Antwort bei ihr zu finden.

„Du warst also sie?... Vielleicht ergibt das alles doch einen Sinn... Immerhin ist sie...“

Er stockt mitten im Satz und weicht ihrem Blick aus, so als hätte er eben schon mehr gesagt, als er eigentlich vor gehabt hatte... Amander lässt ein belustigtes Kichern hören und schleicht gut gelaunt durch die Tür, wobei sie noch ein gut hörbares „Oh oh!“ hinterlässt. Sey macht keine Anstalten das Thema weiter zu verfolgen, doch so einfach gibt Suki sich nicht geschlagen.

„Sag es schon, Sey! Du verschweigst mir irgendwas! Wer ist dieses Mädchen und warum stehe ich mit ihr in Verbindung?“

„Um ehrlich zu sein, ich habe selbst keine Ahnung was genau hier läuft... Anfangs dachte ich du wärst sie...- ich meine, du siehst ihr nicht nur ähnlich, du bist ihr exaktes Ebenbild! Ich dachte... vielleicht...“

Ein kalter Schauer zieht sich durch Sukis gesamten Körper und sie spürt wie sich eine seltsame Taubheit in ihrem Kopf breit macht. Obwohl sie ihr bestes gibt sich nichts anmerken zu lassen, lässt der Kloß in ihrem Hals, ihre Stimme leicht zittern.

„... Heißt das, der wahre Grund, aus dem du mich nicht hast sterben lassen... ist, weil du dachtest ich wäre sie?“

Auch wenn Sey keinen Ton von sich gibt, ist der ehrliche und gleichzeitig beschämt wirkende Blick, mit dem er sie streift, genug Antwort. Suki fühlt einen erneuten Stich und wendet sich schnell von ihm ab.

„Aber ich bin nicht sie... ich hab es selbst gespürt. Dieses Mädchen ist ein völlig anderer Mensch als ich, auch wenn wir uns vielleicht ähnlich sehen... Ich schätze, das hast du schon selbst gemerkt... Auf jeden Fall wäre ich nicht wie ein Feigling weggelaufen, so wie sie es getan hat...“

Sey wirft ihr einen wütenden Blick zu.

„... Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst, Suki! Sie war alles andere als ein Feigling...“

„Ach ja? Was ich gerade gesehen und gespürt habe, war Feigheit aber ziemlich ähnlich!“

„Was du gesehen hast war nur ein kleiner Teil der Geschichte! Jemand wie du, der immer sein ruhiges Leben führen konnte, hat kein Recht einen Menschen wie sie zu verurteilen!“

Ohne so genau zu wissen warum, spürt sie, wie ihre Augen ein wenig brennen und geht schnell Richtung Tür.

„...Schön! Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich nicht sie bin! Tut mir ja leid, aber ich schätze, du hast das falsche Mädchen gerettet! Ich hoffe du bist nicht zu enttäuscht!“

„Suki! Warte!“

Die Tür fällt mit einem lauten Schlag ins Schloss, der in der bedrückenden Stille, die im Raum zurückbleibt, nachhallt. Sey starrt einige Sekunden auf die geschlossene Holztür vor sich, unschlüssig, was er als nächstes tun soll. Fürs erste begnügt er sich damit, Amanders Barhocker mit einem Tritt in die nächste Ecke zu befördern, bevor er sich schließlich frustriert auf die kleine, schäbige Couch in der Mitte des verlassenen Zimmers fallen lässt und in Gedanken seine eigene Dummheit verflucht...

Alles läuft nach Plan...(?)

Reaper – Kapitel 7

Alles läuft nach Plan...(?)
 

Gleichzeitig unbeschreiblich wütend und enttäuscht stürmt Suki durch den schmalen Flur auf die Haustür zu, wo sie allerdings schon von einer schadenfroh dreinblickenden Amander erwartet wird. Sie stößt sich lässig von der Wand, an der sie sich gelehnt hat, ab und geht auf Suki zu, die ihr möglichstes tut, sich an ihr vorbeizudrängen und einfach nur so schnell wie möglich zu verschwinden.

„Ich hab's dir ja gesagt, Sweety... einem von denen zu vertrauen ist das Dümmste, das du machen kannst...“

Suki ignoriert sie, wirft die Haustür auf und springt mit einem weiten Satz auf die Straße. Sie hastet den schmalen Bürgersteig entlang ohne so genau zu wissen warum sie es eigentlich so eilig hat und wo sie überhaupt hin will. Aber die kühle Luft, die ihrem Gesicht entgegenfliegt, wirkt wie Balsam für ihr erhitztes Gemüt. Sie wird erst etwas langsamer, als sie sich wieder auf der kleinen Beton Brücke befindet, auf der sich sich nur wenige Stunden vorher von Sey getrennt hatte, nur um ihm dann doch zu diesem unheimlichen Dämonen-Mädchen zu folgen... und beinahe dabei zu ertrinken...

Sie vergräbt die Hände in den Taschen ihrer viel zu großen Jogginghose und spaziert nachdenklich am Rand des Stadtkanals entlang. Ihr Herz macht immer noch unangenehme Sprünge in ihrer Brust. Suki kann sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal derart aufgebracht und verletzt gefühlt hatte. Andererseits schämt sie sich aber auch ein wenig, schließlich weiß sie, was sie tief in ihrem Inneren wirklich quält. Denn auch wenn sie keine Ahnung hat, wer genau dieses Mädchen namens Selena ist oder war, so spürt sie doch die Eifersucht, die sich in ihrem Unterbewusstsein geregt hat, als sie Seys Gesichtsausdruck gesehen hat. Im Grunde fühlt sie sich ekelhaft, dass sie überhaupt solche Gedanken zulässt... Ihr war wohl nicht bewusst, wie egoistisch sie in Wirklichkeit ist... Immerhin lebt Sey schon so viele Jahre länger und sie kennt ihn erst ein paar Tage... wie kann sie da auf die Idee kommen, dass ausgerechnet sie oberste Priorität für ihn hat? Vermutlich hätten sie nie ein Wort gewechselt, wen sie dieser Selena nicht so ähnlich sehen würde... letztlich war ihr Treffen für Sey wohl nur ein dummer Zufall, ein Missgeschick, mit dessen Konsequenzen er sich jetzt herumschlagen muss...

Seufzent lässt sie sich an dem, zum Kanal hinunterreichenden Hang auf die Wiese fallen und blickt zu den vorbeiziehenden Wolken am Himmel empor. Einige Minuten verharrt sie so, in denen sie ihre Gedanken ordnet und allmählich wieder zu sich selbst zurückfindet. Sie schließt die Augen und genießt es für einen Moment einfach an nichts zu denken und nur dem leisen Rauschen des Kanals zu lauschen.

Plötzlich hat sie das Gefühl als wäre sie nicht mehr allein, und als sie die Augen öffnet und den vom Himmel herabscheinenden Sonnenstrahlen entgegenblinzelt, entdeckt sie die dunkle Silhouette einer Person, die auf sie herabsieht.

„... Tss tss tss... ich hätte ja nie gedacht, dass du wirklich so dumm sein würdest hierher zurückzukommen, nach dem Aufruhr den ihr hier vor kurzem veranstaltet habt... und dann auch noch ganz allein...“

Suki richtet sich ruckartig auf und starrt den Mann direkt vor sich schockiert an. Er hat kurze, silber-graue Haare und eine schmale Narbe, die sich von seinem Haaransatz über sein linkes Auge, bis zu seinem Hals zieht. Er trägt einen dunkelgrauen Trenchcoat, hinter dessen aufgeknöpftem Kragen Suki deutlich eine schwarze Schutzweste erkennen kann, die einer Panzerung gleicht. In seiner rechten Hand hält er lässig einen altmodischen, silbernen Revolver, dessen Griff bereits zum größten Teil völlig abgewetzt ist. Als er ihren Blick bemerkt, hebt er die Waffe mit einem leisen Lachen und lässt sie in einer seiner Jackentaschen verschwinden.

„Keine Sorge, die brauche ich jetzt nicht... noch nicht... Erstmal möchte ich gerne wissen wo der verdammte Digero steckt, dem ich diesen ganzen Ärger verdanke...“

Er starrt sie ungeduldig an, und erst jetzt bemerkt Suki, dass seine Augen, genau wie Seys, tiefschwarz sind... Ihr Herzschlag beschleunigt sich in wenigen Augenblicken und ihre Hände krallen sich geradezu in das weiche Gras des Hanges.

„...Du... du bist ein Himitsu,... hab ich recht?“

Er setzt ein breites Grinsen auf, und beugt sich zu ihr hinunter.

„So, so.. Nicht genug, dass er seinen Job nicht erledigt, er verrät auch noch unsere Geheimnisse an eine Sterbliche... ich frage mich was als nächstes kommt...“

Er greift nach ihrem T-shirt und zieht sie auf die Beine.

„Also, soviel dazu, jetzt kommen wir zurück zum Wesentlichen... Wo ist er?“

„Ich-... ich weiß es nicht...“

„Tss, du hörst mir jetzt besser genau zu, Kleine, denn ich sage das nur ein einziges Mal! Du hast Glück, dass ich heute gut gelaunt bin, also tu besser nichts, dass mir diese gute Laune verdirbt!... Im Moment hab ich nämlich noch die Wahl, es für dich entweder kurz und schmerzlos zu machen, oder dafür zu sorgen, dass du dir wünscht, der Tod hätte dich zu dem Zeitpunkt erwischt, an dem es vorgesehen war! Also spuck endlich aus, wo er steckt, damit ich mich um seine Bestrafung kümmern kann, und wir haben die Sache hinter uns!“

Er hält sie grob am Handgelenk fest, während Suki nur verzweifelt versucht seinem stechenden Blick auszuweichen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte ihm unmöglich irgendeine Antwort geben können, denn sie bringt keinen einzigen Laut über ihre Lippen. Gerade als der Jäger ihr mit einem schmerzhaften Ruck an ihrem Arm zu verstehen gibt, dass sich seine Gedult dem Ende zuneigt, taucht eine dritte Person am Kanalufer auf.

„Wenn ich gewusst hätte, dass sie ausgerechnet dich auf uns ansetzten wäre ich wohl vorsichtiger gewesen...“

Sey steht am oberen Ende des Hangs und sieht ernst auf sie herunter. Als Suki erleichtert zu ihm raufsieht, weicht er allerdings ihrem Blick aus...

„Lange nicht gesehen, was Jack?“

Suki spürt wie der Druck um ihr Handgelenk etwas nachlässt und beobachtet, wie ihr Angreifer mit einem Grinsen seine freie Hand in die Jackentasche gleiten lässt, in der vorhin der Revolver verschwunden ist.

„Nicht schlecht, du kennst sogar noch meinen Namen... und das nach mehr als 70 Jahren... Weißt du, Sey, im Grunde konnte ich dich immer leiden... Glaub' mir, mich darum zu kümmern, dass du angemessen bestraft wirst, wird mir nur halb so viel Spaß machen, wie du vielleicht denkst.“

Er richtet seine Waffe auf Sey, doch der zeigt sich wenig beeindruckt.

„Sie werden Suki töten nicht wahr..?“

„He, natürlich werden sie das! Komm schon, du kennst die Regeln, Sey... vermutlich besser als die meisten Anderen, wenn man diesen kleinen Zwischenfall damals bedenkt... Gerade deshalb, hat es mich so überrascht, dass du dumm genug bist so einen Fehler noch einmal zu begehen! Ich dachte eigentlich, du hättest deine Lektion gelernt... Die Regeln sind unausweichlich und dürfen- nein, können nicht einfach umgangen werden!“

Sey sieht ihn nur resigniert an und spart sich jede Erwiderung, während Suki gebannt lauscht, auch wenn sie nicht wirklich verstehen kann, worauf diese Unterhaltung hinausläuft...

„Aber genug davon, ich als dein Freund will dir ein Angebot machen... du weißt, ich hasse jede Form unnötiger Arbeit, also warum ergibst du dich nicht einfach, ich mache es schön schmerzlos und verpass der Kleinen einen sauberen Kopfschuss und du kommst mit zum Hauptquartier... Wer weiß, vielleicht entgehst du damit sogar einer Hinrichtung, und kommst mit einem blauen Auge davon, genau wie damals!... Was hast du nochmal bekommen..?... Waren nur ein paar Jahrzehnte Einzelhaft, oder?“

„Nettes Angebot, aber nein danke...“

Jack seufzt gequält auf.

„Dann lässt du mir wohl keine andere Wahl als dich mit ein paar Kugeln zum mitkommen zu bewegen!“

Sein Finger rutscht auf den Abzug des Revolvers, doch gerade als er abdrücken will huscht ein leichtes Lächeln über Seys Gesicht, allerdings nur für einen Augenblick.

„Schön, von mir aus, nimm mich fest...“

Suki glaubt für einen Moment sie hätte sich verhört. Ungläubig starrt sie zu Sey hinüber, doch der scheint sich durchaus bewusst zu sein, was er da gerade gesagt hat. Mit ein paar Schritten geht er auf Jack zu, wobei er seine schwarze Schusswaffe aus seiner Jacke zieht und sie vor dessen Füße auf die Wiese fallen lässt.

„Ich will lediglich die Chance das ganze wieder in Ordnung zu bringen... und ich glaube ich kann den Ältesten einen Deal vorschlagen, den sie wohl dankend annehmen...“

Der Himitsu vor ihm scheint schlichtweg verwirrt, doch Sey lässt nicht locker und sieht ihn durchdringend an.

„Das ist die einfachste Lösung, die ich dir anbieten kann, Jack... Du bringst uns ins Hauptquartier und die Sache ist für dich erledigt...“

Der Angesprochene wirkt misstrauisch.

„Hab ich da gerade ein 'uns' gehört?“

„Wir müssten Suki natürlich mitnehmen... glaub mir, du wirst es bereuen, wenn du sie einfach tötest... Sie ist wichtiger für Zerberus, als du dir vielleicht vorstellen kannst...“

Suki sieht ihn fragend an, doch Sey weicht ihrem Blick erneut aus.

„Was ist, Jack? Du hast nichts zu verlieren... aber ich kann dir versprechen, dass die Ältesten, sobald sie realisieren wie wichtig Suki ist, dich wohl dafür belohnen werden, sie am leben gelassen zu haben...“

Sey mustert Jack mit einem schiefen Grinsen, das dieser eher neugierig erwidert.

„... Was soll an ihr so wichtig für Zerberus sein?“

„Wenn ich dir das sage, werden sie dich töten...“

Die Beiden schweigen sich einen Moment an, doch mit jeder Minute, die der Jäger länger zögert, wird der Ausdruck auf Seys Gesicht zuversichtlicher.

„... Das klingt ganz nach den elenden Hunden da oben... Schön, ich geb dir deine Chance...“

Er lässt endlich Sukis Arm los und zückt mit einem Griff in eine Tasche seines Trenchcoats eine etwa 30 Zentimeter lange, goldene Kette mit groben Maschen, die hier und da mit ein paar weißen, glänzenden Steinen gespickt ist. Das triumphierende Lächeln auf Seys Gesicht weicht augenblicklich einem Ausdruck, als müsste er gleich etwas unglaublich ekliges runterschlucken.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass es für dich als gesuchter Digero keinen anderen Weg ins Hauptquartier gibt...“

Sey rollt resigniert mit den Augen, doch Suki kann seine Anspannung förmlich spüren, als Jack die unscheinbare Kette mit einer lässigen Bewegung in seine Richtung wirft.

„Ich überlass es dir, sie anzulegen... immerhin bist du derjenige, der unbedingt verhandeln will...“

Er dreht sich um und kramt, offensichtlich auf der Suche nach etwas, erneut in seinen Taschen herum, während Sey noch zögernd und mit Abscheu auf das seltsame Schmuckstück in seiner Hand starrt. Er wirft einen Seitenblick auf Suki, die ihn gebannt beobachtet, neugierig darauf, was es mit der Halskette auf sich hat. Schließlich seufzt er auf, dreht Suki den Rücken zu und legt die Goldkette um seinen Hals, wie das Halsband eines Hundes. In dem Moment, indem die Enden der Kette sich berühren, schießt eine elektrische Spannung durch das Metall, die hier und da einen kleinen roten Funken aufblitzen lässt, während die seltsamen Steine, die zwischen den Maschen der Kette eingelassen sind, ein unnatürliches, helles Licht ausstrahlen. Mit einem leisen Stöhnen sinkt Sey zusammen, wobei er mit beiden Händen verkrampft seinen Kopf hält. Suki lässt sich neben ihm auf die Knie fallen, doch als sie seine Schulter berührt, bekommt sie einen schmerzhaften Stromschlag, der eine unangenehme Taubheit in ihren Fingerspitzen hinterlässt. Im nächsten Moment verblasst das Leuchten der Steine auch schon wieder, die sich nun in einem satten, leicht mattierten Rot, von dem goldenen Metall der Kette abheben. Sey fährt sich keuchend durch die Haare, wobei er ein paar gemurmelte Flüche ausstößt.

„... Ich hasse das...“

Suki hilft ihm dabei aufzustehen, während Jack sie mit einem schadenfrohen Grinsen bedenkt.

„Schön, schön. Jetzt wo das auch erledigt ist, kann's endlich losgehen...“

Er hält etwas in der Hand, das an einen dieser Zauberwürfel erinnert, und dreht vor sich hinmurmelnd daran herum.

„...Wie war das noch gleich... ach ja... und dann...“

Suki spürt wie Sey sich neben ihr auf ihre Schulter stützt, und sieht ihn besorgt an.

„...Gehts dir gut? Was war das eben?“

„Keine Sorge, is halb so wild... ich bin es nur nicht mehr gewohnt, wie es ist ein ganz normaler Mensch zu sein, das ist alles... das gibt sich mit der Zeit.“

„Was meinst du mit 'ein ganz normaler Mensch'?“

Er grinst sie von der Seite an.

„Sagen wir's mal so... ein untoter Seelensammler zu sein kann auch gewisse... positive Nebeneffekte haben...“

Sie zieht eine Augenbraue hoch und sieht ihn fragend an.

„Zum Beispiel?“

„... Hmm, zu Beispiel... verbesserte Reflexe und physische Fähigkeiten, größere Ausdauer, verringertes Schmerzempfinden... kein Hungergefühl... Naja, Sträflinge, die das Hauptquartier betreten wollen, kommen um so ein hübsches Schmuckstück nicht herum... es versiegelt unsere Kräfte, damit wir keinen Ärger machen... an sich keine große Sache, wenn man sich dadurch nicht immer so verdammt ausgelaugt fühlen würde...“

Er zupft mürrisch an der goldenen Kette herum.

„... Deshalb hasse ich die Dinger...“

Jack kommt auf die Beiden zu.

„Ich bin soweit... los geht’s.“

Er wirft den Würfel zwischen ihnen auf den Boden, wo er sofort ein monotones Piepen, untermalt von einem tiefen Surren, von sich gibt.

„Versuch unterwegs die Luft anzuhalten, Suki... das hilft gegen die Übelkeit.“

„Wa- Was?!“

Sie dreht sich verwirrt zu Sey um, doch im selben Moment beginnt sich die gesamte Umgebung um sie herum zu verziehen. Ihr Körper fühlt sich für einen Moment völlig schwerelos an, nur um im nächsten Sekundenbruchteil von einem unglaublichen Druck umschlossen zu werden, so als säße sie in einer Achterbahn. Genauso plötzlich wie es begonnen hat, hört es auch wieder auf und Suki landet schwankend und mit einem flauen Gefühl im Magen auf ihren Füßen. Sie befinden sich in einer Halle von der Größe eines Flugzeughangars. Der gesamte riesige Raum ist komplett weiß, von den spiegelnden Bodenfliesen, bis zu der rundlichen Decke weit über ihnen. Um sie herum herrscht ein reger Betrieb, Leute in Anzügen, die mit Aktenkoffern oder Papierstapeln hin und her laufen. Hin und wieder taucht neben ihnen einer der geschäftigen Schlipsträger wie aus dem Nichts auf, bückt sich um den Würfel vor seinen Füßen aufzuheben und verschwindet dann meist in der Menge. Suki kommt aus dem Staunen nicht heraus.

„Kommt schon, wir haben schließlich nicht den ganzen Tag zeit...“

Sie folgen Jack durch die Halle, vorbei an einigen mit weißen Stellwänden abgetrennten Kleinbüros und hunderten, mit verschiedenen Papieren und Ordnern gefüllten Regal Reihen.

Die Leute halten sich alle merklich auf Abstand und beobachten die Drei neugierig. Suki bemerkt dass, auch wenn die Meisten von ihnen dieselben schwarzen Augen wie Sey und Jack haben, sie hier und da ein Paar blaue oder braune Augen entdecken kann... Die Blicke, mit denen sie gemustert wird, werden ihr allmählich unangenehm und sie schließt ein wenig näher zu Sey und Jack auf.

„Wer sind diese ganzen Menschen?“

„Buchhalter... Sie erledigen den ganzen Papierkram... Über jede einzelne Seele die sich auf der Erde befindet wird eine eigene Akte geführt... Nach den darin gesammelten Daten werden sie in verschiedene Klassen eingeteilt... das heißt ne Menge trockene Tabellen usw...“

„Aber warum sind auch normale Menschen unter ihnen?“

„Das sind Menschen, die einen Pakt geschlossen haben... Meist geht es darum, den Tod eines Menschen, der ihnen viel bedeutet hat noch etwas herauszuzögern... Sie tauschen ein, zwei Jahre für einen Anderen gegen ihre eigene Freiheit ein... Amander hat das gleiche getan, aber die Menschen sind im Grunde recht schwache Geschöpfe und wenn die Person, die sie gerettet haben, dann schließlich doch stirbt bereuen sie diesen Tausch... Amander ist genauso... deshalb ist sie wohl immer so verdammt mies gelaunt...“

Suki lässt den Blick noch einmal über die, mit Akten vollgestellten Regale schweifen, bei denen sie nichteinmal ansatzweise erahnen kann, wieviele es tatsächlich sind.

„...Das müssen unglaublich viele Daten sein...“

Sey grinst sie von der Seite an.

„Du solltest erstmal das Lager sehen in denen die Akten der Toten aufbewahrt werden...“

„Soll das heißen-...“

„Yep. Eine Akte für jeden Menschen der in den letzten paar tausend Jahren gelebt hat.“

Suki versucht sich eine Vorstellung davon zu machen, aber es will ihr nicht so recht gelingen. Jack scheint von ihrer Faszination recht amüsiert zu sein.

„Ich sag denen schon seit Jahren, sie sollen endlich auf PC Festplatten oder von mir aus USB-Sticks umsteigen, aber auf mich hört ja Keiner...“

Suki muss ein leichtes Kichern unterdrücken.

Als sie endlich die ganze Halle durchquert haben bleiben sie vor einer großen schwarzen Tür stehen und Jack macht sich an einem kleinen Schaltpult zu schaffen. Kurze Zeit später öffnet sich die Tür in der Mitte und sie treten schweigend in den wohl geräumigsten Fahrstuhl den Suki je gesehen hat. Es kommt ihr so vor als würden sie einem halbe Ewigkeit immer weiter nach unten fahren, bis schließlich das helle Klingen einer Glocke die Endstation ankündigt. Als die Türen auseinander gleiten blickt Suki in eine völlig andere Welt. Die dunkle Holzvertäfelung und der steinerne Boden steht im krassen Kontrast zu dem hellerleuchteten Raum oben. Kaum dass sie ein paar Schritte über die Schwelle gesetzt haben, kommen vier, mit schwarzen Protektoren gekleidete Soldaten auf sie zu.

„Alles klar Nummer PK-78. Ab hier übernehmen wir.“

Der Soldat kritzelt etwas auf ein Klemmbrett, reisst den beschriebenen Zettel kurzerhand ab und reicht ihn Jack, der ihn wortlos entgegennimmt.

„Einen Moment noch... Ich habe keine Angaben, dass dieses Mädchen hier sein sollte... Haben sie eine Erklärung dafür?“

Jack zögert kurz, mit einem gleichzeitig verunsicherten und drohenden Blick in Seys Richtung.

„..Äh nun, es besteht Grund zu der Annahme, dass das Mädchen für die Ältesten von Bedeutung sein wird, also hielt ich es für das Beste sie hier herzubringen.“

Der Uniformierte wirkt nicht ganz überzeugt, scheint sich aber fürs erste mit dieser schwachen Erklärung zufrieden zu geben. Er schreibt erneut auf seinem Klemmbrett herum und gibt den anderen Soldaten per Handwink die Anweisung sich in Bewegung zu setzen. Sey erscheint leicht nervös, als zwei von ihnen sich zu beiden Seiten neben ihm aufstellen, während der Dritte mit einer Hand Sukis Oberarm umschließt.

„Hey, wartet einen Moment! Ich bin hier um vor die Ältesten zu treten, um-...“

„Wir wissen bereits alles über deinen Fall, ZT-103. Das Urteil ist bereits gefällt worden, es besteht also kein Grund die Ältesten mit Nichtigkeiten zu belästigen...“

Ohne von seinem Klemmbrett aufzusehen geht der Soldat langsam von dannen, während Sey und auch Jack ihm gleichermaßen fassungslos nachstarren.

„Was soll das heißen 'das Urteil ist bereits gefällt worden'? Ich hab das Recht mich selbst zu verteidigen, solange mich kooperativ zeige, so steht es in unseren Gesetzen! Ihr könnt nicht plötzlich anfangen die Regeln zu ändern!“

Der Angesprochene bleibt noch einmal stehen, antwortet jedoch ohne sich umzudrehen.

„Regeln sind Regeln, das ist wahr... Aber du scheinst eins zu vergessen... DU warst derjenige der die Regeln zuerst gebrochen hat...“

Dezember 1916

Reaper – Kapitel 8

Dezember 1916
 

Suki spürt, wie sie mit einem groben Stoß über die Türschwelle in den kleinen, dunklen Raum befördert wird. Mit einem metallischen Klirren wird die schwere Tür hinter ihr in die Angeln geworfen und sie sieht plötzlich nicht mehr, als den winzigen Lichtstreifen, der durch das Schlüsselloch auf den grauen Steinboden fällt. Sie tastet sich vorsichtig vorwärts bis ihre Hände zwei eiskalte, dicke Eisenstangen umschließen. Leicht zögernd geht sie an der Gitterwand entlang, bis sie plötzlich mit einem Fuß schmerzhaft gegen eine schwere Holzbank stößt. Auf einem Bein hüpfend, murmelt sie ein paar Flüche.

„Suki?“

Sie kneift die Augen zusammen, die sich allmählich an die Dunkelheit um sie herum gewöhnt haben, und blickt zwischen den Gitterstangen hindurch in den zweiten Raum, neben ihrer Zelle. Sie entdeckt, ein leichtes, rotes Glühen an der gegenüberliegenden Wand.

„Sey! Bist du das?“

„Wer sonst... Bist du okay?“

„Ja, ich denke schon... wo sind wir?“

Sey lehnt sich mit dem Rücken zu ihr an die Gitterstäbe und seufzt.

„Sicherheitsverwahrung... Das ist die alte Gefängnisanlage unterhalb des Hauptquartiers..“

Ein leises Rascheln neben ihren Füßen lässt Suki zusammenzucken. Nicht nur dass es hier unten feucht und dunkel ist, jetzt müssen sich auch noch Ratten in ihrer unmittelbaren Umgebung herumtreiben...

„Ich hasse es hier unten...“

Sie schlingt die Arme um ihren Körper, um das Zittern zu unterdrücken, doch angesichts der Kälte fährt weiterhin ein Schauer nach dem anderen durch ihre Glieder. Schließlich trägt sie lediglich Amanders buntes Top. Plötzlich spürt sie ein leichtes Gewicht auf ihren Schultern. Leicht verwirrt zupft sie Seys schwere Jacke über ihre halb erfrorenen Arme.

„D-Danke.“

„Kein Problem.“

Eine Zeit lang stehen sie einfach nur so Rücken an Rücken da. Die Stille in dem Kerker lässt ihre Umgebung noch bedrohlicher wirken. Suki hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie so sehr gewünscht zuhause in ihrem Bett zu liegen...

„Suki..?“

„Hmm...“

„Es tut mir leid.“

Damit hatte sie nicht gerechnet, weshalb ihre Antwort auch mit einigen Sekunden Verzögerung kommt.

„Du konntest ja nicht ahnen, dass sie uns an so einem Ort einsperren...“

„Das meine ich nicht... wobei, andererseits... ich sollte mich wohl auch dafür entschuldigen...“

„Was meinst du dann?“

Im Grunde weiß Suki ganz genau worauf er hinauswill...

„Das alles... Ich meine... Komm schon, du weißt was ich meine!“

Sie kann sich ein stummes Grinsen nicht verkneifen. Sey nach Worten ringen zu hören ist schließlich ein Vergnügen, das ihr nicht allzu oft vergönnt ist.

„Mir tut es auch leid... Ich meine, fürs zickig sein...“

Auch wenn sie in der Dunkelheit rein gar nichts sehen kann, sie ist sich ziemlich sicher, dass auch Sey auf der anderen Seite der Gitterstäbe lächelt. Sie kann nicht anders als erleichtert aufatmen.

„Was glaubst du, wie lange werden sie uns hier eingesperrt lassen?“

„Vielleicht ein paar Stunden... sie werden die Sache so schnell wie möglich regeln wollen, da bin ich mir sicher...“

Suki lässt sich auf die niedrige Holzbank sinken und lehnt sich erschöpft an einen der Metallstäbe an. Sie spürt wie Sey es ihr auf der anderen Seite gleichtut. Zwei Ratten schleichen über den Zellenboden. Sie kann ihre kleinen durchdringenden Augen in den kaum merklichen Lichtstrahlen, die von der Tür ausgehen leuchten sehen. Sey scheint ihr Unbehagen deutlich zu spüren.

„Hast du Angst?“

Sie zieht beide Beine an ihren Körper und legt die Arme darum.

„Ein wenig... Ich hab Angst vor dem was noch passieren wird...“

Sey fällt nichts ein, was er ihr sagen könnte um sie aufzumuntern, ohne ihr ins Gesicht zu lügen.

„Kann ich dich etwas fragen, Sey?“

„Sicher...“

Suki spürt wie ihr Herzschlag sich ein wenig beschleunigt. Diese Frage brannte ihr nun schon seit einer Weile auf der Zunge, aber sie konnte sich noch nicht überwinden sie auszusprechen...

„Was hat das alles eigentlich mit mir zu tun? Ich meine, vor ein paar Tagen hatte ich keine Ahnung, dass es sowas wie Reaper, Zerberus oder Dämonen überhaupt gibt... und jetzt sitz ich hier in einem Kerker, warte womöglich auf meine Hinrichtung oder was weiß ich und hab zudem auch noch herausgefunden, dass ich nur eine Kopie von irgendjemandem aus der Weltkriegszeit bin...“

„Du bist keine Kopie...“

Suki stößt ein tiefes Seufzen aus.

„Richtig.. ich bin eher nur ein Abziehbildchen...“

„Hör auf damit!“

Suki beisst sich, angesichts seines strengen Tonfalls wütend auf die Unterlippe. Sie wartet im Grunde schon darauf sich wieder anhören zu können, wieviel besser diese Selena ist... ganz im Gegensatz zu ihr...

„Du bist gut, so wie du bist, Suki...“

Sie wendet den Blick überrascht nach hinten, kann aber nur Dunkelheit erkennen. Nach ein paar Sekunden nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und flüstert kleinlaut in die Stille.

„Was genau ist damals passiert?... Du sagtest ich kenne nicht die ganze Geschichte, aber ich versuche wirklich das alles hier zu verstehen... Und ich habe das Gefühl, das kann ich erst wenn ich weiß was damals passiert ist...“

Das Schweigen das sich über den Raum legt, hält diesmal um einiges länger an als zuvor. Suki kann förmlich spüren wie Sey angestrengt nachdenkt.

„Schätze es muss sein, was?“

Sie nickt, bis ihr einfällt, dass er sie ja nicht sehen kann, und sie ein hastiges „Ja“ anhängt.

„Schön, wie du willst... nachdem ich dich in die ganze Sache mitreingezogen hab, muss ich jetzt wohl auch die Konsequenzen tragen...“

Nach einem gequälten Seufzen räuspert er sich.

„Selena und ich... wir waren... sozusagen... naja, verlobt...“

Suki unterdrückt mühsam den >Ich wusste es!< Schrei in ihrem Kopf und gibt sich möglichst unbeeindruckt.

„Okay... Ich kann mir das gerade nur schwer vorstellen, schließlich war ich Zeuge, wie sie dich einfach so im Stich gelassen hat...“

„Ich sagte doch, das ist nur die halbe Story... In Wirklichkeit ist sie zurückgekommen... Ohne sie wäre ich in diesem verdammten Wald verblutet...“

„Das ist ja auch das Mindeste... schließlich hast du sie zuerst gerettet...“

Sey ignoriert diese offene Kritik schlichtweg.

„Während das Militär nach und nach die gesamte Gegend eingenommen hatte, haben wir uns in einem Haus im Wald versteckt gehalten... Ihre ganze Familie wurde während des Krieges getötet, genau wie meine... also haben wir beschlossen zusammen zur Grenze zu fliehen, um den Krieg endlich hinter uns zu lassen. Leider hatten wir keine Ahnung wie schlimm die Zustände in den Grenzstädten waren. Sämtliche Orte waren von den Soldaten belagert... sie plünderten, zerstörten Häuser und töteten jeden der ihnen Ärger machte... Wir reisten einige Monate lang von Stadt zu Stadt, aber irgendwann sahen wir schließlich ein, dass es überall das Gleiche war. Deshalb sind wir schließlich in einer der besetzten Städte geblieben... beinahe ein ganzes Jahr... Aber die Söldner wurden immer gieriger und töteten immer mehr der Bewohner... Wir wollten uns das nicht länger gefallen lassen, also hat sich mit der Zeit eine Gruppe von Aufständischen geformt... Wir wollten eine Revolution anzetteln, das Land wieder für uns zurückgewinnen und die Söldner ein für alle mal loswerden... Und wir hatten gute Chancen. Die Soldaten hatten über die Monate, in denen sie nur von Plündereien und Trinkgelagen gelebt haben, einiges von ihrem Glanz verloren... und wir hatten den Überraschungsmoment auf unserer Seite... Wir dachten wir könnten die Verhältnisse in einer Nacht völlig verändern...“
 

...Dezember 1916...
 

„Wir haben noch fünf Fässer Schwarzpulver organisiert... wohin sollen die?“

„Stellt sie da rüber zu den anderen... und macht verdammt nochmal den Schnee runter, es ist schwer genug das Pulver bei diesem Dreckswetter trocken zu halten...“

„Aye, Sir!“

„Was ist mit der restlichen Munition?“

„Lass mal das Kaliber sehen... hmm... gibt das mal rüber zur Einheit 2, ich muss mich jetzt um den Lageplan kümmern...“

Der bärtige, große Mann wirft den letzten Rest seiner selbstgedrehten Zigarette auf den nassen Boden und verschwindet durch eine morsche Holztür in einem kleinen Hauseingang, während in dem Hof weiterhin eifrige Betriebsamkeit herrscht. Der kleine Raum wird nur von einer provisorisch an der Decke befestigten, flackernden Öllampe erhellt. Sey blickt zu dem Hauseingang auf und nickt dem Bärtigen flüchtig zu, bevor er sich wieder auf die verstreuten Papiere vor sich konzentriert. Mit einem tiefen Stöhnen nimmt der Mann seine löchrige Mütze ab und wirft sie auf den schiefen Tisch in der Mitte des Raumes, neben die darauf ausgebreiteten, vergilbten Karten. Beinahe hätte er die halbleere Rumflasche an der einen Ecke des Tisches mit umgeschmissen.

„Pass gefälligst auf, wenn du die Karten ruinierst sind wir geliefert...“

„Schon gut, schon gut, Kleiner... Wer hätte gedacht, dass ich mir mal von einem, der mein Sohn sein könnte, Vorschriften machen lassen muss...“

„Wenn du dein Gehirn nicht immer in Rum ersaufen würdest, könntest du hier selbst die Ansagen machen, Joe...“

Der Ältere nickt mit einem schiefen Lächeln, das sein lückenhaftes Gebiss entblößt.

„Lieber ein Sklave mit Rum, als ein Anführer ohne!“

Um seine Worte noch zu unterstreichen nimmt er einen kräftigen Schluck aus der Flasche auf dem Tisch.

„Spar dir das Trinken für morgen früh... wenn wir erst unsere Freiheit feiern!“

Sey macht einen letzten Strich auf dem Papier vor sich und lässt den Stift dann erleichtert auf die Tischplatte fallen.

„Wie ist das Wetter?“

„Immer noch Schneeregen... Wir haben kaum Patz das Pulver zu lagern...“

„Perfekt.“

„Perfekt? Schonmal von ner Revolution gehört, die mit nassem Schießpulver gewonnen wurde?“

„Nein, das Pulver muss natürlich trocken sein... Aber solange es regnet, ist es sicher, dass sich die Soldaten alle in der Bar versammeln... Je mehr von ihnen wir auf einen Schlag loswerden, desto besser...“

Joes raues Lachen hallt in dem kleinen Raum wider. Im selben Moment wird die Tür aufgeschlagen und eine junge Frau betritt den Raum, zusammen mit einigen Schneeflocken, die der Wind über die Türschwelle trägt. Mit einem Seufzen zieht Selena das nasse Kopftuch von ihren lockigen Haaren.

„Wir sind jetzt soweit... Die Anderen warten auf weitere Anweisungen.“

„Joe, geh und sag ihnen, dass sie sich bereit machen sollen, wir gehen den Plan noch einmal durch und dann brechen wir auf.“

Der stämmige Mann erhebt sich von seinem Stuhl und verschwindet nach draussen. Sey fährt sich erschöpft durch die Haare. Als er Selenas belustigten Blick bemerkt, hält er inne.

„Was ist?“

„Nichts. Ich dachte nur gerade daran, wie mir jemand vor wenigen Wochen gesagt hat, so schwer würde es schon nicht werden...“

„Ähm, tut mir leid, daran kann ich mich nicht erinnern...“

„Du Lügner!“

Mit einem breiten Lächeln umarmt sie ihn und gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Du schaffst das, die Männer halten viel von deiner Meinung.“

„Ich hoffe nur, dass wirklich nichts schief geht...“

„Komm schon, du hast das ganze so lange durchdacht, es wird sicher alles nach Plan verlaufen.“

Sey atmet tief durch und setzt ein breites Grinsen auf.

„Du hast recht. Wir ziehen das durch!“

Er schnappt sich die dunkelbraune, warme Jacke, die auf einem der wackligen Stühle liegt und geht auf die alte Tür zu. Gerade als er zu dem angelaufenen, rostigen Henkel greift, hält Selena ihn zurück.

„Warte noch... Ich will, dass du mir etwas versprichst bevor du gehst...“

Das leichte Lächeln auf ihren Lippen, wird von ihren besorgten, traurigen Augen in den Hintergrund gedrängt.

„...Du weißt, dass ich hier warte... also... komm wieder zurück, ja?“

Leicht überrascht über ihren plötzlichen Stimmungswechsel lächelt er sie aufmunternd an und legt ihre rechte Hand sachte auf seine. An einem ihrer Finger glänzt ein einfacher, schmaler Ring.

„Also, laut diesem Ring hab ich dir das schon mal versprochen, oder? Ich komm zurück und dann werden wir heiraten, alles wie geplant...“
 

„Hey, hey! Einen Moment mal! Sag mal, was sagtest du nochmal, wie alt du damals warst?“

Sey straft Sukis unhöfliche Unterbrechung mit einem empörten Räuspern.

„Ich war damals 18, okay, und das war zu der Zeit ein völlig normales Alter zum heiraten, also sag das nicht mit diesem Tonfall...“

„Hmm... wenn du das sagst...“

Sey scheint leicht genervt, aber Suki interpretiert sein wiederholtes Seufzen mal wieder nach ihren eigenen Vorstellungen.

„Und unterbrich mich gefälligst nicht... ich hasse das...“

„Alles klar, kommt nicht wieder vor!“
 


 

Obwohl er während der Monate seines Wehrdienstes recht viele von diesen typischen Motivationsreden gehört hat, wollen Sey in dieser Situation einfach nicht die richtigen Worte einfallen. Als er seinen Blick über die Männer vor sich schweifen lässt, die ihn alle gespannt mustern, spürt er einen leichten Anflug von Nervosität in sich aufsteigen. Sie sind alle bereit heute Nacht ihr Leben zu riskieren, das kann er ihnen deutlich ansehen... Umso schwerer fällt es ihm, den Gedanken daran, dass wohl nicht alle von ihnen das Ende ihrer Revolution erleben werden, aus seinem Unterbewusstsein zu drängen. Unglücklicherweise kann er auch das Gefühl, dass er die Verantwortung dafür trägt, nicht ganz ausblenden. Einer von ihnen erhebt sich voller Tatendrang und stimmt laut grölend ein altes Volkslied an, in dessen langsame Melodie schnell die ganze Gruppe einsteigt. Sey seufzt teils belustigt, teils erleichtert auf. So bleibt es ihm immerhin erspart, sich noch irgendwelche Anfeuerungen aus den Fingern saugen zu müssen...

Die gute Laune der Truppe legt sich allerdings schnell wieder, und spätestens als die letzten Vorbereitungen getroffen sind und sich alle angespannt an ihren Plätzen befinden, die Unterkünfte der Söldner im Blick, liegt eine bedrohliche Anspannung in der Luft. Nachdem sie einige Minuten so in der eisigen Kälte der Nacht verharrten, gibt Sey das vereinbarte Signal...

Nichteinmal eine Stunde später hat sich bereits eine blutige Schlacht, zwischen den Soldaten und den Freiheitskämpfern entfacht. Die ersten Söldner ziehen sich angesichts ihrer Unterlegenheit bereits zurück, und es gelingt Seys Truppe deren Hauptquartier zu übernehmen. Joe taucht keuchend direkt neben Sey auf. Blut läuft von einer Platzwunde auf seiner Stirn an seinem Gesicht herunter, doch ansonsten scheint er unverletzt zu sein.

„Sie ziehen sich zurück! Die Stadt ist wieder unser!“

„Spar dir das fürs erste... es ist noch nicht vorbei!“

Eine riesige Explosion lässt die Beiden zusammenzucken. Der Regen aus kleinen Flammen, der sich über sie ergießt, erhellt die Nacht, als würde bereits der Morgen anbrechen.

„Was ist mit den Feiglingen, die versuchen abzuhauen?“

„Lass sie ziehen... es besteht kein Grund sie zu töten, solange sie von hier verschwinden.“

Die großen, bunten Flaggen der Soldaten, die bisher beinahe jedes Haus der Stadt schmückten liegen auf dem nassen Boden, oder stehen in Flammen. Ein kleiner Mann kommt über den Platz auf sie zugerannt, völlig außer Atem, mit einem alten Schrotgewehr bewaffnet.

„Sey? Sey! Wir haben ein Problem! Die verdammten Bastarde haben neue Kampfhandlungen aufgenommen! Wir dachten sie würden fliehen und haben sie passieren lassen, und diese Scheißkerle haben die Gelegenheit genutzt und greifen uns im Süden an!“

Sey ist für einen Moment wie erstarrt. Der Süden der Stadt, der Teil, der von den Unterkünften der Söldner am weitesten entfernt ist, war als Kampfplatz nicht einkalkuliert... Dort halten sich die Frauen und Kinder des Ortes versteckt...

Sey und die anderen Beiden springen auf und sprinten durch die Straßen. Joes tiefe Stimme durchbricht immer wieder die dumpfen Geräusche der verstreuten Kampfhandlungen, während er nach weiteren Kameraden zur Unterstützung aufruft. Als sie schließlich in die südlichste Straße der Stadt einbiegen, können sie bereits die schwarzen Rauchschwaden über den Häusern aufsteigen sehen. Hier und da sind vereinzelte Schreie und Schüsse zu hören. Sey entdeckt einen der bewaffneten Söldner, die offenbar für die verschiedenen Brände verantwortlich sind und stoppt ihn mit einem gezielten Schuss in dessen Bein. Im nächsten Moment kann er eine ihm vertraute Stimme wahrnehmen. Als er sich umdreht entdeckt er Selena, die mit einem kleinen, blonden Mädchen an der Hand aus dem Eingang eines Hauses ins Freie stürmt. Eine leichte Brise senkt die dunklen Rauchschwaden durch die Straße. Sey entdeckt drei weitere Soldaten und als er bemerkt, dass Selena und das Mädchen offenbar direkt auf sie zurennen sprintet er mit einem geflüsterten Fluch los. Doch der brennende Qualm in seinen Augen raubt ihm für einen Moment die Sicht und im nächsten Augenblick wird er von einem heftigen Stoß von den Füßen gerissen. Als er sich stöhnend aufrichtet, blickt er einem weiteren Söldner entgegen, der ohne zu zögern den Lauf seiner Handfeuerwaffe auf ihn richtet. Seys Augen wandern an dem Uniformierten vorbei, auf der Suche nach Selena und dem Mädchen doch bevor er sie entdecken kann, fährt ein stechender Schmer durch seinen Kopf und von einer Sekunde zur anderen ist alles um ihn herum Schwarz...
 

Mit einem Aufschrei reisst er die Augen auf, nur um sie, von einem unbarmherzig grellen Licht geblendet, sofort wieder zu schließen. Beim zweiten Versuch hält er sich vorsichtshalber eine Hand vors Gesicht um sich gegen die hellen Strahlen zu schützen. Blinzelnd blickt er sich um. Von dem Schlachtfeld auf dem er sich gerade noch befunden hat, ist nichts mehr zu sehen, stattdessen befindet er sich in einem kreisrunden Raum, mit völlig weißen Wänden. Auch die Decke und der Boden unter ihm sind Schneeweiß. Leicht zögernd richtet er sich auf und sieht sich verunsichert um. Er entdeckt jemanden einige Meter von sich entfernt auf dem Boden liegend. Die Gestalt rührt sich nicht, liegt einfach nur reglos auf den Rücken. Als er auf allen Vieren etwas näher herankriecht, greift seine Hand plötzlich in eine warme Flüssigkeit. Sein Blick wandert von seinen zitternden, blutigen Fingern über die rote Pfütze am Boden, zu dem Gesicht der Person. Mit einem erneuten Schrei weicht er hektisch wieder einige Meter zurück, als er erkennt, dass er selbst es ist, der da vor ihm liegt... mit einer blutigen Schusswunde auf der Stirn. Wie abwesend wischt er das Blut von seinen Fingern an seinem Hemd ab, die Augen wie gebannt auf diese zweite Version vor sich geheftet. Plötzlich erregt ein leises Kichern hinter ihm seine Aufmerksamkeit. Als er sich umdreht, blickt er verwirrt auf ein kleines Mädchen, das mit einem großen, farbigen Lolli in der Hand auf ihn herabsieht. Ihre Augen leuchten in einem seltsamen rot... Sie grinst ihn an.

„Hehe, ist sicher komisch sich selbst da liegen zu sehen... stimmt's?“

Die ganze Situation kommt ihm dermaßen verdreht vor, dass ihm im Moment die Worte fehlen. Die Kleine scheint völlig unbeeindruckt. Im Gegenteil, sie hüpft sogar gelassen um ihn herum, wobei sie immer wieder dieselbe, fröhliche Melodie summt.

„Was ist? Wunderst du dich gar nicht? Willst du nicht wissen wo du bist?“

„D-doch...sicher...“

Sie bleibt stehen und kichert zufrieden in sich hinein.

„Ich sags dir aber nicht!“

Sie beugt sich zu ihm hinunter sodass sich ihre Gesichter beinahe berühren und starrt ihn durchdringen an. Nach einigen Sekunden springt sie wieder von ihm weg und beginnt wieder mit ihrem Singsang.

„Na gut, ich sags dir... Du bist tot, weißt du.“

„T-tot? Was?... Nein Moment mal, das kann nicht-....“

Das Mädchen hält inne und verschwimmt vor seinen Augen, als bestünde sie aus dunklem Rauch. Im der nächsten Sekunde sitzt an ihrer Stelle eine weiße Katze mit grauen Pfoten und starrt ihn mit rot glühenden Augen an. Als wäre die plötzliche Erscheinung nicht schon irreal genug, öffnet das Tier auch noch das Maul und beginnt zu sprechen.

„Glaubst du mir etwa nicht, miau? Sieh dich um... wenn das hier nicht bedeutet, dass du tot bist, wie erklärst du dir diesen Raum sonst?“

„Aber ich kann nicht sterben! Nicht jetzt! Ich-“

Die Katze verschwindet genauso schnell wie sie gekommen war. Stattdessen erscheint eine junge Frau am anderen Ende des Raumes. Es ist Selena... oder zumindest, etwas das aussieht wie sie...

„So, du glaubst also es wär noch nicht an der Zeit für dich zu sterben? Du willst dieses Mädchen beschützen hab ich recht? Aber ich muss dich enttäuschen... deine Zeit ist abgelaufen...“

In Seys Kopf scheint sich alles zu drehen und er kann kaum einen klaren Gedanken fassen.

„Aber... ich... ich hab ihr versprochen, dass ich...“

Ein kaltes Grinsen erscheint auf Selenas Zügen.

„Würdest du gerne zurück? Ich könnte dir noch eine Chance geben...“

Sey starrt sie erwartungsvoll an. Mit einem erneuten Kichern verwandelt sie sich in die Katze zurück und tappt flink auf ihn zu.

„Ich könnte dich zurückschicken... ich bin eine der wenigen, die die Macht dazu haben...miau...“

„Was genau bist du?“

Die Katze scheint regelrecht zu grinsen, während sie schnurrend um ihn herumschleicht.

„Wer ich bin?... Ich bin das hier und jetzt. Das Alles und das Nichts. Vergangenheit und Zukunft. Das Leben und... der Tod... Was ist, willst du eine zweite Chance? Oder nicht?“

„Du kannst mich wirklich einfach zurückschicken?“

Die Katze nickt schweigend.

„Dann tu es! Jetzt! Wenn du mich jetzt zurückschickst, bin ich vielleicht rechzeitig da, um-“

Das Tier lässt ein Schallendes Lachen vernehmen.

„Immer langsam, keine Sorge wir haben alle Zeit der Welt..miau...“

„Aber ich-...“

Mit einer geschmeidigen Bewegung schleicht sie um ihn herum und lässt sich wie selbstverständlich auf Seys Schoß nieder.

„Du willst das Mädchen retten, nicht wahr? Sehr amüsant, miau... Aber du musst dir keine Sorgen machen... Dieser Raum ist nicht an die Zeit der Erde gebunden. Egal wie lange du hier bist, es macht keinen Unterschied. Wir haben also genügend Zeit uns um das Geschäftliche zu kümmern...“

Die Katze springt abrupt auf und setzt sich ihm gegenüber hin.

„...Geschäftliches..?“

„Sicher doch, miau... Nichts im Leben ist umsonst, so heißt es doch? Und im Tod ist es nicht anders... Ein Leben ist zudem nicht billig... Deswegen bevorzugen wir es, wenn unsere Klienten ihre Schulden abarbeiten...“

„Was muss ich tun?“

Die roten Augen der Katze verengen sich zu Schlitzen.

„Du wirst einer von uns. Wir schenken dir das Leben und als Gegenleistung wirst du für uns arbeiten. So einfach ist das... du musst lediglich einen Vertrag unterzeichnen...miau..“

Sie lässt eine ihrer Vorderpfoten schwungvoll durch die Luft gleiten, wo im selben Moment ein beschriebenes Blatt Papier und eine goldene Feder erscheinen.

„Aber ich warne dich... Dieser Vertrag gilt, solange wie deine Seele existiert... Hast du ihn einmal unterzeichnet, gehörst du uns... und das für immer...“

Sey sieht zögernd auf das Papier. Die Zeilen sind in einer seltsamen, verworrenen Schrift geschrieben... irgendeine Sprache, die er nicht versteht.

„Ich kann das nichtmal lesen.. Woher soll ich wissen, dass du mich nicht hereinlegst?“

Die Katze löst sich in Rauch auf und macht so wieder Platz für das kleine Mädchen mit dem Lolli.

„Ich mag annähernd allmächtig sein, in diesem Raum, doch auch ich muss mich an die Gesetze halten... Alles was ich dir im Austausch gegen deine Seele verspreche, muss ich auch einhalten... so sind die Regeln...“

Sey ist noch immer skeptisch. Andererseits, wenn er ohnehin schon tot ist, was hat er dann schon zu verlieren? Trotzdem...

Das Mädchen verwandelt sich kichernd in die Katze zurück.

„Was ist? Bist du verunsichert, miau? Wenn du den Vertrag unterzeichnest, wirst du nicht nur auf die Erde zurückkehren, du wirst auch in der Lage sein dich mit Leichtigkeit gegen deine Feinde zu behaupten... das ist es doch, was du willst? Wenn du den Pakt eingehst, kann ich dir versprechen, dass du dein Mädchen wiedersiehst...miau...“

Nach einigem zögern nimmt er die goldene Feder und betrachtet sie nachdenklich.

„Was ist mit Tinte? Mit der Feder allein kann man nichts unterzeichnen...“

Die Katze kichert amüsiert.

„Wir benutzen keine Tinte...miau.“

„Lass mich raten, man muss den Pakt mit Blut besiegeln... das ist ziemlich einfallslos, weißt du...“

„Oh, nein nein nein! Miau. Das mit dem Blut haben wir schon vor Jahrhunderten aufgegeben. Es war zu einfach zu betrügen, weißt du. Einige haben einfach das Blut von jemand anderem benutzt... hat uns ganz schön Probleme gemacht, miau... Deshalb haben wir das geändert... heute unterzeichnet man mit seiner Seele...“

Sey starrt sie verwirrt an. Die Katze schleckt derweil genüsslich ihre Vorderpfoten ab.

„A-aber wie-“

„Es ist ganz einfach, miau. Du musst einfach nur unterschreiben, die Feder erledigt den Rest. Also was ist jetzt? Tu es schon, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, miau.“

„Ich dachte, Zeit bedeutet hier nichts?“

„Hihi, du hast recht...miau. Ich wollte nur sehen, ob du aufgepasst hast. Jetzt unterzeichne schon den Pakt...“

Sey atmet noch einmal tief durch und setzt schließlich die Spitze der Feder auf den Vertrag auf. Als er den ersten Strich zieht, erscheint auf dem Papier eine feine, glänzende Linie, die wie eine Flüssigkeit glitzernd darauf haften bleibt. In dem Augenblick, indem er den letzen Buchstaben vollendet hat und die Feder von der Oberfläche des Papieres löst, verschwindet auch der weiße Raum ihn herum und stattdessen spürt er, wie er mit rasanter Geschwindigkeit in die Dunkelheit unter sich fällt. Im nächsten Moment fühlt er den harten, nassen Boden unter seinem Rücken und reisst hektisch die Augen auf, nur um sie sofort mit einem Aufschrei wieder zu schließen. Er hat das Gefühl, als hätte man ihm glühende Nadeln in die Pupillen gestochen. Keuchend verharrt er einige Sekunden mit geschlossenen Augen, bis der Schmerz sich etwas gelegt hat. Er kann ein leises Knistern neben sich hören, ansonsten ist kein Laut zu vernehmen... Sey spürt wie sein Herzschlag sich etwas beschleunigt. Er lauscht wie gebannt in die Stille, doch kein Geräusch lässt darauf schließen, dass sich außer ihm noch jemand in der Nähe befindet. Keine Schreie sind mehr zu hören und auch die Gewehrschüsse sind verstummt. Vorsichtig blinzelt er in die Nacht. Das verschwommene Bild vor seinen Augen scheint einen leichten Rotstich zu haben. Die Straße um ihn herum ist völlig verlassen und die einzigen Bewegungen stammen von den kleinen Flammen, die hier und da vor sich hinflackern. Er rappelt sich auf, um sich auf die Suche nach Selena zu machen, doch bereits nach wenigen Metern verliert er das Gleichgewicht und landet in einer dreckigen Pfütze. Als sich die Oberfläche des Wassers allmählich beruhigt, kann er zwei undeutliche, leuchtende Flecken darin erkennen. Er sieht nochmal genauer hin und erkennt sein eigenes verzerrtes Spiegelbild. Seine Augen leuchten in einem unnatürlichen Rot.

„Verdammt, was-...“

Ein heller Schatten, der an ihm vorbeispringt, lässt ihn herumwirbeln. Es ist eine weiße Katze.

„Hey! Warte!“

Die Katze schleicht schweigend die Straße entlang, im Slalom um herumliegende Waffen und Holzstücke herum. Sey stolpert keuchend hinter ihr her.

„Hey! Ich dachte du hältst dich an die Regeln! Du sagtest ich würde sie wiedersehen! Bleib gefälligst stehen und antworte mir, du verdammtes Mistvieh!“

Er versucht nach der Katze zu greifen, doch sie weicht seinen Händen geschickt aus und faucht ihn mit angelegten Ohren an, bevor sie unter einem halb eingestürzten Haus verschwindet. Als Sey ihr verzweifelt nachsieht, fällt sein Blick auf zwei Körper, die direkt neben dem Versteck der Katze auf dem Boden liegen. Nachdem er das blutverschmierte Gesicht des blonden Mädchens entdeckt, braucht er gar nicht mehr näher zu kommen, um zu wissen was passiert ist... Aus der dunklen Lücke unter dem Haus blitzen ihm die glühenden Augen der Katze entgegen...
 

Suki starrt stumm in die Dunkelheit vor ihren Füßen. Die Stille in dem feuchten Keller wird nur von einem gelegentlichen Tropfen irgendwo am anderen Ende des Raumes unterbrochen.

„Was ist dann passiert?“

„Die verdammte Katze hat mich reingelegt... Sie waren tot... alle. Ich weiß nicht was dort passiert ist, aber ich habe niemanden mehr gefunden...“

Sey macht eine lange Pause, in der Suki das monotone Tropfen im Hintergrund plötzlich unglaublich laut vorkommt.

„...Danach hab ich zum ersten mal Jack getroffen. Er war es, der mich ins Hauptquartier gebracht hat, wo ich dann kurze Zeit später mit der Grundausbildung angefangen habe... hätte ich vorher gewusst, was es heißt diesem verdammten Vertrag verpflichtet zu sein, hätte ich mir das Ganze wohl nochmal überlegt... Tsst... dafür ist es jetzt wohl zu spät... Aber je mehr ich über Zerberus und alles was damit zusammenhängt gelernt habe, desto mehr dachte ich, dass es sich letztlich doch gelohnt haben könnte... Ich dachte nicht, dass es schon vorbei ist... Ich dachte ich könnte alles wieder richtigstellen. Deshalb habe ich bereits nach wenigen Jahren gleich den zweiten großen Fehler in meinem Leben gemacht...“

Suki öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, als ein lautes Quietschen sie plötzlich unterbricht. Die schwere Tür ihrer Zelle wird langsam ausgestoßen und sie blinzelt verunsichert in das grelle Licht, dass ihr entgegenstrahlt. Drei Männer treten in den Raum und richten ihre schwarzen Schusswaffen auf sie...

Die Spielchen der weißen Katze

Reaper – Kapitel 10

Die Spielchen der weißen Katze
 

„Hey...Heey! Lasst.. mich! Das tut weh!“

Suki versucht verzweifelt sich aus den eisernen Griffen der Wachen zu entwinden, die sich erbarmungslos um ihre Oberarme geschlossen haben, doch es will ihr einfach nicht gelingen. Je stärker sie sich wehrt und um sich schlägt, desto grober wird sie Richtung Tür befördert. Sie setzt ihre ganze Kraft in ihren rechten Arm und schlägt blindlings mit ihrer Faust auf einen der Kerle ein, doch anstatt, dass ihr Peiniger wie erhofft von ihr ablässt, spürt sie selbst einen stechenden Schmerz durch ihre Finger zucken, als ihre Knöchel auf den metallenen Lauf einer Handfeuerwaffe, die an dem Brustpanzer des Uniformierten befestigt ist, trifft. Mit einem gemurmelten Fluch blickt sie auf ihre schmerzende Hand hinunter. Die Knöchel zeigen erste Anzeichen für einen blauen Fleck und ein paar winzige tropfen Blut heben sich an einer kleinen Kratzwunde auf ihrer Haut ab. Schließlich gibt sie auf und lässt sich widerstandslos von den beiden in den Flur begleiten. Hinter ihr taucht Sey in Begleitung von zwei weiteren bewaffneten Uniformierten auf.

„Du brauchst keine Angst zu haben, Suki. Sie werden dir nichts tun... nicht solange der Rat nichts anderes beschlossen hat...“

Sie wirft ihm einen entsetzten Blick zu, der ihm zu verstehen gibt, dass sie sich durch diese Bemerkung nicht gerade besser fühlt... Die Wachen geleiten sie durch den endlos langen Flur immer weiter gerade aus, bis sie schließlich vor einer schlichten, dunklen Holztür stehen bleiben. Einer der Soldaten schreitet wortlos nach vorne und stößt die Tür mit seinem ganzen Gewicht auf, bevor er Suki mit einer Armbewegung den Vortritt lässt. Als sie die Augen durch den kleinen Raum vor sich schweifen lässt, kann Suki nicht anders als im ersten Moment ein enttäuschtes Gesicht zu ziehen. Nach all den unglaublichen Dingen, die sie in den letzten Stunden gehört und gesehen hat, kommt ihr dieses kahle Zimmer wie ein Witz vor. Es ist gerade genug Platz, dass die vier Wachen, Sey und sie selbst darin stehen können. Wie in einem Fahrstuhl. An den Wänden sind jeweils zwei gemauerte, rundliche Fenster, die allerdings mit völlig schwarzen Scheiben versehen wurden. Suki wundert sich nicht weiter darüber, schließlich befinden sie sich immer noch im Keller des Hauptquartiers, was Fenster im Grunde ohnehin überflüssig macht. Sie wirft Sey einen fragenden Blick zu, doch er grinst sie nur wissend an und deutet unauffällig nach oben. Als Suki den Kopf in den Nacken fallen lässt und ihre Augen nach oben wandern, stockt ihr für einen Moment der Atem. Sie hatte ein tristes, graues Mauerwerk erwartet, so wie der Rest des Raumes, doch was sie da erblickt, hätte sie sich wohl nichtmal ansatzweise ausmalen können. Im ersten Augenblick sieht es so aus, als befänden sie sich unterhalb eines unglaublich klaren Sternenhimmels, ein unendlich wirkendes, blauschwarzes Fenster, durch das ihnen ein Meer aus strahlenden silbernen Sternen entgegenleuchtet. Doch als sie etwas genauer hinsieht, kann sie erkennen, dass sich die vermeidlichen Sterne wie winzige, lebendige Wesen in sachten Bahnen fortbewegen. Einige streifen scheinbar so nah an ihnen vorbei, dass sie wohl nur die Hand ausstrecken müsste um sie zu berühren. Eine angenehme Wärme, fast wie an einem klaren Sommertag, geht von den dahingleitenden Lichtern aus. Suki spürt wie ein Gefühl tiefster Zufriedenheit ihren ganzen Körper durchflutet. Sie kann nicht anders als die Augen zu schließen und sich ganz auf dieses eine, unbeschreibliche Gefühl zu konzentrieren... Sie wünscht sich plötzlich aus ganzem Herzen, sie könnte einfach für immer so verharren... für immer so dahintreiben... nie wieder aufwachen....

Sie fühlt wie sich eine Hand um ihre schließt und sie auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Das betäubend angenehme Gefühl verschwindet langsam aus ihrem Kopf und sie öffnet leicht benommen die Augen. Sie hat mit einem leichten Schwindelgefühl zu kämpfen und ist froh, dass Sey ihre Hand noch etwas fester hält, bevor sie entgültig das Gleichgewicht verliert. Er lächelt sie leicht belustigt an.

„Weißt du, als ich sie das erste mal gesehen hab, hab ich wohl mehr als zehn Minuten nach oben gestarrt bevor ich irgendwann einfach umgefallen bin...“

Suki mustert ihn, immer noch leicht wackelig auf den Beinen.

„Was sind sie?“

Sey wirft einen fast schon verträumten Blick nach oben.

„Es sind Seelen. Aber nicht nur irgendwelche Seelen... sie wurden bereits gereinigt und bestehen deshalb im Grunde nur aus den guten Erinnerungen und positiven Gefühlen der Menschen zu denen sie gehört haben... Gereinigte Seelen neigen dazu sich, sobald sie von ihrem dunklen Teil befreit sind, in dieser Zwischenwelt zu sammeln... Keiner weiß, warum sie das tun. Es ist fast so, als würden sie einander suchen...“

Suki betrachtet die hellen Lichter über sich nachdenklich, diesmal allerdings darauf bedacht, sich nicht von ihrer Erscheinung überwältigen zu lassen.

„Alles Gute, das in einem Menschen steckt..? Dann sind sie wie... wie Engel...“

Sey blickt sie verblüfft an, widerspricht ihr aber nicht. Sukis Blick fällt zufällig auf ihre verletzte Hand, mit der sie vorher blindlings auf einen der Uniformierten eingeschlagen hatte. Die Rötungen sind verschwunden und sie spürt auch keinerlei Schmerz mehr. Die wenigen Blutstropfen lassen sich einfach von ihrer Haut wegwischen, während von der eigentlichen Kratzwunde nichts mehr zu sehen ist. Einer der Soldaten flüstert etwas in sein Headset, bevor er sich an seine Kollegen wendet.

„Wir haben jetzt die Erlaubnis überzutreten.“

Die vielen einzelnen Lichter über ihnen scheinen plötzlich unaufhaltsam näher zukommen. Suki fühlt sich leicht unbehaglich und hält sich mit ihrer freien Hand noch zusätzlich an dem Ärmel von Seys Hemd fest. Gerade als er ihr noch ein leises „Keine Sorge..“ zuflüstert, leuchtet der Himmel über ihnen auf und taucht sie alle in einen grellen, silbrigen Schleier. Suki spürt wie sich ihre Füße vom Boden lösen, doch anders als zuvor kann sie von der unglaublichen Präsenz der gereinigten Seelen nur einen leichten Hauch ausmachen. Es ist als wären sie in eine undurchdringliche Kugel aus Licht gehüllt, die sie von allem, was um sie herum passiert abschirmt.

Genauso schnell wie das Licht gekommen war, verschwindet es auch wieder. Sukis Augen brauchen einen Moment, um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Alles was sie zunächst wahrnimmt ist eine farblose Leere um sie herum. Es ist ein kreisrunder Raum, von oben bis unten schneeweiß und völlig verlassen. Auch die vier Wachen sind verschwunden. Sey blickt sich unruhig in alle Richtungen um.

„Irgendwas stimmt hier nicht... das ist nicht der Raum in dem der Rat gewöhnlich Leute empfängt... Das ist...“

Suki stößt einen spitzen Schrei aus, als sie plötzlich spürt, dass etwas an ihrem Bein vorbeistreicht. Als sie nach unten sieht, erblickt sie eine weiße Katze, mit grauen Pfoten, die elegant an ihr und Sey vorbeispringt.

„Was hast du hier verloren, Chitori?“

Suki dreht sich zu Sey um, verblüfft über dessen plötzlich aggressiven Tonfall. Die Katze setzt sich einige Meter entfernt hin und sieht ihnen mit ihren rot glühenden Augen entgegen. Suki hat das seltsame Gefühl als würde das Tier sie anlächeln...

„Du erinnerst dich also an mich? Nun ja, ich gebe zu, ich habe diese Gestalt für den heutigen Tag nicht von ungefähr gewählt, miau... Ich frage mich nur eins...“

Die Augen der Katze verengen sich zu Schlitzen, und diesmal ist Suki sich sicher ein heimtückisches Grinsen in ihren Zügen zu erkennen.

„...Wie kommt es wohl, dass du meinen Namen kennst?“

Sey wirkt für einen Moment wie überfahren. Er öffnet den Mund, schließt ihn allerdings wortlos wieder.

„Du weißt es nicht, hab ich recht? Dabei ist es nur natürlich, dass du den Namen deiner Besitzerin kennst, miau...“

„Halt die Schnauze, Mistvieh!“

„Oho... Das ist aber nicht nett... miau...“

„Erzähl mir nicht was nett ist, spuck lieber aus was du hier zu suchen hast!“

Die Katze setzt zu einem weiten Sprung an, doch bevor ihre Pfoten wieder den Boden berühren, hat sich ihre Gestalt in die einer jungen Frau gewandelt. Ihre Haare, sowie das weite Kleid, das sie trägt sind weiß und ihre Haut erstrahlt in einem hellen Sandton. Suki spürt wie ihre leuchtend roten Augen sie fixieren und kann nicht anders als schaudernd einen Schritt zurückzuweichen. Irgendetwas im Gesicht dieser hübschen Frau lässt eine unbegründete Angst in ihr aufsteigen. Mit einer einzigen fließenden Bewegung legt sie die wenigen Meter zurück, die sie von Sey getrennt haben und lässt sachte ihre Fingerspitzen über seine Wange streichen und auf seinem Hals ruhen. Chitori blickt leicht lächelnd über seine Schulter hinweg auf Suki, die plötzlich ein unangenehmes Ziehen in ihrer Brust spürt. Sey steht völlig reglos da, wie zu Eis erstarrt. Selbst als Chitori mit ihren Katzen-gleichen Bewegungen um ihn herumschleicht, geht keinerlei Reaktion von ihm aus... Er blickt nur weiter starr gerade aus.

„...Sey?“

Suki wird allmählich nervös und will gerade auf ihn zugehen, um herauszufinden was mit ihm nicht stimmt, als Chitori sich ihr in den Weg stellt.

„Lass ihn einfach da stehen... Du bist es, mit der ich mich unterhalten will...“

„Was hast du mit ihm gemacht?“

Die junge Frau wickelt kichernd eine Strähne ihres langen, weißen Haares um ihren Zeigefinger.

„Ach, mach dir da mal keine Sorgen, ich hab lediglich die Zeit für ihn eingefroren... „

„Dann heb es gefälligst wieder auf!“

„Sicher doch...gleich. Erst mal würde ich gern ein kleines Gespräch mit dir führen ...-unter vier Augen...“

Suki fühlt sich immer unbehaglicher. Sie kann sich einfach nicht vorstellen, was diese fremde Person mit ihr zu bereden haben soll... Chitori scheint über ihre Unsicherheit allerdings mehr als amüsiert.

„Suki...hattest du jemals Angst, dein Leben könnte zu kurz sein,...dass du etwas verpassen könntest?... Wenn man unsterblich ist, so wie ich, beginnen die einzelnen Jahre mit der Zeit an Bedeutung zu verlieren... Die Jahrzehnte vergehen, man beobachtet wie Generationen geboren werden und sterben, wie Kriege ausbrechen und Schlachten verloren werden, und wie dieser Kreislauf von neuem beginnt, immer und immer wieder... Es ist nicht nur langweilig, es ist unerträglich!“

Für einen Moment ist Suki sicher Chitoris rote Augen wütend aufblitzen zu sehen und weicht noch einen Schritt von ihr weg. Chitori selbst fängt sich aber augenblicklich wieder und setzt erneut dieses seltsam künstliche Lächeln auf, das fast schon an das Lachen einer Porzellanpuppe erinnert.

„Deshalb habe ich vor einiger Zeit beschlossen, etwas gegen die Langeweile zu unternehmen... Wenn man nichts mit sich anzufangen weiß, sucht man sich ein Hobby, hab ich recht?“

Noch während sie spricht verschwimmt Chitori vor Sukis Augen, nur um im nächsten Moment in der Gestalt eines kleinen Mädchens wieder aufzutauchen. Während Suki ihre Verblüffung kaum verbergen kann, spricht sie weiter als wäre nichts gewesen.

„Weißt du, Suki, ich beobachte deinen Freund Sey jetzt schon eine ganze Weile... beinahe ein Jahrhundert um genau zu sein... es ist recht unterhaltsam... naja ich gebe zu, hin und wieder hatte ich meine Finger im Spiel, aber das ist es schließlich, was den Spaß ausmacht, oder irre ich mich da?“

„Unter Spaß verstehe ich was anderes...“

Überrascht über ihre eigenen Worte zuckt Suki ein wenig zusammen... Sie hatte nicht vorgehabt angesichts dieses... Wesens... auch noch vorlaut zu werden. Allerdings will es ihr auch nicht gelingen ihre, zu Fäusten geballten Hände zu entspannen. Die kleine Chitori blickt belustigt zu ihr auf.

„Du bist ein interessantes Mädchen... irgendetwas an dir ist besonders... ich kann nur noch nicht sagen was es ist...“

Bevor Suki reagieren kann, steht sie direkt vor ihr, jetzt wieder in der Gestalt der jungen Frau in weiß. Suki ist wie gelähmt und wagt es nicht sich zu rühren, selbst als sie Chitoris kalte Fingerspitzen an ihrem Kinn spürt.

„Aber deshalb habe ich euch ja hier her gebracht... dank mir entgeht ihr einer Hinrichtung durch Zerberus und als kleine Gegenleistung, darf ich ein wenig Spaß mit euch haben... was auch immer es ist, das du versteckst... ich denke ich werde es schon aus dir herauskitzeln...“

Mit einem breiten Grinsen verschwindet sie plötzlich spurlos, nur um beinahe im selben Moment wieder einige Meter entfernt, direkt neben Sey aufzutauchen. Beinahe als wollte sie sie verhöhnen, lehnt sie sich an seine Schulter, den Blick noch immer auf Suki gerichtet. In ihren roten Augen liegt ein herausforderndes Funkeln, das Suki zunehmend misstrauisch macht.

„...Was hast du vor?“

Als Antwort bekommt Suki nur ein leises Kichern zu hören, während Chitori mit einer eleganten Bewegung ihren linken Arm hebt. In ihrer Handfläche erscheint ein schmaler silberner Dolch. Lächelnd lässt sie die glänzende Klinge an Seys Hals ruhen.

„Nein! Warte!...Bitte, hör auf damit!“

Suki spürt eine leichte Panikattacke in sich aufsteigen. Mit zitternden Händen geht sie auf Chitori zu.

„Ich... Ich warne dich! Wenn du ihm etwas tust, dann...“

„Große Worte für ein kleines, ängstliches Mädchen... ich frage mich was passiert wenn ich...“

Sie neigt die Klinge um wenige Millimeter, woraufhin ein paar glänzende Tropfen Blut daran entlanglaufen.

„Hör auf!“

Chitoris Lächeln wird angesichts Sukis Verzweiflung noch etwas breiter. Völlig unbeeindruckt verstärkt sie den Druck auf die Klinge noch etwas.

„Ich hab gesagt, du sollst aufhören!“

Bevor sie einen klaren Gedanken fassen kann, hat Suki bereits einige Schritte nach vorn gemacht und ihre flache Hand mit einer blitzschnellen Bewegung auf Chitoris Wange zurasen lassen. Das Geräusch der Ohrfeige hallt in dem leeren Raum wider, begleitet von Sukis rasendem Herzschlag. Ohne ein Wort lässt Chitori ihre freie Hand vorschnellen und packt damit Sukis Hals.

„Böses Mädchen...“

Die Klinge wandert augenblicklich auf Sukis Gesicht zu. Sie kann das eiskalte Metall unterhalb ihres Auges spüren. Doch gerade als ihr Atem von der Angst übermannt zum stillstand kommt, fühlt sie wie der leichte Druck auf ihrer Wange abrupt verschwindet.

Seys hat sich aus seiner Starre befreit und Chitoris Handgelenk gepackt. Das Messer samt ihrer Hand auf ihr Herz gerichtet, funkelt er sie hasserfüllt an. Chitori scheint zum ersten mal leicht verblüfft, vertuscht es aber gekonnt mit einem erneuten Lächeln.

„Sieht aus als wäre ich etwas unkonzentriert gewesen...“

Suki merkt, dass sich ihre Atmung wieder etwas normalisiert.

„Bist du in Ordnung, Suki?“

Sie nickt ihm mit einem leichten Lächeln zu, was Sey offensichtlich erleichtert zur Kenntnis nimmt.

„Tut mir leid... Ich war unkonzentriert und hab mich von ihr austricksen lassen...“

„Du brauchst dich nicht zu-....“

Bevor Suki den Satz beenden kann, schlägt ihr plötzlich eine unglaubliche Hitzewelle entgegen, die sie einige Meter zurückstolpern lässt und sie beinahe aus dem Gleichgewicht bringt. Auch Sey weicht vorsichtshalber etwas von Chitori zurück, durch deren Körper ein bedrohliches Beben fährt. Von ihren Pupillen ist nichts mehr zu sehen, stattdessen leuchten ihre Augen komplett in einem grellen, wütenden Blutrot. Als sie den Mund zu einem Grinsen verzieht, blitzen ihnen ein Paar langer, spitzer Eckzähne entgegen. Im nächsten Moment beobachten Suki und Sey, wie Chitoris femininer Körper seine Form verändert, bis sie schließlich in die glühenden Augen einer bedrohlich knurrenden, weißen Löwin blicken. Die Raubkatze spreizt die Klauen ihrer kräftigen Pranken und hinterlässt tiefe Kratzspuren auf dem glänzenden Untergrund. Suki starrt wie gebannt auf das gleichzeitig angsteinflößende und doch ungleich elegante Tier. Sie ist von dem Anblick so überwältigt, dass sie nicht bemerkt, dass die Katze plötzlich die Muskeln anspannt und mit einigen weiten Sprüngen auf sie zuschnellt. Kurz bevor die Bestie sie mit ihren Krallen zu Boden reisst, wird Suki unsanft zur Seite gestoßen und landet der Länge nach auf dem Boden. Als sie die Augen öffnet, erblickt sie neben sich Sey, der gerade wieder keuchend aufspringt, als die Löwin mit einem tiefen Grollen kehrt macht und erneut auf sie zusprintet.

„Suki! Lauf! Beeil dich!“

Er zieht sie mit einer Hand auf die Beine und zusammen rennen sie blindlings quer durch den Raum. Das völlig leere, kreisrunde Zimmer bietet allerdings recht wenig Schutzmöglichkeiten. Chitori scheint die Jagd eindeutig zu genießen, denn anstatt sie bei der ersten Gelegenheit mit einem Hieb ihrer Pranken zu töten, treibt sie ihre Beute schließlich an einer Wand des Raumes in die Enge. Lediglich ein guter Meter Spielraum bleibt ihnen noch um nach hinten auszuweichen, während die Raubkatze langsam auf sie zuschleicht.

„Suki? Such in meinen Jackentaschen, ob du irgendetwas brauchbares finden kannst... irgendwas... spitzes oder scharfes...“

Suki hatte schon ganz vergessen, dass sie immer noch Seys schwarze Jacke trägt. Sie fängt an hektisch sämtliche Taschen, sowohl innen als auch außen, zu durchsuchen, die meisten von ihnen sind allerdings leer. Jetzt wo sie so darüber nachdenkt, fällt ihr auch auf wie leicht der Mantel ist, zumindest im Vergleich zu sonst... Als sie damals Seys Waffe darin gefunden hatte, war sie sich sicher, dass die Taschen mit allerlei Kram vollgepackt gewesen waren... Die Wachen müssen ihm die Sachen abgenommen haben, bevor sie sie beide in die Zellen im Keller gesperrt hatten... Suki atmet nervös aus, bevor sie ihre Hand in die letzte Tasche steckt, in der noch die Chance besteht, etwas brauchbares zu finden... auch wenn ihre Hoffnung sich bereits dem Nullpunkt hinneigt... Chitori scheint es derweil leid zu sein, ihrer Beute nur aufzulauern. Sie holt mit einer ihrer kräftigen Vorderpfoten nach Sey aus, doch es gelingt ihm ihr knapp auszuweichen. Sukis Hand ertastet plötzlich einen kühlen, glatten Gegenstand, ganz unten in der Tasche...

Ein lautes Fauchen lässt sie zusammenzucken und im nächsten Moment prallt Sey unsanft neben Suki an die glatte, weiße Wand des Raumes. Geschockt rennt sie zu ihm.

„Sey! Alles in Ordnung?“

Er richtet sich leicht hustend wieder auf und nickt ihr kurz zu, gerade als die weiße Löwin mit einem tiefen Knurren ihre messerscharfen Klauen vor ihnen über den Boden scharren lässt. Sie ist jetzt nur noch wenige Meter entfernt und macht sich bereit, mit einem ihrer flinken Sprünge auf sie zu zustürmen. Suki presst ihren Rücken an die Wand hinter sich, um soviel Platz wie möglich zwischen sich und die tödlichen Klauen des Tieres zu bringen. Sie spürt, dass es diesmal keinen Ausweg für sie gibt... in wenigen Sekunden, wird die Raubkatze sie mit ihren spitzen Zähnen in Stücke reissen...

Gerade als Suki voller Angst die Augen schließt, spürt sie wie der Druck der Wand in ihrem Rücken schlagartig verschwindet, und sie plötzlich rücklings ins Leere zu stürzen droht. In ihrer blinden Panik greift sie nach einem Halt, erwischt gerade noch Seys Arm und zieht ihn mit einem spitzen Schrei mit sich. Im nächsten Moment landet sie schmerzhaft auf dem Rücken. Keuchend und noch immer vor Angst zitternd richtet sie sich auf, doch als sie sich umsieht, ist von dem weißen Raum nichts mehr zu sehen. Stattdessen befindet sie sich in einem spärlich beleuchteten, schmalen Gang.

„W..Wo sind wir?“

Als die erwartete Antwort ausbleibt, bemerkt Suki, dass auch Sey spurlos verschwunden ist. Sie überlegt, ob sie nach ihm rufen sollte, entscheidet sich dann aber doch anders... dieser menschenleere, lautlose Gang kommt ihr eindeutig zu verdächtig vor, als dass sie freiwillig das Risiko eingehen würde, irgendetwas anderes anzulocken...

Zögerlich geht sie durch den Flur, wobei die überrascht feststellt, dass keiner ihrer Schritte auch nur ansatzweise einen Laut verursacht... es ist fast so, als wäre sie überhaupt nicht hier. Als sie dem Ende des Ganges näherkommt, entdeckt sie eine Gabelung, die sie in zwei neue, völlig identische Flure führt. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass man in einem Labyrinth immer rechts gehen sollte, um irgendwann zum Ausgang zu gelangen... Sie ist sich zwar nicht mehr sicher wie zuverlässig diese Quelle war, entschließt sich aber trotzdem ihre rechte Hand, während sie läuft, an einer der Wände entlanggleiten zu lassen. Nachdem sie eine Weile so von einer Kurve zur nächsten gewandert ist, hört sie plötzlich ein unerwartetes Geräusch. Sie hält einen Moment die Luft an, als es sich aber nicht wiederholt, entscheidet sie sich weiterzugehen. Nach einigen Schritten ist sie sich aber sicher wieder etwas zu hören... wie das Kichern eines Kindes... dazu ein paar leise Schritte, die sich zu nähern scheinen... Von einer plötzlichen Angstwelle gepackt rennt sie blindlings los, in der Hoffnung die seltsamen Laute einfach hinter sich lassen zu können. Als sie keuchend um eine weitere Ecke sprintet ist sie sich sicher die helle Silhouette einer jungen Frau sehen zu können... Auch wenn das Bild im Bruchteil einer Sekunde wieder verschwunden ist, weiß Suki mit hundertprozentiger Sicherheit, dass es Chitori war, die ihr da entgegen gelächelt hat... Sie rennt hektisch weiter, ist sich jetzt völlig sicher, dass sie von irgendjemandem oder irgendetwas verfolgt wird... Die Schritte klingen jetzt schwerer... nicht mehr wie die eines Kindes... und sie kommen unaufhaltsam näher. Suki wagt es nicht einen Blick über ihre Schulter zu werfen, aus Angst, ihr Verfolger könnte bereits direkt hinter ihr stehen. Im Hintergrund kann sie konstant ein leises Lachen hören... Chitoris Lachen... Plötzlich erhebt sich vor ihr eine massive, graue Wand. Sie stößt einen leisen Fluch aus, hält sich aber augenblicklich eine Hand vor den Mund, als ihr klar wird, dass auch die Schritte hinter ihr verstummt sind. Auch wenn kein Laut zu hören ist, nichtmal ein leises Atmen, ist sie sich sicher, dass da jemand hinter ihr steht... und auf ihre nächste Bewegung lauert... Ihr fällt der metallische Gegenstand wieder ein, den sie in Seys Jackentasche entdeckt hatte und tastet unauffällig mit ihrer Hand danach. Als ihre zitternden Finger sich um das kalte Metall schließen, fühlt sie sich unerwartet um einiges sicherer. Sie kann sogar genug Mut zusammensammeln, um sich langsam zu ihrem Verfolger umzudrehen. Sie versucht möglichst selbstbewusst dabei auszusehen, doch als sie die dunkle, gesichtlose Gestalt vor sich sieht, kommt ihre Angst ungebremst zu ihr zurück. Das Wesen vor ihr ist eher ein Schatten, als ein Mensch... nur ein schwarzer Umriss und doch furchterregend real... Für einen Augenblick starrt es sie nur an, weshalb Suki beschließt, es vielleicht einmal auf die vernünftige Weise zu versuchen...

„H..Hallo? Ähm... was.. was willst du von mir?“

Die Gestalt scheint sie nicht zu verstehen, jedenfalls reagiert sie nicht auf ihre Stimme. Doch als Suki genauer hinsieht, glaubt sie eine leichte Bewegung in dem Schemenhaften Gesicht der Person zu erkennen... so als würde sie sprechen, allerdings ohne tatsächlich ein Wort zu verlieren. Gerade als Suki das Wesen erneut ansprechen will, macht die Gestalt plötzlich einen Schritt auf sie zu, wobei sie einen Arm hebt, so als wolle sie nach ihr greifen. Suki zuckt ängstlich etwas zurück, doch das Wesen scheint das als anlass zu nehmen, weiter auf sie zuzugehen.

„B-Bleib weg! Ich warne dich! Ich-...“

Ihre Hand umschließt die Waffe in ihrer Tasche noch etwas fester.

„Na los... beeil dich schon und töte sie... Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit...“

Suki blickt sich hektisch um, und entdeckt Chitori, in der Form der kleinen, weißen Katze, die einige Meter entfernt sitzt und sie amüsiert angrinst.

Der Schatten setzt sich lautlos in Bewegung, während Chitoris stummes Lächeln sich wie ein Messer in Sukis Körper zu bohren scheint. Doch mit einem Mal spürt sie auch eine unglaubliche Wut in sich. Sie hasst dieses zufriedene Lächeln auf Chitoris Gesicht und sie hasst es, sich in ihrer Gegenwart wie eine Marionette vor zu kommen. Aber vor allem hasst sie diese miese Katze dafür, dass sie solchen Gefallen daran findet, anderen Menschen leid zu zufügen... für das was sie Sey angetan hat und sogar für Selena... Als der dunkle Schatten direkt vor ihr steht und mit seiner schwarzen Hand nach ihrem Arm greift, versucht Suki sich mit aller Kraft zu wehren. Sie tritt und schlägt zu so fest sie kann, doch die Gestalt lässt nicht so leicht locker, wie sie gehofft hatte. Als letzten Ausweg zückt sie das scharfe, kleine Messer aus der Tasche und sticht damit ohne groß nachzudenken zu und setzt all ihre Wut und ihren Hass auf Chitori in diese eine Attacke. Zu ihrer Überraschung bietet das Schatten-gleiche Wesen sogar einen Widerstand. Die Klinge bleibt tief in der linken Schulter der Gestalt stecken... sogar Blut beginnt langsam daran hinabzulaufen... Suki fällt, teils erleichtert über ihren Erfolg und andererseits geschockt über sich selbst, auf die Knie. Ihr ist plötzlich schwindlig und vor ihren Augen flimmern bunte Lichter auf. Sie kann gerade noch grob erkennen, wie sich die Gestalt zu ihr hinunterbeugt, bevor alles vor ihren Augen schwarz wird. Doch sie hat nicht das Gefühl als wäre sie bewusstlos... Im Gegenteil, ihre Sinne kommen ihr plötzlich schärfer vor als zuvor... Als wäre alles um sie herum durch einen Schleier verdunkelt gewesen, der sich jetzt allmählich klärt. Sie glaubt weit entfernt eine Stimme zu hören, die ihren Namen ruft. Sie kommt ihr bekannt vor...

„Hey! Suki!, Komm schon... mach die Augen auf!“

Sie spürt wie sie leicht an den Schultern geschüttelt wird...

„Hör mir zu, Suki, das ist alles nur eine Illusion! Du musst nur die Augen aufmachen!“

Die Stimme scheint jetzt ganz nah zu sein... Suki hat das Gefühl aus einem unglaublich tiefen Schlaf aufzuwachen. Mit einem leisen Grummeln blinzelt sie schließlich in das trübe Dämmerlicht um sich herum. Direkt vor ihr erkennt sie Sey, der sich, offensichtlich erleichtert über ihr Erwachen, einige Haarsträhnen aus dem Gesicht wischt. Er kommt ihr ziemlich bleich vor und sie kommt nicht darum herum sich zu fragen, ob er tatsächlich so besorgt um sie gewesen war... Als sie ihre Sinne wieder beisammen hat, richtet sie sich vorsichtig auf.

„Was ist passiert?“

„Chitori... sie hat uns schon wieder drangekriegt...“

Seys ernster Gesichtsausdruck, wandelt sich plötzlich in ein erschöpftes Grinsen.

„...Ich muss zugeben, du bist um einiges kräftiger als du aussiehst, Suki... Ich hatte schon mit Soldaten zu tun, die mir nicht annähernd so zu schaffen gemacht haben wie du!“

Suki ist einen Moment leicht verwirrt, bis ihr die rötlichen Kratzspuren auf Seys Wange auffallen. Gerade als sie fragen will, was passiert ist, fällt ihr Blick auf eine weitere Wunde, dank der sie selbst realisiert, was geschehen war. Sey Hemd ist blutdurchtränkt und in seiner Schulter steckt, das kleine, dunkle Metallmesser, das Suki vor wenigem Minuten noch selbst in der Hand gehalten hatte... Seys Grinsen verschwindet sofort, als er ihren Gesichtsausdruck sieht.

„Hey... das ist halb so wild... mach dir deswegen keine Sorgen..“

„Aber...“

Sey beisst die Zähne zusammen und versucht sich möglichst wenig anmerken zu lassen, als er die Klinge mit einem schnellen Ruck herauszieht und vor sich auf den Boden fallen lässt.

„Siehst du,... kein Problem... Das heißt-...“

Er wirft einen besorgten Blick auf das Metallmesser vor sich. Es hat eine ungewöhnliche Krümmung und entlang seiner Klinge ist alle paar Millimeter ein winziges Loch eingeprägt.

„Du.. äh... hast das nicht zufällig aus der Tasche rechts vorne, oder?“

„Doch, ich denke schon... Wieso fragst du?“

„Ach... völlig egal... lass uns einfach so schnell wie möglich einen Weg hier raus finden...“

Suki blickt sich zum ersten Mal richtig um, und ist verblüfft als sie feststellt, dass sie sich noch immer in dem düsteren Labyrinth befinden... Zumindest das scheint nicht nur ihre Einbildung gewesen zu sein. Die Beiden gehen auf gut Glück die Erste rechts und von da an zunächst immer geradeaus. Suki wird allerdings das Gefühl nicht los, dass sie den Ausgang vergeblich suchen. Zudem macht sie sich sorgen um Sey... Auch wenn er sie bereits mehrmals zu beruhigen versucht hatte, kann sie nicht darüber hinwegsehen, dass er alles andere als fit aussieht...

„Verdammt! Ich glaub das einfach nicht!“

Suki dreht sich zu Sey um, der sich frustriert an die Wand rechts von ihnen fallen lässt.

„Was ist?“

Ohne aufzusehen zeigt er mit einem Arm auf den Boden vor sich. Suki kann einige glänzende rote Flecken auf dem dunklen Untergrund sehen.

„Wir sind im Kreis gelaufen...“

Suki seufzt verzweifelt auf, und lehnt sich neben Sey an die Wand.

„Und was machen wir jetzt?“

„Ich hab keine Ahnung...“

Sie stehen eine Weile schweigend nebeneinander, so als würden sie darauf warten, dass ihre Probleme sich doch einfach mal von selbst lösen würden...

„Hörst du das?“

Suki schreckt aus ihren Gedanken auf und lauscht in die Dunkelheit am anderen Ende des Flurs. Sie glaubt das leise Plätschern eines Brunnens zu hören... Sey stößt sich von der Wand ab und geht auf das Geräusch zu. Suki folgt ihm leicht zögernd. Als sie sich bei der nächsten Kreuzung nach links wenden, kann sie in einiger Entfernung ein winziges Licht ausmachen, das aber, als sie vorher hier vorbeikamen definitiv noch nicht da gewesen war. Als sie schließlich nur noch wenige Meter von der Lichtquelle entfernt sind, ist sie sich ganz sicher, das sachte Fließen von Wasser hören zu können. Und tatsächlich, mitten aus der grauen Wand ragt ein steinerner Wasserspeier, der an einen Adler erinnert und aus dessen Schnabel konstant ein Strahl aus klarem Wasser in ein kleines Becken direkt darunter fließt, von dem einige sanfte Dampfwolken aufsteigen, ähnlich wie bei einer heißen Quelle. Auf dem breiten Rand des Beckens steht eine einsame Kerze, die kurz davor ist, entgültig zu erlöschen. Sey lehnt sich wortlos gegenüber dem seltsamen Objekt an die Wand, während Suki es einmal umrundet, in der Hoffnung, noch etwas daran zu entdecken, dass wenigstens ansatzweise auf einen Ausgang hinweist. Doch das einzig Auffällige, an dem Objekt, ist ein kleines goldenes Schild mit der Aufschrift „Kein Trinkwasser!“

Suki kann ein bitteres Lachen nicht unterdrücken. Aus irgendeinem Grund beschleicht sie das Gefühl, als wolle der Wasserspeier sie mit diesem völlig unnötigen Schild nur verhöhnen... Sie gibt dem Beckenrand einen Tritt und seufzt auf.

„Das Ding ist völlig nutzlos! Ich schätze wir sollten einfach weitergehen...“

Sey nickt ihr kurz zu, doch als er sich von der Wand löst um ihr entgegen zu laufen, gerät er bedrohlich ins schwanken. Suki gelingt es gerade noch ihn einigermaßen aufzufangen, doch sein Gewicht lässt sie sofort in die Knie sinken.

„Sey? Hey, Sey! Was ist los?“

Er lehnt seinen Kopf müde an ihre Schulter.

„... Das Messer... Normalerweise könnte mir das Gift daran nichts anhaben... Aber ich hab vergessen,... dass ich.. dieses Halsband....“

Suki lehnt ihn vorsichtig an die nächste Wand, unschlüssig was sie als nächstes tun soll. Ohne nachzudenken greift sie nach der, mit den roten Steinen versehenen Kette, doch gerade als ihre Finger das kühle Metall berühren, bekommt sie einen heftigen elektrischen Schlag. Sie versucht es ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis.

„Ich kann es nicht berühren! Was soll ich tun?!“

Sie blickt Sey erwartungsvoll an, doch er reagiert nicht. Suki versucht ihn wieder wachzurütteln, doch er rutscht nur ein weiteres Stück an der Wand hinunter. Als sie mit dem Handrücken seine Wange berührt, zuckt sie leicht zurück... seine Haut ist eiskalt. Hektisch zieht sie die Jacke aus und legt sie notdürftig über ihn, um sich dann fast schon panisch in dem kahlen Flur nach etwas brauchbarem umzusehen. Ihr Blick fällt auf die heiße Quelle unterhalb des Wasserspeiers. Mit all ihrer Kraft reisst sie ein längliches Stück Stoff vom Rand ihres Shirts ab und taucht es in das heiße Wasser... es ist sogar noch um einiges wärmer als sie es erwartet hatte. Sie wringt den Fetzen schnell aus, wobei einige Wasserspritzer die kleine Kerze am Rand des Beckens treffen, woraufhin diese lautlos erlischt. Gerade als Suki sich wieder Sey zuwendet, bemerkt sie, wie das Wasser innerhalb des Beckens, plötzlich unaufhaltsam höhersteigt. Bereits nach wenigen Augenblicken hat es den Rand erreicht und läuft schließlich laut plätschernd in den Gang. Der Strahl der aus dem Wasserspeier dringt, nimmt plötzlich um einiges zu, und bereits nach wenigen Minuten ist der gesamte Boden um sie herum mit Wasser bedeckt. Suki stößt einige Flüche aus, während sie verzweifelt versucht, Sey an einem Arm auf die Beine zu ziehen.

„Komm schon... Wir müssen hier weg... bitte!“

Das Wasser schießt jetzt in unglaublichen Mengen in den Gang, und obwohl Suki erwartet hatte, dass es mehr als genug Platz zum abfließen hätte, steigt es Zentimeter um Zentimeter höher. Bereits nach Kurzem reicht es ihr bis über die Knie. Sie hat alle Hände damit zu tun, Sey aufrecht zu halten. Ihr Blick fällt plötzlich auf eine schmale goldene Kette, die unterhalb des Adlers ins Wasser fällt. Sie lehnt Sey so gerade wie möglich an die Mauer und kämpft sich so schnell sie kann durch das Wasser. Nach einigen Schritten stößt sie mit einem Fuß an den Rand des Beckens, der bereits weit unter der Wasseroberfläche liegt. Panisch tastet sie nach dem Ende der Kette, auch wenn sie im Grunde schon fast jede Hoffnung verloren hat, hier jemals wieder lebend herauszukommen... Während sie sucht, blickt sie sich noch einmal zu Sey um, gerade als er zur Seite rutscht und von den Wassermassen verschluckt wird. Ihre Hand ergreift das Ende der Kette und sie zieht mit aller Kraft daran. Sie hat sich noch nie so sehr gewünscht einfach nur Zuhause zu sein... einfach in Sicherheit zu sein...

Ein grelles Licht erstrahlt aus dem Wasser, direkt unter ihren Füßen, so grell, dass sie den Blick abwenden muss. Es scheint das Wasser geradezu einzusaugen, denn der Pegel sinkt rasend schnell. Beinahe ebenso schnell breitet das Licht sich aus. Als von dem Wasser nur noch eine dünne Schicht übrig ist, stürzt Suki sich zu Sey, der reglos am Boden liegt. Sie versucht seinen Puls zu fühlen, kann aber keinen finden. Als das Licht den gesamten Grund unter ihnen zum leuchten bringt, fühlt Suki, wie sie den Boden unter sich verliert. Die krallt sich panisch an Sey fest, als sie plötzlich ohne jeden Halt in die Tiefe stürzen... hinein in das strahlende Licht....

Ungehörtes Flüstern

Reaper – Kapitel 10

Ungehörtes Flüstern
 

„Chitori-sama! Chitori-samaaa! Chi-...?“

„Was ist?!“

Chitori sieht entnervt auf die kleine, bleiche Gestalt vor ihr hinab. Das leicht transparente Geist-ähnliche Geschöpft zuckt etwas zusammen, bevor es mit leicht zitternden Händen ein blaues Klemmbrett zu ihr empor hält und nervös darauf zeigt.

„Chitori-sama, ich- ich fürchte sie sind entkommen...“

„Was soll das heißen?! Das hier ist eine eigene Dimension! Ich mache hier die Regeln! Man kann diesen Ort nur verlassen, wenn ich es so will!“

„Natürlich... Chitori-sama hat natürlich vollkommen recht,... doch... sie befinden sich nicht mehr hier...“

Chitori wirft ihrem Diener einen wütenden Blick zu, der das Wesen einige Schritte zurückweichen lässt. Doch ihr gelingt es ihr Gemüt schnell wieder zu beruhigen. Mit einer eleganten Geste streicht sie durch ihre langen weißen Haare.

„Tss... wahrscheinlich ist es besser so... Ich schätze ich habe mich ein wenig gehen lassen... Schließlich sollen mich die beiden auch in Zukunft noch unterhalten...“

„Was sollen wir tun, Chitori-sama?“

„Gar nichts.“

„Gar nichts?“

Chitori zupft den Kragen ihres weißen Gewandes etwas zurecht und lächelt zufrieden.

„Für heute hatte ich genug Spaß...“
 


 

Suki treibt wie schwerelos durch das seltsame, warme Licht. Sie glaubt weit entfernte Stimmen zu hören, als sie sich umblickt kann sie aber niemanden entdecken... Sie ist völlig allein, doch gleichzeitig hat sie das Gefühl, als wäre sie von einer Vielzahl von Lebewesen umgeben. Trotz der wohligen Wärme, die von dem Licht ausgeht, spürt sie einen Hauch von Angst.

„Du musst dich nicht fürchten.“

Suki wirbelt hektisch herum. Sie ist sich sicher die Stimme einer Frau, direkt hinter sich gehört zu haben.

„Wo kommst du her?“

Diesmal ist es eindeutig die Stimme eines Kindes, die zu ihr spricht. Doch sie kann noch immer niemanden erkennen.

„Hihihi... Was willst du hier? Du siehst nicht aus, als würdest du hierher gehören...“

Obwohl sie sich nicht sicher ist, ob sie sich diese Stimmen nur einbildet, entschließt sie sich, auf die Fragen einzugehen.

„Ich-... ich weiß nicht... ich meine, was ist das hier für ein Ort?“

Ein leises Kichern scheint an ihr vorbeizutreiben.

„Woher sollen wir das wissen? Hier ist hier... Wir sind einfach hier, weil es für uns nichts anderes gibt. Du bist diejenige, die plötzlich aufgetaucht ist, obwohl sie nicht zu uns gehört...“

„Aber... Es ist nicht so als wollte ich hier sein... Wisst ihr wie ich hier wegkomme?“

„Hmm... wahrscheinlich genauso wie du hergekommen bist...“

Suki seufzt leise auf.

„Herzlichen dank auch, das hilft mir nicht wirklich weiter...“

„...Warum?...“

„Weil ich keine Ahnung habe wie ich hier landen konnte... Wir waren in diesem Labyrinth und im nächsten Moment fallen wir in ein helles Licht...“

Die Stimme eines sehr alten Mannes dringt zu ihren Ohren durch.

„Dann denk darüber nach was du zuletzt gemacht hast.“

Im ersten Moment stürzen die verschiedensten Bilder ihrer Erinnerungen auf Suki ein... die messerscharfen Klauen der weißen Löwin,... das unaufhaltsam höher steigende Wasser,... die blutende Wunde an Seys Schulter... Sie schließt die Augen um sich besser konzentrieren zu können und überlegt fieberhaft was ihren Sturz an diesen seltsamen Ort ausgelöst haben könnte. Als ihr nach mehreren Minuten allerdings noch keine einigermaßen vernünftige Erklärung einfallen will, gibt sie resigniert auf.

„Das bringt nichts... Ich habe rein gar nichts gemacht... Ich wollte einfach nur da raus...“

„Aha...“

„Was soll dieses >Aha<?“

„Vielleicht bist du hier, weil du es wolltest?“

„Ich wollte ganz sicher nicht in einem seltsamen Licht herumtreiben, umgeben von vorlauten Stimmen, die ich mir wahrscheinlich sowieso nur einbilde...“

„Wenn du glaubst, wir wären nur deine Einbildung, warum kann es dann nicht sein, dass dieser Ort auch nur in deinem Kopf existiert? Dann bist du eben doch hier, weil DU es so wolltest...“

Suki denkt für einen Moment stumm nach.

„Dann meint ihr ich spinne mir das alles hier nur zusammen?“

“Wohl kaum, wir waren schließlich schon lange vor dir hier...“

„Warum erzählt ihr mir dann diesen Schwachsinn?“

„Hehe, war doch nur so ne Idee... Aber auch wenn der Ort hier real ist... der Weg, auf dem du hergekommen bist könnte trotzdem ganz bei dir liegen...“

„Redet gefälligst nicht so rätselhaft... ne klare Wegbeschreibung würde mir eher helfen...“

“Denk einfach genauer nach...“

Suki ist allmählich von der besserwisserischen Art ihrer imaginären Stimmen leicht gereizt, entschließt sich aber ihren Ratschlag fürs erste zu befolgen... zumindest solange ihr selbst nichts besseres eingefallen ist. Sie versucht sich darauf zu konzentrieren an dem Ort zu sein, wo sie sich jetzt am wohlsten fühlen würde... Und das wäre eindeutig ihr Zuhause...

Gerade als sie sich vorstellt einfach gemütlich in ihrem Wohnzimmer zu sitzen, spürt sie, wie plötzlich die Schwerkraft um sie herum zurückzukehren scheint. Im nächsten Moment landet sie mit einem dumpfen Aufprall auf dem Rücken. Unter sich spürt sie die flauschigen Fasern des Teppichbodens. Als sie sich aufrichtet und den Blick um sich schweifen lässt, kann sie ein freudiges Grinsen nicht verbergen. Sie befindet sich tatsächlich auf dem Boden ihres Wohnzimmers, direkt hinter einem der bequemen Couchsessel. Mit etwas wackligen Beinen zieht sie sich an der Lehne des Sessels hoch, als sie ein gedämpfter Schlag, gefolgt von einem leisen Fluch, aufblicken lässt. Sey, der teils auf der Couch, teils auf dem Boden gelandet ist, richtet sich keuchend auf sieht sich sichtlich verwirrt in dem gemütlich eingerichteten Raum um. Er bemerkt Suki erst als sie bereits über den Sessel hinweggesprungen ist und ihn stürmisch umarmt.

„S-Suki? Was zur Hölle ist hier los?“

Bevor sie von ihm ablässt, wischt Suki sich unauffällig über die Augen.

„Ich-..Ich dachte du wärst... Ich meine-... geht’s dir gut?“

Sey tastet hektisch über sein blutiges Hemd.

„Äh...ja...es-..es geht mir gut,... irgendwie..“

Suki bemerkt, dass auch die blutige Kratzwunde auf seiner Wange spurlos verschwunden ist und atmet erleichtert auf. Plötzlich wird ihr auch klar, was dieses seltsame Licht war, in dem sie sich vorher befunden hatte...

„Es ist genau wie bei meiner Hand!“

„Hä?“

„Meine Hand... Ich hatte sie mir aufgekratzt, aber als wir in diesem kleinen Raum waren und ich zu den Seelen hochgeschaut habe, sind die Wunden einfach verschwunden. Es war nur ein kleiner Kratzer, aber diesmal waren wir immerhin mitten unter ihnen... das muss ausgereicht haben um deine Verletzung zu heilen...“

Sey scheint nicht ganz überzeugt zu sein.

„Mitten unter ihnen? Wovon redest du da überhaupt? Ich hab noch nie davon gehört, dass jemand sich ohne Schutzfeld durch die Seelen bewegt hätte...“

„Aber es war so! Ich meine, ich bin mir ganz sicher, dass sie überall um mich herum waren... Ich konnte sogar ihre Stimmen hören... Ohne ihre Ratschläge hätte ich nie hier hergefunden...“

„Du- Du hast mit ihnen gesprochen? Bist du dir ganz sicher?“

Suki setzt eine beleidigte Miene auf.

„Ich bin nicht verrückt, oder so... Ich weiß, dass sie da waren...“

„Suki... das würde bedeuten,.. dass du eine Whispered bist...“

Sie sieht ihn verwirrt an.

„...Whispered..?“

Sey atmet angespannt aus und fährt sich nachdenklich durch die Haare.

„Whispered sind Menschen mit der Fähigkeit das stumme Flüstern der Seelen zu hören... Dass du als Sterbliche keine Angst vor mir zu haben scheinst... Dieser Raum hier... Es passt alles zusammen...“

„Was meinst du, was ist mit diesem Raum?“

„Chitori war auch einmal eine Whispered, Suki. Das Hören der Stimmen der Seelen ist nur eine der Fähigkeiten der Whispered... Du hast diesen Raum geschaffen, genau wie Chitori es getan hat.“

Suki lässt den Blick über die Bilderreihen auf dem kleinen Schrank an der Wand gegenüber schweifen. Alles ist so wie sie es von dem Haus gewohnt ist, indem sie aufgewachsen ist. Jedes Einzelne zeigt einen kleinen Teil einer ihrer Erinnerungen.

„Ich soll das alles hier... geschaffen haben?“

Sey nickt ihr stumm zu.

„Aber, das ist unmöglich, wie sollte ich das-...“

„Es ist dein Raum, Suki. Deine eigene Dimension... Du entscheidest, was real ist und was nicht... Der Raum spiegelt genau das wieder, was du willst... Du hast doch selbst gesehen, zu was Chitori fähig war...“

„Ja,... aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen... ich meine... ich bin nur irgendein Mädchen oder?... Ich bin nicht-...“

Sie verstummt und blickt etwas geknickt auf den Boden vor ihren Füßen hinunter. Sey beobachtet sie einen Moment. Mit einem leichten Grinsen stellt er fest, dass sie mal wieder all ihre Gedanken völlig offensichtlich auf dem Gesicht trägt.

„Es stimmt schon... Du bist nicht irgendein gewöhnliches Mädchen... Du bist was besonderes... Aber du bist nicht wie sie...“

Suki fühlt sich trotzdem nicht ganz wohl in ihrer Haut. Der Gedanke, sie könnte irgendeine Verbindung zu dieser Frau haben, behagt ihr überhaupt nicht. Der Gedanke an das kalte Glühen ihrer roten Augen lässt ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht sie vor ihrem inneren Auge ihr eigenes Gesicht vor sich, mit eben diesen leuchtenden Augen...

Ein lautes Klirren lässt sie völlig unvermittelt zusammenzucken. Als sie die Augen auf den niedrigen Couchtisch richtet, blickt sie auf ein schillerndes Meer aus silbernen Spiegelscherben, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht zu sein scheinen. Als Suki in die vielen gespiegelten Augenpaare ihres Gesichts sieht, kann sie nicht anders als erleichtert aufzuatmen. Sie haben den gleichen Blauton, den sie gewohnt ist.

„Suki?“

Sie schreckt leicht zerstreut aus ihren Gedanken auf.

„Ich...ich schätze das war ich... glaube ich zumindest...“

Sey wirft ihr ein schiefes Grinsen zu, das sie etwas zaghaft erwidert.

„Was tun wir jetzt?“

Er blickt sich etwas nachdenklich um.

„Zuerst... sollten wir uns überlegen wie wir von hier aus wieder zurück auf die Erde kommen...“

„Ich denke, ich weiß es bereits... Ich muss mich scheinbar lediglich darauf konzentrieren und dann-...“

„Das ist gut! Aber warte noch einen Moment, nur nichts überstürzen...“

„Warum?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich bezweifle, dass du diesen Raum einfach mit jedem beliebigen Ort auf der Erde verbinden kannst... immerhin bist noch eine Whispered... Man kann deine Fähigkeiten wohl noch nicht mit denen von Chitori vergleichen... Das einfachste wird sein, den Seelenraum im Hauptquartier zu nutzen... Er ist im Grunde schon eine Schnittstelle zwischen zwei Welten... Das heißt, wir sollten uns vorher genau überlegen wie wir vorgehen... Zerberus Leute werden uns wohl nicht gerade mit offenen Armen empfangen...“

„Was sollen wir tun?“

Sey wirft einen Blick auf die Spiegelscherben auf dem Tisch. Ohne ein Wort zu sagen nimmt er ein spitzes Stück davon in die rechte Hand und richtet seine Spitze auf seinen linken Arm. Suki wird etwas unruhig.

„...Was hast du vor?“

Er ignoriert sie einfach und lässt den scharfen Glassplitter plötzlich auf seinen Arm zuschnellen.

„Warte!“

Bevor die Spitze der Spiegelscherbe seinen Arm berührt, hält Sey von einer Sekunde zur anderen plötzlich anstatt des Glasstücks eine weiß-braun gefleckte Feder in der Hand. Er dreht die Feder zwischen zwei Fingern und grinst Suki an.

„Na also, du kannst es!“

Sein Grinsen verschwindet augenblicklich, als Suki ihm ohne Vorwarnung eine heftige Kopfnuss verpasst.

„Das hätte man auch einfacher rauskriegen können, Schwachkopf!“

Sey reibt sich beleidigt den Kopf.

„Jaja... Immerhin haben wir jetzt einen kleinen Vorteil... Kannst du dich an meine Waffe erinnern?“

„Sicher... aber ich weiß nicht ob-...“

„Versuch es einfach... du musst dich nur konzentrieren...“

Suki schließt die Augen und versucht sich so gut es geht an den Abend zu erinnern, als sie die Waffe in der Hand gehalten hat, versucht sich so viele Details wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Sie spürt ein Gewicht auf ihrem Schoß und als sie die Augen öffnet, entdeckt sie tatsächlich Seys schwarze Waffe, genau so wie sie sie sich vorgestellt hatte.

„Ich habs geschafft!“

Sey nimmt die Schusswaffe in die Hand und begutachtet sie mit einem prüfenden Blick.

„Gleich beim ersten Versuch... nicht schlecht... Warte kurz...“

Er kramt in seinen Hosentaschen herum und holt schließlich zwei kleine Patronen hervor, die er Suki zuwirft. Mit den Originalstücken in der Hand fällt es Suki umso leichter sich auf die kleinen Gegenstände zu konzentrieren. Nach wenigen Augenblicken prasseln gleich hunderte der glänzenden Patronen auf sie herunter und bedecken den Couchtisch und den Boden um sie herum. Sey füllt mit geübten Handgriffen das Magazin seiner Waffe, sowie seine Hosentaschen.

„Jetzt wär da nur noch eins zu erledigen...“

„Was?“

Sey zupft mit einem angewiederten Gesichtsausdruck an der goldenen Kette um seinem Hals herum.
 


 

„Verdammt, was zur Hölle soll dieser Lärm?!“

Er wirft mit einer wütenden Geste sein Kissen gegen den Lautsprecher, der über der Tür zu seinem Zimmer angebracht ist. Ein leises Knistern kündigt eine erneute Wiederholung der Durchsage an, die ihm bereits seit 10 Minuten den letzten Nerv raubt.

„...-itten um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit-... Zwei Gefangene befinden sich auf der Flucht....“

Er setzt sich noch immer verschlafen auf und lässt den Blick durch den spärlich eingerichteten, aber mit Kleidungsstücken und leeren Fastfood Verpackungen übersäten Raum schweifen. Nicht zum ersten Mal durchfährt ihn die traurige Gewissheit, dass er diesen Saustall früher oder später aufräumen werden muss... Eine Tatsache, die er allerdings seid mehr als 30 Jahren erfolgreich in den Hintergrund zu drängen versteht. Das unangenehme Pochen in seinem Kopf, das wohl auf seine letzte ausgedehnte Trinktour am Abend zuvor zurückzuführen ist, wird von der ihm verhassten Stimme aus dem Lautsprecher weiter gereizt.

„...Es handelt sich um eine Sterbliche, die-... ZzzZ ...-äußerste Vorsicht geboten... sich in Begleitung eines Digero... ZT-103... Alle verfügbaren Kräfte haben sich unverzüglich in der großen Halle einzufinden. Ich wiederhole-....“

Mit einem Mal ist er hellwach. Er stolpert hektisch durch das Zimmer und sammelt dabei die erstbesten Kleidungsstücke auf die ihm in die Finger kommen. Zuletzt schließt er die Schnallen seiner Schutzweste und verstaut eine schlichte Schusswaffe in dem Halfter an seinem Gürtel. Gerade als er auf die Tür zustürmt, wirbelt er noch einmal herum und reisst eine Schublade seiner Kommode auf. Er schnappt sich zwei volle Magazine für seine Waffe und steckt sie ein, als sein Blick auf einen kleinen, silbernen Gegenstand fällt, der leicht verstaubt in der hinteren Ecke der Schublade liegt. Mit einem Grinsen fischt er die schlichte Kette heraus, an der zwei metallene Erkennungsmarken mit eingeprägtem Namen hängen.

„Wie hätt ich das nur vergessen können...“

Er lässt die Kette ebenfalls in seiner Tasche verschwinden und stürmt aus dem Zimmer. Es ist wohl das erste mal seit langem, dass er soviel Motivation für seinen Job aufbringt. Er sprintet durch den Flur, vorbei an der Tür zur großen Halle und in Richtung des nächsten Fahrstuhls, um hinunter zu den Gefängniszellen zu fahren. Er will auf jeden Fall der erste sein, der sich um das Problem kümmert... es ist das erste Mal seit einigen Jahren, dass etwas einigermaßen Interessantes passiert und er wird sich den Spaß sicher nicht nehmen lassen...
 


 

„Hey, du bist zurück?“

Suki treibt erneut durch das weiche Licht, doch diesmal hält sie mit einer Hand Seys Handgelenk umklammert. Die Stimmen um sie herum kommen ihr fast schon ein wenig vertraut vor... Sey scheint sich in dieser Umgebung nicht ganz so heimisch zu fühlen wie sie...

„Wo hast du gesteckt? Wir hätten nicht gedacht, dass wir dich nochmal wiedersehen würden...“

„Ich hatte eigentlich auch nicht vor nochmal hier herzukommen...“

„Hä? Redest du mit mir?“

Sey blickt sie fragend an.

„Nein ich, äh... warte, kannst du sie nicht hören?“

„Wen?“

„Hihi, noch jemand der hier nicht hingehört? Es wird eben nie langweilig...“

„Hier war seit Ewigkeiten nicht mehr soviel los!“

„Bleibst du diesmal etwas länger hier?“

„Nein, das kann ich nicht... Ihr hab es doch selbst gesagt, ich gehöre hier nicht hin...“

Sey scheint inzwischen begriffen zu haben, dass Sukis Worte nicht an ihn gerichtet sind und begnügt sich damit, den Blick leicht verwirrt durch das scheinbar unendliche Licht um sie herum schweifen zu lassen.

„Wohin willst du gehen?“

Suki zuckt zusammen, als sie sich plötzlich daran erinnert, was sie eigentlich vorhatten... Zum wiederholten Male hatte sie sich in der wohligen Wärme dieser Umgebung verloren, in der sie sich so zuhause fühlt. Sie würde am liebsten einfach hierbleiben, der bloße Gedanke daran, was sie im Zerberus Hauptquartier erwarten könnte, lässt sie zittern. Sie hatte es zwar geschafft Sey von dieser seltsamen Kette zu befreien,... im Grunde war es unglaublich einfach gewesen, denn sie hatte es sich nur vorstellen müssen,... doch ihre Situation was trotzdem mehr als ausweglos...

...“Egal was passiert, du darfst niemandem von dem was hier passiert ist erzählen... Wenn sie wissen, dass die Möglichkeit besteht, dass du eine Whispered bist, werden sie dich jagen...“

Seys Worte klingen noch immer in ihrem Kopf wider... Bis vor einigen Stunden hatte sie immer noch das Gefühl gehabt, dass sie mit dem Ganzen im Grunde nur wenig zu tun hat... Dass sie nur durch Zufall in all das hineingeraten ist und eigentlich eine unwichtige, kleine Rolle spielt... Aber jetzt scheint es, als würde sie aus der Sache nicht mehr rauskommen, egal wie sie es dreht und wendet... von ihrem normalen, gemütlichen Leben ist nicht mehr viel übrig. Diese Gedanken machen ihr einerseits Angst,... auf der anderen Seite, behält sie auch im Bewusstsein, was Sey ihr versprochen hatte...
 

...„Ich lass nicht zu, dass dir was passiert...“
 

Von einer leichten Woge neuen Mutes getragen, schließt sie die Augen und konzentriert sich auf den kleinen Raum, von dem aus sie zum ersten mal durch dieses Meer aus Seelen gereist waren. Sie spürt wie die Wärme um sie herum plötzlich nachlässt und sich ihre Lungen mit kühler Luft füllen, kurz bevor ihre Füße auf den steinernen Boden aufkommen. Noch bevor sie ihre Augen wieder öffnet, ertönen bereits mehrere Schüsse, gefolgt von den erstickten Aufschreien zweier Männer. Mit einem leisen Klirren fallen direkt neben ihr einige Patronenhülsen auf den Boden. Ihr Blick fällt auf die beiden Soldaten vor ihr, die stöhnend auf dem Boden liegen, die Hände auf blutende Wunden an Schulter und Bein gepresst.

„Keine Sorge, sie werden's überleben... Sie sind wesentlich robuster als Sterbliche...“

Sey versucht die Situation mit einem leichten Lächeln etwas zu entschärfen, aber Suki kann deutlich sehen, dass es ihm nicht gefällt zu solch drastischen Mitteln zu greifen.

„Lass uns hier verschwinden...“

Er öffnet die altmodische Metalltür einen Spalt breit und späht in den düsteren Korridor dahinter. Mit einer stummen Geste gibt er Suki zu verstehen, dass die Luft rein ist, bevor er lautlos durch die Tür verschwindet. Suki folgt ihm so leise wie möglich durch den Flur. Ihr Herz rast in ihrer Brust, obwohl der Gang völlig verlassen daliegt.

„Das ist nicht gut... irgendwas stimmt hier nicht...“

Seys Nervosität scheint die in ihr aufsteigende Panik noch ein wenig zu schüren... Nach einer Weile macht er plötzlich vor einer geschlossenen Fahrstuhltür halt. Nach kurzem zögern drückt er auf den daneben angebrachten Knopf, über dem ein kleines Licht aufleuchtet. Wenige Sekunden später öffnen sich die Metalltüren und ein heller Lichtstrahl fällt auf den dunklen Boden. Suki und Sey lehnen sich zu beiden Seiten der Tür an die Wand und halten die Luft an. Als sich in dem Fahrstuhl nichts rührt, hebt Sey seine Waffe auf Augenhöhe und macht mit einer schnellen Bewegung einen Schritt in den Fahrstuhl. Im nächsten Augenblick ertönt ein zweifaches Klicken und Sey starrt in den Lauf einer silbernen Pistole. Der Soldat der ihm gegenübersteht sieht sich ebenfalls vom Lauf einer Schusswaffe bedroht. Beide verharren in dieser Position, den Finger am Abzug. Suki blickt unsicher in den Innenraum des Fahrstuhls. Der Soldat trägt eine komplett schwarze Uniform, mit einer Schutzweste und einem Helm, mit einem dunklen Visier, das sein Gesicht vollkommen verdeckt. Suki kann darin lediglich eine leicht verzerrte Spiegelung von Seys ernstem Gesicht erkennen.

„Ich schätze es wäre zu viel verlangt, dich zu bitten einfach aus dem Weg zu gehen...?“

„Tss, Tss... du hast keine Ahnung wie lange ich darauf gewartet habe, mal wieder etwas interessantes zu erleben... das werde ich mir jetzt nicht so einfach nehmen lassen...“

Die Stimme des Soldaten klingt unter dem Helm seltsam verzerrt.

„Wie du willst...“

Suki kann in dem spiegelnden Visier gerade noch ein rotes Leuchten in Seys Augen erahnen, als beide plötzlich vor ihren Augen verschwinden, während im selben Moment zwei Schüsse zu hören sind, die aber beide ins Leere treffen. Sey und der Soldat bewegen sich in einer Geschwindigkeit, die es beinahe unmöglich für sie macht, dem Geschehen zu folgen. Hier und da schlägt ein Schuss in eine der Wände ein. Plötzlich ist ein lautes Geräusch zu hören und Seys schwarze Waffe schlittert an Suki vorbei über den glatten Boden. Kurz darauf halten Beide in ihren rasenden Bewegungen inne und Suki kann sich endlich ein Bild von der Situation machen. Das Visier des Soldaten ist an einer Seite zersplittert und gibt die untere Hälfte seines Gesichts preis. Er spuckt etwas Blut auf den Boden und grinst Sey keuchend und mit leicht blutenden Lippen an.

„Nicht schlecht... aber du warst schonmal besser...“

Sey zupft, ebenfalls etwas außer Atem, an einigen kleinen Splittern des Visiers, die sich in die Haut seiner Hand gebohrt haben herum und blickt den Anderen fragend an. Der bricht völlig unvermittelt in Gelächter aus und fängt sich erst wieder als sein Blick auf Suki fällt, die einige Meter entfernt an der Wand kauert.

„Wow... hätte ich gewusst, dass die Sterbliche, die du mit dir rumschleppst auch noch hübsch ist...“

Suki spürt wie sich ihre Wangen leicht rot färben, obwohl dies wohl gleichermaßen durch Verlegenheit und Wut bedingt ist... Der Uniformierte nimmt es mit einem noch breiteren Grinsen zur Kenntnis, das aber, als er Suki etwas genauer betrachtet, auf seinem Gesicht zu gefrieren scheint.

„Sag mir nicht, dass du das noch einmal versucht hast..?“

Sey wirkt plötzlich unruhig und sieht den Soldaten misstrauisch an.

„Was meinst du?...“

„Du weißt genau, wovon ich rede, oder hast du vergessen, wer dir damals den Arsch gerettet hat?!“

Wie vom Blitz getroffen starrt Sey den Anderen ungläubig und nach Worten ringend an.

„K-Kaleb??“

Der Uniformierte zieht mit einem gelangweilten Stöhnen den ohnehin zerstörten Helm von seinem Kopf und lässt ihn neben sich auf den Boden fallen. Suki ist überrascht, als ihr Blick auf die Schulterlangen, silbrig-weißen, glatten Haare fällt, die das Gesicht des jungen Mannes einrahmen. Er streicht mit einer Hand einige Haarsträhnen aus seinem Gesicht und grinst Sey gut gelaunt entgegen.

„Lange nicht gesehen, Bruder...“

Ganz unter Freunden...

Sukis Blick wandert verwirrt zwischen den Beiden vor ihr hin und her. Sie sind etwa gleich groß, aber ansonsten könnten sie sich nicht mehr von einander unterscheiden... Sie sind die totalen Gegensätze des jeweils Anderen... Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese beiden Brüder sein sollen... Suki bleibt skeptisch, bis Sey, dem es offenbar endlich gelungen ist, die Situation aufzunehmen, ein breites Grinsen auflegt. Kaleb wirft einen Arm um ihn und bringt mit der anderen Hand seine Haare durcheinander, was Sey sofort mit einer Kopfnuss rächt. Suki betrachtet das Ganze sprachlos. Allerdings scheinen die beiden derart gut gelaunt, dass sie sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen kann.

„Ich fass es nicht, dass du hier bist! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“

„Hier und da... Du scheinst deine Zeit ja sinnvoller genutzt zu haben...“

Sey wirft einen abschätzenden Blick auf Kalebs schwarze Uniform.

„Naja, man tut was man kann, oder? Vor dir steht Sergant Kaleb Hustings... Und, jep, du hast richtig gehört, wenn man den dritten Rang übersteigt, bekommt man sogar wieder einen Namen. Tja, davon träumst du noch, was, Mr. ZT-103?... hehe.“

Die beiden brechen augenblicklich in Gelächter aus, während Suki nur stumm lächelnd daneben steht, nicht sicher ob sie die Pointe des Witzes verstanden hat.

„Naja, du warst ja noch nie der ehrgeizigste von uns... Wenn wir gerade schon dabei sind... was zu Hölle hast du ausgefressen, dass das halbe Hauptquartier auf der Suche nach dir ist?“

Sey holt einmal tief Luft.

„Ich fürchte diesmal ist es ernst...“

Er richtet den Blick auf Suki, der im ersten Moment nichts besseres einfällt als unsicher die Hand zu heben und sachte zu winken.

„Darf ich vorstellen: Suki Harris...“

Kaleb macht eine überschwängliche Verbeugung vor ihr und zwinkert ihr grinsend zu.

„Kaleb Hustings, sehr erfreut.“

Ein hoher Piepton lässt ihre Unterhaltung verstummen. Das rote Licht auf der Anzeige oberhalb der Fahrstuhltür wandert langsam nach unten, und kündigt somit die Fahrt einer Fahrstuhlkabine Richtung Keller an.

„Wir sollten uns fürs erste von hier verziehen... Auch wenn ich jetzt zum 2.Rang gehöre, reicht meine Befugnis kaum aus, um uns hier rauszureden...“

Suki blickt ihn verblüfft an.

„Heißt das... du hilfst uns?“

„Sicher doch, kleine Lady... So macht man das unter Brüdern.“

Die Drei sprinten im Halbschatten den Gang entlang, um nicht jetzt schon erwischt zu werden. Suki kann aber nicht anders, als mit einem verwirrten Blick zwischen den Beiden anderen hin- und herzustarren.

„Sagt mal... ihr seid nicht wirklich... Brüder..?“

Sey und Kaleb blicken sich grinsend an, bis Sey sich schließlich dazu erbarmt, Suki aufzuklären.

„Wir sind nicht blutsverwandt, wenn du das meinst... Was wirklich nicht möglich ist, wenn man bedenkt, dass Kaleb fast 170 Jahre älter ist als ich...“

„Hey! Ich hab dir tausendmal gesagt, lass mein Alter aus dem Spiel, wenn Mädels in der Nähe sind, du Depp!“

Er wirft Sey einen wütenden Blick zu und lehnt sich unauffällig zu Suki hinüber.

„Ich mag zwar schon n paar Jahre hinter mir haben, aber ich bin immer noch so fit wie mit 20, also ignorier den Spinner einfach... Mein gutes Aussehen hab ich glücklicherweise auch nicht verloren...“

Er zwinkert Suki spaßeshalber mit einem schiefen Grinsen zu.

„Ich war einer der besten, als ich noch ein gewöhnlicher Digero war, deshalb wurde ich zu den Anfängern geschickt als Sey gerade mit der Ausbildung anfing, um die Truppe da mal auf Vordermann zu bringen...“

Sey stößt ein sarkastisches Lachen aus.

„Jaa, sicher... Und dann wurde er zu uns Anfängern zurückgestuft, als rauskam, dass er bei allen Trips zur Erde nichts anderes gemacht hat, als sich mit uns in zwielichtigen Bars herumzutreiben...“

„Was willst du? Ich war der beliebteste Ausbilder der ganzen Akademie! Und wenn's hart auf hart kam, hab ich dir oft genug den Arsch gerettet, also hör auf meine pädagogischen Fähigkeiten in Frage zu stellen!“

Mitten im Flur bleibt Kaleb plötzlich völlig unvermittelt stehen. Während er mit einer Hand die unzähligen Taschen seiner Schutzweste durchsucht, tastet er mit der Anderen das alte, graue Gemauer der Flurwand ab.

„Ich konnte mir noch nie merken, wo diese verdammten Eingänge liegen... Und wo ist dieses Ding schon wieder hingekommen...“

Nach einigen Flüchen streckt er schließlich triumphierend ein kleines, scheinbar gläsernes Rechteck in die Höhe. Das seltsame Objekt endet in einer goldenen Fassung und ist mit verschiedenfarbigen, feinen Linien durchzogen. Als er auf einen unauffälligen Knopf am goldenen Rand des Rechtecks drückt, blinkt es kurz auf, wobei es ein ähnliches Geräusch von sich gibt, wie das Piepen eines Autos, das aus der Ferne aufgeschlossen wird. Zeitgleich leuchtet ein senkrecht nach unten verlaufender, schmaler Schlitz an der Wand auf, nur wenige Zentimeter von Kalebs Hand entfernt. Er versenkt das gläserne Ende des Schlüssels in dem perfekt passenden Schlitz und dreht das Ganze vorsichtig um 180°.

Augenblicklich leuchten weitere Linien in dem massiven Gemäuer auf, etwa in der Form und Größe einer Tür. Das Gestein innerhalb der Linien scheint plötzlich an Festigkeit zu verlieren und verschwindet schließlich entgültig, sodass ein schmaler, dunkler Gang in der Wand zurück bleibt. Suki beobachtet, das Ganze baff, während Sey seinem Freund anerkennend auf die Schulter klopft. Kaleb gebietet ihm und Suki den Vortritt.

„Kleinigkeit... Wenn man erst den verdammten Schlüssel gefunden hat...“

Kaum, dass alle Drei über die Schwelle in den Gang getreten sind, verschließt sich die Wand hinter ihnen und hüllt sie in eine tiefschwarze Dunkelheit. Suki bleibt sofort stehen, völlig orientierungslos und verunsichert. Kaleb drängt sie von hinten weiter.

„Was ist, warum geht ihr nicht weiter?“

„Trottel, sie ist eine Sterbliche, sie kann nichts sehen!“

„Oh...“

„Kaleb, geh voraus... Ich kümmer mich drum....“

„Geht klar...“

Suki, die nichtmal ansatzweise Umrisse ihrer Umgebung ausmachen kann, bildet sich plötzlich ein, die Stimmen der anderen Beiden würden sich von ihr entfernen... Für einen kurzen Moment packt sie die Angst, sie könne hier in dieser undurchdringlichen Nacht zurückgelassen werden. Zu ihrer Erleichterung spürt sie plötzlich Seys Hand an ihrem Arm.

„Ähm... der Boden hier ist ziemlich uneben und steinig... Es wäre zu gefährlich dich hier völlig blind herumlaufen zu lassen, und wir haben nicht gerade viel Zeit, also werde ich dich tragen... Das heißt, nur wenn es dir nichts ausmacht... natürlich...“

Suki schüttelt den Kopf, bis ihr plötzlich bewusst wird, dass das im Stockdunkel wenig Sinn hat. Doch Sey scheint die unauffällige Bewegung sehr wohl gesehen zu haben, denn im nächsten Moment wird Suki mit einem Ruck auf seinen Rücken gehoben. Kalebs Stimme hallt mit einem leichten Echo durch den verwinkelten Gang.

„Beeilt euch, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit...“
 


 

In dem breiten Fluren des Gebäudes herrscht ein hektisches Treiben. Neben den geschäftigen Anzugträgern rennen auch mehrere Gruppen Uniformierter Soldaten verschiedener Ränge in der großen Halle auf und ab, ständig eine Hand an den vor sich hinrauschenden Funkgeräten, um immer auf dem neusten Stand der Dinge zu sein. Jack beobachtet das unruhige Hin und Her eine Weile und greift dabei fast unbewusst in eine seiner Jackentaschen, wo er ein kleines Einwegfeuerzeug und eine Schachtel Zigaretten hervorholt. Sein Blick streift eines der vielen „No smoking!“-Schilder, woraufhin er die Packung mit einem bitteren Seufzen wieder in der Tasche verschwinden lässt und stattdessen unruhig auf seine goldene Armbanduhr blickt. Er fährt sich mit einem unwohlen Gefühl nervös durch die Haare, bevor er sich schließlich auf einer kleinen weißen Bank an einer Seite der großen Halle niederlässt. Er hätte längst von diesem unangenehmen Ort verschwinden können, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Er lässt den Kopf in den Nacken fallen und sieht nachdenklich nach oben. Je länger er so verharrt, desto mehr driften seine Gedanken in eine Richtung ab, die ihm ganz und gar nicht gefällt... nach einigen weiteren Minuten, entschließt er sich schlichtweg eine Entscheidung zu fällen...
 

„Suki? Suki?!“

„Hä? Was?!“

Suki fährt sich mit einer Hand über ihre müden Augen.

„Ich fass es nicht... bin ich tatsächlich eingeschlafen?“

Sey blickt sie über seine Schulter hinweg besorgt an.

„Jep...“

„Tut mir leid...“

Sie kann ein ausgiebiges Gähnen nicht unterdrücken. Die plötzliche Müdigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hat, seit Sey sie durch diese undurchdringliche Dunkelheit trägt, kann sie sich einfach nicht erklären. Sie spürt, dass Sey einen Moment das Tempo erhöht und zu Kaleb vor ihnen aufschließt.

„Wir müssen eine Pause machen und ihr Gelegenheit geben sich auszuruhen...“

Kalebs Blick wandert zwischen Suki und Sey hin und her.

„Wie stellst du dir das vor? Wir sollten euch beide so schnell wie möglich hier rausbringen...“

„Ja, schon klar, das weiß ich selbst... Aber sie ist trotz allem eine Sterbliche... und sie hat in den letzten Stunden ein paar... naja... außergewöhnliche Dinge gemacht... Es ist kein Wunder, dass sie erschöpft ist... wir müssen ihr wenigstens eine oder zwei Stunden Schlaf gönnen!“

Auch wenn Suki in ihrem übermüdeten Zustand nur die Hälfte der Unterhaltung verfolgen kann, entgeht ihr keinesfalls Kalebs langes Seufzen.

„Schön... Ich schätze ich könnte eine kleine Barriere aufbauen... Dann könnten sie uns für ein paar Stunden immerhin nicht so leicht aufspüren... Wenn die aber trotzdem auf die Idee kommen, diesen Gang hier zu überprüfen, kann ich für nichts garantieren...“

Sey nickt ihm dankbar zu und wenige Minuten später erhellt ein mattes Leuchten die nachtschwarze Höhle um sie herum. Suki hat allerdings wenig Gelegenheit den spärlichen Schein zu nutzen um sich besser mit ihrer Umgebung vertraut zu machen, denn kaum das Sey sie vorsichtig auf dem Untergrund abgelegt hat, spürt sie schon, wie ihre Augenlider unvermeidlich schwerer werden. Sie kann gerade noch einen kurzen Blick auf den kleinen glühenden Würfel werfen, den Kaleb in ihrer Mitte auf dem Boden ablegt. Auf einer kleinen Anzeige läuft langsam ein Drei-Stunden-Countdown ab. Mit einem erleichterten Seufzen rollt sie sich so gut es eben geht auf dem harten Erdboden zusammen...
 

„...Glaubst du nicht, dass es an der Zeit ist deinem besten Freund endlich die Wahrheit zu sagen?...“

Kalebs geflüsterte Worte dringen mit einem leisen Echo an ihre Ohren. Als sie vorsichtig die Augen einen Spalt breit öffnet, erkennt sie die verschwommenen Umrisse von ihm und Sey, die sich wenige Meter von ihr entfernt, von dem Leuchten des Würfels in ein sachtes Licht getaucht, gegenübersitzen. Als sie die Anzeige auf dem Würfel erkennt schluckt sie.

Es sind bereits zwei Stunden vergangen, seit sie die Augen geschlossen hatte.

„Hör zu, Kaleb... Es ist nicht so wie du denkst... Ich... Ich weiß selbst nicht genau, was hier eigentlich abgeht...“

Die Nervosität in Seys Stimme lässt ein ungutes Gefühl in ihr aufsteigen. Kaleb wirkt um einiges ruhiger, aber in seinen Worten liegt ein Hauch von Ärger.

„Tss... Dir wird wohl kaum entgangen sein, dass sie genauso aussieht wie-...“

„Ja, verdammt, ich weiß! Aber müssen wir das jetzt ausdiskutieren..?“

Suki bemerkt, dass Seys Blick sich ihr zuwendet und schließt beinahe automatisch die Augen, auch wenn sie nicht sicher ist warum. Sie hat das unbestimmte Gefühl als wäre diese Unterhaltung nicht für ihre Ohren bestimmt...

„Reg dich ab, Sey, sie schläft... Also, würdest du mir jetzt bitte erklären, was passiert ist? Ich dachte du hättest deine Lektion beim letzten Mal gelernt!“

„Ich sagte doch bereits, ich hab es kein zweites mal versucht... Ich... ich hab den Auftrag bekommen ihre Seele zu holen, aber als ich sie gesehen hab... da... Du weißt, dass ich es niemals hätte tun können!... Ich weiß auch nicht wie es möglich ist... Aber sie ist nicht Selena, glaub mir... Sie mag so aussehen wie sie, aber sie ist ein völlig anderer Mensch... sie ist... sie ist einfach...“

Suki kann nicht anders als gebannt die Ohren zu spitzen und zu hoffen, dass keiner der Beiden ihr pochendes Herz hören kann. Doch Seys Worte verstummen mitten in seinem Satz und er weicht stattdessen Kalebs durchdringenden Blick aus. Sein Freund mustert ihn einen Augenblick, bevor er einen langen Pfiff ausstößt.

„Okay, ich glaube dir, aber trotzdem muss es irgend eine Erklärung für das Ganze geben...“

„Es gäbe da eine Möglichkeit... aber ich hab von so einem Fall noch nie gehört...“

Die Beiden blicken sich einen Moment schweigend an.

„Wäre es nicht möglich... dass wir damals vor 50 Jahren nicht völlig versagt haben? Was wenn ich sie tatsächlich zurückgebracht habe... aber wir haben es nie zu Ende gebracht... Was wenn...“

Sey macht eine weitere Pause, die Kaleb nutzt um seinen Satz zu beenden.

„...Du glaubst, dass du Selenas Seele tatsächlich gefunden hast... Sie aber auf halben Weg irgendwie hängen geblieben ist...?“

„...Es wäre möglich, oder nicht?... und das würde auch diese Verbindung erklären, die Suki zu körperlosen Seelen zu haben scheint-...“

„Was für eine Verbindung meinst du?“

Eine weitere Pause tritt ein, in der Sey eindeutig abzuschätzen scheint, wieviel er noch preisgeben sollte...

„...Ist nicht so wichtig... es ist ist mir einfach aufgefallen, als wir im Seelenraum waren... Wäre es nicht natürlich für jemanden, der schon mal von einer reinen Seele berührt wurde, weiterhin ein gutes Gespür für sie zu haben?...“

Jetzt scheint Kaleb derjenige zu sein der nachdenkt.

„Du hast da ein Argument, das geb ich zu... Trotzdem...“

Er starrt Sey mit einem ernsten Gesichtsausdruck an.

„Ich weiß, ich brauche dir das nicht nochmal zu sagen, aber ich tus trotzdem, weil ich dein Freund bin... Bist du dir sicher, dass sie es wert ist? Du wärest damals fast gestorben, und du weißt, das >sterben< für unsereins wesentlich mehr bedeutet, als nur eine sterbliche Hülle zu verlieren..! Du könntest deine Seele verlieren, ist dir das klar?!“

„Tss... Ich hab meine Seele vor fast einem Jahrhundert verloren, als ich diesen verdammten Vertrag unterzeichnet hab... Ich hab also nicht so viel zu verlieren wie du glaubst... Außerdem...“

Für einen Moment scheint die Nervosität und Unsicherheit aus Seys Stimme zu weichen.

„... Sie ist es wert... Und damit meine ich Suki... sie ist einzigartig, so wie sie ist... Ich konnte Selena nicht schützen, aber ich werde den gleichen Fehler nicht nochmal machen...“

Sukis Herz schlägt so laut in ihrer Brust, dass sie sich jetzt sicher ist, dass man es noch mit mehreren Metern Abstand hören könnte. Sie kann Kaleb leise kichern hören.

„Sey... du bist der größte Idiot, den ich in meinem viel zu langen Leben nach dem Tod jemals getroffen habe... Nach allem was passiert ist, erzählst du mir jetzt doch wohl nicht ernsthaft, dass du dich in Suki ver-...“

Ein ohrenbetäubender Lärm lässt die steinigen Wände um sie herum erzittern, so als hätte nicht weit von ihnen eine Explosion das Gebäude erschüttert. Kalebs Grinsen erstirbt augenblicklich, und seine Worte gehen in dem lauten Echo, das hundertfach in den verwinkelten Ecken des Ganges widerhallt, lautlos unter...

Einsame Flucht

Suki richtet sich schlagartig auf und auch Kaleb und Sey springen ohne zu zögern auf die Beine. Das Echo der Explosion lässt noch immer die Wände um sie herum erzittern.

„Verdammt... glaubt ihr sie haben uns gefunden?“

„Schwer zu sagen... wir müssen aber in jedem Fall hier weg, bevor der ganze Schacht in sich zusammenbricht!“

Kaleb lässt den kleinen Würfel mit einer flinken Bewegung in einer seiner Taschen verschwinden und hüllt die Umgebung um sie herum damit wieder in tiefe Dunkelheit.

„Suki? Wir werden diesmal etwas schneller gehen müssen, also halt dich gut fest, okay...“

Sie hat gar keine Gelegenheit ihm zu antworten, denn kaum, dass sie ihre Arme um Seys Hals legte, spürt sie einen unglaublichen Druck von vorne auf sich einwirken, der ihr das Atmen erheblich erschwert. Sie kann zwar nichts sehen, doch sie spürt, dass sie sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit vorwärts bewegen, nichts zuletzt wegen des Windes, der ihr immer wieder Haarsträhnen ins Gesicht wirbelt. Nach einigen Minuten halten Sey und Kaleb plötzlich inne und eine leichte Übelkeit dringt zu Sukis Bewusstsein durch. Sey lässt sie keuchend von seinem Rücken rutschen, sodass sie etwas wackelig auf ihren Füßen landet, während Kaleb, ebenfalls außer Atem, erneut das gläserne Rechteck zückt und damit beginnt, die Wand vor sich abzutasten.

„Wir kommen direkt in der Eingangshalle raus, also könnte es jetzt gleich etwas... stressig.. werden... Ich werd versuchen euch Deckung zu geben, also tut einfach nichts andres als euch möglichst schnell ein Portal zu schnappen und von hier zu verschwinden..“

Sey nickt ihm schweigend zu und füllt mit ein paar schnellen Handgriffen das Magazin seiner Waffe wieder auf. Kaum, dass sich die Tür in der Wand vor ihnen geöffnet hat, dringt ihnen ein unangenehmer Geruch, zusammen mit lautem Stimmengewirr entgegen. Ein kleiner gefalteter Papierflieger segelt gelassen zu ihnen in den Gang und dreht einige sachte Kreise über ihren Köpfen, bis Sey ihn sich geschickt mit einer Hand aus der Luft angelt. Kaleb wirft ihm einen unsicheren Blick zu, als er angespannt das Papier auseinanderfaltet. Suki blickt über seinen Arm hinweg auf die kurze, hastig hingeschmierte Notiz.

Du schuldest mir ne Packung Zigaretten, Kleiner

Sieh zu, dass du sie ranschaffst, ich warte nicht gern...
 

Sey lässt den Zettel grinsend in seiner Hosentasche verschwinden.

„...Ich fass es nicht... Jack, du bist doch-...“

Einige laute Rufe dringen zu ihnen in den schmalen Gang durch. Kaleb wirft einen prüfenden Blick in die Halle.

„Da draussen ist die Hölle los! Sieht aus als kam die Explosion vorhin direkt von hier... Das ist unsere Chance... in dem Caos wird euch keiner bemerken...“

Die Drei treten einige Schritte in die, von weißem Rauch durchzogene Halle. Von den vielen Anzugträgern fehlt jede Spur, lediglich eine Gruppe Soldaten rennt, sich gegenseitig Befehle zuschreiend, mit lauten Schritten über die blanken Bodenfliesen. Kaleb mustert den kleinen Trupp und wendet sich dann flüsternd an Sey.

„Ich kümmer mich um sie... geht ihr schonmal vor und schnappt euch ein Portal...“

Die Beiden nicken sich noch einmal stumm zu, bevor Kaleb in Richtung des Trupps verschwindet und Sey Suki an einer Hand in die andere Richtung zieht. Sie haben beinahe die Stelle erreicht, an der Suki nach ihrer Ankunft im Hauptquartier Stunden zuvor die Augen geöffnet hatte und sich ungläubig in dem riesigen Raum umgeblickte, als Sey plötzlich unsanft einen Stoß von der Seite bekommt. Als er sich umsieht starrt er sprachlos auf den älteren Mann im Trenchcoat, der wortlos, mit einer Zigarette im Mund an ihm vorbeigeht, wobei er einen kleinen weißen Würfel, der an einen Zauberwürfel erinnert, aus seiner Jackentasche zückt. Suki kann deutlich sehen, dass Jack ihr flüchtig zuzwinkert, bevor er das unscheinbare kleine Objekt vor sich auf den Boden fallen lässt. Er blickt Sey einen Moment durchdringend an.

„Ich geb euch diese eine Chance... Aber ich hoffe du weißt, dass auch wenn ihr es hier raus schafft, sie euch bis in alle Ewigkeit verfolgen werden... Und das nächste mal werden sie Typen schicken, die nicht so nett sind, wie ich...“

Suki spürt wie Seys Griff um ihre Hand sich etwas verstärkt. Er zögert einen Moment und lässt den Blick einige Sekunden auf Suki ruhen.

„Du erinnerst dich daran, wo Amander wohnt, oder?“

„Ja, sicher, aber-...“

„Geh zu ihr und sag ihr, du brauchst ein Versteck, sie weiß dann was zu tun ist... Sag ihr, dass ich sie dafür bezahl, völlig egal was sie verlangt...“

„Was meinst du? Du kannst doch nicht-...“

Sey ignoriert sie schlichtweg und gibt ihr einen groben Schubs auf Jack zu, gerade als der Würfel zu seinen Füßen aufzuleuchten beginnt.

„Keine Sorge, Suki... Ich...ich muss das hier nur entgültig klären...“

„Warte! Nein, mach das nicht! Wir können-...“

Suki Worte ertrinken in dem unglaublich hellen Licht, das sie innerhalb eines Sekundesbruchteils völlig einschließt und Seys Umriss vor ihr verschwinden lässt. Sie spürt, dass Jack sie mit einer Hand grob am Arm hält. Bevor sie sich versieht, berühren ihre Füße plötzlich den weichen Untergrund eines Gras überwachsenen Hangs und ihre Lungen füllen sich mit frischer kühler Nachtluft. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt sie, dass sie sich am Kanal ihrer Stadt befindet, indem sich sachte das silberne Licht des Mondes über ihr spiegelt. Mit einem entsetzten Keuchen stößt sie sich von Jack weg, verliert das Gleichgewicht und fällt unsanft auf die Knie.

„Nein... Nein, nein, nein!“

Mit rasendem Herzen blickt sie zu Jack zurück, der schweigend mit etwas Abstand hinter ihr steht.

„Bring mich zurück! Bitte!“

Jack schüttelt nur müde den Kopf.

„Vergiss es, Kleine. Mich hat wohl irgendwie das schlechte Gewissen gepackt und ich hab heute ein paar verrückte Sachen gemacht, aber ich werde so schnell sicher nicht nochmal ins Hauptquartier zurückgehen... Sey wollte, dass du hier bist, ich hab dich hergebracht... Damit sind er und ich quitt, alles andere ist nicht mein Problem...“

Suki starrt ihn flehend an.

„Aber... Aber, was ist wenn... Ich bitte Sie, könnten sich nicht eine Ausnahme machen? Bitte, ich-...“

„>Nein< heißt bei mir >Nein<, Kleine! Do solltest dich glücklich schätzen... Vielleicht schafft es dieser Idiot wirklich, dich irgendwie aus der Sache rauszuholen... Schlaf dich irgendwo aus, und wenn du Glück hast, hast du Morgen mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun, und es war heute das letzte mal, dass du einen von Unsereins zu Gesicht bekommen hast... naja, natürlich bis du irgendwann stirbst, versteht sich...“

Ein unangenehmes Zittern fährt durch Sukis Körper und sie spürt, wie heiße Tränen der Verzweiflung an ihren Wangen hinunterlaufen. Mit jedem ihrer Atmezüge spürt sie, wie sich eine schmerzhafte Gewissheit tiefer in ihr Bewusstsein drängt. Wenn Sey es schafft die Ältesten zu überzeugen, wird sie wieder ein ganz normales Leben führen, indem sie von Seelen und Digero und Whispered keine Ahnung hat... und wenn nicht, werden sie ihn sicherlich töten und sich dann auf die Suche nach ihr machen... So oder so... Alles was ihr bleibt ist eine Gewissheit...

Sie lässt sich seitlich in die Wiese fallen und greift an den filigranen Anhänger der silbrigen Kette um ihren Hals. Mit jedem Schlag ihres Herzens wird der Schmerz in ihrer Brust schlimmer, während sie in Gedanken verzweifelt versucht den einen Gedanken in ihrem Kopf zu vertreiben, doch es will ihr einfach nicht gelingen... Alles woran sie denken kann... ist, dass sie Sey wohl nie wieder sehen wird... und dass dieser Schmerz ihr nun Eines endgültig klar gemacht hat...
 

...dass sie sich in ihn verliebt hat...

Der Deal

Sey starrt einige Sekunden wortlos auf die Stelle, an der Suki gerade verschwunden ist. Für einen Moment bereut er es sie weggeschickt zu haben, andererseits, ist er sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben... Als Kaleb ihm plötzlich von hinten eine Kopfnuss verpasst, schreckt er aus seinen Gedanken auf.

„Hey!?... Was zur Hölle tust du noch hier? Du solltest verschwinden solange du noch die Gelegenheit dazu hast!“

Sey sieht seinen Freund ernst an und schüttelt den Kopf.

„Jack hatte recht... Ich muss das Ganze in Ordnung bringen... Vielleicht kann ich den Ältesten einen Deal vorschlagen...“

Kaleb fährt sich mit einer Hand nachdenklich durch die Haare und tritt unruhig von einem Bein aufs andere, bis er schließlich ein tiefes Seufzen ausstößt.

„Hör zu Sey... Ich sollte das eigentlich nicht weitererzählen... Aber dein toller Plan kann gar nicht aufgehen! Die Ältesten sind nicht mehr diejenigen, die hier das sagen haben!“

Sey starrt ihn entsetzt an.

„Was... Was redest du da..?“

„Es ist die Wahrheit...“

Er sieht sich vorsichtig zu beiden Seiten um und stößt Sey dann schnell in eine breite Nische in der Wand der Halle.

„Die Ältesten haben ihren Stand verloren... Sie sind nichts anderes mehr als Spielfiguren, die von jemand anderem bewegt werden... Zerberus ist im Begriff in zwei Lager zu zerbrechen... Und irgendwer sitz hinter den Kulissen und hat die Fäden in der Hand, wir wissen nur noch nicht, wer es ist... Bisher konnten wir deshalb nur sinnlos rumsitzen und mit anschauen wie irgendwer sein Spiel mit uns spielt... Du hast dir also einen denkbar schlechten Zeitpunkt gesucht, um Ärger zu machen..!“

Sey atmet einmal tief ein und sieht Kaleb fest an.

„...Irgendwer spielt sein Spiel mit euch..?... Tss... Das macht das Ganze einfacher...“

Zu Kalebs Überraschung blitzt ein bitteres Lächeln über sein Gesicht.

„Ich weiß wer es ist... und was ich tun muss, damit Suki wieder aus der Sache rauskommt... Aber ich brauche dazu deine Hilfe...“

Kaleb sieht ihn einen Moment verblüfft an, nickt dann aber mit einem schwachen Grinsen.

„Dafür sind Brüder da, oder?“
 


 

Entgegen Seys Rat ging Suki nicht zu Amanders Haus, sondern schlendert seit beinahe einer Stunde ziellos durch die dunklen Straßen der Stadt. Die kühle Luft legt sich wohltuend auf ihre noch immer brennenden Augen, doch hin und wieder rollt noch eine einsame Träne ihre Wange hinunter, die sie aber so gut es geht zu ignorieren versucht. Als sie vor Kälte zitternd mit schnellen Schritten über eine schmale Betonbrücke, die sich über einen Arm des Stadtkanals streckt, läuft, hält sie auf halben Weg plötzlich inne. Sie wirft einen Blick über das wacklige Metallgeländer auf den schmalen Bach darunter. Das Wasser ist vermutlich nicht viel tiefer als einen halben Meter... Die Brücke selbst ist aber mit schätzungsweise knapp 7 Metern an der Stelle an der Suki steht recht hoch. Für einen Moment, denkt sie darüber nach, es einfach darauf ankommen zu lassen... Ein Weg zurück ins Hauptquartier von Zerberus wäre ein Sprung aus dieser Höhe vielleicht... Sie verwirft den Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln. Selbst wenn es funktionieren würde, wäre sie dann ja tot und damit nur noch eine von diesen leuchtenden Seelen die tatenlos in diesem hellen Licht herumtreiben...

Suki zuckt, überrascht über ihre eigene Dummheit, zusammen. Sie kann nicht glauben, dass sie nicht schon viel früher daran gedacht hatte... Auch wenn es wahrscheinlich die schlechteste Idee ihres Lebens sein könnte und auch wenn sie es vielleicht ewig bereuen wird... Auch wenn sie dabei... sterben könnte...

Suki legt den Kopf in den Nacken und blickt mit einem entschlossenen Lächeln zum Mond hoch über ihr auf.

Auch wenn sie alles verlieren könnte... Sie weiß jetzt, was sie zu tun hat...
 


 

„Ist das hier okay?“

„Jaa... es ist gut... Bist du sicher, dass hier keiner auftaucht?“

Kaleb sieht Sey schief von der Seite an.

„Für wen hältst du mich? Ich werd die Tür versiegeln, dass sollte dir einige Stunden Zeit verschaffen... Bist du sicher, dass du das durchziehen willst? Ich meine-...“

„Ich bin mir hundertprozentig sicher, Kaleb...“

„Und wie willst du sie überzeugen?“

Sey lässt den Blick einmal durch den rechteckigen, großen Raum schweifen, den er und Kaleb kurzerhand zum Verhandlungsort erklärt haben.

„Ich muss ihr einfach ein gutes Angebot machen...“

Kaleb wendet sich mit einem leichten Kopfschütteln von ihm ab und macht sich daran, die große, hölzerne Eingangstür zu versiegeln bevor er schließlich eine kleine Kommode neben der Tür mit einem gezielten Tritt zur Seite befördert und sich mit gezückter Waffe dahinter kauert.

„Vergiss nicht... Du tust nur etwas, wenn ich es dir ausdrücklich sage, Kaleb!“

„Und du solltest nicht vergessen, dass ich ohnehin fast nichts tun kann, solange ich mich auf die Versiegelung der Tür konzentrieren muss...“

Sey nickt und tritt leicht zögernd in die Mitte des Raumes. Er wartet eine Weile ab und räuspert sich dann kurz.

„Chitori?! Komm schon, ich weiß, dass du mich hören kannst! Zeig dich!“

Er lauscht einen Moment in die Stille, doch er kann kein Geräusch vernehmen.

„Chitori!“

Er fährt sich ungeduldig durch die Haare, als eine sachte Bewegung seine Aufmerksamkeit erregt.

„Sag bloß, du hast mich vermisst, Sey...“

Die Anspannung ist ihm deutlich anzusehen, als sein Blick auf die junge Frau in dem weißen Kleid fällt, die lässig an einer Wand gegenüber von ihm lehnt. Sie schenkt ihm ein kühles Lächeln und schleicht elegant einige Schritte auf ihn zu, wobei sie einen verstohlenen Blick auf Kaleb wirft, der sie, die Waffe in der Hand, misstrauisch mustert.

„Naja... Ich hätte mir für unser kleines Date ein wenig mehr Privatsphäre gewünscht...“

„Ignorier ihn einfach... Er wird sich nicht einmischen... Er sorgt nur dafür, dass wir keinen ungebetenen Besuch bekommen...“

„Ist das so... Und warum willst du mich so dringend ohne ungebetenen Besuch sprechen..?“

Das kalte Vergnügen, das unüberhörbar in ihrer Stimme liegt, lässt einen kalten Schauer über Seys Rücken laufen.

„Ich... Ich will, dass du Suki fürs erste von der Liste der toten Seelen streichst und sie mit alldem hier nichts mehr zu tun hat...“

Chitoris Lächeln wird noch etwas breiter.

„Du verlangst recht viel, denkst du nicht?“

„Ich weiß, dass es eine Kleinigkeit für dich ist... Schließlich musst du dich jetzt nicht mehr mit der Erlaubnis der Ältesten herumschlagen, hab ich recht? Ob du es tust oder nicht... liegt ganz allein bei dir...“

Sie zieht überrascht eine Augenbraue hoch und fixiert Sey eindringlich.

„So... Du weißt also bescheid... Das macht das Ganze noch interessanter... Du hast recht, ich könnte deinen Wunsch problemlos in die Tat umsetzen...“

Sey weicht ihrem Blick aus und sieht leicht zögernd zu Boden, was Chitori belustigt bemerkt.

„...Oder ist da vielleicht noch etwas, das ich für dich erledigen soll..?“

Auch wenn Sey völlig erstarrt dasteht, scheint er innerlich mit sich selbst zu ringen. Als er schließlich den Kopf hebt und direkt in ihre roten Augen blickt, scheint es ihm einiges an Überwindung zu kosten, seine Worte laut auszusprechen.

„Ich will... Ich will, dass du Sukis Erinnerungen löschst... Sie soll sich an nichts von dem erinnern, was in den letzten Tagen passiert ist... Nicht an Zerberus oder Dämonen oder-... oder sonst irgendwas Übernatürliches... Sie soll einfach so weiterleben wie sie es gewohnt war, bevor-...“

„Bevor du dich in ihr Schicksal eingemischt hast?“

Sey nickt mit leicht abwesendem Blick, während Chitori sich mit einer verspielten Drehung in das kleine Mädchen verwandelt und zu ihm aufblickt.

„Aber wäre es dann nicht logischer sie bei dem Verkehrsunfall sterben zu lassen, so wie es eigentlich vorgesehen war?“

Sey scheint für einen Moment wie vom Blitz getroffen.

„Nein! Nein... Ich meine... Du kannst sie retten, nicht wahr? Du könntest-...“

„Und warum sollte ich das tun? Sie war nicht sehr nett zu mir und ich kann sie nicht leiden...“

Das Mädchen trat noch einen Schritt auf ihn zu und wandelte sich dabei wieder zu der jungen Frau, die Sey nachdenklich mustert.

„...Selbst wenn ich... sagen wir mal... so großzügig wäre und tatsächlich darüber nachdenken würde... Warum ausgerechnet dieses Mädchen?... Weißt du, wenn ich ohnehin die Regeln verletze, könnte ich auch jedes andere Mädchen von der Liste streichen... sogar... deine geliebte Selena...vielleicht...?“

Sey tritt unbewusst einen Schritt von ihr zurück und vermeidet es, Chitori in die Augen zu sehen, doch sie geht weiter auf ihn zu.

„...Es wäre ganz einfach... den richtigen Körper haben wir ja bereits... Ich müsste nur eben Selenas Namen von der Liste streichen und es wäre so, als wäre sie nie fort gewesen... Was sagst du?... Das wäre doch nett von mir...“

Sie legt mit einem schiefen Grinsen eine Hand auf Seys Schulter, doch er stößt sie sachte beiseite und weicht ein paar Schritte von ihr zurück.

„Nein... Selena ist tot und ich konnte nichts dagegen tun, aber Suki lebt noch... Entweder du rettest sie, oder niemanden...“

Das Grinsen auf Chitoris Gesicht wirkt für einen Moment eher unerfreut, doch sie fängt sich schnell wieder.

„Schön... wie du willst... Bleibt aber immer noch die Frage, was für mich dabei rausspringt... Deine Seele gehört mir schließlich schon...“

Sey atmet tief ein und sieht sie durchdringend an.

„Du kannst haben was immer du willst... Ich würde alles tun...“

Chitori schleicht mit ihren gewohnt eleganten, Katzen gleichen Schritten auf ihn zu und hält direkt vor ihm inne.

„Wirklich? Aber was könntest du mir noch geben..?“

„Alles... Mein Blut... Mein Leben... Meinen Willen... Du kannst es alles haben... Du kannst damit machen was du willst... Wenn du dafür Suki rettest...“

„Du gibst deine Freiheit für das Mädchen..? Wie altmodisch... und doch irgendwie... interessant...“

Mit einem zufriedenen Schmunzeln legt sie eine Hand auf Seys Brust, wo sie seinen rasenden Herzschlag fühlen kann.

„Ich kann also haben was immer ich will?... Auch dein Herz..?“

Sey blickt sie mit ausdruckslosen Augen müde an.

„Wenn es das ist, was du willst...“

Sie legt elegant einen Arm um ihn, stellt sich auf Zehenspitzen und kommt ihm so nahe, dass sich ihre Gesichter beinahe berühren. Sey lässt es über sich ergehen und sieht sie nur resigniert an. Chitori scheint sein Desinteresse herzlich wenig zu beeindrucken, als sie mit einem Finger über seine Lippen streift und ihn dann ohne weiter zu zögern innig küsst...

Glitzerndes Silber, glänzendes Gold

Als Sukis Füße beinahe lautlos den gefließten Boden unter ihr berühren, atmet sie erleichtert auf. Das warme Licht um sie herum beginnt sich langsam zu verflüchtigen, genauso wie das letzte Echo der Stimmen. Sie kann ein stolzes Lächeln nicht unterdrücken, als sie sich darüber klar wird, dass sie es tatsächlich geschafft hat. Sie ist sich ganz sicher, dass sie sich nicht im Weg geirrt hat. Es ist fast so, als könnte sie spüren, dass Sey nur wenige Meter von ihr entfernt ist... Und tatsächlich, als sich ihre Augen an ihre Umgebung gewöhnt haben, erkennt sie den rechteckigen, kahlen Raum in dem sie sich befindet und ihr Herz macht einen Satz, als sie Sey entdeckt, der nicht allzuweit entfernt mit dem Rücken zu ihr steht. Doch gerade als sie einen Schritt auf ihn zu machen will, gefriert ihre Bewegung förmlich ein, als sie erkennt, wie Chitori langsam ihre Lippen von seinen löst und mit einem verspieltes Lächeln von ihm ablässt. Suki glaubt ein leichtes Blitzen in ihren roten Augen zu sehen, als ihr Blick den ihren streift. Mit einem ernsteren Gesichtsausdruck, wendet sie sich dann wieder Sey zu.

„Tut mir leid... Aber ich bin wirklich noch sehr unentschlossen ob dieser Deal günstig für mich ist...“

Sey starrt sie ungläubig an.

„Was... Was meinst du? Warum?!“

„Ganz einfach... Du kannst mich nicht bezahlen...“

Sie beugt sich zu ihm und flüstert ihm mit einem amüsierten Tonfall ins Ohr.

„Dein Herz... gehört schließlich schon ihr... oder irre ich mich da..?“

In dem Moment, in dem Sey realisiert, was sie damit meint, stößt er Chitori grob von sich weg und folgt angespannt ihrem Blick zur anderen Seite des Raumes.

„S-Suki? Wie bist du-...?“

„Ich schätze ich hab allmählich den Dreh raus, von einer Dimension in die nächste zu springen...“

Ein ungewohnter Tonfall lag in Sukis Stimme. Als er die glitzernden Tränen in ihren Augen sieht, spürt er einen schmerzhaften Stich, der ihn zwingt ihrem Blick auszuweichen.

„...Suki... Ich-...“

Für einen Moment brennt er darauf ihr einfach alles zu erklären, gleichzeitig hat er aber das Gefühl, als würden seine Worte ohnehin keinen Unterschied machen.

Suki wischt sich mit dem Handrücken schnell über die Augen und atmet tief ein. Im Grunde war sie sich sicher, dass er wahrscheinlich eine logische Erklärung dafür hat... trotzdem kann sie das unangenehme Stechen in ihrer Brust nicht unterdrücken... genauso wie die Tränen... Ihr Blick wandert zu Chitori, die sie herausfordernd angrinst, bevor sie kichernd zu dem kleinen Mädchen zusammenschrumpft und gut gelaunt ein Stück auf sie zuhüpft.

„Weißt du, eigentlich wollte ich dich einfach bei der nächsten Gelegenheit töten... Aber die Sache wird jetzt um einiges lustiger...“

Die kleine Chitori springt auf Suki zu und sieht, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, zu ihr auf.

„Ich bin gerade gut gelaunt und werde dich am Leben lassen... Du kannst zu deiner Familie zurück und wirst nicht mehr verfolgt, ein klassisches Happy End...“

Suki sieht sie misstrauisch und wütend an.

„Warum solltest du das tun...“

Chitori schnippst mit einem belustigten Zwinkern mit den Fingern, worauf im gleichen Moment ein cremefarbenes Dokument wie aus dem Nichts erscheint und wie schwerelos vor Sey in der Luft hängen bleibt, zusammen mit einem schlichten, goldenen Kugelschreiber.

„Ich erfülle lediglich Seys Wunsch... Sein Herz kann ich vielleicht nicht haben... aber ich nehme gern den ganzen Rest... Ein eigener Sklave ist sicher recht unterhaltsam...“

Die Augen des Mädchens verengen sich plötzlich zu Schlitzen und ein hinterhältiger Ausdruck tritt auf ihr Gesicht, als sie näher an Suki herantritt.

„Außerdem macht es Spaß, ihn dir wegzunehmen...“

Suki drängt sich energisch an ihr vorbei, gerade als Sey den goldenen Stift in die Hand nimmt und auf das Papier setzt.

„Sey! Warte, du kannst nicht-...“

„Es ist die einzige Möglichkeit, Suki! Deine einzige Chance lebend aus der Sache rauszukommen...“

Er wendet die Augen von ihr ab und blickt stattdessen auf den Vertrag vor sich.

„Ich hab dir doch gesagt, ich-...“

„Ach ja? Wie wär's wenn du mich das nächste mal vorher fragst, bevor du mit so einem bescheuerten Vertrag über mein Leben entscheidest!“

Er hält mitten in der Bewegung inne. Suki steht keuchend vor ihm und sieht wütend zu ihm auf. Ihre Wangen sind von ihrem rasenden Herzschlag leicht gerötet.

„Ich wurde in den letzten Tagen durch die verschiedensten Dimensionen gejagt, wäre zweimal beinahe ertrunken, wurde in einen dunklen Kerker eingesperrt, fast von einem Löwen zerfetzt und musste dabei ständig das miese Grinsen dieser falschen Schlange ertragen!...“

Ohne den Blick von Sey abzuwenden, zeigt sie verächtlich auf Chitori, die ihr dafür ein wütendes Blitzen ihrer roten Augen schenkt.

„Aber das alles war nichts, verglichen mit dem Gefühl, als ich plötzlich allein am Stadtkanal stand, ohne zu wissen, was als nächstes passieren würde oder was ich tun sollte, oder... oder-...!“

Sie blickt ihm fest in die Augen und holt einen Moment Luft, damit ihre Stimme sich ein wenig beruhigt, doch ein leichtes Zittern in ihren Worten kann sie nicht unterdrücken.

„...oder ob ich nochmal die Chance haben würde dich wiederzusehen...“

Sey sieht sie sprachlos an. Der Stift rutscht aus seiner Hand und fällt mit einem leisen Klirren auf den Boden. Im gleichen Moment scheint das schwebende Papier seinen Halt in der Luft zu verlieren und landet lautlos neben dem goldenen Kugelschreiber. Suki spürt wie ihre Wangen unangenehm brennen, doch sie ignoriert es schlichtweg und kratzt stattdessen ihr ganzes Selbstbewusstsein zusammen.

„Sey, ich... ich will...“

Ein stechender Schmerz, der urplötzlich von ihrem Rücken aus durch ihren ganzen Körper fährt, lässt Sukis Stimme versagen. Der geschockte Ausdruck auf Seys Gesicht verschwimmt bereits vor ihren Augen, als sämtliche Kraft aus ihrem Körper zu verschwinden scheint und ihre Beine unter ihr nachgeben. Er kann sie gerade noch auffangen, bevor sie unsanft auf dem Boden aufkommt.

„Suki!? Suki, was ist-...“

Seine Hand an ihrem Rücken ertastet den eiskalten, metallenen Griff eines verzierten, schmalen Messers. Als er aufsieht, streift sein Blick Chitoris glühende Augen. Diesmal liegt kein Lächeln auf ihrem Gesicht, sondern nur eine Maske aus hasserfüllter Zufriedenheit. Sie schnippst sachte mit den Fingern, woraufhin der Dolch blitzschnell durch die Luft auf ihre Hand zuschnellt und so zu seiner Besitzerin zurückkehrt. Sey spürt, wie Sukis T-Shirt unter seinen Händen allmählich mit warmem Blut getränkt wird...

„Nein... nein, nein... Suki... bitte... Suki!..“

Mit zitternden Fingern streicht er ihre blonden Haare beiseite und hinterlässt so einen schmalen, blutigen Streifen auf ihrer Stirn, doch auf ihrem Gesicht zeigt sich keinerlei Regung.

„..Verdammt... Kaleb!... Kaleb, vergiss die Tür, ich brauch deine Hilfe!!“

Als er keine Antwort bekommt, dreht er sich hektisch zu der Tür um, wo er eigentlich mit seinem Partner gerechnet hatte. Stattdessen springt eine kleine weiße Katze über die Kommode hinweg, die kurz darauf von einer unsichtbaren Kraft auf die andere Seite des Raums gewirbelt wird. Die Katze platziert sich schnurrend vor dem hölzernen Rahmen der Tür.

„Suchst du etwa ihn?“

Dutzende helle Stränge, die sich wie Arme von hinten um ihn zu schlängeln scheinen, haben sich fest um Kalebs Körper geschlossen und fesseln ihn so an die Wand. Auch seine wiederholten Befreiungsversuche nutzen nichts. Chitori wechselt ihre Gestalt blitzschnell zurück zu der junge Frau, diesmal aber scheint mit ihrer Verwandlung eine unsichtbare Welle durch den ganzen Raum zu laufen, der daraufhin sämtliche Details verliert und plötzlich durch und durch in einem kalten hellen Weiß erstrahlt. Als Sey realisiert, wo sie sich befinden, starrt er panisch zu Chitori.

„Wann... Wann hast du...“

„In dem Moment, in dem ich euren sogenannten sicheren Verhandlungsort das erste mal betreten habe...“

Ein süßliches Lächeln umspielt ihre Lippen.

„Oder glaubst du ernsthaft ich würde mich einfach auf einen Deal einlassen, ohne weitere Vorkehrungen zu treffen... Das ganze war mein Spiel... die ganze Zeit...“

Ihr Blick wandert langsam zu Suki.

„Sie hat mir beinahe den Spaß daran genommen, also hab ich sie disqualifiziert... Sieht so aus als wäre sie jetzt entgültig ausgeschieden...“

Sey wendet hektisch seinen Blick von ihr ab und sucht verzweifelt an Sukis Hals nach einem Puls, jedoch ohne Erfolg. Für einen Moment kann er nichts anderes tun, als mit rasendem Herzen auf sie hinabzustarren, auf ihr regloses Gesicht, dessen Haut bereits einen hellen Elfenbein-ähnlichen Farbton angenommen hat. Ihm gelingt es einfach nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, bis seine Augen den am Boden liegenden Vertrag, etwa einen Meter entfernt von ihm, streifen. Er legt Suki vorsichtig vor sich auf dem Boden ab, als ein sachtes Glitzern seine Aufmerksamkeit auf die silbrige Kette um ihren Hals lenkt, und ihn zögern lässt.

„...Tut mir leid... Suki... Du wirst mir das wahrscheinlich nie verzeihen... Aber...“

Sein Blick wandert langsam zurück zu dem glänzenden, goldenen Stift und dem, für ihn unlesbaren, mit einer verworrenen Schrift geschriebenen Dokument.

„...wenn ich das nicht tue, könnte ich mir selbst nicht verzeihen...“

Er sieht kurz zu Chitori hinüber, die ihn schweigend beobachtet. Nach einem letzten Seitenblick auf Suki beugt er sich über den Vertrag, setzt den goldenen Stift auf das Papier und unterschreibt den Pakt...



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Kommentare zu dieser Fanfic (16)
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Von:  Raishyra
2011-04-17T18:24:01+00:00 17.04.2011 20:24
Tolles FF!
Ich hoffe bald kommt das nächste Kapi. ><
Von:  KuroMikan
2010-08-30T19:23:40+00:00 30.08.2010 21:23
so damit jetz überall ne 1 steht^^
außerdem hast du es nicht verdient dass ich dir bei einem kappi keinen kommi dalass^^
also lieber spät als nie^^
Von:  KuroMikan
2010-08-17T12:06:56+00:00 17.08.2010 14:06
ohhhhh is das das ende??????? *heul*
spannung pur^^ und einfach klasse XD
mann ich weiß gar nichmehr was ich schreiben soll... weil ich einfach alles schonmal gesagt hab^^
Von:  KuroMikan
2010-08-04T12:43:00+00:00 04.08.2010 14:43
omg!!!! du hast es wirklich getan XD
schöööön boa ich freu mich total dass ich schon das nächste kapi lesen durfte^^
du sagtest etwas von wegen das ende würde mir nicht gefallen... du hast doch nich wirklich vor, sie alles vergessen zu lassen oda so was? kein happy end?
ok ich warte einfach XD die löcherei bringt ja doch nix^^
Von:  KuroMikan
2010-08-03T13:20:54+00:00 03.08.2010 15:20
ohhhh toll^^ *strahl*
freu mich soo total endlich wieder ein kapi lesen zu dürfen ^^
war natürlich wie alle kapitel suuuuppper toll... vorallem das ende... kawaiiii^^
oh ich liebe es XD
Von:  KuroMikan
2009-12-07T20:20:23+00:00 07.12.2009 21:20
wow einfach nur super mega genial!!!!!
auf sowas wär ich niee gekommen XDDD
echt wahnsinn die idee mit suki^^ *total buff is*
jetz wirds dann sau spannend oder? müssen da ja wieder raus XDD
zuerst dachte ich die is auf ihrer echten couch daheim ;P
aba das is noch vieeeel besser...
bin echt sau stolz auf dich^^
Von:  KuroMikan
2009-11-17T18:31:24+00:00 17.11.2009 19:31
ohhh das kapi is sooo spannend... *sich auf die knie werf.. königin der spannenden geschichten... auf dich zeig*
ich fand die decke von dem raum cool^^ die seelen (wie engel -> suki hat das ja gemeint)
und das labyrint auch^^ coole idee und so...
hmm was gibts noch zu sagen?
ach ja der brunnen is soo lol XD der passt da ja eigentlich nich rein.. und genau das macht ihn so lustig XDDDDD
eine frage (die eigentlich überflüssig is...) lebt sey noch? hat ja keinen puls mehr... (überflüssig weil der held ja eig nich so schnell stirbt oder?? oder kratzt der jetz ab? XDD)

auf jeden fall super geiles kapi^^
daumen hoch 1geb
Von:  KuroMikan
2009-11-12T21:33:28+00:00 12.11.2009 22:33
XD wie jedes kapi is auch dieses wieder genial geworden^^
*heul, sich vor dich auf die knie schmeiß*
^.^` weißt scho was ich mein XD
Von:  KuroMikan
2009-11-12T13:52:01+00:00 12.11.2009 14:52
loooooool
ich hätte ihn glaub ich auch zu mir nachhause eingeladen...^^
aba meine eltern wären da gewesen.. mit sicherheit XD
käm doch geil ^.^
hmm ich glaub nichmal dass sie was sagen würden *lach*
naja vill "wo haste den denn aufgegabelt" oda so XDDD *todlach*
das kapi is sau geil^^
aba das weißte ja schon
Von:  KuroMikan
2009-11-12T13:43:20+00:00 12.11.2009 14:43
XD ich glaub wenn jemand zu mir sagen würde:
"genau das ist das problem... du solltest tot sein,bist es aber nicht.."
hätte er meine faust im gesicht.. XD
is ja auch egal^^
obwohl.. wenn er soo süß wär wie ich ihn mir ausmale dann hätte ich wahrscheinlich auch nur doof geguckt XD

das kappi is natürlich wie alle von dir suuuuper klasse ^^
spaßfaktor 100% (oder so)

lg Cat_Love


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