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Leitartikel

Küss mich bis zur Deadline
von

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Ein Tag wie jeder andere

MICHAEL
 

Natürlich kamen die erbärmlich kurzen und in einem Deutsch, was Jugendliche der jetzigen Generation wohl als „Grundschuldeutsch“ bezeichnet hätten, geschriebenen Texte zu spät. Die nur bis zu 500 Wörter langen Beiträge über die neuen, „hippen“ Läden der Stadt waren Praktikantenarbeit. Und da die Redaktion des „Fly“ ein kostenloses Heft publizierte, welches mehr aus Werbung, als eigentlichem journalistischen Inhalt bestand, legten die Herausgeber natürlich auch Wert auf billige Arbeitskräfte. Auf junge Menschen, die jeglichen Mist umsonst mitmachen würden und ihre Semesterferien opferten, um das meistens vom Studium vorgesehene Praktikum zu absolvieren.
 

Deswegen waren auch immer mindestens zwei arme Seelen als Praktikanten beim „Fly“ beschäftigt. Momentan war es eine 18-Jährige schwarzhaarige Abiturientin, die leidenschaftlich während der wichtigsten Zeiten in der Redaktion auf der recht großen Terrasse, die einen wunderschönen Blick auf das dreckige Industriegebiet bot, rauchte und ein recht stämmiger Soziologiestudent dessen Alter Michael schon längst vergessen hatte.
 

Eigentlich war es Florians Aufgabe die Praktikanten auszusuchen. Alles was Michael tun musste, war sich die von seinem Kollegen ausgesuchten Unterlagen zu den Bewerbern anzusehen und entweder zu nicken oder den Kopf zu schütteln.
 

Es war unglaublich, wie viele Menschen bei diesem schwachsinnigen Heft überhaupt mitmachen wollten und bis zu dreiseitige Motivationsschreiben produzierten, von dem „super informativen Inhalt“ des Heftes schwärmten und behaupteten „etwas für das Leben der Stadt“ mit ihren Beiträgen tun zu wollen. Sie wollten unbedingt „Menschen über die Vorgänge um sie herum informieren“ und zu einem „interessanterem Leben“ beitragen.
 

Warum zum Teufel also das „Fly“?!
 

Auch heute stellte sich der fast 1,90 m große Mann mit den aschblonden, perfekt getrimmten Haaren diese Frage als er sich genervt in seinem durchaus bequemen schwarzen Ledersessel zurücklehnte und laut seufzte. Er rückte die rahmenlose teure Brille auf seiner schmalen Nase zurecht und blickte auf die halb fertig gestellte erste Seite der kommenden Ausgabe, die in weniger als einer Stunde in den Druck geschickt werden musste.
 

Ebenso genervt griff er nach dem schwarzen Telefon. Wie immer hatten sich zahlreiche Stifte im geringelten Kabel verheddert und stellten eine Art verdrehtes Büromobile dar. Und so wie diese meist für Kleinkinder konzipierten Objekte von der Wand hingen, so sehr würde er jetzt gern seine Praktikanten gleich daneben hängen. Oder sich selbst.
 

Mit seinen leicht filigranen und dennoch sehr männlich wirkenden Fingern wählte er flink die Nummer und hörte in der Ferne ein Telefon klingeln. Niemand ging ran. Rasch probierte er noch die zwei weiteren Nummern und erhob sich dann mit einem weiteren Seufzer.
 

Anna, die besagte rauchende Praktikantin, stand natürlich auf ihrer ach-so-geliebten Terrasse und paffte vor sich hin während sie sich mit der Sekretärin vom Empfang unterhielt. Seit wann rauchte eigentlich Sibylle, fragte Michael sich, als er die ältere Frau neben der jungen Abiturientin beobachtete, und diese eine angezündete Zigarette in ihrer Hand hielt. Beide Frauen bemerkten ihn gleichzeitig und Annas Zusammenzucken bei dem Anblick ihres momentanen Chefs ließ die Schwarzhaarige fast einen Hustenanfall erleiden.
 

„Anna, ich brauche deinen Artikel über den neuen Frisör im Aschviertel“, verkündete Michael ernsthaft, aber ruhig und blickte seine Praktikantin, die noch mindestens einen weiteren Monat für ihn arbeiten würde, dabei an.
 

„Ach, Scheiße!“, japste sie und drückte ihre Zigarette in dem dafür vorgesehenen Aschenbecher mit Coca-Cola Logo sofort aus. „Das ist ja heute, ne?“
 

„Falls du den Druck meinst, ja. Das ist heute“, kommentierte der Mann mit den breiten Schultern immer noch ruhig, aber mit etwas Nachdruck in seinem Unterton. In seinem schwarzen Anzug war er ein wahrhaftiger Blickfang und Anna hatte sich schon oft gefragt, ob er verheiratet war. Ihren Freundinnen jedenfalls schwärmte sie jeden Abend von dem „unglaublich heißen Chefredakteur“ vor.
 

„Was ist mit Maximilian?“, hakte Michael nach, der den zweiten Praktiktanten nirgendwo in der Redaktion hatte sitzen sehen.
 

„Ich glaube der ist schon weg“, antwortete Anna und lächelte ihren Chef unsicher an. Dieser stemmte seine Hände an die Hüften und seufzte, rückte dann seine Brille zurecht und schien seinen Ärger runter zu schlucken.
 

„Weißt du, ob er seinen Text bereits geschrieben hat? War das der Bäcker in der Stresemannstraße?“, fragte der gut gebaute Mann weiter.
 

„Äh...“, überlegte Anna kurz. „Ich glaube ja, aber wo der den hat. Hm. Ich glaube der hat nen Ordner auf seinem Desktop und macht das erst später ins System rein“, erklärte sie dann weiter.
 

„Alles klar, ich danke dir. Und beeil dich, ich will das in 10 Minuten im System haben, OK?“, ermahnte er sie. Wieder zuckte sie leicht zusammen und rannte sofort ins Gebäude und ließ Michael mit Sibylle auf der Terrasse zurück. Die Redaktion wirkte um diese Uhrzeit verlassen. Außer der drei waren vielleicht noch drei weitere Personen da, die noch die letzten Recherchen für ihre Termine des nächsten Tages zu Ende brachten.
 

„Na, mal wieder Stress?“, fragte Sibylle und lächelte mitfühlend.
 

„Du weißt ja, wie das hier kurz vor Druck ist“, lächelte Michael leicht zurück.
 

Sibylle nickte und starrte weiter vor sich hin. „Ist es in Ordnung wenn ich dann gleich gehe?“, fragte sie, als sie ihre Zigarette ausdrückte.
 

„Natürlich, hier ist ja eh nichts mehr los“, antwortete er und blickte auf die bereits abgenutzte Armbanduhr. Kurz vor 20 Uhr. Na wunderbar. Und Tim hatte er gesagt er wäre „ganz sicher“ vor der Tagesschau da. In seinem Innern fluchend ging er zurück in den Raum und setzte sich an dem PC des Praktikanten. Tatsächlich. In dem Ordner lag der bereits vorgestern zu Ende getippte kurze Beitrag unbeachtet da. Umgehend speiste er ihn ins System und begab sich zurück in sein Büro.
 

Wie immer war er froh einen leicht abgeschotteten Raum für sich allein zu haben. Als er früher noch normaler Redakteur war, hatte er auch in einem offenen Raum arbeiten müssen, war andauernd von anderen Mitarbeitern umzingelt gewesen. Das alltägliche Chaos einer Tageszeitung verschluckte ihn damals Tag für Tag.
 

Tja, das war jetzt vorbei. Leicht sarkastisch grinste er, als er Maximilians Beitrag eigenhändig in das Textfeld zog. Diese Layoutprogramme machten es einem doch wirklich leicht. Theoretisch hätte auch ein Affe diese Arbeit übernehmen können. Michael seufzte.
 

Die Arbeit bei der Tageszeitung war trotz des Chaos eine schöne Zeit gewesen. Vor allem, als er nach einigen Jahren zum Ressortleiter hoch gestuft wurde. Kultur. Ja, das war sein Gebiet. Er hatte diese Arbeit geliebt. Und er dachte, es würde ewig so weiter gehen. Doch als der Verlag verkauft wurde und der werte neue Herr Herausgeber zu seinem Schock erfahren musste, dass einer der Ressortleiter doch tatsächlich schwul war, war das Abenteuer Tageszeitung vorbei.
 

Michael starrte auf den leicht surrenden großen Applebildschirm vor sich. Da er ja „durchaus kompetent“ war und „ein Mitarbeiter, auf den man auf keinen Fall verzichten wollte“, wurde ihm der Chefposten des „Fly“ angeboten, des kleinen Absatzproduktes des Verlages, ein in Zusammenarbeit mit den lokalen Sparkassen und der Kulturbehörde gesponsortes Drecksheftchen für Jugendliche und junge Erwachsene über „Events“ in der Stadt.
 

Langweilige Gastrotipps, Partybildchen, Tipps und Trends, Support fürs lokale Fußballteam. Und das meiste davon bekamen sie sogar von etlichen Agenturen zugeschickt. Der „Copy&Paste“ Job wurde es betitelt. Ja. Praktikantenarbeit. Gott sei Dank. Nicht, dass er sich beschweren wollte. Das Gehalt stimmte. Und das war das Wichtigste, oder? Dass die Gesellschaft auch noch im 21. Jahrhundert verklemmt und intolerant war, damit hatte sich der gutaussehende, 36-jährige Mann bereits abgefunden. Auch wenn, laut Herrn Verlagsleiter, das „Fly“ ein durchaus für alle Richtungen offenes Magazin war, welches sich mit „solcher“ Thematik durchaus auseinandersetzen sollte, galt es doch für richtungweisend für die junge Generation. Die junge Generation, die sich wahrscheinlich mit dem Heftchen den Arsch abwischte.
 

Leicht erzürnt klickte er sich durchs System. Da war auch endlich Annas Artikel. Schnell überflog er ihn. Hey, der war ja richtig gut! Scheinbar hatte er die Kleine unterschätzt. Im selben Moment klopfte sie an seine Glastür und er nickte kurz, um ihr den Einlass zu gewähren.
 

„Ähm, haben Sie den Artikel jetzt bekommen?“, fragte sie leicht schüchtern.
 

„In der Tat, gute Arbeit Anna. Der kann so rein“, antwortete er ihr und klickte weiter auf dem großen Bildschirm herum, fügte den Text in die für ihn vorgesehene Spalte ein. „Dein Foto ist auch klasse geworden. Und nun ab nach Hause, dein Freund wartet sicherlich schon. Wir sehen uns morgen.“
 

Sie kicherte kurz. „Ich hab doch gar keinen Freund, Herr Zannert.“ Und schon war sie weg. Michael blickte ihr noch ein wenig hinterher. Mein Gott, 18 Jahre alt, gerade erst Abitur gemacht. Was würde er gern mit ihr tauschen. Fast geistesabwesend griff er nach dem Telefon und wählte seine eigene Nummer. Schon nach dem dritten Klingeln ging Tim ans Telefon. Anstatt eines „Hallos“ gab es ein: „Wo bleibst du?“
 

Michael seufzte. „Es tut mir echt Leid, mir haben noch die Praktikantentexte gefehlt, der Kurier kommt gleich, ich bin in zehn Minuten raus aus der Redaktion, versprochen.“
 

„OK, ich halt das Essen solange warm, aber beeil dich. Ich hab echt Hunger und kann für nichts garantieren“, sagte die Männerstimme am anderen Ende der Leitung etwas belustigt. Michael musste grinsen.
 

„Alles klar, Süßer“, murmelte er in den Hörer. „Ich beeil mich. Bis dann.“

Klick.
 

Er erledigte die restlichen Aufgaben in fünf Minuten. Die Redaktion war fast leer. Einige Grafiker und Anzeigenverantwortliche saßen ja doch noch hier und da in den einzelnen Räumen. Er sagte aber niemandem mehr „Tschüss“, sondern rannte fast schon zu seinem schwarzen BMW, der um die 10 Jahre auf dem Buckel hatte – aber noch astrein funktionierte und seine heißgeliebte „Lady“ war. Die einzige „Frau“ in seinem Leben.
 

Wie immer fuhr er an dem riesigen Einkaufszentrum vorbei, welches erst vor einigen Monaten seine Tore geöffnet hatte. Es war ein Mix aus noblen Geschäften, in denen sogar die Markensocken um die 20 Euro pro Paar kosteten, und billigen Läden, in denen es Stofffetzen schon für 10 Cent gab. Dieses Konzept würde Michael wohl nie verstehen, aber irgendwie schien diese Mischung ja aufzugehen. Und im Grunde genommen war er mehr als froh, dass es dieses Zentrum gab.
 

Das magische Wort nannte sich: Starbucks. Als Journalist musste man kaffeesüchtig sein, gehörte irgendwie zum Job dazu. Und von der miesen Brühe, die in den alten Kaffeemaschinen in den Redaktionen gekocht wurde, hatte er wirklich die Schnauze voll. Bereits an den Gedanken an die Variationen der amerikanischen Coffee-Kette lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
 

Die Pausen, in denen er meist alleine zum Laden marschierte und wenigstens zehn Minuten mit einer anständigen Zeitung und einem ebenso anständigen Kaffee verbringen konnte, konnte ihm niemand versauen.
 

Fast.
 

Er erschrak beinahe, als er die junge Bedienung des Starbucks aus dem Zentrum gehen sah. Natürlich. 20 Uhr war Ladenschluss. Er hätte es wissen müssen. Genervt und irgendwie peinlich benommen rollte er die Augen, als er den jungen Mann mit den längeren, etwas zerzausten Haaren in Richtung Fahrradständer gehen sah.
 

Sebastian. Oder „Jade“, wie sich der Spinner nannte. Michael trat aufs Gas. Nein, an den Kerl wollte er jetzt nicht unbedingt denken. Er wollte einfach nur zu seinem Tim, mit ihm essen und dann kuschelnd vor dem Fernseher einschlafen. Ja, das war genau das, was er wollte.

Caramel Macchiato

MICHAEL
 

Behutsam strich Michael die leicht ins Gesicht fallenden Locken seines immer noch friedlich schlafenden Lebensgefährten von dessen Stirn, ohne ihn dabei zu wecken. Fuhr sanft die Konturen des fein ausgeprägten Kieferknochens nach, betrachtete Tims sich hebende und senkende, nackte Brust. Sein Blick wanderte über die unter der Decke hervorschauenden, leicht behaarten und gut geformten Arme. Tim war ausgebildeter Elektriker, arbeitete als Meister, verdiente gutes Geld und hatte dennoch irgendwie genügend Zeit regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen. Michael seufzte leicht. Irgendwie beneidete er seinen Freund, mit dem er bereits fünf Jahre zusammen war, etwas darum, um diese freie Zeit.
 

Andererseits musste Tim auch sehr oft mit anpacken, seine Hände waren nach Jahren der Arbeit bereits etwas rau. Aber das machte sie nur noch schöner, fand Michael jedenfalls, der nun sanft mit seinem Finger den Handrücken seines Freundes auf und ab fuhr. Er liebte es von diesen Fingern berührt zu werden, wenn sie über seine entblößte Haut fuhren. So wie gestern Nacht… Er grinste leicht, als er an die Aktivitäten nach dem späten Abendessen denken musste. Der Fernseher war ausgeblieben… Und das war auch gut so. Schließlich hatte der Journalist in letzter Zeit so viel zu tun gehabt, dass ihr Sexleben so gut wie eingeschlafen war.
 

Dieses war gestern endlich wiederbelebt worden… In Gedanken versunken betrachtete er seinen Freund weiter.
 

Tim war schon 39 und sah dennoch irgendwie aus, als hätte er gerade erst seinen 30. Geburtstag gefeiert. Höchstens. Kurz grinste Michael, als sein noch immer im Schlafland wandelnder Freund leicht unter seinen Bewegungen anfing zu zucken. Tim war irgendwie überall kitzelig. Ein Fakt, den Michal gerne mal ausnutzte…
 

Der Wecker würde in weniger als fünf Minuten anfangen seinen grässlichen Ton von sich zu geben. Ein moderner Weckdienst, aber immer noch genauso lästig wie das Krähen eines Hahnes auf dem Bauernhof an einem Tag, an dem das Ausschlafen erlaubt war. Vorsichtig beugte er sich zum Nachtschrank und schaltete das Gerät ab, noch bevor der Alarm losgehen konnte. Sein Lebensgefährte hatte gerade Freischicht, vier Tage frei bevor er erneut sieben Tage durcharbeiten müsste. Na, wenigstens war ihm der Schichtdienst erspart geblieben, eine höllische Umstellung die höchstwahrscheinlich den ganzen Biorhythmus des Mannes durcheinander gebracht hätte.
 

Als Michael aufstand und seinen dunkelblauen Anzug lautlos aus dem Kleiderschrank entnahm, fiel ihm ein Bericht über Schichtarbeiter ein, den er ganz am Anfang seiner Karriere verfasst hatte. Die Interviews hatten ihm wirklich einen Schrecken verpasst. Die betroffenen Männer, und alle hatten sie mehr als 20 Jahre in Schichten gearbeitet, waren psychisch und physisch völlig am Ende gewesen. Ja, er war froh, dass dieses potenzielle Schicksal für seinen Liebsten nicht in Frage kommen würde.
 

Schnell duschte er, aß etwas Müsli und trank den ersten Kaffee des Tages. Er griff seine Tasche und huschte noch mal schnell ins gemeinsame Schlafzimmer zurück. Tim schlief immer noch, öffnete jedoch leicht die Augen, als er ein weiteres Gewicht die Matratze nach unten drücken fühlte.
 

Michael beugte sich vor und küsste seinen braunhaarigen Freund leicht auf die Wange.
 

„Ich bin dann mal weg, schlaf noch schön“, hauchte er ihm ins Ohr.
 

„Mh…“, kam es von Tim. „Wann bist du... wieder da?“, brachte er noch heraus, seine Augen bereits wieder geschlossen.
 

„Ich hoffe diesmal auf vor 20 Uhr…“, wisperte Michael zurück, doch Tim war längst eingeschlafen.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Die Anlage des uralten weißen Golfs, auf dessen Lack jeder noch so kleine Fleck zu erkennen war, dröhnte und ächzte mit dem Motor um die Wette, der wohl bald endgültig seinen Geist aufgeben würde. Dessen war Jade sich irgendwie sicher. Wie oft hatte er ihn jetzt von Rolf reparieren lassen? Gott sei Dank arbeitete der Macker schwarz und war ein guter Freund, ansonsten hätte er sich dumm und dämlich zahlen müssen für dieses bekloppte Auto.
 

Aber, hey! Es fuhr und das war immerhin das Wichtigste. Keine Bus- und Bahnfahrten, die er über alles hasste, die ihn kirre machten und ihm den letzten Nerv rauben konnten. Wenn er an die verschwitzten Massen die die öffentlichen Verkehrsmittel überschwemmten dachte, überkam ihn ein leichter und unangenehmer Schüttelfrost. Nein, das war wirklich nichts für ihn. Außerdem beschwerten sich doch eh immer irgendwelche alten Schabracken über seine “zu laute Musik.”
 

Grinsend drehte er die Ramones CD noch weiter auf, sodass die Türen des Wagens unter dem Bass knarrten und surrten.
 

Der Blick auf die kleinen, fast nicht mehr zu entziffernden, verblassten orangenen Ziffern der digitalen Uhr des Wagens ließ ihn direkt über eine rote Ampel fahren. Scheiße, nur noch fünf Minuten! Mit 70 Kmh brauste er die lange zweispurige Straße entlang und sprach wie fast an jedem Arbeitstag ein stilles Dankesgebet (ohne dabei wirklich eine bestimmte Gottheit zu adressieren), dass das Einkaufszentrum im eigentlich eher verlassenen Industriegebiet der Stadt lag. Außer der LKWs, die er gerade gekonnt überholte, war hier nicht viel los. Und die Untergrundgarage war um diese Zeit auch immer frei. Wobei die Leute von Starbucks eh reservierte Plätze hatten.
 

Wie oft hatte ihm diese Gegebenheit während der Spätschicht schon das Leben gerettet?
 

Mit quietschenden Reifen fuhr er die Rampe herunter und stellte den Wagen auf seinem Standardplatz ab. Rückwärts einparken - Ein Klacks. Hastig nahm er gleich zwei Treppenstufen der schon im Betrieb genommenen Rolltreppe auf einmal, rannte den noch verlassenen breiten Gang entlang, ohne dabei auf die gerade öffnenden Läden zu achten, und passierte pünktlich um 8.00 Uhr die Glastür der Starbucksfiliale in der er seit einigen Monaten beschäftigt war.
 

Irgendwie nicht der beste Job, fand er. Vor allem, weil es momentan sein Hauptberuf war. Er beneidete die anderen jungen Mitarbeiter, für die das Kaffeekochen eigentlich nur eine Nebenbeschäftigung war, die sich ihr Taschengeld aufbessern wollten oder gerade irgendwelche bescheuerten Ferien hatten. Oder Leute, die ihr Abi in der Tasche hatten und die Zeit bis zum Studium überbrücken wollten.
 

Studieren. Das musste irgendwie lässig sein. So klang es jedenfalls wenn diese genannten Leute, mit denen er Gott sei Dank nicht immer zusammenarbeiten musste, davon erzählten. Party hier, Party da, gerade noch so für die Klausur gelernt. Andererseits waren die meisten sicherlich auch nur Schnacker. Die dann bis sie Mitte 30 nur „Parties und Klausuren“ erleben durften und dann im Endeffekt auch bei Starbucks landeten, weil sie noch nie das Arbeitsleben gesehen hatten und untauglich für ihren Beruf waren. Jade grinste. Ha ha.
 

Und Andererseits, wenn er so an sich dachte… Er war ein Barista. Und viele machten große Augen, wenn er es ihnen erzählte. Irgendwie waren die Leute fasziniert vom Kaffeekochen. Und eigentlich konnte er ja auch auf sich stolz sein. Ein bisschen zumindest.
 

“Wow, ich bin begeistert! Du bist pünktlich!”, begrüßte ihn plötzlich die gut bekannte Stimme Alis. Jade grinste seinen türkischstämmigen Kollegen an. Er war erst 18 und trotz seines relativ jungen Alters ziemlich reif – und unheimlich zuverlässig, was seine Arbeit anging. Eigentlich war Ali immer der erste der Schicht. Und heute schien es wohl auch nicht anders gewesen zu sein. Die Milch war schaumig gerührt, die Geräte rauschten, es roch nach Kaffee, die Stühle waren geordnet, die Tische gewischt. Das war einer der Abiturienten, die wirklich schwer in Ordnung waren.
 

“Guten Morgen, mein lieber Ali, ich freue mich auch dich zu sehen!”, antwortete Jade mit einer theatralischen Stimme und täuschte eine kleine Verbeugung vor, wonach er an seinem Kollegen vorbei zum hinteren Teil des Ladens marschierte um seine schicke schwarze Schürze anzulegen.
 

“Hey, Jade!”, begrüßte Katja ihn, eine Frau Mitte 40, Mutter von zwei Kindern, die das Hausfrauenleben satt hatte und eigenes Geld nach Hause bringen wollte. Egal wie wenig es war. Ihr ging es ums Prinzip. Und bei Starbucks verdiente sie ja auch nicht gerade schlecht. Gerade räumte sie ihre Jacke in den Schrank.
 

“Hallo, meine Hübsche.”, scherzte Jade charmant und schmiss seine Jacke ebenfalls in den Schrank, gerade noch bevor Katja es schaffte die Türen zu schließen. Sie blickte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
 

“Faul wie immer, hm?”, sagte sie und grinste.
 

“Ich hab heute ziemlich viel zu tun, also muss ich faul sein, wo es nur geht”, entgegnete ihr der Schwarzhaarige, der sich nun dem an der Wand hängenden Spiegel zuwendete und seine ziemlich wilde Mähne – immerhin reichten ihm die dunklen Haare fast bis zu den Schultern – in Form eines Zopfes zähmte. Einige der kürzeren Strähnen fielen ihm immer noch ins Gesicht und umrandeten die rundlicheren Züge etwas.
 

Manchmal waren sie ein wenig nervig, zum Beispiel wenn sie sich im rechten Augenbrauenpiercing verfingen. Das konnte dann schon mal weh tun. Aber abnehmen wollte er den silbernen Ring nicht. Er liebte sein Piercing und war froh, dass sein Arbeitgeber mit ausgeflippten Körperschmuck nicht wirklich ein Problem hatte. Und schließlich hatte er ja nur den einen Stecker im Gesicht.
 

Die ebenfalls silberne Kugel in seiner Zunge fiel ja nicht wirklich auf. Außerdem sahen (oder spürten) diese eh nur ausgewählte Personen... Er musste seufzen. Seit einem Jahr Single zu sein nervte langsam irgendwie doch.
 

Als Mark ihn damals so eingeengt hatte, mit ihm zusammenziehen wollte, seine ganze Aufmerksamkeit forderte, hatte es richtig gut getan ihn von sich wegzustoßen. Die ersten Monate hatte er sein Singledasein so richtig genossen. Endlich wieder One-Night-Stands. Ja, Abwechslung im Bett, das hatte einfach sein müssen. Doch im Moment reizte ihn einfach niemand mehr so richtig. Wenn er mit seinen Jungs auf die Piste zog wollte ihm einfach niemand mehr so wirklich ins Auge fallen.
 

Es war nicht so, als würde er nicht mehr flirten. Oder einfach mit irgendwem auf der Tanzfläche knutschen, wenn ihm danach war. Sex hatte er auch erst vor zwei Wochen das letzte Mal gehabt. Ein guter Schnitt, fand er, als er sich hinter den Tresen stellte und bereits die ersten Kaffeeliebhaber im Anmarsch waren. Die meisten von ihnen Angestellte des Zentrums, Verkäufer, Händler, die wie er einen langen Tag vor sich hatten.
 

Oder Mitarbeiter des „Fly“.
 

Und bei dem Besuch dieser Personen freute Jade sich eigentlich immer. Das Magazin war klasse, locker und lässig verfasst, mit tollen Gastro- und Partytipps bestückt – die ihm bei einer abwechslungsreichen Freizeitgestaltung schon oft geholfen hatten – und außerdem waren die meisten männlichen Mitarbeiter einfach zum Anbeißen und ja, doch recht cool drauf.
 

Die meisten waren um die 30, oder Mitte 30. Und irgendwie… machte sie gerade das so attraktiv. Er konnte auch nicht erklären, was er an älteren Männern faszinierend fand. Und es war ja auch nicht so, als würden ihn Kerle in seinem Alter völlig kalt lassen. Mark, mit dem er schließlich fast zwei Jahre zusammen gewesen war (seine längste Beziehung bist jetzt), war sogar ein Jahr jünger als er gewesen.
 

Das Gesicht seines Ex-Freundes tauchte vor ihm auf und er musste ein weiteres Mal seufzen, während Ali die restlichen zwei Türen der Filiale aufschloss und den kommenden Kunden, bei denen es gleich „sehr schnell“ gehen sollte, munter zulächelte.
 

Mark war schon ein echter Blickfang gewesen. Er war es immer noch. Irgendwie konnte Jade es nicht lassen ab und an die Fotos auf Marks MySpace-Profil anzustarren. Erst gestern Nacht hatte er es wieder getan, als er nicht schlafen konnte und gelangweilt vor seinem Rechner saß – und seinem Mitbewohner beim Sex zuhören musste.
 

Torsten konnte manchmal echt rücksichtslos sein. Aber wahrscheinlich war er gestern einfach mal wieder zugedröhnt gewesen und hatte eh nichts mehr mitbekommen. Außerdem waren die Wände der WG nicht wirklich dick genug, sodass die Wohnung sowieso sehr hellhörig war. Musik aufdrehen und ablenken hieß also immer die Devise. Und es war ja nicht so, als wäre Jade selbst jede Nacht rücksichtsvoll… Deswegen war es schon OK.
 

„Guten Morgen!“, begrüßte er die kleine Schwarzhaarige die ihn keck angrinste. Die neue Praktikantin beim „Fly“. Sie hatte es ihm letzte Woche erzählt, als er während seiner Pause völlig vertieft ihm Heft vor dem Zentrum saß. Immer noch grinsend wühlte sie, bevor sie überhaupt etwas bestellen konnte, in ihrer Tasche. „Hier für dich“, verkündete sie dann stolz und reichte ihm die neue Ausgabe. „Frisch ausm Druck, bin eben extra noch mal hoch gelaufen.“
 

„Wow, danke!“, rief Jade aus und nahm die diesmal sogar etwas dickere Zeitschrift freudig strahlend entgegen. Seine Pause war gerettet! Und er hatte das Ding, bevor der Lieferant den Fly-Ausstellungskasten in der Filiale überhaupt füllen konnte. Ha!
 

„Was kann ich dir denn dafür Gutes tun?“, fragte er sie und lächelte sie an während er die Ausgabe vorsichtig unter den Tresen legte.
 

„Caramel Macchiato, tall, mit etwas Hazelnut Sirup“, kam die direkte Antwort.
 

„Alles klar, ich mach dir den Venti zum Preis von Tall, Süße“, zwinkerte er ihr frech zu und schrieb die Bestellung auf den kleinen Zettel, der umgehend an Ali weitergereicht wurde. Katja verdrehte die Augen spielerisch und tippte den „reduzierten“ Preis in die Kasse ein, während Jade bereits die Bestellungen der weiteren Gäste, die die Filiale stürmten, notierte und dabei immer freundlich lächelte, grinste, den Menschen zuzwinkerte, hier und da ein Kompliment machte und manchen sogar einen kleinen Bonus erteilte.
 

„Weißt du…“, sagte Katja ihm, als der erste Ansturm vorbei war und momentan niemand in der Schlage stand. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt glauben du bist ein richtiger Frauenaufreißer.“
 

Jade lachte lauthals auf, während er frische Muffins ins Auslegefenster packte. „Wie gut, dass du es besser weißt, hm? Schwule Männer wissen manchmal einfach besser, wie man mir Ladies umgeht.“
 

„Ja, weil ihr selber Ladies seid“, mischte sich Ali an, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Spielerisch schlug Jade nach seinem Kollegen mit dem zusammengerollten Handtuch und verfehlte ihn natürlich.
 

„Na, na, Jungs!“, ermahnte Katja sie.
 

Mehrere Stunden vergingen. Und dann kam sie, Jades Pause. Glücklich ließ er sich auf einem der grünen, gut gepolsterten Sesseln in der hintersten Ecke nieder und schlug sogleich das „Fly“ auf, während er genüsslich einen Schluck des frisch gebrühten Kaffees zu sich nahm. Schwarz, natürlich. Wie immer blieb er auf der ersten Seite hängen. Dem Editorial. Diesem unwiderstehlichen Bild Michael Zannerts… Und meine Güte, sah der wieder gut aus! Er war in einem schwarzen Hemd abgelichtet worden. Die weinrote Krawatte passte perfekt zu der dunklen Farbe der Kleidung und auch zu dem Aschblond seiner kurzen Haare. Er lächelte leicht in die Kamera, wobei sein Lächeln eher einem Schmunzeln glich. In der Hand hielt er ein rundes Weinglas, das zur Hälfte mit roter Flüssigkeit gefüllt war.
 

Eilig las Jade das Editorial und verstand den Zusammenhang sofort. Das „Fly“ beinhaltete diesmal einen Weintest der lokalen Weinanbieter. Hm. Könnte interessant werden. Eigentlich war Jade ja kein Weinfan, aber was nicht war, könnte ja noch werden. Und wenn Michael Zannert (Wow, diesen Namen fand Jade einfach göttlich!) auf Wein schwor, dann konnte er ja nur gut sein…
 

„Natürlich, du himmelst ihn wieder an…“, Katjas sanften Gelächter riss ihn aus seinen Gedanken, die rund um den Chefredakteur kreisten. Mal wieder.
 

„Wie kann man so einen perfekten Adonis denn NICHT gut finden?“, grinste Jade seine Kollegin an und wedelte mit der Zeitung vor ihren Augen, hielt sie sich theatralisch an die Brust. „Gibs doch zu“, fuhr er keck fort. „Du stehst doch auch auf ihn!“
 

Katja lachte etwas lauter und schüttelte dabei den Kopf. „Mein lieber Sebastian, äh, JADE!“, korrigierte sie sofort. „Ich bin eine verheiratete Frau.“
 

„Na, das ist kein Hindernis“, schnitt Jade ihr frech das Wort ab.
 

Spielerisch schlug sie ihn leicht auf den Rücken. „Ich erbitte mir mehr Respekt, klar?“
 

„Aber sicher doch, meine Lieblinsseniorin“, scherzte der Schwarzhaarige und leerte seinen Kaffee.
 

„Jade…?“, kam die Stimme Alis von der Theke.
 

„Ich komme schon, mein Liebster!“, flötete Jade und marschierte wieder zu seinem Arbeitsplatz.
 

Ali blickte ihn etwas genervt an. Auch wenn er die Homosexualität seines Kollegen zu akzeptieren gelernt hatte (nach mehrstündigen Gesprächen und leichten Zankereien), war es ihm immer noch unangenehm, wenn Jade solche Witze in seine Richtung machte. Dann seufzte er einfach und grinste leicht. „Ich wollte ja nicht, dass du deinen Lieblingsmoment verpasst…“, bemerkte der türkische junge Mann und wies unauffällig in Richtung der Haupteingangstür hin.
 

Da kam er.

Michael Zannert.

Extra Hot

MICHAEL
 

Natürlich! Was hatte er denn auch Anderes erwarten sollen? Wieso redete er sich ein, dass ausgerechnet heute seine Pause wenigstens ruhig verlaufen würde? Diese verachtenswerte Naivität, die er einfach nicht abschütteln konnte, machte ihm streckenweise das Leben wirklich schwer… Manchmal hasste er den Tag des Hefterscheines einfach. Und Gott sei Dank kam das Magazin nur alle zwei Wochen raus!
 

Heute war einfach alles schiefgegangen, was hätte schief gehen können. Nicht nur, dass sich etliche Rechtschreibfehler gleich auf der zweiten Seite eingeschlichen hatten, nein, Seite fünf und sechs waren vertauscht worden und somit war das Bild, welches ursprünglich über die Doppeltseite gezogen worden war, natürlich deformiert. Hinzu kam, dass der ganze Bericht so natürlich keinen Sinn mehr ergab! Und ausgerechnet war das der „Weintest“! Endlich mal ein spannendes und wirklich informatives Feature im „Fly“. Michael hatte sich wahrhaftig auf das Erscheinen seines Magazins gefreut. Eine Gegebenheit, die seit langem nicht mehr aufgetreten war.
 

Doch als er das Heft vor der Redaktionssitzung heute Morgen angesehen hatte, wollte er sich die Haare raufen und in seinem Büro am liebsten alles demolieren. Ein Wunsch, den er selten verspürte. Mit einem purpurroten Kopf hatte er einen Beruhigungstee zu sich genommen und dann eine Stunde später die morgendliche Konferenz einberufen. In seinem Innern sprach er sich zu, dass man immer das Positive sehen sollte. Und so hatten Anna und Maximilian zum ersten Mal in ihrem Leben eine sehr laute und energiereiche Redaktionssitzung hautnah erleben dürfen. Dieses Faktum betrachtete er einfach als das positive Erlebnis des Tages.
 

Der Layouter, die Schlussredaktion und die hausinterne Korrekturleserin hatten heute wirklich keinen schönen Morgen. Schwuchtel hin oder her, dachte er sich, seine innere Stimme von Sarkasmus getränkt, dermaßen brüllen und mit der Tasse auf den Tisch knallen, das konnte wirklich nur ein wahrer Mann. Und seine Redaktion wurde heute Morgen explizit daran erinnert, dass Michael Zannert ein Mann war. Der einen desaströsen Morgen zu bewältigen hatte! Nach der Konferenz, nach dem Zusammentreffen von dem er dachte es hätte die Pechsträne des Tages beendet, bekam er einen wundervollen Anruf – von der PR-Abteilung keiner anderen Firma als Daimler Chrysler – deren einseitige Anzeige nicht erschienen war.
 

Da war ein Konzern in Zeiten der Krise immer noch bereit 500 Euro für eine Seite in diesem kleinen Magazin auszugeben und dann passierte so was?!
 

Nach einem weiteren Tee rief Michael zur zweiten Konferenz dieses miserablen Morgens. Florian, der Chef vom Dienst, konnte vorweisen die Anzeige im Satzspiegel mit eingeplant zu haben. Bei der Überprüfung des Layouts stellte sich jedoch heraus, dass aus Versehen ein Text, der für die nächste Ausgabe geplant war, irgendwie in den für Daimler vorgesehenen Platz gerutscht war. Technischer Fehler. Darauf ließ Michael es beruhen. Ihm war nicht nach Streitereien. Im Grunde genommen war er ein sehr kooperativer und fairer Chef. Er hielt nicht viel von strengen Hierarchien die viele Führungskräfte dazu verleiteten, auf ihre Mitarbeiter „hinabzublicken“. Beim „Fly“ waren alle „equals“, wie man das heutzutage auf Neudeutsch sagen würde.
 

Deswegen seufzte er, telefonierte erneut mit der Pressestelle von Daimler, rutschte mental ein wenig auf den Knien vor dem Automobilriesen herum und, seiner Rhetorik sei Dank, überzeugte den Kunden, die Anzeige nicht zurückzuziehen, sondern auf die nächste Ausgabe zu warten, in der „die Anzeige zu 200% erscheinen würde“ an der Stelle „die Sie sich natürlich frei aussuchen können.“
 

Er brauchte sie dringend, eine Pause, eine kleine Auszeit, musste dem klingelnden Telefon und den hereinschneienden Redakteuren entfliehen, der rauchenden Praktikantin, sah sich gezwungen aus seinem Büro zu flüchten. Nur für eine halbe Stunde. Mittlerweile hatte er sich an sein turbulentes Leben gewöhnt, 30 Minuten reichten ihm vollkommen als „Regenerationszeit“ aus.
 

Und nun das.
 

Er hatte den Starbucks noch nicht mal betreten, da starrte dieser junge Kerl ihn bereits fast schon angriffslustig an. Michael verdrehte die Augen, fluchte innerlich leicht. Im Moment sah er sich nicht in der Lage diesen „Jade“ ertragen zu können. Aber der Kaffee…
 

Augen zu und durch, sprach er sich selber zu, als er die Glastür öffnete und das Aroma der dunklen Bohnen inhalierte, welches ihn umgehend entspannen ließ, seinen Kopf endlich realisieren ließ, dass er jetzt Pause hatte in der ihn das „Fly“ überhaupt nicht anging und es ihm erlaubt war, seine Arbeit für die nächsten 30 Minuten gänzlich zu ignorieren.
 

Er war der einzige in der Schlange und hatte sogar hinten noch einen freien Platz entdeckt. Einen einzelnen, einladenden Sessel an einem kleinen runden Tisch, auf der jemand achtlos seinen „Spiegel“ hatte liegen lassen. Der Platz war perfekt. Weit weg vom Tresen. Entfernt von den restlichen Gästen.
 

Noch bevor er den Mund öffnen konnte, sprach Jade für ihn.
 

„Einen Triple Caffé Mocha, venti, mit einem Spritzer Vanillesirup, fettarmer Milch, extra heiß, nicht wahr?“, fragte ihn der schwarzhaarige junge Mann am Tresen, einen Stift und kleinen Notizblock gezückt, bereit die die Bestellungen signalisierenden Buchstaben nieder zu schreiben. Mit seinen dunkelbraunen Augen, die einen leicht bernsteinfarbigen Stich in der Mitte besaßen, funkelte er Michael aufgeweckt an.
 

Der Chefredakteur seufzte und nickte einfach nur.
 

„Kommt sofort, Herr Zannert“, fügte der junge Mann enthusiastisch hinzu, schrieb die Buchstaben dann aber doch nicht auf den Block. Michael fühlte, dass ihn der Kerl noch immer anstarrte und blickte seinem Gegenüber kühl in die Augen. „Ihre Bestellung kann ich mir auch so merken, brauch ich gar nicht aufzuschreiben“, erklärte ihm der junge Erwachsene, als hätte Michael ihn tatsächlich gefragt, und drehte sich dann zu seinem türkischen Kollegen um. „Ich mach das alles schon fertig“, sagte er dem Adressierten und machte sich daran den Kaffee zuzubereiten.
 

Michael wartete noch immer stumm an der Kasse, das dicke, dunkelbraune Portemonnaie schwer in seiner Hand liegend. Erinnerungen der gestrigen Nacht überkamen ihn, als er einen kleinen Blick auf das Passfoto seines Freundes warf, das sich in dem schwach durchsichtigen Fach befand. Tims dunkelblonde Locken, die sein markantes Kinn berührten, kamen auf dem Bild deutlich zur Geltung und kontrastierten mit seinen unheimlich dunklen Augen auf diese wohlige Art und Weise. Sein Freund lächelte leicht, die weißen Zähne gerade mal ein wenig sichtbar hinter den weich gezeichneten Lippen. Und auch die wenigen Sommersprossen waren zu sehen, die Sommersprossen die Tim so hasste und Michael so liebte…
 

So in Gedanken versunken merkte er gar nicht, wie Jade sich über die Theke lehnte und ihm fast schon ein wenig zu nah kam. Die Stimme des Barista schreckte ihn auf.
 

„Das geht natürlich auf meine Rechnung“, sprach der Schwarzhaarige mit diesem eindeutigen Unterton in seiner nun leicht heiser wirkenden Stimme. Und zu allem Überfluss zwinkerte er ihm daraufhin auch noch zu. Wie in einem billigen Film, dachte Michael sich, und hatte mit einem erneuten Wutausbruch zu kämpfen. Dieser Tag bekam ihm gar nicht gut. Mit all dieser unterdrückten Wut erkannte er sich gar nicht wieder…
 

OK. Durchatmen.
 

Gegen einen Flirt mal hier und da hatte Michael ja nichts einzuwenden, solange es nichts Ernsteres war. Schließlich war er glücklich mit Tim liiert und wollte diese Beziehung nicht mal zu einem Prozent aufs Spiel setzen!
 

Vielleicht hätte er im Falle Jades einfach ein bisschen stolz auf die Tatsache sein können, dass ihn hier ein viel jüngerer Kerl anbaggerte – allerdings fast jedes Mal wenn er den Starbucks aufsuchte, was die komplette Angelegenheit an Authentizität verlieren ließ. Zudem war dieses „Anbaggern“ so unheimlich peinlich und aufgesetzte, so stereotypisch, dass es Michael wiederholt einfach nur wahnsinnig machte. Im negativen Sinne.
 

Michael war schwul. Eigentlich schon seitdem er denken konnte. In seinem bisherigen Leben hatte er ein einziges Mal eine feste Freundin gehabt, ein einziges Mal heterosexuellen Sex erlebt. Und, soweit er sich erinnern konnte, war es grauenhaft gewesen. Damals war er 16 Jahr alt gewesen. Ein Jahr später brachte er seinen ersten Freund mit nach Hause. Und von da an hatten sich seine Eltern daran gewöhnen müssen, dass sie keine Schwiegertochter zu Gesicht bekommen würden.
 

So gesehen war der Journalist immer offen mit seiner Sexualität umgegangen. Was aber nicht hieß, dass er die Tatsache, dass er schwul war, jedem ins Gesicht schreien musste, oder es unentwegt thematisieren musste, wie es einige Homosexuelle vorzogen. Ganz einfach ausgedrückt, es erschien ihm lästig Aufmerksamkeit mit seinen sexuellen Vorlieben zu erregen. Eine Gegebenheit, die sich durch die ganze Geschichte mit der Tageszeitung irgendwie gefestigt haben musste. Verschlimmert wäre das falsche Wort, entschied er.
 

Und das was Jade hier abzog ging ihm aufgrund des Erlebten gänzlich gegen den Strich.

Natürlich wussten die meisten Kollegen, dass er schwul war. Demonstrativ hatte er schließlich auch das Foto von Tim und sich auf seinem Schreibtisch stehen. Was natürlich nicht hieß, dass jeder einzelne seiner Autoren unentwegt auf das Bild starrte und/oder den Chefredakteur darauf ansprach.
 

Und das war gut so.
 

Die Tatsache, dass Jade ihn hier so offensichtlich anflirtete, nicht nur, dass sich das eigentlich für einen Barista nicht gehörte, war im Ganzen einfach inakzeptabel. Nein, Michael verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach tuschelnden Kollegen, die sich belustigt über den „Flirt im Starbucks“ äußern könnten. Allzu gut wusste er, dass gerade Erwachsene in angesehenen Positionen sich oftmals wie unreife Schulkinder verhielten, wie die Tratschtanten aus „Desperate Housewives“.
 

Außerdem fand er, dass Jade das klischeehafte Image der Homosexuellen mit seinem Verhalten aufrecht erhielt. Er hatte wohl einfach zu viel „Queer as Folk“ gesehen. Wenn er sich überhaupt einen Fernseher leisten konnte…
 

„Ich werde meinen Kaffee selbst bezahlen“, bestimmte der Chefredakteur mit fester Stimme und entnahm seinem Portemonnaie die gar nicht so geringe Summe, legte sie auf den Tresen und ging dann zur Annahmestelle, wartete auf seinen Kaffee und versuchte Jade, der sein Getränk zubereitete, nicht anzusehen.
 

Jade.
 

Welcher Mensch mit gesundem Menschenverstand verpasste sich eigentlich so einen bekloppten, aus US-Highschool Filmen stammenden Namen? Zu allem Überfluss hatte er sein Namensschildchen, das wohl den Namen „Sebastian“ bestückt war – schließlich hatte er schon des Öfteren andere Starbucksmitarbeiter den Schwarzhaarigen so ansprechen hören – mit einem selbstbeschriebenen Papierschnipsel mit der Aufschrift „JADE“ überklebt.
 

Der Junge schien ein wirklich ernsthaftes Problem mit seiner Identität zu haben.
 

Der Schwarzhaarige hatte keinen Kommentar zu Michaels Handeln abgegeben. Mit ruhiger Hand übergab er dem blonden Mann seinen Kaffee.
 

„Etwas Süßes für einen… netten Mann“, grinste er den Journalisten dann an und Michael meinte ihn schon wieder bei einem lächerlichen Zwinkern erwischt zu haben. Er brachte ein „Danke“ heraus und marschierte zu dem freien Platz in der Ecke.
 

Jetzt könnte ihn nichts mehr aus der Fassung bringen. Der Tresen war nicht einzusehen. Und somit würde Jade ihn auch nicht anstarren können. Oder ihm auf irgendeine Weise zuwinken können. Jetzt war es an der Zeit zu entspannen.
 

Nach einem Schluck des sehr heißen Getränks schlug er die „Süddeutsche“ auf und erfreute sich an den qualitativ hochwertigen Beiträgen. Ja, die „Süddeutsche“ war klasse. Seit drei Jahren hatte er bereits das Abonnement laufen. Und er war mehr als zufrieden. Und so verging die Zeit, so leerte er seinen Kaffee genüsslich, erfreute sich an dem herben und süßen Aroma, an der durchaus für manche als exotisch betrachteten Mixtur.
 

Und dann klingelte sein Handy. Ein noch unangenehmerer Laut als sein Wecker ihn von sich gab, ein notwendiges, Aufmerksamkeit erregendes Piepen, welches er in keiner Situation des Alltages ignorieren könnte. „Eine wichtige Themenbesprechung“, informierte Florian ihn. Irgendein Interview sollte als Vodcast für die Homepage gedreht werden und man erwartete den Chef um seine Zustimmung schriftlich zu erteilen.
 

Seufzend erhob er sich, sein Handy immer noch am Ohr, ließ sich, während er sein Jackett wieder in Ordnung brachte, die ganze Geschichte umgehend erklären um Zeit zu sparen, schließlich musste das Interview schnell durchgeführt werden und Zeit war ein wichtiger Faktor. In wohl jedem Geschäft.
 

Michael hatte gerade die Tür geöffnet und den ersten Schritt aus dem Laden getan, redete immer noch mit Florian über sein Mobiltelefon, als plötzlich Jade wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihm doch tatsächlich Geld, sein Geld, in die Brusttasche des Jacketts stopfte.
 

„Ich sagte geht auf mich…“, sagte er leise, nickte dem Chefredakteur zu und schloss die Tür als dieser die Filiale bereits verlassen hatte.
 

Jade! Dieser unterbelichtete Volltrottel. Und er hatte keine Zeit um zurückzugehen und diese Angelegenheit umgehend zu klären.
 

Konnte der Tag eigentlich noch fataler werden?
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Also ganz ehrlich, Jade“, fing Ali an, während er den Tresen von einigen Milchflecken befreite. „Ich glaube du gehst die Sache irgendwie falsch an.“
 

Der Schwarzhaarige streckte ihm nicht ernstgemeint die Zunge heraus, seufzte jedoch umgehend danach und sah Michael Zannert das Gebäude durch die riesige Drehtür verlassen. Und irgendwie musste er zugeben, dass Ali Recht hatte.
 

„Ich dreh wohl ein bisschen zu viel auf, was?“, fragte er, ohne Ali dabei wirklich zu adressieren.
 

„In der Tat“, antwortete dieser jedoch direkt. „Ehrlich gesagt bist du manchmal richtig furchtbar.“
 

Jade grummelte irgendwas vor sich hin.
 

„Ich gebe Ali Recht, Herzchen“, mischte sich Katja in die „Gruppenbesprechung“ ein. „Der Zannert, der ist kein junges Blöndchen das auf Machogehabe steht.“
 

„Sonst krieg ich auch jeden damit“, fauchte Jade leicht und etwas trotzig.
 

Katja lachte leicht. „Ich wage es aber zu behaupten, dass deine sonstigen „Objekte“ kein vergleichbares Kaliber sind.“
 

„Mann, du behandelst den Typen wie ein Mädchen!“, sagte Ali energisch. „Mein Bruder macht ständig irgendwelche 16-Jährigen Weiber so an, echt Mann. Aber dieser Kerl, das ist halt… ein Kerl.“
 

„Na und? Was für einen Unterschied macht das schon?“, zischte Jade und Ali verdrehte die Augen.
 

„Schätzchen, einen ziemlich großen. Der ist nicht wie deine sonstigen Tanzpartner, die du da in deinen Clubs oder Bars aufreißen kannst, die eh nur da sind um wild zu flirten und total begeistert sind, dass so ein cooler Typ wie du die anbaggert, als wenn es keinen Morgen gäbe“, belehrte Katja ihn sanft lächelnd. Dann klopfte sich ihm auf die Schulter. „Außerdem sagtest du doch eh, dass er in festen Händen ist, oder irre ich mich?“
 

Jade blickte leicht genervt zu Boden und schnappte sich ein Handtuch, um die Kaffeemaschinen damit etwas abzuwischen. Ja, das stimmte. Er hatte vor einiger Zeit mit zwei Mitarbeitern des „Fly“ gequatscht. Sie hatten einige tolle Cocktailbars mit den Happy Hour Angeboten vorgestellt und so waren sie während der Pause, die sie natürlich bei Starbucks verbrachten, ins Gespräch bekommen. So unverhohlen wie er war, hatte er sie natürlich direkt gefragt. „Ist euer Chefredakteur eigentlich schwul?“ Und zu seinem Erstaunen wurde diese Frage mit einem ebenso direkten „Ja“ beantwortet. Doch bevor er innerlich hatte jubeln können, war einer der Autoren fortgefahren: „Der ist seit ungefähr fünf Jahren liiert.“
 

Jade seufzte ein weiteres Mal.
 

Wie hieß der Typ? Timo? Tom? Keine Ahnung. Irgendwie musste er grad selbst über sich lachen, hatte er doch tatsächlich nach Michael Zannert zwei Stunden lang gegoogelt, um herauszufinden, wie dessen Partner aussah. Natürlich ergab seine kleine „Recherche“ keinen einzigen Treffer. Vielleicht war das auch besser so. Ohne ein Foto, das das Gegenteil bewies, konnte er sch den Typen ja richtig hässlich vorstellen.
 

Wieso machte er sich überhaupt solche Gedanken?!
 

Genervt warf er das Tuch in die Ecke.
 

Nur noch 3,5 Stunden… Dann konnte er endlich nach Hause gehen.

Die Wohnung, der Brummer, der Abschied und der kalte Kaffee

SEBASTIAN/JADE
 

Ein Donnerstagnachmittag war scheinbar der perfekte Zeitpunkt zum Shoppen. Es war gerade erst kurz nach 16 Uhr, als Jade nach seiner achtstündigen Schicht doch recht glücklich die schwarze Schürze beiseite legte. Ali und Katja waren längst dabei ihren Feierabend zu genießen und die beiden weiblichen, viel zu sehr mit Make-Up vollgeschmierten Teilzeitkräfte, mit denen er die letzte Stunde über hatte auskommen müssen, hatten ihn wirklich mehr als müde gemacht.
 

Nun lief er durch die hellen, steril wirkenden und völlig überfüllten gigantischen Gänge des schimmernden Einkaufszentrums, in dem jeder Laden mit prunkenden Farben und glitzernden Lichtern die Kundschaft lockte, zusätzlich zu den im Schaufenster beworbenen „Aktionen“, bei denen es sogar bis zu 50% Rabatt auf einige ausgewählte, „tolle“ Artikel gab. Wahrscheinlich die hässlichsten Hosen, die sie für den ursprünglichen Preis einfach nicht loswerden konnten. Oder irgendwelche T-Shirts mit lächerlichen Aufschriften wie „Help me, I’m blond.“
 

Wobei dieser Spruch, den er gerade auf einem pinken Oberteil eines jungen Mädchens erblickt hatte, relativ witzig wirkte – auch wenn dem Gör eigentlich dunkle Haare auf dem Kopf wuchsen.
 

Jade selbst war stolz auf seine naturschwarzen Haare. Wie oft hatten ihn jetzt eigentlich schon Leute auf diese angesprochen? „Färbst du deine Haare???“, lautete die immer wieder gestellte Frage, die ihm langsam auf den Wecker ging, ihm andererseits immer wieder die Möglichkeit bot mit dem dunklen Ton zu prahlen und erstaunte Blicke, sowie anerkennendes Nicken zu ernten. Er betrachtete sich in einigen Schaufenstern an denen er vorbeischlenderte, an H&M, Avanti, Janko Jones und Mustang-Jeans.
 

Gar nicht mal so schlecht, dachte er sich, als er sein Spiegelbild durchgängig musterte und die ihn leicht interessiert, und vielleicht auch ein bisschen schmachtend, musternden Blicke einiger Bummler nicht entgingen. Die meisten von ihnen waren junge Frauen, einige vielleicht sogar noch Schülerinnen, die umgehend nach Schulschluss ihr Taschengeld für etliche, eigentlich völlig überflüssige Dinge ausgaben.
 

Wobei, tat er das nicht manchmal selber? Jetzt musste er doch ein wenig an seine letzte Errungenschaft denken, das Paar rot karierter Chucks für 69.95 Euro. Sein drittes Paar in seiner Schuhsammlung… Verdammt, manchmal verhielt er sich einfach wirklich wie ein unreifes, junges Mädchen. Und dabei ging er stark auf die 25 zu. Ein Viertel Jahrhundert… Schleunigst verwarf er den Gedanken an seinen Geburtstag, der nur noch zwei Monate entfernt lag.
 

In leicht gedämpfter Stimmung und mit dem ihn einzig und allein antreibenden Willen direkt nach Hause zu fahren, eine Pizza in den Ofen zu schieben und dann den Rest des Tages in seinem Zimmer zu verbringen, bewegte er sich flink die Treppen hinunter. Hunderte von Autos füllte die Untergrundgarage des „Rainbow Zentrums“ und Jade war abermals dankbar für seine schlanke Figur.

Er war nicht zierlich, aber seine Gene erlaubten es ihm auf diese angenehme Art und Weise sein durchschnittlich gutes Gewicht zu halten, egal was er aß und egal wie viel Sport er machte oder eben nicht. So passte sein schlanker Körper durch den kleinen Türspalt ohne Probleme, als er vorsichtig in seinen Golf klettern musste, um den viel zu dicht an seinem Wagen parkenden BMW nicht zu zerkratzen.
 

Wieder einmal hatte sich irgend so ein Arschloch auf den Starbucks-Parkplatz gestellt. Eigentlich hätte Jade am liebsten seinen Schlüssel herausgezogen und mit einem nervenzerreißendem Quietschen eine wunderhübsche Linie in den dunkelblauen Lack des teuren Fahrzeugs geritzt. Da jedoch überall ebenso teure Überwachungskameras angebracht waren und er sich eigentlich ungern Ärger mit der Polizei eingefangen hätte, besann er sich und schloss die Tür seines Wagens mit einem lauten Knall. Er musste den Golf drei Mal treten, bis der Motor mit einem lauten Surren endlich ansprang.
 

Ja, Hauptsache er fuhr, wiederholte Jade als er die Garage verließ.
 

Erstaunlicherweise geriet er heute in keinen Stau. Jedenfalls nicht in einen solchen, bei dem man hätte fürchten müssen, im eigenen Auto übernachten und/oder verhungern zu müssen. Die eigentlich nur 15 Minuten dauernde Fahrt verlängerte sich um lediglich zehn Minuten. Ein guter Schnitt. Und einen Parkplatz direkt vor dem Wohnhaus erhaschte er ebenfalls. Ja! Die Gegend in der Torsten und er hausten war, was Parkplätze anging, zum fürchten. Es war eine Fußweg- und Fahrradgegend, mit engen Straßen auf denen es fast täglich zu kleinen Blechschäden beim Ein- und Ausparken kam und auf denen man höllisch auf die besagten Fahrradfahrer achten musste, die fast schon respektlos über jegliche Wege brausten, ohne dabei auf Autos oder Passanten zu achten.
 

Es war eine Gegend in der die Mieten nicht hoch waren und die dadurch durchaus populär unter Studenten geworden war. Oder Leuten wie Torsten und Jade, Leuten die fast ständig knapp bei Kasse waren. Auf den Luxus einer eigenen Wohnung aber nicht verzichten wollten. Nicht verzichten konnten.
 

Sie wohnten im dritten Stock eines zwischen weiteren Blocks eingepferchten, in den 50ern erbauten Hauses, dessen weißer Putz stellenweise von irgendwelchen Schmierereien verunstaltet worden war, wie auch der Rest der Straße. In dieser Stadt war vor den verkannten „Künstlern“ einfach nichts sicher. Jade hatte schon bessere Gegenden gesehen, an deren mit Mühe erbauten Einfamilienhäusern schlimmere Obszönitäten in den fast nicht zu entziffernden, grellen Lettern gemalt worden waren. Sinnlose Satzfetzen oder einzeln stehende und scheinbar nichts bedeutende Wörter.
 

Die Tür quietschte leicht als er sie aufschloss und wieder einmal notierte er sich in seinem Kopf, dass sie die Scharniere schleunigst einölen mussten. Aber nicht heute… Seine Jacke hang er an einen der wenigen Haken im Eingangsbereich auf. Ihre 2-Zimmer-Wohnung war klein, betrug gerade mal 55 m². Durchtrat man die Haupttür, fand man sich in dem winzigen Flur wieder, in den nicht mal eine Kommode wirklich hineinpassen würde, ohne einen am Durchgang zu hindern. Ihre Schuhe bewahrten sie deshalb lieber in ihren Schlafzimmern auf.
 

Die erste Tür links, Torstens Zimmer, stand weit offen und als Jade vorbeiging, lugte er kurz hinein, doch sein Mitbewohner war nicht da. Auch die Tür rechts gegenüber von Torstens Zimmer, die in das kleine Bad mit der schmalen Dusche führte, war offen, von dem Mann mit den leicht rötlichen Haaren war jedoch auch dort keine Spur. Gleich neben dem Bad befand sich die enge Küche, die Gott sei Dank irgendwie doch genügend Platz für einen Küchentisch bot und in der sie die Waschmaschine hatten unterbringen können. Jades Zimmer befand sich am Ende des Flures.
 

Mit einem Seufzer stieß er die graue Holztür auf und entledigte sich zunächst seiner Schuhe, die er ziemlich achtlos in die Ecke warf. Und dann öffnete er die Tür zum Balkon und ließ die immer wärmer werdende Nachmittagsluft ins Zimmer. Torsten und er hätten sich wahrscheinlich um dieses Zimmer geprügelt, hätte Dirk, ein gemeinsamer Freund, sie nicht dazu bewegt es einfach auszulosen. Jade grinste. Er hatte wirklich Glück gehabt. Der Balkon war, wie der Rest der Wohnung, klein, aber sich ab und an auf den Gartenstuhl zu setzen und den Sonnenuntergang zu genießen, oder eine Nacht mit klarem Mondschein an der frischen Luft zu verbringen, das war schon etwas Besonderes.
 

Ein Rascheln aus der hinteren linken Ecke seines Olivgrün gestrichenen Zimmers ließ ihn auf Anhieb umdrehen und lächeln. Sein kleines Monster saß auf den riesigen Hinterpfoten und versuchte den Käfig mit den Vorderbeinen aufzutreten, forderte Jades Aufmerksamkeit. Hatte Hunger. Wie immer.
 

„Ich komm ja schon, mein Großer…“, sagte Jade mit sanfter Stimme und ging dem ihn mit großen, dunklen, kugelförmigen Augen anbettelnden Kaninchen freudig entgegen. Seine Mutter hatte ihm „Koko“ vor fast fünf Jahren geschenkt. Als Friedensangebot. Als Entschuldigung. Vielleicht auch aus Mitleid. Das hellbraune Knäuel war damals so winzig gewesen, das es nicht mal seine ganze Handfläche hatte ausfüllen können. Und die Wut, die er bei diesem „Spontanbesuch“ seiner Mutter zunächst verspürt hatte, war damals wie weggeblasen, als ihn diese Augen zum ersten Mal betrachteten.
 

Doch „Koko“, so niedlich der Name auch war, passte nach bereits einigen Monaten so gar nicht mehr zu dem „Knäuel“, welches jetzt eher einem fast ausgewachsenen Kater glich. Vom Gewicht her ganz definitiv einer ausgewachsenen, wohl ernährten Katze. Tja, von wegen Zwergkaninchen. Koko glich einem Masttier.
 

Als das Kaninchen jetzt völlig aufgeregt gegen das obere Gitter drückte, da sein Herrchen ihm immer näher kam, musste Jade fast laut auflachen. Dieser Anblick war einfach zu ulkig. Vorsichtig öffnete er den Käfig und hob „Brummer“ hoch, der ihn umgehend mit seinen langen Barthaaren beschnupperte und versuchte an ihm weiter hoch zu klettern. „Hey!“, sagte Jade lachend und ging schnell in die Hocke um seinen Liebling den täglichen Auslauf zu gewähren. Sein ganzes Zimmer war kaninchensicher gestaltet. Brummer war so groß, dass Jade es nicht übers Herz brachte ihn im Käfig sitzen zu lassen, wann immer er in der Wohnung war. Und so war es eigentlich schon normal geworden, dass Jades Zimmer, auch Brummers Zimmer war.
 

Natürlich waren schon etliche Möbelstücke, Kleidung, Hefte und Kabel angenagt worden, aber Jade besserte sich und wusste wie er die Sachen zu verstauen hatte, damit Brummer sie nicht aus Versehen auffraß. Er stellte dem Tier, welches nun wild durch das Zimmer sprang und sich streckte, einen Napf mit etwas Trockenfutter hin und beobachtete belustigt, wie sich das Kaninchen wild drauf stürzte.
 

Manchmal konnte er das stundenlang tun. Einfach nur dasitzen und Brummer beim Hoppeln zusehen. Eine debile Tätigkeit, die ihn doch so oft erfüllen konnte. Er war sich sicher, dass ihm das niemand glauben würde. Niemand außer Torsten, der schon des Öfteren still neben ihm gesessen hatte und Brummer beim sinnlosen „durch das Parkett graben“ zugesehen hatte.
 

Plötzlich hörte er die Tür knallen.
 

„Jade?“, rief die ihm bekannte Stimme aus dem Flur.
 

„Anwesend!“, rief der Schwarzhaarige zurück und öffnete seine Zimmertür.
 

Torsten war ein 28-Jähriger, 1,80 m großer Tontechniker mit leicht rötlichem Haar, welches er stets zu einem kleinen Zopf gebunden trug. Seine Arme waren gut durchtrainiert, dank seines regelmäßigem Hanteltrainings, doch wie der Gouverneur Kaliforniens wollte er dennoch „nie und nimmer aussehen.“
 

Nun stand er mit zwei vollgestopften ALDI-Tüten im Flur und wirkte irgendwie nervös auf Jade.
 

„Alles klar, Mann?“, fragte ihn der Barista und blickte ihn ebenso fragend an.
 

„Ich bin nervös“, kam es zurück und irgendwie schien Torsten überhaupt gar keine Anstalten zu machen, sich vom Fleck zu bewegen.
 

„Das sehe ich“, entgegnete Jade grinsend und tat einen Schritt auf seinen Mitbewohner zu. Sie kannten sich nun mittlerweile mehr als drei Jahre. Torsten war ein Freund eines Freundes von Mark gewesen (soweit Jade sich noch erinnern konnte) und sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Und da sich, so wollte es scheinbar der Zufall, beide schon bald auf einer Wohnungssuche befanden, entschlossen sie sich, eine WG zu gründen. Die bis heute gut funktionierte.
 

Der Schwarzhaarige nahm dem Tontechniker eine der prall gefüllten Taschen ab und trug sie in die Küche. Und Torsten bewegte sich nun auch endlich.
 

„Jana kommt heute“, sagte er dann plötzlich.
 

„Jana?“
 

„Ja, ich hab sie heute Morgen in der U-Bahn kennengelernt.“, erzählte Torsten plötzlich aufgeweckter. „Eine klasse Frau, Mann, Mann, Mann… Sie studiert. Soziologie glaube ich. Und hübsch ist die! Stell dir vor, sie hat extra ihre Vorlesung geschwänzt, um noch einige Stunden mit mir zu plaudern.“
 

„Musstest du heute nicht ins „Lite“ wegen des Konzerts nächste Woche?“, fragte Jade ihn.
 

„Ja! Da bin ich ja auch hin. Sie ist ja extra mit!“
 

„Oha!“, bemerkte der Jüngere grinsend, während er die eingekauften Sachen auspackte.
 

„Ich koche heute für sie. Hab ihr einen netten DVD-Abend versprochen.“
 

„Und warum bist du jetzt nervös? Gestern als du diese Kleine Gothicfrau abgeschleppt hast, warst du überhaupt nicht nervös… Das bist du ja auch sonst nicht.“
 

Torsten verdrehte die Augen. „Mann, die gestern hat nichts bedeutet. Aber bei Jana… Ich spür da so was. Jade, ich glaub das ist sie…“, sagte er ernsthaft und blickte den Barista ebenso bedeutsam an.
 

„Das ist sie…?“, Jade hob fragend die Augenbraue.
 

„Wenn es Liebe auf den ersten Blick gibt, dann habe ich das heute erlebt“, erklärte Torsten ihm entschieden.
 

Der Schwarzhaarige schmunzelte.
 

„Mach dich nicht darüber lustig!“, herrschte Torsten ihn grinsend an und verstaute die Nahrungsmittel im kleinen Kühlschrank.
 

„Mach ich nicht“, versicherte der Schwarzhaarige. „Wann kommt sie denn?“
 

„Um acht. Ich muss unbedingt noch zur Videothek. Idee?“
 

„Hmmmm…“, sinnierte der Jüngere. „Frauenfilme… Erstes Date… Hmmm… OK. „Der Goldene Kompass“, etwas Nettes, kein Kitsch, leichte Fantasykost. Oder ihr schaut „Wanted“, Angelina Jolie und ein schnuckeliger Protagonist, allerdings ziemlich blutig. Aber die Kamerawinkel sind abgedreht, falls ihr beiden euer Adrenalin etwas in Schwung gesetzt bekommen wollt… Oder du holst „P.S. Ich liebe dich“. Sie wird sich heulend in deinen Armen wiegen…“
 

„Ich hol alle drei!“
 

Beide Männer lachten.
 

„Ich hau mich etwas hin, hatte nen anstrengenden Tag“, sagte Jade nach einer Weile. Bevor er die Küche verlassen konnte, drehte er sich noch ein Mal um und sagte: „Schade eigentlich, dass du unsere Seite nun wohl für immer verlässt…“, wonach er ihm spielerisch die Zunge ausstreckte und die wenigen Schritte zu seiner Zimmertür tat.
 

Doch ehe er auch nur seine Hand auf die leicht rostige Klinke legen konnte, legten sich Torstens raue Hände auf seine Schultern und pressten seinen Rücken gegen das Holz. Sein Mitbewohner war nur um die zwei Zentimeter größer als er. Momentan blickten sie sich direkt in die Augen. Torsten grinste leicht.
 

„Was wird das?“, fragte Jade und grinste leicht zurück.
 

„Ich muss mich doch noch verabschieden von, wie sagtest du eben, eurer Seite…“, sprach der Ältere mit einer sachten, gedämpften Stimme und bevor Jade protestieren konnte, legten sich seine rauen Lippen auf die des jüngeren Kaffeeliebhabers.
 

Gegen seinen Willen seufzte der Schwarzhaarige leise in den Kuss hinein, als Torsten um Einlass bat und seine Lippen mit den eigenen auseinander drückte, seine unheimlich warme Zunge lebhaft in Jades Mundhöhle passieren ließ und den Jüngeren in ein mattes Spiel verwickelte.
 

Torstens Lippen und Zunge wurden zunehmend fordernder. Plötzlich presste er seinen ebenso warmen Körper gegen Jade, drückte ihn fester gegen die Tür. Eine seiner Hände war zu dem Kopf des Jüngeren gewandert, seine Finger verwickelten sich in den nun losen Haarsträhnen und zogen leicht daran.
 

Hungrig, so hätte man Torsten in diesem Moment beschreiben können.
 

Er löste den Kuss, ohne seine Hände von Jade zu nehmen und blickte ihn mit halb offenem Mund an, grinste leicht.
 

„Dein Scheiß Zungenpiercing ist so geil…“, brachte er flüstern heraus und wollte umgehend mit seinem innigen Kuss fortfahren, doch Jade legte ihm seine Hand auf die Brust und drückte ihn leicht, und dennoch bestimmend, von sich weg. Die beiden schauten sich an.
 

„Jana…?“, fragte Jade mit einer leicht gedämpften, ernsten Stimme.
 

Einige Sekunden lang starrte Torsten ihn an. Und ließ dann schließlich von ihm ab. Lachte sanft, während er wieder die Küche ansteuert. „Auf Wiedersehen, ihr männlichen Lippen…“, bemerkte der Mann mit den rötlichen Haaren immer noch lachend, während er sich wieder daran machte, seine eingekauften Sachen zu verstauen.
 

Mit einem lauten Seufzer ließ Jade sich auf sein Bett nieder, rückte ein Kissen hinter seinen Rücken und lehnte sich dann mit dem Kopf gegen die Wand, starrte Brummer an, der sich unter seinem Schreibtisch ausgiebig putzte.
 

Er und Torsten hatten sich schon mal geküsst. Öfters. Wenn sie zusammen getrunken hatten, oder mal auf der Tanzfläche eines Clubs zusammen tanzten. Das letzte Mal vor rund drei Monaten. Nein. Vor fünf Minuten. Jade seufzte erneut und strich sich mit dem Handrücken über die Lippen, wischte die Spuren fort.
 

Scheiße.
 

Er war echt einsam.
 

Um sich abzulenken ging er den Zeitschriftenberg, der auf seinem Bett lag, durch. Zwischen zwei Publikationen hatte sich seine Handyrechnung vermischt. Er schauderte als er seinen vollen Namen auf dem Briefumschlag las. Sebastian Gilbert Malert.
 

Er hasste seinen Namen.
 

MICHAEL
 

Als er endlich die Zeit fand zurück zum Starbucks zu gehen, war Jade bereits fort. Obwohl der Chefredakteur sich eigentlich selber hätte ausrechnen können, dass die Schicht des jungen Mannes nicht mehr als acht Stunden hätte dauern können. Jedenfalls behauptete Starbucks seine Mitarbeiter human zu behandeln. Vielleicht ging es ihm aber auch gar nicht mehr darum, den Barista zur Rede zu stellen, sondern einfach nur um eine weitere kurze Auszeit zu nehmen und sich abermals ein wenig vom Redaktionsstress zu erholen, der ihn heute wie gefangen hielt. Aber darüber wollte er nicht mehr nachdenken, wollte einfach nur einen weiteren Kaffee genießen.
 

Er zückte sein I-Phone welches Tim ihm erst vor einem Monat geschenkt hatte und tippte dem besagten, wunderschönen Mann eine SMS, fragte, ob sie heute Abend nicht bei ihrem Lieblingsitaliener essen wollten. Schon sah er sie beide an einem wohl gedeckten Tisch bei Kerzenschein sitzen, da bekam er Tims Antwort.
 

„Sorry, bin bei Mirko, Fußballgucken, wird spät, Lieb dich!“
 

Naja, so schlimm war es auch wieder nicht. Trotzdem seufzte er und wusste, dass er mindestens noch eine Stunde im Büro bleiben müsste.
 

Und der Kaffee war auch schon kalt.

Gedankenrausch

MICHAEL
 

Als er die Wohnungstür hinter sich zuschlagen hörte, den breiten, beige gestrichenen Flur betrat und sich im ziemlich großen, ovalen Spiegel gleich neben der Garderobe musterte, stieß er einen lauten und erschöpften Seufzer aus. Die leicht violett gefärbten Ringe unter seinen Augen klagten sein ganzes Leid.
 

Er stellte seine schwarze Ledertasche vorsichtig auf der Kommode links neben der Tür ab, auf der auch das schwarze, drahtlose Telefon und der ebenso dunkle, elegante, Kalender lagen. Er erkannte Tims Handschrift auf der aufgeschlagenen Seite sofort und las die ihm bereits per SMS geschickte Nachricht nun auf Papier gekennzeichnet.
 

Fußball gehörte nun wirklich nicht zu Michaels Interessengebieten. Deswegen brachte er vollstes Verständnis für seinen Freund auf, wenn dieser mit seinen Kollegen und Freunden allein ins Stadion ging, oder die Männer sich zusammen um den Fernseher gesellten, oder eine Kneipe aufsuchten, um dort ihrer Passion nachzugehen. Auch dieses Mal hatten sich die Fußballfreunde nicht hier getroffen. Nicht, dass es Michael stören würde. Nach einem anstrengenden Tag wie dem heutigem, empfand er es als äußerst angenehm, dass sich keine grölenden, schreienden und mit dem Fernsehgerät zankenden Personen in der Wohnung befanden, deren Geräuschpegel man nicht zu senken vermochte. Und so ein Fußballspiel dauerte schließlich ganze 90 Minuten…
 

Andererseits wunderte er sich abermals, ob Tim und seine Freunde ihn einfach als störend empfanden. Wie ein klischeehafter Ehemann seine nörgelnde Ehefrau betrachtete, die sich (mit Lockenwicklern auf dem Kopf und einem massiven Nudelholz in der Hand) wiederholt darüber beschwerte, dass dem „Heinz“ sein Fußballgucken viel wichtiger war als ihre Ehe. Michael musste lachen. Jetzt verglich er sich auch noch mit einer fiktiven, frustrierten Ehefrau aus den 50ern. Wirklich, dieser Tag war in der Tat mehr als ermüdend.
 

Er durchquerte das geräumige, in Pastellfarben gehaltene Wohnzimmer in dem die dunkle Sofagarnitur deutlich hervorstach und betrat das Schlafzimmer, welches sie erst letztes Jahr renoviert hatten und von dessen Wänden nun ein Olivgrün matt das Auge erfreute. Eine Farbe die hervorragend zu den hellen langen Gardinen passte, die Michaels Mutter für sie genäht hatte. Auf diese Geste hatte sie bestanden. Und der Chefredakteur musste zugeben, dass seine Erzeugerin sehr viel handarbeitliches Talent besaß. Auch wenn sie bis vor kurzem eigentlich noch Geschichtslehrerin an einer Oberstufe gewesen war. Nun konnte sie endlich die Rente genießen und die Füße hochlegen. Armer Herr Papa… Er musste ihn bald mal wieder anrufen.
 

Barfuß und in einer leicht ausgewaschenen Jeans bekleidet schlenderte er in die Küche. Die Ärmel seines braunen Pullovers krempelte er einfach hoch und machte sich daran endlich die auf dem Wochenmarkt erstandenen Bio-Bärlauch-Spätzle zuzubereiten. Als er den Kühlschrank inspizierte, entschied er sich für eine Spinat-Sahne-Sauce.
 

Als Hobbykoch bezeichnete er sich ungern. Da er aber unheimlich gerne gut aß, hatte er sich über die Jahre das Kochen mühevoll beigebracht und machte von dieser Eigenschaft auch des Öfteren Gebrauch. Mittlerweile war er sogar richtig gut darin geworden. Und nach so einem unheilvollen Tag wie diesem, war ein leckeres Essen einfach das beste Heilmittel, welches er sich denken konnte.
 

Tim beschwerte sich auch nie, beseitigte sogar freiwillig das Chaos, welches Michael in der Küche hinterließ. „Mein Zauberkoch.“ So nannte er den Journalisten immer. Dieser Spruch stand ebenfalls auf einem Holzbrettchen, auf dem Michael gerade den frischen Spinat grob zerteilte. Tim hatte es ihm zu ihrem dritten Jahrestag geschenkt.
 

Ein warf einen Seitenblick auf die Uhr. Es war halb acht.
 

Michael beschleunigte seine Bewegungen und schaltete schließlich den Fernseher pünktlich zur Tagesschau ein. Ein wenig musste er schon über sich lachen. So wie manche es sich für einen Spielfilm auf dem Sofa bequem machten, tat er es mit den Nachrichten. Naja, ein guter Journalist musste eben immer auf dem Neusten Stand sein, ein Prinzip, welches ihm seit Beginn seines Studiums eingetrichtert worden war. Erfolgreich, wie man sehen konnte.
 

Sein Dinner schmeckte in der Tat ausgezeichnet und nachdem er mit seinem vollen Magen schnell das Schlachtfeld reinigte, zappte er sich durch das klägliche TV-Programm. Irgendwie war ihm gerade danach. Nach leichter, ihn berieselnder, gar schlechter Unterhaltung.
 

Eine Krimiserie, das immer noch laufende Spiel, eine weitere Krimiserie, Reality-TV. Germany’s Next Topmodel. Er seufzte. Das Format erwies sich als äußerst beliebt. Leider. Er war froh, dass in dieser Staffel keine Kandidatin aus seiner Stadt es in die Top 30, 20, 10 – wie viele Kandidatinnen waren jetzt eigentlich noch dabei?- geschafft hatte, ansonsten hätten sie das Heft mit dämlichen „Hintergrundinformationen“ und Highlights der laufenden Serie füllen müssen. Definitiv favorisierte er unter diesen Umständen den zehntausendsten R'n'B-Club auf der riesigen, sich ständig ändernden Partymeile…
 

Er beließ es schließlich bei der Krimiserie, deren Anfang er verpasst hatte und nun überhaupt keine Ahnung vom aktuell behandelten Fall hatte. Aber es war ihm egal. Michael war einfach nur müde und verspürte das Bedürfnis leicht sinnlos vor sich hin zu starren und seinen Kopf mit nicht wirklich seriösen Informationen füllen zu lassen. Nicht mal in der Werbepause schaltete er um.
 

Dann klingelte plötzlich das Telefon. Mühsam erhob er sich und wanderte zur Kommode.
 

„Zannert“, sprach er etwas leise in das Gerät hinein.
 

„Michael?“, ertönte die ihm so vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.
 

„Hey, Schatz!“, erwiderte der Chefredakteur, dessen Stimme plötzlich wieder von Vitalität geprägt war. „Wie geht’s dir? Kommst du bald nach Hause?“
 

„Äh, nein“, fing Tim an und lachte. „Ich wollte dir eigentlich nur Bescheid geben, dass ich wohl heute bei Mirko schlafe, denn… Seine kleine Anja heiratet! Sie hat grad hier angerufen, um ihrem liebsten Papa diese Nachricht mitzuteilen.“
 

Michael konnte laut zustimmende Rufe aus dem Hintergrund hören. Es waren wohl einige Personen mehr im Raum geworden. Mirko. Ein Arbeitskollege Tims. Er war über fast 50, hatte eine gescheiterte Heteroehe hinter sich, zwei Töchter und war nun schon seit fast drei Jahren mit Sascha zusammen. Mit ihnen gingen sie auch öfters mal zusammen Cocktails trinken, ein „Pärchenabend“, so nannten sie das ganze dann.
 

„Hey, das ist ja super! Gratulier dem Lieben mal von mir!“, sagte Michael und lächelte leicht. Aber auch ein wenig traurig. Eine Nacht ohne Tim. Und das nach so einem Tag.
 

„Ich muss los, Spiel wird grad spannend! Und wir müssen anstoßen!“, rief Tim in den Hörer, denn die Lautstärke des Fernsehers im Hintergrund wurde im selbigen Moment drastisch erhöht. „Ich wollte nur zeitig Bescheid geben, schlaf gut, wir sehen uns morgen.“
 

Damit legte Tim auf und Michael steckte das Gerät vorsichtig zurück in die Ladeschale. Er seufzte.
 

Hochzeit.
 

Von ihren Freunden war eigentlich nur ein Pärchen verheiratet. Naja. Eigentlich war es ja nur eingetragene Lebenspartnerschaft. So lautete schließlich der korrekte Terminus. Aber man konnte es, so träumerisch wie man war, auch Heirat, Hochzeit, Ehe nennen. Michael merkte, wie ihn leichte Röte ins Gesicht stieg und ihm irgendwie ganz mulmig wurde. Seichte Wärme breitete sich vorsichtig, und doch schneller als ihm lieb war, in seinem Körper aus.
 

Ob Tim und er jemals diesen Schritt wagen würden?
 

Bei der Formulierung dieses Gedankens wurde ihm leicht schwindelig und dieses Gefühl bestärkte sich nur noch durch das fiktive Bild von Tim und ihm selbst in eleganten Anzügen, einander anlächelnd, welches für eine Millisekunde in seinem Kopf auftauchte. „Oh, Mann...“, murmelte er vor sich hin, während er versuchte sich wieder auf die irgendwie noch immer nicht spannende Serie zu konzentrieren. Letztendlich entschied er sich vollends auf diese Art der Unterhaltung zu verzichten und knipste das große Gerät bestimmt aus.
 

Es wurde still. Von draußen drang leichter Vogelgesang und das Rauschen der ab und an passierenden Autos in die Wohnung.
 

Hochzeit.
 

„Oh, Mann...“, murmelte er erneut und schlenderte zurück ins Schlafzimmer, in dem er heute Nacht allein zurückbleiben würde. Ein seltsames Gefühl.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Gilbert. Wie konnte man sein Kind eigentlich mit solch einem altertümlichen Namen strafen? Naja, eigentlich sollte er sich ja gar nicht aufregen, sondern sollte sich freuen, dass es nicht sein erster Name war, sondern der seines Bruders - der Gott sei Dank fünf Jahre vor ihm auf die Welt gekommen war und die Obszönität der Eltern auf sich gelenkt hatte. Sein Bruder, nach dem er benannt worden war.
 

Gilbert Reinhardt Malert. Jade schüttelte sich vor Ekel. Ja, sein Bruder war gestraft.
 

Wobei Sebastian schlimm genug war. Für ihn jedenfalls.
 

Wann immer er diesen Namen ausgesprochen hörte, kamen Erinnerungen hoch. Dann konnte er die tiefe, brummende Stimme seines Vaters direkt an seinem Ohr hören. Die so oft hasserfüllte, oder von Enttäuschung durchtränkte Stimme des alten Firmenchefs, der nichts anderes als „nur das Beste“ für seine Söhne wollte. Nur leider war „das Beste“ das komplette Gegenteil von dem, was Jade wollte, was er sich wünschte. Was er sich erhoffte.
 

Und den Malerbetrieb seiner Erzeuger mit Gilbert zusammen zu übernehmen gehörte ganz sicherlich nicht zu seinen Plänen. Das hatte er bereits im Teenageralter gewusst, hatte es oft genug versucht seinem Vater weiß zu machen, der ihn geniert belächelte und ihm nichtssagend auf die Schulter klopfte und dann weiterhin Gilbert als wahrhaftigen Mann vor seinen Kunden und Verwandten anpries, einen „anständigen Kerl“, der brav und voller Enthusiasmus in die Fußstapfen des Vaters treten wollte.
 

Scheiß BWL-Student...
 

Gilbert hatte viele Freunde. Gilbert hatte Abitur. Gilbert durfte sogar Daddys Firmenwagen direkt nach seiner Führerscheinprüfung fahren. Jade musste lachen. Nein, ihn hätte sein Vater nicht mal in die Nähe des Wagens gelassen, nicht einmal heute, mit fast fünf Jahren Fahrerfahrung. Jade war „zu wild“ und zu „unreif“ einfach „ein Träumer, der zu spät merken würde, dass er in der Realität lebte“, wie sein Vater zu sagen pflegte.
 

Oder auch einfach nur „peinlich“. Wahrscheinlich blamierte er auch noch die ganze ach-so-tolle Familie. Mein Gott, war sein Alter damals ausgeflippt, als er am ersten Tag seiner Ausbildung mit einem Zungenpiercing nach Hause kam. Nun. Er hätte Jade einfach nicht zwingen müssen Industrie Kaufmann „werden zu wollen.“ Der Schwarzhaarige gluckste. Der Tag seines Ausbildungsbeginns war der Tag gewesen, an dem sein Vater ihm beinahe eine gescheuert hätte. Wobei der Unternehmer seine Wutausbrüche, die er wegen Jade erleiden musste, fast tagtäglich am Boxsack im Fitnesskeller auslebte, um seinen Sohn nicht durchgehend „fast“ eine zu kleben...
 

Aber der beste Tag, ja den „besten“ Tag erlebte Malert Senior als er mit seinem besagten Firmenwagen durch die Stadt fuhr – auf der Suche nach seinem jüngeren Sohn, der bereits seit drei Stunden hätte zu Hause sein müssen – und ihn mit einem Klassenkameraden knutschend an einer verlassenden Bushaltestelle entdeckte. Und dies war der erste Tag, an dem Rolf Malert seinen Sohn nicht anschrie. Nein, dies war der Tag, an dem er ihm, als sie zu Hause angekommen waren, eine schallende Backpfeife erteilte und ihn mit kalten Augen musterte.
 

„Sebastian Gilbert Malert“, hatte er ebenso kalt gezischt. „Du bist eine Schande. Du bist ekelhaft.“
 

Danach war der Schwarzhaarige bei der Erwähnung seines Namens innerlich zusammengezuckt, war in seine fiktive Welt der Rockmusik geflüchtet. Aerosmith. Guns'n'Roses. Metallica. Sepultura. Ja, das waren damals seine Bands, sein Universum, als er sich die Kopfhörer über die Ohren stülpte und die Realität versuchte auszublenden, die dröhnende Stimme seines Vaters zu übertönen. Die meiste Zeit, in der er zu Hause war, verbrachte er an den Bildschirm seines Rechners geklebt, eingetaucht in die Tiefen des sich immer weiter entwickelnden Internets, in Chatrooms, in Foren, nie allein, immer im Kontakt mit Gleichgesinnten, oder seinen Schulfreunden. Seinen Bekannten, mit denen er am Wochenende durch die Clubs und Bars der City in der Nähe zog.
 

Sie sprachen sich nie mit ihren richtigen Namen an, übernahmen die in den virtuellen Weiten des Netzes kreierten Namen. Dem Namen „Jade“, abgeleitet vom Aerosmith Hit „Jaded“, wurde mit einer völlig neuen Bedeutung für den Schwarzhaarigen geschmückt, er koppelte ihn gekonnt von seinem mittlerweile verhassten Leben ab, in dem sein Vater ihn zu seinem Glück bitterlich zwingen wollte, sein Bruder ihm nicht zur Seite stand und seine Mutter beschämt den Kopf Richtung Boden drehte und das bittere Treiben zu ignorieren versuchte. Er war nicht Sebastian. Er war Jade. Der lockere, das Leben genießende Typ, der alleine zurecht kam.
 

Er musste plötzlich dämlich grinsen, als er an seinen 18. Geburtstag dachte, an dem ihn seine damaligen Freunde einen wirklich heißen Stripper besorgt hatten. Sein Vater schmiss alle Gäste, samt des sich ausziehendes Mannes, laut brüllend und mit Hilfe der Polizei aus der Halle des Betriebs, in dem er Jade als „Friedensangebot“ hatte feiern lassen. Gilbert hatte versucht ihn am nächsten Tag mit Hilfe von Mami zu beruhigen. Und im all dem Wirrwarr hatte Jade seine Sachen gepackt und war zu, wie hieß er eigentlich noch mal, David oder so, abgehauen. Einem damaligen Freund. Einer kleinen Affäre.
 

Die Ausbildung hatte er auch geschmissen. Aus Trotz. Aus Hass. Aus Verachtung. Wahrscheinlich.
 

Die Ausbildung zum Hotelfachmann hatte ihm jedoch richtig Spaß gemacht. (Nicht nur, weil er sie sich selbst ausgesucht hatte.) Im Hotel zu arbeiten war ein toller Job gewesen, man konnte mit so vielen Leuten quatschen, so vieles Neues kennenlernen. Schade eigentlich, dass ihn seit damaliger Arbeitgeber nicht übernommen hatte. Und er durch die „starke Konkurrenz“ keine weitere Stelle gefunden hatte.
 

Jade schreckte beinahe auf, als Brummer plötzlich aufs Bett sprang und anfing ihn zu beschnuppern. Behutsam fing der Barista an ihn zu streicheln. Und seufzte.
 

Danach hatte er echt beschissene Jobs gehabt. In der Waschanlage, McDonald's, REWE. Vielleicht war es doch gar nicht so blöd gewesen diese Kurse zu machen und nun bei Starbucks zu arbeiten...
 

„Aber das ist doch kein richtiger Job!“, sagte Brummer und starrte sein Herrchen an.
 

Jade rieb sich die Augen. Brummer starrte ihn immer noch an, hob die langen löffelartigen Ohren als der Schwarzhaarige sich aufsetzte. OK. Jetzt hörte er schon sein eigenes Riesenkaninchen sprechen. Was für ein Tag.
 

Er erhob sich und schlenderte zu seinem total überladenen Schreibtisch hinüber, versprach sich ein weiters Mal „schon sehr bald“ hier aufzuräumen, wenigstens die etlichen benutzten Kaffeetassen und Teller in die Küche zu bringen, zu spülen, und Staub zu wischen. Schon sehr bald. Aber nicht jetzt. Verdammt, jetzt surfte er schon wieder auf MySpace rum und betrachtete das Gesicht seines Ex-Freundes auf den etlichen, zur öffentlichen Schau gestellten, digitalen Bildern, die Mark mal lachend, mal ernst schauend, mal im Anzug, mal im Partyoutfit darstellten.
 

Er zuckte fast zusammen, als er den Alert über ein „neues Album“ erblickte. Mit einem geübten, schnellen Handgriff klickte er sich bereits durch die brandneuen Fotos, auf denen Mark nicht allein zu sehen war. Und hätte er sich wirklich wundern sollen? Hätte sein Herz wirklich so laut und schnell schlagen müssen? Sie waren seit einem Jahr nicht mehr zusammen, er konnte von seinem Ex-Freund nicht verlangen für immer Single zu bleiben, sich für immer nach der gemeinsamen Zeit mit ihm, mit Jade, zu sehnen.
 

Auch wenn es ihm so momentan lieber gewesen wäre.
 

Der Typ neben Mark war groß, breitschultrig, besaß eine fein gestochene Tättowierung auf dem linken Oberarm, dunkle Augen. Ein wahrhaftiger Blickfang.
 

Er musste hier raus. Bald würde auch noch diese Jana hier sein. Das würde er nicht ertragen können. Raus. Jetzt sofort. Umgehend schnappte er sich sein Telefon und wählte Dirks Nummer.
 

MICHAEL
 

Waren es Stunden, oder waren Minuten? Waren es vielleicht nur Sekunden, in denen er völlig wach da lag und die mittlerweile dunkle Decke über sich anstierte? Er konnte diese Frage nicht beantworten. Nur über eines war er sich sicher: Alleine schlafen, das war ein hartes Unterfangen. Auch wenn er sich momentan ziemlich, wie hätte man sagen können, „peinlich“ vorkam. Wie ein Frischverliebter 16-Jähriger, der nach der jungfräulichen Zeit der Zweisamkeit nun plötzlich von seiner zweiten Hälfte getrennt war, sich nach nichts anderem, außer der Wärme seines Partners sehnte und die Gedanken an die geliebte Person der Müdigkeit den Weg versperrten.
 

Heiraten...
 

Dieses kleine, einzelne, eigentlich doch so völlig harmlose Wort schien seinen Kopf an diesem Abend nicht mehr verlassen zu wollen.
 

Tim...
 

SEBASTIAN/JADE
 

Egal was für ein Wochentag es war, oder wie spät, wie früh. Wenn er gebraucht wurde, dann war Dirk zur Stelle. So wie jetzt, hier, in der so oft aufgesuchten Kneipe, an Jades Seite, mit einem kalten, frisch gezapften Bier in den Hand, das bei den schwungvollen Bewegungen der beiden drohte über den dicken Rand des massiven Glases zu schwappen und den Boden der Tanzfläche noch ein wenig klebriger zu machen.
 

„Funky Thursday“. Sie hatten die Happy Hour auf ihrem Höhepunkt erwischt. Zwei Getränke zum Preis von einem. Hätte man glücklicher sein können? Der bittere, und doch so schmackhafte Trank, verschaffte Jade Genugtuung, vertrieb die Anspannung, heiterte ihn auf, ließ die Musik lauter und intensiver auf seinen Körper wirken.
 

Er spürte den durchdringlichen Blick auf seiner Haut fast sofort.
 

Graziös drehte er sich in seinem Tanz um die eigene Achse und nahm den am Rand stehenden und ihn interessiert betrachtenden, jungen Mann in Augenschein. Ließ seine Augen über die wild frisierten, knallroten Haare wandern, blickte in die stechenden blauen Augen, wanderte über die zu einem Grinsen geformten Lippen und blieb einige Momente an der deutlich sichtbaren, muskulösen Brust hängen.
 

Er tanzte weiter. Und das Zuzwinkern Dirks bestätigte seine Annahme.
 

Als er sich nach einer Weile umdrehte, starrte der Typ ihn noch immer an. Jade grinste den Fremden nun offen an.
 

„Geh ruhig, ich hab Max hier irgendwo gesehen“, rief Dirk ihm plötzlich zu und verabschiedete sich mit einem leichten Winken, verschwand in der tanzenden Menge. Jade schaute den ihn immer noch musternden Fremden intensiv an. Der Typ sah sogar besser aus als Marks neue Flamme, oh ja. Mit sicherem Schritt, und sich immer noch leicht lasziv zu der Musik bewegend, ging er auf den Rotschopf zu.
 

„Na, Pumukel“, grinste er den Fremden keck an.
 

„Willst du was trinken, Gogo-Girl?“, kam die freche Antwort zurück.
 

Perfekt.
 

Nach einem Sex on the Beach verklangen ihre belanglosen Gespräche, die man mit anbetungswürdigen Fremden in lauten, dunklen Clubs mitten in der Nacht so zu führen vermochte und am nächsten Tag bereits vergessen hatte. Jade packte die aggressiv roten Strähnen des Mannes und zog ihn in einen heißen Kuss, leckte leicht über die leicht geschwollen wirkenden Lippen, die willig gespreizt wurden, um ihren Zungen Raum für einen wilden Tanz zu spenden.
 

Der Fremde, der Dominik oder David hieß, zog Jade mit seinen ebenfalls muskulösen Armen noch näher an sich heran. Auch seine Hand verfing sich in der schwarzen Mähne. Jade stöhnte in den Kuss hinein und ließ seine Hand unter das enge T-Shirt von Dominik (oder David) wandern, krallte seine Finger leicht in die verschwitzte Haut des Mannes und erntete somit ebenfalls ein leichtes Seufzen.
 

Ihre Zungen kämpften gegeneinander. Immer weiter pressten die jungen Männer sich aneinander. Berührten sich. Auch die Hand des Fremden war nun unter den Jades Stoff gewandert, streichelte seine nackte Haut, während er ihm ebenfalls den Nacken kraulte. Als sie den Kuss kurz lösten, um zu Luft zu kommen, flüsterte Jade dem Mann heiser ins Ohr: „Ich hab Lust auf dich...“
 

Der Angesprochene nickte kurz und biss dann in den Hals des Schwarzhaarigen, der daraufhin genüsslich die Augen schloss. Dass er in weniger als vier Stunden bereits wieder aufstehen müsste, war ihm in diesem Moment egal. Dass dies höchstwahrscheinlich eine weitere Dummheit in seinem Leben war - auch. Dass er die ganze Zeit, während ihn die Hände im Club berührten, an Mark dachte - nicht so. Und als er sich in einem Moment, in dem es sich wild in seinem Kopf drehte und der Fremde ihn innig küsste, als sie sich dem Akt in Jades Bett hingaben, als er sich dann vorstellte, es sei Michael mit dem er es gerade treiben würde – kam er.
 

Scheiße.

Aspirin

MICHAEL
 

Michael blickte auf die Uhr. Die in der Dunkelheit leuchtenden Ziffern verrieten ihm, dass es kurz nach Mitternacht war. Der Journalist seufzte und drehte sich zur Abwechslung auf die andere Seite. Immer und immer wieder hatte er sich nun seit gut einer Stunde hin und her gewälzt, ohne auch nur für eine einzelne Minute in den beruhigenden Schlaf abzudriften. Es erschien hoffnungslos.
 

Als ihm die Uhr ins Gesicht schmetterte, es sei bereits kurz vor Eins, stand er mit einem lauteren Seufzer auf und begab sich, barfuß wie er war, in die Küche. Ohne das Licht einzuschalten. Er liebte es, wenn das Mondlicht allein ihm den Weg erhellte. Das silberne, leicht matte Leuchten hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Alles sah dann aus, als wäre es einem Traum entsprungen. Die Möbel verloren ihre scharfen Konturen, Vorhänge erschienen lebendig, die das Mondlicht reflektierenden Objekte glichen funkelnden Sternen.
 

Es war die nun grell wirkende interne Lampe des Kühlschranks die ihn für einen kurzen Augenblick blendete, als er nach der Saftpackung griff und sich ein Glas einschenke. Orangensaft, 100% Fruchtanteil. Gierig schluckte er die kühle, süße Flüssigkeit hinunter, stillte seinen bis jetzt völlig ignorierten Durst, blickte leicht in Gedanken versunken aus dem Fenster. Er war überhaupt nicht müde. Großartig... Wie er schlaflose Nächste hasste. Ruhelose Nächte, die ihre Rache, ihre Auswirkung, am kommenden Tag ausleben würden.
 

Still tapste er hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich auf dem bequemen, dicken Polster des Sofas nieder, lehnte sich zurück und knipste, die Fernbedienung benutzend, das Radio an. Chillnight. Sehr gut. Mit geschlossenen Augen ließ er die vor sich hin klimpernde Musik auf sich einwirken. Doch auch eine Viertelstunde dieser „Behandlung“, und der ihn dazu noch umgebenden Dunkelheit und leichten Kühle, ließ die Müdigkeit nicht eintreten. Und schließlich kehrten seine Gedanken zu dem Gefühl zurück, welches ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte. Tim. Heirat. Liebe. Sehnsucht.
 

Was Tim wohl gerade machte?
 

Michael stellte sich seinen Lebensgefährten auf einer großen Tanzfläche vor. Oder lachend vor dem Fernseher. Dann wieder locker und lässig mit einer Bierflasche in der Hand, sachte zur Musik mitwippend. Sein Freund war aus dem Diskoalter nie herausgekommen. Michael musste leicht grinsen. Er war froh, dass Tim so viele Freunde und Kollegen gefunden hatte, die seine Begeisterung teilten, die ihn des Öfteren begleiteten, wenn Michael die Kraft dazu fehlte. Es war ja nicht so, dass der Chefredakteur nicht gerne ausging. Aber... Disko war ihm ab und an schlicht und einfach zu laut. Geschweige denn ein Fußballstadion... Stress hatte er genug in seiner Führungsposition. Am Wochenende wollte er dann einfach öfters mal, wie sagte man heutzutage, chillen...
 

Sich zurücklehnen und den Abend bei einem angenehmen Film ausklingen lassen. Oder sich in einem Wellness-Hotel so richtig verwöhnen lassen. Inklusive eines riesigen, Gourmetdinners. Schon allein die Vorstellung daran ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Verdammt. Jetzt hatte er doch tatsächlich Hunger. Er sprach sich zu, diesen zu unterdrücken. Viel zu spät war es, um jetzt noch gierig denn Kühlschrank zu plündern. Und ein voller Bauch würde den Schlaf nur noch weiter hinauszögern. Und sein Körper brauchte diesen dringend...
 

Michaels Blick wanderte unbewusst zu der Tür, welche zum Flur führte. Er dachte an das Telefon, das nur einige Schritte von ihm entfernt in der Ladeschale steckte. Widerwillig erhob er sich und ging zu der Kommode, hob das Gerät auf und wählte die ihm wohlbekannte Nummer fix. Lauschte.
 

Tuuut. Tuuut. Tuuut.

Rauschen.

Und dann ertönte die charmante Stimme der unbekannten Frau, die ihm mechanisch mitteilte, dass er Inhaber des Handys nicht erreichbar sei, Michael ihm nach dem Piepton aber gerne eine Nachricht hinterlassen konnte. Nach einer Weile versuchte er es erneut. Und abermals durfte er sich die weibliche, auf Band aufgenommene Stimme anhören. Beim dritten Versuch entschied er sich, ihren Anweisungen zu folgen.
 

„Hallo Tim“, sprach er umgehend nach dem grässlichen Piepton in den Hörer. „Ich kann nicht schlafen und wollte eigentlich nur hören, wie es dir geht. Aber anscheinend ist die Musik wohl zu laut, oder ihr schlaft schon. Wobei ich nicht an letzteres glauben kann. Ich wünsche dir noch viel Spaß für heute Abend, meld dich doch einfach kurz, wenn du morgen wieder daheim bist, dann kann ich dich ja anrufen.“
 

Der erneute Piepton schnitt ihm das Wort ab. Auch gut. Er wollte seinem Lebensgefährten schließlich nicht die Box voll quatschen. Oder doch?
 

Mit langsamen Schritten bewegte er sich zurück in das so leer wirkende Schlafzimmer und legte sich erneut ins Bett. Er griff in die Schublade des Nachtschränkchens und holte einige Baldrianpastillen heraus. „Wehe, ihr helft mir nicht...“, murmelte er der leblosen Medizin zu, die er mit einem kräftigen Schluck Wasser zu sich nahm und danach die Augen schloss.
 

Der Schlaf ließ noch lange auf sich warten.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Er war sich gar nicht so sicher, ob es sein Wecker, oder doch eher das beständige Pochen in seinem Kopf war, das ihn in diesem Moment aufweckte. Widerwillig versuchte er seine Augen, die sich wie Steine anfühlten, zu öffnen. Blinzelte leicht, als das matte Licht des Morgens durch das Fenster drang. Brummer scharrte im Käfig, versuchte wahrscheinlich wieder ein Loch durch das Plastik zu buddeln. Ein sinnloses Unterfangen, welches das Kaninchen fast tagtäglich aufs Neue unternahm. Vielleicht würde es ihm ja doch eines Tages gelingen, mit diesen riesigen Pfoten, da konnte man sich wirklich gar nicht mal so sicher sein.
 

Jade beugte sich über den nackten Körper neben sich und schaltete das fiese Ringen gekonnt ab. Ihm war schwindelig und er stöhnte genervt auf, musste sich an den Kopf fassen, als er sich aufsetzte und seitlich gegen die kalte Wand lehnte. „Scheiße, du hättest mich vorwarnen können, dass du heute so früh raus musst“, ertönte eine Stimme neben ihm, die er im ersten Moment gar nicht zuordnen konnte. Jade blickte den Typen an. Seine roten Haare lagen nun platt an seiner Kopfhaut, klebten fast an ihr. Seine Augen wirkten verschlafen, hatten aber immer noch dieses aufreißerische Leuchten, als der Kerl ihn so anblickte.
 

„Frühstück? Oder Gehst du so?“, fragte Jade seinen Bettgenossen der letzten Nacht und stand auf. Die Tatsache, dass er immer noch nackt war kümmerte ihn wenig. Geruhsam fing er an seine Sachen zusammen zu suchen. Für eine Dusche war keine Zeit mehr, zu knapp hatte er sich den Wecker gestellt. Wie immer...! Hinter sich hörte er David (oder Dominik) sich aufrichten. Er spürte, dass ihn der Rothaarige innig betrachtete.
 

„Ist was?“, fragte Jade und drehte sich um.
 

„Ach...“, sagte der Fremde seufzend und stierte den immer noch entblößten Körper Jades an. „Du siehst auch am Morgen ziemlich scharf aus...“
 

„Denk ja nicht, dass jetzt noch ne Extrarunde kommt!“, fauchte der Schwarzhaarige schon fast und schlüpfte eilig in seine Boxershorts.
 

„Schade“, lautete die etwas ironisch formulierte Antwort, nach der sich der Rothaarige ebenfalls erhob und anzog. Währenddessen schritt Jade, nun völlig angezogen, in die Küche und setzte Kaffee auf, fütterte den Toaster und stellte die wenigen Sachen, die er im Kühlschrank auffand, auf den Frühstückstisch. Schnell versuchte er seine Haare irgendwie zu bändigen und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Es half nicht. Er sah immer noch scheiße aus. Der Schwarzhaarige seufzte und begab sich wieder in die Küche, in der Dominik (oder David) bereits am Küchentisch saß und friedlich seinen ersten Toast aß. Schweigend gesellte Jade sich dazu. Schweigend aßen sie zu Ende. Schweigend räumte der Barista auf, schnappte sich seine Tasche und führte David (oder Dominik) bis vor die Tür. Er hasste diese peinlichen Momente eigentlich.
 

„Danke für die nette Nacht“, sagte der Rothaarige schließlich und lächelte ihn leicht an. „Allerdings heiße ich nicht Michael. Sondern Robert.“ Der Fremde zwinkerte ihm noch einmal zu. Dann drehte er sich um und schlenderte den Weg zur Bushaltestelle fast schon lässig hinunter.
 

„Ach, du heilige Scheiße...“, murmelte Jade zu sich selbst, als er die Wagentür aufschloss und sich den in Golf setzte. „So eine Scheiße...“, wiederholte er als er die breite Straße zum Zentrum entlangfuhr. „Scheiße!“
 

Er schaffte es gerade noch so die Filiale zu betreten. Ali warf ihm einen leicht genervten Blick zu und Katja verdrehte die Augen ein wenig, nachdem sie ihn gemustert hatte. Die zwei weiteren Schicksen, die Jade nicht kannte, sagten einfach gar nichts, blickten ihn einfach nur etwas zu neugierig an. Mann, Mädchen konnten ihre Gefühle wirklich noch nie gut verstecken...
 

„Lange Nacht gehabt?“, fragte ihn Ali, als die beiden und Tanja, Schickse Nummer 1, an der Reihe waren die Bestellungen so eilig es ging zuzubereiten.
 

„Nein, ich wollte heute einfach mal scheiße aussehen, damit du dich hier endlich mal so richtig hübsch fühlen kannst“, lautete die leicht bissige Antwort.
 

„Ha ha ha“, witzelte der Abiturient und servierte eine Vanilla Latte mit einem Extraschuss Hazelnutsirup. „ICH hab ne Freundin, und das schon seit einem Jahr...“, fügte er dann ebenfalls etwas bissiger zu.
 

„Wie wunderschön. Ich hätte auch gern eine“, entgegnete der Schwarzhaarige spöttisch, woraufhin Ali die Augen nun verdrehte.
 

„Ach, also bei dem Problem kann ich dir sicherlich helfen“, scherzte Tanja, die den beiden die aufgeschäumte Milch hinstellte und blickte Jade herausfordernd an. Der Angesprochene grinste sarkastisch und antwortete mit fester Stimme: „Sorry kleines Starbuckshäschen, aber ich steh auf Schwänze.“
 

Ali musste ein Kichern unterdrücken, als er das Gesicht Tanjas beobachtete, während das Mädchen Jade beim Kaffeekochen mit weiten Augen zusah. Katja verdrehte an diesem Morgen bereits zum zweiten Mal die Augen und schüttelte etwas frustriert und ebenfalls belustigt den Kopf.
 

MICHAEL
 

Ihm blieben noch zehn Minuten, noch zwei Schlücke Kaffee und drei Bissen von dem Vollkorncroissant mit Frischkäse. Erneut blickte er auf das Display seines Handys, wartete vergeblich auf eine Vibration, auf das Erscheinen des kleinen, gelben Briefumschlages. Michael schüttelte den Kopf. Wann war er eigentlich so anhänglich, so süchtig geworden? Es war gerade erst kurz vor halb acht. Natürlich schliefen die Männer noch. Wieso verhielt er sich momentan so naiv?
 

Er steckte das Gerät in seine Brusttasche und räumte schnell den Tisch ab. Griff nach seinen Schlüsseln und machte sich auf den Weg. Es war Freitag. Freitage waren gut. Freitage sagten gleich zwei vollkommen freie Tage für Michael an. Keine Redaktion. Keine Praktikanten. Keine pausenlosen Anrufe. Nein, nicht an diesem Wochenende. Und die große Dinnerparty, die würde er dann am Montag zu Ende planen.
 

Alle Veranstaltungen des Wochenendes waren besetzt, die Themen für die nächste Ausgabe bereits geplant. Nein. Dieses Wochenende hätte er komplette Ruhe. Und allein diese Aussicht ließ in gelassen in den Alltag starten, ließ in gelassen seinen Wagen parken und ebenso gelassen die Redaktion betreten. Und siehe da! Diese Gelassenheit ließ ihn während seines ganzen Tages nicht im Stich.
 

Fast schon zu ruhig war es, so empfand Michael es jedenfalls. Aber dieses Gefühl, eine Empfindung nach einem massiven Block des Stresses, war normal. Angenehm, sehr angenehm, aber dennoch normal. Was nicht hieß, dass Michael es nicht genießen durfte.
 

Und das Glück schien tatsächlich immer noch auf seiner Seite zu sein, als er in seiner Pause der Gewohnheit halber Starbucks aufsuchte und sich seinen regulären venti triple Caffé Mocha, mit einem Spritzer Vanillesirup und fettarmer Milch bestellte. Bei einer netten, jungen Frau die Tanja hieß und ihn zwar keck angrinste, aber keinerlei dummen, primitiven, ordinären Kommentar von sich gab. In seliger Ruhe trank er seinen Kaffee, genoss jeden noch so kleinen Schluck. Sein schwarzhaariger Stalker war nirgendwo zu sehen. Eine wahrhaftig himmlische Erkenntnis.
 

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schritt er aus der Filiale und erkannte, dass er noch um die zehn Minuten Zeit hätte. Michael entschied sich für einen kleinen Schaufensterbummel. Doch als er auf die große Drogerie zukam, überkam ihn der Gedanke, der Wunsch nach einem langen und ausgiebigen Bad. Zu zweit...
 

Wie lange hatten sie schon nicht mehr zusammen gebadet? Der Journalist wollte erst gar nicht daran denken, ging bereits durch die Regale, gewillt wundervoll duftendes, entspannendes Schaumbad zu ersteigern, vollkommen von diesem romantischen Gedanken gesteuert, gar geblendet.
 

Er sah sein Gegenüber gar nicht um die Ecke biegen, stieß frontal mit dem Mann zusammen und brachte, sofort als er sein Fauxpas erkannte, ein lautes „Entschuldigung!“ heraus und beugte sich herab um die von der angerannten Person heruntergefallene Packung Aspirinpackung aufzuheben.
 

Er blickte in müde, und dennoch unheimlich dunkle Augen, die ihn anstarrten.
 

Jade.
 

„Macht nichts, Herr Zannert. Ich steh heute auch neben mir. Ich brauche wohl noch mehr Kaffee“, entgegnete der Barista. Und noch bevor Michael auch nur irgendetwas Gescheites antworten konnte, wünschte der Schwarzhaarige ihm noch ein „angenehmes Wochenende“ und eilte mit der riesigen Packung der Schmerztabletten zur Kasse. Der Journalist stand noch einige Minuten sprachlos im Gang, bevor ihm erneut einfiel, weswegen er das Geschäft eigentlich betreten hatte. Leicht verwirrt suchte er sich ein Kamilleschaumbad aus und kaufte dazu auch gleich noch eine Flasche Champagner.
 

Als er in der Schlange stand, war es ihm möglich die Starbucksfiliale zu überblicken. Er betrachtete Jade, der mit seinem üblichen, auch wenn heute etwas gequält daherkommenden. Grinsen die Kundschaft bediente und in der Tat schmackhaften Kaffee zubereitete. Eine Tätigkeit, die wohl das einzig Positive an dieser Person darstellte...
 

Michael fragte sich, warum er nicht gerade einen dieser blöden Anmachsprüche and den Kopf geworfen bekommen hatte. „Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.“ Wer hätte gedacht, dass der Bursche auch normale Sätze formulieren konnte? Ohne sich dabei mit seinem dämlichen Grinsen und Augenzwinkern zu blamieren?
 

Es war wieder Zeit in die Redaktion zurück zu kehren.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Verdammt! Er sah heute so unfassbar scheiße aus und dann läuft ihm auch noch MICHAEL über den Weg! Gegen ihn! In der Drogerie! Und er hat diese Monsterpackung ASPIRIN in der Hand! Die Augenringe und das fettige Haar hatten wirklich ALLES gesagt. Oh Mann, wie er sich in diesem Moment hasste!
 

Und doch... Dieser kurze, minimale Körperkontakt hatte sich so wundervoll angefühlt, dieser einzelne Schuss Wärme, so heiß, und dann diese tiefe Stimme noch dazu, die ein „Entschuldigung“ gebrummt hatte. Und der Kerl hatte sogar seine Medizin für ihn aufgehoben! Mit einem knallroten Kopf rannte Jade zur Kasse, rannte zurück zu seinem Arbeitsplatz und verschwand, trotz der nicht zu überhörbaren Proteste seiner Kollegen, zunächst im hinteren Teil des Ladens, nahm die Aspirin zu sich und versuchte sich zu beruhigen, einen klaren Kopf zu bewahren.
 

Vergeblich.
 

Er musste es sich erneut eingestehen. Er war bis über beide Ohren verknallt. In Michael Zannert. Einen Mann, den er nicht mal wirklich kannte. Einen Mann, dessen Antlitz er fast tagtäglich auf Papier gedruckt betrachtete. Einen Mann, mit dem er noch kein einziges Gespräch geführt hatte. Einen Mann, der ihn wahrscheinlich unausstehlich fand.
 

Er war ein hoffnungsloser Fall. Wie sollte das bloß weitergehen? Wie sollte das bloß gut gehen?
 

Er brauchte definitiv noch eine Aspirin…
 

MICHAEL
 

Noch immer hatte er keine Antwort erhalten. Es war kurz vor 17 Uhr. In wenigen Minuten würde er die Redaktion verlassen können. Das bereits fünfte Mal wählte er die eigene Festnetznummer. Und erneut nahm niemand ab. Langsam machte sich ein ungutes Gefühl in ihm breit. Michael versuchte dennoch irgendwie Ruhe zu bewahren. Atmete tief ein und aus, als er zu seinem Wagen lief und die alte Lady sicher nach Hause brachte, die Treppenstufen bis zur Wohnung in Eile gleich doppelt nahm und mit leicht zittriger Hand die Wohnungstür aufschloss.
 

„Tim?“, rief er, als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen hörte. Doch er bekam keine Antwort. Seufzend legte er die eben noch eilig aus dem Briefkasten gefischte Post auf die Kommode. Da fiel sein Blick auf einen relativ dicken Umschlag.
 

Oh, nein! Nicht schon wieder. Hatte ihm jemand erneut aus Versehen eine Pressemappe nach Hause geschickt und nicht an die Redaktion? Oder erneut Bewerbungsunterlagen, die er einsehen sollte? Ein wenig verärgert zog er den Umschlag aus dem beträchtlichen Stapel heraus und wollte ihn geradewegs aufreißen, als sein Blick auf die Adresse fiel.
 

Das dicke Schreiben von KPMG, Standort München, einem Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen, war nicht an ihn adressiert.
 

Sondern an Tim.
 

„Micha“, ertönte plötzlich die Stimme seines Lebensgefährten hinter ihm.
 

Der Chefredakteur drehte sich um.

Wohin du gehst

MICHAEL
 

Die dunklen Augen seines Lebensgefährten betrachteten ihn fast schon ein wenig müde, fast schon ein wenig traurig, blieben an dem ungeöffneten Umschlag für eine Weile heften, wonach sie den Boden anvisierten und Tim sich schweigend seiner Jacke und Schuhe entledigte.
 

„Tim?“, fragte der Chefredakteur und hob seine Hand leicht, deutete auf das gut bepackte Kuvert, welches seine Finger immer noch umklammerten. Hätte Michael seine Gedanken, die sich in diesen Momenten in seinem Innern breit machten, beschreiben müssen, er hätte keine passenden Worte gefunden.
 

Verwirrung? Überraschung? Antizipation? Angst? Verwunderung? Neugierde? All das waren passende Wörter, Hüllen für die sich dahinter verbergenden Gefühle, die man doch eigentlich niemals kategorisieren konnte. Einen Text emotional zu gestalten, ja, das hatte er von Profis beigebracht bekommen. Das konnte er. Doch sein momentanes Seelenleben zu beschreiben, dieses Unterfangen hätte man auch spitz mit dem Schlagwort „Unmöglichkeit“ beschriften können.
 

Michael kannte Tim in- und auswendig. Und das Verhalten, welches ihm sein Freund jetzt demonstrierte, war beunruhigend. Der Mann mit den Locken hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen. Und was genau dies war, das wollte Michael so schnell es ging herausfinden.
 

„Wie geht’s dir überhaupt?“, fragte er vorsichtig und legte den Umschlag zurück auf die Kommode. Umgehend griff Tim danach und blickte dem Journalisten in die Augen, es war ein Blick den Michael nicht deuten konnte.
 

„Ein bisschen müde vom feiern“, setzte sein Lebensgefährte an und schaute sich den Brief nun genauer an, runzelte die Stirn leicht und seufzte schließlich. Er ließ seine Schultern sacken und kehrte Michael den Rücken zu, ging hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich mit einem weiteren Seufzer auf das Sofa. Michael war im Türrahmen stehen geblieben und betrachtete ihn ruhig. Wartete. Erneut blickte Tim in ihn an und strich sich dann unsicher durchs eigene Haar, schloss seine Augen kurz. Eine unangenehme Stimmung machte sich breit, als hätte sie ein eiskalter Wind durch ein zu weit geöffnetes Fenster urplötzlich hinein getragen. Und nach längerer Zeit wurde der Satz, auf den Michael die ganze Zeit über gewartet hatte, artikuliert.
 

„Wir müssen reden“, sprach Tim mit ernster Stimme, als seine Hände unsicher seine eigenen Knie umfassten und er den Journalisten ebenso ernsthaft anblickte. Michael folgte der nicht ausgesprochenen Einladung und nahm auf dem etwas kleineren Sofa platz, saß seinem Freund somit nun schräg gegenüber und fühlte sich, wie er sich eingestehen musste, in seiner eigenen Haut nicht wirklich wohl in diesem Augenblick.
 

Eine unbehagliche Stille legte sich. Michael verdrängte die wilden Gedanken, die in einem turbulenten Tempo durch seinen Kopf rauschten. Unausgesprochene Ängste, welche ihm fremde Stimmen in seinem Innern plötzlich laut und hemmungslos entgegen schrien. All das versuchte er zu unterdrücken, blickte Tim starr an, lachte sich selbst ein wenig aus. Wie viele solcher „ernsthaften“ Gespräche hatten sie schon hinter sich gelassen? Sie waren erwachsen. Sie waren reif. Sie waren intelligent. Sie waren keine Teenager, die bei jedem noch so kleinen, zweideutigen Satz bereits das Ende der Welt vor sich erblicken konnten.
 

Und irgendwie war ihm doch mulmig zu Mute. Und das schon den ganzen Tag. Die ganze Nacht.
 

„Micha…“, setzte Tim letztendlich an. „Hey, ich weiß echt nicht, wie und wo ich anfangen soll.“
 

„Wie wäre es denn mit dem Anfang?“, versuchte der Journalist zu scherzen und brachte damit tatsächlich ein kleines Lächeln auf Tims Gesicht zustande. Ein Lächeln, welches so schnell wieder verschwand, wie es überhaupt aufgetaucht war.
 

„Ich weiß gar nicht, wo der Anfang ist. Und ob das ganze überhaupt ein Ende hat und…“, Tim lacht etwas kalt auf und blickte den Tisch starr an. „Das wird jetzt…“, er brach ab, lehnte sich frustriert gegen das Sofa und blickte seinen Lebensgefährten an.
 

„Ich höre dir zu…“, brachte Michael heraus und betrachtete seinen Freund innig.
 

„Micha, ich…“, fing Tim erneut an und holte zunächst tief Luft. „Der Umschlag. Der ist für mich“, sagte er und öffnete das mitgebrachte Objekt nun vor Michaels Augen, holte einige Prospekte und wichtig aussehende Papiere heraus. „Ein potenzieller Arbeitsvertrag“, erklärte er.
 

Michael setzt zu einer Antwort an, doch Tim unterbrach ihn.
 

„Ich habe ihn angenommen. KPMG ist eine große, internationale Firma. Die wollen mich. Und zwar nicht als dummen Elektrik-Meister“, erneut schaute er Michael in die Augen, der still da saß und seinem Freund versuchte zu folgen. „Sondern als Wirtschaftsingenieur.“
 

„Was?“, platzte es verwundert aus Michael heraus.
 

Tim rückte näher an die Sofakante heran, während er weiter erklärte: „Ich wollte dir eine Überraschung machen. Ich… Ich hab die Fernuni gemacht. Du weißt doch, der Meister ermöglicht es einem, einige Fächer zu studieren, ohne vorher die ganze Abendschulegeschichte durchzukauen… Und ich hatte mir gedacht… Ich wollte dich stolz machen. Mich selbst natürlich auch. Ich wollte etwas erreichen, ich wollte es mir selbst beweisen. Ich hab den Abschluss jetzt in der Tasche.“
 

„Aber das ist doch großartig!“, fiel Michael seinem Freund ins Wort, lächelte Tim an, freute sich über diesen riesigen Schritt, den sein Lebenspartner gegangen war. Und er wunderte sich ebenfalls. „Aber, wieso hast du mir nichts gesagt??? Wie hast du das geschafft geheim zu halten? Ich hab wirklich nicht mitbekommen!“
 

Tim lächelte leicht und betrachtete seine eigenen Hände. „Ich war nicht immer mit meinen Freunden unterwegs, oder im Fitnessstudio“, erklärte er ruhig. „Außerdem kommst du oft genug erst spät abends nach Hause, da hatte ich immer genügend Zeit meine Hausarbeiten zu schreiben und zu lernen.“
 

„Und die Bücher? Ich meine, ich hab nie welche hier gesehen!“
 

„Alle im Keller. Da guckst du ja eh nie rein“, Tim grinste leicht, setzte umgehend jedoch wieder eine ernste Miene auf.
 

Michael hob die Unterlagen vom Tisch auf und studierte sie kurz. „Das ist wirklich eine große Firma und eine wundervolle Position, die du mit deinem Abschluss haben wirst.“ Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass der Umschlag aus München stammte. Er runzelte die Stirn. „Aber… München?“ Sein Kopf fing direkt an zu arbeiten. „München ist definitiv eine Medienstadt, da finde ich sicherlich schnell einen Job, und wenn’s für ein erbärmliches Online-Magazin wäre, Print, Online, Audio. Was spielt das schon für eine Rolle. Ich denke…“
 

„Nein“, unterbrach Tim ihn schroff, ohne Michael dabei anzusehen.
 

„Nein?“, fragte Michael und grinste etwas belustigt, wollte gerade mit seinen Erklärungen der Medienwelt fortfahren, da fuhr sein Lebensgefährte bereits fort.
 

„Ich will nicht, dass du mitkommst“, sagte er.
 

Stille.
 

Michael verstand nicht, fragte sich, ob der Satz, den Tim gerade von sich gegeben hatte, ernst gemeint war. War es vielleicht nur sein Streich seiner Vorstellung gewesen? Hatte er sich die ausgesprochenen Worte nur ausgedacht? Oder würde Tim jetzt einfach anfangen zu lachen, ihn kameradschaftlich gegen die Schulter boxen und mit seiner süßen Stimme sagen „Hey, das war doch nur Spaß!“…?
 

Nichts dergleichen geschah. Tim hob seinen matten Blick vorsichtig und schaute Michael an, der sich nicht bewegen konnte, der etwas sagen wollte, doch auch an dieser Aufgabe scheiterte.
 

„Ich…“, setzte der Mann mit den Locken an. „Mann, ich weiß auch nicht, wie ich dir das alles erklären soll, ohne dabei wie ein Idiot zu klingen.“ Er erhob sich und fing an auf und ab im Zimmer zu gehen. „Ich glaube auch nicht, dass du das verstehen wirst“, fuhr der nun Studierte fort. „Weißt du, ich habe keine Lust mehr in deinem Schatten zu stehen. Ich habe keine Lust mehr, dass du meinen Freundeskreis umgehst wie ein stinkendes Stück Scheiße, nur weil sie deiner Meinung nach wohl „einfache Leute“ sind.“
 

„W-Was?“, stammelte Michael, doch Tim schien seinen doch recht misslungenen Einwand gar nicht wahrzunehmen.
 

„Ich ertrage es einfach nicht länger, dass du mich manchmal wie ein Kind behandelst. Mich kotzt es an, dass du fast niemals mit weg kommst, dass du das ganze Tanzen belächelst und dich lieber in irgendwelchen feinen Lokalen rum treibst.“, sprach Tim mit einer immer mehr erregt klingenden Stimme, immer lauter werdend.
 

„Das… Was für einen Unsinn redest du da eigentlich gerade?!“, fuhr Michael ihn mit einer verzweifelten Stimme an, stand nun ebenfalls auf.
 

Tim funkelte ihn an und seufzte. „Ich sagte doch, dass du es wahrscheinlich nicht verstehen wirst, weil du es einfach nicht siehst, Michael“, entgegnete er kalt. „Du denkst wir führen eine gleichberechtigte Beziehung, in der wir auf einer Stufe stehen, aber das tun wir nicht. Ich…“, Tim gestikulierte nun mit seinen Armen. „Ich hab es einfach satt immer unter dir zu stehen und mich manchmal wie ein Mensch zweiter Klasse zu fühlen.“
 

„Mensch zweiter Klasse?!“, wiederholte Michael die ihm entgegen geworfenen Wörter ungläubig und blinzelte. „Was für… Tim! Was ist mit dir los?! Das ergibt alles überhaupt gar keinen Sinn!“
 

„Für dich vielleicht nicht“, antwortete Tim kalt. „Für mich schon.“
 

Die beiden Männer blickten sich an. In Michael tobte ein Sturm, ein Unwetter aus Schmerz, Verwunderung und Wut. Und welchem Gefühl er Vorrang gewähren sollte, wusste er momentan nicht.
 

„Seit… Und seit wann… Denkst du nun schon so über mich?“, brachte der Journalist endlich heraus.
 

„Ach, Micha, so was kann man doch nicht genau sagen!“, fuhr Tim ihn an. „Keine Ahnung. Ich hab schon länger über… über alles nachgedacht.“
 

„Was heißt schon länger?“
 

„Musst du immer alles so genau wissen?“, zischte Tim plötzlich.
 

„Ich glaube wenn es um meine Beziehung geht, ja, Tim, ja, dann möchte ich es genau wissen. Ich dachte wir hatten abgemacht uns immer alles zu sagen! Ich dachte wir wollten immer über alles diskutieren?“, schrie Michael jetzt schon fast.
 

„Ja, ich weiß“, antwortete Tim ruhig und schaute seinen Lebensgefährten an. „Und es tut mit Leid. Es ist… Nun mal so passiert. Das hat sich alles so aufgebaut, auf Kleinigkeiten. Die jetzt für mich einfach unüberbrückbar sind. Ich dacht es geht wieder vorbei! Ich hab versucht das alles zu ignorieren. Ich hab gedacht, wenn wir einfach so weiter machen, kommen meine „normalen“ Gefühle einfach wieder zurück. Aber… Hm.“
 

„Was… Was machen wir denn jetzt?“, fragte Michael, der sich kraftlos wieder auf das Sofa niederließ und nicht wusste, wohin er blicken sollte. Zu verwirrt war er, um alles verstehen zu können, um klar denken zu können. Was passierte hier gerade?
 

„Ich gehe nach München. Ohne dich“, kam die knappe Antwort.
 

„Und…“, der Journalist blickte wieder auf. „Wie jetzt. Das war’s, oder was? Du sagst nach fünf Jahren, völlig aus dem Nichts, urplötzlich: Jetzt ist Schluss, oder was? Ohne mir einen wirklichen Grund liefern zu können?“
 

Tim seufzte und massierte sich leicht die Schläfen. „Einige Gründe habe ich dir bereits genannt, Michael. Das sind alles so Kleinigkeiten, die mich in den letzten Monaten einfach… Die das Fass für mich zum Überlaufen gebracht haben. Ich brauch einfach ne Auszeit. Es kommt mir einfach vor, als würdest du mich manchmal belächeln und von oben herab betrachten. Dein ganze Familie.“
 

„W-Was?!“, schrie Michael, der erneut aufgestanden war. „Tim, ich kapiere hier echt gar nichts mehr. Ich schaue nicht auf dich herab, für mich warst du von Anfang an ein intelligenter, selbstbewusster Mann! Deswegen habe ich mich in dich verliebt! Ich habe mich nie auch nur irgendwie besser gefühlt als du, wie kannst du mir so was nur unterstellen?!“
 

Tim schüttelte den Kopf. „Du kannst dich leider nicht selbst beobachten, Michael. Du benimmst dich einfach oft, als wärst du etwas Besseres. Vielleicht ja auch ohne es zu merken. Ich kann das einfach nicht länger ertragen. Ich… Ich brauch einfach Abstand zu dir. Ich will… Erstmal wieder alleine sein. Und das musst du akzeptieren.“
 

„Ja!“, schrie Michael, seine Stimme triefend vor Sarkasmus gemischt mit einer guten Portion Wut. „Das muss ich wohl! Mann, ich reiße mir täglich den Arsch auf, damit ich früh aus der Redaktion komme, um die Zeit mit dir zu verbringen, ich gebe dir Freiraum, so viel zu willst, ich denke die ganze Zeit eigentlich nur an dich und jetzt kommst du hier an und schmeißt mit so einen Haufen… Bullshit an den Kopf!“
 

„Das muss ich mir jetzt nicht geben!“, keifte Tim zurück. „Du kannst wirklich keine Kritik ab, oder?!“
 

„Kritik ist etwas anderes als frei erfundener Nonsens, der einem giftig ins Gesicht geschmettert wird!“, brüllte Michael.
 

„Oh, wie POETISCH wir doch heute wieder sind, Herr Chefredakteur!“, giftete Tim ihn an.
 

Michael erkannte weder Tim noch sich selbst in dieser misslichen, dieser unangenehm schmerzlichen Lage wieder. Wie Teenager brüllten sie sich an, wie pubertierende Jungen reagierte sie aufeinander.
 

„Tim, ich kapier das einfach nicht! Was meinst du mit „Mensch zweiter Klasse“, was meinst du mit „etwas Besseres“? Nenn mir doch einfach mal ein Beispiel! Ich entsinne mich nicht, dich jemals aufgrund deines Bildungsgrades schlechter behandelt zu haben. Wenn ich dich für dumm halten würde, was du mir scheinbar unterstellst, wäre ich dann mit dir zusammen?“, versuchte Michael das Gespräch wieder ruhiger zu gestalten.
 

Tim schnaubte. „Vielleicht gefällt es dir ja einfach mit jemandem zusammen zu sein, der unter dir steht, damit du dich jeden Tag besser fühlen kannst. So frustriert wie du manchmal über deinen Job bist, würde mich das gar nicht wundern. Vielleicht brauchst du ja einfach diese Art der Bestätigung“, entgegnete der Dunkeläugige kalt.
 

Michaels Kopf war völlig leer, er konnte sich an keinem einzigen Gedanken länger festhalten, keine Fakten aneinander knüpfen. Seine Hände zitterten. Was war nur mit Tim los?
 

„Hast du nen anderen?“, kam es schließlich aus dem Mund des Journalisten.
 

Sein Freund schnaubte erneut, lachte laut auf. „Da sieht man es ja, du brauchst unbedingt die Bestätigung, dass du der Beste bist. Nur weil du den dummen Posten als Ressortleiter verloren hast und dich jetzt mit nem Haufen Scheiße im „Fly“ rumschlagen musst.“
 

Abermals schrien sie sich wie Jugendliche an, die noch niemals in ihrem Leben einen Konflikt gelöst hatten, warfen sich im Grunde genommen Nichtigkeiten an den Kopf, Kleinigkeiten, die sie an ihrem Partner störten. Sinnlose und dennoch verletzende Sätze.
 

Letztendlich schnappte Tim sich einige seiner Sachen und verließ mit einem kalten „Tschüss“ die noch gemeinsame Wohnung. Die nächsten Wochen würde er bei Sascha und Mirko verbringen, die ihn ohne zu Meckern aufgenommen hatten. Wie schön für ihn…
 

Stundenlang saß Michael regungslos auf dem Sofa, starrte die sich überhaupt nicht verändernde Decke an. Wie betäubt saß er da, spürte seinen eigenen Körper nicht, ignorierte dieses nervende Ziehen in seiner Brust, beachtete die seine Wangen leise herunterkullernden Tränen nicht. Dementierte den salzigen Geschmack, der sich in seinem Mund breit machte.
 

Nein, all das war eben nicht passiert.

Nein, Tim war nicht fort.

Nein, sein Lebensgefährte würde nicht allein nach München gehen.
 

Morgen würde der Lockenkopf wieder auftauchen. Sie würden reden. In Ruhe all diese Missverständnisse, denn mehr als das waren Tims Behauptungen nicht, aus der Welt schaffen. Und dann wäre alles wieder in Ordnung.
 

Sie hatten doch eine wunderschöne Beziehung! Eine Bindung, um die sie schon viele Männer beneidet hatten. Eine Partnerschaft, die vielen als Vorbild galt! Das konnte doch nicht einfach so vorbei sein… Oder?
 

SEBASTIAN/JADE
 

Wirklich. Er hatte schon gedacht dieser Tag würde nie enden. Die Aspirintabletten hatten ihm überhaupt gar kein Wohlergehen beschert. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er sogar behauptet, die Dinger hätten seinen Zustand verschlechtert. Wobei das auch auf die nervige Kundschaft und seine Kollegen, die sich unentwegt über seinen leicht verkaterten Zustand lustig gemacht hatten, zurückzuführen sein könnte.
 

Seine Beine gaben fast unter ihm nach, als er sich zu seinem Wagen schleppte und es, einem Wunder sei Dank, ohne einen Unfall zu verursachen nach Hause schaffte. Seine Augen waren schwer, alles, an was er noch einigermaßen klar danken konnte, war Schlaf. Süßer, geruhsamer Schlaf in seinem warmen und weichen Bett.
 

„Hey, Jade!“, begrüßte Torsten ihn mit einem breiten Lächeln, als der Schwarzhaarige an der Küche vorbeiging. Es roch nach Spaghetti Bolognese. Ihm wurde schlecht.
 

„Hallo, Torsten. Gute Nacht, Torsten“, entgegnete der Barista mit einer trägen Stimme und schloss seine Zimmertür hinter sich, schaffte es gerade noch so Brummer neues Heu in den Käfig zu füllen, und ließ sich dann einfach ins Bett fallen. Schloss die Augen und atmete ruhig ein und aus. Seine Zimmertür wurde ohne ein Klopfen geöffnet. Der Tontechniker betrat den Raum und setzte sich neben Jade, der noch immer mit geschlossenen Augen regungslos auf der Matratze lag.
 

„Kurze Nacht gehabt, was?“, fragte der Rotschopf direkt.
 

„Oh, ja...“, antwortete Jade. Im selben Moment fiel ihm Jana wieder ein. „Und du? Ich hoffe wir haben euch nicht gestört...“
 

„Jana hat gar nicht hier geschlafen. Sie ist gegen 2 Uhr abgehauen. Aber heute Abend gehen wir ins Kino. Ich hab mir grad noch schnell was zu Essen gekocht, willst du auch gleich was abhaben?“
 

Jade öffnete die Augen leicht. „Torsten, bist du krank?“, fragte er und blickte seinen etwas verwirrt dreinschauenden Mitbewohner an.
 

„Wieso?“, fragte dieser erstaunt.
 

„Du sagst mir „das ist DIE Frau“ und erzählst mir, dass sie gestern NICHT hier geschlafen hat?!“, fuhr der Schwarzhaarige lachend fort. Torsten verdrehte die Augen.
 

„Ja, gerade deswegen hat sie ja nicht hier geschlafen, du Idiot. Ich will bei Jana nichts überstürzen“, sagte der 28-Jährige mit ernster Stimme und fing an Jades Arm etwas abwesend zu streicheln. „Sie ist echt toll… Wir haben uns gestern stundenlang unterhalten. Wir haben echt viel gemeinsam. Hey, sie steht sogar auf Ego-Shooter! Und Tarantino-Filme! Wir haben schon einen Monster DVD-Abend geplant, wenn sie ihre Prüfungen hinter sich gebracht hat. Und sie lacht sogar über meine dämlichen Witze!“
 

„Süß“, kommentierte Jade das Schwärmen seines Mitbewohners und grinste frech, schloss die Augen erneut, musste sich eingestehen, dass er die leichte Streicheleinheit genoss. Wenn es doch nur Michaels Hand wäre...Er seufzte.
 

„Und? Wie wars bei dir, du Luder?“, fragte Torsten und grinste.
 

„Frag nicht“, lautete Jades Antwort.
 

„War er wenigstens gut? So laut wart ihr nämlich gar nicht...“, hakte Torsten weiter nach.
 

„Hockst du nachts an deiner Wand und versuchst den Geräuschpegel meiner nächtlichen Eskapaden zu messen, oder was?!“, zischte Jade leicht belustigt.
 

„Das nicht unbedingt“, sagte Torsten. „Aber ich hab ja schon so einiges mitbekommen. Da zieht man automatisch Vergleiche.“
 

„Arschloch“, brummte Jade und drehte sich auf die Seite, kehrte Torsten seinen Rücken zu. „Aber ich freu mich für dich wegen Jana. Ein bisschen.“
 

„Danke, Hoheit“, entgegnete Torsten und gluckste. Und dann fing er an Jades Rücken zu streicheln, fuhr mit seiner Hand langsam auf und ab, massierte Jades Nacken leicht, erntete mit seinen Bewegungen leichte Seufzer vom Schwarzhaarigen.
 

„Tony hätte da übrigens nen kleinen Job für nächstes Wochenende. Er braucht etwas Hilfe bei nem Event. Wär das für dich? Er zahlt echt gut“, sprach Torsten, ohne mit seinen Bewegungen aufzuhören.
 

„Hmmmmm...“, kam die Antwort.
 

„War das ein Ja?“
 

„Mhhmmm...“, Jade nickte leicht.
 

„Dann sag ich ihm zu, deine Nummer hat er ja noch.“
 

Wieder nickt Jade leicht mit dem Kopf, merkte, wie er langsam aber sicher in den Schlaf abdriftete, wie sich die Realität und konfuse Traumwelt langsam vermischten, wie die Geräusche seiner Umwelt in seinem Kopf in leichte Musik umgewandelt worden, die ihn in die Ruhe wiegte.
 

Plötzlich spürte er Torstens Atem an seinem Ohr.
 

„Weißt du, was ich lustig finde?“, sprach sein Mitbewohner leise.
 

„...hmm...?“, brummte Jade, zu müde um sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, geschweige denn momentan auch nur ein richtiges Wort auszusprechen.
 

„Du hast hier mit verschiedenen Männern geschlafen. Nur nicht mit mir..“, sprach der Rothaarige mit ruhiger Stimme weiter. „Und jetzt werde ich wohl nie erfahren, wie es ist, dich zu nehmen...“
 

Jade zuckte leicht zusammen, bekämpfte die ihn in den Schlaf zwingende Schwere seines Körpers und die sich durch Torsten Worte entfachte, verbreitende Wärme und schaffte es noch zu murmeln: „Verpiss dich, Torsten.“
 

Sein Mitbewohner verließ grinsend das Zimmer.
 

Jade träumte von Brummer, der ein Loch ins Parkett buddelte und in die Wohnung unter ihnen stürzte. Von Kaffeetassen mit Löchern, die dazu führten, dass sich die Kunden mit den heißen Getränken bekleckerten. Von Sex mit Torsten... Verschwitzt erwachte er und setzte sich auf. Das Kaninchen starrte ihn erwartungsvoll an, nagte leicht an dem Gitter, als Jade es anblickte. Nachdem er das Tier rausgelassen hatte, setzte er sich erneut aufs Bett. Es war 21 Uhr. Die Wohnung war leer.
 

„Was für ein Traum...“, murmelte der junge Mann vor sich hin und schüttelte leicht lachend den Kopf. In seinem Traum hatte Torsten ihn an den Küchentisch gekettet, ihm das Augenlicht durch ein dunkles Stofftuch gestohlen und ihn unverhohlen von hinten ins Nirvana gefickt... Nein, das würde er nicht mit sich machen lassen! Nicht mit Torsten! Jade gluckste und schüttelte erneut den Kopf.
 

Nein, nicht mit Torsten.

Aber mit Michael...

Er brauchte eine Dusche. Jetzt. Und seine eigene Hand.
 

Das Wochenende was ruhig und er verbrachte es mit stundenlangem Lesen. Als die neue Woche begann war er ausgeruht, er fühlte sich fit, gesund, aufgeweckt, vital. Und eigentlich wartete er jeden Tag nur auf den Moment, in dem Michael Zannert das Lokal betreten würde. Den Moment, in dem er seine Augen auf dem Körper des Journalisten legen konnte, seine vollkommene Erscheinung in Betracht ziehen konnte, dieser ihn so aus der Fassung bringenden Stimme lauschen konnte…
 

Doch Michael kam nicht.
 

Nicht am Montag. Nicht am Dienstag.

Nicht am Mittwoch. Und Donnerstag blieb er auch fern.

Und am kommenden Freitag hatte er vielleicht einen anderen Job. Wenn Tony sich endlich melden würde…
 

Es war eine Scheißwoche.
 

MICHAEL
 

Tim meldete sich nur ein Mal. Per SMS kündigte er den Tag an, an welchem er seine restlichen Sachen aus der Wohnung holen würde. Eine neue Bleibe hätte er in München über seinen neuen Arbeitgeber bereits gefunden und wollte den Umzug in den kommenden Wochen vollziehen. Michaels Hilfe brauchte er dabei nicht. Genügend Freunde hätten sich bereits als Möbelpacker angekündigt. Außerdem sei es „besser so für Michael.“
 

Der Chefredakteur fühlte sich leer. Als hätte ihm jemand seiner kompletten Lebensenergie beraubt. Das Essen schmeckte nicht mehr, der Kaffee half nicht ihn wach zu halten. Das Leben zog momentan wie ein stiller, dichter Nebel an ihm vorbei, in dem Geräusche, sowie Bilder der Wirklichkeit, schlicht und einfach verschwanden.
 

Die Realität war sowieso eher wie ein Alptraum für ihn. Es war gut, dass er sich von ihr distanzieren konnte. Jedenfalls versucht er das. Stürzte sich kopfüber in die vor ihm liegende Arbeit, prüfte jeden eingehenden Artikel doppelt. Redigieren war eine schwere Arbeit, wenn man sie genau ausführte, peinlich auf jeden erdenklichen Fehler achtete. Es konnte Stunden dauern. Stunden, für die Michael momentan mehr als dankbar war.
 

Auch in den Pausen verließ er die Redaktion nicht, starrte auf den riesigen Bildschirm auf seinem Schreibtisch, verfolgte die Nachrichten, las jede noch so kleine Meldung auf Spiegel-Online, diskutierte mit jedem seiner Schreiber über die anstehenden Artikel, achtete nicht darauf, wie kurz manche dieser ausfallen würden. Er verlängerte die täglichen Konferenzen um fast eine Stunde und blieb auch noch lange nach Feierabend an seinem Arbeitsplatz.
 

Besonders dankbar war er für die anstehende Abschiedsfeier des Online-Chefs, die noch in dieser Woche stattfinden sollte, und um die er sich selbst kümmern musste. Die Einladungen waren bereits an jeden Arbeitnehmer verschickt worden und es waren kaum Zusagen eingegangen. Er hatte den großen Saal im unteren Teil des Gebäudes gemietet und einen Partyservice gefunden, der seinen Ansprüchen und dem verfügbaren Budget entsprach. Ja, das war viel Arbeit. Und das war gut so.
 

Beschäftigungstherapie. Das war das magische Wort. Leider funktionierte das nicht in der Wohnung. In der leeren, kalten Wohnung, in der ihn jede Ecke an Tim erinnerte. Die Räume schrien nach Tim. Verlangten nach ihm.
 

Noch immer konnte Michael die Argumente seines Freundes, oder nun Ex-Freundes, nicht verstehen, nicht nachvollziehen. Stundenlang saß er vor dem flimmernden Fernseher, versuchte sich auf das Programm zu konzentrieren, und versagte kläglich. Durchgehend wanderten seine Gedanken zu den kalten, zu den beschuldigenden Worten seines Lebensgefährten.
 

Hatte er Recht?

War Michael so blind geworden, dass er sein eigenes Handeln nicht erkennen konnte?

Das konnte nicht sein.
 

Pausenlos dachte er über die Vergangenheit nach, über Dinge, die sie zusammen unternommen hatten. Oder eben nicht. Fortgehend analysierte er sein eigenes Verhalten. Und kam immer wieder zu demselben Resultat: Tim hatte Unrecht.
 

Tim hatte Unrecht!
 

TIM HATTE UNRECHT!
 

Nach einer guten Dosis Paracetamol und Baldrianpastillen fand er endlich den Schlaf. Morgen würde die Abschiedsfeier stattfinden.
 

Eine gute Ablenkung.
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Hat Tony sich wegen morgen bei dir gemeldet?“, fragte Torsten in der Werbepause. Sie saßen auf seinem Bett, schauten sich irgendeine dumme Crime-Serie an, aßen ungesunde Chips und tranken gut gekühltes Bier. Ein netter Abend…
 

„Ja, heute früh“, antwortete Jade, ohne den Blick von dem Fernseher zu nehmen.
 

„Und, was für ein Event ist es genau?“, hakte der Tontechniker nach.
 

Ein breites Grinsen machte sich auf Jades Gesicht breit. „Eine Abschiedfeier eines Redakteurs. Vom „Fly“…“, erklärte er.
 

Torstens Augen weiteten sich. „Nein!“, schrie er fast schon in brach in Gelächter aus.
 

Der Schwarzhaarige grinste immer noch.
 

„Oh, doch, Torsten“, sagte er. „Oh, doch…“

Ein verlockendes Buffet

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Film ab!

MICHAEL
 

Es war nicht so, als würde er sich an alles glasklar erinnern können, als würde sich ein längerer Film vor seinem Inneren Auge abspielen. Diese Behauptung wäre zu übertrieben. Was er in seinem Gedächtnis erblickte, glich eher einem Trailer – für einen sehr heißen Streifen. Und Michael wünschte sich in diesem Moment, diesen ihn lähmenden Augenblick, diesen Minuten in denen er mit offenem Mund in seinem eigenen Bett wie versteinert dasaß und seine Finger zittrig in die Bettdecke krallte, dass es tatsächlich nur ein Film gewesen wäre, den er sich im seinem betrunkenen Zustand angesehen hätte. Ein fiktives Werk in dem Schauspieler die intimen Szenen vollzogen hätten, sie vorgeheuchelt hätten und Michael nur ein Individuum des dispersen Publikums gebildet hätte.
 

Fakt war jedoch, dass es sich hierbei a) um keinen Film handelte, b) Michael keineswegs als stiller Beobachter beschrieben werden konnte, c) er derjenige gewesen war, der den ersten Schritt in diese missliche Lage gegangen war und d) er tatsächlich, ausgerechnet, von allen Männern, die ihm hätten über den Weg laufen können, mit JADE gevögelt hatte!
 

Mit J A D E !
 

J

A

D

E

!
 

Wäre die weiche, mit Wolken übersehene Bettdecke zwischen seinen Fingern aus Glas gewesen, wäre diese schon längst mit einem lauten Klirren unter dem Druck seines Fleisches zerbrochen. Wäre es rein biologisch möglich, würde mittlerweile dampfender Rauch aus den Ohren des Journalisten steigen. Und wäre sein Kopf nicht schon bereits schwer und schmerzhaft durch die Mengen an Alkohol, die er am gestrigen Abend blind konsumiert hatte, würde sich ein brechender Schmerz genau jetzt dort ausbreiten und ihm des Gefühl vermitteln, dass seine Schläfen jederzeit zu zerbersten drohten.
 

Schock.

Erschütterung.

Fassungslosigkeit.

Entsetzen.

Perplexität.
 

Fühlte sich so ein Mensch, der an einem Trauma litt? Oder der von einer Dampfwalze überrollt worden war, in deren Weg er sich zuvor freiwillig gestellt hatte?
 

Wobei man von „freiwillig“ in seiner Situation auch nicht sprechen konnte! Wie lautete dieser unheimlich primitive, wenig lustige und doch irgendwie zutreffende Spruch, der gerne von sich betrinkenden Jugendlichen benutzt wurde? Alkohol macht Birne hohl? Ja, so in etwa klang der Satz, den Michael nun hätte tausendfach wiederholen können.
 

Was hatte er sich denn dabei gedacht, als er in seinem Zustand anfing zu bechern? Dass es ihn glücklicher machen würde? Dass er tatsächlich hätte „Party machen“ können? Tim hatte Recht, er war ein Langweiler. Ein Langweiler der gestern auch lieber hätte langweilig bleiben sollen und es bei einem einzigen Glas Wein hätte beruhen lassen sollen.
 

Jade bewegte sich plötzlich, seufzte lange, schmatzte leicht, streckte sich ein wenig und drehte sich, immer noch tief im Schlaf, auf die Seite. Drehte sich direkt in Michaels Richtung und schlief in dieser Position ruhig weiter, während der Blonde ihn, entsetzt wie er war, immer noch anstarrte.
 

Die pechschwarzen Haare des jungen Mannes klebten leicht an dessen Stirn, der Rest der zerzausten Mähne umrahmte sein etwas blasses Gesicht. Einige Strähnen hatten sich in seinem Augenbrauenpiercing verfangen. Piercing. Da fiel Michael wieder dieses neue, eigenartige und gar nicht mal so schlechte Gefühl beim Küssen wieder ein. Dieser leicht kalte Punkt, der in der Hitze eines Kusses einen wirren Kontrast darstellte.
 

Himmel, Herrgott noch mal!

Halt deine gottverdammte Klappe, Zannert!
 

Er hatte es getan.

In dem Schlafzimmer, welches für so lange Zeit die Spielwiese, welches so lange ein intimer Rückzugsort von Tim und ihm gewesen war, welches sie mit ihren eigenen Händen verschönert hatten, welches sie zusammen geplant hatten, in das sie mit vereinter Kraft die Möbel geschleppt hatten, hatte er Sex mit einem anderen Mann gehabt. (Mit Jade…!)
 

Er fühlte sich dreckig. Beschmutzt.

Er fühlte sich wie ein Heuchler. Verlogen.

Er fühlte sich wie ein Verräter. Untreu.
 

Und als er diesen Gefühlen Platz bot, als diese Emotionen wie ein gewaltiger Sturm mit zerstörerischer Kraft durch sein Inneres rasten, dieses nicht zu unterdrückende Schuldgefühl mit sich trugen, Salz für die von Tim verursachten Wunden bildeten, sprang er mit einem Satz auf und griff nach seinem auf dem Boden liegenden Bademantel, welchen er, so schnell es nur ging, um seinen nackten Körper schlang.
 

Der Schwarzhaarige schellte hoch, blickte sich in den ersten Sekunden leicht verwirrt umher, bis sein Blick Michael streifte und er ihn etwas unsicher anblickte.
 

„Äh. Guten Morgen...“, sprach der Mann, der hier nichts zu suchen hatte. Nichts! Michael blickte in die dunklen, ihn musternden Augen. In seinem Innern brodelte es. Und es war eine Hitze, die der Journalist bis zu diesem Augenblick noch nie in seinem Innern verspürt hatte. Es war eine Glut, die ihn innerlich verbrennen ließ.
 

„Raus…“, brachte der Ältere zwischen seinen zusammengepressten Zähnen leicht undeutlich heraus. Jade blickte ihn verstört und immer noch unsicher an, was Michael nur noch mehr verärgerte. Wenn er „raus“ sagte, dann meinte er „raus.“
 

„Raus!“, wiederholte der Chefredakteur mit lauterer, bestimmender Stimme und ganz vorsichtig setzte Jade nun seine Füße auf den Boden, blickte ihn mit diesen ihn in den Wahnsinn treibenden, dunklen Augen fragend und zugleich verwirrt, leicht verärgert und vielleicht auch etwas traurig an.
 

„RAUS!“, brüllte Michael nun, seine Stimme voller Rage, voller Aggressivität, die er selbst nicht einmal erkannt hätte, hätte er neben sich gestanden. Und dieses wütend geschriene Wort zeigte seine Wirkung, denn Jade sprang auf und huschte in den Flur – in dem noch immer seine Klamotten lagen.
 

Micheal blickte ihm nicht hinterher.

In seinem Kopf drehte es sich wie in einem Karussell.

Ihm war heiß und kalt zugleich.

Er war verwirrt, er war verärgert.

Er war wütend, er war todtraurig.

Er hätte weinen und zugleich lauthals lachen können.
 

Er hörte die Haustür laut und deutlich zuschlagen. Der Knall ließ die restlichen Türen der Wohnung für Millisekunden vibrieren.
 

Michael ließ sich aufs Bett fallen. Vergrub sein errötetes und warmes Gesicht in seinen Händen und schluchzte.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Fuck!

FUCK!

F U C K !
 

Wütend trat er gegen die makellosen Wände des ach so noblen Wohnhauses, als er die Treppenstufen wie ein Irrer hinunter stürmte. Sein Hemd war nur zur Hälfte zugeknöpft, sein ganzer beschissener Anzug war zerknittert, seine behinderte Krawatte ungebunden. Und seine blöde Unterhose saß auch noch schief.
 

„So eine Scheiße!“, spie Jade aus, als er auf die Straße trat und keinen blassen Schimmer hatte, wo er sich eigentlich befand. So was liebte er. Ja, da fuhr er total drauf ab…! Dieser dumme Bastard! Der Barista fluchte leise vor sich hin als er die nur leicht bevölkerte Straße hinunter ging und nach einer Bushaltestelle Ausschau hielt. Für ein Taxi hatte er kein Geld. Und sein Golf stand noch immer friedlich in der Tiefgarage des Zentrums. Großartig.
 

Wieso hatte Michael ihn auch seinen Wagen fahren lassen? Wieso hatte der Journalist nicht einfach ein blödes Taxi gerufen? Kohle hatte der doch wohl genügend! Jedenfalls sagten das seine Klamotten ganz deutlich. Und auch die Wohnung. Jade verspürte einen leichten Stich in seinem Herzen als er an die Räumlichkeiten dachte, aus denen er eben mit dieser fürchterlich kalten Stimme vertrieben worden war. Michaels Gesichtsausdruck war gruselig gewesen. Diese leichten Falten, die durch seine ungehaltene Wut auf seiner Stirn erschienen waren, dieser leicht zuckende Mund, und diese verkrampfte Körperhaltung…
 

Oh, Mann.

Er hatte echt verkackt.

Er hatte alles in den Sand gesetzt.

Wie ein Meister.
 

Wieso mussten Männer eigentlich immer mit ihrem „Besten Freund“ denken?! Hätte er sich nicht einfach losreißen können? Hätte er Michael nicht wegschubsen können, als dieser ihn an seinen Armen packte? Hätte er nicht einfach die Tür aufmachen können und das Weite suchen können? Nein, hätte er nicht.
 

Weil er viel zu sehr in Michael verliebt war.

Weil er sich solche Szenen fast jeden Tag in seiner Fantasie ausmalte.

Weil er nicht mehr klar denken konnte, wenn der Journalist in seiner Nähe war.

Weil er schwach war…
 

Jade konnte den Blick Michaels einfach nicht mehr aus seinen Gedanken lösen. Dieser wütende, dieser verachtende Blick. Der Chefredakteur dachte doch sicherlich, dass Jade seinen Zustand schamlos ausgenutzt hatte. Und wenn er ehrlich sein sollte, es würde ihn nicht wundern. Eigentlich hatte er dies ja auch getan, oder? Jeder vernünftige Mensch hätte protestiert, es niemals so weit kommen lassen…
 

Dabei hatte er sich doch stoppen wollen. Er hatte doch gewusst, dass diese Situation mehr als merkwürdig war.
 

FUCK!

Michael war doch vergeben!
 

Mit dieser Erkenntnis blieb er abrupt auf dem Fußgängerweg stehen. Von seiner Umgebung bekam der junge Mann absolut nichts mehr mit. Stille umgab ihn. Das einzige Geräusch, welches er in der Lage war wahrzunehmen, war sein eigener Herzschlag, der mit jedem einzelnen Schlag eine Reihe von schmerzlichen Impulsen durch seine Brust jagt.
 

Heilige… Scheiße…
 

So miserabel und dreckig wie jetzt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Und eine Bushaltestelle war auch nicht in Sicht.
 

MICHAEL
 

Es dauerte Stunden, bis er sich aus dem Schlafzimmer schleppte, seine Augen waren rot und etwas wund vom Weinen. Ihm war schlecht und als er sich das dritte Mal in Folge übergab, schwor er sich, nie wieder Alkohol zu trinken. Jedenfalls nicht in seiner momentanen Verfassung, die man schlichtweg auch als beschissene Lage hätte beschreiben können.
 

Er duschte lang und ausgiebig. Ließ das warme Wasser auf seinen Körper niederprasseln. Er war sich nicht sicher, ob es tatsächlich ein symbolisches Wegwaschen der nächtlichen Spuren war, oder ob es einfach nur eine weitere Art der Beschäftigungstherapie darstellte. Vielleicht tat eine Dusche dem Kater auch einfach nur ein wenig gut. Ebenso lang und ausgiebig wie seine Körperpflege fiel auch sein Frühstück aus. Buttertoast mit Käse. Spiegeleier. So viel wie nur hinein ging. Er fühlte sich, als hätte er zwei Tage lang nichts gegessen. Und egal wie viel er von der Nahrung auch in seinen Magen stopfte, das ihn von innen auffressende Hungergefühl wollte ihn einfach nicht verlassen. Ein richtig mieser Kater lag einfach schon viel zu lange zurück, als dass er sich an dieses negative Gefühl wirklich hätte erinnern können.
 

Unentwegt tauchten die Szenen der vergangenen Nacht in seinem Kopf auf. Er versuchte sie zu verdrängen, versuchte seine Aufmerksamkeit auf das schlichtweg schlechte Fernsehprogramm zu lenken, fing irgendwann an, die eigentlich saubere Küche erneut zu putzen, drehte das Radio auf, lauschte dem sinnlosen Daherplappern der Moderatoren, die irgendeinen Regisseur interviewten.
 

Es half nicht.
 

Was hatte er nur getan... Er fühlte sich... wie ein Arschloch.

Dabei war Tim doch das Arschloch!

Und schon alleine die Erwähnung dieses Namens, auch wenn es nur in Michaels Gedanken stattfand, war genug, um den Journalisten erneut in ein tiefes Loch zu reißen. Eine düstere Grube, deren Ende man vor lauter Dunkelheit nicht erblicken konnte.
 

Noch immer konnte er es nicht fassen. Er konnte einfach nicht glauben, dass es vorbei war, wollte nicht einsehen, dass sich all diese ihn verletzenden Szenen tatsächlich abgespielt hatten. Für Michael glich die Realität noch immer einer in finsteren Alpträumen ausgedachten Filmsequenz. Es war so, als würde er sein Leben vor einem massiven Bildschirm betrachten, einen Horrorfilm gucken. Nur das Ende fehlte, das Ende des Filmes, nachdem man den Fernseher ausschaltete, kurz über die eigene Angst lachte und danach in die Wirklichkeit zurückkehrte, in der alles wie gewohnt verblieben war.
 

Doch das war es nicht.
 

Michael lebte nun in einer neuen Wirklichkeit. Einer Zeit, einer Situation, an deren Tatsachen er sich nicht gewöhnen wollte, die er einfach nicht akzeptieren wollte. Nicht akzeptieren konnte.
 

„Verdammt!“, schrie er und schlug mit seiner Faust gegen die Küchenzeile, versuchte gegen die sich in seinen Augen sammelnden Tränen anzukämpfen, sie zurückzudrängen. Doch die Wucht dahinter war zu stark, um ihr entgegenzutreten. Und so ließ er sie einfach laufen.
 

Es dauerte mehrere Stunden, bis er sich dazu bewegen konnte das Schlafzimmer aufzuräumen. Die Bettwäsche abzuziehen. Die Bettwäsche in der sie zusammen gelegen hatten. Mein Gott, was hatte er sich nur dabei gedacht?!

Erneut blitzten einzelne kleiner Szenen vor seinem inneren Auge auf.

Der nackte Rücken, auf dem er seine Hände platziert hatte.

Das sich unter ihnen leicht schaukelnde Bettgestell.

Die wilden Küsse.

Und es fühlte sich so unheimlich falsch an, dass der Mann, der in diesen Szenen die Hauptrolle spielte, nicht Tim war...
 

Sondern Jade.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Nach unendlich langem Umherirren in der neuen Gegend war es ihm endlich gelungen eine Haltestelle auszumachen. Ganze 20 Minuten saß er auf der im Sonnenlicht leicht glitzernden Bank und wartete auf den Bus, während er still seine Schuhe betrachtete. Ohne sich zu bewegen. Ohne einmal aufzusehen. Ohne auf die vorbeigehenden Leute zu achten. Er saß einfach nur da und versuchte sein Gehirn vom Arbeiten abzuhalten. Ein unmögliches Unterfangen. Eine naive Hoffnung.
 

Nicht nur, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war (und das Falsche getan hatte), nein, er hatte noch nicht mal den Grips gehabt wenigstens nachts abzuhauen, um Michael dieses durchaus unangenehme, beschissene Erwachen zu ersparen. Was auch immer es war, das zwischen dem Chefredakteur und seinem langjährigen Freund passiert war, Michael würde diesen Schritt bitter bereuen.
 

Und Jade dafür nur noch mehr hassen.
 

Scheiße...!
 

Er selbst wusste doch wie das war, wenn man auf jemanden sauer war. Auf jemanden, den man liebte... Als Mark und er sich damals gestritten hatten, hatte er sich auch vollaufen lassen. Und hätte auch beinahe eine Dummheit begangen. Hätten seine Freunde ihn nicht im letzten Moment aufgehalten. War doch klar, dass man da nicht mehr nachdachte! War doch klar, dass man Scheiße baute! Dinge, die man später nie wieder gut machen könnte!
 

Oh, Gott. Hoffentlich hatte Michael es wenigstens noch rechtzeitig geschafft die Spuren zu beseitigen... Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, diesen Seitensprung zu beichten! Seitensprünge beichten war nicht gut. Wobei der Barista sich gut vorstellen konnte, dass Michael so treudoof war, dass er es tun würde...
 

Er seufzte, als der Bus kam und er sich erheben musste. Während der Fahrt zum Hauptbahnhof starrte er debil aus dem Fenster und versuchte an rein gar nichts mehr zu denken. Die Leere, die er in seinem Innern verspürte, die vielen kleinen Stiche in seiner Brust waren kaum auszuhalten. Er wollte so schnell wie möglich zum Zentrum kommen, sich den Wagen schnappen, nach Hause fahren und sich nur noch unter seiner Bettdecke verkriechen. Ja, genau das würde er tun.
 

Die Parkplatzsuche vor ihrem Haus erwies sich als schweren Unternehmen. Doch dieses Mal freute sich der Schwarzhaarige sogar, dass er damit gleich 10 Minuten verbringen konnte. Letztendlich waren es Minuten, in denen er nicht über seine eigene Dummheit, über sein Pech und seine Gefühle nachdenken musste, sondern einfach nur aufpassen musste, keinen Radfahrer anzufahren oder gegen ein anderes Auto zu brettern.
 

Als er müde die Treppen aufstieg fragte er sich, ob Jana wohl heute bei Torsten war. Er hatte sie bis jetzt noch nicht kennengelernt. Sein Mitbewohner und seine neue Flamme trafen sich eigentlich fast immer in Bars oder Cafés, gingen in Kino. Und das eine Mal, als sie hier diniert hatte, hatte er sich ja glorreich in den Club verpisst. Äh, Ja. Robert... Darüber wollte er auch nicht mehr denken.
 

Obwohl es ihm lieber gewesen wäre, gestern mit irgendeinem weiteren Fremden das Bett zu teilen...
 

Er seufzte.

Der Sex gestern war so verdammt gut gewesen... Die Erfüllung seiner ihn plagenden Fantasien. Ein glorreicher Moment. So wunderschön...

So schrecklich.

Er war ein Idiot.

Ein I D I O T !
 

Bereits im Flur hörte er die leichte Musik, die aus ihrer Wohnung drang. Er öffnete die Tür und ließ sie offensichtlich laut ins Schloss fallen, und ging direkt auf Torstens offen stehendes Zimmer zu. Doch bevor er den Raum überhaupt näher kommen konnte, sprang sein Mitbewohner mit einem animalischen Satz in den Flur und die beiden Männer stießen beinahe zusammen.
 

„Whoa! Aus, Hasso! Sitz!“, rief Jade und versuchte seinen Mitbewohner anzugrinsen.
 

„Und wo warst du gestern, hm?“, fragte Torsten ihn umgehend mit einem gespielten Lächeln auf seinen Lippen, welches sofort verschwand, als er Jades plötzlich leer wirkenden Blick bemerkte. „Äh, alles klar bei dir?“, fragte er nun etwas ernster.
 

Jade seufzte. Früher oder später würde er es Torsten ja eh erzählen. „Ist Jana bei dir?“, fragte er und sein Mitbewohner antwortete mit seinem Kopfschütteln. „Sie kommt erst später“, fügte er hinzu und blickte den Barista leicht auffordern an.
 

„Wenn du mir nen Kaffee kochst, erzähl ich’s dir“, sagte der Schwarzhaarige.
 

„Ich dachte DU bist der Barista...“, feixte Torsten steuerte aber bereits die Küche an.
 

„Ein kleines Frühstück wäre auch nicht schlecht!“, rief Jade ihm hinterher, als er bereits seine Hand auf die Türklinke legte.
 

„Kein Problem, mein Herzchen!“, kam die Antwort aus der Küche. Und während Torsten ihm eine Kleinigkeit zubereitete, versuchte sich der Schwarzhaarige etwas zu beruhigen, sprang zunächst unter die Dusche. Das warme Wasser tat gut... Erst jetzt fiel ihm auf, dass er etwas wund war. Von der letzten Nacht...
 

Und von dieser katastrophalen Nacht erzählte er auch Torsten, als sie beide auf dem Bett des Schwarzhaarigen saßen und Brummer beim Herumtoben zusahen, die kleinen Häppchen zusammen aufaßen. Der Tontechniker schwieg eine Weile, wonach er die gesamte, ihm geschilderte Geschichte mit einem einzigen und wohl passenden Wort kommentierte: „Fuck.“
 

Jade lehnte sich mit seinem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen. Er war müde. Trotz des Kaffees. Trotz des leckeren Mini-Frühstücks. Er war leer. Er war wütend. Er war traurig.

Er war verzweifelt.
 

„Und nun?“, fragte Torsten.
 

Jade zuckte mit den Schultern, ohne seine Augen zu öffnen. „Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll“, sagte er schließlich.
 

MICHAEL
 

Er war froh, als der Tag, den er mit Grübeln, Weinen und Ablenkungsversuchen verbracht hatte sich dem Ende neigte. Und gleichzeitig war er entsetzt. Er wusste, dass er diese Nacht nicht schlafen könnte. Dass er diese Nacht dort liegen müsste... Michael schluckte.
 

Erst am Nachmittag war ihm wirklich aufgefallen, dass Tims Sachen fort waren. Diese Tatsache machte ihn im ersten Augenblick todtraurig. Es zerriss ihn, sein Herz, seine Seele. Und dann wiederum, war es gut. Er wusste Tim würde vorerst nicht in diese Wohnung einkehren. Die Michael so schnell entweiht hatte...
 

Er fühlte sich wie ein Bastard.

Er fühlte sich wie Opfer.

Er fühlte sich schrecklich.

Schrecklich alleingelassen.
 

„Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll“, murmelte der Journalist vor sich hin, während er still auf dem Sofa saß.
 

Allein.

Trittbrettfahrer

SEBASTIAN/JADE
 

Als er aufwachte, war es draußen bereits fast dunkel. Allmählich verschwand die Sonne in einem orange-rötlichen Ton hinter den grauen Betonklötzen der Stadt und Schatten legten sich auf die Gebäude und Straßen. Einige Minuten blieb der Schwarzhaarige einfach so liegen, starrte die Decke an, hörte Brummer beim ziemlich lauten Annagen seines hölzernen Schreibtisches zu und streckte sich leicht, versuchte den Schlaf vollkommen abzuschütteln. Falls er geträumt hatte, waren seine Erinnerungen bereits verblasst. Und vielleicht war dies auch besser so.
 

Er drehte sich auf die Seite und lauschte. Aus dem Flur drang kein einziges Geräusch. Fast mit Sicherheit konnte er sagen, dass Torsten nicht da war. Im ersten Moment versetzte diese Tatsache dem Barista einen leichten Stich. Er wollte nicht allein sein, nicht in seiner momentanen Verfassung, in der er der Gefahr des Nachdenkens ausgeliefert war. Andererseits brauchte er Ruhe…
 

Gemächlich erhob er sich, schlenderte durch sein Zimmer, prüfte seine Emails, sah auf seinem MySpace-Profil nach (diesmal ohne die Bilder von Mark und seinem Neuen anzustarren) und schlüpfte letztendlich, nachdem er Brummer etwas Heu auf den Fußboden geschmissen hatte (auf welches sich das Kaninchen stürzte, als hätte es in seinem ganzen Leben noch nie etwas gefressen), in eine graue, alte und unglaublich bequeme Jogginghose und ein ebenso verblasstes T-Shirt.
 

Ebenso langsam und fast schon etwas müde wirkend schlürfte er durch den kleinen Flur direkt in Torstens leeres Zimmer, der Raum in dem der kleine Fernseher seinen Platz gefunden hatte. Sein Mitbewohner hatte es ihm erlaubt, sein Reich auch in seiner Abwesenheit zu betreten und zu nutzen, zum sinnlosen Berieseln lassen. Und genau das wollte Jade jetzt tun.
 

Er kuschelte sich in das durcheinander gewühlte Bett von Torsten und schaltete die Glotze ein. Zwei Stunden später schnarchte er bereits wieder vor sich hin. Und er wurde auch erst wach, als Torsten ihn leicht an seiner Schulter schüttelte.
 

„Hä... Was?“, rief der Schwarzhaarige abrupt und setzte sich auf, blickte in das grinsende Gesicht Torstens.
 

„Darf ich vorstellen, das ist mein trotteliger Mitbewohner Jade“, sprach der Tontechniker und trat einen Schritt zur Seite. Erst jetzt fiel der Blick des Jüngeren auf die zweite anwesende Person im Zimmer. Dort stand sie, Jana. Eine um die 1,60 m große, leicht ründlichere, junge Frau mit einem Piercing in der Unterlippe. Sie strich sich grinsend durch das kinnlange, dicke, kastanienbraune Haar, welches sich fast zu 100 Prozent mit ihrer Augenfarbe deckte und gut zum schwarzen Outfit, welches sie trug, passte. Sie besaß einen leichten Schmollmund und glatte reine Haut. Jade mochte sie sofort.
 

„Hi“, sagte sie, trat einen Schritt auf das Bett zu und streckte Jade die Hand aus. „Ich habe schon viel von dir gehört“, fügte sie dem hinzu.
 

Der Barista griff nach der ihm angebotenen Handfläche, erhob sich im selben Augenblick, verneigte sich theatralisch und küsste Janas Handrücken leicht. „Es freut mich dich kennenzulernen, ich hoffe diese kleine Geste lässt dich ALLES vergessen, was Torsten dir auch erzählt haben mag.“ Mit diesen Worten verneigte sich Jade ein weiteres Mal und Jana lachte.
 

„Eigentlich macht das alles gerade viel schlimmer, als ich ursprünglich gedacht habe“, sagte sie immer noch lachend und blickte Torsten an.
 

„Nein, ich will gar nicht wissen, was du ihr gesagt hast!“, kommentierte Jade die Situation und zwinkerte der Lady zu. „Ich lasse euch beiden auch schon allein...“
 

„Willst du nicht lieber mit uns zusammen Pizza backen?“, fiel Torsten ihm ins Wort, noch bevor der Barista es schaffte den Raum zu verlassen.
 

„Wenn du schon so gut Kaffee kochen kannst, wie Torsten behauptet, dann kannst du doch auch sicherlich gut Pizza backen“, scherzte Jana und funkelte den Schwarzhaarigen spielerisch an.
 

„Und dann gucken wir „300“. Na, was sagst du?“, fuhr der Tontechniker fort. „Eine Ladung fettiges Essen und eine Ladung halbnackter Kerle. Du kannst nicht NEIN sagen.“
 

Jade seufzte und blickte die beiden hilflos an.
 

„Torsten sagte du kennst kein „nein“ und bist spontan. Überzeug mich!“, feixte Jana und blickte den Mitbewohner ihres Schwarms grinsend an. Verdammt.
 

„Darf ich mir wenigstens etwas Vernünftiges anziehen, etwas, was euren Augen nicht all zu sehr wehtun wird?“, fragte er und kratzte sich dabei am Hinterkopf. Vielleicht war so eine gesellige Ablenkung gar nicht verkehrt, vielleicht sogar auch als „ein bisschen klug“ anzusehen.
 

„Du siehst heiß genug für eine Gammelsession aus“, bemerkte Torsten und schlenderte gemütlich in die kleine Küche, in der bereits alle Zutaten, die die beiden wohl kurz zuvor eingekauft hatten mussten, bunt gestapelt auf dem Tisch warteten.
 

„Na gut, mir soll’s egal sein…“, sagte Jade schulternzuckend und folgte seinem Mitbewohner. Natürlich nicht, ohne vorher Jana vorgehen zu lassen. Wow, er war wohl wirklich ein Gentleman. Wahrscheinlich ein kläglicher Verlust für die Frauenwelt…
 

Während der Zankerei, wie der gute ALDI-Teig nun zu belegen war – Torsten und Jade bestanden auf einer dicken Schicht Salami, während Jana, die sich seit drei Jahren zu den Vegetariern zählte, strikt dagegen war und Rucolasalat auf dem heißen Stück sehen wollte, von dem Torsten aber „mit Sicherheit Magenkrämpfe bekommen würde“ und Jade sich nicht „zwischen die beiden“ bei der Rucolafrage stellen wollte; Jana bestand darauf rote Paprika dem Belag hinzuzufügen, während Jade auf der gelben Sorte beharrte und Torsten die Champignons als seine Favoriten gewählt hatte – während all diesem Gelächter und leichten Gequatsche, schaffte Jade es tatsächlich nicht ununterbrochen an Michael und die fatale Nacht zu denken…
 

Sanfter Smalltalk über besuchte Parties, favorisiertes Essen, Lieblingsfilme und gelesene Bücher verschaffte ihm die Ablenkung, nach der er gesucht hatte. Jana äußerte positive Verwunderung über die WG-Situation der beiden Männer, mit denen sie in der engen Küche die immer intensiver werdenden Aromen des im Ofen wachsenden, italienischen Gerichts einatmete. Sie war überrascht, wie gut Torsten und Jade miteinander klarkamen, obwohl sie schon so lange auf engem Raum nebeneinander hausten. Die junge Frau selbst teilte sich eine viel größere Wohnung mit zwei weiteren Personen, Kathi und Martin, ebenfalls Studenten, und obwohl die drei eigentlich gut miteinander auskamen, krachte es doch des Öfteren zwischen ihnen.
 

„Naja, bei uns fliegen auch mal die Fetzen“, bemerkte Torsten lachend und blickte Jade von der Seite an.
 

„Aber ihr schreit euch doch nicht an, oder?“, fragte Jana verwundert.
 

„Oh, doch, Süße“, sagte Jade und automatisch machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Glaub mir, wir können schlimmer sein als Weiber. Mit Türenschlagen, Krallen ausfahren und fast aufeinander Losegehen.“
 

„Wobei Jade dabei natürlich lauter ist als ich“, fügte Torsten dem hinzu und räusperte sich gespielt theatralisch. Jana lachte.
 

„Ich bin ja auch viel weiblicher als du! Deswegen bist du auch oft so neidisch, haha!“, feixte Jade und boxte seinem Mitbewohner leicht gegen die Schulter.
 

„Ja, Frauen stöhnen im Normalfall immer lauter als Männer…“, sagte Jana und ihr Kichern zauberte ein kleines Grübchen in ihre rechte, seicht errötete Wange. Torsten zog die kleine Frau mit seinem Arm auf den Schoß und küsste sie leicht auf ihre Backe, was sie erneut dazu brachte leicht aufzukichern, leicht zu lächeln.
 

„Da hast du aber Jade noch nicht gehört…“, kam es dann aus dem Mund des Tontechnikers. Janas Augen weiteten sich kurz und eine Sekunde später brach sie in schallendes Gelächter aus, welches sie umgehen zu bereuen schien. Spielerisch und nur leicht schlug sie Torstens Brust und sagte: „Du bist ja total gemein zu deinem Mitbewohner! Hör auf!“ Sie blickte Jade entschuldigend an.
 

Kurz waren die Bilder vergangener Nacht im Gedächtnis des Schwarzhaarigen aufgetaucht, die er jedoch umgehend mit seiner gesammelten Kraft hinfort scheuchte, mit seinem so typisch, auf viele Menschen charmant wirkenden Grinsen überdeckte. „Ach, der wünscht sich einfach nur, dass er sich so gehen lassen könnte wie ich. Das ist purer Neid!“
 

„DIE PIZZA IST FERTIG!“, rief Torsten und schubste Jana spielerisch von seinem Schoß. Gemeinsam machten sie sich auf dem Bett des Tontechnikers gemütlich und schalteten die DVD ein.
 

„Alter, Leonidas ist SOWAS von heiß…“, murmelte Jade inmitten des Films, während er ein kleines Stück der mittlerweile fast kalt gewordenen Pizza verdrückte. Jana und Torsten nickten stumm, starrten weiter gebannt auf den Bildschirm. Und irgendwann schwankte das Gespräch wieder zu den Mitbewohnerinnen der kleineren Frau zurück.
 

„Ich glaube Kathi sagte, dass heute ein neuer Club eröffnet. Da wo früher das „Space“ war, da soll jetzt so ein Alternative-Laden rein, ich glaube der heißt „Notdienst“. Heute ist jedenfalls Eröffnungsparty mit freiem Eintritt und Happy Hour den ganzen Abend.“, erzählte die Braunhaarige, während der Abspann vor ihren Augen lief.
 

„Hast du Lust auch hinzugehen?“, fragte Torsten sie.
 

„Warum eigentlich nicht…“, antwortete Jana und lächelte den Tontechniker an. „So in einer Stunde los? Ich muss mich aber noch hübsch machen!“
 

„Na dann mach dich noch hübscher, wenn das überhaupt noch geht…“, entgegnete Torsten und als Jana sich erhob, strich sie ihm sanft durch das rötliche Haare und grinste Jade im Vorbeigehen kurz an.
 

„Du kommst doch auch mit oder?“, fragte Torsten seinen Mitbewohner. Der Barista seufzte. Ihm war nicht nach Party. Die nette Ablenkung mit der Pizza und dem Film hatte ihm zwar gut getan, doch wenn er jetzt an einen gefüllten Club dachte, an all die lüsternen Blicke, die so üblich auf Tanzflächen waren, als er an all die potenziellen Pärchen dachte, die sich eng umschlungen zum Beat wiegten, wurde ihm leicht schlecht. Es war eigentlich schon schwer genug die angedeuteten Zärtlichkeiten zwischen Jana und Torsten nicht allzu ernst zu betrachten. Sie zu beobachten, ohne dabei an seine verzwickte Situation zu denken. Ohne daran erinnert zu werden, dass er Michael nie wieder küssen würde. Dass Michael ihn nie wieder beachten würde. Dass Michael ihn verachtete.
 

„Ach, komm schon, mach nicht so ein Gesicht!“, riss Torsten den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken. „Das wird dir gut tun, Mann!“
 

„Ich weiß echt nicht…“, antwortete Jade. „Ich hab echt keinen Bock auf Party…“
 

„Der Eintritt ist doch eh frei! Komm doch einfach nur für ne Stunde mit. Und wenn’s richtig scheiße ist, kannst du auch gleich wieder gehen. Aber bleib hier nicht allein in der Bude. Mann, alleine rumzuheulen wie ein Emo bringt’s auch nicht!“, fuhr Torsten fort und brachte Jade mit seinen Ausführungen zum Lachen. Leichten Lachen.
 

„Alter, ich hab echt keine Lust… Wenn ich jetzt an Party und Saufen denke wird mir gleich schlecht. Ich bin einfach nicht in Stimmung…“, sagte Jade und erhob sich vom Bett. „Geht einfach ohne mich, OK? Habt ne schöne Zeit, amüsiert euch, knutscht rum, was auch immer.“
 

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer seines Mitbewohners. Er streichelte Brummer kurz, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Monitor seines PCs ein. Was wollte er eigentlich im Netz? Nachdenklich, oder vielleicht auch gelangweilt, unschlüssig, starrte er die Google-Seite an. Wonach sollte er suchen? Womit wollte er sich die Zeit vertreiben? Vielleicht wäre es doch schlauer, wenn er ein Buch lesen würde…
 

Drei Stunden später stand er an der überfüllten Bar neben Torsten mit dem vierten, vom Tontechniker ausgegebenen Cocktail (einem Mai-Tai) und betrachtete die von verschwitzten Körpern nur so strotzende Tanzfläche, auf der sich auch Jana mit ihrer Mitbewohnerin Kathi und zwei weiteren Kommilitoninnen befand, mit denen die beiden Männer schon ausgiebig getanzt und geschwatzt hatten.
 

Jade wusste nicht, ob es daran lag, dass er von der Pizza nicht genügend verdrückt hatte, oder ob er im Allgemeinen an diesem Tag zu wenig gegessen hatte, oder ob es vielleicht an seiner momentanen Verfassung, seinem Wirrwarr von Gefühlen lag, dass die Welt sich um ihn herum bereits etwas drehte - wie ein Karussell auf Stufe Eins. Dass der Alkohol in seinem Blut seinen Verstand betäubte, dass sich so etwas wie gute Laune breit machte – eine Illusion, eine erzwungene Vorstellung, geprägt von Trotz. Ha, sieh her, Michael, ich kann jeden haben, ich brauch dich nicht! Und tatsächlich hatte er schon einige Kerle erspäht, die ganz sicherlich NICHT hetero waren… Die Frage, die er sich nun stellte, während er einen weiteren Schluck des alkoholischen Gemischs zu sich nahm, lautete: Wollte er sich schon wieder einen Fremden anlachen und ihm im Eifer des Gefechts erneut „Michael“ nennen? Wollte er sich selber Salz in die Wunden streuen? Und den Fremden am nächsten Morgen sinnlos anblöken…
 

„Wenn du mich nicht bald stoppst, begehe ich wahrscheinlich auch so eine Dummheit wie Michael gestern...“, sagte er zu Torsten, während er sein Glas leerte und anfing mit den Eiswürfeln zu spielen.
 

„Hör doch endlich auf, darüber nachzudenken!“, lautete Torstens Antwort, der Jade das leere Glas aus der Hand nahm und auf der Theke hinter ihnen platzierte.
 

„Ha! Wenn das so einfach wäre, mein Liebster!“, entgegnete Jade und verschränkte die Arme vor seiner Brust, stierte fast wie verbissen auf die Tanzfläche.
 

„Hör mal, ich weiß du bist echt verschossen in ihn, aber so wie diese beschissene Situation sich jetzt entwickelt hat, hast du null Chancen bei dem Kerl, OK? Find dich damit ab“, sagte der Tontechniker plötzlich und leerte auch sein massives Glas, welches er ebenfalls auf die Theke stellte.
 

„Vielen Dank, dass du mir das so knallhart ins Gesicht schmetterst, bist du zu Jana auch immer so charmant?“, brummte Jade ohne seinen Mitbewohner anzusehen.
 

„Jana heult nicht wegen irgendwelchen Fremden rum“, kam die Antwort.
 

„Achso, ich heule also rum, ja?“, keifte Jade und blitzte den Rothaarigen kurz an.
 

„Mein Gott, reagier doch nicht so weibisch. Ist doch klar, dass du rumheulst“, antwortete Torsten und seufzte laut.
 

„Ja, ich sollte lieber männlicher sein, sonst springst du mich noch plötzlich an, wenn mir durch mein weibliches Verhalten Brüste wachsen! Aber wenn Jana ein „Johannes“ wachsen würde, würdest du sie auch anspringen, oder? Es ist so schwer sich zu entscheiden, was?!“, entgegnete Jade umgehend patzig.
 

Sein Mitbewohner blickte ihn kalt an. „Manchmal bist du so ein unglaubliches Arschloch, Jade“, sagte er und wandte seinen Blick erneut der Masse vor ihnen zu, schüttelte leicht den Kopf. Der Schwarzhaarige seufzte.
 

„Alter, tut mir Leid. Ich bin wirklich ein Arschloch. Verzeihst du mir, wenn ich dir nen kleinen Kuss geb’ und vergiss die dumme Scheiße, die ich eben gelabert hab?“, fragte er und stellte sich direkt vor den Tontechniker, der übertrieben die Augen verdrehte und den Barista danach angrinste, ihm seine Backe demonstrativ entgegenstreckte. Jade beugte sich leicht vor, umfasste Torstens Gesicht mit seinen warmen Händen und küsste die leicht stoppelige Wange des Tontechnikers. Doch danach ließ er das Gesicht, welches von den rötlichen Strähnen umrandet wurde, nicht los, drehte Torstens Kopf noch weiter zu sich und presste seine Lippen ebenso leicht auf die des Tontechnikers. Bereits nach einer Sekunde war alles vorbei und Jade grinste dämlich, drehte sich um und marschierte auf die Tanzfläche zu.
 

Er hätte wirklich zu Hause bleiben sollen.
 

Und er war froh, als sie sich endlich auf dem Nachhauseweg befanden. Jana und Kathi hatten sie sicher zu dem Taxistand eskortiert und dann aufgrund der warmen und klaren Nacht entschieden, selbst nach Hause zu laufen. Ein Spaziergang bei klarem Himmel bei nicht so klarem Kopf. Was gab es besseres?
 

Während ihres Marsches erzählte Torsten von Jana, berichtete, dass sie noch nicht offiziell zusammen waren, dass die Kleine es langsam angehen wollte. Ihr Freund zuvor hätte sie wohl massiv unter Druck gesetzt, eingeschüchtert, ihr die Freude an der Beziehung genommen. Jana hatte sich geschworen eine lange Zeit Single zu bleiben - doch dann kam Torsten. Geküsst hatten sie sich auch schon. Aber nur ein Mal. Aber dann auch so richtig. Jade musste grinsen. Süß.
 

Die beiden Männer stürzten sich auf den kalten Rest der Pizza und schlangen die verbliebenen Stücke gierig hinunter. Mit derselben Gier tranken sie die letzten Flaschen Mineralwasser.
 

„Boah, ich geh jetzt erstmal duschen. Ich stinke nach Schweiß, Alkohol und Rauch. Das ist widerlich“, kündigte Jade an und stand vom Küchentisch auf.
 

„Soll ich mitkommen und dir den Rücken schrubben?“, fragte Torsten und grinste seinen Mitbewohner keck an.
 

„Leck mich“, entgegnete Jade und streckte dem Tontechniker den Mittelfinger lachend entgegen, wonach er eilig ins Bad huschte.
 

In letzter Zeit gab Torsten ihm echt zu denken… Doch irgendwie wollte er sich jetzt, da das kalte Wasser auf seinen Körper prasselte, nicht weiter damit befassen. Der Geruch von Seife und Shampoo stieg in seine Nase. Das fühlte sich so gut an… Schnell schlüpfte er in eine frische Boxershorts und ein ebenso frisch duftendes Schlafshirt und warf sich schon fast wortwörtlich in sein Bett.
 

Der Schlaf kam schnell.

Und verließ ihn ebenso eilig.
 

Erschöpft und von seinen Gedanken, die automatisch zu Michael gewandert waren, saß er in der dunklen Küche und trank gekühlten Apfelsaft. Er hatte so eine unglaubliche Scheiße gebaut. Er konnte es immer noch nicht fassen… Unentwegt stellte er sich dieselben Fragen, auf die es keine Antworten gab. Auf die er auch in Zukunft wahrscheinlich keine finden würde.
 

Am liebsten würde er die Zeit zurückdrehen. Ha! Ein Standardspruch. Ein Spruch, über den er sich normalerweise aufregte. Den er nicht ausstehen konnte. Ein Spruch, der momentan seine Gefühle so vollkommen auf den Punkt brachte… Wieso war er nicht sofort nach Hause gegangen? Wieso hatte er sich diese beschissenen Sterne anglotzen müssen? Wieso hatte er nicht auf einem Taxi bestanden? Wieso musste er sich überhaupt in Michael verlieben?!
 

Torsten hatte doch Recht.

Jade hatte Null Chancen.

Das wusste er doch eigentlich selber.

Von Anfang an…

Wieso konnte er es nicht einfach akzeptieren?

Wieso konnte er seine auf dem Nichts aufgebauten Gefühle nicht einfach abstellen?

Wo war bitte der OFF-Knopf?
 

Plötzlich fiel Jades Blick auf die dunkle Silhouette, die er im Türrahmen leicht erkennen konnte und die sich nicht bewegte. Sein Mitbewohner hatte die Küche still betreten und blickte ihn nun schweigend an. Und auch Jades Lippen verließ kein einziger Satz. Der Schwarzhaarige sprach auch kein einziges Wort als Torsten die Distanz zwischen ihnen abbaute, ihn vorsichtig an der Hand nahm und ihn, immer noch stillschweigend, in sein Zimmer führte, in sein immer noch warmes Bett zog, Jade an seinen Körper drückte, die Arme um seinen jüngeren Mitbewohner legte und einen leichten Kuss auf dessen Haaren platzierte.
 

Dann auf dessen Stirn.

Auf der Wange.

An der Nasenspitze.
 

Und schließlich erlangten Torstens Lippen sein Ziel, vollends wanderten sie zu Jades Mund und nahmen diesen in Anspruch. Die heiße Zunge des Tontechnikers drang nur vorsichtig in die Mundhöhle des Baristas ein, der nur nach und nach verstand, was hier gerade passierte. Und als die Realisation vollzogen war, pressten beide Männer bereits ihre halbnackten Körper gegeneinander, küssten sich wild und ungestüm. Fast schon verzweifelt.
 

„Wenn du nicht bald aufhörst, machen wir einen gewaltigen Fehler“, flüsterte Jade und drückte Torsten mit all seiner Kraft von sich weg.
 

Wow. Er hatte anscheinend wirklich Talent Beziehungen zu zerstören. Oder angehende…
 

Er war ein Arschloch.

Michael war ein Arschloch.

Torsten war ein Arschloch.

Alle waren Arschlöcher.

Aber er war das schlimmste von allen.

Er hasste sich.
 

Michael
 

Waren Sonntage normalerweise wunderschöne Tage, an denen er sich von seiner ermüdenden Tätigkeit als Chefredakteur distanzieren konnte, Tage, an denen er tief Luft holen konnte, seine Energiereserven neu aufladen konnte und genüsslich seinen Freizeitbeschäftigungen nachgehen konnte, so hasste er diesen Sonntag mehr als alle anderen Tage zu einem Bündel zusammengeschnürt.
 

Sinnlosigkeit. Dieses Wort war momentan das einzige, welches er für die Beschreibung seines Lebens, seines Daseins finden konnte. Wo immer er auch hinblickte, alles schrie immer noch lauthals nach Tim. Diese imaginären Schreie toter Objekte wollten nicht verstummen. Sie wollten noch nicht einmal leiser werden. Vielleicht wollte Michael aber auch einfach seine Ohren nicht zuhalten. Vielleicht wollte er sie hören, sich an sie klammern.
 

Denn diese naive Hoffnung, dass sie Tim zurückholen würden, war immer noch präsent. Und diese abzuschütteln war eine viel zu schwere Unternehmung, an die Michael sich nicht heranzugehen wagte. Das Frühstück schmeckte nicht. Die Radiomoderatoren hatten eklige, gute Laune. Im Fernsehen wurden nur Filme der dritten Klasse ausgestrahlt, sein Buch langweilte ihn. Vor allem aber halfen all dieser Dinge nicht, nicht an Tim denken zu müssen.
 

Gegen Mittag schnappte der Journalist sich kurzerhand seine Jacke und marschierte hinaus. Er würde spazieren gehen. Eine neue Route. Nein, ganz sicherlich nicht die Strecke, die er mit Tim diskutierend, lachend und manchmal auch leicht zankend, so oft entlang gegangen war. Am besten würde er in einen völlig anderen Stadtteil fahren.
 

Und so gut diese Idee ihm auch zunächst vorkam, so bitter war doch deren Umsetzung. Der Spaziergang durch die fremde Gegend verschaffte ihm keine Genugtuung, half überhaupt nicht. Sein Leben fühlte sich momentan zu fremd an, er war ein Fremder in seiner Wohnung. Ein neues Element, welches ihm nicht bekannt war, machte seine Situation nur umso klarer. Michael flüchtete.
 

Er versuchte sich mit Kochen abzulenken. Und sein Herz machte einen riesigen Sprung, als er nach dem Brettchen, welches Tim ihm doch geschenkt hatte, griff. Es fiel mit einem lauten Knall zu Boden. Und Michael war es danach es in kleinste Einzelteile zu zertreten… Doch er tat es nicht. Er wusste, dass er es bereuen würde…
 

Morgen, ja, Morgen war schon Montag. Am Montag könnte er sich endlich wieder in die Arbeit stürzen, die ihm Ersatz bot. Er würde alles gründlich machen. Er würde schon um 8 Uhr in der Redaktion eintreffen, alle Emails sorgfältig bearbeiten und Florian ausrichten, er könne sich einen Tag frei nehmen, damit all diese Aufträge auf ihn fallen würden. Und dann würde er einen großen Kaffee genießen und…
 

Nein.
 

Das Bild von Jade tauchte in seinem Kopf auf. Jade, wie er sich keck grinsend über die Theke lehnte, ihn mit seinen dunklen Augen anfunkelte, wie er ihm den Kaffee reichte, ihm zuzwinkerte. Jade, wie er seinen Kopf nach hinten riss, die Augen zusammenkniff und lauthals stöhnte, sich an der Bettdecke festkrallte und Michael sein Becken entgegenstreckte…
 

Nein. Er konnte nicht mehr zu Starbucks gehen.

Definitiv nicht.

Rash Reactions

MICHAEL
 

Die schwarze Kaffeemaschine brummte und ratterte bereits um 7.30 Uhr an diesem Montagmorgen. Es passierte nicht oft, dass der Chefredakteur es selbst war, der diese anstellte, der überhaupt zu Kaffeefilter und Pulver griff. Es passierte auch nicht oft, dass er sich fast allein in der Redaktion aufhielt und die Rechner seiner Mitarbeiter hochfuhr, dass sein eigenes Emailprogramm bereits so früh die zahlreichen Nachrichten filterte und somit eine imposante Liste zum Abarbeiten schuf.
 

Der Drucker war längst damit beschäftigt allerhand Pressemitteilungen auf Papier auszuspucken, einen immer höher werdenden, greifbaren Stapel zu schaffen, während das Radio in Michaels Büro leise im Hintergrund rauschte, oder war es Musik? Eilig veränderte er die Frequenz. Es war wichtig, dass irgendwelche belanglosen Melodien im Hintergrund trällerten, Abwechslung zu dem wilden und rohen Tippgeräuschen boten, die die Räume des „Fly“ alltäglich erfüllten.
 

Mit der dampfenden Tasse des dunklen Getränks nahm er an seinem Schreibtisch platz und es machte sich fast schon so etwas wie Freude in seinem Innern breit, als er sich daran machte die ihm zugeschickten Anfragen und Beschwerden und organisatorischen Informationen zu beantworten, zu archivieren oder an die verantwortlichen Mitarbeiter weiter zu leiten. Die Arbeit nahm seine volle Konzentration in Anspruch. Denn er ließ es zu. Er wollte es so.
 

Nach und nach, denn schließlich war es bereits nach 8 Uhr, trudelten seine Kollegen ein. Wahrscheinlich wunderten sie sich, dass der Raum bereits nach Kaffee duftete und dass ihre Computer nur noch auf die Passworteingabe warteten, bereits munter vor sich hin surrten und flackerten.
 

Gegen 9 Uhr machte Michael einen „Rundgang“ und begrüßte seine Autoren und weiteren Mitarbeiter freundlich, fragte nach dem Stand der Dinge jedes einzelnen, geplanten Beitrages und verkündete, dass die heutige Sitzung pünktlich um 9.30 Uhr stattfinden würde, schließlich waren die wichtigsten Personen sogar schon anwesend. Sogar Anna und Maximilian saßen an den Praktikanten-PCs und surften im StudiVZ.
 

Auch zu ihnen ging er. Und bereute es umgehend. Anna lächelte ihn freundlich an. „Guten Morgen, Herr Zannert. Sind Sie Freitag eigentlich noch gut nach Hause gekommen?“, fragte sie ihn, noch bevor er ihren Gruß erwidern konnte. Michael räusperte sich.
 

„Natürlich bin ich gut nach Hause gekommen“, sagte er und lachte kurz auf. „Aber vielen Dank der Nachfrage.“
 

„Sie sind aber nicht, wie Sie geplant hatten, mit dem Auto gefahren, sondern haben sich von diesem Tony ein Taxi rufen lassen, oder?“, hakte das Mädchen weiter besorgt nach. Vielleicht täuschte sie diese Besorgnis aber auch nur vor…
 

„Ja, natürlich“, antwortete Michael leicht geniert und es kam ihm vor, als würden ihn seine Autoren von allen Seiten anstarren. Einbildung. „So, jetzt muss ich aber wieder an die Arbeit“, sagte der Journalist eilig, als Anna gerade dabei war, die Konversation fortführen zu wollen. Schnell drehte er sich um und marschierte geradewegs in sein Büro, beachtete nichts und niemanden auf seinem kurzen Weg. Als er die Tür ins Schloss zog, atmete er zunächst tief ein und fragte sich, was er Anna wohl noch erzählt haben mochte, an diesem katastrophalen Freitagabend…
 

Zum wievielten Mal verfluchte er sich jetzt eigentlich? Am liebsten würde er seinen Kopf so lange gegen die Wand schlagen, bis er all seine Erinnerungen (verschwommene Erinnerungen) aus dem undankbaren Gedächtnis gelöscht hätte. Allerdings würde diese Art der Verdrängung seinen Kollegen sicherlich negativ auffallen…
 

Als die Pause nach der durchaus langen Konferenz näher kam, griff Michael nach seinem Handy. Er hatte es noch nicht geschafft alle Kontaktdaten - Geburtstage, Adressen, Nummern - von seinem PC zu übertragen. Jetzt bot sich ihm die perfekte Gelegenheit. Und auch wenn es mit einem Kabel eine simple Tätigkeit gewesen wäre, die er in weniger als 10 Minuten hätte erledigen können, machte er sich daran, die Daten manuell zu übertragen. Doch nach etwa fünf Minuten schrie der Journalist laut: „Scheiße!“, und alle Köpfe der in der Nähe arbeitenden Autoren drehten sich kurz zum Büro ihres Chefs um, wonach sie sich eilig wieder an die anstehende Arbeit machten. Sie würden ihn ganz sicherlich nicht auf diesen minimalen Zwischenfall ansprechen…
 

Ach, du grüne Neune! Laura hatte morgen Geburtstag! Und dort stand es; mit fetter Schrift in seinem virtuellen Kalender notiert! 16 Uhr. Kaffee und Kuchen.
 

Seine Nichte feierte tatsächlich morgen ihren 14. Geburtstag und ihr Lieblingsonkel hatte das Event komplett verschlafen... Fast. Ein schleichendes schlechtes Gewissen vermischte sich mit einer leichten Welle von Panik. Ein leichter Schmerz durchzuckte ihn; er musste Sabine Bescheid geben, dass er alleine kommen würde...
 

Automatisch griff er zum Telefon und wählte die Nummer seiner älteren Schwester, bevor er sich weiter Gedanken über diesen Zustand machen konnte.
 

„Speier?“, ertönte die fröhliche, weibliche Stimme am anderen Ende. Sabine hatte vor mehr als 20 Jahren geheiratet. Einen Manager. Markus. Einen wirklich tollen Kerl, den Michaels Familie schnell ins Herz geschlossen hatte. Und homophob war er auch kein kleines bisschen, was man von Sabines festen Freunden vor der Ära Markus allemal hätte behaupten können... Wie immer, wenn er die Stimme seiner Schwester hört, bereute er es, dass er nie die Zeit fand, mehr mit ihr und ihrer kleinen Familie zu unternehmen.
 

„Hi, ich bins, Michael“, sagte er knapp.
 

„Micha! Mensch, schön, dass du anrufst!“, legte seine Schwester umgehend los. „Was liegt an bei dir? Du willst mir doch nicht wegen morgen absagen, oder? Mama und Papa sind auch da! Laura ist schon ganz aufgeregt und hat sogar selber einen Kuchen gebacken. Ich frage mich, woher sie das eigentlich kann... Von mir jedenfalls nicht!“, sie lachte laut. „Also, ihr kommt doch morgen, oder?“
 

„Die Sache ist...“, setzte Michael an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er es noch nicht ausgesprochen hatte. Dass es noch niemand von ihm erfahren hatte. Wie sollte er es nur sagen... In Worte fassen, artikulieren, dass Tim fort war?
 

„Ich komme allein.“ Na, das hörte sich doch halb so schlimm an.
 

„Wie schade, ich habe Tim schon so lange nicht mehr gesehen! Geht er wieder Fußball gucken?“, entgegnete sie immer noch freundlich.
 

Michael holte Luft. „Wir sind nicht mehr zusammen“, brachte er schließlich heraus. Kurz und schmerzlos.

Wie er zunächst dachte.

Doch bereits einige Sekunden später merkte er den Riss, den die Worte in seiner Seele verursachten.

Vielleicht begriff er diese Tatsache auch erst in diesem Moment.

Jedenfalls musste er die leicht stechenden Tränen hinter seinen Augenliedern mit enormer Kraft zurückhalten.

Als hätte er es eben erst selbst erfahren.
 

Stille.
 

„...Was? Oh, mein Gott, Micha!“, stammelte seine Schwester. „Damit... Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Oh, das tut mir so Leid. Seit... Ich meine, seit wann? Wann habt ihr Schluss gemacht? Wieso? Ich verstehe das nicht. Ist irgendwas vorgefallen? Habt ihr euch gestritten? Geht es dir gut???“
 

„Jaaaa...“, antwortete der Journalist leicht genervt. Manchmal konnte Sabine einfach den Mund nicht halten und sabbelte einfach weiter. Was hatte sie ihn noch mal gefragt? „Alles OK, es ist noch ganz frisch. Ich erzähl dir alles morgen, oder wenn sich ein anderer Termin findet. Könntest... Kannst du es unseren Eltern für mich sagen? Ich habe keine Lust auf explizite Nachfragen bezüglich Tims Verbleiben bei der Zusammenkunft morgen, OK?“
 

„Ja. Ja, sicher“, stammelte Sabine, die von der Nachricht wirklich betroffen zu sein schien. „Hey, willst du nicht morgen hier schlafen? Wenn Lauras Freundinnen weg sind, können wir uns ja... Ähm. Vollaufen lassen. Nur du und ich. Und vielleicht Markus. Obwohl... Ich glaube der muss Samstag arbeiten. Also nur wir zwei, was hältst du davon? Gin-Tonic kann bei Liebesproblemen wirklich helfen!“
 

„Du, lass mal lieber. Das letzte Mal, als ich mich „vollaufen“ habe lassen, habe ich eine große Dummheit begangen...“, sinnierte Michael und merkte erst am Ende des Satzes, dass er ihn tatsächlich laut ausgesprochen hatte.
 

„Was? Du und eine Dummheit begehen? JETZT bin ich neugierig!“, sagte seine Schwester und Michael konnte ihn grinsendes Gesicht förmlich vor sich erblicken.
 

„Vielleicht erzähle ich es dir am Freitag. Vielleicht. Ich bin jetzt in der Redaktion und muss noch einiges erledigen. Wir sehen uns dann morgen“, antwortete der Chefredakteur und strich sich durch die kurzen Haare.
 

„OK, ich freue mich, Michael! Bis morgen!“
 

Gut, das war erledigt. Einige Minuten saß er still da und starrte die weiße Decke an. Endlich fasste er sich.
 

Jetzt folgte der weitaus schwierigere Teil: Das Geschenk. Michael fing unbewusst an Runden um seinen Schreibtisch zu drehen. Was hatte er Laura letztes Jahr geschenkt? Er konnte sich einfach partout nicht daran erinnern. Und: Was schenkte man überhaupt einer 14-Jährigen???
 

Unbewusst verließ er sein Büro und rannte fast schon auf Annas Schreibtisch zu. Die müsste das doch wissen...! „Anna!“, setzte er umgehend an und die Praktikantin verschluckte sich beinahe an ihrem Sprudelwasser. „Was schenkt man einer 14-Jährigen?“ Michael wusste nicht, ob er gerade wie ein Psychopath wirkte, jedenfalls blickte die schwarzhaarige junge Frau ihn dementsprechend an und antwortete zögerlich: „Äh, ein BRAVO-Abo?“
 

„Ach, Quatsch“, ertönte plötzlich die Stimme des CvD. Michael hatte Florian gar nicht näher kommen sehen. „Lieber einen Gutschein für einen Friseurbesuch“, riet ihm sein Stellvertreter und eigentlich guter Freund.
 

„Aber dann denkt sie doch, ich würde ihr suggerieren, dass sie einen schlechten Haarschnitt hat, das endet doch in Tränen, Sabine sagte das schon vor einigen Monaten, Laura stecke mitten in der Pubertät“, entgegnete Michael und kratzte sich leicht benommen am Hinterkopf. Barbie? Nein. Klamotten? Nein. Großes Nein. Etwas zu trinken? Himmel, nein. Haarspangen? Nein.
 

„Schenken Sie ihr doch einen Gutschein für Douglas und sagen Sie ihr, dass sie sich davon Make-Up kaufen soll - damit sie den Jungs in ihrer Klasse den Kopf verdrehen kann!“, schlug die Praktikantin plötzlich mit viel Enthusiasmus in ihrer Stimme vor.
 

„Meine Schwester bringt mich doch um...“, stammelte Michael. Die Idee jedoch klang gar nicht so verkehrt und als Florian seinen Senf dazugab („Ja, aber du bist weiterhin der Held deiner liebsten Nichte. Trotz Pubertät...“) war Annas Idee beschlossene Sache. „Vielen, lieben Dank, Anna. Das ist eine großartige Idee!“, verkündete und machte sich auch umgehend auf den Weg ins Zentrum.
 

Auch wenn er sich vornahm, an einem bestimmten Laden NICHT vorbeizugehen... Das Zentrum besaß genügend Eingänge und Korridore. Es würde eine Leichtigkeit werden. Und zu seinem Glück lag Douglas zudem sowieso am völlig anderen Ende. Mit leichten Schritten passierte er die vielen einladenden Geschäfte und betrat den exotisch duftenden Laden, in dem die weiblichen Bedienungen aussahen, als wären sie direkt aus einem Hochglanzcover in die Realität gestiegen.
 

Wie viel kostete Make-Up eigentlich? Er dachte nicht weiter nach. Ein 100-Euro-Gutschein sollte Laura zufrieden stellen. Dessen war er sich sicher. Als er an einer kleineren Drogerie vorbeiging, konnte Michael es dennoch nicht lassen einen kleinen Plüschteddy ebenfalls in Geschenkpapier einpacken zu lassen. Vielleicht um sein kleines, schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass er seiner kleinen Nichte so ein erwachsenes Geschenk bereitete. Für ihn würde sie immer das kleine, niedliche Mädchen mit den großen, fragenden Augen bleiben. Aber in der heutigen Zeit 14 Jahre alt zu sein, bedeutete sich bereits in den Grenzgebieten zu bewegen. Die Adoleszenz begann. Er seufzte als er der Kassiererin beim Verpacken zusah.
 

Und als er auf die Uhr sah, erschrak er. Ihm blieben genau fünf Minuten um in sein Büro zurückzukehren und den wichtigen Anruf des Verlagsleiters entgegennehmen zu können. Florian hatte bereits versucht ihn zu erreichen. Sechs Anrufe in Abwesenheit. Michael beschleunigte seine Schritte. Wie hatte er die Zeit nur so vergessen können? Wie hatte er sein Handy nicht klingeln hören?
 

Das große Logo hypnotisierte ihn plötzlich. Ungewollt wurden seine Schritte langsamer. Es war, als würde ihn allein der Anblick der amerikanischen Coffeekette lähmen. Ein großes Gewicht legte sich auf seinen Körper und versuchte ihm am Vorankommen zu hindern.
 

Sieh nicht hin. Sieh nicht hin. Sieh nicht hin.
 

Doch er tat es. Wie hätte er auch nicht durch die riesige, voyeuristische Glasfront der Filiale blicken können? Wie hätte er die lange Kette aus menschlichem Fleisch am Tresen ignorieren können? Wie hätte er den schlanken Körper, der die Masse zufrieden stellte, übersehen können?
 

Im selben Moment, wandte Jade ihm seinen Blick zu.

Eine Sekunde verging.

Zwei.

Drei.
 

Michael rannte aus dem Zentrum.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Der heutige Tag war richtig mies. Katja war nicht da, Ali war nicht da. Nur dieser eine nervige Student, die kleine Ökotussi, der dicke Besserwisser und der 30-Jährige Bastard, der früher mal LKW-Fahrer gewesen war und immerzu dieselben Geschichten erzählte. Zum Beispiel wie er seine Ehefrau ständig mit irgendwelchen Nutten im Fahrerhäuschen betrogen hatte. Jade konnte einfach nicht verstehen, wie man auf so etwas stolz sein konnte. So stolz, dass man mit dieser niederträchtigen Tatsache vor Menschen prahlte, die man noch nicht mal richtig kannte. Michael würde bestimmte niemanden...
 

Michael!

Dort ging er, schlenderte fast schon den breiten Korridor entlang und blickte in seine Richtung.

In seine Richtung!
 

Bitte schau mich an, zwinker’ mir kurz zu, oder wink einfach nur, ganz kurz, nur so, dass ich es sehen kann, oder lächel’ kurz, heb deine Hand, signalisier mir, dass du mich siehst, dass du mich wahrnimmst, dass...

Er blickte dem Journalisten nach, der eilig aus dem Zentrum rannte, in der Masse der ein- und ausgehenden Menschen einfach spurlos verschwand.
 

Der Barista seufzte und ließ beinahe den Kopf hängen - wäre da nicht die werte Kundschaft. Der Ansturm wollte einfach nicht kleiner werden. Immerfort tauchten neue, nach Kaffee dürstende Menschen auf. Und eigentlich sollte ihn das glücklich machen. Er musste nicht mit seinen Kollegen sprechen UND: er musste nicht an Michael denken. Jedenfalls hätte er eigentlich zu beschäftigt sein müssen, um seinen Gedanken Aufmerksamkeit zu schenken. Doch scheinbar war er Multitaskingfähig.

Er hasste es.
 

Während er eine Hazelnut-Latte zubereitete fragte er sich, was er sich eigentlich gedacht hatte. Michael war vergeben. Michael hatte mit IHM seinen Freund betrogen. War doch klar, dass er nie wieder etwas mit dem Schwarzhaarigen zu tun haben wollte. Oder nicht? Und dennoch machte ihn diese ganze Scheiße einfach nur wütend. Er wollte ihn! Vorher hatte doch auch alles immer geklappt!
 

Er musste sofort an Katjas Worte denken. „Ich wage es aber zu behaupten, dass deine sonstigen „Objekte“ kein vergleichbares Kaliber sind.“ Verdammt, die Frau hatte so recht. Michael war ein völlig anderer Typ. Er lebte in einer völlig anderen Welt. Mein Gott, er hätte vielleicht doch einfach mit Torsten schlafen sollen, um auf andere Gedanken zu kommen...
 

OK. Nein. Es war die richtige Entscheidung gewesen ihn abblitzen zu lassen. When you fuck your roomate, everything goes wrong. Hatte ihm das nicht mal dieser Austauschstudent aus England gesagt? Damals auf der Fete, kurz nachdem er mit Mark Schluss gemacht hatte? Er meinte sich vage daran erinnern zu können. Der Spruch hatte etwas. Er sagte wahrscheinlich die Wahrheit. Und Torsten war im Moment eh verwirrt... Er liebte Jana, aber gleichzeitig fühlte er sich durch diese Endgültigkeit, die er meinte von Jana aus zu verspüren, zu Männern umso mehr hingezogen. Vor allem zu Jade.
 

Der Barista grinste leicht. Er war froh zu 100% bestätigen zu können, dass er auf Männer stand. Bisexuelle hatten es nicht leicht. Torsten hatte es nicht leicht. Nein, nein, nein.
 

„Venti Hazelnut-Latte!“, rief er, als er das Getränk auf der ovalen Theke platzierte, wo es schon erwartet wurde. Wann würde der Tag endlich vorbeigehen...
 

MICHAEL
 

Sabine und Markus lebten einige Kilometer südlich vom Zentrum entfernt. Am Stadtrand. Naja. Eigentlich noch weiter. In einem kleinen Kaff, welches nur aus einigen hundert Häusern bestand. Hübschen Häusern, das musste Michael zugeben, als er die Hauptstraße langsam entlangfuhr. Es war 15.50 Uhr. Er würde definitiv nicht zu spät kommen. In der Auffahrt sah er bereits den alten Mercedes seiner Eltern stehen. Er hatte sie seit einigen Monaten gar nicht mehr gesehen. Ein Familientreffen würde ihm sicherlich gut tun...
 

Seine Eltern hatten sein Coming-Out damals wirklich gut verkraftet. Sie hatten es schnell akzeptiert. Und sie hatten jeden seiner Freunde mit Respekt behandelt. Und auch Sabine hatte nie wirklich Probleme mit einem schwulen Bruder gehabt. Aber das lag wahrscheinlich auch an ihrer Reife. Als er mit 17 Jahren sein Geheimnis preisgab, war seine Schwester bereits 24 Jahre alt und wohnte nicht mal mehr im elterlichen Haus, kam nur sporadisch zum Besuch, verpasste natürlich keinen einzigen Geburtstag.
 

Michael wusste es zu schätzen eine tolerante Familie zu haben. Und fühlte sich erneut schuldig, nur so wenig Zeit für diese aufbringen zu können. Sein Job war stressig. Das wussten sie. Diesen Fakt akzeptierten sie. Und niemand war ihm böse deswegen. Er würde sogar behaupten, dass seine Eltern extrem stolz auf ihren Jungen waren. Ja, er hatte es wirklich zu etwas gebracht.
 

Es war Sabine, die ihm die Tür öffnete und sich sogleich um seinen Hals warf. „Hach! Ich freue mich sooooooo dich zu sehen!“ Seine Schwester war Grundschullehrerin, Deutsch und Kunst waren ihr Fachgebiet, und irgendwie schienen die lieben Kinderchen manchmal leicht auf sie abzufärben, jedenfalls war sie mit ihren momentanen 42 Jahren immer noch lebensfroh wie ein Teenager. Gerade das machte sie so wohl so beliebt.
 

„Sabine, schön dich zu sehen.“, sagte er lächelnd, während er Laura bereits im Flur stehen sah. Und ein Wort tauchte in seinem Kopf auf: Volltreffer! Seine Nichte, die, er hätte es schwören können, wieder einen Kopf gewachsen war, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sich rosa Lidschatten aufgetragen und ihre Lippen in der gleichen Farbe angemalt. Sein Geschenk würde sie also freuen. Grinsend ging er auf das blonde Mädchen zu, welches modisch gekleidet war. Sie trug Hüfthosen und dazu ein weißes Tanktop, einen schwarzen Gürtel hatte sie sich lässig um die Hüften gebunden.
 

„Onkel Michael!“, begrüßte sie ihn mit einem strahlenden Lächeln und der Journalist umarmte sie. Umgehend danach reichte er ihr das Geschenk. „Hier, für dich!“, sagte er und ihre Augen strahlten als sie den dünnen bunten Umschlag von der Karte entfernte.
 

„HUNDERT EURO! Ach, du SCHEISSE, wie GEIL!“, schrie sie fast als sie den Douglasgutschein betrachtete.
 

„Na!“, keifte Sabine, grinste dennoch dabei. „Michael, du musst nicht immer so viel Geld ausgeben, verdammt! Sie ist verwöhnt genug, wirklich!“
 

„Von euch vielleicht, ich aber habe noch Nachholbedarf“, bemerkte der Chefredakteur, der nun endlich seine Jacke ablegen konnte und einer strahlenden Laura, die sich tausendfach bei ihm bedankte, ins Wohnzimmer folgte. Der Teddy blieb auf der Kommode im Flur sitzen...
 

Es tat gut mit seinen Eltern, seiner Schwester und seinem Schwager Kaffee zu trinken und den durchaus gelungenen Kuchen seiner Nichte gierig zu verputzen. Sie redeten über die Kinder (denn Sabine hatte auch noch einen 15-Jährigen Sohn, der sich zur Feier des Tages bei einem seiner Freunde einquartiert hatte), sie redeten über alte Zeiten, als Michaels Familie noch unter einem Dach hauste, über die Nachbarn, über die Arbeit.
 

Und als Lauras Freundinnen kamen und Markus die Mädels ins Kino fuhr, redeten sie letztendlich über Tim. Der Chefredakteur erzählte seiner Familie die ganze Geschichte.
 

„Es tut mir sehr Leid für dich, Micha“, sprach seine Mutter, eine robuste ältere Frau, die leicht geschminkt und gut gekleidet war. Sie hielt sich fit. Wie auch der Vater des Journalisten. Sie hatten einen festen Tagesplan, an den sie sich mit Disziplin hielten. Joggen, Schwimmen, Spazierengehen, Kochen, Schlafen, Lesen – alles gehörte dazu. Und man konnte es ihnen ansehen, dass der Lebensstil dem älteren Paar durchaus wohl bekam.
 

„Aber so einfach aus dem Nichts, so ein Feigling. Wenn er ein wahrer Mann gewesen wäre, dann wäre er ehrlich zu dir gewesen!“, sprach sein Vater mit erhobener Stimme. „Ich war eurer Mutter immer treu, ich war ihr immer ehrlich! Und deswegen sind wir auch noch heute zusammen!“
 

„Ach, ab und an flunkerst du auch, Rolf!“, bemerkte Michaels Mutter und nahm amüsiert einen Schluck Kaffee zu sich.
 

„Aber bei den wichtigen Sachen habe ich NIE gelogen, Anne, nie!“, fuhr sein Vater fort und legte sich dabei die Hand aufs Herz. „Nie!“
 

„Daran zweifelt ja auch niemand, Papa“, sagte Sabine mit einem leichten Schmunzeln. „Dennoch hast du Recht, was Tim angeht. Er ist ein Arschloch, wenn ich das mal so sagen darf“, sie blickte in Michaels Richtung, der ihr zu nickte und versuchte zu lächeln. „Der Mann hat einfach Komplexe und rennt deswegen weg.“
 

„Er war einfach neidisch, das ist alles!“, spie sein Vater fast schon aus und biss in seinen Keks, an dem er sich sofort verschluckte. Seine Frau klopfte ihm auf den Rücken.
 

„Ich bin sicher, dass du schnell einen anderen, netten Mann kennenlernen wirst, Micha“, sagte seine Mutter zum Schluss, als sie sich verabschiedeten.
 

„Das ist nicht so einfach, Mama“, entgegnete Michael. Ungewollt wanderten seine Gedanken zu Jade. Er schüttelte sich leicht.
 

„Du packst das, mein Chefredakteur“, sagte sie, lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Auch sein Vater umarmte ihn, klopfte ihm in männlicher Manier auf die Schulter und nickte ihm zu. „Besuch uns bald“, waren seine Abschiedsworte. Der Mercedes verschwand hinter der Ecke.
 

„Und, erzählst du mir jetzt von deiner Dummheit?“, fragte Sabine, die sich gegen den Türrahmen lehnte, plötzlich. Und kurz war Michael geneigt ihr sein Herz auszuschütten, ihr von dieser durchaus heißen und gleichzeitig furchtbaren Nacht zu erzählen. Nur kurz.
 

„Ein anderes Mal, ich fahre jetzt auch lieber. Wir sehen uns bald!“
 

SEBASTIAN/JADE
 

Egal wie oft er in Richtung des Eingangs starrte. Michael kam nicht. Eine ganze verdammte Woche war vergangen und er kam einfach nicht. Und auch seine Kollegen kauften niemals einen Kaffee für ihn mit.
 

Es war vernichtend.

Es war demütigend.

Es war besser.
 

Aber warum fühlte er sich dann so unfassbar scheiße?
 

MICHAEL
 

Der Blick des Journalisten streifte den immer noch aufgestellten, massiven Bilderrahmen, der das alte Foto hinter der dünnen Glasscheibe eingefroren hielt. Der Anblick seiner mit Tim, ihr gemeinsames, so warm erscheinendes Lächeln; es erschien ihm wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Und so war es ja auch irgendwie... Michael hatte es noch immer nicht geschafft seine Trennung offiziell zu machen. Nur Patrick wusste es. Patrick, sein alter Studienfreund mit dem er erst gestern im Pub gewesen war und dem er die ganze Geschichte, inklusive des kataklysmatischen Freitages, eröffnet hatte.
 

Automatisch griff er nach dem aufgestellten Foto und packte es in die allererste Schublade. Der Schreibtisch erschien plötzlich so leer ohne das Bild. Es ließ eine sichtbare Lücke zurück. Jedenfalls war dies Michaels Empfindung. Doch er würde es nicht zurückstellen. Oh, nein. Nach einer Weile steckte er das Foto eine Schublade tiefer. Und nach einem weiteren Moment vergrub er es unter dem dicken Haufen Papier in der untersten. Dort war es gut aufbewahrt.
 

Er musste sich zusammenreißen!

Sein neues Leben anfangen!

Sich nicht unterkriegen lassen!

Ja, genau. Mit diesen Zielen fing die Woche gut an.
 

Und kulminierte letztendlich in einer Katastrophe.
 

Es waren diese Kleinigkeiten, von denen er anfangs gedacht hatte, sie würden ihn auch weiterhin ablenken. Die unwichtigen Details eines Auftrages, minimale Rechtschreibfehler eines zu redigierenden Artikels, kurze Telefonate, wenige Emails, die aus Versehen doppelt und dreifach verschickt wurden. Es waren diese Winzigkeiten, die ihn urplötzlich aus der Fassung brachten und seine Seite von ihm weckten, die er sonst eigentlich unter Kontrolle hatte.
 

Michael wich persönlichen Gesprächen aus. Und als Florian ihn direkt auf das verschwundene Foto ansprach, und normalerweise redeten die beiden Männer immerzu direkt, ohne das Blatt vor den Mund zu reden, schrie der Chefredakteur ihn an, keifte, Florian solle doch endlich den Produktionsplan ändern.
 

Er fühlte sich elendig. Noch schlimmer wurde es, als seine Autoren ihn immerzu ansprachen, ob er nicht mit ihnen „eben schnell zu Starbucks was trinken und essen“ gehen wollte. Nein, das wollte er nicht. Und als Florian ein weiteres Mal eine zusammen verbrachte Pause vorschlug, passierte es erneut. Es geschah wieder, dass Michael einen knallroten Kopf bekam und seinen Kollegen, wie auch Freund, eigentlich grundlos ankeifte.
 

So konnte es nicht weitergehen.

Sein Verhalten war infantil und unfair.

Er schämte sich.

Bekam kaum Schlaf, was seine Laune noch einige Etagen tiefer sinken ließ.
 

Das musste aufhören.
 

„Hey, Florian…“, begrüßte er den CvD, als dieser kurz vor 12 Uhr das Büro des Chefredakteurs betrat.
 

„Hallo Michael“, entgegnete der Mann mit den kastanienbraunen Haaren, die seine Stirn verschwinden ließen. „Ich weiß, du wirst wahrscheinlich wieder „nein“ sagen, aber ich wollte dich dennoch fragen, ob du nicht Lust hast, mit uns einen Kaffee trinken zu gehen.“
 

„Ja, sehr gerne“, antwortete der Journalist und erhob sich umgehend von seinem Schreibtisch. Florian starrte ihn leicht unglaubwürdig an, ein Lächeln machte sich dennoch schnell auf seinem Gesicht breit. „Es tut mir Leid, dass ich die ganze Zeit so ein Arsch bin. Tim hat mit mir Schluss gemacht und irgendwie komme ich noch nicht so ganz damit klar.“
 

„Ja, das… dachte ich mir schon…“, kam es vom CvD. „Und das tut mir echt Leid. Wenn du reden, oder saufen willst, du weißt, wie du mich erreichen kannst.“
 

„Danke“, sagte Michael grinsend.
 

Natürlich wollten die zwei weiteren Kollegen zu Starbucks. Natürlich konnte Michael nicht dagegen protestieren. Natürlich musste Jade gerade an diesem Tag arbeiten. Natürlich!
 

Es war die Hölle.
 

Der Chefredakteur konnte diese dunklen Augen auf seiner Haut spüren, die Kristalle, die vergeblich nach seinem Blick suchten. Die Stimme des Baristas, der nach Ihren Wünschen fragte, klang so freundlich und unschuldig dabei. Er war an der Reihe. Jade fragte ihn. „Was soll’s bei Ihnen sein?“ Michael starrte die großen, an der Wand angebrachten Poster an, die die verschiedenen Bestellungsmöglichkeiten veranschaulichten, während er mit ausdrucksloser Stimme seine Standardmischung bestellte. Es fühlte sich an, als würde die Zubereitung Stunden dauern. Michael hätte schwören können, dass Jade sie die ganze Zeit über vom Tresen aus beobachtete. Der Chefredakteur konnte sich gar nicht mehr konzentrieren, war nicht in der Lage das Gespräch mit seinen Kollegen zu verfolgen, daran teilzunehmen.
 

„Ich sehe, der Kleine nimmt deinen ganzen Kopf ein, was?“, riss ihn plötzlich die Stimme Stefans, des Sportressortleiters, aus seinen Gedanken.
 

„Was?“, murmelte er.
 

„Der Kleine da“, fuhr sein Kollege leicht grinsend fort. „Der dich eben schon bei der Bestellung die ganze Zeit angestarrt hat.“
 

Es passierte.
 

Michael erhob sich mit solcher Kraft, dass sein Kaffeebecher umkippte. Die immer noch warme Flüssigkeit verteilte sich rasend über die Tischplatte und ließ auch seine Kollegen schleunigst aufspringen. Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, brüllte Michael Stefan bereits an. „Was soll diese ganze Scheiße eigentlich?! Was nimmst du dir heraus dich über mich lustig zu machen und mir so einen Dreck zu unterstellen?! Ich habe das ganze so satt!!!!“
 

Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er den Weg zurück in die Redaktion gefunden hatte. Als Florian sein Büro erneut betrat, war es bereits Abend.
 

„Micha… Ich denke du solltest dir mal ein, oder zwei Woche freinehmen“, sprach der CvD in ruhiger Stimme auf ihn ein. „Es wird dir gut tun. Die Kollegen fangen schon an zu tuscheln. Und ich weiß, dass du das nicht willst.“
 

Michael wischte sich den kalten Schweiß von seiner Stirn und blickte seinen Freund resigniert an. „Ich glaube du hast Recht“, sagte er schließlich. „Du hast Recht.“
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Meine Fresse, reiß dich zusammen, Jade!“, herrschte Torsten den Schwarzhaarigen an, der erneut ein gemeinsamen Frühstück mit dem Tontechniker und seiner nun offiziellen Freundin Jana ablehnte und meinte, er wollte den Tag lieber in seinem Bett verbringen. „Du bist wie so ein verfickter Strauß. Bloß den Kopf in den Sand stecken und alles andere ignorieren.“
 

„Sträuße stecken höchstens den Kopf in den Sand, wenn sie Angst haben, Torsten. Ein beschissener Vergleich“, murmelte Jade, der wirklich nicht vorhatte aufzustehen. Ja, hier im Bett bleiben, einfach nur abhängen, Filme aufm PC gucken, lesen. Bloß nicht raus. Nein. Nicht raus.
 

Urplötzlich wurde ihm die Decke weggezogen.
 

„Mann, Torsten, du…!“, schrie Jade, der sich herumwirbelte und nach seiner Bettwäsche greifen wollte, und dann merkte, dass es Jana war, die ihm den Stoff geklaut hatte. Sie schaute ihn ernsthaft an. Grinste erst einige Sekunden später.
 

„Du kommst sofort mit uns mit. Das ist ein Befehl!“, sprach sie laut.
 

Jade verdrehte die Augen.
 

„Du hast genug geheult. Wegen nem Kerl, den du nicht mal kennst, ums ein weiteres Mal zu sagen. Reiß dich gefälligst zusammen und hör auf wie ein Zombie rumzulaufen. Wenn du dich hier einsperrst findest du erst recht keinen neuen Kerl“, fügte Torsten dem hinzu, der sich genervt gegen Jades Zimmertür gelehnt hatte und seinen Mitbewohner anstierte.
 

„Ja, ja, OK! Ich komme mit!“, knurrte Jade und stand leicht erzürnt auf. „Aber verpisst euch aus meinem Zimmer, damit ich mich anziehen kann, Mann!“
 

Jana und Torsten verdrehten fast gleichzeitig die Augen und schlossen die Zimmertür leise hinter sich, murmelten irgendetwas zueinander. Doch dies kümmerte Jade überhaupt nicht. Es war ihm mehr als egal. Immer wieder musste er an Michaels Wutausbruch in der Filiale denken, an diese Augen, die ihm ausgewichen waren, diese laute Stimme, die ihn aus seinen bitteren Tagträumen gerissen hatte. Ein kalter Schauer erwischte ihn erneut.
 

Es waren acht Tage vergangen seit diesem Vorfall. Michael war kein einziges Mal mehr aufgetaucht. Jade fragte sich, ob der Journalist seinen Fehltritt seinem Freund doch gebeichtet hatte… Es würde definitiv seinen Wutausbruch erklären…
 

Das letzte Wochenende hatte er bereits unter seiner Bettdecke verbracht. Der Schwarzhaarige verspürte keinen Hunger. War völlig lustlos. Alles, an was er dachte, war Michael. Und wenn Torsten ihm irgendwas von „anderen Kerlen“ erzählte, wollte er ihm am liebsten ins Gesicht spucken.
 

Er verstand seine eigenen Gefühle doch auch nicht! Und es fehlte ihm an Stärke, um dagegen anzukämpfen. Vielleicht wollte er es ja auch nicht. So bekloppt wie er war. So bescheuert wie er war, träumte er immer noch von einer Chance. Wieso überhaupt?
 

Wütend schlüpfte er in seine Klamotten, wahllos ausgewählte Kleidungsstücke, die in seinem Zimmer chaotisch verteilt lagen. Sein Aussehen war ihm im Augenblick weniger als egal. Er wollte dieses beknackte Frühstück einfach hinter sich bringen und sich dann wieder in seinem Bett verkriechen. Und in Selbstmitleid versinken. Er seufzte.
 

Den ganzen Weg über zu diesem neuen Super-Bäcker, der im Zentrum eröffnet hatte, betrieben die drei beschissenen Smalltalk. Obwohl Jade sich für seinen Mitbewohner freuen sollte, nervte ihn diese positive Energie, diese Freude, die von den beiden ausging. Und diese negativen Empfindungen verschafften ihm ein saumäßig schlechtes Gewissen.
 

Ein schlechtes Gewissen war eigentlich alles, was er momentan seinen Besitz nennen konnte. Wegen Torsten, wegen Jana. Wegen Michael.
 

Das Käsebrötchen schmeckte, der Kaffee war ebenfalls passabel. Eigentlich war der Laden voll, aber er war groß genug, sodass die Menschenmenge nicht auffiel, eine Illusion freier Flächen schuf, die Ruhe vermittelten. Langsam fing er an sich zu entspannen. Zu glauben, dass es vielleicht doch nicht so verkehrt war, mit Torsten und Jana hierher gekommen zu sein. Er hatte seinen Hunger bis gerade eben gar nicht wahrgenommen. Und nun konnte er gar nicht mehr aufhören zu essen. Er lachte sogar über Torstens unfassbar flache Witze.
 

Als er nach der gutaussehenden Bedienung rief, erblickte er den Mann, den er hier nicht vermutet hatte. In der hintersten Ecke des Lokals saß er an einem der kleinsten Tische. Allein, mit aufgeschlagener Zeitung in der Hand und einem leeren Blick. Er las das Printerzeugnis noch nicht einmal. Und auf seinem Teller lag ein fast unberührtes Brötchen.
 

„Hey, wohin willst du?“, fragte Torsten, als Jade ohne etwas zu sagen aufstand.
 

„Zu Michael“, lautete die ruhige Antwort.

Fragezeichen

SEBASTIAN/JADE
 

Wüsste er es nicht besser, hätte er behauptet, dass seine Knie schlotterten, als er die Distanz überbrückte. Das unterdrückte „Komm sofort zurück!“, welches Torsten in seine Richtung zischte, war leicht zu ignorieren und auch Janas „Jadeee!“ überhörte er gekonnt. Eigentlich war er sich bewusst, dass er höchstwahrscheinlich erneut eine Dummheit begann. Alles, was bis jetzt in seinem Leben im vagen Zusammenhang mit dem Journalisten stand, war in einer Katastrophe geendet. Aber sein schlechtes Gewissen, diese Schuldgefühle, konnte der schwarzhaarige Mann einfach nicht ablegen. Diese Emotionen steuerten ihn und er hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben auf seinen Kopf zu hören.
 

Erst als er direkt vor dem kleinen, fast schon einsam wirkenden Tisch stehenblieb, bemerkte der Chefredakteur die Präsenz des anderen. Langsam hob der Blonde den Kopf und wirkte dabei fast schon ein wenig lethargisch. Seine leeren Augen blieben an dem Blick des Baristas hängen. Michael sagte nichts. Starrte sein Gegenüber weiterhin dumpf an, ohne dabei die aufgeschlagene Zeitung beiseite zu legen. Ohne in die Luft zu gehen. Ohne dem Schwarzhaarigen einen missbilligenden Blick zuzuwerfen, ohne ihm zu sagen, er solle gehen.
 

Jade nutzte diese Chance, die vielleicht seine letzte sein könnte, um Michael etwas mitzuteilen.
 

„Hör zu“, fing er an. „Mir tut das alles saumäßig Leid. Ich weiß nicht genau, was in deinem Leben momentan los ist und das geht mich auch nichts an. Ich weiß nur, dass ich, so ein Arschloch wie ich bin, die Situation ausgenutzt habe“, der Schwarzhaarige räusperte sich und sah sich kurz um, um sicherzustellen, dass niemand in der Nähe war. „Ich hätte das nicht machen sollen“, fuhr er fort. „Ich hätte dir einfach das gottverdammte Taxi bestellen sollen anstatt dich in deine Wohnung zu verfolgen und deinen Zustand auszunutzen. Ehrlich, ganz großes Sorry! Und... Es tut mir unfassbar Leid, dass ich dir mit dieser Scheiße wahrscheinlich deine Beziehung versaut habe... Ich werde das niemandem erzählen, das verspreche ich dir. Wir können die ganze Sache komplett vergessen. Und ich schwöre dir: Ich werde dich nie wieder irgendwie blöd und peinlich und scheiße bei Starbucks anmachen. Ich hab begriffen, dass du dich dadurch belästigt fühlst, OK?“
 

Der Schwarzhaarige holte Luft. Michaels leerer Blick tat noch mehr weh, als seine normalerweise wütenden Augen auf der Haut des Baristas. Im Moment fragte er sich, ob er ihm überhaupt zugehört hatte. Doch sie standen sich so nah, dass es eigentlich nicht möglich gewesen wäre, Jades Worte zu überhören, sie auszublenden.
 

Der Jüngere seufzte.
 

„Ich kann wirklich nicht oft genug wiederholen, dass es mir Leid tut“, sagte er. „Ich hoffe wirklich, dass du das ganze mit deinem Partner vielleicht noch hinkriegst. Und überhaupt, alles Gute. Ich... Geh dann auch jetzt. Mach's gut.“
 

Auf dem Absatz machte er kehrt und marschierte stumm in Richtung Ausgang, blieb an der kleinen Treppe die zum unteren Teil des Ladens führte nur kurz stehen, um Torsten und Jana noch schnell zuzuwinken, und verließ das Lokal mit großen Schritten ziemlich eilig.
 

Wow. Wenn das nicht eben das Erwachsenste war, was er jemals gesagt hatte...
 

Er brauchte ein Bier.

Sofort.

Automatisch beschleunigten sich seine Schritte, ohne dass er diese Signale an seine Beine gesendet hätte. Er merkte gar nicht, wie er von einer leichten Jogginggeschwindigkeit in einen Sprint überfloss und die bevölkerte Straße wie ein Verrückter lang hastete.
 

Bis er keine Luft mehr bekam.

Bis sein Gesicht knallrot wurde.

Bis seine Lunge brannte.
 

Nein, Torsten und Jana und ihre belehrenden Worte hätte er in diesem Moment einfach nicht ertragen können. Jade wusste, dass sein Mitbewohner recht hatte, dass er sich zusammenreißen sollte und diesem Märchen nicht mehr hinterher rennen sollte. Ja, das wusste er. Nun war es an der Zeit das ganze zu realisieren, um zu setzten.
 

Er brauchte ein Bier.
 

MICHAEL
 

Michael blinzelte. Als die Erkenntnis über den eben abgehaltenen Monolog über ihn kam, war der Barista bereits verschwunden. Der Chefredakteur blinzelte erneut. War das eben wirklich passiert? Oder hatte er sich die gesamte Situation eingebildet? Nur langsam analysierte er stumm die ihm eben dargebotenen Worte.
 

Dieser Wildfang hatte sich eben tatsächlich bei ihm entschuldigt! Und irgendwie konnte Michael die Glaubhaftigkeit, die Ehrlichkeit der gesprochenen Worte nicht aberkennen, nicht verleugnen. Und dennoch war er fast schockiert. Eine solche „Ansage“ des Kaffeekochers hätte er niemals erwartet... Wo war das lästige Zwinkern hin? Wo war seine gespielt laszive Stimme abgeblieben?
 

Ernst. Ja, genau so hatte sich der Schwarzhaarige angehört. Ehrlich. Besorgt.
 

Oh, mein lieber Herrgott!

Der Junge hatte ja ein richtig schlechtes Gewissen gehabt!

Jade und ein schlechtes Gewissen. Der Schock, oder war es eher die Überraschung, wollte den Journalisten einfach nicht verlassen. Denn eine weitere Realisation überkam ihm: Der Barista glaubte tatsächlich Michael hätte seinen Partner mit ihm an diesem fatalen Freitag betrogen...
 

Michael ließ die Zeitung endlich fallen.

Rief nach der Bedienung.
 

In seinem Kopf hallten die Worte, die er trotz seines scheinbar geistesabwesenden Zustands allesamt aufgesogen hatte. Wie ein Echo wiederholten sie sich. Er sah das Bild des Schwarzhaarigen, der ihn ernsthaft, der ihn traurig, verletzte und reumütig ansah, als er die Entschuldigung aussprach.
 

Und dabei war er selbst doch derjenige, der dieses „Unglück“ über sie gebracht hatte. Michael selbst war es doch gewesen, der dem Jungen seinen Autoschlüssel in die Hand geschleudert hatte. Ja, jetzt erinnerte er sich plötzlich glasklar. Jade hatte ihm ein Taxi rufen wollen. Er hatte ihn aufgehalten, weil er betrunken war und mit seinem Wagen hatte fahren wollen.
 

Ach, du grüne Neune! Was war eigentlich mit ihm los? Er war doch sonst nicht so primitiv und gedankenlos!
 

Und der Junge schien ja doch einen Funken Verstand zu besitzen. Einen Funken Sorge. Er hatte sich Gedanken um Michael gemacht.
 

Als er zahlte, machte sich etwas in ihm breit. Ein Gefühl, dessen Entstehung er die letzten Sekunden befürchtet hatte. Schuldbewusstsein.
 

Er eilte aus dem Laden heraus, Sonnenstrahlen empfingen ihn, der Lärm der Straße umhüllte ihn. Er drehte sich zu allen Seiten, versuchte den Schwarzhaarigen in der Masse auszumachen. Eilig scannten seine Augen die vielen Köpfe. Eine Weile lang lief er in Richtung Zentrum, folgte dem Hauptstrom, bog in kleine Seitengassen ein. Vergebens.
 

An einem kleinen Brunnen blieb er entrüstet stehen und holte erst einmal Luft. Er würde ihn heute sowieso nicht mehr finden. Es war zwecklos. Nur noch ein einziges, letztes Mal blickte er sich um und schlug dann den Weg zu seinem Auto ein.
 

Eigentlich waren ihm die freien Tage wohl bekommen. Eigentlich. Er hatte endlich wieder ausgeschlafen. Viel Zeit in seiner Küche verbracht (ohne das Brettchen), hatte lange Spaziergänge auf dem naheliegenden Lang gemacht. Oft allein, manchmal mit seiner Schwester, der er sein Herz nach und nach immer mehr ausschütten konnte. Und unter vier Augen mit jemandem so vertrauten zu reden machte so vieles leichter, nahm ihm diese schwere Last langsam von seinen Schultern.
 

Mit seinem Vater war er sogar angeln gegangen, hatte die Stille auf dem kleinen See sichtlich genossen. Er hatte viel gelesen, gleich drei Bücher hintereinander verschlungen, DVDs geschaut, Filme die er im Kino verpasst hatte. Er hatte wirklich erholsame Tage hinter sich gebracht. Und während dieser geruhsamen Zeit hatte der Chefredakteur keinen einzigen Gedanken an Jade verschwendet.
 

Und nun saß er in seinem Auto, fuhr die bevölkerten Straßen entlang und konnte diese Bilder nicht mehr aus seinem Kopf kriegen, konnte die Erinnerungen an den schwarzhaarigen jungen Mann partout nicht vertreiben. Immer wieder tauchten diese Szenen vor seinem inneren Auge auf, beschäftigten ihn. Im letzten Moment schaffte Michael es an einer roten Ampel zu bremsen. Die Reifen des Wagens quietschten laut auf. Eine ältere Dame, die gerade die Straße überquerte, warf ihm einen bösen Blick zu.
 

Er seufzte. Was sich da gerade in seinem Innern formte, das konnte er nicht wirklich beschreiben.
 

Er wusste auch nicht genau was es war, das ihn dazu trieb noch am selbigen Tag die Möbelstücke in der Wohnung hin und her zu schieben, die Schubladen der gesamten Küche zu leeren und eine neue Aufteilung zu treffen. Nein, er fand wirklich keine Beschreibungen dafür, auch wenn er Journalist war und Sachen zu umschreiben seine eigentliche Aufgabe darstellte. Heute fehlten ihm die Worte. Und es war ihm egal.
 

Auch diese Haltung überraschte ihn ein wenig. Doch diese Gedanken verwarf er eben so schnell, wie sie entstanden waren und begutachtete die neue Ordnung in SEINER Wohnung. Anerkennend nickte er. Das sah doch schon mal gut aus.
 

Weil es anders aussah.

Fremd.

Neu.

So wie sich sein Leben momentan darstellte.
 

Als Mitternacht näherkam entschied er sich in SEIN Schlafzimmer zu gehen und noch ein wenig zu lesen. Darauf zu warten, dass die Müdigkeit seine Augenlieder beschweren würde, seine Glieder entspannen würde. Doch auch nach zwei Stunden in totaler Dunkelheit fand er keinen Schlaf. Einen Gedanken konnte er nämlich nicht vertreiben.
 

Als er heute an Tim gedacht hatte, war kein Schmerz in seiner Brust aufgekommen. Und noch etwas war anders. Heute hatte er mehr an Jade als an seinen Ex gedacht.
 

Morgen würde er…

Ja.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Sie saßen am Frühstückstisch. Redeten über irgendeinen belanglosen Horrorfilm, der gestern Nacht im Fernsehen ausgestrahlt worden war. Über den Vorfall beim Bäcker sprachen sie nicht. Jade erwähnte es nicht und auch Torsten verlor kein einziges Wort darüber, stellte keine Fragen, erkundigte sich nicht.
 

„Hey, hast du heute nicht Lust mit mir ins Kino zu gehen? Wir haben echt schon lange nichts mehr gemacht“, beschwerte sich der Tontechniker, der sich dabei war das dritte Brötchen zu schmieren.
 

„Klar, wieso nicht“, lautete die simple Antwort des Schwarzhaarigen.
 

Verdutzt blickte sein Mitbewohner ihn an, hörte sogar für einige Sekunden auf zu kauen, wonach er ein großes Stückchen seines Frühstücks herunterschluckte. „Wow“, sagte er leicht grinsend. „Freut mich, dass du so langsam wieder da bist.“
 

Der Barista warf ihm einen warmen Blick zu und lächelte. Irgendwann musste es ja weiter gehen. Einen „auf Emo zu machen“, danach war ihm einfach nicht mehr. Klar war es scheiße, wenn man eine Absage von seinem Schwarm erntete. Aber irgendwann würde sicherlich ein anderer, schnuckeliger Kerl diesen Platz einnehmen. Der vielleicht in derselben Liga wie Jade spielte…
 

„Sorry, Alter, aber ich muss jetzt los“, sagte Torsten und erhob sich. „Man sieht sich!“
 

„Ciao!“, rief der Schwarzhaarige ihm zu und nahm den letzten Schluck Kaffee zu sich. Es war auch Zeit für ihn zu gehen, die Maschinen und Kunden warteten schon sicherlich sehnsüchtig auf ihn. Genauso wie sein Golf. Und die Anlage. Er drehte die Metallica CD auf maximale Lautstärke. Ja, das tat gut… Und auch Alis und Katjas Gesicht zu erblicken grenzte an eine Wohltat. Mit ihnen lästerte er über die übrigen Mitarbeiter ab. Diejenigen, die nicht anwesend waren, aber auch diejenigen, die sich gerade einfach nicht in Hörweite befanden. Und auch über die Kunden, die sich bei ihren Bestellungen verhaspelten, oder einfach auf das ganze System der Kaffeekette nicht klarkamen.
 

„Wusstest du eigentlich schon, dass Ali eine neue Perle hat?“, fragte Katja Jade, als sie zu dritt einen ruhigen Moment hinterm Tresen genossen.
 

„Was?!“, rief der Schwarzhaarige aus und drehte sich zu seinem türkischen Kollegen um. „Und wieso weiß ich nichts davon???“
 

„Du hast nicht gefragt.“, antwortete Ali grinsend.
 

„Dabei hat Jade doch auch das seinige beigetragen“, warf die 40-Jährige ein. „Naja. Fast“, sagte sie lachend.
 

Verwundert blickte Jade in die dunklen Augen seines Nebenmannes. „Und wie darf ich das verstehen?“, fragte er schließlich.
 

Ali grinste. „Ich hab total bei ihr gepunktet, weil ich ihren Bruder direkt akzeptiert habe. Er ist schwul. Und ich meinte das sei „cool“ – ich habe ja schließlich auch einen schwulen Kollegen, mit dem ich super gut klar komme.“
 

„Du bist so ein verdammter Schleimer…“, kommentierte Jade und rollte seine Augen.
 

„Hey, ich hab ihr versprochen, dich ihm vorzustellen!“, redete Ali weiter und musterte Jade von Kopf bis Fuß. „Du brauchst ja eh wieder mal ne Runde Matratzensport.“
 

Katja prustete los. Der Schwarzhaarige blickte seinen Mitarbeiter einige Sekunden sprachlos an, bevor er selbst anfing zu lachen. „Alter, ich hätte nie gedacht mal so etwas aus deinem Mund zu hören!“, spuckte er endlich aus.
 

„Du weißt eben auch nicht alles über mich…“, entgegnete der junge Abiturient und grinste.
 

Der Rest des Tages verlief ruhig. Und nichts und niemand konnte Jades gute Laune zerstören, ihn aus dem Gleichgewicht werfen. Die Zeiger der großen Uhr an der Gegenwand sagten ihm schließlich, dass es Zeit zu gehen war. Er freute sich auf etwas Warmes zu Essen, aufs Kino, auf Torsten.
 

Eilig rannte er die Treppe hinunter und passierte die vielen geparkten Autos. Da hatte tatsächlich schon wieder jemand auf einigen der Starbucksparkplätze geparkt… Aber heute störte es ihn nicht, nein, heute war er einfach nur gut drauf. Heute… Stand Michael direkt an seinem alten, schrottigen, hässlichen, auseinanderfallenden Golf.
 

Abrupt blieb der schwarzhaarige Barista stehen.

Im selben Moment drehte sich der Journalist um. Sein Blick fiel auf Jade. Und er blieb auch an ihm heften.

Einige Sekunden wartete der Schwarzhaarige auf eine Bewegung seitens des Chefredakteurs. Vielleicht war er ja nur zufällig dort stehengeblieben? Doch Michael machte keine Anstalten sich von seinem Platz zu bewegen. Erst jetzt kapierte Jade, dass der Journalist auf ihn wartete.
 

Zitterten seine Knie jetzt eigentlich wirklich? Er wusste es nicht, ging langsamen Schrittes auf Michael zu. Er war verwirrt und suchte bereits jetzt nach den richtigen Worten. Die er nicht fand. Doch er brauchte sie auch nicht. Noch bevor er an seinem Wagen stehenbleiben konnte, sprach Michael bereits.
 

„Weißt du, was mich an dir so richtig ankotzt?“, adressierte er den jungen Mann, der mit einem fragenden Blick kurz vor dem Journalisten zum stehen kam. „Du versuchst jedes mögliche Klischee so gut es geht zu erfüllen. Der rebellierende, alternative Bad Boy. Die männliche, schwule Thekenschlampe, die denkt überall mit ihrer Homosexualität punkten und Aufsehen erregen zu können. Dieses unfassbar offensive und aus US-Filmen geklaute Flirtverhalten, welches nicht mal zu 10% ansprechend ist und im Gegensatz zu der Realität steht. Und ich will auch gar nicht die Gründe erfahren, die dich dazu gebracht haben dir diesen dämlichen Namen zu geben, mit dem du vielleicht irgendwelchen 13-Jährigen Mädchen imponieren kannst“, sprach Michael.
 

Jade schluckte.

Seit wann fehlten ihm eigentlich Worte? Seit wann fehlte ihm der Mumm? Seit wann ließ er sich von anderen Menschen so aus dem Konzept bringen? Normalerweise hätte er, so wie er drauf war, längst zurückgekeift, seinem Gegenüber die miesesten, zynischsten Sachen entgegengeworfen.

Doch nun, stillstehend, fühlte er sich einfach von seinem eigenen Ich überrumpelt. Sein Gehirn hatte sich wohl Urlaub genommen, ohne ihn vorher darüber in Kenntnis zu setzen.
 

„Aber weißt du, was mich noch viel, viel mehr ankotzt, als all diese Sachen zusammen?“, fuhr der Chefredakteur unbekümmert fort. Jade schaffte es jetzt wenigstens seinen Kopf zu schütteln. Wow. Was für eine glorreiche Tat!
 

„Dass ich dich trotz all dem gern zum Essen einladen möchte, denn ich habe mich dir gegenüber aufgeführt wie ein infantiler Idiot und muss mich deswegen natürlich bei dir entschuldigen“, erklärte der Journalist mit einer ruhigen, einer sanften Stimme. „Das heißt, ich möchte mich gern entschuldigen. Schon jetzt. Gehst du mit mir essen?“
 

WAS?!

Gefühlscocktail und ein frisches Baguette belegt mit Verwunderung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Longdrinks

MICHAEL
 

Er war sich nicht sicher, aber er hätte meinen können, ein freudiges Aufleuchten in diesen dunklen Augen erhascht zu haben, als die beiden Männer sich inmitten dieser Menschenmenge warm anlächelten.
 

„OK. Michael“, sagte Jade und das Lächeln auf seinen Lippen verschwand dabei nicht. Zum ersten Mal fiel dem Älteren bewusst auf, was für eine angenehme Stimme sein Gegenüber eigentlich besaß. Sie war männlich, ohne Zweifel, aber dieser wohlige, angenehm sanfte Ton schwang mit, wie er ihn sonst nur von Frauen kannte. Michael schluckte.
 

Sie waren unweit des Stadtherzens. Im Kopf scannte er den mentalen Plan der City und überlegte, in welches Lokal sie zu dieser späten Zeit spontan noch einkehren konnten. Jade schien die Denkvorgänge des Journalisten umgehend erkennen zu können.
 

„Über dem Hauptbahnhof hat erst kürzlich so eine brasilianische oder kubanische Cocktailbar aufgemacht“, bemerkte der Schwarzhaarige und deutete mit seiner Hand zum großen Gebäude, welches sie nur einige Meter hinter sich gelassen hatten. Michael hob den Kopf. Und tatsächlich.
 

„La Havanna“, las er laut vor. Die orangenen Lettern der Bar blinkten einladend auf. Er senkte seinen Blick wieder auf Jade. Unwillkürlich musste er zugeben, dass ihn das (gute!) Aussehen des Schwarzhaarigen, welches er in den letzten Wochen so gekonnt ignoriert hatte, etwas nervös machte. Er lächelte unsicher. Ob das wohl wirklich so eine gute Idee war? Doch diese dunklen Augen, die ihn da so anfunkelten, fegten jegliche Zweifel hinfort. Oder halfen ihm wenigstens nicht mehr nach einer potenziellen Antwort Ausschau zu halten.
 

„Na, dann würde ich doch sagen: Lass uns gehen“, brachte er schließlich hervor. Und als Jade einwilligend nickte, setzten sich die beiden Männer in Bewegung. Sie versuchten sich durch die Menschenmassen zu kämpfen. Der Zug aus München war gerade angekommen. Und der aus Trier. Aus Paris. Es war nicht leicht den von den Gleisen strömenden Passagieren auszuweichen, die Koffer der Größe von Ponys hinter sich herzogen und ihre Ellenbogen wie waschechte Footballspieler schützend vor ihre Körper hielten, um sie ihren „Gegenspielern“ gnadenlos in die Rippen zu rammen, sollten diese nicht rechtzeitig ausweichen können.
 

Michael schaffte es gerade noch so einem solchen Exemplar aus dem Weg zu springen und stützte dabei sein volles Gewicht aus Versehen auf Jade, der daraufhin stolperte und beinahe den Boden unter seinen Füßen verlor. Instinktiv erfasste der Journalist seinen Begleiter am Arm und konnte den unangenehmen Sturz rechtzeitig verhindern. Ihre Blicke trafen sich.
 

„Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor…“, sagte Jade plötzlich und grinste schief. Zunächst verstand Michael, wie konnte man es treffender ausdrücken, lediglich „Bahnhof.“ Doch dann fügten sich die Worte „Freitag“ und „Alkohol“ wie ein winziges Puzzle zusammen und er erblickte sein eigenes Abbild in diesem verschwommenen Film, sein volltrunkenes Ich, welches kläglich aus dem eigenen Fahrstuhl stolperte und in Jades Armen Halt fand.
 

Cool bleiben, Zannert…
 

„Dann sind wir jetzt wohl quitt, was?“, antwortete er schließlich. Sein Mund verzog sich ebenfalls zu einem schiefen Grinsen und er ließ Jades Arm endlich los – obwohl, wie er vor seinem eigenen Gericht zugeben musste, er diesen Körperkontakt eigentlich noch länger hätte aufrecht erhalten können, weil es sich gut anfühlte.
 

Nein, Michael verstand weder seine Gedankengänge noch sein Handeln wirklich. Aber zum ersten Mal störte es ihn kaum. Er sah den Schwarzhaarigen neben sich an und verwarf alle seltsamen Einbildungen, die in seinem Innern spukten.
 

Ein exotischer Geruch wehte ihnen entgegen als sie das Lokal betraten. Es war eine Mischung aus Orangen, Tequila, Feigen und Tabak. Wilde Rhythmen drangen aus den zwischen all den wirr wachsenden Pflanzen versteckten Lautsprechern, es war warm und das Licht war leicht gedimmt. Michael fragte ich, ob ihnen wohl gleich eine halbnackte Salsatänzerin den Weg zu ihrem Tisch zeigen würde, ein Anblick welcher so vielen Männern in seinem Alter Schweißperlen auf die Stirn gezaubert hätte - und ihn so kalt wie einen Eisberg belassen würde.
 

Doch es war ein junger, vom künstlichen Sonnenlicht braungebrannter Mann mit einem dunklen, getrimmten Bärtchen, der die beiden zu dem massiven Holztisch am Fenster führte, stets freundlich lächelnd, auch als er die dicke orangene Kerze auf dem Tisch anzündete und ihnen die Karten überreichte.
 

Der Blick, welche die Bedienung Jade zuwarf, fiel Michael sofort auf. Er sah dem Kellner noch eine kurze Weile nach, bevor er sein Gegenüber ein weiteres Mal mit seinem Blick taxierte. Seine Augen blieben an dem silbernen Stecker in der Augenbraue hängen, an den weich wirkenden Lippen, den etwas ründlicheren Wangen, den schwarzen Strähnen, die einen wunderbaren Kontrast zu der beinahe makellosen Haut bildeten.
 

Da waren sie wieder. Diese Bilder. Seine persönlichen, mentalen und leicht verschwommenen Momentaufnahmen der chaotischen Nacht. Michael spürte, wie sein Kopf eine rötliche Farbe annahm und senkte den Blick auf das Menü.
 

„Hm“, sinnierte Jade plötzlich, der die ganze Zeit über aufmerksam die Karte studiert hatte. „Ich weiß einfach nicht, was ich nehmen soll. Ich bin überfordert.“
 

„Jetzt gibt es gerade ein tolles Angebot, zwei BlowJobs zum Preis von einem“, ertönte die Stimme des gebräunten Kellners, als er ein Tablett mit bunten Drinks an ihnen vorbeibalancierte. Die beiden Männer warfen sich ein schüchternes Grinsen zu und Michael fragte sich, ob sein Kopf die Röte eines ausgereiften Apfels bereits erreicht hatte.
 

„Ich denke, die Entscheidung wurde dir soeben abgenommen“, bemerkte er dann und legte seine Karte beiseite.
 

„Das kann ich doch glatt so unterschreiben“, entgegnete Jade vergnügt und lehnte sich leicht in seinem Stuhl zurück.
 

„Das geht natürlich alles auf mich, ich lade dich ein“, sagte der Chefredakteur mit sanfter Stimme.
 

„Danke! Das ist echt gut, ich bin nämlich eh so gut wie pleite“, sagte der Schwarzhaarige lachend ein.
 

„Was? Dabei ist es noch nicht einmal Mitte des Monats!“, platzte es verwundert aus Michael heraus, der sich am liebsten sofort auf die Zunge gebissen hätte. Doch sein Gegenüber schien diese Aussage nicht negativ zu bewerten und antwortete lässig: „Ich verdien’ halt eben nicht so viel mit meinem Gammeljob. Und ich kann echt nicht mit Geld umgehen. Wenn ich etwas sehe, was mir gefällt, dann nehm’ ich es leider oft mit. Außerdem ess’ ich gern auswärts…“
 

„Hey, ich auch!“, warf Michael enthusiastisch ein. „Am liebsten italienisch oder indisch.“
 

„Ich LIEBE indisch!“, kam es von Jade. Und dann ging es los. Sie redeten über Mango Chutneys, Massallas und die besten Tandoori-Gerichte, Geschäfte, in denen man die passenden Zutaten erstehen konnte. Als der braungebrannte Kellner ihnen die gewünschten Getränke servierte, beachtete ihn keiner die beiden Männer wirklich.
 

Sie stießen leicht an und nahmen den ersten süßen Schluck des Hochprozentigen Drinks zu sich. Der Cocktail schmeckte gut.
 

„Oh, Mann, ich war schon so lange nicht mehr indisch essen“, fuhr der Barista fort. „Ich meine, so beim Pizza-Service mitbestellt schon, aber so richtig im Restaurant. Hm… Dazu fehlen mir irgendwie immer die Zeit, das Geld und eine Begleitung. Ich glaube das letzte Mal war ich vor zwei Jahren oder so im Restaurant, mit meinem Ex noch…“
 

Da war es. Das Stichwort, welches sie nun zu einer unangenehmen Stille zwang. Noch bevor der schwarzhaarige junge Mann etwas sagen konnte, ergriff Michael das Wort: „Ich wollte mich jetzt noch mal so richtig entschuldigen“, sagte er. Jade blickte ihn aufmerksam und entspannt an. „Als wir, naja – du weißt schon, da war ich schon nicht mehr mit ihm zusammen.“
 

Zum ersten Mal erzählte er einer relative fremden Person die gesamte Geschichte, erzählte ihm wie lange er mit Tim zusammen war, wie sie sich kennengelernt hatten (auf einem Trödelmarkt), wie sie zusammengezogen waren und wie sie davon ausgegangen waren, dass sie für immer ein Paar bleiben würde. Nein, wie er, Michael, daran geglaubt hatte und dann so negative überrascht wurde.
 

Und zum ersten Mal durchfuhr kein besonderer Schmerz seinen Körper, als all diese Worte seinen Mund verließen. Das erste Mal konnte Michael seine Beziehung mit Tim als ein Kapitel seines Lebens betrachten, über welches es ihm möglich war neutral zu berichten.
 

„Mann, das tut mir echt voll Leid für dich…“, sprach Jade und nahm noch einen weiteren Schluck des Cocktails. „Sowas ist nicht schön…“
 

„Und was ist mit deinem Ex?“, fragte Michael und blickte auf sein halb leeres Glas. „Ist das schon lange her?“
 

Eigentlich interessierten Jades Ex-Lover ihn nicht im Geringsten, allerdings fühlte er eine Art Verpflichtung ihn danach zu fragen. Es irritierte ihn schon ein wenig, dass die Vorstellung der Hände anderer auf Jades Haut ihm diesen kleinen, unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließen. Er war ja noch nicht einmal mit diesem Mann zusammen, oder auf den Weg dorthin... Ein weiterer Schluck des süßen Getränks half ein wenig.
 

„Ach…“, sagte Jade seufzend und spielte etwas ungeschickt mit seinem Strohhalm, sodass die pinke Cocktailkirsche auf den Tisch plumpste. „Das ist schon mehr als ein Jahr her. Wir waren auch nicht sooo lange zusammen, nur zwei Jahre.“
 

„Naja, zwei Jahre ist nicht gerade wenig…“
 

„Wenn man sie mit deinen fünf vergleicht, dann schon.“, sagte Jade und grinste leicht. „Aber ich muss schon sagen, dass ich der Arsch in der Beziehung war. Als Mark, so hieß der Kerl, mit mir zusammenziehen wollte, da hab ich wohl irgendwie, naja, Schiss bekommen, hab den Schwanz eingeklemmt und Schluss gemacht.“ Der Schwarzhaarige schlürfte seinen Cocktail weiter, ohne Michael in die Augen zu sehen, der, zu seiner eigenen Verblüffung, irgendwie froh darüber war, dass Jade kein frischer Single war. Allerdings störte ihn auch das Wort „Arsch“ ein wenig. Obwohl er sich sagte, dass er den Versuch, sich selbst zu verstehen, heute unterlassen sollte.
 

„Dann bist du also eher der freiheitsliebende Mensch, was?“, fragte er daher weiter.
 

Der Schwarzhaarige seufzte. „Freiheitsliebend wahrscheinlich schon, aber wer ist das nicht?“, er blickte Michael ernsthaft in die Augen. „Aber im Nachhinein habe ich ja kapiert, dass es falsch war. Und, äh, kindisch. Ich denke ich bin jetzt auch ein bisschen reife, als ich vorher war…“
 

„Wie alt bist du eigentlich?“, hakte der Blonde weiter nach.
 

Jade seufzte erneut. „Ich bin jetzt fast 25…“
 

Also war er doch älter, als Michael erwartet hatte… So ein großer Altersunterschied lag zwischen ihnen gar nicht. Lediglich 11 Jahre… Andererseits waren 11 Jahre immerhin 11 Jahre. Er überlegte. Als er bereits studiert hatte, hatte Jade noch höchstwahrscheinlich Cowboy und Indianer gespielt. Das war irgendwie… niedlich.
 

„Wieso lachst du?“, riss ihn die neugierige Stimme seines Gegenübers aus seinen Gedanken.
 

„Ach, nichts Wichtiges“, erklärte Michael und lächelte ihn an. „Willst du noch einen?“, fragte er und deutete auf die leeren Gläser auf dem Tisch.
 

„Wenn das OK für dich ist…?“, kam die zögerliche Antwort des Baristas.
 

„Hätte ich sonst gefragt?“
 

„Höchstwahrscheinlich nicht…“
 

„Siehst du.“ Mit einem gekonnten Handzeichen rief er den Kellner her und orderte eine weitere Runde. Nach einer erheblichen Weile des Smalltalks, des angenehmen Plauderns, während dessen Michael es nicht sein lassen konnte und jede optische Kleinigkeit Jades mit seinen Augen beinahe schon auffraß, stellte Michael endlich die Frage, die er sich seit Beginn dieser „Bekanntschaft“ schon gestellt hatte.
 

„Jade, sag mal… Wieso nennst du dich eigentlich so?“
 

Der Schwarzhaarige blickte den Chefredakteur mit großen, dunklen Augen eine Weile an. Dann biss er sich leicht auf die Lippe, schien nachzudenken, irgendwelche Argumente zurechtzurücken. Man konnte es dem Jungen ansehen, dass ihn diese Frage unangenehm war. Warum Michael sie nicht zurücknahm? Wahrscheinlich, weil er Journalist war und die Presse immer unangenehme Fragen stellte…
 

„Du meinst warum ich mir so einen Spitznamen, mit den ich vielleicht nur irgendwelchen 13-Jährigen Mädchen imponieren kann?“, fragte Jade und grinste frech. Michael musste schmunzeln, als er seine eigenen Worte hörte.
 

„Ja. So ähnlich. Tut mir Leid, wenn ich dich damit beleidigt habe“, fügte er es zu. Und er meinte es ernst.
 

„Ach, macht nichts. Ist ja auch was Wahres dran, aber…“
 

Als der schwarzhaarige junge Mann seine Geschichte offenbarte, konnte Michael lauter kleine, kühle Schauer seinen Rücken herunter wandern spüren. Es war keine schöne Erzählung. War es der Alkohol, oder warum berührte Michael das Geschilderte? Weil es ihm vielleicht selber widerfahren hätte können, würde er nicht so tolerante Eltern besitzen. Erneut wurde er sich seines Glückes bewusst. Einer Gegebenheit, die nicht vielen Männern, die offen zu ihrer Homosexualität standen, gewährt wurde.
 

„Es tut mir sehr Leid für dich, dass deine Familie so auf dich reagiert hat“, bekannte er mit ernsthafter und zugleich sanfter Stimme. Jade wollte gerade etwas antworten, doch da klingelte sein Mobiltelefon.
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Sorry, ich muss mal kurz rangehen“, entschuldigte er sich und war gewillt jeden, egal wer es auch zu sein vermochte, umgehend abzuwimmeln. Schließlich saß er hier mit Michael Zannert und der Typ schien sich tatsächlich für ihn zu interessieren! Schon allein, wie er ihm die ganze Zeit über zulächelte…
 

Er könnte ausrasten. Durchgehend musste er gegen dieses Bedürfnis den blonden Mann anzufassen und zu küssen ankämpfen. Sein gottverdammter Mitbewohner hatte wohl Recht gehabt. Jade hatte mit dieser Sache so was von NICHT abgeschlossen…
 

Und natürlich, wer hätte ihn in diesem Moment anderes anrufen können als Torsten selbst? „Hey, was ist? Bin beschäftigt“, murmelte der Barista genervt in den Hörer. „Äh“, erklang die verwirrte Stimme seines Mitbewohners. „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Lust hast mit mir und Jana ins Kino zu gehen.“
 

„Nein, kein Kino. Viel Spaß. Tschüß“, mit diesen Worten legte er kurzerhand auf und schaltete sein Handy zusätzlich ab. Daran hätte er auch eigentlich vorher denken können. Innerlich verdrehte er die Augen.
 

„Wie ich sehe stehst du nicht wirklich auf telefonieren?“, neckte ihn Michael mit dieser angenehmen Stimme und legte diesen wunderschönen Kopf schief.
 

„Es kommt immer auf die Situation und die Person am anderen Ende der Leitung an“, antwortete der Schwarzhaarige und lächelte nervös. Worüber hatten sie sich gerade unterhalten? Achja, über seine dämliche Familie. Irgendwie verwunderte es den Schwarzhaarigen, dass er die gesamte Geschichte Michael offenbart hatte. Das tat er sonst nicht beim ersten Date mit jemandem… Moment.
 

Jade zügelte seinen Verstand ermahnend.

Er sollte dieses Treffen wirklich nicht als Date ansehen.

Oder?
 

„Kino…“, sinnierte Michael währenddessen. „Ich war schon lange nicht mehr im Kino.“
 

Eine rege Hoffnung machte sich in Jades Brust breit. Ohne weiter nachzudenken fragte er: „Wenn du willst, können wir ja… ins Kino.“ War er zu weit gegangen? Michael starrte ihn kurz an. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge und er grinste leicht.
 

„Ich dachte du willst nicht ins Kino?“, sagte der Blonde und stellte sein Glas ab.
 

„Naja, bei Kino kommt es ja auch immer auf die Person an…“, feixte Jade und versuchte seine leichte Nervosität zu überschatten.
 

„Und ich dachte du hättest kein Geld?“, hakte Michael weiter nach, immer noch mit diesem spielerischen Grinsen auf seinen Lippen.
 

„Naja… Ich könnte mir welches von meinem Mitbewohner leihen“, antwortete er.
 

„Du wohnst also in einer WG?“
 

„Ja. Einer Chaos-zwei-Mann-WG. Und glaub mir, du willst nichts darüber wissen. Unsere Wohnung ist schrecklich“, fügte Jade dem hinzu.
 

„Hm“, kam es von Michael. „Ich hab auch mal in einer WG gewohnt. Ein Semester lang. Im Ausland. Das war in der Tat witzig. Und glaub mir, eine Chaos-WG waren wir auch…“, der Ältere lachte. Und Jade entspannte sich ein wenig. Er wollte jetzt nicht unbedingt über seine Wohnverhältnisse sprechen. Über Torsten reden…
 

„Ich bin heute spendabel“, hörte er den Chefredakteur sagen, der seinen Blick auf den Schwarzhaarigen richtete. „Auf zum Cinemaxx, was sagst du?“
 

„Ich sage ja“, antwortete Jade strahlend.
 

War das jetzt ein Date?

Spießer

SEBASTIAN/JADE
 

Neben Michael herzugehen, mit ihm zu sprechen und ihm zu nah wie nie zuvor zu sein, fühlte sich die ganze Zeit über wie ein stupide erdachter Tagtraum an. Nicht wie die Realität. Vielleicht hätte Jade sich einfach selber zwicken sollen, um die Umstände wirklich begreifen zu können. Allerdings wäre diese Aktion sicherlich nicht positiv aufgefallen. Und soweit der Schwarzhaarige die momentane Situation bewerten konnte, kam er sogar ziemlich gut bei Michael an …
 

Oder er bildete es sich nur ein. Diese in ihm lauernde Nervosität war wirklich furchtbar. Hatte er sich bei seiner ersten Verabredung mit Mark damals auch so gefühlt? Er konnte sich verflixt noch mal nicht daran erinnern und seine momentanen Gefühle brachten ihn mehr als durcheinander.
 

Ja, er hatte aus Überzeugung und dennoch mit viel Schmerz „nein“ zu der ersten Einladung Michaels gesagt – nach diesem ziemlich offensiven Monolog in der Tiefgarage. Natürlich hatte der blonde, verdammt gut aussehende, ältere Mann wenigstens ein bisschen die Wahrheit angeschnitten… Dennoch hatten die Worte weh getan. Dennoch hatte Jade den Gedanken nicht loswerden können, Michael würde lediglich sein eigenes Gewissen bereinigen und beruhigen wollen.
 

Und Jade wollte nicht fallen gelassen werden. Als er den Chefredakteur jetzt von der Seite anblickte, der ihm gerade etwas über die Praktikanten des „Fly“ erzählte, wurde dem Schwarzhaarigen irgendwie mulmig zumute.
 

Er hatte es ja wirklich versucht seine völlig unbegründeten Gefühle für den Blonden in den Griff zu bekommen, sie zu ignorieren und sich dann einfach anderweitig umzuschauen. Oder einfach Single zu bleiben und darauf zu warten, dass jemand nach ihm suchte. Aber als Michael dann urplötzlich aufgetaucht war und ihn angeblickt hatte, da hatte Jades Gehirn irgendwie versagt. Er hatte ja noch nicht einmal vorgehabt ihn anzusprechen. Er wollte ihm nur ein wenig nachgehen, ihn ansehen, vielleicht erfahren wohin der Journalist ging, mit wem er sich traf, vielleicht ein kleines Gespräch mitbekommen, um seine Stimme zu hören.
 

Wie ein pubertierendes Mädchen, das ihrem Schwarm auf dem Schulhof nachlief. Er seufzte laut.
 

„Alles klar?“, fragte Michael ihn umgehend und blickte ihn an.
 

„Ja, sorry, war nur in Gedanken“, antwortete er und grinste blöd. „Äh, was für einen Film wollen wir uns denn überhaupt ansehen?“ Sie standen bereits im Foyer des Kinos und blickten auf die etlichen Filmplakate über ihren Köpfen. Es war nicht viel los. Gott sei Dank. Jade hasste überfüllte Kinos und eigentlich traute er sich auch nur in die Spätvorstellungen mitten in der Woche in den Saal. Dann war es immer so schön ruhig und man konnte die Füße hochlegen.
 

„Solange es nicht dieser Horrorfilm da ist, ist es mir relativ egal…”, meinte Michael und sah sich weiterhin aufmerksam die Bilder an.
 

„Stehst du nicht so auf Horrorfilme?“, hakte Jade grinsend nach. Ihre Augen trafen sich.
 

„Nicht im geringsten. Warum? Bist du ein Fan dieser dämlichen Metzelfilmchen?“
 

„Metzelfilmchen wären Splatterfilme, die ich witzig finde, weil sie so unfassbar schlecht gemacht sind, dass man sich einfach nur totlachen kann. Und Horrorfilme sind manchmal geiler als ne Achterbahnfahrt“, erzählte der Jüngere. „Aber ich guck auch andere Sachen, keine Sorge.“
 

„Aha“, kam es von Michael, der die Plakate wieder ansah. Verdammt. Hätte er das mit den Horrorfilmen jetzt nicht sagen sollen? „Wie wäre es denn mit dem Tom Hanks Film? Eine weitere Verfilmung von-„
 

„Ich hasse Dan Brow.“, unterbrach Jade ihn und hätte sich am liebsten umgehend selbst geohrfeigt. „Sorry.“
 

„Was hast du denn von Dan Brown gelesen?“, fragte Michael ihn interessiert.
 

„Eben „Sakrileg“ und „Illuminati“, mein dämlicher Mitbewohner hat darauf bestanden, weil ich ihn damals zu „Herr der Ringe“ verdonnert hatte“, erklärte er. „Ich meine, ich finde ne gute Krimi-Verschwörungsgeschichte ja ab und an echt nicht schlecht, aber irgendwie hat mich dieser ganze Rummel um den Brown total angekotzt.“
 

„Ach, und um Tolkien und seine Trilogie gab as keinen Rummel…?“, neckte Michael ihn, irgendetwas blitzte in diesen gräulichen Augen auf.
 

„Naja…“, fing Jade an und grinste erneut ziemlich blöd. „Das ist was anderes...“
 

„Weil…?“
 

„Weil „Herr der Ringe“ einfach geil ist. Bücher UND Verfilmung. Und Tom Hanks ist ein Arschloch.“ Verdammt, was redete er da? Doch zu seiner eigenen Verwunderung fing Michael einfach an herzhaft zu lachen.
 

„Wie du meinst, Ja~de.“, Michael räusperte sich und blickte dem Barista direkt in die Augen. „Wenn ich ehrlich sein darf, und um einfach mal direkt vom Thema abzulenken, muss ich dich allen Ernstes „Jade“ nennen? Ich komme mir dabei sehr… blöd vor.“
 

Der angesprochene junge Mann blieb zunächst stumm.
 

„Außerdem…“, fuhr Michael fort und schenkte ihm dieses unbeschreiblich charmante, warme Lächeln. „Finde ich den Namen Sebastian viel schöner.“ Und diese Stimme machte die Knie des Schwarzhaarigen gänzlich weich. Er fragte sich, ob er nach einer gewissen Zeit einfach umkippen würde, hoffte dieses natürlich zu vermeiden. Jade schluckte.
 

„Es ist schon ein wenig-“
 

„Ja, ich weiß, du hast mir die Geschichte erzählt und ich kann es auch sehr gut nachvollziehen“, unterbrach Michael ihn und lächelte leicht. „Aber-“
 

„Wir können es ja versuchen“, schlug der Barista vor. Wahrscheinlich war es nur dieser eine Satz, dieser eine, eigentlich nicht so wertvolle Satz, der über Michaels Lippen geglitten war. Außerdem finde ich den Namen Sebastian viel schöner. Er fand seinen Namen schön! Ja, er benahm sich und dachte ganz sicherlich wie ein pubertierender Teenager... Und jetzt, wo ihn Michael auch noch so warm anlächelte, würde er am liebsten ganz laut schreien. Er hätte es selbst wissen müssen, dass seine dämliche Verliebtheit nicht einfach verschwinden würde...
 

„So“, sagte der Chefredakteur und streckte seinem Gegenüber die Hand aus. „Wie wär's mit einem offiziellen Neuanfang? Ich bin Michael.“
 

Seine Hand fühlte sich warm und weich an und schickte diese kribbelnden Impulse durch Jades gesamten Körper als er sie umfasste und leicht grinste. „Ich bin... Sebastian“, stellte er sich vor. Im ersten Moment war es seltsam, gar furchtbar, sich selbst mit diesem Namen anzusprechen, doch umgehend dachte er an den Satz Michaels. Er findet meinen Namen schön..., hallte es durch seinen Kopf.
 

Wow, er war wirklich leicht zu begeistern und zu überreden... Unweigerlich musste er an letzte Nacht denken. Ob er Jana jemals wieder ohne ein schlechtes Gewissen unter die Augen treten könnte? Nein, er wollte jetzt nicht an seinen Mitbewohner und dessen Freundin, oder was auch immer sie eigentlich war, denken. Er wollte sich einfach nur auf diese Momente mit Michael konzentrieren, der heute Abend wirklich spendabel war und ihnen eine große Tüte Popcorn besorgte, als sie sich nach einer längeren Debatte, wenn man es so nennen konnte, letztendlich für eine Komödie mit dem Star aus diesem Disney Musical entschieden. Ein Kompromiss.
 

Es war nicht leicht auf den Film zu achten. Nicht nur, da er Jade überhaupt nicht ansprach, sondern auch, weil seine Augen immer wieder zu seinem Sitznachbarn wanderten, oder er diesen Schüttelfrost bekam, wann immer sich ihre Hände aus Versehen berührten, wenn sie gleichzeitig nach dem Süßkram griffen. All die Zeit über fragte Jade sich, was er jetzt eigentlich von dieser Situation denken sollte.
 

Hasste Michael ihn denn nicht mehr?
 

Als er an diese wütende Stimme dachte, die ihn am jenem Morgen vertrieben hatte, wurde ihm leicht schlecht. Und dann noch dieser Wutanfall im Starbucks. Und das lange Fortbleiben. Und nun saßen sie hier im Kino und Michael hatte ihm Popcorn ausgegeben und war völlig locker. Was war los? Sollte er es jetzt versuchen? War das die Chance, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte? Aber was, wenn er die Situation völlig falsch einschätzte?
 

Nach ca. 120 Minuten der inneren Diskussion und der Frage, ob er seine Hand vielleicht ganz ungeniert auf Michaels Knie platzieren sollte, war der Film zu Ende.
 

„Endlich“, sagte Michael lachend, als sie sich erhoben und schnell aus dem halb gefüllten Saal in der Dunkelheit schlichen. „Na, das war doch ganz lustig.“
 

„Ja, ich werde ihn morgen gleich noch mal gucken!“, bemerkte Jade mit einem gespielten Sarkasmus. Michael grinste ihn an.
 

„Ich finde „Herr der Ringe“ übrigens auch klasse, wollte ich vorher noch bemerken“, sagte Michael dann, während sie zum Ausgang schlenderten. Jades Herz machte einen kleinen Sprung.
 

„Echt?“, sagte er. Was für eine innovative Antwort...
 

„Ich hab die Trilogie gleich zwei Mal gelesen. Und „Den Hobbit“ auch.“
 

„Den hab ich ehrlich gesagt noch nie gelesen...“
 

„Ich kann dir das gute Buch nur empfehlen. Ist natürlich ein völlig anderes Ding als „Herr der Ringe“.“
 

„Stehst du allgemein auf Fantasy?“
 

„Auch wenn viele Leute es nicht von mir denken würden: Ja. Ab und zu finde ich es ganz klasse in eine völlig nicht existente, unrealistische Welt abzutauchen. Fantasybücher das sind Märchen für Erwachsene, vielleicht sind sie gerade deswegen so populär, denn es ist ein legitimes Abtauchen in eine Art Kindheit, verstehst du, was ich meine?“
 

„So, in etwa“, murmelte Jade. „Ich finde Fantasy einfach klasse, weil man da diese völlig abgedrehten Charaktere hat, die oftmals einfach nicht menschlich sind. Die eigene Fantasie hat da mehr Spielraum.“
 

Michael lächelte, als sie die breite Treppe hinunterschlenderten. „Ich hätte ja wirklich nicht gedacht, dass du ein Bücherfan bist...“, sagte er erneut etwas in Gedanken versunken.
 

„Das denken viele Leute nicht...“, bemerkte Jade etwas leiser. Vielleicht sogar etwas gekränkter. Sah er wirklich so dumm aus?! Nein, nicht aufregen. Irgendwie hatte er ja selbst Schuld. Oder nicht?
 

„Das sollte keine Beleidigung sein!“, warf Michael umgehend ein. „Ich meine ja nur-“
 

„Ich seh’ nicht so aus wie jemand, der Bücher liest. Ist schon klar“, unterbrach der Schwarzhaarige ihn einfach. Die Leier kannte er, in abgeänderten Formen und vielleicht nicht immer direkt an ihn gerichtet, aber wenn man die Ohren weit aufsperrte, dann konnte man sein Umfeld des Öfteren so über ihn sprechen hören.
 

„Hey, hör zu“, fing Michael an und legte seine Hand leicht auf den Oberarm Jades, der innerlich zusammenzuckte und den Chefredakteur nun automatisch von der Seite anguckte. „Du bist, wie soll ich sagen... Ich hatte vorher nie mit Menschen wie dir zu tun, OK? Das ist alles Neuland. Und vielleicht bin ich ja ein wenig voreingenommen und muss meine, wie soll ich sie nennen, Vorurteile wäre das unpassende Wort... Ich muss deine Welt erstmal ein wenig mehr verstehen, weißt du was ich meine?“
 

Jades Herz klopfte wild in seiner Brust. Michaels Hand lag noch immer auf seinem Oberarm. Gleich würde er durchdrehen. Diese Stimme, dieser Blick, diese Worte. Er grinste.
 

„Ist schon OK, ich denke für Typen wie dich bin ich nun mal ein Paradiesvogel“, sagte er.
 

Nun lachte der Blonde auch. „Typen wie mich. So, so. Was sind denn Typen wie ich?“
 

„Äh... Spießer?“, kam es vom Barista. Sein vorlauter Mund. Kurz stockte Michael. Und dann lachte er und wiederholte das von Jade geäußerte Wort ein wenig kopfschüttelnd, lächelnd. „Spießer, hm.“
 

„Hey, Jade!“, ertönte plötzlich diese vertraute Stimme hinter ihm. Oh-oh. Der Schwarzhaarige und sein Begleiter drehten sich um. Vor ihnen standen tatsächlich Jana und Torsten und als Jade in dieses lächelnde Gesicht der jungen Frau blickte, wurde ihm irgendwie schlecht. Auch wenn Leute ihm nachsagten, seine Bettgeschichten seien wild und er würde, was Sex anging, keine Skrupel besitzen – er fühlte sich fatal, weil er mit jemanden geschlafen hatte, der vergeben war. Irgendwie war er ja doch an die Monogamie gebunden. Wenn es um feste Partnerschaften ging. Feste Partnerschaften...
 

Torstens Augen blieben an Michael kleben, weiteten sich ein wenig. Und auch Jana verstand sofort, was hier vor sich ging. Ihr Lächeln wurde noch größer, noch herzhafter. „Hallo, du musst Michael sein“, sagte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen, die der Chefredakteur höflich drückte.
 

„Ja, das stimmt. Und du bist?“, fragte der Blonde.
 

„Ich bin Jana“, antwortete sie und deutet dann auf Torsten. „Und das ist Torsten, mein Freund und Jades Mitbewohner.“
 

„Ah ja, genau“, sagte Michael lächelnd. „Sebastian hatte mir von dir kurz erzählt.“
 

Als der Journalist den vollen Namen des Schwarzhaarigen aussprach hätte dieser schwören können, dass Torsten beinahe umgekippt wäre. Mit Verwunderung musterte der Rothaarige seinen Mitbewohner – der diesem Blick auswich und sich etwas verlegen am Kopf kratzte.
 

„Jedenfalls nett euch kennenzulernen“, sagte Michael.
 

„Wo wollt ihr denn jetzt noch hin?“, fragte Torsten ihn umgehend, nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Noch bevor Michael antworten konnte und etwas verlegen in Jades Richtung blickte, fuhr Torsten bereits fort. „Jana und ich wollten grad noch ins „Safari“, da ist heute Abend irgend so eine Piratenparty. Habt ihr nicht Lust mitzukommen?“
 

Jades Herz machte einen riesigen Sprung. Jetzt auch noch tanzen mit Michael...? Er blickte den Älteren an. „Wollen wir?“, fragte er sofort. Michael lächelte ihn an.
 

„Geh ruhig, wenn du Lust hast. Ich alter Mann werde mich jetzt auf den Weg nach Hause machen“, sagte er dann. Jades Herz prallte unsanft auf den Boden.
 

„Oh, schade...“, murmelte er.
 

„Ich wünsche euch auf jeden Fall noch viel Spaß“, sprach Michael in Janas und Torstens Richtung und drehte sich dann Jade zu, der sah, wie sein Mitbewohner und dessen Flamme dem Journalisten zuwinkten und schon einmal das Kino verließen. „Ich hatte heute einen wirklichen schönen Abend mit dir“, sagte Michael. Jades Herz stand langsam wieder auf.
 

„Ich auch“, pflichtete der Schwarzhaarige ihm bei. Die beiden Männer lächelten sich leicht an.
 

„Ich denke... Wir können uns jetzt normal gegenübertreten, oder?“, fragte Michael dann.
 

„Klaro, wir sind doch jetzt so was wie Kumpels“, entgegnete Jade grinsend und zwinkerte dem Journalisten zu, der kurzzeitig den Mund verzog. „Jaja, kein Ding, kein Zwinkern und so'n Scheiß. Ich werd mich bessern, versprochen.“
 

„Wunderbar. Dann... Sehen wir uns wohl schon bald im allseits beliebten Laden wieder“, konkludierte Michael und streckte ihm erneut seine Hand entgegen. „Bis dann und dir noch viel Spaß!“
 

„Ja. Ciao...“
 

Und dann war der blonde Mann weg. Händeschütteln anstatt Knutschen. Wünsche für den Abend anstatt Handynummern. Verdammte Scheiße! Was sollte das? Michael war wohl noch spießiger als Jade gedachte hatte. Der Schwarzhaarige musste grinsen.
 

Sollte er das jetzt als Herausforderung ansehen?
 

Er würde darüber nachdenken.
 


 

MICHAEL
 

Da er doch eher ein Mensch war, der Luxus bevorzugte, hatte er sich gegen den Linienbus entschieden. Das Taxi brachte ihn auf dem schnellsten Weg nach Hause. Es war nicht wirklich spät und noch nicht wirklich düster, sie brausten an der gut erkennbaren Stadt vorbei, die ausgeleuchteten Kaufhäuser spiegelten sich in den Fenstern des Wagens. Michael starrte wie gebannt hinaus.
 

Er war schon lange nicht mehr draußen gewesen, aus gewesen, war einer Verabredung dieser Art seit Ewigkeiten nicht mehr nachgegangen. Geschäftliche soziale Verpflichtungen – Ja, wer tat das nicht? Aber sich mit jemandem völlig neues zu treffen, ins Kino zu gehen. Nein, daran konnte er sich schon fast nicht mehr erinnern. Und schließlich war er die letzten guten fünf Jahre eh ausschließlich nur mit seinem Partner ausgewesen. Mit Tim.
 

Als er jetzt die vergangenen Stunden durch seinen Kopf passieren ließ, musste er beinahe laut auflachen. Sein Ex-Freund hätte ihm nie geglaubt, hätte er ihm von seinem Treffen erzählt. Wahrscheinlich wären Tims Augen fast ausgetreten, hätte er ihn und Sebastian sehen können. Aber darum ging es gar nicht. Momentan wunderte sich Michael eher, dass er tatsächlich so viel Spaß gehabt hatte. Ja, es war wundervoll angenehm gewesen mit diesem Wildfang… unterwegs zu sein. Oder war es Ausgehen? Ausgehen war so ein Terminus, der umgehend eine innere Bindung suggerierte. War er mit Sebastian ausgegangen?
 

Der Taxifahrer kassierte ein prächtiges Trinkgeld und der blonde Mann war froh weiter in seinen eigenen vier Wänden weiter grübeln zu können. Obschon sie ihm momentan beim Betreten immer wieder fremd erschienen. Schließlich hatte er es nun endlich vollbrachte, beinahe das gesamte Mobiliar verrückt zu haben.
 

Schließlich hatte er ja einen Neuanfang gestartet.
 

Neuanfang. Auch ein seltsamer Begriff. Aber ein Terminus, der normalerweise mit Positivem assoziiert wurde. Ob sein kommendes Leben wohl auch so „spießig“ verlaufen würde? Er musste grinsen, als er an Sebastians Bezeichnung denken musste. Und es verwirrte ihn vollkommen, dass sich so ein warmes Gefühl um sein Herz schlich. Vielleicht hatte er es wirklich mal wieder gebracht, sein „social life“ zu reanimieren. Vielleicht sollte er ja öfters weggehen? Zum Beispiel mit Florian. Der CvD liebte wilde Diskonächte und der war schließlich auch in seinem Alter.
 

Sein Alter. 11 Jahre Unterschied.
 

Sebastian führte scheinbar wirklich ein völlig anderes Leben. Irgendwie hatte er sich in seine Studentenzeit versetzt gefühlt. Da… war er gar nicht spießig. Zu sagen, er wäre wild gewesen, wäre eine reine Übertreibung, und er würde sich selbst damit auch belügen. Aber er hatte schon Spaß gehabt. Er war lockerer gewesen. Das hatte er zu der Zeit ja auch sein können. Jetzt als Chefredakteur, der die gesamte Publikation repräsentierte, konnte er sich eben nicht mehr zu viel erlauben…
 

Michael schenkte sich ein Glas Wein an und ließ sich auf dem Sofa nieder.
 

Ja, er musste es sich schon eingestehen. Als er heute mit Sebastian trinken war, hatte er sich irgendwie jünger gefühlt. Auf irgendeine Art und Weise hatte er sich selbst wie 24 gefühlt und das hatte ihn durchaus entspannt. Er hatte ihm schließlich einfach so von seinem Privatleben erzählt, ein Schritt, den er sonst niemals gegangen wäre. Aber Sebastian hatte so etwas Jugendliches an sich, da hatte es sich einfach richtig, einfach gut angefühlt. So wie damals, als er seinem besten Uni-Freund Patrick alles von seinem Leben erzählte, oder auch einiges an andere Kommilitonen weitergab, weil junge Leute einfach gern über ihre Probleme oder auch Erfolge mit ihren Freunden sprachen, dieses Bedürfnis sich auszutauschen besaßen.
 

Eigentlich hatte er ja überhaupt nicht über seine Empfindungen nachdenken wollen. Und nun meinte er schon das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren vernehmen zu können. War er schockiert, dass ihn ein Abend mit dem Mann, den er meinte zu hassen und dessen Art er meinte zu verabscheuen, so viel Freude bereitet hatte? Wahrscheinlich. Verspürte er Angst aufgrund dieses Bedürfnisses ihn wiederzusehen? Vermutlich. War er verblüfft, dass er umgehend eine Email an Florian sendete und seine morgige Rückkehr ankündigte? Definitiv.
 

Er hatte, wie konnte man es besser formulieren, einfach Lust auf… Kaffee.
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Was war’n das bitte?“, fauchte Torsten ihn schon beinahe an, als er die beiden einholte. Jade zuckte mit den Schultern und starrte auf den Boden.
 

„Freu dich doch, dass es endlich geklappt hat!“, sagte Jana und schubste Torsten spielerisch, wonach sie den Schwarzhaarigen anlächelte.
 

„Ja, aber er meinte doch, dass er gar nicht mit dem Typen weg will, weil er ein selbstsüchtiges Arschloch ist!“, verteidigte Torsten sich vor seiner Freundin.
 

„Ich habe den Begriff „Selbstsüchtiges Arschloch“ definitiv nicht in diesem Zusammenhang benutzt…“, bemerkte Jade mit einer bitteren Stimme. Diese Situation gefiel ihm gar nicht.
 

„Aha. Du sagtest aber du hättest mit dieser Sache abgeschlossen. Und dann sagst du auch noch UNS das Kino ab, gehst aber mit diesem Hans dahin. Toller Freund bist du“, schimpfte der Rothaarige weiter, ohne dabei seinen Mitbewohner richtig anzublicken.
 

„Könnt ihr euch bitte mal beruhigen?“, fragte Jana entrüstet. „Ich dachte wir machen uns jetzt noch einen schönen Abend.“
 

Schöner Abend, von wegen. Jade hatte seinen schönen Abend bereits hinter sich. Einen äußerst schönen Abend, ja. Und er hatte so was von keiner Lust sich diesen „schönen Abend“ von seinem frustrierten, hormongesteuerten, bisexuellen Mitbewohner zerstören zu lassen.
 

„Ich bin ruhig. Flöß Torsten einfach ein wenig Wodka ein, dann kommt der schon wieder runter und dann könnt ihr dir ganze Nacht Versöhnungssex haben, OK? Ich hau jetzt ab, man sieht sich!“, mit einer gespielten, völlig übertriebenen Verbeugung verabschiedete er sich somit und machte auf dem Absatz kehrt zum Hauptbahnhof.
 

„Jade!“, hörte er Jana ihm noch hinterher rufen. Und von Torsten meinte er den gegrummelten Satz „Lass den Arsch doch“ vernehmen zu können. Er seufzte, als er langsam auf den Bus zujoggte.
 

Torsten war diesmal der Arsch. Definitiv.

Pitcher

SEBASTIAN/JADE
 

Es war wohl gegen 3 Uhr morgens, als Jade die Wohnungstür laut zuschlagen hörte und dieses Geräusch ihn unsanft aus seinem recht angenehmen Schlaf riss. Der Schwarzhaarige konnte seinen Mitbewohner den Flur entlang stolpern hören. Wahrscheinlich war Torsten total blau… Und mit dieser Vermutung lag Jade gar nicht so verkehrt.
 

Ebenso laut wie die Wohnungstür zugeschlagen worden war, wurde nun die Zimmertür des Schwarzhaarigen aufgerissen und der volltrunkene Mann taumelte in den Raum. Dabei schaltete er, wahrscheinlich aus Versehen, das Licht ein, welches Jade im ersten Moment furcht blendete. Der Schwarzhaarige blinzelte und rieb sich die Augen.
 

Er spürte, wie Torsten sich neben ihm aufs Bett niederließ. Sein Mitbewohner verbreitete einen leicht unangenehmen Zigarettengeruch. Der typische „Clubduft“. „Was willst du, Torsten?“, fragte Jade.
 

„Öh… Keine Ahnung“, kam es vom Rotschopf, der dämlich vor sich hingrinste.
 

„Hattet ihr wenigstens ne schöne Zeit?“, fragte der Halbschlafende genervt weiter und schloss seine Augen. Sein Mitbewohner antwortete nicht. „Torsten…?“, hakte er nach. Als er seine Augen widerwillig öffnete, sah er, dass dieser schon halb am schlafen war. „HEY!“, rief der Schwarzhaarige und trat nach seinem Mitbewohner, der daraufhin mit einem überraschten „OH!“ zu Boden rutschte und zunächst blinzelt sitzen blieb.
 

„Mann, geh ins Bett“, sagte Jade und verdrehte die Augen. Er wollte doch einfach nur schlafen. Und von Michael träumen. Nun musste er grinsen.
 

„Ja…“, nuschelte Torsten als er sich auf allen Vieren durch das Zimmer bewegte. „Ich geh jetzt schlafen.“ Er kroch aus dem Zimmer. Genervt schob Jade die Bettdecke beiseite und schwang die Beine über die Bettkante. Er schloss die Tür leise und knipste das Licht aus.
 

Der Schlaf hätte ihn eigentlich umgehend überkommen müssen. Doch es passierte nichts. Unbewusst lauschte er, wie Torsten irgendwie versuchte sich umzuziehen und dabei etliche Sachen in seinem Zimmer umschmiss. Jade seufzte und musste leise kichern. Betrunkene Freunde konnten schon witzig sein…
 

Allerdings brachte der Gedanken an Torsten auch einen leichten, bitteren Beigeschmack mit sich. Jades Kichern verklang. Er seufzte erneut. Irgendwie fühlte er sich noch immer beschissen…
 

MICHAEL
 

„Guten Morgen!“, begrüßte er die bekannten Gesichter in der Redaktion und er musste sich selbst eingestehen, dass es sich gut anfühlte, wieder hier zu sein. Diese bekannte Umgebung bescherte ihm ein positives Wohlbefinden. Umgehend kam auch schon Florian angerannt und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Wie immer war der CvD total durcheinander, als er Michael alle Infos schilderte und den aktuellen Stand vermittelte.
 

Schon nach einer Stunde fand die übliche Redaktionskonferenz statt, der Alltag holte den Chefredakteur ein und er freute sich. Hier, in seinem Büro, in seiner Redaktion (quasi), fühlte er sich pudelwohl und erfüllt. Er stürzte sich wortwörtlich in die Arbeit hinein, sodass er gar nicht bemerkte, wie schnell der Mittag kam.
 

Als er sich auf den Weg machte, um seinen Durst zu stillen, und vor allem, um jemanden Besonderes zu treffen, hielt er plötzlich inne. „Musste Sebastian heute eigentlich arbeiten?“, schieß es ihm durch den Kopf. Umgehend mit diesem Gedanken kamen noch mehrere Fragen auf. Wie z.B. die Hauptfrage: Was machte er denn überhaupt hier?!
 

Er marschierte wieder in sein Büro zurück und ließ sich auf dem Sessel nieder, fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht.
 

Zweifel. Da waren sie wieder.

Aber wieso?

Er hatte nicht vor etwas Ernsthaftes mit diesem jungen Mann einzugehen.

Theoretisch.
 

„Theoretisch“, murmelte er vor sich hin, was ihn nur noch mehr schockierte. Und zwei Minuten später, als er an dieses Gefühl dachte, welches er gestern seit so langer Zeit endlich wieder genossen hatte, dieses Gefühl der Jugend, der Freiheit und der Entspannung, hatte er die Redaktion bereits verlassen und steuerte das Einkaufszentrum an.
 

Bereits beim Durchqueren der großen Türen lugte er in das Lokal hinein und freute sich zunächst über die ziemlich kleine Schlange am Tresen. Seine Augen suchten nach den schwarzen Haaren. Er konnte lediglich eine ältere Frau lokalisieren, einen südländischen, jungen Mann und eine sehr junge Mitarbeiterin. Von Sebastian war keine Spur. Michael seufzte.
 

Er hätte ihn einfach gestern fragen müssen.

Aber gestern hatte er ja auch noch nicht gewusst, dass er ihn unbedingt wiedersehen wollte. Und die Entscheidung, heute wieder zu arbeiten, war auch eher eine der spontaneren gewesen. Er knirschte leicht mit den Zähnen, als er sich nun missgelaunt in die Reihe stellte. Kaffee wollte er trotzdem noch.
 

Erst dann hörte er diese angenehme Stimme, die ihm gestern zum ersten Mal bewusst aufgefallen war. „Was darf’s denn für dich sein?“, hörte er Sebastian eine junge Frau in der Schlange fragen.
 

Warum durchfuhr ihn plötzlich diese positive Energie?
 

Die Augen des Schwarzhaarigen blieben an ihm heften, als dieser die kommenden Bestellungen auf die Zettelchen schrieb. Umgehend machte sich ein Lächeln auf dem jungen Gesicht breit. Michael hätte schwören können, dass der Schwarzhaarige kurz davor gewesen war, ihm zuzuzwinkern und sich nur im letzten Augenblick hatte beherrschen können. Er musste leise lachen. Ja, Lachen hatte ihm in den letzten Wochen gefehlt.
 

Endlich war er an der Reihe. Wieder sah er dieses Aufleuchten in den dunklen Augen Sebastians. Und wenn er es sich nur einbildete, dann kümmerte es ihn auch nicht. Er empfand es als durchaus angenehm.
 

„Hey Michael!“, grüßte er ihn grinsend. „Ich denke ich weiß, was du willst?“ Michael nickte einfach nur, lächelte. „Triple Caffé Mocha, venti, mit einem Spritzer Vanillesirup, fettarmer Milch, extra heiß“, sagte der Sebastian auf, als er die dafür stehenden Kürzel notierte.
 

Irgendwie war es ja fast schon niedlich, mit was für einer Genauigkeit der junge Mann ihn scheinbar studiert hatte. Nein, es schien ihn nicht mehr wirklich zu nerven. Vielleicht hatte er einfach begonnen das Positive darin zu sehen, es auch als einen Schub für sein Selbstbewusstsein zu betrachten. Vielleicht wurde ihm der Schwarzhaarige auch einfach sympathischer.
 

Naja, miteinander geschlafen hatten sie ja schon…
 

Auch wenn Michael das momentan mehr als unrealistisch erschien. Schließlich war die normale Reihenfolge – Kennenlernen, dann das Intimwerden – wirklich auch etwas durcheinander gekommen… Er spürte förmlich, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Ja, das war mehr als dumm gelaufen… Auch wenn die Erinnerungen als „mehr als heiß“ beschrieben werden könnten.
 

„Alle gut bei dir?“, fragte Sebastian ihn. „Noch gut nach Hause gekommen?“
 

„Natürlich. Ich habe dann doch das Taxi genommen und den Bus ignoriert“, entgegnete er.
 

„Das war ja klar“, fiel Sebastian ihm grinsend ins Wort.
 

„Achja, darf ich fragen wieso?“
 

„Weil du ein Spießer bist“, sagte Sebastian und betonte das S-Wort theatralisch. „Nein, Scherz!“, fügte er schnell hinzu. Michael musste grinsen.
 

„Und du?“, fragte er den Schwarzhaarigen dann. „War es noch gut mit deinem Mitbewohner im Club?“
 

„Ne. Ich bin gar nich’ hin“, erklärte Sebastian ihm und notierte sich kurz die Bestellung von dem neu dazugekommen Kunden.
 

„Du bist nicht in die Disco gegangen?“, fragte Michael erneut mit leicht verwunderter Stimme, als der Barista sich ihm erneut zudrehte.
 

„Ne, ich hatte einfach keine Lust“, lautete die simple Antwort. „Ich bin direkt nach Hause und hab noch ein wenig gedaddelt.“
 

„Du wirst mir aber jetzt nicht erzählen, dass du ein World of Warcraft Spieler bist, oder?“
 

„Oh, da kennt sich aber jemand aus“, Sebastian grinste. „Wenn ich WOW spielen würde, hätte ich wahrscheinlich keinen Job, keine Wohnung und keine Freunde.“
 

„Na, da kennt sich aber jemand aus.“
 

Beide Männer grinsten sich an.
 

„Triple Caffé Mocha, extra heiß!“, rief eine Frauenstimme und platzierte das Getränk auf dem kleinen, aber hohen Abstelltisch. Bevor Michael zu seinem Getränk schlenderte, stellte er Sebastian noch eine Frage: „Lust morgen mit mir ins „Raja“ zu gehen? Neues indisches Restaurant ganz in der Nähe.“
 

Und wieder, die dunklen Augen die ihn mit leichter Verwunderung und gleichzeitig Freude musterten. „Super gern!“, rief der Schwarzhaarige regelrecht. Michael zückte sein Handy. „Na, dann gib mir mal deine Nummer.“
 

Als neue Kundschaft den Weg in die Filiale fand und Michael sich mit seinem heißen Kaffee an einen freien Tisch unweit des Tresens setzte, fing er an, all die noch gespeicherten SMS von Tim zu löschen. Er wusste nicht genau wieso, aber er fühlte einfach, dass dies der richtige Moment war. Warum auch immer.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Sein Herz hämmerte regelrecht in seiner Brust. Vor allem, wenn er seinen Blick hinüber zu Michael schweifen ließ, der sich mit seinem Kaffee und ebenfalls seinem Handy beschäftigte. Er konnte sein eigenes Mobilgerät in der Hosentasche spüren. Und die Tatsache, dass er vor wenigen Minuten Michaels Nummer darin gespeichert hatte, machte seine Knie weich und ließ ihn beinahe durchdrehen.
 

Ja, so lief das doch sehr nach seinem Geschmack. Michael schien sich doch für ihn zu interessieren! Oder?
 

„Jade, hilf mir mal!“, riss Alis Stimme ihn aus seinen Träumen. Sein Kollege drückte ihm ein Küchentuch in die Hand. „Da ist alles dreckig“, sagte er und deutete auf den Bereich, vor dem der Schwarzhaarige stand.
 

„Oh“, stammelte dieser und fing an zu wischen. Er spürte Alis Blick noch immer auf seiner Haut und blickte den Abiturienten mit einer hochgezogenen Braue an. „Was ist? Gefall ich dir plötzlich, oder warum starrst du mich so an?“
 

Ali grinste. „Ich darf anstarren wie ich will. Außerdem bist du grad mehr als lustig anzugucken.“
 

„Wie bitte?“
 

Sein Kollege beugte sich vor und flüsterte: „Du bist ganz schön rot geworden, mein Freund.“ Als Jade ihn leicht schockiert ansah, musste Ali laut lachen und verschwand im hinteren Bereich. Auch Katja grinste ihn an. Auf eine nette Art und Weise.
 

„Wir sehen uns morgen, ja?“, ertönte Michaels Stimme. Er winkte Jade zu und der Junge schaffte es gerade noch so diese Geste zu erwidern. Und dann blickte er ihm hinterher. Doch diesmal war es kein verzweifelter Blick, mit welchem er dem Journalisten nachsah. Dieses Mal war es ein erfreuter Blick.
 

Schon morgen!

Und er hatte seine Handynummer!

Und und und!
 

MICHAEL
 

„Dir scheinen die freien Tage ja wirklich geholfen zu haben“, bemerkte Florian, als sie gemeinsam die finale Version des Satzspiegels durchgingen. Michael lächelte leicht, ohne die Augen von dem Bildschirm zu nehmen. Sein Kollege hatte ja überhaupt gar keine Ahnung, wie recht er mit dieser Aussage hatte. Auch wenn ihm seine äußert gute Laune, wenn er länger über sie nachdachte, immer noch leichte Kopfschmerzen verursachte. Oder eher ein Schwindelgefühl.
 

Michael erkannte sich, wenn er mit Sebastian in Verbindung stand, irgendwie nicht wieder. Andererseits hatten die beiden gerade mal einen Tag miteinander verbracht (diese Nacht ausgenommen) und hatten soeben das erste Mal wie zwei normale Menschen miteinander kommuniziert.
 

Obwohl, konnte man das wirklich normal nennen? War das nicht schon ein Flirt gewesen? Hatten sie auch nicht schon gestern geflirtet? Mein Gott! Wäre diese Singlezeit nicht schon so lange her! Michael war sich sicher, dass er sich sonst besser an all diese kleinen Details erinnern könnte.
 

Es fühlte sich so seltsam an, jemandem nach und nach etwas von sich zu offenbaren und den anderen wiederum kennenzulernen. Tim hatte alles gewusst über ihn, ihre Gespräche waren völlig anders gewesen. Alltäglich vielleicht? Michael konnte sich diese Frage nicht beantworten. Eigentlich wusste er auch, dass es momentan auch unmöglich war diese Wende zu erklären. Warum er Sebastian plötzlich als durchaus sympathisch hätte beschreiben können. Warum er sich auf ihr morgiges Essen eigentlich so freute.
 

Deshalb sagte er sich, er solle sich einfach darauf freuen, die Dinge auf ihn zukommen lassen. Etwas, was er schon sehr, sehr lange nicht mehr getan hatte. Etwas, was ihm wahrscheinlich fehlte.
 

„Ich denke das passt alles, oder?“, fragte Florian und sah ihn an. Michael nickte lächelnd und schickte seinen Freund zurück an die Arbeit. Er selbst studierte die Karte des „Raja“ im Internet und das Wasser lief ihm bereits im Mund zusammen…
 

Ob er wohl heute Schlaf finden würde?
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Verdammt, Dirk, ich hab echt keinen Plan, was ich anziehen soll!“, jammerte er in den Hörer. Endlich telefonierten sie mal wieder miteinander und seinen Freund schien es wirklich zu freuen, dass Jade sich bei ihm gemeldet hatte. Und dann auch noch mit solchen Nachrichten.
 

„Alter, ich kann’s immer noch nich’ fassen, dass du jetzt mit dem Kerl essen gehst. Der hat dich doch gehasst wie die Pest?!“, sinnierte Dirk lachend. Jade konnte hören, wie er den Zigarettenrauch auspustete.
 

„Ich hab auch echt kein’ Plan, was über Michi gekommen ist, aber eigentlich ist es mir auch scheißegal, weil er mich endlich beachtet!“
 

„Oh, jetzt nennst du ihn schon Michi. Ist ja fast schon niedlich.“
 

„Ich kann dein dämliches Grinsen durch die Leitung sehen!“, feixte Jade und beide lachten. „Aber jetzt sag mir, was zur Hölle soll ich tragen? Richtig fein? Diesen dämlichen Anzug? Oder doch eher casual, meine enge schwarze Jeans und dazu dann das schwarze Hemd? Oder doch weiß? Oder…?“
 

Sie diskutierten über mögliche Outfits mehr als 30 Minuten. Und dann klingelte plötzlich Jades Handy. Er erstarrte.
 

„Oh, wer das nur ist…?“, flötete Dirk am anderen Ende der Leitung.
 

„Ich ruf zurück!“, antwortete Jade hastig und schmiss das ausgeschaltete Telefon aufs Bett, sprang zu seinem Schreibtisch und schrie beinahe vor Freude auf, als er den Namen „Michael“ auf seinem Display ablesen konnte.
 

„Hallo Herr Chefredakteur!“, grüßte er ihn sofort.
 

„Hallo Herr Barista“, grüßte Michael mit freundlicher Stimme zurück.
 

„Hattest du einen schönen Tag?“, fragte Jade.
 

„Ja, es hat wirklich gut getan wieder in der Redaktion zu sein. Ich befürchte ich bin das, was man einen Workaholic nennt. Unsere Praktikanten sind auch wirklich gut geworden. Es war auch übrigens Anna, ich hatte dir ja von ihr erzählt und du kennst sie ja scheinbar auch, die den Artikel über das „Raja“ geschrieben hatte.“
 

„Ich weiß!“, fiel Jade ihm lachend ins Wort. „Ich hab ihn heute noch gelesen. Du weißt doch, dass ich nach eurem Heft verrückt bin.“
 

„Eine Tatsache, die ich wahrscheinlich nie so richtig verstehen werde…“
 

„Musst du auch nicht.“
 

„Ich wollte dich fragen, wann es dir morgen am besten passen würde? Weißt du, wie man dahin kommt?“
 

Jades Herz raste, er konnte es nicht fassen, dass er hier gerade mit Michael telefonierte. Mit Michael! Diese Situation hatte er sich eigentlich tausend Mal lediglich in seinen Träumen ausgemalt und nun war sie real!
 

„Ich muss morgen nur bis 14 Uhr arbeiten, von daher kann ich mich nach dir richten“, antwortete er mit der süßesten Stimme, die er nur erzeugen konnte.
 

„Wunderbar“, kam es von Michael. „Wie wär’s denn dann so um 20 Uhr? Wäre das OK?“
 

„Na klar, acht ist toll!“, willigte der Schwarzhaarige enthusiastisch ein. „Apropos Essen, ich glaube ich koche mir auch gleich etwas schönes.“
 

„Ja, Abendessen ist eine gute Idee. Was gibt’s denn bei dir?“
 

Jade konnte es selbst nicht fassen, als sie das Gespräch erst nach 20 Minuten beendeten. Er hatte Michael den Inhalt seines Kühlschranks geschildert und dieser hatte ihm dann Kochtipps gegeben. Und nun saß er völlig verträumt vor einem dampfenden Teller und genoss jeden einzelnen Biss. Er bemerkte noch nicht einmal Torsten, der sich gegen den Türrahmen lehnte und belustigt musterte.
 

„Oha, du siehst aus wie ein kleines Mädchen, das gerade ihren Prinzen auf nem weißen Pony entdeckt hat“, riss ihn die Stimme seines Mitbewohners aus seinen Gedanken.
 

„Hallo Torsten. Na, wieder nüchtern?“, fragte er und grinste.
 

„Hör bloß auf, der ganze Tag war im Arsch.“
 

„So sahst du gestern auch wirklich aus.“
 

Stille legte sich.
 

„Willst du auch was? Ich hab gerade gekocht“, bemerkte Jade. Torsten blickte auf seinen Teller und nickte. Als er davon probierte, nickte er anerkennend mit dem Kopf, auch wenn er leicht verwirrt wirkte. „Seit wann kannst du eigentlich so gut kochen?“, fragte der Rothaarige dann.
 

„Michael hat mir ein wenig Hilfe geleistet.“
 

„Was? Er war hier?!“, fragte Torsten nun wirklich verwirrt.
 

„Neiiiin. Wir haben telefoniert und er hat mir gesagt, wie ich das alles zubereiten soll.“
 

„Oha“, bemerkte Torsten und aß ruhig weiter. Einige Minuten verstrichen. „Mann, ich weiß nicht, ob das so ne gute Idee mit Michael ist, Jade“, sagte er schließlich. Der Schwarzhaarige starrte sein Gegenüber leicht misstrauisch an. Irgendwie gefiel ihm das ganz und gar nicht. „Wieso?“, hakte er deswegen nach.
 

„Ich weiß nicht. Ist nur so’n Gefühl“, entgegnete Torsten, der weiterhin seinen Teller anstarrte.
 

„Wenn ich dir dasselbe wegen Jana gesagt hätte, hättest du auch nicht auf mich gehört…“, bemerkte er dann.
 

„Das ist was anderes!“, sagte Torsten mit fester Stimme.
 

„Ist es nicht, du Idiot!“, antwortete Jade und lachte. „Es ist genau dasselbe.“ Torsten seufzte und stellte seinen leeren Teller in die Spüle.
 

„Hey, mach den gefälligst sauber!“, rief Jade ihm nach, doch als er die würgenden Geräusche aus dem Badezimmer wahrnahm, lachte er nur weiter und machte sich daran das gesamte Geschirr selbst abzuspülen. Torsten sollte ausschlafen und einen klaren Kopf bekommen und dann würde er vielleicht mit ihm über Michael reden. Vielleicht.
 

MICHAEL
 

Er hatte gut geschlafen und fragte sich den gesamten Tag, wieso eigentlich. Um punkt 18 Uhr verließ er die Redaktion. Er hatte heute so viel zu tun gehabt, dass eine Kaffeepause gar nicht möglich gewesen war. Aber der Redaktionskaffee hatte sein Werk auch getan. Er war putzmunter.
 

Und irgendwie auch aufgeregt, was ihn total durcheinander brachte.

Er fühlte sich wie ein Teenager.

Es war ein wunderbares Gefühl.
 

Er hatte sich seinen dunkelgrauen Anzug bereits gestern Abend zurechtgelegt. Nun nahm er eine ausgiebige Dusche und benutzte dabei das teure Gel, welches Tim ihm mal geschenkt hatte – und musste dabei tierisch grinsen. War es eine Art Rachegefühl? Trotz? Er benutzte das Duschgel, welches ihm sein Ex geschenkt hatte, weil er sich mit einem anderen, viel jüngeren Mann traf. Jetzt musste er lachen.
 

Was war nur los mit ihm?
 

Er warf einen letzten Blick in den Spiegel und tastete seine Innentasche nach dem Brillenetuie ab. Er war etwas langsichtig, und wenn die Buchstaben zu klein waren, konnte er sie nur mittels seiner Brille erkennen. Hatte Sebastian ihn eigentlich schon mal mit Brille gesehen? Wahrscheinlich würde er sie als „noch spießiger“ beschreiben. Michael seufzte grinsend und schlug die Haustür hinter sich zu. Das Taxi wartete bereits.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Er war so ein Trottel. Nur, weil er ultra-mega-NICHT zu spät kommen wollte, spazierte er nun schon seit einer halben Stunde vor diesem Laden herum. Er war nervös. Und dieses Gefühl wollte ihn einfach nicht verlassen. Er schüttelte den Kopf. Immer, wenn es etwas mit Michael zu tun hatte, tauchte die Nervosität auf. Wirklich seltsam.
 

„Sebastian!“, hörte er diese angenehme Stimme rufen. Als er sich umdrehte, kippte er beinahe um. Und ärgerte sich zugleich. Michael sah fantastisch aus in diesem feinen, dunkelgrauen Anzug mit der pechschwarzen Krawatte. Sein blondes Haar saß perfekt, die grauen Augen glänzten. Und er? Wie sah er bitte aus?! Er würde Dirk den Hals umdrehen, der ihm zum „lockeren Outfit“ geraten hatte, weil das „Raja“ ja „nicht so der Nobelladen“ war.
 

Jade stand hier mit seiner dunkelblauen Jeans, schwarzen Sneakern und dem kurzärmligen, schwarzen Hemd, dass leicht über den Bund seiner Hose reicht. Seine Haare hatte er natürlich auch offen gelassen und kein Haarband dabei. Gott, wie er sich momentan verflucht. Dresscodes. Die hatte er noch nie richtig einhalten können. Außer im Hotel damals. Wobei das auch schon mal schiefgegangen war…
 

„Hi“, grüßte er ihn. Michael musterte ihn. Doch er kommentierte sein Outfit ganz und gar nicht, grinste nur leicht. Puh.
 

„Hunger?“, fragte der Ältere ihn.
 

„Und wie!“
 

Als sie die Karte durchblätterten, setzte Michael seine Brille auf – die Buchstaben waren einfach zu winzig. Jade blickte auf. Ihre Blicke trafen sich.
 

„Ich wusste gar nicht, dass du eine Brille trägst“, sagte er.
 

Michael grinste und antwortete: „Ja, ganz schön spießig, was?“
 

Jade lächelte und entgegnete: „Nein, eher ganz schön heiß…“
 

Beide Männer räusperten sich und studierten weiterhin die Karte. Nur Jades Herz klopfte laut und stürmisch. Michael sah wirklich heiß aus. Ein heißer Spießer. Oder ähnlich. Gott, er wollte ihn küssen…
 

Sie bestellten beide ein Tandoori Gericht, aßen Naan Brot, tranken Mangosaft. Michael bestand darauf für alles zu bezahlen. Und das passte Jade nur allzu gut, er hatte sich extra für diesen Abend Geld von Ali geliehen. Naja, das könnte er aber auch gut für den weiteren Verlauf ausgeben, oder?
 

„Sag mal“, setzte der Schwarzhaarige an, als Michael bezahlte. „Hast du nicht noch Lust mit mir in den Pub zu gehen? Ich will mich revanchieren. Ein Bier vielleicht, hm?“
 

Michael lächelte und nickte. „Sehr gern“, sagte er.
 

MICHAEL
 

Er kannte sogar den Pub, in den Sebastian sie entführte. Ein geräumiger Laden, der wahrscheinlich den gesamten Keller des riesigen Hauses einnahm. Und überall waren nur Männer. „Der größte Schwulen-Treff der Stadt!“, so hatte Tim ihn immer genannt. Zusammen waren sie aber nur ein oder zwei Mal hier gewesen.
 

Irgendwie wurde ihm mulmig zumute. Was, wenn Tims Freunde hier waren? Wie würde er sich fühlen, wenn sie ihm plötzlich gegenüberstanden? Sollte er sie dann übers Tim Wohlbefinden ausfragen? Und was würden sie eigentlich sagen, wenn sie ihn mit SEBASTIAN hier sahen?
 

Er sah den Schwarzhaarigen an, der am Tresen stand und ihnen einen Pitcher bestellte. Er musste grinsen. Mit seinem unkonventionellen Outfit war er nebem dem Chefredakteur ja schon etwas im Restaurant aufgefallen. Aber… Er sah gut aus. Verdammt gut. Der knackige Hintern zeichnete sich perfekt in der Jeans ab. Seine entblößten Arme waren leicht ausgebildet. Definitiv nicht die eines süchtigen Fitnessstudio-Gängers, aber wirklich männlich. Wirklich schön.
 

War es genau dieser Moment, in dem Michael sich zum ersten Mal gestand, dass er sich in Sebastian verguckt hatte?

War es genau dieser Augenblick, in dem ihm klar wurde, dass Sebastian so interessant war, weil er fast das genaue Gegenteil von ihm war? Weil er so total anders als Tim war?

Vielleicht.
 

„Hey, alles OK?“, fragte Sebastian plötzlich. Michael hatte gar nicht bemerkt, wie der Junge wieder an den Tisch zurückgekommen war.
 

„Na klar“, antwortete er. „Bist du eigentlich oft hier?“
 

„Naja, eigentlich schon. Ich find den Laden halt echt gut. Und hier gibt’s immer Livemusik. Guck ma, der Typ mit der Gitarre da baut schon auf, wir sind genau richtig gekommen!“, antwortete Sebastian. „Und du? Ich hab dich hier jedenfalls noch nie hier gesehen. Sonst wärst du mir schon viel eher aufgefallen…“
 

Michael lächelte. „Nein, ich war… eigentlich nie so der Typ zum weggehen. Ich war hier nur ein-zwei Mal mit meinem Ex… Der ist ja eher so gern weggegangen.“
 

„Hmmm…“, kam es von Jade. Und dann kam auch schon der Pitcher. Das Bier schmeckte gut.
 

„Was machst du denn am liebsten am Wochenende, wenn du nicht so sehr auf weggehen stehst?“, fragte Jade ihn, nachdem sie angestoßen hatten.
 

„Ich, naja, ich koche unheimlich gern. Und ich lese sehr gern. Ich gehe gern spazieren. Und ich gucke gern mal einen guten Film. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich niemals weggehen würde, es ist nur…“
 

„Vielleicht wurdest du einfach nicht oft genug von deinem komischen Ex gefragt?“, warf Sebastian ein und sah zu dem Menschen mit der Gitarre, der gerade sein Publikum begrüßte und auch schon mit dem ersten Song anfing. Irgendein Countrylied.
 

„Mag sein“, sagte Michael. Er dachte nach. Vielleicht? Und dann wiederum, war es ja OK gewesen, so wie es war. Sebastian lächelte ihn an.
 

„Ich hab ehrlich gesagt keine Lust über deinen Ex zu reden“, sagte er dann.
 

„Ich auch nicht“, willigte Michael lachend ein.
 

„Bei mir ist das so“, fuhr Sebastian fort. „Ich gehe super gerne weg, ich brauch das irgendwie, um den ganzen Stress loszuwerden. Aber viele Leute denken von mir, dass ich wirklich jedes Wochenende losziehen würde, und zwar das gesamte Wochenende. Das ist aber völliger Bullshit.“, er nahm einen weiteren Schluck des Bieres. „Ein chilliges Wochenende muss einfach sein, oder gleich zwei hintereinander. Wenn man nur aus ist, dann nervt das. War bei Mark und mir damals auch so, wir sind in den ersten Monaten unserer Beziehung immer nur weggegangen und dann waren wir die nächsten Monate einfach nur zu Hause und haben abgehangen, weil wir so die Schnauze voll hatten von Partymachen…“
 

„Wenn ich ehrlich sein muss, dachte ich auch, dass du jedes Wochenende losziehst…“, gab Michael peinlich berührt zu. Warum störte ihn eigentlich wieder das Erwähnen dieses Ex-Freundes? Bevor Sebastian etwas sagen konnte, fuhr Michael fort: „Ja ja, ich weiß, Spießer und so.“ Sie lachten gemeinsam.
 

Und dann sprachen sie nicht mehr über Ex-Freunde. Sebastian löcherte ihn förmlich über seine Arbeit, wie er zum Journalismus gekommen war, wie es im „Fly“ ablief, ob der Job stressig war, ob er schon immer gewusst hatte, dass er Redakteur werden wollte… Und Michael genoss dieses Interesse. Er genoss es sehr.
 

Beim zweiten Pitcher hatten sie das leere Sofa in der Ecke geschickt eingenommen. Von hier aus konnte man die kleine Bühne gut sehen und die Livemusik wurde wirklich immer besser. Michael löste seine Krawatte und knöpfte sich das Hemd etwas auf. Umgehend spürte er Sebastians Blick auf sich ruhen.
 

Als er ihn ansah, blickte er in leicht glasige Augen, die seine etwas entblößte Brust anstierten. „Na, gefällt dir, was du siehst?“, fragte Michael und wunderte sich, dass so ein Satz über seine Lippen glitt. Sebastian erwiderte den Blickkontakt und nickte grinsend.
 

Instinktiv rückte Michael näher. Ja, er verspürte einfach dieses Bedürfnis. Vorsichtig und doch bestimmend legte er seinen Arm um Sebastians Schulter. Als er daraufhin die warme Hand des Schwarzhaarigen auf seinem Oberschenkel spürte, machte sich ein Kribbeln in seinem Bauch breit.
 

„Und du?“, fragte Sebastian. „Gefällt dir auch, was du siehst?“
 

Michael brauchte nicht über seine Antwort nachzudenken. „Ja, das tut es“, hauchte er und seine Finger fuhren durch die schwarze Mähne des jungen Mannes. Er zog ihn noch näher zu sich, zog ihn in einen langen, sanften Kuss. Sebastians Lippen fühlten sich weich an. Er spürte, wie die Hand des Jungen anfing seinen Oberschenkel leicht zu streicheln, als er neckend über seine Unterlippe leckte.
 

Michael wurde mutiger und ließ seine Zunge probeweise in den Mund des anderen wandern, der diesen Einlass nur begierig gewährte. Sie legten ihre Arme um einander, und pressten ihren Körper gegen den des anderen. Sebastian umkreiste die Zunge Blonden mit seiner und dieser leicht kalte Stecker in dieser nassen Wärme fühlte sich einfach wundervoll an… Alles in diesem Moment war einfach nur… Wundervoll.

Go for it, Zannert!

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Harmonie

Mal wat kürzeres ;)

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Michael
 

Behutsam strich er über den nackten Rücken Sebastians, der ungestört neben ihm schlief und nur ab und an im Traum leicht aufzuckte. Sie hatten zusammen gekocht. Das heißt… der Wildfang hatte Michael beim Kochen assistiert. Es war fast schon witzig gewesen dem Schwarzhaarigen zuzugucken, wie er alle Küchentipps, die Michael ihm während der gemeinsamen Zubereitung erteilte, mit großem Interesse regelrecht aufsog und im Kopf abspeicherte.
 

Sebastians Haut war so zart. Michael ließ seine Finger spielerisch den Rücken auf und ab wandern. Der Körper des Schwarzhaarigen war so warm. Bevor er realisierte, was er tat, hatte er sich bereits über diesen wunderschönen Rücken gebeugt und verteilte leichte Küsse in vorsichtige Manier über die Schulterblätter und den Nacken. Seine Hände legten sich behutsam auf die Oberarme des Jüngeren, der anfing wohlig zu seufzen.
 

„So geweckt zu werden gefällt mir…“, nuschelte er, ohne die Augen zu öffnen.
 

Michaels Hände fingen nun an, den leicht verspannten Nacken seines Partners von seiner Last zu befreien. Gekonnt knetete er die feine Haut und löste allmählich die sich angesammelten, lästigen Knoten. Sebastian seufzte wohlig, ohne seine Augen zu öffnen. Ungewollt musste Michael lächeln. Diese Atmosphäre war so entspannt. Er fühlte sich unheimlich wohl.
 

Als er daran dachte, wie schockiert er gewesen war, als er „damals“ neben Sebastian in eben diesem Bett hier erwacht war, musste er leicht den Kopf schütteln. Er hätte sich so viel Ärger und Kopfschmerzen sparen können, hätte er sich einfach von vorne rein auf den Jüngeren eingelassen.
 

Aber zu dem Zeitpunkt war er wohl einfach noch zu unsicher gewesen. Es hätte wahrscheinlich nicht geklappt. Was der springende Punkt war, der ihn letztendlich dazu gebracht hatte alle erdachten Zweifel beiseite zu fegen und endlich mal wieder spontan zu sein, das würde er wohl nie verstehen. Und er fand, dass dies gar nicht nötig war.
 

Genau das hier, dieser Moment, war der perfekte Anfang für sein neues Leben, welches er zwar schon vorher beschlossen hatte, doch erst jetzt richtig in die Tat umsetzte. Risiko gehörte zu diesem Abschnitt. Aber Risiko hatte ihm auch irgendwie in seinem viel zu sehr geplanten und perfekten Leben gefehlt.
 

Und so perfekt war es scheinbar ja wohl auch nicht gewesen. Schließlich hätte er ja sonst gemerkt, in was für eine Misere er gesteuert war. Obwohl er es mittlerweile nicht mehr als solche ansehen konnte. Nicht, wenn er hier auf diesen nackten Rücken blickte und den wohlig aufseufzenden Sebastian, der seine Berührungen sichtlich genoss.
 

„Mhhhmmm… Nicht aufhören“, kam es von Sebastian.
 

„Keine Sorge, Süßer. Ich hör nicht auf“, antwortete Michael und küsste den Nacken des Schwarzhaarigen behutsam. Ihn „Süßer“ zu nennen fühlte sich vollkommen richtig an und Sebastian lachte dabei auch leise und zufrieden auf.
 

„Bist du auch mein ‚Süßer’, oder wie darf ich dich nennen?“, fragte der Jüngere dann.
 

„Sei kreativ und lass dir etwas einfallen…“, neckte Michael ihn.
 

„Hmmmmmm…“, kam es von dem Jungen. „Ich kann so gar nicht nachdenken…“
 

„Soll ich doch lieber aufhören?“ Michael grinste.
 

„Neiiiin, weitermachen! Los!“, rief Sebastian. Der Blonde kicherte. Ja, sein neuer Freund konnte in der Tat niedlich sein. Das Wort Freund, auch wenn es nur gedacht war, fühlte sich gut an. Noch neu, sehr neu. Aber gut. Michael konnte das Lächeln nicht aus seinem Gesicht verbannen.
 

Nur aus seinem Augenwinkel erfasste er die Anzeige der Uhr. Es war fast 20 Uhr. Tagesschau… Aber… Der Rücken hier war viel interessanter als die blutigen Nachrichten aus all der Welt. Aber vielleicht lief ja ein toller Film in einer Viertelstunde?
 

„Weißt du zufällig, ob heute was schönes im Fernsehen läuft?“, fragte er den Schwarzhaarigen deshalb. Ohne mit seinen entspannenden Bewegungen aufzuhören.
 

„Mhhhhmmm… Nö. Außerdem bist du doch der Medienprofi“, sagte dieser grinsend.
 

„Nur weil ich Journalist bin, heißt das nicht, dass ich die Fernsehzeitung auswendig lerne“, entgegnete Michael.
 

„Wer kauft sich denn heute noch eine Fernsehzeitung?“, fragte der Jüngere verwundert.
 

„Ich zum Beispiel.“
 

„Du hast zu viel Geld.“
 

„Freu dich doch, dann kann ich dich immer schön einladen…“
 

„Touché!“ Sebastian lachte auf. „Aber ich hab trotzdem keine Ahnung, was läuft. Wahrscheinlich eh nur Schrott.“
 

„Da hast du wahrscheinlich Recht…“, pflichtete Michael ihm seufzend bei.
 

„Wir können ja… ne DVD ausleihen?“, kam er vorsichtig vom Jüngeren.
 

Michael lächelte. „Gern.“
 

Es war ein schönes Gefühl das erste Mal mit seinem Freund nach draußen zu gehen. Einen kleinen Spaziergang zu machen. Es wurde langsam dunkel. Momentan färbte der Himmel sich rötlich. Als sie die kleine Strecke durch den Park gingen, griff Michael nach Sebastians Hand, dessen Augen dabei so wunderschön aufleuchteten.
 

Die Filmauswahl dauerte Ewigkeiten. Aber es war eine angenehme Zeit. Sie blieben vor vielen DVD-Covern stehen und erzählten sich die Inhalte des Filmes, sprachen über die Schauspieler, tauschten sich aus. Letztendlich entschieden sie sich für einen animierten Film. Irgendetwas mit einem Panda. Michael musste schon bei dem Gedanken, einen Kinderfilm zu gucken, lachen. Aber Sebastian bestand darauf, dass er sich diesen Pandafilm angucken sollte. Zudem war der Jüngere schockiert, dass Michael weder „Madagaskar“ noch diesen „Findet Nemo“ gesehen hatte.
 

„Du hast ein wirkliches Nachholbedürfnis. Gut, dass du mich kennengelernt hast!“, sagte der Jüngere, als sie mit dem Film nach draußen gingen.
 

„Das selbe kann ich nur von dir sagen, mein Lieber“, entgegnete Michael und grinste. Sie würden sich schon sehr bald „Der Pianist“ zu Gemüte führen und auch „Der mit dem Wolf tanzt“ müsste er Sebastian vorführen. Ja, das würde er tun. Und dieses Planen fühlte sich auch wundervoll an.
 

Sie machten einen kleinen Umweg, als sie zurückkehrten, schließlich Michael wollte Sebastian die Umgebung noch ein wenig zeigen. Und dem schien es hier gut zu gefallen. Sie spazierten durch einen viel größeren Park, der eine riesige Fläche zum Picknicken bot und sogar einen kleinen Bach und Minigoldplatz besaß. Ein paar Supermärkte lagen in der Nähe von Michaels Wohnung. Wie auch eine Eisdiele. Vor dieser blieb der Jüngere prompt stehen und kramte in seiner Hosentasche.
 

„Na los, eine Kugel für jeden, dafür hab ich grad hier noch ein paar Münzen“, sagte er grinsend.
 

„Na gut“, willigte Michael freudig ein.
 

„Hmmm…“, kam es vom Schwarzhaarigen. „Ich bin mir sicher dass du eher ein Vanille- oder Malagatyp bist“, sagte er dann.
 

„Ich bin begeistert“, feixte der Blonde. „Malaga war sogar ziemlich richtig. Und, wie bist du drauf gekommen?“
 

Sebastian Grinsen weitete sich noch mehr. „Nuja, ist halt so ne klassische, konservative Art… Nech.“
 

Als sie in der Schlange standen trat Michael ein Stückchen näher an Sebastian heran und flüsterte ihm zu: „Wenn ich wirklich so konservativ wäre, wäre ich dann mit dir unterwegs?“
 

Der Schwarzhaarige lächelte und flüsterte zurück: „Wahrscheinlich hätten wir dann auch nicht die ganzen schweinischen Sachen im Bett gemacht, also - schon wieder Touché!“ Er bestellte die beiden Kugeln Eis und Michael war ganz rot im Gesicht. Jedenfalls war er überzeugt, dass sich diese Farbe bei der letzten Bemerkung auf seine Wangen gelegt hatte.
 

Nach dem Essen hatten sie ein weiteres Mal miteinander geschlafen. Und zwar in fast genauso wilder Manier wie „damals“, als der Kopf der Älteren gänzlich schwer und vom Alkohol getrübt gewesen war… Und Michael musste zugeben, dass er ihre zweite Runde ebenso genossen hatte, wie die erste…
 

„Nicht schlafen!“, riss ihn Sebastians Stimme aus diesen Gedanken. Erneut blickte er in die dunklen, wunderschönen Augen. Sein Partner reichte ihm die Waffel mit der großen Kugel Eis.
 

„Danke, Süßer“, sagte der Ältere, als er die Köstlichkeit entgegennahm.
 

„Seit wann wohnst du hier schon?“, fragte er.
 

„Schon sehr lange eigentlich. Ich bin mit Tim hierhergezogen“, erklärte er ruhig.
 

„Ah, OK“, antwortete Sebastian knapp. „Ist ne schöne Gegend. Nicht so vollgestopft wie bei mir, aber die Miete ist bestimmt arschteuer, oder?“
 

An diese kleinen Kraftausdrücke und den „Slang“, den Sebastian manchmal benutzte, müsste Michael sich wahrscheinlich noch gewöhnen müssen. Keiner seiner Bekannten oder Freunde redete in dieser Manier. Und wenn, dann ganz sicherlich nicht in seiner Gesellschaft. Er musste leicht schmunzeln, als ihm einfiel, dass er seine Nichte ab und an mir ihren Freundinnen so reden hörte… Oder seinen Neffen.
 

„Es geht. Es gibt sicherlich noch teurere Wohnungen. Aber sicherlich auch billigere“, antwortete der Blonde.
 

Der Schwarzhaarige grinste und schleckte weiter an seinem Himbeereis.
 

„Bist du eher so der fruchtige Typ?“, fragte Michael ihn und deutete auf sein Eis. Sebastian lachte.
 

„Wenn’s ums Eis geht auf jeden Fall. Obwohl ich auch total auf Straciatella stehe und Schoko. Verdammt, ich hätte mir ne Kugel Schoko nehmen sollen!“
 

„Nicht aufregen, ich hab noch ne Menge Schokolade zu Hause“, beruhigte Michael ihn.
 

„Aber nicht diesen Zartbittermist, oder?“, hakte der Jüngere nach.
 

Michael lachte auf. „Doch, den Zartbittermist habe ich auch. Aber auch leckere, ultra-süße Vollmilchschokolade, sogar mit noch süßerer Nougatfüllung.“
 

„Yeah! Mein Tag ist gerettet!“
 

„Ach, ohne die Schokolade wärst du also nicht mehr mit zurückgekommen?“, neckte Michael den Jüngeren, als sie den Fahrstuhl betraten. Die Türen schlossen langsam zu.
 

„Das wollte ich damit gar nicht sagen…“, schnurrte Sebastian und legte seine Arme um Michaels Nacken. „Darf ich dein Eis probieren?“, fragte er dann und als Michael ihm die Kugel vor die Nase hielt, lachte er auf. „Nicht so…“, flüsterte und presste seine Lippen auf die des Blonden. Sebastians Zunge drang in seine Mundhöhle ein, Malaga und Himbeere vermischten sich. Der leichte Piepton der sich öffnenden Türen ließ sie voneinander ablassen. Der Schwarzhaarige grinste leicht, als er den Fahrstuhl verließ und Michael ihm sogleich folgte.
 

Sebastian war nicht sein erster Freund. Und dennoch fühlte es sich irgendwie so an. Aber – er wollte sich nicht beschweren, denn frisch verliebt zu sein war ein tolles Gefühl. Es ließ die gesamte Welt in einem helleren und angenehmeren Licht erstrahlen.
 

Sebastian ließ sich aufs Sofa fallen und steckte sich den verbleibenden Teil seiner Waffel in den Mund, während Michael die erste DVD in den silbernen Player schob. Sein Blick fiel auf die digitale Anzeige des Geräts. 22.25 Uhr. Und sie hatten noch einen ganzen Film vor sich.
 

„Sebastian“, setzte er an. „Sag mal… Willst du heute Nacht hier schlafen?“
 

„Super gern…“, kam es zaghaft vom Schwarzhaarigen, der ihm warm zulächelte.
 

„Na dann können wir ja auch noch ein Gläschen Wein trinken, oder?“, fragte Michael und schlenderte sogleich in die Küche. „Rot oder Weiß?“
 

„Äh, egal. Was dir lieber schmeckt. Ich kenn mich überhaupt nicht aus.“
 

„Wie gut, dass du mich kennengelernt hast, was?“
 

„Wahrscheinlich“, sagte der Jüngere grinsend.
 

Er entschied sich für einen Weißwein. Eine Flasche hatte er schließlich gut gekühlt im Kühlschrank stehen. Während Sebastian sich die DVD Einstellungen vornahm, füllte er die wunderbar geformten Weingläser. Sie klirrten leicht, als sie auf den Abend anstießen.
 

„Schmeckt er dir?“, forschte Michael nach.
 

„Ist ganz OK“, entgegnete Sebastian. „Viel mehr interessiert mich, wo du die geile Schokolade hingepackt hast.“
 

„Kommt sofort, mein Herr“, feixte Michael und sprang schnell auf, um die Schublade mit all den Sünden zu plündern.
 

„Das gefällt mir“, sagte der Schwarzhaarige nach einer Weile. „Alkohol, Schokolade, ein toller Film und ein geiler Mann an meiner Seite.“ Michael musste lachen. Und wer hätte gedacht, dass der Film tatsächlich toll war? Dass der blonde an so vielen Stellen lauthals loslachen musste und fast schon traurig war, als der Film zu Ende ging.
 

„Ich hab dir doch gesagt, den musst du sehen“, kommentierte Sebastian die gesamte Situation, als Michael den Fernseher bereits ausschaltete. Es war kurz vor Mitternacht. Urplötzlich ertönte eine leise, hohe Melodie. Die beiden Männer sahen sich an und dann sprang Sebastian plötzlich auf.
 

Sebastian/Jade
 

„Ah, sorry, mein Handy!“ Er hatte seinen Klingelton im ersten Moment gar nicht erkannt. Und das dumme Ding lag noch im Schlafzimmer. Wieso hatte er es eigentlich nicht ausgeschaltet?! Genervt suchte er danach und fand es schließlich unterm Bett. Das war so typisch für ihn!
 

„Ja?!“, ging er genervt ran. Es war Torsten.
 

„Wo zur Hölle bist du?!“, raunte sein Mitbewohner ihn an
 

„Bei Michael, wo sonst“, antwortete er trotzig.
 

„Ach Mensch, das hatte ich ja total verballert!“, kam die schon freundlicher klingende Antwort. „Äh, kommst du heute nach Hause oder… eher nicht.“
 

„Eher nicht“, sagte er grinsend.
 

„Verdammt!“, kam es vom anderen Ende der Leitung. „Und wir warten hier die ganze Zeit mit dem Kuchen.“
 

„Wir? Kuchen?“
 

Er hörte ein Rascheln. Plötzlich ertönte Dirks Stimme. „Überraschungsparty, du Depp!“, rief er ins Telefon und lachte. Und dann hörte er jemanden im Hintergrund bis drei zählen. Und dann erklangen mehrere Stimmen laut auf einmal, die „HAPPY BIRTHDAY!“ ins Telefon brüllten.
 

Fuck!

Wie hatte er eigentlich seinen eigenen Geburtstag vergessen können?!

Schaum

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Offiziell

Sebastian/Jade
 

Von Michaels Lippen hatte er sich kaum lösen können. Er hätte schwören können, dass sie sich ungefähr fünf Minuten lang geküsst hatten. Wobei ihm jede Stunde, die er mit Michael verbrachte, eher wie eine Minute erschien, wie eine Sekunde. Jetzt, als er die langsam dunkler werdende Straße zu seinem Auto entlang schlenderte, erschienen ihm zudem auch noch all die Szenen wie eine erträumte Welt. Wahrscheinlich hatte er sich solche Szenarien einfach zu oft in seinem Kopf ausgemalt, sodass es nun schwer war Wirklichkeit von Traumvorstellung zu unterscheiden.
 

War es der bis dato schönste Geburtstag? Vermutlich. Jades Gedanken wanderten zurück zur schaumig gefüllten Badewanne und den darauf folgenden Aktivitäten… Gar dümmlich grinste er vor sich hin, während er den Golf zum Laufen brachte. Er ächzte und knatterte – und fuhr letztendlich doch los. Ja, Jade hatte Glück.
 

Als er die Wohnungstür aufschloss, hörte er Torstens laute Stimme sofort. Und kaum betrat er die Wohnung, stürmte Jana wutentbrannt und ohne den Schwarzhaarigen eines Blickes zu würdigen an ihm vorbei. Jade stolperte sogar fast und sprang umgehend zur Seite, da er annahm, sein Mitbewohner würde seiner Traumfrau direkt hinterherlaufen. Doch da hatte er sich wohl getäuscht.
 

Vorsichtig ließ er die Tür einrasten und lugte in Torstens Zimmer. Der Rothaarige saß mit einer griesgrämigen Miene und einem halb leeren Bier in der Hand auf seinem Sofa und starrte auf den viel zu leise gedrehten Fernseher.
 

„Äh“, setzte Jade kreativer weise an. „alles OK bei dir, Mann?“
 

Die Worte des Schwarzhaarigen ließen Torsten hochschrecken. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, als er ihn erblickt und auf ihn zutrat.
 

„Hey, alles Gute zum Geburtstag!“, sagte er laut und umarmte seinen Mitbewohner.
 

„Danke, danke“, entgegnete Jade leicht verwirrt.
 

„Und, hattest du ne schöne Zeit mit deinem Mediengott?“, feixte Torsten.
 

„Ja, und wie, äh, aber… Jana? Was war das denn? Alles klar bei euch?”
 

Der Rothaarige ließ die Schultern sacken und begab sich zurück zum Sofa, auf welches er sich matt fallen ließ.
 

„Natürlich nicht, du Sherlock Holmes“, sagte er in einem genervten Ton. „Sie ist sauer auf mich.“
 

„Ach, was du nicht sagst, du Dr. Watson“, bemerkte Jade leicht sarkastisch. Die Bemerkung zauberte ein vages Grinsen auf Torstens Gesicht. Doch es verschwand ebenso schnell wieder.
 

„Sie weiß es“, sagte er dann kraftlos.
 

„Was weiß sie?“, hakte Jade immer noch genauso verwirrt nach.
 

„Alter, dass ich mit dir gepennt hab“, herrschte Torsten ihn an. Der Schwarzhaarige blinzelte und blickte seinen Mitbewohner fragend an.
 

„Ich dachte, sie hätte kein Problem damit?!“, brachte er schließlich nach einer Weile heraus. „Und ich dachte, dass du ihr das nicht erzählen wolltest?!“
 

„Ja, das wollte ich ja auch nicht!“, setzte der Tontechniker an fuhr sich in leicht nervöser Manier durch seine rötlichen Haare. „Wir haben gestern ein wenig ohne dich gefeiert, Dirk und Matze waren auch hier, soll dir übrigens gratulieren, die rufen dich morgen noch mal an.“
 

Jade tat diese Bemerkung mit einem leichten Kopfnicken ab.
 

„Und letztendlich haben die hier alle geschlafen. Die sind auch erst vor ner Stunde abgehauen, die wollten eigentlich noch auf dich warten, aber… Naja, bist ja grad erst nach Hause gekommen“, fuhr er fort. „Jedenfalls haben wir hier vorhin noch ein wenig weiter getrunken und, was weiß ich, ich wollte ein wenig rumprahlen, dass ich dich flachgelegt hab, als Jana kurz auf Klo war. Ich weiß, totale Scheiße, und es tut mir Leid. Jedenfalls hab ich das wohl zu laut und zu spät gesagt und sie hat’s halt mitbekommen.“
 

„Ja, aber ich dacht sie hätte kein Problem damit! Das hast du mir gesagt, Torsten!“
 

„Hat sie ja auch eigentlich nicht, aber… Irgendwie auch schon. Weil du halt mein Mitbewohner bist, mein bester Kumpel quasi und sie meinte, sie dachte, ich würde eher mit Männern schlafen, die ich nie wieder sehen würde. Weißt du? Und dann war sie halt echt sauer, dass ich schon so schnell mit jemandem anders geschlafen habe…“, erklärte Torsten mit leicht zitternder Stimme.
 

Jade rollte mit den Augen. Verdammte Scheiße, when you fuck your roomate, everything goes wrong – dieser Engländer von damals hatte wirklich Recht. Eigentlich hätte er sich doch denken können, dass diese ganze Geschichte irgendwie aus dem Ruder läuft, oder nicht?
 

„Und jetzt?“, fragte er Torsten, der scheinbar apathisch den Fernseher anblickte.
 

„Keine Ahnung, sie hat gesagt, dass sie erst mal darüber nachdenken muss.“
 

„Hm.“
 

„Alles Scheiße.“
 

„Selber Schuld, ganz ehrlich!“, zischte Jade.
 

„Vielen Dank für dein Mitgefühl, echt. Du bist schließlich der Grund für diese Scheiße!“, zischte Torsten zurück.
 

„Wie bitte?!“, Jade konnte seinen eigenen Ohren nicht glauben. Was hatte er da bitte gehört? „Nicht ich bin an dieser Scheißsache Schuld, sondern dein unkontrollierbarer Libido!“
 

„Pah, das sagt echt der Richtige, Jade!“, konterte sein Mitbewohner mit einem hämischen Auflachen. „Echt, das sagt echt der Richtige…“
 

„Wenn ich einen Partner hab, dann vögel ich wenigstens nicht fremd!“, zischte der Schwarzhaarige. Torsten erhob sich und blickte ihm in die Augen.
 

„Ja, aber mit Leuten, die in Beziehungen sind, vögelst du ohne schlechtes Gewissen“, sagte er kühl.
 

„ALTER, hat dir jemand ins Gehirn geschissen, Torsten?!“, schrie Jade schon fast. „Falls es dich interessiert, ich hatte und habe immer noch ein schlechtes Gewissen wegen der Geschichte! OK?! Ich kann Jana kaum in die Augen sehen, OK?! Es war ein Fehler. Aber wenn ich dich daran erinnern darf, warst DU derjenige, der ficken wollte. Schon vergessen?!“
 

Es war sein Geburtstag. Er war gerade erst mit Michael zusammen gekommen und nun stand er hier und stritt sich mit Torsten in so einer Manier, wie sie sich schon lange nicht mehr gezofft hatten.
 

„Das hilft mir jetzt aber auch nicht weiter…“, jammerte Torsten und ließ sich aufs Sofa plumpsen, vergrub sein Gesicht in den eigenen Händen. „Lass mich erstmal in Ruhe, OK?“, wandte er sich dann an Jade.
 

„Ja, das wird wohl besser sein“, antwortete dieser und verließ umgehend das Zimmer. Er musste sich zurückhalten die Tür nicht laut zuzuschlagen, wobei das der Situation sicherlich nichts Gutes getan hätte. Und so war er froh, dass er es nicht getan hatte, als er sein T-Shirt auszog und Brummer eine gute Portion Heu in den Käfig legte. Behutsam strich er durch das Fell des Kaninchens.
 

„Morgen lass ich dich raus, OK? Sobald ich von der Arbeit komme. Jetzt bin ich zu müde und muss ganz dringend ins Bett. Nicht böse sein…“, murmelte er. Das Riesentier mümmelte mit der ebenso großen Nase und aß die grünen, trockenen Stängel im Rekordtempo. Wie eine kleine Maschine.
 

Jade seufzte.
 

Als er allein in seinem Bett lag und die Gedanken an Jana und die unangenehme Situation mit Torsten dachte, wurde ihm ganz mulmig zumute. Und noch etwas machte sein Herz schwer. Er blickte auf das in der Dunkelheit grell erscheinende Display seines Handys. Keine SMS. Kein Anruf.
 

Es war sein 25. Geburtstag und weder seine Eltern, noch sein Bruder hatten sich bei ihm gemeldet.
 

Kräftig presste er die Augen zusammen und dachte an Michael…
 

Michael
 

Der Morgen war wunderschön. Das Frühstück schmeckte, Michael fühlte sich ausgeschlafen, die Vögel zwitscherten und die morgendliche Konferenz verlief wundervoll. Außerdem hatte ihn eine SMS geweckt. Von Sebastian. „Guten Morgen, Hase. Ich hoffe du hast die ganze Nacht von mir geträumt, ich hab es jedenfalls von dir! Küss dich!“, hatte er geschrieben. Keine geradewegs poetische Nachricht, doch für Michael hätte an diesem Morgen nichts schöner klingen können, als eben diese Worte.
 

Und in der Tat hatte er von seinem Freund geträumt. Seinem Freund – wie erstaunlich erregend sich dieser Gedanke anfühlte. Michael wurde ganz rot und musste sich auf die Zunge beißen, um nicht die ganze Zeit mit einem großen Lächeln im Gesicht durch die Gegend zu spazieren. Ob er Sebastian heute noch sehen würde? Plötzlich verspürte er große Lust auf Kaffee.
 

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass dieses Vorhaben durchaus vertretbar war. Und ohne weiter darüber nachzudenken verließ er mit einem leichten Grinsen sein Büro, denn die Kraft seine Freude zurückzuhalten besaß er nicht mehr.
 

„Hey, Michael, gehst du zu Starbucks?“, brachte ihn eine bekannte Stimme auf der Treppe zum Stehen. Der Angesprochene drehte sich herum und blickte in Florians Augen.
 

„Ja“, antwortete er knapp.
 

„Wunderbar, ich komme mit. Ich glaube Jörg und Hannes sind auch da“, sagte der CvD. Und in diesem Moment, als sie sich gemeinsam in Richtung des Zentrums bewegten, schlug Michaels Freude in Panik und Verwirrtheit um.
 

Wie würde Sebastian reagieren, wenn er den Laden betrat? Würde er sich wild auf ihn stürzen? Das war dem Jungen durchaus zuzutrauen! Und sie hatten gar nicht abgemacht, ob sie ihre Beziehung im beruflichen Umfeld schon offiziell machen wollten! Im Grunde genommen hatten sie gar nichts geklärt. Sie hatten sich die ganze Zeit über geküsst und ein wenig näher kennengelernt. Auf psychischer UND physischer Weise…
 

Das Herz des Blonden klopfte immer schneller, je näher sie dem Haupteingang kamen. Er war durcheinander. Ein Wechselbad der Gefühle, ja, so ein Bad nahm er gerade. Auf der einen Seite, wollte er, dass seine Kollegen wussten, dass er wieder in festen Händen war. Auf seine subtile Art und Weise. Nur, dass eine subtile Art und Weise nicht gerade das war, was auf der Möglichkeitsliste Sebastians stand…
 

Und plötzlich störte ihn auch diese unmittelbare Nähe ihrer beider Arbeitsplätze. Und der Gedanke, dass all seine Mitarbeiter seinen Freund so gut wie jeden Tag sehen würden. Und wer weiß, was der Junge alles ausplappern könnte. Oh nein, Michael hatte keine Lust auf seltsame Blicke, die ihm zugeworfen werden konnten…
 

Wobei ihm schon allein die Verkündung, er sei mit diesem wilden Mann zusammen, für komische Blicke und allgemeine Verwunderung sorgen würde. Damit würde er sich wohl abfinden müssen, oder? Zeit seinem Freund eine SMS zu schreiben blieb ihm auch keine und wahrscheinlich hatte dieser sowieso keine Zeit, um auf sein Telefon zu blicken.
 

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, riss ihn Florians Stimme aus seinen wirren Gedanken.
 

„Was? Wie bitte?“
 

„Du hörst mir heute gar nicht zu“, stellte sein Kollege lachend fest. Michael lächelte nervös.
 

„Es tut mir Leid, ich bin in Gedanken“, erklärte er.
 

„Das sieht man“, kommentierte Florian. „Hat es… was mit Tim zu tun?“
 

„Was? Um Gottes Willen, nein!“, sagte Michael und lachte ein wenig. Nein, mit diesem Mann hatte es nichts zu tun. Tim war ihm im Moment so ziemlich egal.
 

„Ah, ich sehe schon…“, bemerkte Florian und grinste vor sich hin. Michael versuchte ihn zu ignorieren und einen Ausweg für seine doch etwas verzwickte Situation zu finden. Nur reichten 20 Sekunden nicht mehr dafür. Sie gingen bereits durch die Tür der Filiale. Und Sebastian stand am Tresen. Und Sebastian erblickte ihn sofort. Und als er ihn erblickte, da glänzten seine Augen auf, und dieses bezaubernde Lächeln schlich sich in sein Gesicht und dieses Lächeln machte Michaels Knie ganz weich und alles schien sich irgendwie in Zeitlupe abzuspielen.
 

Es war nicht viel los. Es war gar nichts los. Jörg und Hannes waren auch nicht zu sehen. Er musste den Mund nicht aufmachen, Sebastian sagte: „Ich weiß, was ich für dich machen muss, Schatz.“ Dann richtete er seinen Blick umgehend auf Florian und fragte: „Und was kann ich Ihnen Gutes tun?“
 

Michael hatte keine Ahnung, was sein Kollege bestellte, er hielt die ganze Zeit über unbewusst die Luft an.
 

„Sie können sich ruhig schon setzen, hier ist grad merkwürdigerweise nichts los, ich bring die Getränke gleich an den Tisch“, sagte Sebastian und machte sich daran mit seinem Arbeitskollegen die Getränke zuzubereiten.
 

Wie waren sie eigentlich an den Tisch gekommen? Michael war immer noch vollends verwirrt, als Florian grinsend bemerkte: „Jetzt nennt er dich schon Schatz…“ Und das verwirrte ihn noch mehr, denn sein CvD hatte bis dato noch keine Kommentare dieser Art getätigt.
 

„Äh. Ja. Also. Das hat auch einen Grund”, presste er heraus und der leicht amüsierte und zum Teil fragende Blick seines Gegenübers brachte den Blonden zunehmend durcheinander. „Ja, weißt du Florian…“, er räusperte sich. Länger als nötig. „Ich bin-“
 

„Eine grande Vanilla Latte“, erklang Sebastians freudige Stimme und ließ Michael aufblicken. Im selbigen Moment beugte sich der Schwarzhaarige ein zweites Mal herunter zum Tisch, um Michaels favorisiertes Getränk abzustellen und ließ seine Lippen gekonnt und schnell auf denen des Blonden nieder. „Lass es dir schmecken, Hase“, fügte er noch hinzu.
 

Er konnte Florians Blick auf sich ruhen spüren. Er verkrampfte sich und blickte starr auf den Tisch vor sich. Und Sebastian schien seine Reaktion direkt wahrzunehmen. Hatte er noch zu einem Satz in Florians Richtung angesetzt, so drehte er sich nun hastig um und marschierte ebenso zügig zum Tresen.
 

„Schatz und Hase“, sinnierte der CvD als er seinen Kaffee probierte. „Irgendwie niedlich, hätte ich Jade gar nicht zugetraut. Ich dachte eher, er ist so ein Machokerl. Aber der kann wohl auch anders. Ich freu mich für dich.“
 

Michael nickte. Sein Hals fühlte sich trocken an. Und seine Lippen so warm… Und Florians Reaktion war alles andere als schlimm. Michaels Reaktion war diejenige, die man als schlimm bezeichnen konnte.
 

„Ist noch alles ganz frisch“, erklärte er leicht lächelnd.
 

„Möchtest du es noch inoffiziell belassen?“, hakte Florian freundlich nach. Und Michael wusste, dass sein Kollege und Freund schweigen würde, wenn er ihn darum bat.
 

„Hm, ich sage dir heute noch Bescheid“, antwortete der Blonde also und drehte sich herum, um zum Tresen zu blicken. Doch Sebastian war nirgendwo zu sehen. Sie tranken ihren Kaffee schnell aus. Florian fragte nicht danach, wie es zu dieser Partnerschaft gekommen war. Der CvD besaß Taktgefühl. Das machte ihn sympathisch. Zumindest für Michael.
 

„Ich geh schon mal vor“, sagte Florian und hob die Hand zum schnellen Abschied. Michael hingegen erhob sich langsam von dem großen Sessel, auf dem er Platz genommen hatte. Bedächtig drehte er sich um und schlenderte auf den Tresen zu. Drei neue Kunden warteten bereits. Ein türkischer junger Mann nahm die Bestellungen entgegen. Hatte Sebastian nicht von ihm erzählt? Ali? Und dann war da noch diese ältere Frau, über die der der Schwarzhaarige auch etwas gesagt hatte. Genau diese sah ihm nun direkt in die Augen und lächelte.
 

„Jade ist hinten“, sagte sie ihm und nickte mit ihren Kopf in Richtung der Tür, die mit der Aufschrift „nur für Angestellte“ gekennzeichnet war. „Na los, gehen Sie schon“, sagte sie grinsend und servierte den Caramel Macchiato, um sich umgehend an die Zubereitung des nächsten Getränks zu machen.
 

Der Journalist ging den kleinen Gang unsicher entlang und gelangte schließlich zu einem Zimmer auf der linken Seite, aus dem leichte Radiogeräusche drangen. Sebastian saß auf einem Tisch, auf dem einige Taschen und Jacken lagen und trank etwas aus einem Pappbecher.
 

„Hey“, begrüßte Michael ihn. Der Junge sah ihn im ersten Moment erschrocken an, lächelte dann aber sanft.
 

„Hey…“, grüßte er sanft zurück. „Sorry wegen…“, setzte er an, doch Michael unterbrach ihn.
 

„Nein, ich sage Entschuldigung. Ich hätte dir einfach sagen sollen, dass ich das noch nicht will. Aber eigentlich will ich es. Jetzt”, erklärte er leicht durch seine eigenen Worte verwirrt und blieb mitten im Raum stehen.
 

„Du willst mich jetzt?“, feixte Sebastian und stellte den Pappbecher beiseite.
 

Michael seufzte grinsend. „Ich war mir nicht so sicher, ob ich das mit uns jetzt schon offiziell machen will“, erklärte er dann und blickte seinem Freund in die Augen.
 

„Aber jetzt willst du, oder wie?“, fragte Sebastian umgehend.
 

„Ja, ich denke schon.“
 

„Michi, ich glaub ich würde das nicht aushalten, wenn ich dich nicht anfassen kann und so tun muss, als seien wir immer noch auf Distanz, als würden wir uns nicht kennen. Klar, so gut kennen wir uns tatsächlich noch nicht, aber…“, murmelte der Schwarzhaarige.
 

Als er mit Tim zusammengekommen war, hatte er keine Scheu gemacht es zuzugeben. Natürlich. Aufgedrängt hatte er sich nie. Er hatte schließlich seine Prinzipien, die er in den letzten Tagen immer wieder öfters durchgekaut hatte. Vielleicht müsste er von einigen von ihnen abweichen. Schließlich war er noch nie mit jemandem, wie Sebastian zusammen gewesen. Aber bis jetzt war auch noch nichts passiert, was ihm hätte weh getan. Oder was man als ernsthaft negativ hätte bezeichnen können. Und dann auch noch diese positive Reaktion Florians…
 

„Wir sind zusammen, Sebastian. Und das soll auch kein Geheimnis bleiben“, setzte der Blonde an und trat näher an seinen Freund heran, sodass sich ihre Knie berührten. „Ich möchte aber auch nicht, dass du das an die ganz große Glocke hängst und es herumposaunst.“
 

„Ali und Katja hab ich’s aber schon erzählt.“
 

„Das ist auch in Ordnung, das sind schließlich deine Freunde. Ich habe bloß keine Lust, dass meine Beziehung zu dir Top-Thema in der Mittagspause der Redaktion wird. Ich will einfach, dass du dich ganz normal gegenüber meinen Kollegen verhältst und wenn ich mit ihnen hier bin, nicht zu sehr aufdrehst“, erklärte er mit seiner sanften Stimme, doch Sebastian blickte etwas missmutig daher.
 

„Denkst du denn, ich bin ein Kind, oder was?“, fragte er dann nach einer kurzen Weile und starrte auf den Boden.
 

„Ich sehe dich nicht als ein Kind“, sagte Michael, auch wenn er mit Gedanken hinzufüge: Obwohl du 11 Jahre jünger bist als ich. „Aber wenn ich mich da an die Zeiten erinnere, an denen du mir ununterbrochen zugezwinkert hast und mich mit deinem Blick aufgefressen hast, wie eine ausgehungerte Hyäne…“
 

Nun musste der Schwarzhaarige lachen und sah sein Gegenüber mit leuchtenden Augen an. „Na gut, na gut…“, sagte er. „hast ja Recht. Mach ich schon nicht wieder. Aber darf ich dir dann wenigstens einen Kuss auf die Wange geben? Und wenn die mich fragen, ob wir zusammen sind, darf ich dann mit „ja“ antworten? Ich hab echt keinen Bock drauf so zu tun, als wären wir nur Freunde, echt nicht…“
 

Michael seufzte und setzte sich nun auf die Tischplatte, direkt neben Sebastian. „Auf die Wange, OK.“
 

„Für den Anfang“, ergänzte der Schwarzhaarige ihn grinsend.
 

„Für den Anfang?“, wiederholte der Ältere mit hochgezogener Augenbraue.
 

„Ja. Und wenn du dich dann ein bisschen an mich gewöhnt hast und dich wohler mit mir in der Öffentlichkeit fühlst, dann küsse ich dich irgendwann auf den Mund und halte Händchen mit dir, egal wo wir sind. Aber bis dahin halte ich mich zurück und bin brav“, sagte er lächelnd. Und in diesem Moment fragte Michael sich, ob vielleicht nicht er selbst derjenige war, der 11 Jahre jünger war. Hier saß der Wildfang und brachte ihm solch ein Verständnis auf, welches man nicht von ihm, und sowieso nicht von jedem, hätte erwarten können.
 

In dem kleinen Hinterzimmer waren sie völlig allein. Michael legte einen Arm um die Schultern seines Freundes und zog ihn näher an sich heran. Umgehend spürte er Sebastians Hände an seinen Hüften und die Lippen des Jüngeren, wie sie sich sanft auf seine eigenen legten. Es war ein wunderschöner Moment, in dem Sebastians Zunge in seine Mundhöhle eindrang und seine Zunge in ein leicht unanständiges Spiel verwickelte. Kaum hatte er sich versehen, küssten sie sich wild und Sebastian drückte seinen Körper immer ungenierter an seinen.
 

Ein Rascheln im Flur ließ Michael fast schon aufspringen und den Kuss somit beenden. Er räusperte sich und hoffte, dass er nicht allzu rot im Gesicht war, während er seine Krawatte zurecht zog und den Anzug mit beiden Händen glattstrich. Sebastian grinste ihn die ganze Zeit über an. Dann stand er auf und umfasste Michaels Hüften ein weiteres Mal. Ohne Vorwarnung fasste er dann in den mittlerweile ziemlich hart gewordenen Schritt des Älteren.
 

„Sebastian!“, warnte Michael ihn und zog die Hand bestimmt weg. Der Jüngere lachte auf und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Wange.
 

„Sorry“, sagte er, doch an seinem Ton war deutlich festzumachen, dass keine Bedeutung hinter diesem Wort lag. „Irgendwann krieg ich dich schon dazu schweinische Sachen an solchen Orten zu machen.“
 

„Ich denke so weit wird es NICHT kommen“, sagte Michael mit ernsthafter Stimme und drückte den Schwarzhaarigen von sich weg, dessen Miene sich umgehend änderte.
 

„Hey, ich wollte dich nicht sauer machen“, sagte er etwas kleinlaut.
 

„Ich bin nicht sauer“, versichte Michael. Er war eher etwas nervös. Schon wieder so eine neue Situation. Und er wusste nicht, was er denken sollte. Wären sie jetzt bei ihm zu Hause, allein, dann hätte er natürlich gern mit Sebastian „schweinische Sachen“ machen wollen. Aber in dem Hinterzimmer einer Kaffeekette? Das war… Alles andere als irgendwie erregend. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sich noch durch viele solcher Situationen manövrieren müsste…
 

„Es tut mir wirklich Leid. Ich dreh immer durch, wenn ich dich sehe, weil ich es immer noch nicht fassen kann, dass ich mit dir zusammen bin und dass du mich toll findest und überhaupt…“, sprach Sebastian weiter und dieses Mal unterstrich sein Ton die Wahrhaftigkeit dieser Worte. Michael lächelte.
 

„Schon, OK“, sagte er.
 

„JADE! Komm gleich mal, wir brauchen dich!“, hallte Katjas Stimme durch den Flur.
 

„Komme sofort!“, brüllte der Schwarzhaarige umgehend zurück. „Sorry, muss arbeiten.“
 

„Macht Sinn“, kommentierte Michael mit einem leichten Grinsen auf den Lippen.
 

„Sage mal…“, setzte Sebastian an und blickte dem Älteren direkt in die Augen. „Kann ich heute bei dir schlafen?“
 

„Ich bin ab 19 Uhr zu Hause, heute ist nicht viel los. Was wünscht du dir zu essen?“, fragte Michael erfreut. Denn ja, er wollte Sebastian bei sich haben. Egal was für verschiedene Gedanken wegen des Jungens in seinem Kopf kreisen mochten. Und jetzt waren da wieder diese ihn anvisierenden, strahlenden Augen…
 

„Egal, ich glaube mir schmeckt eh alles, was du kochst!“
 

„Na, sei nicht voreilig!“, bemerkte Michael lachend.
 

„Ich futter mich einfach durch dein gesamtes Sortiment und dann sehen wir weiter…“
 

„Einverstanden.“
 

Das erste, was er nach dem Betreten der Redaktion tat, war Florians Büro aufzusuchen.
 

„Offiziell“, sagte er und Florian nickte ihm lächelnd zu.
 

Sebastian/Jade
 

„Nein, ich will nicht wissen, was ihr da hinten gemacht habt“, sagte Ali als Jade sich zu ihm gesellte und beim Aufräumen half. Katja grinste einfach nur vor sich hin.
 

„Ich würde es dir auch nicht sagen, du Trottel“, feixte der Schwarzhaarige und schnappte sich ein trockenes Handtuch.
 

„Darf ich das bitte schriftlich haben?“, scherzte Ali. Jade rollte mit den Augen.
 

Er dachte über das hinter ihnen liegende Gespräch nach. Und er musste abermals an Katjas Worte denken. „Michael ist ein ganz anderes Kaliber.“ Oh, ja, das war er. Es würde ganz schön schwer werden die Finger bei sich zu behalten… Wieso musste der Ältere auch manchmal so verklemmt sein?! Er stand seit Jahren offen zu seiner Sexualität, seine gesamten Kollegen wussten es und trotzdem machte er so einen Aufstand, wenn es nur ums dämliche Händchenhalten in der Öffentlichkeit ging. Für Jade machte das keinen Sinn. Innerlich schüttelte er den Kopf. Er würde Michael noch zum Auftauen bringen… Das stand fest!
 

Fest stand auch, dass er Torsten zunächst aus dem Weg gehen würde. Als er nach Hause kam, war er froh, dass sein Mitbewohner nicht anwesend war. Innerlich hoffte er, dass er den Weg zu Jana aufgesucht hatte, eine Aussprache tätigte, sich entschuldigte und sie alle drei diese miserable Geschichte hinter sich lassen könnten. Es würde viele Dinge einfacher gestalten, ganz sicher.
 

Und jetzt blieben ihm noch genau zwei Stunden. Zwei Stunden ohne Michael. Und dann Michael die ganze Nacht… Er bekam jetzt schon eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte…
 

Nachdem er Brummer auf den Boden setzte und dem Kaninchen den versprochenen Auslauf gewährte, setzte er sich letztendlich gelangweilt an den PC und klickte sich mehr sinnfrei als alles andere durch die Weiten des World Wide Webs. Bis er die Haustür zuschlagen hörte. Scheiße. Und er hatte noch eine ganze Stunde zu vertrödeln. Der Plan „geh Torsten aus dem Weg“, war somit wohl vielleicht gescheitert.
 

Er würde einfach hier im Zimmer bleiben und sich irgendwann hinaus schleichen. Torsten machte ihm jedenfalls keinen Strich durch diese Rechnung, denn der Rothaarige verbarrikadierte sich regelrecht in seinem eigenen, kleinen Reich. Und das war gut so.
 

Und gut waren auch die folgenden Tage, die kommenden Nächte. Jeden Abend dieser Woche verbrachte er bei Michael, der ihn jedes Mal bekochte. Sie aßen gut, tranken leckeren Wein, schauten sich Filme an, erzählten sich Geschichten aus ihrem Leben, gingen spazieren, kuschelten nachts, schliefen miteinander. Sie kamen sich näher. Und auch ihre Auftritte in der Öffentlichkeit verliefen besser als erwartet, auch wenn es anfangs schwer war, sich auf kleine Wangenküsschen zu beschränken, wenn der Blonde den Laden betrat. Ein wenig musste Jade ja schon schmunzeln, als er die nur leicht amüsierten Blicke Michaels Kollegen erhaschte – die den blonden Mann ein wenig durcheinander brachten. Aber er war tapfer, denn er winkte Jade jedes Mal mutig zu, wenn er den Laden betrat oder verließ. Er stand zu ihm. Mehr oder weniger.
 

Und Torsten sah er auch nur zwei Mal in der Wohnung.
 

Wovor Jade aber wirklich graute, war der immer näher kommende Samstag. Das Familientreffen.
 

„Jetzt sei nicht so nervös“, sagte Michael am Freitagabend lachend. Sie waren wieder ins indische Restaurant gegangen. Dieses Mal passte auch Sebastians Outfit. Eine feiner Hose, ein feineres, weißes Hemd, die Haare sorgfältig zu einem Zopf gebunden. Wow, er sah heute ein bisschen aus wie ein kleiner Spießer. Aber: Michael gefiel das Outfit.
 

„Du siehst wirklich wunderschön aus“, sagte er ihm ein weiteres Mal und lächelte ihn an. Ja, für Michael würde er sogar freiwillig einen gesamten Tag im Anzug herumlaufen. Ohne zu zögern.
 

Aber dass er sich so schnell bereit erklärt hatte seine Familie kennen zu lernen… Ob das so eine gute Idee war? Vielleicht hätte er ja genau hier zögern SOLLEN…

(K)ein Grund zum Feiern

Sebastian/Jade
 

Zum fünften Mal bereits begutachtete sich der junge schwarzhaarige Mann im Schlafzimmerspiegel und musste abermals seufzen. Der Zopf saß perfekt, keine einzige Strähne würde aus diesem Gefängnis entkommen. Erneut betrachtete er die silber glitzernden Kügelchen in seiner rechten Augenbraue. Nein, diese würde er nicht abnehmen. Es war schon genug, dass er sich von Michael hatte ein neues, graues Hemd kaufen lassen. Zwar war es kurzärmlig, was die ganze Geschichte akzeptabler gestaltete, aber in Kombination mit der schwarzen Faltenhose sah der gesamte Aufzug irgendwie schon zu spießig für Jades Geschmack aus. Aber Kompromiss, war Kompromiss und hatte er sich nicht selbst gestanden, dass er für Michael freiwillig und ohne zu zögern einen gesamten Tag im Anzug herumlaufen würde? Nun, das hier war noch nicht mal ein Anzug, also sollte er sich auch nicht beschweren, oder?
 

Michael trat von hinten an ihn heran und legte seine Arme behutsam um die Taille des Jüngeren. Sein Kinn ruhte auf der rechten Schulter seines Freundes. Ihre Augen trafen sich im Spiegel. Der Blonde lächelte. „Du siehst super aus…“, hauchte er dem Schwarzhaarigen ins Ohr. Ungewollt kroch auch ein sanftes Lächeln auf die Lippen des Jüngeren. Dann seufzte er erneut.
 

„Meine Eltern sind keine Spießer“, hatte Michael ihm gesagt. „Sie werden vielleicht etwas verdutzt reagieren. Aber nur, weil sie einen anderen Typ Mann an meiner Seite gewohnt sind“, hatte er erklärt. Ja, einen anständigen, wohl gepflegten Mann über 30.
 

„Du denkst schon wieder darüber nach, oder?“, fragte Michael ihm und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
 

„Mir gefällt das einfach nicht, dass die mich direkt mit deinen dämlichen Ex-Freunden vergleichen werden“, meckerte Jade. „Und dann heißt es doch gleich: Michi, der hat kein Abitur, der ist ein Arbeiter und bla bla bla.“
 

Der Blonde Mann lachte und legte seine Hände auf Jades Schultern, fing an sie etwas zu massieren. „Wenn du so negativ eingestellt bist, dann kann es auch nur schlecht werden, du bist doch sonst so selbstbewusst. Und falls ich dich daran erinnern muss: Tim hatte auch kein Abitur und war auch Arbeiter, wie du es so schön nennst…“
 

Jade drehte sich um und legte seine Arme um Michaels Nacken.
 

„Ich hasse Tim“, sagte er und presste seinen Kopf gegen Michaels Halsbeuge. Der Ältere lachte erneut auf und ließ seine Hände sanft über den Rücken seines Freundes wandern.
 

„Das ist irgendwie niedlich…“, wisperte er und hörte mit den Handbewegungen nicht auf. Als niedlich konnte Jade seine Gedanken selbst allerdings nicht beschreiben. Je näher dieser Tag gekommen war, desto öfters hatte er über diesen Vergleich nachgedacht. Mein Gott, Michael war fünf verdammte Jahre mit diesem Tim zusammen gewesen, der gehörte da doch zur Familie. Und jetzt kam er mit ihm an…
 

Verdammt, es störte ihn plötzlich unheimlich, dass Michael hier mit seinem Ex gewohnt hatte. Fragen wie: „Hat Michi das Sofa so hingestellt?“, „Saßen sie auch genau so hier am diesem Esstisch?“, „Haben sie auch in diesen Positionen in diesem Bett geschlafen?“, schossen ihm unentwegt durch den Kopf. War er schon paranoid? Wahrscheinlich ein bisschen. Schließlich konnten ihn die Gedanken and Michaels Ex und seine gesamte Familie nur in die Paranoia treiben…
 

Er war nervös und er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, wusste er auch nicht. Michi hatte gesagt, er solle einfach nett sein und dann würde alles glatt laufen. Ein Satz wie „Sei einfach du selbst“ hätte ihm wirklich mehr geholfen. Aber auf diese Worte hatte er schon von Anfang an nicht gehofft.
 

„Hey, entspann dich, Süßer“, sagte der Blonde mit sanfter Stimme und blickte ihm in die Augen. „Wir bleiben auch nicht allzu lang. Das ist nur ein Essen. Und dann sind wir weg, OK? Ich werde dich beim ersten Mal nicht schon überfordern, bzw. zulassen, dass meine Familie dich überfordert.“
 

„Ja, ich weiß… Es ist nur… Mann, ich hasse Familienfeiern und all den Scheiß.“
 

„Vielleicht wird sich das ja ändern, wenn du meine Familie kennengelernt hast. Ich hab dir doch gesagt, vor allem meine Schwester ist locker drauf.“
 

„Ja, aber wahrscheinlich hört ihr locker auf, wo meines noch Kilometer weiter geht…“
 

„Jetzt sei nicht so voreingenommen. Los, wir fahren. Wenn wir erstmal los sind, beruhigst du dich auch“, bestimmte Michael und zog Jade einfach hinter sich her. Doch der Schwarzhaarige wurde auch während der Fahrt nicht ruhiger. Und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto mehr wünschte er sich, die kleine Reise würde einfach weiter gehen. Wie man sich morgens auf der Fahrt zur Arbeit oder Lernanstalt wünscht, sie würde niemals aufhören, dass man sich noch für Stunden einfach in eine Richtung könnte driften lassen.
 

Der Wagen hielt vor einem Einfamilienhaus in einer sauberen, kinderfreundlichen Gegend. Jade schluckte, als Michael ihm zulächelte und ausstieg. Er tat ihm gleich, jetzt war es zu spät, jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Jetzt hieß die Devise: Augen zu und durch. Der Schwarzhaarige versuchte sich einzureden, dass sein Freund vielleicht doch Recht behalten könnte. Wenn er seine Einstellung ändern würde, vielleicht würde dann alles gut laufen und er könnte sich vielleicht sogar amüsieren.
 

Schade nur, dass das Einreden so gar nicht funktionierte.
 

Bevor Michael die Klingel betätigte, lächelte er Jade noch einmal aufbauend zu. Nur einige Sekunden später ertönten eilige Schritte und die Tür wurde beinahe aufgerissen. Von weitem hörte man schon einen jammernden Ruf: „Laura!“ Ein junges Mädchen stand direkt vor ihnen und grinste. Michael warf sie nur einen flüchtigen Blick zu, ihre Augen blieben an dem Barista hängen. Kurz wanderte ein Schimmer der Überraschung über das Gesicht der Blondine, die einen knappen Jeansrock trug und dazu ein eng anliegendes, schwarzes Top. Um ihren Hals hatte sie dicke schwarze Perlen hängen, an ihrem rechten Arm klimperten zahlreiche ebenso dunkle Armringe.
 

„Wie cool, du hast ja ein Piercing!“, sagte sie anstatt einer Begrüßung, besann sich aber schnell und schüttelte dem Schwarzhaarigen energisch die Hand. „Ich bin Laura, Michaels Lieblingsnichte, und du?“
 

„Äh, ich bin Jade. Ich meine Sebastian“, antwortete der junge Mann schnell und warf Michael einen unsicheren Blick zu. Dieser lächelte und sagte: „Und ich? Werde ich gar nicht begrüßt.“
 

„Hallo, Lieblingsonkel!“, sagte das Mädchen und umarmte Michael.
 

„Ach, Michael, da seid ihr ja!“, ertönte eine weibliche Stimme aus dem Innern. Eine ältere, ebenfalls blonde Frau stand nun direkt in der Tür und blickte die beiden mit einem sanften und dennoch irgendwie unsicheren Lächeln an. Jade spürte regelrecht, wie sie ihn kurz ins Visier nahm
 

„Ich bin Sabine, Michaels Schwester“, stellte sie sich dann freundlich vor. Und als er ihre Hand kurz drückte, sagte sie noch: „Ich freue mich, dass du auch mitgekommen bist.“
 

Na, der erste Schritt war gar nicht mal so schwer gewesen, oder?
 

„Das ist Jade!“, erklärte Laura umgehend und lächelte. Sabine hob die Augenbraue.
 

„Äh, ich heiße Sebastian“, wiederholte der Schwarzhaarige.
 

„Danke für die Einladung, Sabine“, unterbrach Michael die Situation und umarmte seine Schwester.
 

„Na los, lasst uns rein, das Essen ist so gut wie fertig.“ Mit diesen Worten traten sie ins Haus ein. Als Laura an ihnen etwas schneller vorbeiging, sagte sie mit gesenkter Stimme in die Richtung des Schwarzhaarigen: „Jade passt besser zu dir.“ Er grinste sie an und wisperte zurück: „Wem sagst du das…“ Sie kicherte und rannte dann etwas vor. Michael warf ihm einen warmen Blick zu. Sein Herz machte einen kleinen Sprung.
 

„Micha!“, brummte eine tiefe Stimme erfreut, als sie den großen Salon betraten, in dem ein großer Tisch gut gedeckt stand. Ein älterer Mann trat auf ihn zu. Seine übriggeblieben Haare klebten ihm etwas an seinem Kopf, er trug ein dunkelblaues Navi T-Shirt und eine beige Hose, seine Haut war etwas braungebrannt. Überhaupt wirkte er irgendwie frisch, als er auf seinen Freund zügig zuging und ihn umarmte und dabei auf den Rücken klopfte. „Du siehst ja wirklich schon viel besser aus als das letzte Mal, mein Junge!“, sagte er lachend und seine Augen wanderten sogleich zu Jade.
 

„Na, bist du der Grund für die strahlenden Augen meines Sohnes?“, fragte er immer noch lachend und trat mit ausgestreckter Hand auf den Schwarzhaarigen zu. „Ich bin Rolf“, stellte er sich vor und ließ erst jetzt seinen Blick kurz an Jades Körper auf und ab wandern. Seine Gedanken konnte man in den Augen nicht lesen.
 

„Und ich bin Anne“, erklang eine ebenso freundliche Stimme. Der Schwarzhaarige blicke in Augen, die denen von Michael ähnelten. „Michas Mama“, erklärte sie, als sie sich vorstellte.
 

„Sebastian“, sagte er knapp. Mein Gott, sich so vorzustellen war immer eine Qual. Wenn Michael ihn so nannte, war es etwas anderes… Aber sich so zu präsentieren. Naja.
 

„Oh“, sagte sie und blickte ihm ins Gesicht. Dann tippte sie an ihre eigene Augenbraue und fragte: „Diese Piercings scheinen wirklich immer modischer zu werden. In meiner alten Klasse hatten das auch ganz viele.“
 

„Das ist voll cool!“, mischte sich Laura plötzlich wieder ein und grinste Jade an. „Hast du noch mehr davon, irgendwo…?“, fragte sie mit einem schelmischen Unterton.
 

„Laura!“, zischte Sabine, die eine dampfende Schüssel Kartoffeln auf den Tisch platzierte. Ihre Tochter lachte einfach nur.
 

„Ich will auch ein Piercing, darf ich, Mama?“, scherzte sie.
 

„Ganz sicherlich nicht!“, keifte die ältere Frau und verschwand wieder.
 

„Hast du jetzt irgendwo noch welche?“, fragte Laura ihn leise, als alle anfingen sich zu setzen. Als Antwort streckte er ihr kurz die Zunge raus und sie fiepste gar schon: „Cool!“
 

Michael hob die Augenbraue und bedeutete Jade sich neben ihn zu setzen. Zu der rechten des Schwarzhaarigen nahm auch gleich schon Laura den Stuhl für sich ein und grinste.
 

Eigentlich war bis jetzt alles gut verlaufen. „Relax, Jade!“, versuchte er sich einzureden. Aber irgendwie war ihm noch immer mulmig zu mute. Gott sei Dank schien es keines dieser Essen zu werden, bei denen man nicht wusste wie man was essen sollte und welches Besteck man benutzen sollte. Der Tisch war gedeckt wie er es kannte. Das war doch schon mal ein Grund locker zu werden, oder nicht?
 

Doch es war auch irgendwie unangenehm die Blicke von Michaels Eltern auf sich zu spüren. Klar, sie lächelten ihm freundlich zu, wenn er sie ansah und sie hatten ihre Augen auch nicht durchgängig auf ihn gerichtet, aber natürlich war er auch ein interessantes Objekt. Der neue Freund des Sohnes. Mit einem Piercing… Und langen Haaren…
 

„Hallo allerseits!“, hallte eine Stimme und ein großgewachsener Mann mit einem schwarzen Bart betrat den Raum, trug Kohlrouladen herein. Er schüttelte kurz Sebastians Hand und stelle sich als „Markus“ vor. Sabines Mann. OK. Nun hatte er alle kennengelernt. Das war doch schon mal gut.
 

„Moin“, erklang plötzlich eine neue Stimme. Ein Junge setzte sich an den Tisch. Älter als 16 war er auf keinen Fall. Sein Straßenköterblondes Haar war voller Gel und die blauen Augen irgendwie träge. Er war schon ziemlich groß, wahrscheinlich fast schon so groß wie sein Vater.
 

„Das ist Martin“, erklärte Laura ihm. „Mein pubertierenden Bruder“, fügte sie etwas ironisch hinzu.
 

„Sei ruhig, du bist selber in der Pubertät, du Pute!“, keifte dieser zurück und begutachtete den neuen Freund seines Onkels erst jetzt mit einem interessierten Blick. Jade lächelte ihm kurz zu. Erst jetzt fiel ihm das KoRn Shirt des Jungen auf. Na, wenigstens einer mit gutem Musikgeschmack, dachte er sich.
 

Das Essen war lecker, das musste Jade ohne Scham zugeben. Michaels Eltern erzählten irgendeine Geschichte über den Nachbarssohn, der den Wagen seiner Freundin auf eine debile Art und Weise zerlegt hatte – indem er vergessen hatte die Handbremse einzulegen du der Wagen einen Berg hinunter rollte und direkt in einen Truck prallte.
 

Michael erzählte ein paar Anekdoten aus der Redaktionsarbeit, über rauchende Praktikanten, ein bisschen über seltsame Popbands, die sich nicht interviewen ließen, über komische Bewerbungen auf Freie Mitarbeit. Und die ganze Zeit über hoffte Jade, dass ihn einfach niemand auffordern würde etwas zu erzählen. Er wollte aufessen, noch ein wenig Smalltalk betreiben und dann den restlichen Abend für sich und Michael allein haben…
 

„Was machst du eigentlich beruflich?“, fragte Sabine ihn plötzlich, nachdem sie zuvor herzhaft über die Geschichten Michaels gelacht hatte. Alle Augen richteten sich auf ihn. Er schluckte den letzten Bissen herunter und freute sich, dass er sich dabei nicht verschluckte.
 

„Ich hab ne Ausbildung zum Hotelfachmann gemacht, aber momentan sieht es schlecht auf dem Arbeitsmarkt hier aus. Ich bin seit einigen Monaten Barista bei Starbucks“, erklärte er.
 

„Ah“, war alles, was Michaels Schwester sagte.
 

„Na, da ist Onkel Micha aber sicherlich extrem froh drüber…“, bemerkte Laura lachend. Alle sahen sie etwas geschockt an. „Na, weil er doch kaffeesüchtig ist!“, erklärte sie immer noch lachend. Jade atmete auf. „Starbucks ist geil!“, fügte sie noch hinzu.
 

„Wieso trinkst du schon Kaffee?“, fragte Markus Laura.
 

„Papa, ich bin 14, da kann man schon Kaffee trinken…“, antwortete sie genervt und stopfte sich eine Kartoffel in den Mund.
 

„Solange sie nicht raucht, kann man sich doch freuen…“, bemerkte Jade leicht ironisch.
 

„Rauchst du?“, fragte Laura ihn umgehend.
 

„Nö, Ich trinke nur. Also“, setzte er schnell an. „Kaffee.“
 

Martin und Laura lachten, der Rest lächelte leicht.

Na toll.
 

„Macht dir der Job Spaß?“, hakte Sabine weiter nach.
 

„Joa, ich hab nette Kollegen und Kaffeefan bin ich auch. Arbeitszeiten sind auch OK. Bezahlung, geht so. Könnte besser sein. Aber besser als nichts“, entgegnete er.
 

„Hm, ja“, lautete ihre Antwort.
 

„Wie läuft’s denn bei euch in der Schule? Habt ja bald schon Sommerferien, oder nicht?“, fragte Michael plötzlich Laura und Martin.
 

„Bald? Du spinnst doch!“, entgegnete seine Nichte. „Das dauert noch fast zwei Monate!“
 

Martin sagte gar nichts, rollte nur etwas mit den Augen. Jade erhaschte Sabines ernsthaften Blick, den sie ihrem Sohn bei dieser Frage zuwarf.
 

„Laura ist doch bestimmt wie jedes Jahr Klassenbeste“, mischte sich Rolf ein und zwinkerte seiner Enkelin spielerisch zu.
 

„Wenn ich ne Eins in Englisch bekomme, darf ich mir dann ein Bauchnabelpiercing stechen lassen?“, fragte das blonde Mädchen sogleich und sah ihre Eltern an.
 

„Wie oft willst du uns damit eigentlich noch nerven?“, jammerte ihr Vater Markus und ließ die zweite Portion Kartoffeln auf seinen Teller wandern. Laura rollte mit den Augen.
 

„Du bist erst 14, Fräulein“, ermahnte sie ihr Großvater, lächelte aber dabei.
 

„Piercings tun weh und man kann sich dabei unschöne Infektionen holen“, fügte Michaels Mutter hinzu. „Ich hab das alles bei uns an der Schule gesehen, glaub mir mal.“
 

„Jahaaaa, aber auch nicht alle…“, entgegnete Laura etwas genervt. „Hattest du eine Infektion bei deinen Piercings?“, wandte sie sich wieder an Jade.
 

„Nö, bei mir verlief das alles unproblematisch“, antwortete er ihr.
 

„Hast du auch Tattoos?“, fragte der bis jetzt noch still dasitzende Martin plötzlich.
 

„Bis jetzt noch nicht…“
 

Martins Augen leuchteten auf. „Heißt das, du überlegst dir eins stechen zu lassen? Was für ein Motiv? Wohin?“, hakte er umgehend nach.
 

„Martin!“, ermahnte Sabine ihn und warf Jade den sorry-dass-meine-Kinder-so-direkt-sind. Michael legte sein Besteck beiseite und schaut seinen Freund an.
 

„Das mit der Tätowierung ist mir ja neu“, bemerkte er.
 

„Ich hab schon länger drüber nachgedacht, aber nie das Geld dafür gehabt, deswegen hab ich die Sache bis jetzt nicht wieder aufgenommen“, erklärte er und sah Michael in die Augen. Irgendwie… schien dieser nicht wirklich erfreut darüber zu sein. „Ist nur so eine Schnapsidee“, fügte er hinzu und versuchte zu lächeln, was mehr wie ein schiefes Grinsen aussah.
 

„Lass dir doch Michaels Namen tätowieren!“, rief Laura amüsiert und strahlte die beiden an.
 

„Äh…“, was sollte Jade dazu sagen? Diese ganze Piercing-Tattoo-Konversation gefiel ihm nicht.
 

„Dazu ist es noch zu früh, Kleines“, mischte Michael sich mit sanfter Stimme ein. „Wir sind grad mal eine Woche zusammen.“
 

„Na endlich kommen mal die wirklich interessanten Geschichten auf den Tisch“, scherzte Markus und lachte. „Na komm, Michael, erzähl mal. Wie habt ihr euch kennengelernt? Deine Schwester hat mich schon den ganzen Tag damit genervt und sich Gedanken über dein neues Glück gemacht.“
 

„Markus!“, herrschte seine Frau ihn an, musste dann aber etwas schief lächeln.
 

Jade verkrampfte sich innerlich. Was würde Michael jetzt sagen? Wie es wirklich angefangen hatte? Dass der Blonde ihn besoffen flachgelegt hatte und ihn danach nicht mehr loswurde? Hm, irgendwie würde er ja schon gern Sabines Gesicht sehen, wenn ihr Bruder ihr genau das unter die Nase binden würden. Am Esstisch in Anwesenheit der Eltern. Naja, andererseits waren Minderjährige anwesend. Was die Sache aber nur noch interessanter und lustiger gemacht hätte.
 

Er musste sich zusammenreißen, um nicht lauthals loszulachen, als er sich die Situation bildlich ausmalte.
 

„Beim Kaffeetrinken“, lautete Michaels grandiose Antwort und Jade konnte sein lachen nicht mehr zurückhalten.
 

„Verheimlicht er uns was?“, hakte Rolf belustigt nach.
 

„So einiges, aber das ist auch besser so…“, sagte er grinsend.
 

„Ich will das aber wissen!“, rief Laura aus.
 

„Dafür bist du noch viel zu jung“, sagte er ihr und spürte umgehend einen leichten Tritt an seinem Knöchel der von niemandem anders, als Michael kam, der ihm einen leicht ermahnenden, kurzen Blick zuwarf.
 

Martin grinste dümmlich vor sich hin und kaute auf seinem letzten Stückchen Fleisch herum. Und nach einer peinlichen Minute des Schweigens, setzte Sabine wieder mit dem Smalltalk und Jade sagte einfach gar nichts mehr. Und das kam ihm nur gerecht. Der kleine Tritt Michaels nervte ihn ein wenig…
 

Michael
 

Sie standen zu zweit in der Küche. Seine Schwester und er. Seine Eltern waren mit Markus ihre traditionelle Runde durch das Wohngebiet drehen, der normale Verdauungsspaziergang. Sebastian hatte er mit Martin und Laura im Wohnzimmer gelassen. Wahrscheinlich die bessere Entscheidung und seine Nichte schien ihn ja auch sehr sympathisch zu finden. Und sogar Martin hatte den Mund aufgemacht, eine Tatsache, die nicht zu übersehen war, war sein Neffe in letzter Zeit immer eher zurückgezogen.
 

Er half Sabine beim Abwasch. Und außerdem war da noch etwas, was sie ihn fragen wollte. Der eigentliche Grund dieses Besuches, der automatisch nebenbei als Kennenlernessen fungierte. Ein bis jetzt eigentlich gut überstandenes Essen. Bis auf ein paar Kleinigkeiten war es gut verlaufen. Die anfangs eher etwas befremdlich wirkenden Blicke seiner Eltern und auch seiner Schwester, die sie Sebastian zugeworfen hatten, waren Michael natürlich nicht entgangen. Aber auf diese hatte er sich auch eingestellt.
 

„Sag mal Micha, wie alt ist Sebastian überhaupt?“, fragte Sabine plötzlich.
 

„Er ist letzten Sonntag 25 geworden.“
 

Man merkte förmlich, wie seine Schwester einige Sekunden rechnete. „Oha“, sagte sie dann.
 

„Ja ja, 11 Jahre, ich weiß“, fiel er ihr ins Wort und lächelte etwas hilflos.
 

„Ein Boy-Toy, oder wie haben die das in der Gala letztens genannt?“
 

Der Blonde verdrehte leicht die Augen. „Sabine…“
 

„War doch nur Spaß, beruhig doch“, sagte sie lachend und stellte die von Michael abgetrockneten Schüsseln wieder an ihren Platz. „Er ist aber schon anders. Irgendwie hättest du mich auch ein wenig vorwarnen können.“
 

„Vorwarnen?“
 

„Ja, ich hab eher, naja. Etwas anderes erwartet“, sagte sie und lächelte sanft.
 

Ihr Bruder seufzte. „Ja, ich weiß auch nicht, wie das passiert ist.“
 

„Meinst du’s denn ernst mit ihm, oder versuchst du mit einem jüngeren Partner dein vom Tim zerstörtes Selbstbewusstsein aufzubauen?“, fragte sie ihn dann ernst.
 

Michael starrte sie an.
 

„Ich will damit nicht sauer machen!“, sagte sie umgehend. „Ich meine ja nur…“
 

„Ich bin dir nicht böse“, sagte Michael. „Und wenn ich ehrlich bin, bin ich auch noch sehr überrascht, dass ich mit ihm zusammen bin. Aber, irgendwie fühlt sich das gut an. Ich weiß nicht, ob ich unbewusst mein Selbstbewusstsein aufwerte, aber so etwas passiert auch automatisch, wenn man mit einem attraktiven Menschen zusammen ist.“
 

„Scheinbar hat sich dein Geschmack auch ein bisschen verändert. Aber ich bin froh. Du wirkst echt total anders als die letzten Male, an denen ich dich gesehen habe“, sagte sie. „Und sag mal, ist er auch dieser Mann von der „katastrophalen, betrunkenen Nacht“, oder?“
 

Michael musste peinlich berührt grinsen. Als er sich die Tage freigenommen hatte, war er öfters mit Sabine spazieren gegangen und hatte es ihr letztendlich gebeichtet.
 

„Ja“, sagte er deshalb knapp. Seine Schwester grinste.
 

„Ich wusste es!“, rief sie aus. „Es freut mich, dass daraus etwas Festes geworden ist. Du warst noch nie der Typ für One-Night-Stands.“
 

„Das stimmt.“
 

„Aber eigentlich wollte ich über etwas anderes mit dir reden, komm wir setzen uns kurz, ja?“
 

Als sie am Küchentisch Platz nahmen und der Kaffeemaschine zuhörten, denn schließlich wollten Michaels Eltern wie immer noch Kuchen mit ihrer Familie zum späteren Nachtisch essen, erläuterte ihm Sabine ihr Problem.
 

„Martin will mit der Schule aufhören“, sagte sie kurz und knapp.
 

„Was? Er will jetzt abbrechen?!“, japste Michael erschrocken.
 

„Nein, er will die 10. Klasse zu Ende machen, aber dann nicht weiter machen. Er hat einen Einserdurchschnitt und das Potenzial Abitur zu machen, aber er will einfach nicht. Weil er sagt, er sei zu faul, um mit der Schule weiterzumachen“, erklärte sie.
 

„Oh“, entgegnete Michael. „Das wäre jammerschade, wenn er kein Abitur macht“, fügte er hinzu.
 

„Das finden Markus und ich auch, aber auf uns hört er nicht!“, sprach seine Schwester leicht verzweifelt weiter. „Ich weiß auch nicht, was er sich überhaupt in den Kopf gesetzt hat. Jedes Mal wenn ich mit ihm über seine Zukunft rede, blockt er total ab und schließt sich in seinem Zimmer ein, um Gitarre zu spielen. Ich habe echt Angst, dass er eine Dummheit begehen könnte.“
 

„Und jetzt willst du, dass der gute Onkel Michael seinen Neffen zur Seite nimmt, was?“, sagte der Blonde grinsend.
 

„Du bist erfolgreich, Micha. Und er sieht dich auch völlig anders als uns. Ich denke wirklich, dass du ihm etwas Verstand in den Kopf legen könntest und ihn überzeugen könntest, etwas für seine Zukunft zu tun.“
 

„Ich werde es versuchen.“
 

Sebastian/Jade
 

Michael machte den Abwasch mit seiner Schwester. Sie redeten über irgendetwas. Er sah Martin an, der ihm nun auf dem anderen Sofa gegenüber saß. Laura war im Badezimmer. Oder wo auch immer.
 

„Die reden bestimmt über mich“, sagte der Junge plötzlich.
 

„Ist das so?“, sagte Jade.
 

„Ja“, sagte der Junge genervt. „Meine Mutter nervt einfach nur noch mit ihrem Scheiß Abiturgelaber.“
 

Der Schwarzhaarige musste grinsen. Wieso erinnerte diese Situation nur an seine Lage zu Hause?
 

„Das kenn ich“, sagte er dann. „Mach dir keine Sorgen, das legt sich wieder. Mach einfach das, was du willst.“
 

„Wollten deine Eltern sich auch zum Abitur zwingen?“, hakte Martin nach.
 

„Meine Eltern wollten mich zu so einigem zwingen, nicht gerade zum Abi. Die wussten genauso wie ich, dass ich zu dumm dafür bin“, sagte er lachend. „Ich sollte mit meinem dämlichen Bruder den Malerbetrieb meiner Eltern übernehmen. Mein Bruder heißt übrigens Gilbert“, fügte er hinzu und brachte Martin zum lachen. „Aber ich hatte so keine Lust. Und nach ner Zeit hab ich die Ausbildung geschmissen, hab meine Sachen gepackt, bin zu nem Freund und habe ne viel bessere angefangen.“
 

„Echt, du bist einfach so abgehauen? Waren deine Eltern nicht unfassbar wütend auf dich?“
 

„Und wie“, sagte Jade grinsend. „Aber ich hatte wirklich keine Lust darauf, mir mein Leben von denen komplett vorschreiben zu lassen. Und ich bin wirklich glücklich, dass ich das gemacht habe. Was willst du denn machen?“
 

„Tontechniker“, lautete die Antwort und Jade musste irgendwie lachen. „Was?!“, herrschte Martin ihn an.
 

„Mein Mitbewohner ist Tontechniker“, erklärte der Schwarzhaarige ihm.
 

„Echt? Cool! Was sagt er so über den Beruf? Macht das Spaß?“, hakte der Junge sofort nach.
 

„Er scheint zufrieden. War halt auch sein Traumjob. Und wenn man seinen Traumjob macht, dann macht alles im Leben irgendwie Spaß.“
 

„Erzähl das bitte mal meinen Eltern…“
 

Sie unterhielten sich noch ein wenig über Torsten und Jade teilte ihm alles mit, was sein Mitbewohner ihm von seiner Arbeit erzählte. An den gesamten Rest, der mit Torsten zu tun hatte, dachte er nicht…
 

Michael
 

Wieder vereint saßen sie am neu gedeckten Tisch. Es gab frische Donauwelle und wohlriechenden Kaffee.
 

„Und, was sagt der Kaffee-Experte?“, fragte Sabine grinsend.
 

„Vorzüglich“, antwortete Sebastian und Michael lächelte.
 

„Na, wie war der Spaziergang, Papa?“, fragte der Blonde und nahm einen Schluck Kaffee.
 

„Herrlich, Micha, herrlich!“, entgegnete Rolf schwärmerisch. „Und wir haben einen tollen Wagen gesehen!“
 

„Ach, nicht das schon wieder!“, sagte Michaels Mutter und lachte.
 

„Das war irgendso ein neuer Jeep, jedenfalls hab ich den vorher noch nicht gesehen. Der hätte dir sicherlich gefallen, Martin“, sprach der ältere Mann weiter. „Ich sag dir was, Junge. Ich hab eben schon mit Oma gesprochen. Wenn du dein Abi fertig hast, dann legen Oma und ich zusammen und dann kannst du dir ein richtig tolles Auto kaufen! Das wäre doch was, oder nicht?“
 

Martin knallte die Gabel auf den Tisch. „Es reicht, echt!“, rief er aus. „Wann kapiert ihr das endlich, dass ich kein Bock mehr auf Schule hab?! Ich will auch nicht studieren gehen, oder so, OK?“
 

„Na, komm, wir wechseln das Thema“, sagte Markus und strich den leichten Schweiß von der Stirn. Doch seine Frau ignorierte diese Worte.
 

„Martin, das ist nur eine Phase¬¬¬¬, wenn du erst einmal anfängst, dann wirst du Gefallen daran finden“, sagte sie und blickte ihren Bruder auffordernd an. Diese Sache bei Tisch zu klären, empfand Michael nicht unbedingt als die beste Idee, aber irgendetwas musste er sagen, hatte er Sabine doch die Hilfe versprochen.
 

„Wenn du erst einmal Abitur hast, dann musst du auch gar nicht studieren gehen. Deine Eltern versuchen dir einfach zu erklären, dass du mit dem Abitur im Lebenslauf einfach überall mehr Chancen hast“, setzte er an, doch Martin fiel ihm ins Wort.
 

„Jetzt haben die doch auch noch eingelullt, ich fass es nicht!“, schrie er schon fast.
 

„Eingelullt ist nicht das richtige Wort“, sagte Michael ernst. „Mir als Onkel ist deine Zukunft auch wichtig. Und ich finde es auch wichtig Abitur zu haben.“
 

„Dein Freund jetzt hat auch kein Abi und der Typ davor auch nicht. Und die scheinen ja trotzdem ganz glücklich zu sein. Ich will einfach meinen Traumjob machen. Wenn man seinen Traumjob macht, macht alles im Leben irgendwie Spaß“, sagte er.
 

„Oha“, sagte seine Mutter sarkastisch. „Woher hast du denn den „weisen Spruch“? Du weißt doch noch nicht mal, was dein Traumjob ist!“
 

„Doch, das weiß ich, ich will Tontechniker werden. Und den „Spruch“ habe ich von Sebastian. Und dessen Mitbewohner ist zufällig auch Tontechniker und was Sebastian mir vorhin so erzählt hat, hört sich das genau nachdem an, was ich machen will!“, herrschte der Junge seine Mutter an. Michael überkam leichtes Unbehagen, als der Name seines Freundes gleich zwei Mal in diesem Kontext so laut genannt wurde. Er sah seinen Freund an, der etwas nervös auf seine Kaffeetasse starrte. Und Sabine explodierte fast.
 

„Meinst du nicht, es wäre vielleicht besser auf Leute zu hören, die Erfolg im Leben haben, wie zum Beispiel Onkel Michael?“, keifte sie zurück und Michael konnte sehen wie Markus mit den Augen rollte und sich an die Stirn fasste.
 

„Hey,“ mischte Sebastian sich plötzlich ein. „Was soll denn bitte der Kommentar?!“, richtete er sich an seine Schwester. Dieses Gefühl des Unbehagens wurde größer.
 

„Es ist nichts persönliches gegen dich, aber ich möchte nicht, dass mein Sohn seine Chance auf eine gute Zukunft in den Mülleimer wirft und auch nur „irgendwas“ macht, was besser als nichts ist“, erklärte sie mit fester Stimme.
 

„Sabine…“, setzte ihr Mann an, doch die blonde Frau warf ihm nur einen wütenden Blick zu.
 

„Wow, du hörst dich ja echt so an, als wärst du erfolgreichste Frau Deutschlands und dabei bist du nur, was sagte Michi noch mal, Nachhilfelehrerin. Wow, erstaunlich“, keifte Sebastian. „Und du scheinst deinem Sohn überhaupt nicht zuzuhören, der übrigens extrem genervt von dir ist…“ Micheal konnte es nicht kontrollieren, diese gesamte Situation war unbehaglich, peinlich, unschön. Sein Bein unterm Tisch bewegte sich wie von selbst.
 

„Au!“, schrie Sebastian und blickte ihn verärgert und zugleich wütend an. „Wieso zum Teufel trittst du mich?!“, zischte er.
 

„Ihr seid alle so Scheiße!“, sagte Martin und erhob sich. „Ausgenommen: Laura und Sebastian. Tschüß.“ Mit diesen Worten rannte der Junge nach oben und Markus stand auf und verkündete: „Ich räume dann mal ab, gleich kommt ein toller Film im Fernsehen, willst du dir den nicht ansehen, Rolf?“
 

„Ja, ja gern“, entgegnete sein Schwiegervater und erhob sich eilig.
 

Michaels Herz klopfte wie wild.

Die vorigen Stunden waren so positiv gewesen.

Und jetzt das.

Eine dämliche Konversation.

Und Sebastian starrte ihn mit weiten Augen die ganze Zeit über an.
 

„Wir fahren jetzt auch nach Hause, ich rufe dich an, Sabine“, sagte er und erhob sich. Sebastian sagte einfach gar nichts mehr, sondern marschierte aus dem Haus. Und auch Laura verließ wortlos den Raum. Nicht einmal von Michael verabschiedete sie sich. Der Blonde seufzte. Er war verwirrt. Was war das eben für eine seltsame Atmosphäre gewesen?
 

Unwillkürlich erinnerte er sich daran, wie er Tim das erste Mal zu einer Feier mitgebracht hatte. Sein Ex hatte Blumen für seine Mutter und Schwester mitgebracht. Er hatte sich mit seinem Vater am Grill über Autos unterhalten. Er hatte Sabine vorgeschwärmt, was für ein tolles Haus sie hatten. Und mit den Kindern gespielt. Sie waren ganze sechs Stunden geblieben.
 

Und jetzt waren gerade mal fast zwei um.

Und jeder fühlte sich schlecht.

Michael schluckte und trat heraus.
 

Sebastian/Jade
 

Ernst nach 15 Minuten stiller Fahrt brachen seine Gedanken aus ihm heraus: „Wieso hast du mich nicht verteidigt?!“, fuhr er Michael an, der ausdruckslos auf die Straße starrte. Erst nach einigen Sekunden antwortete er.
 

„Weil du im Unrecht warst.“
 

„Es geht nicht darum, ob ich Recht hatte oder nicht. Deine Schwester hat mich niedergemacht und indirekt beleidigt. Am Tisch! Ich weiß ja nicht viel vom guten Benehmen, aber ich denke nicht, dass so etwas dazu gehört, oder?!“, keifte der Schwarzhaarige weiter.
 

„Wahrscheinlich, aber es ging um Martins Zukunft. Sebastian, der Junge ist erst 15, der weiß noch nicht, was er will“, erklärte der Blonde mit lauterer Stimme.
 

„Ach, und ihr wisst das natürlich vieeeel besser als er.“
 

„Ich denke wir haben mehr Erfahrungen und können gewisse Dinge eben besser verstehen als er.“
 

„Hallo, der will kein Abi machen!“, rief Jade und starrte seinen Freund an. „Und wenn man jemanden zu etwas zwingt, dann kann dieser jemand niemals glücklich werden! Als ich damals diese dämliche Ausbildung zum Industriekaufmann machen musste, hatte ich keinen Funken Spaß daran!“
 

„Das ist etwas anderes“, fiel Michael ihm kalt ins Wort.
 

„Und wieso?“, hakte der Schwarzhaarige genervt nach.
 

„Weil du ein völlig anderer Mensch bist als Martin, du kennst ihn nicht. Außerdem geht es hier ums Abitur und nicht um irgendeine Ausbildung.“
 

„Irgendeine Ausbildung“, äffte Jade Michaels Stimme immer noch genervt nach. „Und ich dachte du machst da eigentlich keinen Unterschied zwischen. Aber momentan hört sich echt so an, als wärst du ganz der Meinung deiner reizenden Schwester.“
 

„Himmel Herrgott noch mal!“, schrie Michael plötzlich. „Jetzt stell mich und meine Familie nicht immer so dar, als würden wir Spießer auf alle herunterblicken, das scheint auch irgendwie dein Lieblingsthema zu sein, oder?! Wenn es dich nervt, dass andere dein Leben nicht so ernst nehmen, dann ändere was daran! Dann such dir eine neue Lehrstelle, oder bemüh dich wenigstens um eine neue Stelle!“, brüllte er.
 

Jade war geschockt. Kontern konnte er nicht. Er biss sich auf die Zunge.

Sein Herz pochte wie wild. Doch dieses Mal war es ein unangenehmes Pochen.

Hatte Michael ihn gerade beleidigt?

Von oben herab behandelt?

Vielleicht redete er sich so was tatsächlich zu sehr ein?
 

Michael seufzte.

Sie standen bereits in der Tiefgarage.

Der Motor war aus.
 

„Michi. Es tut mir Leid“, sagte Jade. „Wir tanzen das alles nächste Woche in der Disco aus. Da gibt’s auch keine Verwandten, mit denen man in den Klinsch geraten kann, OK?“ Er versuchte zu lächeln.
 

Michael seufzte erneut ohne den Schwarzhaarigen anzublicken. Und dann sagte er: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich Lust habe nächste Woche mit dir zu feiern.“
 

Jades Herz machte einen verzweifelten, schmerzvollen Sprung in seiner Brust.

Wenn man es nur will

SEBASTIAN/JADE
 

„Sag mal, wie bekloppt bist du eigentlich?“, sagte Dirk, als er mit einem letzten Pfeil die Dartscheibe anvisierte. Die Spielmaschine blinkte auf, eine mechanische aufgedrehte Stimme rief aus: „You won!“ Bunte Lichter blitzen in einem wirren Tempo und Jade ließ die Schultern hängen.
 

„Du hast schon wieder gewonnen“, stellte er mit einem müden Lächeln fest und legte seine kleinen Pfeile beiseite. Sie setzten sich wieder an die Theke, übergaben das Spielfeld anderen, bestellten ein weiteres Bier, eine weitere Runde Schnaps. Es war nicht viel los im Pub, jedenfalls weniger als sonst. Eine Tatsache, die dem Schwarzhaarigen in seiner momentanen Verfassung wohl bekam.
 

„Wieso zum Teufel hast du dich bitte bei diesem Sack entschuldig?!“, fuhr Dirk fort. Jade nippte an seinem Bier. Ja, wieso eigentlich? Eigentlich war es doch Michael, der sich bei ihm hätte entschuldigen müssen, der überhaupt in diese miserable Situation hätte einschreiten sollen. Dass seine komische Familie ihm wichtig war, das hatte Jade ja kapiert. Aber dass er seine Schwester ihn so ungehalten am Tisch hatte anfahren lassen? Und dann noch diese Tritte... Ein Benehmen der untersten Kategorie, oder nicht? Eigentlich müsste er wütend sein und hätte Michael eine Standpauke im Wagen halten sollen.
 

Aber in diesem Moment hatte die Angst gesiegt. Die Angst ihn zu verlieren. Und das hatte er jetzt wohl. Oder? Seit vier Tagen hatten sie nicht mehr miteinander geredet. Seit vier Tagen hatten sie sich nicht gesehen. Und Jade sah überhaupt gar keine Anzeichen auf eine Änderung.
 

„Ich weiß auch nicht“, beantwortete er schließlich die Frage. „Ich dachte wir vergessen das erstmal, haben ne schöne Zeit und reden dann irgendwann in Ruhe drüber.“
 

„Tsk“, kam es in sarkastischer Manier von seinem Freund. „Ich erkenn dich gar nicht wieder. Hätte Mark so ne Scheiße mit dir abgezogen, als ihr noch zusammen wart, wärst du ihm direkt an die Gurgel gegangen. Und zwar vor den Augen seiner Familie. Du benimmst dich wie ne Pussy, echt.“
 

„Gott, ich hasse diesen Begriff...“
 

„Und ich hasse es, wie du dich hängen lässt und dich wegen diesem Arschloch kaputt machst. Was ist überhaupt los mit dir?! Mit Torsten bist du auch zerstritten, mich rufst du kaum noch an. Hat dir der Typ ins Gehirn geschissen, oder was?!“, fuhr Dirk ihn an und schüttelte seinen etwas breiteren Kopf.
 

In einem hatte er Recht: Jade verhielt sich nicht so, wie er sich normalerweise verhalten würde. Vielleicht... Weil er das erste Mal so richtig verliebt war... Wahre Liebe tat doch am meisten weh, oder nicht? Und sie war kompliziert, oder nicht? Und sie hatte nie ein Happy End. Er seufzte. Etwas Besseres als in den Pub zu gehen und sich ein wenig volllaufen zu lassen, war ihm auch nicht eingefallen. Mit Dartspielen wollte er sich ein wenig ablenken, ein wenig mit Dirk quatschen. Doch der fand kein anderes Thema als Jades Problem. Und jetzt fing er auch noch mit Torsten an...
 

„Zerstritten kann man das nicht wirklich nennen...“, sagte er. Dirk starrte ihn an.
 

„Wie denn dann?“, hakte er dann etwas bitter nach. „Ihr redet nicht miteinander, ihr geht euch aus dem Weg und reagiert fast schon allergisch, wenn man den Namen des anderen nennt. Naja, Torsten jedenfalls.“
 

„Ach“, spie Jade aus. „Ist das so?!“
 

„Siehst du, du reagierst auch schon allergisch!“
 

Jade verdrehte die Augen, nahm einen großen Schluck Bier und ließ seine Augen ausdruckslos über die Theke wandern. „Frag einfach Torsten, was er hat. Der ist derjenige, der hier das Problem hat, nicht ich.“
 

„Mit Jana scheint es momentan auch alles andere als gut zu gehen“, bemerkte Dirk plötzlich etwas milder. „Weißt du vielleicht, was da los ist?“
 

Was für eine Frage das war. Natürlich wusste er, was Sache war. Und dass er selbst der Grund war. Theoretisch. Nicht jedoch, wie Torsten ihm die Geschichte hatte anhängen wollen. Alles hing zusammen. Alles war Scheiße. Wenn er könnte, würde er momentan so vieles einfach rückgängig machen. Den Sex mit Torsten, die Familienfeier mit Michael, vielleicht sogar überhaupt das gesamte Thema Michael! Ja, am besten würde er weit nach hinten reisen und niemals mit Mark Schluss machen, mit Mark zusammenziehen und jetzt vielleicht schon Heiratspläne schmieden.
 

Nein.
 

Das wollte er nicht.

Weil er Mark nicht mehr liebte.
 

Und selbst wenn es eine sichere, stabile Bindung geblieben wäre, selbst wenn Mark sein Hafen geworden wäre – wäre er glücklich tagtäglich in den Ort einzukehren, an dem es keine flammenden Gefühle gab? Nein. Wieso dachte er dann eigentlich so einen Mist?! War das schon der Alkohol? So viel hatte er jetzt auch nicht getrunken.
 

„Frag Torsten am besten selber mal“, sagt er zu Dirk.
 

„Der blockt doch ständig ab!“
 

„Dann wird er wohl seine Gründe haben.“
 

„Ihr beide führt euch auf wie Idioten.“
 

„Vielleicht sind wir das ja auch.“
 

„Das Gefühl habe ich langsam auch...“
 

Einige Minuten lang schwiegen sie. Gott sei Dank lief Musik. Gott sei Dank redeten die Gäste in den Räumlichkeiten etwas lauter und schon affektierter als vorher. Man konnte Gelächter wahrnehmen, einige Gläser aneinanderstoßen hören. Jade seufzte erneut. Alles war scheiße. Wenn er an Michael dachte, durchfuhr ihn ein Schmerz. Wenn er an Jana dachte, überkam ihn ein Stechen. Wenn er an Torsten dachte, übermannte ihn Scham und er musste gleichzeitig die Fäuste ballen. Und jetzt wurde Dirk zu allem Überfloss noch wütend auf ihn. Und auf Torsten. Wenn er nur wüsste...
 

„Das kotzt mich so mit euch beiden an, echt“, zischte dieser und leerte sein Bier. Noch mit dem Getränk im Mund signalisierte er der Bedienung, einem äußerst attraktiven Mann, ihm ein weiteres zu holen. Dirk konnte eben extrem schnell trinken. Jade griff nach dem Schnaps und spülte ihn herunter. OK, langsam wurde ihm schwindelig. Das war gut!
 

„Das tut mir ja auch Leid, aber das ist halt alles ein bisschen kompliziert“, lenkte der Schwarzhaarige mit sanfter Stimme ein.
 

„Um was ging es denn? Nur so im Allgemeinen, du musst mit keine Details nennen, aber mir ist die ganze Sache nicht so geheuer. Und ich kann halt sehen, dass Torsten leidet.“
 

„Das bestimmt. Aber das ist auch seine eigene Schuld. Ja ja, ich weiß. Ich weiß, wir sollten einfach reden, aber ich weiß im Moment nicht wie. Ich wollte mich ja wieder mit ihm vertragen, aber jetzt kommt noch diese ganze Scheiße mit Michael hinzu und... Ach, ich weiß auch nicht. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich mit Michi noch zusammen bin oder nicht.“
 

„Michi“, imitierte Dirk den gesagten Namen, seine Stimme von Sarkasmus durchtränkt. „Ich denke Michi sucht sich jetzt einen Manager, mit dem er gemeinsam mit seiner Schwester im Eliteuniversum schwelgen kann.“
 

Jade grinste bitterlich. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, sich über Michael lustig zu machen. Noch nicht. Er war verwirrt. Und wütend. Und enttäuscht. Und überhaupt. „Hey, mach mir noch nen Schnaps, ja?“, rief er der Bedienung zu, die ihm daraufhin zuzwinkerte und sich ans Werk machte.
 

„Wenn ich dir irgendwie bei deinen ganzen Problemen helfen kann, dann musst du nur Bescheid sagen...“, bemerkte Dirk nach einer Weile, nachdem sie mit ihren neuen Getränken angestoßen hatten. Jade lächelte dankbar.
 

„Danke, Dirk. Tret Michael einfach in den Arsch.“
 

„Das würde ich unfassbar gerne tun...“
 

MICHAEL
 

Im Takt des Musikstückes, welches leise aus dem Radio drang, pochte er mit dem fein angespitzten Bleistift gegen seine leere Kaffeetasse. Es war 20 Uhr. Der Haufen Arbeit hatte ihn lange hier behalten, hatte ihn ablenken können. Doch seit etwa 20 Minuten saß er nun schon in dieser Position und starrte gar apathisch auf den großen Bildschirm, auf dem seit etwa 10 Minuten der Bildschirmschoner zu sehen war – sich immer wieder aufbauende, bunte Rohre. Spannend.
 

Doch er tat alles, um nicht über diesen Samstag nachdenken zu müssen. Diese unangenehme Atmosphäre, die er in Sabines Haus hatte miterleben müssen, die sich anzischenden Stimmen, die unangebrachten Bemerkungen. Zu spät. In seinen Gedanken war er wieder vollends bei der Szene, die alles ins Wanken gebracht hatte. Alles, was ihm noch vor einigen Tagen so richtig und so wunderschön erschienen war, war nur noch als vages Konstrukt wahrzunehmen.
 

Ohne Anfang, ohne Ende, ohne Sinn.

Oder?
 

Vier ganze Tage hatte er Sebastian nun nicht gesehen. Wann immer seine Kollegen Kaffeetrinken gegangen waren, war er selbst in der Redaktion zurückgeblieben. Er wusste nicht, ob es Angst oder Trotz war, der ihn zurückhielt. Er wusste nicht einmal, ob er den Schwarzhaarigen wirklich wiedersehen wollte. Und andererseits fühlten sich die vergangenen Tage so unerfüllt an. War Sebastians Abwesenheit dafür der Grund? Ein weiteres Mal seufzte Michael und fuhr sich mit seinen Händen über das leicht verschwitzte Gesicht.
 

Er dachte an die schönen Tage, die sie miteinander verbracht hatten. An dieses ihn beflügelnde Gefühl neben dem Jüngeren einzuschlafen und diese Energie, die Sebastian in seltsamer Manier auf ihn transferierte. Von dieser war nun nichts mehr zu spüren. Er fühlte sich schlapp und müde. Irgendwie ausgelaugt. Hinter dem Steuer schlief er fast ein. Und die nunmehr wieder leere Wohnung veränderte seine Laune auch nicht. Und wenn, dann nur zum Negativen hin.
 

Erneut schlichen sich diese Gedanken in seinen Kopf, als er vergebens auf den Schlaf wartete. Diese Worte, die sein Ex ihm ins Gesicht gespien hatte.
 

„Es kommt mir einfach vor, als würdest du mich manchmal belächeln und von oben herab betrachten. Dein ganze Familie.“
 

Das hatte er gesagt.

Ein unangenehmer Schauer erfasste Michael. Ein Unbehagen, welches er nicht in der Lage war abzuschütteln. Und erneut hallte es durch seinen Kopf: Tim hatte Recht. Erschrocken setzte er sich auf, realisierte erst jetzt, wie herblassend er sich gegenüber Sebastian verhalten hatte. Wie blind er am Tisch gewesen war, dass er ihn sogar getreten hatte!
 

Und dann legte er sich wütend wieder hin. Sebastian war auch nicht ganz ohne. Fast schon egoistisch könnte man sagen. Nannte ihn und seine Familie spießig und verachtete Vorurteile, trat jedoch jedem mit eben diesen entgegen. Oder etwa nicht? Er hätte manches eben einfach runterschlucken können. Manchmal kam es ihm vor, dass Sebastian plante ihn komplett zu verändern. Ohne sich dabei großartig zu verändern. Das klang nicht unbedingt nach Kompromiss…
 

Gott verdammt, der Junge brachte ihn durcheinander!

Wie sollte das nur weiter gehen?

Sollte es überhaupt weiter gehen…?
 

Michael dachte an diverse Szenen, die er jetzt schon mit Sebastian erlebt hatte. Die peinliche Szene im Pub, das erste Mal Händchen halten, die Filme, die sie sich angesehen hatte, diese leuchtenden Augen des Jüngeren, die Michael so faszinierten und diese Harmonie, die sie in den wenigen Tagen schon erlebt hatten. Er hatte ihre Beziehung erst kürzlich offiziell gemacht. Mit Freude. Er war bereit gewesen, sein neues Leben durchzuziehen und sein altes komplett hinter sich zu lassen.
 

Dieses Gefühl, ein verliebter Teenie zu sein, klopfte an die Tür seines Herzens. Doch die ängstlichen und wütenden Gedanken, versuchten es wieder zu verdrängen. Michael war hin- und hergerissen.
 

Sebastian?

Allein sein?

Seine Familie?

Sebastian?

Alleine sein?
 

Harmonie?
 

SEBASTIAN/JADE
 

Er schaffte es die Wohnungstür aufzuschließen. Nach fünf Versuchen. Ihm war verdammt schwindelig. Die Stimmung im Pub hatte sich gebessert. Dirk hatte aufgehört dumme Fragen zu stellen und Rolf und Max, zwei weitere Freunde, waren auch noch aufgetaucht. Und hatten einige Runden spendiert, als Jade ihnen sein Leid geklagt hatte. Max hatte ihm sogar angeboten ihn zu trösten. Doch, naja, dazu hatte der Schwarzhaarige wirklich keine Lust verspürt… Vor allem… Offiziell hatten sie ja noch nicht Schluss gemacht…
 

Er fühlte sein Herz einen erneuten, unangenehmen Sprung machen, als er an ein potenzielles Ende dachte. Michael hatte sich noch immer nicht gemeldet. Und ihm fehlte einfach der Mumm den Blonden anzurufen. Wahrscheinlich weil er nicht hören wollte, dass es aus war.
 

War es jetzt aus, oder nicht?!
 

Sein Schädel dröhnte und er stolperte, als er das Licht im Flur anknipste. „Kacke“, murmelte er, als er sich an der Wand abstützte und sein Zimmer erreichen wollte. Abrupt blieb er dann doch stehen. Torsten stand vor ihm und musterte ihn.
 

„Alles klar, Mann?“, fragte der Rothaarige.
 

„Hm“, antwortete Jade und versuchte sich an Torsten vorbeizudrängeln, was bei der Enge des Flures und seines momentanen Zustandes nicht leicht war, doch sein Mitbewohner ging zur Seite und ließ ihn passieren. Er folgte dem Schwarzhaarigen in sein Zimmer und als dieser sich aufs Bett fallen ließ, setzte Torsten sich auf seinen Schreibtischstuhl und starrte ihn weiterhin an, als würde er auf ein Wort von dem Jüngeren warten.
 

„Was ist?“, raunte der Schwarzhaarige schließlich, seine Augen geschlossen, denn nur so konnte er die Schwindeligkeit etwas besänftigen.
 

„Tut mir Leid“, kam es von Torsten.
 

„Was?“
 

„Es tut mir Leid, was ich dir an den Kopf geschmissen hab“, erklärte er seufzend. Der Stuhl quietschte ein wenig, als der Rothaarige auf ihm hin und herrutschte. „Ich bin irgendwie ausgerastet.“
 

„Allerdings…“, murmelte Jade.
 

„Jedenfalls… hab ich keinen Bock, dass das jetzt so zwischen uns weiter läuft… Ich glaube… Ich bin mir halt so unsicher bei der Sache mit Jana, weil sie alles so langsam angehen will und ich schon so starke Gefühle für sie habe. Und das macht mir eben auch Angst, weil ich mich plötzlich für ne Frau entschieden habe… Aber eben auch Männer toll finde. Ich glaub einfach, ich hab meine Gefühle für Männer im Allgemeinen auf dich projiziert, weißt du, was ich meine?“, fuhr er fort.
 

Jade gähnte. „Ich glaube… ich glaube ich weiß was du meinst. Männer sind ja auch viel toller als Frauen“, entgegnete Jade ein wenig grinsend. Torsten lachte.
 

„Ich freu mich auch für dich und Michael“, sagte er dann sanft. Doch Jade lachte bitter auf.
 

„Du bist… noch nicht auf aktuellem Stand, mein Lieber…“, brachte er heraus und gähnte erneut laut. Langsam driftete er in Richtung Traumwelt.
 

„Was? Was ist passiert?“, erkundigte Torsten sich, doch da schlief sein Mitbewohner bereits.
 

MICHAEL
 

Erneut starrte er auf den Applebildschirm. Freitag. Der fünfte Tag ohne ein Wort von Sebastian. Der Blonde wirkte träge, er war müde, der Schlaf hatte auf sich warten lassen. Abermals. Die Konferenz hatte er gerade so ertragen können. Das freudige Geplappere Florians auch. Auch den Smalltalk mit Sibylle. Und auch die Telefonate mit einigen Autoren und dem Verlag. Doch die langsam vor sich hintickende Uhr ging ihm gehörig auf die Nerven.
 

Er ertappte sich, wie er wieder auf sein großes Handydisplay blickte. Michael schnaubte. Er könnte ja auch einfach anrufen.
 

Ja, und dann?
 

Er war sich noch immer nicht sicher, was er fühlte. Geschweige denn, was er wollte. Ein ewiges Hin- und Her. Ein Wechselbad der Gefühle. Seitdem er mit Sebastian zum ersten Mal geschlafen hatte… Wieder tauchte das lächelnde Gesicht des Schwarzhaarigen vor ihm auf. Erneut erklang diese wunderschöne Stimme in seinem Kopf. Er konnte Sebastian regelrecht seinen eigenen Namen aussprechen hören. „Michael…“
 

Er seufzte.

Wie sollte das nur weiter gehen?
 

Und dann tat er das einzige, was ihm in diesem Moment, als Traurigkeit und Wut aufeinanderprallten, einfiel. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Schwester.
 

„Speier?“, ging sie ans Telefon.
 

„Ich bin’s“, sagte er knapp.
 

„Michael! Michael, es tut mir so Leid, das wollte ich nicht!“, kam es umgehend von ihr. Dem Blonden blieb kurz der Atem weg. Mit so einer schnellen Reaktion hatte er gar nicht gerechnet. Und vor allem nicht in diese Richtung. „Micha?“, hakte sie nach, als er noch immer nichts gesagt hatte.
 

„Bin noch dran“, murmelte er kurz und räusperte sich. Wieder einmal wusste er nicht so recht, was er eigentlich wollte. Oder doch?
 

„Ach Gott, Michael. Ich wollte mich bei dir entschuldigen, aber Markus sagte, ich solle warten, bis du dich bei mir meldest, ich bin echt froh, dass du anrufst. Ich bin so eine dumme Kuh“, fuhr sie mit benommener Stimme fort. „Ich habe als Gastgeberin versagt. Ich hätte Sebastian nicht so behandeln dürfen. Ich glaube… meine Mutterinstinkte sind mit mir durchgegangen. Überhaupt, das war eine Sache, die nicht bei Tisch hätte besprochen werden dürfen. Sebastian ist nicht zufällig bei dir in der Nähe? Ich würde mich unheimlich gern beim ihm entschuldigen…“
 

„Nein. Ich hab ihn seit fünf Tagen nicht mehr gesprochen“, entgegnete Michael kalt. Sabine schwieg.
 

„Ihr habt euch doch nicht… wegen der Geschichte gestritten, oder?“, fragte sie nach, doch eigentlich kannte sie die Antwort bereits. Michael erzählte ihr von dem Gespräch im Wagen, wie er Sebastian danach gesagt hatte nach Hause zu gehen. „Weißt du, er hat Recht. Ich hätte dir sagen sollen, die Klappe zu halten, oder?“, hakte er ehrlich nach. Sabine seufzte. Und dann antwortete sie: „Ja, das hättest du tun sollen. Und du hättest ihn vor allem nicht unterm Tisch treten sollen, wie eine Gouvernante.“
 

Michael seufzte und lehnte sich mit geschlossenen Augen in seinem Stuhl zurück.
 

„Weißt du, Sabine, ich glaube in manchen Punkten hatte Tim schon Recht“, sprach er mit milder und trauriger Stimme. „Ich verhalte mich schon manchmal wie ein unfassbarer Idiot, der denkt er stehe über allen anderen.“
 

„Liegt an der Familie“, bemerkte sie glucksend. Michael musste leicht grinsen.
 

„Micha“, setzte Sabine wieder an. „Wenn er dir etwas bedeutet, dann ist alles andere unwichtig. Und als du hier rein kamst, mit ihm, ich hab’s an deinen Augen gesehen. Der Junge tut dir gut. Auch wenn er ein wenig anders ist. Laura und Martin lieben ihn. Und auch Mama und Papa sagten, dass die ein frischer Wind gut tut. Und jetzt musst du dich eben fragen, was du willst. Als ich Markus kennengelernt habe, war ich auch hin- und hergerissen. Und wir hatten am Anfang auch viele Probleme, die scheinbar unüberbrückbar schienen. Davon habt ihr alle nichts mitbekommen. Aber ich hab mir immer wieder gesagt: „Ich mach’s einfach.“ Und schau wie weit Markus und ich gekommen sind. Er ist der einzige, der es so lange mit mir ausgehalten hat. Und weißt du was? Dasselbe sagt er auch von mir. Man kann sich arrangieren. Wenn man es nur will.“
 

Wenn man es nur will…
 

SEBASTIAN/JADE
 

„Alter, das ist echt Scheiße…“, murmelte Torsten, als sie am frühen Abend am Küchentisch saßen und Lasagne aßen. Jade zuckte mit den Schultern, nahm einen Schluck Wasser zu sich. Er hatte Torsten alles erzählt. Noch einmal sein Herz auszuschütten hatte gut getan. „Wir gehen heute weg“, beschloss der Rothaarige plötzlich. Jade seufzte.
 

„Ich hab auch keine Lust mehr mich die ganze Zeit wegen Michi volllaufen zu lassen. Auf der Arbeit kann ich mich deswegen schon kaum konzentrieren, echt“, meckerte er. Torsten rollte mit den Augen.
 

„Das ist kein normales Weggehen, du Honk!“, schimpfte er. „Du wirst jetzt dein Handy nehmen, Michael die Adresse des Clubs schicken und ihm ein Ultimatum stellen.“
 

„Was?“, Jade blickte seinen Mitbewohner ungläubig an. „Ultimatum?“, wiederholte er, als hätte er dieses Wort zum ersten Mal gehört.
 

„Ja, Ultimatum“, bestätigte Torsten. „Entweder er taucht in der Disko auf, so wie er es versprochen hatte, oder er bleibt für immer fern. So einfach ist das.“
 

„Das ist eben NICHT so einfach!“
 

„Aber nur, weil dir der Mut fehlt. Wenn du’s nicht tippst, dann klau ich dir dein Handy und tippe es selbst.“
 

Fünf Minuten später, war die Nachricht bereits gesendet. Und Jades Herz pochte in seiner Brust. Nein, auf eine Antwort zu warten wäre sinnlos. In der SMS stand klar und deutlich geschrieben: „Pink Bar, 23 Uhr – oder es ist aus.“ Der Schwarzhaarige seufzte. Es war erst 18 Uhr. Der Klub öffnete seine Pforten erst um in vier Stunden. Er brauchte eine Dusche, eine lange, heiße Dusche. Genau das.
 

Drei Stunden später waren sie bereits auf dem Weg in die Disko. Sie würden sich vorher noch mit Dirk und Max im Pub treffen, einen Pitcher teilen und dann zur Location zu Fuß gehen. Beide Einrichtungen lagen nahe beieinander. Und das war von Vorteil. Von Vorteil war auch, dass ihn seine Freunde gut ablenken konnten. Erneut spielte er gegen Dirk Dart – und verlor wieder. Mit Max quasselte er ausgiebig über das neue Placebo-Album, von welchen sie beide in den höchsten Tönen schwärmten. Und dann war es auch schon 22 Uhr.
 

Nur eine Viertelstunde später hatten sie bereits ihre Jacken an der Garderobe abgegeben. Um 22.30 Uhr, nach zwei großen Bieren und einem Shot Wodka, erkannten sie, dass der Klub immer voller wurde. Naja, wer wollte die Happy Hour nicht verpassen?
 

Jade wurde immer nervöser. Blickte fast jede einzelne Minute auf das Display seiner Uhr, schaute sich wie ein Wahnsinniger um.
 

„Beruhig dich, Häschen“, sprach Dirk ihm zu. „Wenn er nicht kommt, dann ist er ein Arschloch, dann weiß der gar nicht, was er an dir hat.“
 

„Mein Tröstangebot steht noch“, zwinkerte Max ihm zu, worauf Torsten die Augen verdrehte und Max spielerisch wegschubste.
 

Sie tanzten. Drei Minuten vergingen.

Jade ging auf Toilette. Zwei Minuten vergingen.

Er unterhielt sich mit Torsten über Brummer. Fünf Minuten vergingen.

Er tanzte mit Max. Vier Minuten vergingen.

Er leerte sein Bier. Eine Minute verging.
 

Es war kurz vor elf.

Es war elf.

Es war zehn Minuten nach elf.
 

Aufgebracht, mit schmerzvoll klopfendem Herzen sah er sich immer wieder um, blickte auf zu den weiten Treppen, die zurück zum Haupteingang führten. Doch zwischen all den Männern entdeckte er den Blonden nicht.
 

23.30 Uhr.
 

Er setzte sich auf den Barhocker. Das Tanzangebot seiner Freunde hatte er ausgeschlagen. Er wollte allein sein. Er bestellte ein weiteres, großes Bier. Einen weiteren Wodka. Er seufzte. Es war vorbei. Er hätte es wissen müssen. Michael war ein beschissenes, blödes ARSCHLOCH!
 

„Sebastian!“
 

Er sah auf.
 

Der blonde Mann kam mit hochrotem Kopf angerannt, blieb, laut atmend, vor ihm stehen.
 

„Ich konnte keinen Parkplatz finden und musste in der Tiefgarage hinter dem Hauptbahnhof parken“, brachte er keuchend heraus. Jade starrte ihn mit offenem Mund an. „Sorry“, murmelte er weiter. Seit fünf Tagen nun trafen ihre Blicke aufeinander.
 

„Und… Jetzt?“, fragte Jade.
 

Für einige Sekunden starrten sie sich an.
 

„Jetzt halte ich mein Versprechen“, entgegnete Michael und lächelte leicht. „Und entschuldige mich. Und morgen, morgen reden wir. Über uns. Wenn es noch ein uns geben sollte… Ich… Es kann funktionieren zwischen uns. Wenn wir es wollen.“
 

„Willst du denn?“, fragte Jade.
 

Und Michael nickte.
 

„Ja, das will ich. Willst du denn so einen Idioten wie mich ertragen?“
 

Langsam schlich sich ein Grinsen in Jades Gesicht. „Ja“, sagte er.

Kompromisse

MICHAEL
 

Langsam öffnete er die Augen. Leichtes Schnarchen ließ ihn grinsen und vollends erwachen. In seinen Armen lag Sebastian. Die schwarze Mähne kitzelte Michael ein wenig. Vorsichtig streckte er sich, ohne seinen Freund dabei wecken zu wollen. War das tatsächlich ein Muskelkater, den er verspürte? Beinahe musste er auflachen. Sie hatten gestern noch ordentlich das Tanzbein geschwungen. Michael hatte sich selbst überrascht. Normalerweise war er ein miserabler Tänzer, der an einem Abend vielleicht zu einem einzigen Lied etwas hin- und herwippte. Aber gestern, das war etwas völlig anderes gewesen. Es lag an Sebastian. An Sebastian und dessen Freunden, die ihn einfach mitgerissen hatten, ihn mit ihrer Laune angesteckt hatten.
 

Er hatte sich willkommen gefühlt. Auch wenn der Mitbewohner seines Partners ihm an Anfang noch skeptisch begutachtet hatte. Letztendlich hatte er ihm am Ende des Abends gesagt: „Michael, du bist OK.“ Das konnte man fast schon als Kompliment werten. Michael lächelte vor sich hin. Er blickte den in seinen Armen schlafenden, jungen Mann an. Und als er seinen Blick über den zum Teil aufgedeckten Körper wandern ließ, wurde er ganz rot. Schließlich musste er an ihren gestrigen „Versöhnungssex“ denken… Sebastian war so wild gewesen. Michael war sich sicher, später irgendwelche Kratzspuren an seinem Rücken und Armen zu finden. Nicht, dass er sich beschweren wollte. Dieser Anblick des völlig weggetretenen Mannes, der ihn gestern ins Nirvana geritten hatte, war wunderschön gewesen… Das konnte und wollte er nicht leugnen.
 

Jedenfalls wusste der Blonde nun, dass die Gerüchte, was Versöhnungssex anging, stimmten. Er war wild, intensiv und alles andere als normal. So wie Michaels gesamtes Leben. Und „nicht normal“ zu sein machte langsam irgendwie Spaß… Das sollte er sich wirklich eingestehen. Und seine Denkmuster umstrukturieren. Es war der einzige Weg endgültig mit seinem alten Leben abzuschließen. Und das wollte er. Das wusste er jetzt zu 100 Prozent.
 

Die Bilder der gestrigen Nacht wollten einfach nicht verschwinden und Michael musste peinlich benommen feststellen, dass sich immer mehr Blut in seiner südlichen Region sammelte. Sebastian regte sich plötzlich und schmiegte sich gähnend an den ebenfalls entblößten Körper Michaels.
 

„Du bist auch schon wieder wach…“, flüsterte der Jüngere und rieb sich ungeniert an dem Älteren, ließ seine Hand langsam zu der erregten Stelle wandern.
 

„Und du bist ein kleiner Nimmersatt“, entgegnete Michael lachend und zuckte zusammen, als Sebastians Finger über seinen Unterleib strichen. Im selben Moment hörte er den Bauch seines Freundes einen kläglichen Laut von sich geben. „Hunger?“, fragte er ihn amüsiert und der Jüngere grinste.
 

„Joa.“
 

„Soll ich Brötchen holen?“
 

„Aber es ist grad soooo schön hier im Bett“, murmelte Sebastian, rückte ein wenig nach oben und legte seine Lippen auf die des Älteren. Erneut zuckte Michael zusammen, als die Zunge seines Freundes seine Lippen umspielte und um Einlass bat. Intensiv küssten sie sich und rückten erst voneinander ab, als ihre Lungen sie dazu zwangen.
 

„Wenn das hier so weiter geht, dann macht der Bäcker zu“, ermahnte Michael ihn amüsiert und strich durch diese wunderschönen Haare.
 

„Och, Menno. Na los, dann geh schon“, kam es von Sebastian, der sich aufsetzte. Als Michael aufstand und sich fix etwas überzog, konnte er den musternden Blick des Jüngeren regelrecht spüren.
 

„Dein Hintern ist so sexy“, sagte Sebastian schmunzelnd. Michael grinste.
 

„Bis gleich, Süßer“, sagte er.
 

„Hey, soll ich schon mal den Tisch decken?“, fragte der Schwarzhaarige noch schnell.
 

„Wäre toll“, entgegnete Michael und schon lief er regelrecht zum Bäcker. Ganze zehn Minuten stand er in der Schlange. Doch das machte ihm nichts aus. Seine Gedanken kreisten die gesamte Zeit um Sebastian. Um Sebastian und ihn. Um seine neue Beziehung. Und er würde das durchziehen!
 

Er seufzte.
 

Sie mussten noch vieles klären… Ein wenig mulmig war ihm ja schon bei diesem Gedanken. Aber eine weitere Situation wie am letzten Wochenende wollte er nicht noch einmal erleben. Und Sebastian sicherlich auch nicht. Mit seiner gesamten Familie würde er auch noch mal im Privaten sprechen. Es war ja auch eine dumme Idee gewesen, den Wildfang direkt mitzuschleppen, ohne Vorwarnung – an beide Seiten. Und überhaupt. Er hatte ihn überfordert mit der gesamten Geschichte. Er hatte sich nicht fair verhalten. Und Einsicht war der erste Schritt zur Besserung, nicht wahr?
 

Die Wohnung roch nach Kaffee, als er sie betrat. Und der Tisch war in der Tat gedeckt. Sebastian hatte also alles gefunden. Wunderbar!
 

Wie auf Kommando umschlangen ihn plötzlich diese Arme und der Junge drückte ihm einen warmen, kleinen Kuss auf die Wange, lächelte und schnappte sich die gut gefüllte Brötchentüte.
 

„Oh, du hast ja auch zwei Croissants gekauft!“, rief er aus, als er den Inhalt der Tüte in das kleine Körbchen auf den Tisch auspackte.
 

Michael nickte. „Ich hatte gehofft du magst sie“, sagte er dann.
 

„Natürlich! Und übrigens danke, dass du Nutella gekauft hast“, antwortete Sebastian mit strahlenden Augen. „Die schmeckt besonders zu Croissants.“
 

„Ich will meins wie immer mit Marmelade essen“, verkündete Michael, als er und sein Freund sich setzten.
 

„Mit Nutella schmeckt es aber echt besser!“
 

„Ich bin nicht so der Nutella-Fan…“
 

„Vielleicht wirst du’s ja noch.“
 

„Nein, ich… Mal schauen“, sagte Michael und lächelte. „Ich denke über Veränderungen, sollten wir heute ganz dringend sprechen“, fügte er hinzu, als er das erste krosse Brötchen aufschnitt.
 

„Ja, ich weiß…“, sagte Sebastian ruhig, auch wenn es etwas gestockt rüber kam.
 

Sie aßen in Ruhe zu Ende. Und dann setzten sie sich aufs Sofa. Im Hintergrund lief irgendein Oldie-Sender. Michael legte seine Hand schon fast besitzergreifend auf Sebastians Oberschenkel, der diese Berührung zu genießen schien. Er lächelte den Älteren an. Beide waren sich unsicher, wie sie anfangen sollten.
 

„Sag mal was, du bist doch hier der Weisere von uns beiden“, scherzte Sebastian und Michael grinste.
 

„Naja, meine letzen Vorgehensweisen haben eher davon gezeugt, dass ich ein Idiot bin. Und ich bin mir nicht so sicher, was Idioten mit Weisheit zu tun haben sollten“, entgegnete er und streichelte sanft über den hübschen Oberschenkel. Dann seufzte er. Sie mussten sich Klarheit verschaffen und über ihre Wünsche und Gedanken sprechen, wenn sie eine Zukunft haben wollten.
 

„Meine Reaktion bei und nach dem kläglichen Familienbesuch tut mir sehr Leid“, setzte er also an. Sebastian nickte stumm und blickte ihn aufmerksam an. „Erstens war es falsch, dich so schnell mitzunehmen, ohne dich vorher besser kennengelernt zu haben und mit meiner Familie gesprochen zu haben. Außerdem, war es falsch von mir dich so anzukeifen. Andererseits, habe ich das Gefühl bei dir, dass du, wie soll ich es sagen, mit deiner nicht gerade konservativen Art regelrecht versuchst überall anzuecken.“
 

Sebastian öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Michael stoppte ihn. „Nein, bitte, lass mich einfach erstmal ausreden und dann kannst du etwas dazu sagen“, sagte er und der Schwarzhaarige nickte. „Ich will meine Reaktion nicht verteidigen, dich zu treten war unter aller Sau. Ich war irgendwie in Panik geraten, so eine Situation hatte ich vorher noch nie mit meiner Familie erlebt. Und ich war und bin wohl noch zu sehr in meinen alten Denkmustern gefangen, die du, seitdem wir zusammen sind, ganz schön auf den Kopf gestellt hast…“
 

Die beiden grinsten.
 

„Jedenfalls kommt es mir so vor, als ob du es mit deinem „gegen Spießer-Dasein“ manchmal etwas übertreibst. Weißt du, du hasst es, wenn man auf dich irgendwie herabsieht, aber erstens, du schwörst es selbst herbei und zweitens, du gehst auf andere Leute auch voll beladen mit irgendwelchen Vorurteilen und Meinungen zu. So wie auf mich.“
 

Er blickte Sebastian an, der seufzte und leicht lächelte.
 

„Ich freue mich, dass du das mit dieser scheiß Familiengeschichte eingesehen hast“, sagte der Jüngere. „Ich hab dir gesagt: Ich hasse Familienfeiern, ich fühle mich immer so eingeengt, und dann musste ich mich auch noch so halbschick anziehen. Das ist nicht meins, wenn ich mir bei so was nicht zu 100 Prozent sicher bin, dann engen mich solche Klamotten noch weiter ein, weißt du? Wahrscheinlich hast du Recht mit all dem, was du eben gesagt hast… Du kannst aber auch nicht bestreiten, dass du eben doch ein wenig in dieser Spießerrolle gefangen bist. Du hast eben was von Denkmustern gesagt. Und ich finde, da hast du Recht. Manchmal kommst du echt gequält rüber, als würdest du dir selbst irgendwelche Regeln auferlegen, die du nicht magst. Aber irgendwie denkst du, dass du sie trotzdem befolgen musst. Macht das Sinn, was ich gerade sage?“, fragte er lachend.
 

Michael nickte lächelnd mit dem Kopf. Das machte schon so ziemlich Sinn…
 

„Wir sind halt eben schon grundverschieden“, sagte der Blonde. „In manchen Dingen…“
 

„Ja, aber irgendwie auch nicht“, fiel Sebastian ihm umgehend ins Wort. „Weil, ich kann echt Spaß mit dir haben. Und wir essen gern dasselbe, und wir lesen beide gern und wir gucken gern Filme und…“
 

Michael lachte und drückte einem leicht verdutzten Sebastian einen Kuss auf. „Du musst das nicht alles so verteidigen, mir ist schon klar, dass wir auch Gemeinsamkeiten besitzen und eine schöne Zeit miteinander haben können, sonst würden wir doch wohl nicht hier sitzen und über unsere Zukunft sprechen, oder?“, sagte er und lächelte den Schwarzhaarigen an.
 

„Da hast du wohl Recht…“, willigte dieser erfreut ein. Dann holte er Luft und fragte: „Wie siehst du unsere Zukunft denn. Also, ich meine, was erwartest du von mir?“
 

Michael lehnte sich zurück. Ja, was erwartete er? Wie konnte man das in Worte fassen?
 

„Ich weiß, dass du anders bist als alle Männer, mit denen ich vorher zusammen war“, setzte er an und Sebastian grinste.
 

„Bin halt was Besonderes“, bemerkte er und brachte den Blonden zum Glucksen.
 

„Da hast du Recht, Süßer“, sagte er und wurde leicht nachdenklich. „Manchmal bist du mir noch zu wild und ich hab Angst, dass du unsere Beziehung zu sehr nach Außen tragen könntest.“
 

„Du meinst die ganzen Sachen mit dem Küssen in der Öffentlichkeit und so?“
 

„Ja, genau das meine ich. Ich glaube, da habe ich dir meinen Standpunkt schon vermittelt. Ich bin eben nicht der Typ für „heiße Nummern“ in der öffentlichen Toilette oder so… Das ist mir unangenehm. Ich dränge mich nicht gern auf. Außerdem will ich, dass diese Dinge nur zwischen uns beiden bleiben, damit sie etwas Besonderes sind, verstehst du, was ich damit meine?“
 

„Ja, ist ja auch schon klar. Ich bin jetzt aber auch nicht der Typ, der unbedingt jedem von seinen Bettgeschichten erzählt. Nicht in einer festen Beziehung, so darfst du mich dann auch nicht sehen.“, entgegnete Sebastian.
 

„OK, das freut mich zu hören.“ Michael lächelte.
 

„Aber ich muss jetzt nirgendwo so tun, als wären wir NICHT zusammen, oder???“
 

„Nein, das habe ich dir doch schon gesagt. Ich will unsere Beziehung nicht geheim halten.“
 

„Das ist gut, ich will nämlich doch ein wenig mit dir angeben. Aber im angemessenen Maße“, sagte Sebastian grinsend.
 

„Mit mir angeben? Das höre ich doch gern“, entgegnete Michael und streichelte über Sebastians Nacken.
 

„Wenn wir zu deiner Familie fahren, muss ich mich dann immer irgendwie fein anziehen?“ fragte der Schwarzhaarige plötzlich.
 

„Äh, nein. Nein, nein wirklich nicht. Ich weiß, es ist schwer nach diesem Event zu glauben, dass sie eigentlich OK sind. Aber Sabine wollte sich letztens sogar persönlich bei dir entschuldigen, als ich sie von der Arbeit angerufen habe. Und sie hat mir den Mut zugesprochen, uns beiden noch eine Chance zu geben.“
 

„Was, echt??“
 

„Ja, und ich bin auch froh, dass du meiner Familie scheinbar noch eine Chance geben willst…“
 

Sebastian zuckte mit den Schultern. „Warum nicht. Wenn’s schon mit meiner nicht klappt… Hab ich dir das überhaupt erzählt? Weder meine Eltern, noch mein Bruder haben mir zum Geburtstag gratuliert.“
 

Michael erstarrte kurz. „Was?“, brachte er schließlich raus und starrte seinen Freund ungläubig an. Der Schwarzhaarige schaute zu Boden. Doch dann zuckte er mit den Schultern, lächelte Michael an und sagte: „Ist nicht so schlimm. Ich will jetzt nicht über die reden, ich will über uns sprechen. Damit das alles schnell vom Tisch ist und wir uns einen schönen Abend machen können.“
 

Und das taten sie dann auch. Eine gesamte Stunde sprachen sie über ihre Wünsche und Ängste und Gedanken. Eines stand fest: Sie wollten beide eine feste Bindung mit einer Zukunftsperspektive. Sebastian versprach Michael bei formalen Angelegenheiten angemessene Kleidung zu tragen und sich entsprechend zu benehmen – dank seiner Ausbildung im Hotel wusste er schließlich auch ganz genau, wie das ging. Michael musste Sebastian versprechen nicht immer den Stubenhocker zu mimen und sich in seinen Freundeskreis zu integrieren. Letzteres wollte der Schwarzhaarige auch tun, denn separate Freundeskreise konnte er nicht ausstehen. Überhaupt wollten sie mehr über sich miteinander sprechen, anstatt sich ins Tun zu stürzen. Und Michael versprach „lockerer“ zu werden…
 

„Ich ändere mich schließlich auch für dich“, sagte Sebastian. „Diese dämlichen Klamotten manchmal. Und das Zurückhalten, was sicherlich auch in Zukunft schwer sein wird. Aber ich hab’s ja versprochen. Aber du darfst das alles auch nicht so ansehen, als wenn nur du dich ändern müsstest…“, bemerkte er leicht schmollend.
 

„Das tue ich nicht“, versicherte Michael mit sanfter Stimme. Dass er das bis vor kurzem noch in etwas gesehen hatte, verschwieg er lieber und schimpfte im Innern mit sich selbst. „Was findest du jetzt eigentlich so toll an mir?“, wollte er lieber von Sebastian wissen. Der Jüngere blickte ihm in die Augen.
 

„Am Anfang fand ich halt dein Aussehen richtig heiß. Und, naja, selbst wenn ich halt nicht so rumlaufe und mich nicht gebe wie du, finde ich das schon irgendwie heiß…“, sagte der Schwarzhaarige seufzend. „Du wirkst so männlich mit deinem Auftreten und ich, äh, finde deine Autorität irgendwie total geil.“
 

„Autorität“, wiederholte Michael und lachte.
 

„Lach nicht!“, rief Sebastian aus, der jedoch selbst lächelte. „Und naja, du gehst halt auch so liebevoll mit mir um. Dass du Brötchen holst und so find ich halt total lieb und eben nicht selbstverständlich. Und du kannst so toll kochen!
 

„Danke“, entgegnete Michael.
 

„Und du?“, hakte der Jüngere nach. Michael hob die Augenbraue fragend. „Was findet du an mir toll?“
 

„Hmmm… Mittlerweile muss ich zugeben, dass du sehr attraktiv bist.“
 

„Also, dass dir DAS erst nach einige Zeit aufgefallen ist, tsk…“, feixte Sebastian.
 

„Naja, durch deine etwas infantile Art und das ganze Zwinkern war es mir nie so richtig möglich dich objektiv zu betrachten. Außerdem war ich ganz am Anfang noch vergeben, wenn ich dich daran erinnere. Und wenn ich mit jemandem zusammen bin, dann schaue ich mich nicht nach anderen Männern um.“
 

„Das ist SEHR gut!“, fiel Sebastian ihm ins Wort und legte seine Arme um den Nacken des Älteren, setzte sich auf ihn, sodass er ihm direkt in die Augen blicken konnte. „Und weiter?“, raunte er.
 

„Du hast so viel Energie, da bekomme ich gut etwas ab von. Und ich glaube, das habe ich in letzter Zeit vermisst. Ich brauche das. Ich brauche dich“, sagte Michael ruhig. Und er meinte es auch so. Ja, Sebastian hier auf seinem Schoß, sein Atem an seiner Wange, dieses niedliche Grinsen auf dem jungen Gesicht. So wollte er es haben und nicht anders. „Ich denke, wir können einfach voneinander lernen“, fügte er dem noch hinzu, bevor sich die Lippen des Schwarzhaarigen auf die seinigen legten.
 

„Ja, das denke ich auch“, sagte der Jüngere, als sie sich erneut anblickten.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Eigentlich befand er sich kaum noch bei sich zu Hause. Wenn er arbeitete, fuhr er eiligst nach Hause, um Brummer zu füttern und den Käfig sauber zu machen, neue Klamotten in die kleine Reisetasche zu packen und dann, so schnell es nur ging, wieder zu Michael zu fahren. Wegen des Kaninchens hatte er bereits ein sehr, sehr schlechtes Gewissen. Deswegen war er heute auch diesen Schritt gegangen und hatte Michael zu sich eingeladen.
 

Mit Torsten klappte es ja jetzt schon seit langem wieder. Auch wenn dieser immer noch traurig wegen Jana war. Irgendwie hatten sie sich einfach nicht wieder vertragen können, da das Mädchen scheinbar doch nicht mit seinen „Neigungen“ klarkam und eifersüchtiger war, als sie es sich wohl selbst jemals zugestanden hätte. Jade seufzte. Die beiden waren schon irgendwie ein schönes Pärchen gewesen.
 

Er hörte die Tür zuschlagen und umgehend lugte sein Mitbewohner auch schon ins Zimmer.
 

„Naaaaa“, grüßte er den Schwarzhaarigen. „Nervös?“, feixte er.
 

„Ich räume schon den ganzen Tag hier auf, ich hab echt mehr Sachen als Stauraum, fällt mir grad so auf.“ Die beiden lachten.
 

„Ich hab extra für dich heute noch mal das Bad geputzt“, verkündete der Rothaarige stolz und grinsend.
 

„Ja, ich hab’s schon gesehen und dachte, ich bin in der falschen Wohnung gelandet“, scherzte Jade.
 

„Wann kommt Michi denn?“
 

„In einer Stunde.“
 

„Soll ich dann gehen…?“
 

„Ne, ist schon OK. Wir werden eh wahrscheinlich nur einen Film gucken. Oder so. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob er hier schlafen wird, oder nicht. Jedenfalls habe ich ihn dazu verdonnert heute mit mir Pizza zu bestellen.“
 

„Ich hoffe doch die von Marco’s!“
 

„Na klar!“ Das war der beste Pizzaservice in der Nähe. Jade lief jetzt schon das Wasser im Mund zusammen, wenn er daran dachte. Wenn er an eine potenzielle Übernachtung Michaels mit Torsten im anderen Zimmer dachte, wurde ihm allerdings ein wenig übel. Dass er mit seinem Mitbewohner in der Kiste gelandet war, das hatte er Michi nicht erzählt. Und irgendwie war es besser, dass es dabei blieb. Wichtig war es nicht. Er war jetzt schon vier Monate mit dem Journalisten zusammen und was vorher war, das zählte einfach nicht.
 

Brummer versuchte an ihm hochzuklettern und als dies nicht funktionierte, fing er an, an der Hose des Schwarzhaarigen zu knabbern.
 

„Hey, lass das, du Monster!“, rief Jade lachend aus.
 

Er war schon gespannt, wie Michael auf seinen kleinen Liebling reagieren würde. Von dessen Existenz wusste er ja bereits. Schließlich wollte er erfahren, warum Jade ihn eigentlich immer „Hase“ nannte… Der Schwarzhaarige kicherte. Ja, die letzten Monate waren schön gewesen. Nicht immer unproblematisch, aber auch nicht mehr so katastrophal wie der Anfang.
 

Michael kam öfters mit in den Pub und in die Disko – auch wenn Jade ihn da manchmal echt zu treten musste. Nunja, er selbst wurde von Michael auch ins Theater und in irgendwelche neuen Restaurants getreten. Nicht, dass er sich beschwerte! Er fand es sogar richtig gut. Man konnte sein Leben als abwechslungsreich beschreiben. Auch wenn Michael ständig die Augen verdrehte, wenn Jade ne Runde Unreal Tournament an seinem PC zockte, oder sich irgendwelche dämlichen Soaps reinzog, einfach nur, um etwas zu lachen. Oder wenn um Mitternacht aufstand, um den Kühlschrank zu leeren.
 

Naja, Jade rollte dann die Augen, wenn Michael penibel seine Wäsche bügelte, oder ganz gebannt auf den Fernseher starrte, wenn 3Sat mal wieder irgendwelche dämlichen Konzerte von dämlichen Bands ausstrahlte, die nicht mal ansatzweise gut waren.
 

Schön waren allerdings die Abende, an denen sie gemeinsam im Bett lagen, wie ein altes Ehepaar, und ihre Bücher lasen. Ab und an den anderen über eine witzige Szene oder fiktive Begebenheit informierten und dann die Bücher ganz beiseite legte, um sich ihrer Leidenschaft hinzugeben… Zum Test waren sie schon nach einem Monat Beziehung gegangen. Und seitdem war ihr Sexleben noch… geiler. Jade musste tierisch grinsen, als er daran dachte, wie gut Michael ihn eigentlich mit der Zunge verwöhnen konnte. Hätte er gar nicht gedacht…
 

Es klingelte an der Tür. Und der Schwarzhaarige musste nicht einmal darüber nachdenken, wer dort wartete. Er begrüßte Michael mit einer herzlichen Umarmung und musterte ihn dann etwas verwundert.
 

„Kein Anzug, obwohl du direkt von der Arbeit kommst?“, fragte er ihn. Nicht, dass ihm der Anblick nicht gefallen würde. Michael trug eine hellblaue, gut sitzende Jeans und dazu ein tiefschwarzes, simples T-Shirt, welches seine Haare und Augen noch einmal zur Geltung brachte. Der Journalist grinste.
 

„Wir sind ja nicht die FAZ, nech?“, antwortete er keck und ließ seinen Blick den Flur streifen. „War wirklich nicht einfach einen Parkplatz zu finden“, fuhr er fort. „Soll ich die Schuhe ausziehen?“
 

„Ne, passt schon. Wir sind ja hier nicht in nem Palast, nech? Soll ich dich mal rumführen?“
 

„Gern.“
 

Sie begrüßten Torsten, der sich irgendeine Boulevard-Sendung ansah, inspizierten die kleine Küche und das kleine Bad und traten dann endlich in Jades Zimmer ein. Michael trat beinahe auf das Kaninchen, welches erschrocken auf Jades Bett sprang.
 

„Um Himmels Willen! Was war denn das?“, brachte Michael lachend heraus.
 

Grinsend begab Jade sich zum Bett und hob Brummer auf.
 

„Der ist wirklich so groß wie ein Kater!“, brachte der Blonde lachend raus.
 

„Brummer, das ist Michael. Michael, das ist Brummer“, murmelte Jade als er dem Tier, welches aufgeregt mümmelte, durch das Fell strich.
 

„Fast so niedlich, wie du“, sagte der Blonde mit sanfter Stimme und machte sich ebenfalls daran, das Kaninchen zu streicheln. Jade kicherte.
 

Jetzt erst sah Michael sich in dem Zimmer um und musste grinsen. „Dieselbe Wandfarbe, wie bei uns im Schlafzimmer“, sagte er.
 

„Uns?“, Jade hob eine Augenbraue.
 

„Ach, sorry. Ich hab mich so dran gewöhnt dich bei mir in der Wohnung zu haben, dass ich immer ganz vergesse, dass wir eigentlich noch nicht zusammenwohnen“, sagte er. Jades Herz machte einen leichten Sprung. „Noch nicht zusammenwohnen…“ Wow, das hörte sich irgendwie gut an.
 

„Und, erinnert es dich an deine eigene WG?“, hakte der Jüngere nach.
 

„Ja, ein wenig. Vielleicht noch etwas chaotischer, als mein Zimmer damals…“
 

„Ich hab nicht genügen Platz, um meine ganzen Sachen unterzubringen…“
 

„Das ist nicht schlimm“, sagte Michael und küsste seinen Freund. Intensiv. Wahrscheinlich lagen sie eine halbe Stunde einfach nur auf dem kleinen Bett und streichelten sich, küssten sich, redeten in ruhigen Stimmen über irgendwelche Kleinigkeiten des Alltags. Und dann tauchte Brummer auf und beschnupperte Michael, der ihm dann mit Freude mit Karottenstückchen fütterte. Das war fast schon niedlich diesem Mann dabei zuzugucken. Das Kaninchen zog einfach jeden in seinen Bann.
 

Auch die Pizza schmeckte dem Blonden. Er gab es offen zu. Und auf dem PC schauten sie sich einen illegal erworbenen, gerade erst im Kino laufenden Film an. Und der war auch toll.
 

Eigentlich war alles toll. Wäre da nur nicht diese Kleinigkeit, die Jade mit sich herumtrug. Und jetzt, wo es dunkel um sie herum war und Michael an seiner Seite vor sich hindöste, musste er eben an diese denken. Und so etwas wie ein schlechtes Gewissen machte sich in seinem Innern breit.
 

Als er das letzte Mal bei Michi gewesen war und an dem PC seine Emails nachgeprüft hatte, war automatisch auch das Email-Programm seines Freundes angesprungen. Und als Jade, so blöd wie er war, in dem kleinen Pop-Up Fenster am unteren Bildschirmrand den Namen „Tim Gothner“ las und der Betreff der Nachricht „Entschuldigung“ lautete, hatte er natürlich darauf geklickt und natürlich eine nicht für ihn bestimmte Nachricht gelesen.
 

Der ungefähre Inhalt: Es tut mir Leid, ich war ein Idiot, können wir nicht Freunde sein und uns auf einen Kaffee treffen, um die Sache endlich richtig zu klären?
 

Er hätte es dabei belassen können und Michi sagen können, dass er aus Versehen drauf geklickt hatte. Aber natürlich war Jade so doof, dass er in seiner Panik die Email löschte. Als wäre sie nie dagewesen…
 

Gott, er war so ein Idiot. Er seufzte.
 

Michael gähnte. „Ist was?“, fragte er mit müder Stimme.
 

„Nein“, antwortete Jade und schloss die Augen. „Alles OK.“

Oder so.

Hoffentlich schrieb Tim nicht noch einmal!

Besuch

MICHAEL
 

Die Woche war stressig. Komischerweise war viel los in der Stadt. Etliche Improvisationstheateraufführungen, Freiluftkino, Open Air Konzerte und das jährliche Fest in seinem etwas autonomen Stadtteil, welches zu einer Art Tradition geworden war. Und die neuen Praktikanten mit den Rastazöpfen und seltsamen T-Shirts freuten sich riesig, als Michael ihnen vorschlug diesen Termin zu übernehmen. Und der Blonde wiederum war extrem zufrieden, solch begabte junge Leute als kostenlose Arbeitskräfte zu haben. Wobei er mit Florian längst beschlossen hatte, ihnen nach ihrem Praktikum die Freie Mitarbeit anzubieten.
 

So wie er es mit Anna getan hatte, die sich während ihrer Zeit beim „Fly“ wirklich gesteigert hatte. Michael hatte ihr zum Abschluss sogar ein Empfehlungsschreiben ausgestellt, denn das Mädchen wollte Journalistik studieren und der Chefredakteur konnte dieses Vorhaben natürlich nur unterstützen. Jetzt, als er an Annas letzten Tag hier dachte, musste er etwas dämlich grinsen.
 

Er hatte sie zu einem Kaffee eingeladen. In welchem Lokal er dies getan hatte, musste man erst gar nicht erklären. Natürlich war es niemand anderes als Sebastian, der den beiden ihre Getränke zubereitete and diesem Tag. Er zwinkerte Anna zu und schenkte Michael ein wunderschönes Lächeln. Und als der Blonde mit der Praktikantin am Tisch saß und ihr einige Tipps für die Bewerbung gegeben hatte und sie das koffeinhaltige Getränk auch schon zu gut wie zu Ende getrunken hatten, bemerkte Anna, während sie ihre Augen von dem Schwarzhaarigen am Tresen nicht nehmen konnte: „Ich hab mir vorgenommen den Typen an meinem letzten Tag hier zu fragen, ob er ein Bier mit mir trinken will.“
 

Entschlossen hatte sie den massiven Becher mit dem grünen Logo abgestellt und suchte offensichtlich nach dem begehrten Mut. Michael, dessen Herz in diesem Moment ein wenig schneller zu schlagen angefangen hatte, musste im nächsten Moment bereits wieder grinsen und sagte, zu seiner eigenen Überraschung: „Ich glaube nicht, dass es seinen fester Freund erfreuen würde.“
 

Er würde Annas hochgezogene Augenbrauen und ihre erstarrte Gestalt wohl nie vergessen, als sie ihn ansah und flüsternd fragte: „Der ist schwul?“
 

Sebastian war gerade an dem Tisch neben ihnen angekommen, um die zurückgelassenen Becher wegzuräumen, da trafen sich ihre Blicke. Michael lächelte ihm zu und sagt zu seinem Freund: „Stockschwul, nicht wahr, Sebastian?“ Und der Schwarzhaarige begriff sofort, um was es ging, setzte sich in Bewegung, strich durch das blonde Haar und platzierte einen sanften Kuss auf den Kopf des stattlichen Mannes.
 

„Ja, Hase“, sagte er noch grinsend und schaute Anna in die Augen, wonach er sich umgehend umdrehte und hinter dem Tresen verschwand. „Das hätte ich jetzt nicht gedacht“, war alles, was Anna dazu gesagt hatte.
 

Ja, an diesem Tag hatte Michael sich erneut selbst überrascht. Vielleicht hatte er sich auch einfach ein wenig verändert, was das Zusammensein mit einer neuen Person automatisch mit sich zog. Er schüttelte den Kopf leicht, als er das aufgestellte Foto von sich und Sebastian betrachtete, welches den Platz links neben seinem Bildschirm einnahm. Er hatte es erst vor drei Wochen dort aufgestellt. Und es hatte sich großartig aufgefühlt. Einige Kollegen hatten das Bild einen leicht verdutzten Blick gegeben, ansonsten hatte niemand einen Kommentar gewagt.
 

Als endlich ein leicht ruhiger Moment in der Redaktion auftrat, griff Michael zum Telefon und wählte die Nummer seiner Eltern.
 

„Zannert?“, ertönte die leicht heisere Stimme seines Vaters am anderen Ende des Telefons.
 

„Hier auch“, entgegnete Michael lächelnd.
 

„Mensch, Micha!“, rief der alte Mann. „Anne, der Junge ruft an!“, schrie er in den Raum hinein und der Journalist musste über diesen Enthusiasmus seines Herren fast ein wenig lachen. „Wie geht es dir? Sabine hat mir erzählt, dass ihr euch wieder vertragen habt, du und Sebastian? Wie geht es ihm denn? Alles Roger beim Kaffeekochen? Ihr seid jetzt auch schon ne Weile zusammen, oder nicht?“
 

„Nicht alles auf einmal, Papa“, bemerkte der Blonde grinsend. „Sebastian und ich sind jetzt fast fünf Monate zusammen und es läuft wirklich prima.“ Am anderen Ende der Leitung hörte man ein kurzes Rascheln.
 

„Ich hab dir doch gesagt, dass du schnell jemanden anderen finden wirst!“, rief seine Mutter ins Telefon. Im Hintergrund konnte man die Stimme seines Vaters hören, der ausrief: „Du kannst mit doch nicht einfach das Telefon klauen!“ Doch seine Frau ignorierte diesen Einwand gekonnt und sprach einfach weiter mit ihrem Sohn.
 

„Sag mal, Michael, habt ihr beiden denn nicht Lust am Sonntag zu uns zu kommen? Dein Vater wagt sich nicht zu fragen, deswegen tue ich es“, sagte sie und wieder konnte man die Stimme ihres Mannes leicht gedämpft wahrnehmen, der dieses Mal: „Das stimmt nicht!“, rief. Und ein weiteres Mal ignoriert wurde. „Da ist doch das Schützenfest von Rolfs Verein. Und du warst schon so lang nicht mehr da. Ich dachte, dass es vielleicht eine gute Gelegenheit wäre, Sebastian näher an unsere Familie zu bringen. Was meinst du? Ihr schlaft dann auch einfach hier und trinkt ein wenig mit den Bauern.“
 

Schützenfest. Wann war das letzte Mal, dass er einem solchen Zusammentreffen beigewohnt hatte? Er wusste es nicht mehr. Würde Sebastian „ja“ sagen? Seit dem ersten, katastrophalen Familienbesuch war viel Zeit vergangen und der Schwarzhaarige hatte selbst gesagt, er würde der Zannert-Family noch eine Chance geben. Oder war es noch zu früh?
 

Seinen Eltern sagte er, er würde ihnen bis morgen Bescheid geben. Und dann wählten seine Finger auch schon flink die Nummer seines Freundes. Doch schon vor dem ersten, potenziellen Klingeln, legte er den Hörer energisch auf. Nein, dies war keine Frage, die er mal eben über das Telefon stellen sollte. Er würde bis heute Abend warten. Schließlich waren es nur noch einige Stunden, die sie voneinander trennten.
 

Michael musste wieder einmal lächeln.
 

Sebastian hatte er längst einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben und wenn er nach Hause kam, fand er seinen Liebling eigentlich immer vor. Es fühlte sich beinahe so an, als würden sie schon seit einer Weile zusammenwohnen. Auch in seinem Schrank hatte Michael Platz gemacht, damit Sebastian sich einigermaßen einrichten konnte und nicht immer mit seiner Reisetasche unterwegs war.
 

Und auch heute, als der Journalist sein Reich betrat, hörte er bereits das Knattern der Tastatur und hörte den Schwarzhaarigen irgendwelche Sachen von sich geben. Wahrscheinlich spielte er wieder irgendein Spiel über das Internet… Als Michael ins das Arbeitszimmer lugte, bestätigte sich sein Verdacht.
 

„Hey, Süßer!“, rief er und schaffte es auf Anhieb die Aufmerksamkeit Sebastians zu bekommen, der umgehend aufsprang, seine Arme um ihn schlang und ihm einen intensiven Kuss aufdrückte.
 

„Nur noch bis zum nächsten Spawnpunkt, OK?“, fragte er hastig und saß auch schon wieder, seine Maus wild klickend, am Rechner.
 

„Äh, ja“, lautete Michaels Antwort. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn er jetzt einfach das Essen zubereiten würde. Schnell schlüpfte er ihn Hausklamotten – diese hatten sie letztens zusammen besorgt, denn Sebastian meinte, nur in einer Jogginghose könne man sich so richtig wohl fühlen – und schlenderte in die Küche. Als er den Rotwein im Kühlschrank entdeckte, sagte er einfach nichts und rettete ihn schnell. Sebastian hatte wirklich keine Ahnung von Wein… Aber es reichte schließlich, dass Michael selbst ein wenig davon wusste, oder nicht?
 

Nach einer kurzen Weile tauchte auch schon Sebastian auf und half ihm beim Tischdecken, beim Auftischen des Nudelgerichts. Er erzählte ein wenig von seinem „langweiligen Tag“, von den „langweiligen Kunden“ und den „langweiligen Gesprächen“ mit seinen heutigen Kollegen. Und dann fragte er Michael nach seinem Arbeitsverlauf. In dem Moment konnte der Blonde seine Frage nicht mehr zurückhalten.
 

„Meine Eltern haben uns für Sonntag zum Schützenfest meines Vaters eingeladen. Mit Übernachtung und all dem Schnickschnack. Soll ich zusagen? Oder möchtest du lieber mit solch einem Besuch noch warten?“, fragte er.
 

„Schützenfest?“, fragte der Schwarzhaarige mit leicht hochgezogener Augenbraue.
 

„Ja“, bestätigte Michael und grinste ein wenig.
 

„Aber nur, wenn du mit mir Bier aus einer Riesenschale trinkst, auf Ex!“, sagte er dann lachend.
 

„OK.“
 

Sebastian blinzelte. „Was? Du sagst OK?“, hakte er nach.
 

„Die eine Hand wäscht die andere“, bemerkte der Blonde grinsend.
 

„Darf ich dann auch ein Foto von dir machen, wenn du dich mit dem Bier bekleckerst?“
 

„Nein.“
 

„Darf ich ein Video von dir machen, wenn du lallst?“
 

„Nein.“
 

„Darf ich-?
 

„Sebastian.“
 

„OK, OK…“
 

Die beiden grinsten sich an und Michael fühlte sich, als wenn eine ganze Kolonie von Schmetterlingen das Innere seines Bauches verwüsten würde. Oder ihn glatt davontragen würde. Er ergriff Sebastians Hand und streichelte sie.
 

„Danke, Süßer“, sagte er leise und versank in diesen tiefdunklen Augen.
 

„Kein Problem“, kam es ebenso leise zurück.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Es war spät und sie lagen bereits im Bett. Michaels gleichmäßiger Atem machte ihn auch langsam müde. Er genoss die Wärme, die ihm der Körper seines Freundes spendete. Er fühlte die Arme des Älteren auf seiner Haut, sein Kopf ruhte auf dessen Schulter. Es war ein angenehmes Gefühl, er fühlte sich geborgen und glücklich. Als hätte er so etwas noch nie in seinem Leben verspürt. Und heute Abend hatte er seinen Freund noch glücklicher machen können. Michaels Augen hatten diesen unbeschreiblichen Glanz, als er diesem Familienbesuch zugestimmt hatte.
 

Und er selbst verspürte keinen einzigen, negativen Funken dabei. Nicht, wie es das letzte Mal gewesen war. Vielleicht freute er sich ja auch? Michaels Eltern schienen ja wirklich in Ordnung zu sein. Und sich auch tatsächlich für ihren Sohn zu freuen. Damit hatte Jade nicht gerechnet. Er grinste leicht.
 

Überhaupt machte ihn sein momentanes Leben mehr als glücklich. Und er wusste, dass das ganz allein an Michael lag, dem Mann seiner Träume. Mittlerweile hatte er sogar den Schlüssel zu seiner Wohnung bekommen. Mann, das fühlte sich so an, als würden sie zusammenwohnen. Und das war ein phänomenales Gefühl. Wenn er jetzt an seine einstige Angst, an sein Entsetzen dachte, als Mark ihn um diesen Schritt gebeten hatte, musste er den Kopf schütteln. Was ihn wohl damals davon abgehalten hatte?
 

Wahrscheinlich die Tatsache, dass Mark einfach nicht der Richtige war…
 

Mit einem letzten, leisen Seufzer entglitt er der Realität und wachte erst beim Klingeln des Weckers auf. Michael drückte ihm schnell einen Kuss auf die Wange, da er dieses Mal früher los musste. Das „Fly“ schien momentan im Stress zu ertrinken… Und auch bei Starbucks ging es heute nicht gerade ruhig zu. Der Kaffeedurst der Menschenmasse schien einfach nicht abzuklingen.
 

Er war mehr als froh, als er gegen 18 Uhr, nach einem Abstecher zu Brummer und Torsten und dem Supermarkt, Michaels Wohnungstür hinter sich zuschlagen hörte. Der Blonde selbst war noch nicht zu Hause. Und das war gut so. Schließlich wollte Jade heute mal den Koch spielen. Auch wenn sein Menü – selbstgemachte Pizza – nicht unbedingt als spektakulär bewertet werden konnte. Der Wille zählte! Und schließlich hatte er vorher noch nie den Teig selbst angerührt. Das war doch schon mal was!
 

Voller Eifer machte sich der Barista ans Werk. Als er gerade dabei war mit dem Mixer zu hantieren, hörte er im Hintergrund das Telefon klingeln. Er schreckte auf und verhedderte sich beinahe im Kabel des Mixgerätes. Einige glitschige Tropfen des Teigs bedeckten die Arbeitsfläche und wurden auf dem Boden verschmiert.
 

„Scheiße!“, fluchte Jade und rannte in den Flur, woher das nervende Klingeln kam. Vielleicht war es ja Michael? Doch der Schwarzhaarige schaffte es weder rechtzeitig zum Telefon zu rennen, noch lag er mit seiner Vermutung richtig. Als er zum Stehen kam, schaltete sich der AB an und der junge Mann hatte keine Ahnung, welche Taste er drücken sollte, um jetzt noch ran zu gehen. Der offensichtliche, grüne Knopf war es nicht. Als er eine angenehme Stimme hörte, die aufs Band sprach, erschrak er.
 

„Hallo Michael, ich bin’s, Tim. Ich… wollte einfach fragen, ob du meine Email bekommen hast? Ich, hm, würde gerne noch einmal mit dir sprechen. Naja, meldest du dich bei mir, Großer? Bis dann.“
 

Großer. Großer. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein, Michael noch mit einem Kosenamen anzusprechen?! Was sollte diese Mitleidstour überhaupt?! Worüber wollte er sprechen? Er war doch derjenige, der Michi hatte so beschissen sitzen lassen und jetzt kam er wieder angekrochen, oder was?!
 

Der Schrecken verwandelte sich binnen weniger Sekunden in regelrechte Wut. Jades Verstand verabschiedete sich gänzlich. Noch bevor er seinen eigenen Namen aussprechen hätte können, hatte er auf diesen kleinen, unscheinbaren Knopf gedrückt und es erschien so, als hätte niemals jemand angerufen
 

Und einige Sekunden nach dieser Tat, hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt.
 

Was hatte er sich dabei gedacht?!

Er hatte zuerst die Email gelöscht und jetzt sogar noch die AB-Nachricht!

Und dabei hätte genau diese die Geschichte mit der Email so schön überdecken können – dass Emails ab und an nicht ankamen passierte nun mal.

Aber dass aufs Band gesprochene Nachrichten einfach nicht mehr vorhanden waren…

Das größte Problem stellte nun die Möglichkeit eines Handyanrufes dar…

Wieso sollte Tim seinen Ex nicht aufs Handy anrufen?!

Er war so dumm… So unfassbar dumm… Und er müsste es Michael beichten…
 

Aber würde der Blonde ihn nicht umgehend vor die Tür setzen? Für dieses infantile Verhalten, überhaupt, für das Verschweigen und das Zerstören der Möglichkeit sich mit diesem Ex-Freund-Spasti auszusprechen?! Immerhin waren sie fünf Jahre zusammengewesen, sie hatten hier so lange zu zweit gewohnt und Michael hatte gedacht, er würde den Rest seines Lebens mit diesem Mann zu verbringen… Und dieser Mann war anders. Dieser Mann passte an die Seite Michaels. Dieser Mann war reifer und älter und besaß etwas mit Michael, was Jade nicht tat: eine gemeinsame Vergangenheit.
 

„Scheiße!“, fluchte er, als er sich in die Küche zurückschleppte und versuchte sein Ärger zu verdrängen, den Schweinkram zu beseitigen und die Pizza irgendwie schmackhaft zu gestalten. Auch wenn ihm persönlich der Appetit vergangen war.
 

Sein Herz machte einen unangenehmen Sprung, löste ein schmerzhaftes Stechen in seiner Brust aus, als Michael in seinem dunkel grauen Anzug auf ihn zutrat, ihm dieses bezaubernde Lächeln schenkte und ihm einen warmen und vorsichtigen Kuss auf die Nase hauchte.
 

„Na, mein Süßer, was hast du denn gezaubert?“, fragte er ihn, als er in die Küche starrte und den gedeckten Tisch begutachtete.
 

Nein, er konnte es ihm nicht sagen. Nicht, wenn diese Augen so leuchteten. Nicht, wenn ihm das Essen so gut schmeckte.
 

„Das ist wirklich niedlich von dir“, sagte er, als er das letzte, leicht verbrannte Stück Pizza aufaß und einen Schluck Wasser zu sich nahm. Jade lächelte leicht. Gott, er hasste dieses Gefühl, welches sich in ihm breit machte. Er war ein Arschloch. Ein eifersüchtiges, dummes Arschloch.
 

Auch als sie auf dem Sofa saßen und Michaels Küsse immer fordernder wurden, wollte sich dieses unangenehme Gefühl der Schuld und Last nicht verabschieden. Verdammt, und Michael war grad so unheimlich heiß…!
 

„Ist was, Süßer?“, flüsterte der Ältere und hielt mit seinen Bewegungen inne. Jade konnte ihn nicht ansehen, starrte auf den Bildschirm, während er Michaels Gewicht deutlich auf seinem Körper ruhend spüren konnte. Er seufzte.
 

„Ich bin irgendwie wohl zu müde für so was grad…“, murmelte er. Michael gab ihm einen leichten Kuss auf die Stirn und setzte sich auf.
 

„Das macht nichts. Wir sollten eh bald ins Bett gehen“, sagte er sanft.
 

Doch Jade war gar nicht müde. Und er lag noch stundenlang wach neben seinem Freund. Mit einem schlechten Gewissen. Welches die kommenden Tage auch nicht verschwand. Es schwächte vielleicht leicht ab, wurde in den Hintergrund gedrängt, denn schließlich durfte er den Besuch bei Michis Eltern nicht versauen…
 

MICHAEL
 

Es war immer wieder ein schönes Gefühl ins Elternhaus einzukehren und den Duft einzusaugen, der ihn an seine Kindheit erinnerte, durch das Gebäude zu streifen, welches abseits der Stadt lag. Fast zwei Stunden waren sie unterwegs gewesen. Doch es war eine angenehme Fahrt gewesen, die sie ins Grüne gebracht hatte. Und nun roch es nach Blumen und Heu und von Verkehr war nichts zu hören. Ja, es war eine gemütlich Stille, die sie umgab als sie auf der großen Terrasse des umgebauten Bauernhauses Kaffee tranken und etliche Sorten Kuchen probierten.
 

Sebastian sah fantastisch aus. Er trug eine etwas weitere, pechschwarze Hose in der sein knackiger Hintern dennoch zur Geltung kam und dazu ein enganliegendes, weißes T-Shirt. Er hatte neue, schwarz-weiße Sneaker an und seine Haare zu einem losen Zopf gebunden. Am liebsten hätte Michael sich sofort auf ihn gestürzt… Ja, der Junge schaffte es immer noch in völlig aus dem Konzept zu bringen!
 

„Oh Gott, ich liebe diesen Kuchen!“, sagte der Schwarzhaarige, nachdem er das wohl fünfte Stück davon verputzt hatte.
 

„Das freut mich, ist mein eigenes Käsekuchenrezept! Micha kann den mittlerweile auch ganz gut backen“, entgegnete seine Mutter strahlend.
 

„Das werde ich mir merken und sicherlich schamlos auszunutzen“, entgegnete Sebastian grinsend. Die beiden schienen sich wirklich gut zu verstehen. Sie redeten über Kaffeesorten und Kekse und Sebastian erzählte von den witzigsten Kombinationen, die seine Kunden bestellten.
 

Michaels Vater gesellte sich kurz dazu, präsentierte sich in seinem grünen Schützenaufzug und salutierte ihnen zum Abschied.
 

„Ich warte dann auf euch im Zelt, nech!“, sagte er frech und schon war er weg.
 

Und eine Stunde später war das gut besuchte Fest schon richtig gut im Gange. Der Aufzug dauerte nicht lang, jedenfalls kam es Michael nicht lang vor. Die Sonne strahlte, um ihn herum klatschen Menschen, Jung und Alt, und er hatte seinen rechten Arm um Sebastian gelegt, den linken um seine Mutter. Ab und an wurden sie mit etlichen, bunten Bon-Bons von den vorbeiziehen Wagen aus beworfen, aber das war auszuhalten und sogar ziemlich witzig.
 

„Gott, ich muss ich echt was saufen, sonst halte ich das nicht aus“, bemerkte Sebastian lachend als sie sich im gefüllten Zelt umsahen, in dem bereits eines der zahlreichen Blasorchester die Standardlieder spielte, zu denen Senioren und viele kleine Kinder tanzten. Es war stickig, laut und eigentlich kaum auszuhalten, wäre Michael nicht so unheimlich glücklich.
 

„Ich hole uns eine Runde Bier, Süßer! Und für dich ein Wasser, Mama?“, fragte er, als sie auf den von Rolf freigehaltenen Stühlen an dem langen Tisch Platz nahmen.
 

„Ich trinke auch ein Bier, sag mal, was denkst du denn bitte?!“, keifte sie ihn gespielt an und Sebastian musste die ganze Zeit über grinsen.
 

Wie viel Bier sie im Nachhinein tatsächlich getrunken hatte, wusste er nicht. Das Versprechen mit der Bierschale hatte er gehalten und sich dabei ziemlich eingesaut. Und hätte ihn das wahrscheinlich in der Vergangenheit gestört, so konnte er nun nur darüber lachen. Sie machten bei der Polonaise mit, sie aßen Zuckerwatte, sie hörten sich Geschichten über alte Zeiten an und Michael hätte schwören können, dass Sebastian diesen Tag genoss.
 

Als sie am Abend mit dem Taxi im Haus ankamen, musste er den Schwarzhaarigen, der wahrscheinlich noch mehr getrunken hatte als er selbst, unter die Dusche schleppen. Sebastian kicherte die ganze Zeit, während Michael ihn auszog.
 

„Willst du nicht mit, Hase?“, neckte er und rieb seinen entblößten Körper an dem des Älteren. „Hm?“ Der Alkohol erfüllte scheinbar seine Aufgabe, denn der Blonde konnte eigentlich nur dümmlich vor sich hingrinsen, als die Finger seines Freundes sich daran machten, die störende Kleidung aus dem Weg zu schaffen.
 

„Süßer… Wir können nicht… Unter der Dusche… Wir sind… Bei meinen Eltern…“, presste er zwischendurch heraus, in den Momenten, in denen Sebastians Lippen nicht auf den seinigen lagen und seine Zunge in ein wildes Spiel verwickelten.
 

„Oh doch…“, brachte der Schwarzhaarige kichernd heraus. „Wir können…“
 

Und sie konnten, wollten und taten es auch.
 

Und am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück, bei dem Sebastian und Rolf eigentlich nur Aspirin zu sich nahmen, meinte Michael ganz rot im Gesicht zu sein, denn er fragte sich, ob seine Eltern die Schreie seines Freundes wohl mitbekommen hatten… Doch sie sagten nichts. Lächelten nur und ermahnten die beiden sie schon bald wieder zu besuchen.
 

Als die beiden Männer im Auto saßen fragte Michael: „Hat es dir gefallen?“
 

Und Sebastian sah ihn lächelnd an und nickte.
 

SEBASTIAN/JADE
 

Es war wirklich die richtige Entscheidung gewesen auf dieses dämliche Schützenfest zu gehen und sich unter die besoffenen Senioren zu mischen. Michis Eltern waren perfekt! Sie waren witzig und offen und überaus sympathisch. So wie Michael sie auch beschrieben hatte. Er lächelte immer noch, als sie schon eine Stunde unterwegs waren. Gott sei Dank hatte er heute seinen freien Tag. Mit diesem dröhnenden Schädel hätte er wirklich nichts auf die Reihe bekommen!
 

Endlich waren sie da. Er brauchte dringend mehr Schlaf. Und etwas Warmes zu Essen.
 

„Kochst du uns gleich etwas, Hase?“, fragte er, während der Fahrstuhl sie nach oben beförderte.
 

„Klar. Wenn du mir assistierst“, antwortete Michael grinsend.
 

„Ich werd’s versuchen.“
 

Als sie sich der Haustür näherten, erkannten sie, dass dort jemand bereits auf sie wartete. Ein hochgewachsener Mann in einem hellen Anzug stand dort. Als er sie wahrnahm, drehte er sich um. Seine Augen blieben kurz an Jade haften. Und dann starrte er Michael an, mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck. Freude, Verwunderung, Angst, Überraschung, Trauer?
 

Michael blieb wie angewurzelt stehen. „Tim!“, brachte er heraus.
 

Oh, Scheiße!
 

„Was machst du denn hier?“, fragte der Blonde seinen Ex-Freund und ging ein wenig auf ihn zu. Nun war es Jade, der wie versteinert stehenblieb und die Szene aus dieser möglichen Distanz betrachtete. Er konnte alles genau hören.
 

„Hast du… Meine Email gar nicht bekommen? Ich hab dir vor einigen Tagen auch auf den AB gesprochen und versucht dich gestern über dein Handy zu erreichen“, sagte Tim und lächelte gequält. Michael blinzelte.
 

„Email? AB?“, wiederholte er leicht ungläubig.
 

„Ja… Hast du… Ich wollte mit dir reden und nicht… unbedingt unangemeldet auftauchen. Dafür ist es jetzt wohl zu spät.“
 

Stille trat ein und die beiden älteren Männer musterten sich eine Weile lang. Und dann drehte sich Michael ganz langsam herum und seine Augen, dieser kalte Blick legte sich auf Jade.
 

„Sebastian?“, fragte er. „Hast du… vielleicht…?“ Wow, Michael konnte einen wirklich wie ein strenger Lehrer anvisieren. Ein Lehrer, der alles wusste. Der ihn wie ein offenes Buch lesen konnte. Der Blonde lies die Schultern leicht sacken und trat einen Schritt auf seinen Freund zu. „Sebastian… Was bedeutet diese Stille?“, brachte er leicht bissig heraus.
 

„Es tut mir Leid! Das war dumm! Ich… Ich hab die Nachrichten gelöscht. Die Email aus Versehen und dann, naja, diese AB-Nachricht, ach, keine Ahnung. Ich hatte Angst oder so. Ich wollte es dir auch noch sagen, aber…“
 

Michael schüttelte den Kopf wie in Zeitlupe. „Ich fasse es nicht…“, murmelte er. „Ich fasse es nicht!“ Seine Stimme wurde lauter.
 

Jade konnte das Zittern, welches sich durch seinen gesamten Körper überkam, nicht mehr zurückhalten. Auch dieses fiese Stechen in seinem Herzen war nicht abzustellen.
 

„Michi, ich-“, setzte er an, doch der Blonde fiel ihm ins Wort.
 

„Wieso hast du die Nachrichten gelöscht, wie blöd kann man denn sein?!“, herrschte er ihn an. Jade hatte seinen Freund schon lange nicht mehr so wütend erlebt. Momentan erinnerte ihn die Situation an den Ausraster Michaels im Starbucks damals. Oder als er nach ihrer ersten Nacht aufgewacht war… Der Schwarzhaarige schluckte.
 

„Wie wäre es, wenn wir einfach reingehen und das alles ausdiskutieren?“, mischte Tim sich vorsichtig, mit sanfter Stimme ein und versuchte zu lächelnd. Doch Michael schnaubte nur, schien diese Bemerkung gar nicht wahrzunehmen.
 

„Hast du dir tatsächlich meine Emails durchgelesen?“, fuhr er Jade wieder an. „Sag mal, ich hab dir vertraut! Und dann mischst du dich so in meine Privatsphäre ein und dann sagst du es mir noch nicht einmal! Mein Gott! Sebastian!“
 

Jade war sich sicher, so laut hatte Michael noch nie gebrüllt. Und sie standen mitten im Treppenhaus.
 

„Micha, komm“, ertönte die ruhige Stimme Tims und er bedeutet seinem Ex-Freund die Haustür aufzuschließen. Das Herz des Baristas blieb beinahe stehen, als Michael ihm diesem vernichtenden, kalten und bösartigen Blick zuwarf und ihm dann den Rücken zukehrte, zu Tim marschierte…
 

Noch bevor der Blonde die Tür aufschließen konnte, rannte Jade bereits die Treppen herunter. So hastig, dass er gar nicht wahrnahm, dass er bereits in seinem weißen Golf saß und sich unfallfrei nach Hause kutschierte. Torsten war Gott sei Dank nicht anwesend und Brummer döste vor sich hin.
 

Mein Gott, er war so ein IDIOT!

Fuck!
 

Frustriert warf er sich auf sein Bett.

Er hatte versagt.

Durch eine dämliche Kleinigkeit.

Aber der Blick Michaels eben hatte alles gesagt, was es noch zu sagen gab.

Scher dich aus meinem Leben.

Ja, das hatte dieser Blick gesagt.
 

Der junge Mann vergrub sein Gesicht in dem Kissen und schluckte seine Tränen herunter.
 

Wieso hatte er nicht einfach direkt nach der Email den Mund aufgemacht und über seine Ängste gesprochen?! Micheal hatte doch selbst gesagt, dass sie über alles reden sollen. Alles! Und was machte er? Nur Bullshit. Er seufzte. Um die Tränen zurückzuhalten, war es jetzt eh zu spät, also ließ er sie einfach laufen und starrte sinnlos die Decke an.
 

Auch eine Stunde später verharrte er immer noch in dieser Position, als er die Wohnungstür hörte. Torsten war wieder da und Jades Tränen bereits vertrocknet. Nur noch seine geröteten Augen zeugten von seinem Weinen. Er erschrak leicht, als es plötzlich an seiner Tür klopfte.
 

„Nicht jetzt!“, presste er heraus und schloss die Augen. Doch natürlich wurde seine Zimmertür geöffnet. Er seufzte genervt und sprang auf.
 

„Torsten, du Wichser, du-“, rief er aus und kam nicht weiter, denn vor ihm stand gar nicht sein Mitbewohner, sondern sein Freund. „Michael, wie bist du denn… reingekommen?“, brachte er heraus und ließ sich kraftlos auf sein Bett nieder. Der Blonde nahm seine Augen nicht von ihm und schloss leise die Tür zu. Immer noch strafte er Jade mit diesem kalten Blick und der Schwarzhaarige hatte eine leise Vermutung, was gleich kommen würde…
 

„Torsten hat mich reingelassen“, erklärte Michael kalt und dann starrten sie sich fast eine ganze Minute wortlos an. Der Journalist seufzte. „Weißt du“, setzte er an. „Am liebsten würde ich dir so richtig eine Scheuern.“
 

War es die Verzweiflung, die Wut oder die Hilflosigkeit, die Jade wie eine Katze aufspringen ließ?
 

„Dann tu es doch!“, brüllte er und ignorierte die einzelnen Tränen, die über seine Wangen herunter liefen. „Verpass mir eine und dann sag mir einfach, dass ich mich aus deinem Leben verpissen soll. Na los!“
 

Michael starte ihn fassungslos an. Die Kälte seines Blickes hatte sich gänzlich verabschiedet, als wäre das Eis geschmolzen, als wäre nur noch eine kleine Pfütze übrig. Entschlossen ging er dann einen Schritt auf den Schwarzhaarigen zu, der instinktiv die Augen schloss und seinen Schlag ins Gesicht erwartete. Doch er kam nicht. An seiner Stelle schlangen sich zwei feste Arme um seinen Körper und drückten ihn an Michael. Die Hand des Blonden strich behutsam durch die schwarze Mähne und sein Mund war ganz nah an Jades Ohr.
 

„Du kleiner Idiot“, flüsterte der Ältere mit sanfter Stimme. „Verstehst du denn nicht, dass ich dich liebe?“
 

Jade erstarrte.

Was?

Michael ließ ihn nicht los.
 

„Du hattest Angst, dass ich zurück zu Tim gehe, das weiß ich. Aber Tim wollte die Sache nur bereinigen, sich entschuldigen. Mehr nicht. Er will nicht mit mir zusammen sein und ich nicht mit ihm. Weil ich dich liebe, Sebastian“, sagte er.
 

Sie verharrten in ihrer Umarmung.

Verschmolzen in einem intensiven Kuss.
 

„Ich dich auch.“
 


 

----------------------------------------> "WARNUNG": Morgen kommt der Epilog! Oder heute Abend! Oder Samstag xD Je nachdem, wie schnell ich ihn fertigbekomme. Muss noch für die letzte Klausur büffeln :C

Vielen Dank für alle Reviews bisher :) :) :) Und für all die Favos ^^ Und überhaupt fürs Lesen!

Ein Tag wie jeder andere (Epilog)

MICHAEL]/b]
 

Natürlich kamen die erbärmlich kurzen und in einem Deutsch, was Jugendliche der jetzigen Generation wohl als „Grundschuldeutsch“ bezeichnet hätten, geschriebenen Texte zu spät. Die nur bis zu 500 Wörter langen Beiträge über die neuen, „hippen“ Läden der Stadt waren Praktikantenarbeit. Und da die Redaktion des „Fly“ ein kostenloses Heft publizierte, welches mehr aus Werbung, als eigentlichem journalistischen Inhalt bestand, legten die Herausgeber natürlich auch Wert auf billige Arbeitskräfte. Auf junge Menschen, die jeglichen Mist umsonst mitmachen würden und ihre Semesterferien opferten, um das meistens vom Studium vorgesehene Praktikum zu absolvieren.
 

Die momentanen Praktikanten waren talentiert, engagiert und brachten einen angenehmen neuen Wind in die Redaktion. Karl, 22, und Martin, 20, waren schwul und hatten die erst vor kurzem beschlossene „Regenbogen“-Strecke im „Fly“ kurzerhand angefangen. Eine Rubrik, die sich über zehn Hefte mit Schwulenbars, empfehlenswerten, offenen Restaurants, Einrichtungen für Homosexuelle und Gay-Parties beschäftigte. Und zum ersten Mal verstand auch Michael, warum Sebastian das Heft so toll fand.
 

Als die erste Ausgabe kam und eine Schaumparty empfahl, schleppte Sebastian den meckernden Journalisten mit. Und Michael erlebte den wohl heißesten Tanz seines Lebens. Und als die zweite Ausgabe mit der besagten Rubrik erschien, und der Schwarzhaarige das Rezept für ein erotisches Gericht entdeckte – denn die Zutaten waren natürliche Aphrodisiaka -, erkannte der Junge wohl ebenfalls sein tief verstecktes Talent fürs Kochen. Und Michael erlebte Ekstase. Er konnte sich nicht beschweren. Weder über seine Arbeit, die Entwicklung des „Fly“ in den letzten zwei Jahren und vor allem nicht über seine Beziehung.
 

Michael blickte das alte Foto auf dem Schreibtisch an. So langsam müssten sie es wirklich erneuern. Ein Termin mit dem Fotografen stand Gott sei Dank bereits fest. Als er auf die Uhr linste, bevor er sich daran machte, die Pressemitteilungen durchzugehen, lächelte er leicht. Es war beinahe Mittag. Und heute waren sie verabredet zum gemeinsamen Essen.
 

Seitdem Sebastian nicht mehr bei Starbucks arbeitete, waren Mittagspausen für Michael alles andere als spektakulär geworden. Und wenn er sich seinen Lieblingskaffee holte, der seit einiger Zeit ein Vanilla Latte mit Sojamilch und einem Spritzer Himbeersirup war, ergriff ihn sogar so etwas wie Sentimentalität, wenn er sich umsah und an Sebastians erste Anbaggerversuche dachte, an die Blicke, die sie später austauschten und das unbeschreiblich schöne Gefühl, den Schwarzhaarigen zu küssen, wenn er ihm den Kaffee reichte.
 

Jetzt nahm er jedoch einen Schluck des schwarzen Redaktionskaffees, den Martin, das musste er zugeben, ganz passabel auf die Reihe bekommen hatte. Dass sich ein so guter Autor wie der jetzige Praktikant tatsächlich noch auffordern ließ Kaffee zu kochen... Michael grinste, musste an seine eigene Praktikumszeiten denken, in denen er so unsicher war, sich nicht viel zutraute und jedes negative Wort des Chefredakteurs ihn an seiner Wahl kurz zweifeln ließ. Und nun saß er hier, in seinem Büro und war die wohl wichtigste Person den Magazins, die weise Worte an angehende Schreiberlinge erteilte.
 

Wohlig seufzend lehnte er sich in seinem Sessel zurück und starrte auf den Bildschirm, klickte sich durch die elektronisch gelieferten Pressemitteilungen und bemerkte erst gar nicht, wie sich jemand in den Raum schlich. Er erschrak sogar, als sich die beiden, mit schwarzem Stoff bedeckten Arme um ihn legten und ein leichter Kuss auf seinen Nacken gehaucht wurde.
 

„Süßer!“, rief er aus, als die Arme verschwanden und Michael sich in seinem Stuhl herumwirbelte, um in die dunklen Kristalle seines Freundes zu blicken, der ihn angrinste. Dem Blonden gefiel, was er sah. Sebastians Haare, die nun die Hälfte seines Rückens bedeckten, waren in einen festen, geflochtenen Zopf gebunden. Der silberne Stecker in der Augenbraue war wie fast jeden Tag nicht mehr an seinem Platz, der schwarze, gut gebügelte Anzug kontrastierte fast heftig mit der immer noch blassen Haut des Mannes, der mittlerweile 28 Jahre alt war. Die goldene Krawatte war nicht gebunden und auch die ersten drei Knöpfe des weißen Hemdes waren lose, entblößten etwas Haut. Überhaupt hatte Sebastian sein Hemd aus der Hose gezogen, wie er es immer in der Pause machte, oder wenn er sich auf dem Weg nach Hause befand. Das würde sich wohl nie ändern.
 

„Na, wie geht’s meinem fleißigem Hasen?“, fragte Sebastian ihn. Auch dieser Kosename hatte sich nicht verändert. Und Michael selbst hatte Brummer, das mittlerweile ziemlich alte aber immer noch energische Kaninchen, wirklich ins Herz geschlossen. Schließlich war Brummer seit 1,5 Jahren auch sein Haustier. Seit dem Tag, an dem Sebastian bei ihm eingezogen war und sich das Gästezimmer in das Zocker- und Kaninchenreich des Schwarzhaarigen verwandelt hatte...
 

Entschlossen zog Michael seinen Freund auf den Schoß und küsste ihn innig, denn die Reaktionen seiner Kollegen interessierten ihn wirklich nicht mehr. Und wenn sie über ihn reden wollten, dann sollten sie dies ruhig tun. Vor allem die neidischen Blicke der beiden Praktikanten empfand Michael als ziemlich belustigend. Und er war mächtig stolz, Sebastian an seiner Seite zu haben.
 

„Wie war dein Tag?“, fragte der Blonde seinen jüngeren Partner. Dieser zuckte mit den Schultern und fing an, ein wenig mit Michaels Haaren zu spielen.
 

„Viel los, irgendwie checken grad super viele Gäste ein. Wir sind total ausgebucht. Sind echt schon ein paar schräge Gestalten dabei. Geben aber viel Trinkgeld“, antwortete er dann und blickte dem Älteren tief in die Augen.
 

„Schräger als du?“, feixte Michael. Sebastian presste seine Lippen einfach auf die seines Freundes.
 

Der Schwarzhaarige arbeitet jetzt schon fast ein ganzes Jahr im Hotel „Frizzante“, ein junges Designer-Hotel, welches durch seine doch nicht ganz konventionelle Ausstattung, die sehr futuristisch und gleichzeitig gemütlich gehalten war, und seine zentrale Lage auffiel. Und natürlich die relativ günstigen Preise, die jedermann anzogen. Das „Fly“ hatte über die zukünftigen Übernachtungsmöglichkeit berichtet, schon lange vor der Eröffnung. Und Michael hatte frech gefragt, ob sie Sebastian nicht eine Chance geben wollten. Er konnte sich noch dran erinnern, wie aufgeregt der Schwarzhaarige gewesen war, als er zum Bewerbungsgespräch losging. Zurück kam er mit zwei gefüllten Starbucksbechern und einem breiten Grinsen. „Kein lecker Kaffee mehr von mir für dich. Sagen wir, nur noch im privaten Rahmen...“, hatte er damals gesagt. Und er war immer noch zufrieden.
 

„Wollen wir?“, fragte der Hotelfachmann ihn und leckte frech über Michaels Lippen, als dieser nicht antwortete. Der Blonde grinste daraufhin und packte Sebastian an dessen Zopf und zog ihn ein wenig unsanft in einen dominierenden Kuss, denn auch diese Rollenaufteilung hatte sich nicht wirklich verändert. Und weder Michael noch Sebastian hatten daran etwas auszusetzen.
 

„Wohin geht’s denn?“, hakte Michael nach, als er seine Jacke schnappte und seinem Freund aus der Redaktion folgte. Mittlerweile kannten Sebastian alle. Sybille winkte ihnen zu und Florian bekam das immer noch ab und an aufkommende Zwinkern Sebastians zu spüren. Der CvD grinste.
 

„Ich hab uns einen Tisch bei diesem neuen Italiener hier um die Ecke reserviert“, sagte Sebastian, als sie auf Michaels Wagen zugingen. Der Schwarzhaarige besaß immer noch diesen uralten Golf, der hin und wieder seinen Geist aufgab. Der Journalist hatte ihm schon die ganze Zeit ins Gewissen geredet, ein neues Auto zu besorgen, schließlich hatte der Junge eine feste Arbeitsstelle, war kreditwürdig und Michael selbst hätte ihm ohne zu Zögern auch noch etwas dazu gelegt. Aber sein Freund konnte sich einfach nicht von diesem weißen Opa von Auto trennen. Wenn sie zu zweit unterwegs waren, nahmen sie immer Michaels Lady, die zwar ebenfalls als Omi bezeichnet werden konnte, aber nicht nach einer aussah. Schließlich pflegte er sie wie ein Baby.
 

„Mhhmm, italienisch“, raunte Michael, als er den Wagen startete.
 

„Und ich lade dich ein“, fügte Sebastian hinzu. Der Blonde lächelte. Sie wechselten sich nun immer mit dem Bezahlen ein, wobei Michael immer darauf bestand, die wirklich teuren Restaurants zu bezahlen. Und mehr Miete. Und mehr der Einkäufe zu bezahlen. Im Grunde genommen, sah er das von ihm und Sebastian verdiente Geld eh als „ihr“ Geld an. „Du kannst nichts dagegen tun!“, ermahnte der Schwarzhaarige ihn, denn der Journalist lehnte solche Einladungen öfters ab und zückte sein eigenes Portemonnaie. Aber heute nicht.
 

„Ich lasse mich gern von dir ausführen, Süßer“, sagte er.
 

„Das will ich hoffen“, entgegnete Sebastian grinsend.
 

„Wie geht es eigentlich Torsten? Hast du nicht gestern Abend mit ihm telefoniert?“, fragte Michael plötzlich.
 

„Als du schon ruhig vor dich hingeträumt hast?“, bemerkte Sebastian frech. Der Blonde grinste. „Dem geht es wunderbar. Und Timo zieht nächste Woche irgendwann fest bei ihm ein.“
 

„Ach, also haben sie sich doch vertragen.“
 

„Nach dem Vortrag, den du Torsten gemacht hast, ist das kein Wunder, Hase. Und ich bin froh, dass du mit ihm geredet hast.“
 

Torsten, Sebastians Ex-Mitbewohner und immer noch enger Freund, der des Öfteren bei ihnen zu Gast war, wie auch alle anderen Männer, die er durch Sebastian kennengelernt hatte, hatte sich endlich „für eine Seite“ entschieden. Er hatte Timo, einen DJ, bei einem Konzert kennen und lieben gelernt. Der Anfang der beiden war nicht unbedingt leicht gewesen. Torsten hatte ab und zu mit irgendwelchen Damen geflirtet, was seinen Liebsten nicht gerade glücklich machte. Zudem war Timo neun Jahre älter... Als es nach einem Aus aussah, hatten Michael und Sebastian sich eingemischt. Und diese Einmischung schien Früchte zu tragen.
 

„Das freut mich für die beiden“, sagte er nun.
 

„Ja, mich auch!“, fügte Sebastian enthusiastisch hinzu. „Bei uns hat es ja auch geklappt, als Sabine sich mehr oder weniger eingemischt hatte. Ach! Bevor ich das vergesse, Biene hat uns eingeladen. Ihr Weiberabend wurde abgesagt und sie hat jetzt so viel Essen über, wir sollen als Mülleimer herhalten.“
 

„Mülleimer“, wiederholte der Blonde das Wort lachend. Ja, „Biene“ und Sebastian konnte man fast schon als gute Freunde beschreiben. Auch wenn sie es immer noch vorzogen, sich lauthals vor der gesamten Familie anzukeifen, wenn ihnen etwas nicht passte. Allerdings entschuldigten sie sich dann auch lauthals und fast schon lächerlich und theatralisch wirkend vor ihrem Publikum. Theoretisch könnte man diese Situationen auch als witzig beschreiben. Auch wenn die Idee Sebastians, Michaels Neffen Martin das Saufen beizubringen, nicht gerade als die Beste bezeichnet werden konnte. Markus hatte das mit Humor genommen, Sabine hätte den Schwarzhaarigen fast umgebracht - Wäre Michael nicht dazwischen gegangen und hätte die beiden Streithähne auseinander gedrückt. Sebastian hatte er dazu verdonnert ein großes Entschuldigungsdinner aufzutischen, als sie Michaels Schwester und deren Mann zu sich eingeladen hatten. Schließlich einigten sich die beiden: Martin würde sicherlich nicht mehr so schnell zum Bier greifen und letztendlich war dies als sehr positiv zu bewerten.
 

Überhaupt war momentan eigentlich alles als positiv zu bewerten.
 

Natürlich stritten Michael und Sebastian sich ab und an. Der Schwarzhaarige liebte es dann, Türen knallen zu lassen und zu brüllen und er schaffte es auch, Michael aus seiner Reserve zu locken. Aber im Durchschnitt gelang es ihnen, sich wie zwei Erwachsene an den Tisch zu setzen und ihre Differenzen einfach auszudiskutieren, bevor sich daraus überhaupt ein Problem entwickeln konnte.
 

Sebastian war ihm treu, und anders herum war es genauso. Michael konnte sich ein Leben ohne den Schwarzhaarigen gar nicht mehr vorstellen. Als Tim nach einem Jahr, nach diesem „überraschenden“ Besuch, erneut aufgetaucht war, musste der Blonde beinahe lachen, als sein Ex-Freund ihn fragte, ob sie es nicht erneut versuchen könnten. Wahrscheinlich war seinem Verflossenen diese Veränderung, die er nie bei ihm vorrufen hatte können, aufgefallen. Aber es war ganz genau Sebastian, der diese herbeigerufen hatte. Und es war auch nur Sebastian, den Michael an seiner Seite haben wollte. Und auch wenn sie erst drei Jahre zusammen waren fühlte es sich länger und vertrauter an, als es jemals mit Tim gewesen war. Vielleicht, weil sie es geschafft hatten auch den Alltag wunderschön zu gestalten...? Wer konnte das schon genau erklären.
 

Und wer verlangte überhaupt nach einer Erklärung?
 

„Süßer“, sagte Michael, als sie nach dem wunderbaren Essen wieder am Zentrum ankamen.
 

„Hm?“, kam es von dem Jüngeren, der sich mittlerweile wieder zugeknöpft hatte, seinen Anzug hergerichtet hatte.
 

„Wollen wir am Wochenende an die Nordsee?“
 

„Einfach so?“ Der Schwarzhaarige sah seinen Freund mit hochgezogener Braue von der Seite an.
 

„Ja, einfach so.“
 

„OK“, antwortete der strahlende Sebastian. „Das ist auch einer der Gründe, warum ich dich so lieb hab!“, fügte er grinsend hinzu und küsste Michaels Ohr.
 

„Du hast mich nur lieb?“, hakte der Blonde belustigt nach und zog einen Schmollmund.
 

„Nein, du Idiot“, entgegnete der Schwarzhaarige lachend. Dann blickte er seinen Freund an und strich behutsam über dessen Gesicht, als hätte er Angst, er könnte ihn zerbrechen, würde er zu viel Druck mit seinen Fingern ausüben. „Wow...“, sagte er dann. „du bist fast 40.“
 

„Na, vielen Dank für diese Erinnerung!“, schnaubte Michael. Sebastian grinste.
 

„Bitte gerne doch, die kannst du jeden Tag haben. Morgens, abends und ich kann dir sogar noch SMS schicken!“
 

Der Blonde blickte seinem Freund in die Augen. „Weißt du, ich kenne jemanden, der stark auf die 30 zugeht...“, sagte er dann grinsend und der Schwarzhaarige gab ihm einen spielerischen Klaps auf den Oberschenkel.
 

„Du Schwein!“, sagte er nicht ernstgemeint.
 

„Ich dachte, ich bin ein Hase?“, kam es von Michael.
 

„Dann bist du eben beides, eine Schweinshasenmischung.“
 

„Oh, das möchte ich mir eigentlich nicht so gern vorstellen...“ Die beiden grinsten.
 

„Ich muss jetzt echt weiter“, sagte Sebastian dann, als sie aus dem Wagen stiegen. Ein weiteres Mal ging er auf den Älteren zu. Sie küssten sich. Ganz sanft. Michael musste lächeln.
 

„Bis heute Abend, Süßer“, hauchte er ihm noch ins Ohr. Und dann sah er ihm nach, wie er zu seinem Golf ging. Er sah so erwachsen aus, und dennoch war er immer noch so wild und verspielt und spontan und liebevoll. Michael liebte diesen Mann, dem er hier gerade nachblickte. Ob Sebastian wohl auch so einen Anzug bei seiner Hochzeit tragen würde?
 

Da war es wieder.
 

Dieses Wort.
 

Dieser Gedanke.
 

Hochzeit.
 

Ob er wohl...?
 

Hach, sein Herz machte einen Sprung wie nie zu vor.
 

Ein Jahr würde er noch warten. Ja, genau. Und dann... Dann würde er ihn fragen.
 

Er liebte diesen Mann.
 

Wer hätte das gedacht...
 

ENDE
 

- - - - - - - -

Ein gaaaaaaaaaaaaanz großes Dankeschön an ALLE Leser, für all die Favoeinträge und für all die Kommentare :)



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Kommentare zu dieser Fanfic (86)
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Von:  z1ck3
2017-10-24T15:45:44+00:00 24.10.2017 17:45
Huhuhuhuhu ich kenne die Story schon hab sie vor eeeewigkeiten gelesen und jetzt noch Mal und ich liiiiebe sie immer noch hihihi
Von:  jyorie
2014-05-19T04:44:55+00:00 19.05.2014 06:44
Hey \( ‘з’)/

Klingt schön, wie sich die beiden im Lauf der Zeit verändert und
entwickelt haben. Ob Michael das wohl in einem Jahr macht und
ihn fragt mit dem Ring?

Hat mir gut gefallen die Geschichte und auch das ganze drumherum
um die beiden wie sie über Stock und Stein zusammen gefunden haben.

Danke für die schöne Reise.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2014-05-19T04:43:16+00:00 19.05.2014 06:43
Hey (ノ´ヮ´)ノ*:・゚✧

*schmunzelt* das war lustig, wie der Praktikantin
am letzten Tag die Kinnlade runter gefallen ist, weil
sie Sebastion wohl nicht auf ein Bier einladen kann,
weil sein Fester Freund etwas dagegen haben könnte.
*ggg*

Ein schönes Beispiel dafür, das Michael sich auch
verändert hat, aber ich denke das Jade einfach auch
so einnehmend ist, das er das bewirken kann und mit
seiner großen Klappte und dem jugendlichen Leichtsinn
er trotzig genug ist, auf etwas zu behaaren – eben anders
als Tim, der den Schwanz eingezogen hat und sie beide
aufgegeben.

Der Besuch bei den Eltern war auch schön, schade das
nach so einem gutgelaufenen Tag dann da ein Überraschungs-
gast vor der Tür hockt. War eigentlich klar, das Michael sich
verraten und verletzt fühl, wenn er hört, das Jade die Nachrichten
gelöscht hat und er hat es ja noch nicht mal erklärt, wie es passiert
ist und das es ausversehen war.

Aber durch die Art wie ihm Jade begegnet ist und das er durch die
Wut auf sich seine eigentliche Angst herausgebrüllt hat, als Michael
zu ihm heim kam, hat er wohl das ganze Ausmaß überblickt und der
Kleine ihm einfach nur noch leid getan. Schön das sie sich so schnell
wieder vertragen haben und du kein Chliffhänger aus der Szene ge-
macht hast.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2014-05-18T19:45:33+00:00 18.05.2014 21:45

Hey ヽ(^Д^)ノ

hi hi ... ein Muskelkater vom Tanzen^^ da müssen sie ja einige
Runden gedreht haben – aber sie waren sicher auch sehr glücklich,
das sich beide noch eine Chance gegeben haben ;-)

SO viel wie sie geredet haben sind sie einen guten Schritt voran
gekommen – ängste und bedenken auszusprechen ist ja nicht immer
leicht.

Nur das Michael 4 Monate gebraucht hat, um mal bei Jade in die Bude
zu schauen, das hat mich schon etwas gewundert. Schön das er Brummer
„Kaninchen“ mag^^

Ich hoffe das es mit der Sache um die Gelöschte E-Mail von Tim nix gibt.
Aber je nach E-Mail-system könnte sie ja noch auf dem Server liegen und
wenn Michael die E-Mails zwischen seinen Geräten nicht syncronisiert, hat er
sie eben wo anders empfangen... mal sehen, was es noch damit gibt, oder
ob Tim in nächster zeit mal vor der Tür steht.

CuCu Jyorie

Von:  jyorie
2014-05-18T19:44:54+00:00 18.05.2014 21:44
Hey (ノ◕ヮ◕)ノ*:・゚✧

vielleicht hat Dirk recht und Jade hätte Michael ordentlich angehen sollen
wegen der sache. Aber ich weiß auch, wie froh er war, das er und Michael
so weit gekommen sind und diesen Erfolg endlich nach so langer Zeit und
Durststrecke das Ziel erreicht zu haben, da schluckt mal wohl einiges. Ich
denke man kann ihm da keinen Vorwurf machen.

XD dafür haben es aber die anderen Gemerkt, das es nicht okay war. Irgenwie
süß, wie sich Michaels Schwester entschuldigt und auch mit ihrem Bruder
schimpft. – Das es in der Familie liegt, so zu sein kann ich mir bei der „Akademiker“
Famile auch gut vorstellen.

Oh weh, Jades Herz ist sicher in die Hose gerutscht, als die Freunde ihn zu
dem Ultimatum im Club gezwungen haben – aber es hat ja geklappt und was
ein Glück, das sich Jade nicht Schlag 11 die Kante gegeben hat :)

*lacht* „Willst du mit so einem Idioten zusammen sein?“ das hat Michael schön
gesagt, hoffentlich hält er sich auch daran, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen.

CuCu Jyorie
Von:  jyorie
2014-05-18T19:44:47+00:00 18.05.2014 21:44
Hey (((o(*゚▽゚*)o)))

*seufzt* Familenbesuche sind immer etwas ganz besonderes und schwieriges.
Am Anfang hatte es ja noch gut ausgesehen, aber als Michaels Schwester ihn
als Toy-Boy bezeichnet hat, sind wohl alle seine Bedenken wieder hoch gekocht.
und er hat sich da bestätigt gefühlt, das er sich für ihn schämen muss. Und das
dann ausgerechnet die pauperierenden Kinder ihn toll finden und er gemeinsame
Sache gegen die „Erwachsenen“ macht, war nicht so günstig.

*doppelseuftz* Michael und Jade kennen sich wohl noch nicht lange genug, das
er ihn wirklich verteidigen konnte, und zusätzlich hätte er den Zorn seiner Schwester
auf sich gezogen und Martin Argumente geliefert das kein Abi auch okay ist. Ich
verstehe seine Zwickmühle, aber auch wie verletzend es für Jade ist wenn der dem
man vertraut nicht einspringt.

So ein Desaster.

Die letzten Absätze waren niederschmetternd. Jade entschuldigt sich und Michael
sagt ihm, er weiß im Prinzip nicht ob es eine Zukunft hat mit ihnen. Oh man, und
dabei wollte er von anfang an nicht zum Familienbesuch mit. Erneut hat Familie eine
negative Assoziation.

CuCu Jyorie
Von:  jyorie
2014-05-18T19:44:40+00:00 18.05.2014 21:44
Hallo °˖✧◝(⁰▿⁰)◜✧˖°

*outsch* ja, ein wenig kann ich Jana verstehen, wenn Thorstens
Männergeschichten ohne Zuneigung sind, dann kann man damit
einigermaßen leben, aber wenn er jemand mag oder gut kennt, dann
wird es kritisch.

Stimmt. Jade und Michael hatten ja noch keine Zeit zu reden, wie sie
sich verhalten. Nach dem „nicht küssen in der Öffentlichkeit“ hätte Jade
etwas vorsichtiger sein können, wenn Michael mit Kollegen kommt, aber
die vorischt war da wohl vs. der Freude ihn wieder zu sehen und zu ihm
zu gehören, das er eben nicht nachgedacht hat. Und ich kann mir gut vorstellen,
wie es verletzt, wenn der andere so stocksteif ist.

Aber Florians Reaktion war super. Wenn man nicht verurteilt wird, ist es
leichter zu der eigenen Meinung und Wünschen zu stehen.
*schmunzelt* jetzt ist es offizell^^

Liebe Grüße, Jyorie
Von:  jyorie
2014-05-18T19:44:29+00:00 18.05.2014 21:44
Hallo ლ(́◉◞౪◟◉‵ლ)

okay, ich hätte gedacht die beiden gehen zu der kleinen Party,
eigentlich sollte es Michael doch positiv sehen, wenn Jade nicht
an Geld oder Materiellem interessiert ist und es noch einen Egopush
geben. Aber das kommt vielleicht noch – Michael lebt eben in einer
anderen Welt.

Die Badewanne würde mir auch gefallen^^ Und hinterher bei dem
Kondom-Blowjob dachte ich schon, das gleich die Stimmung kippt.
Aber die beiden bemühen sich ja momentan noch umeinander, da ist
einlenken wohl leichter. Dennoch hab ich Angst, das sie sich irgendwann
so sehr reiben, das es einen großen knall gibt. Und für normal hat Jade
ja auch seine große Klappe. Bei der Disco, wo er den Ex erwähnt hat,
dachte ich ebenfalls, gleich ist es aus. Aber diese Kleinigkeiten hören sich
übergangen an und nicht ausdiskutiert.

Ich fürchte wirklich um einen großen Krach.

Liebe Grüße, Jyorie
Von:  jyorie
2014-05-18T19:43:49+00:00 18.05.2014 21:43
Hallo (˘⌣˘)

*knuff* hätte ich gern gelesen, wie die beiden zusammen kochen,
ich stehe z.Z. auf so schmuse Kapitel :D

Endlich haben sie es gepackt und sind zusammen, ich hoffe das ihre
Gegensätze sich noch länger anziehen und das es nicht so bald kracht.

War süß, wie sich kuscheln, mit Schokolade und Weißwein? Ich kenne
eher Schokolade und Rotwein, aber so lange es schmeckt^^

Und oh nein – eine Überraschungsparty und Jade ist nicht da. Mal sehen
was er jetzt macht, ob Michael mit kommt und mit ihnen feiert oder ob
Jade bei ihm bleibt, aber ist schon ein blödes Gefühl, wenn man weiß es ist
etwas vorbereitet worden und man enttäuscht dann alle.

Da hätte Michael den ersten Versuch, wie andere auf sie beide reagieren.

Liebe Grüße, Jyorie
Von:  jyorie
2014-05-18T19:43:38+00:00 18.05.2014 21:43
Hallo (•‿•)

*outch* das war aber auch ein blöder Spruch, den dir Typen da abgelassen
haben, als sie die beiden beim Küssen beobachtet haben :( Männer halt, schade
das es Michael so unangenehm aufgestoßen ist. Aber ich fand es toll, das er
Jade dann zurück gezogen hat, als er den traurigen Blick gesehen hat.

Seine erklärung fand ich auch passend, das Sexualität privat Sache ist. *lacht*
und dann der fatale Satz der Jades Kopfkino angekurbelt hat – er macht doch sein
Vorspiel nicht in der Öffentlichkeit.

Das Date war wunderbar. Mir hat Jade wirklich leid getan, als Michael danach ins
grübeln gekommen ist, was andere sagen, das er so schnell einen neuen hat. und
einen jüngeren, und einen Ungebildeten. Kein wunder das da die Hemmschwelle
immer größer wird, sich wieder zu melden bei Jade.

Ich fand es toll, das er dann den Mut hatte zu ihm zu gehen – und es hat sich gelohnt.
Am besten war natürlich der Schluss des Kapitels nach dem Sex, kein Rausschmiss,
sonder ein danke mit selbst gekochtem essen *schmunzelt* der Satz kam so schön trocken^^

Liebe Grüße, Jyorie


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