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Süchtig nach Leben

Takeru Takaishi x Daisuke Motomiya
von

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Warum habe ich mich damals nicht einfach umgebracht?

Ich habe mir so sehr gewünscht, dass es endlich aufhören möge. Die Einsamkeit und Leere hatte sich mit einem Schlag eingestellt, als mir ohne Taichi mein gesamtes Leben entwich. Heute weiß ich, dass es nicht so schlimm war. Der Mensch neigt dazu, seine eigene Geschichte zu dramatisieren.

Aber ich fühlte mich damals so nutzlos, nachdem Tai mich verlassen hatte, weil er mich eigentlich nicht liebte. Er liebte nur das Bild meines Bruders, das er in mir zu finden glaubte. Ich war dumm, naiv, eine leichte Beute, die er sich problemlos genommen hat.

"Du hast dich verändert."

Wie oft habe ich diesen Satz in letzter Zeit gehört? Von Leuten, die sich einen Scheißdreck für mich interessieren. Wegen einer Sache, die jetzt schon über ein Jahr zurück liegt.

Warum lebe ich noch? Weil es diese Sache nicht wert war? Mittlerweile geht es nicht mehr nur um Tai und mich. Ich war schon vorher vom Weg abgekommen, mein Leben wollte bereits das Gleis verlassen, dessen Weichen meine Eltern sorgfältig für mich gestellt hatten. Ich habe das gleiche Problem, das viele mit sich herumschleppen: die Realität zu deutlich zu sehen.

Aber ich ändere nichts an meiner Situation oder meiner Einstellung. Das Einzige, was ich tun will, ist Schreiben. Vielleicht ist es lächerlich, dass ich jetzt schon wieder hier sitze, wie schon vor einem Jahr. Durch zu viel Nüchternheit und zu wenig Selbsterkenntnis kann ich darüber jedoch schon lange nicht mehr lachen.

Mittlerweile würde ich die Vergangenheit am liebsten auslöschen. All meine Handlungen erscheinen mir jetzt leichtfertig, voll falscher Selbstsicherheit. Und die Erinnerung an meinen Bruder ist genauso schmerzlich, sodass ich kaum weiß, woher dieser Schmerz kommt. Von meiner Liebe zu Yamato? Von meiner Eifersucht? Oder einfach nur, weil sein Jammertal tiefer ist als meines und er es trotzdem besser gemeistert hat?

Ich will meine Fehler vergessen.

Woran liegt es, dass die ersten Seiten in einem Notizbuch fast immer herausgerissen werden? Je jünger du bist, desto mehr Seiten beschreibst du, die es nicht wert sind, noch einmal gelesen zu werden. Je älter du bist, desto mehr Seiten reißt du eines Tages heraus.

Ich habe schon zu viele beschrieben und dennoch nicht aus meinen Fehlern gelernt.
 

Es ist bereits einige Monate her, dass ich mit dem konfrontiert wurde, was ich innerlich immer gefürchtet und verabscheut habe. Vielleicht wäre es besser gewesen, all das wäre nie geschehen. Aber vielleicht hätte es auch gar nichts geändert oder am Ende meine Auffassung der Situation noch schlimmer werden lassen.

Jedenfalls gab mir mein Vater an diesem Tag seinen Zweitschlüssel, weil er mit mir einige familienrechtliche Angelegenheiten besprechen wollte. Ich hatte sowieso nur noch ein Jahr Zeit bis zum Abschluss und meine Mutter hatte verlauten lassen, dass sie und mein Vater sich als Paar langsam wieder miteinander vertrugen. Ob sie erneut Eltern sein konnten, bezweifelte sie. Das war für mich der erste Fingerzeig zur Ausgangstür, aber ich nahm es mit Gelassenheit. Was hatte ich schon zu verlieren?

Mein Kopf war überfüllt mit der Last unterschiedlicher Gedanken, als ich die Wohnungstür lautlos hinter mir schloss. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand daheim sein würde, da mein Vater meinte erst später kommen zu können. Auf die Annahme, mein Bruder sei bei Tai zu Hause, hätte ich mich nicht verlassen sollen.

Reglos blieb ich im Flur stehen.

Das erste Geräusch jagte eine Gänsehaut meinen gesamten Körper entlang. Ich hatte es zu oft gehört, Tais unterdrücktes Stöhnen, doch selten war es so intensiv gewesen. Von Yamato hatte ich diese Laute allerdings noch nie vernommen.

In diesem Moment hätte ich mich umwenden und gehen sollen. Aber ich tat es nicht.

Ich löste mich aus meiner Erstarrung und ging den Flur entlang zum Zimmer meines Bruders, dessen Tür ein wenig geöffnet war. Weiter wagte ich mich nicht und blieb neben dem Rahmen stehen. Atemlos presste ich mich an die Wand in meinem Rücken, als versuchte ich in ihr zu verschwinden.

Taichi und Yamato sprachen manchmal leise miteinander, doch ich nahm es kaum wahr. Ihr Keuchen hatte eine seltsame Wirkung auf mich; ich wollte meine Ohren verschließen, es nicht mehr hören müssen, doch gleichzeitig zog mich ihre abartige Erregung auf selbstzerstörerische Weise an.

Ich hasste sie beide. Sie waren Teil einer Geschichte, die mehr war als mein gesamtes Leben. Mittlerweile war ich nur noch eine von Tais Nebenfiguren. Und dafür verachtete ich am meisten mich selbst.

Nach schier endloser Zeit ging ich vorsichtig in die Knie und spähte schließlich durch den Türspalt.

Mein Bruder lag nackt auf dem durchwühlten Bett, über ihm Taichi, dessen aufgeknöpftes Hemd von den Schultern gerutscht war. Kälte breitete sich in mir aus, ich merkte es kaum, während ich Tais drahtigen Körper betrachtete, der sich in einem besitzergreifenden Rhythmus bewegte. Yamato wirkte unter ihm so unbeschreiblich zerbrechlich. Hatte ich auch so gewirkt?

Der Gedanke fesselte mich mit Selbsterkenntnis. In diesem Moment fühlte ich mich zum ersten Mal, als sei ich aus Glas.

Als sei jeder Mensch ein fragiles Konstrukt aus Selbsthass und Angst.
 

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort stand oder wie ich schließlich aus der Wohnung kam.

Irgendwann fand ich mich in einer belebten Straße wieder, ließ mich von den fremden Körpern mitreißen, trieb zwischen unzähligen Menschen, die mich allenfalls als störend am Rande ihrer Wahrnehmung registrierten. Ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit sollte eigentlich schön sein, oder? Doch in diesem Moment war alles zu viel.

Der Tod würde jeden meiner Schreie ersticken, sodass ich mich in dieser Masse auflösen könnte. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte nicht sterben und will es auch jetzt nicht. Meine Erinnerungen waren zu heftig, sie lösten in mir die Sehnsucht aus, ein Teil von etwas sein zu wollen. Doch wovon? Was war dieses Etwas?

Ein einzelnes Leben ist soviel wert wie das Unkraut zwischen den Ritzen im Asphalt. Und trotzdem wollte ich es so. Als sei ich süchtig danach und als würde mich meine eigene Sucht krank machen.

Ich hasse Verlust. Und wenn ich alles verloren habe, dann bleibt mir am Ende noch mein Hass. Und meine Sehnsucht.
 

Ich versuchte diese Sehnsucht aufzufüllen, so wie das jeder Mensch tut. Darum schlief ich mit ein paar Mädchen.

An meiner Schule bin ich sehr beliebt. Vielleicht nicht so beliebt wie Daisuke, der allein durch sein Fußballtalent eine Menge Fans hat. Aber dennoch mögen viele meine hilfsbereite und freundliche Art. Ich hatte mittlerweile gelernt, das für mich auszunutzen.

Als mich das erste Mal nach der Trennung mit Tai ein Mädchen ansprach, das sich für mich interessierte, zögerte ich keinen Augenblick. Es war leicht, sie herumzukriegen. Ich merkte schnell, dass sie nicht unerfahren in Sachen Sex war. Und ich fragte mich schon lange nicht mehr, wer hier von wem benutzt wurde.

Meine Mutter quittierte alles mit Gleichgültigkeit. Sie hatte eine Wand des Stumpfsinns um sich herum aufgebaut, wenn es um mich ging. Ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie mich aufgegeben hatte, wusste sie doch selbst nicht, was ihr Sohn eigentlich suchte.

Darum kam ich anfangs fast jeden Tag mit einem neuen Mädchen nach Hause. Doch auch das gab mir keine Befriedigung und konnte die Leere, die in mir herrschte, nicht ausfüllen.
 

Dagegen füllte meine Mutter ihr Inneres mit etwas anderem auf. Eigentlich dachte ich, dass sie ohne Yamato und mich wieder mit meinem Vater glücklich werden konnte. Doch wahrscheinlich wollten wir alle einfach nur nicht allein sein.

In unserer Küche lagen mehrere Röhren mit Vitamintabletten, von denen ich mich größtenteils ernährte, neben dem Beruhigungstee, den meine Mutter immer trank und der meine Zunge im Mund taub werden ließ.

Wenn ich eine Kopfschmerztablette brauchte, hatte ich in unserem Küchenschrank die freie Auswahl. Meine Mutter stopfte die unterschiedlichsten Schmerzmittel in sich hinein, angefangen bei Ibuprofen über mindestens vier verschiedene Medikamente, die Paracetamol beinhalteten, manchmal vermengt mit Koffein, manchmal in einer 800mg-Konzentration. Medikamente, deren Namen ich kaum lesen, geschweige denn aussprechen konnte, mit Phosphat-hydrat-irgendwas oder die sich Monoanalgetikum nannten. Ich wusste, dass meine Mutter unter Migräne litt, dass sie Schwierigkeiten mit ihrem Kreislauf hatte. Noch dazu hatte sie Pillen gegen Schlafstörungen, Dragees gegen Übelkeit und Erbrechen und immer eine Hunderterpackung, auf der groß "angstlösend und stimmungsaufhellend" stand.

Dass Tabletten im Haus waren, schien wichtiger zu sein als normale Nahrungsmittel.

Meine Mutter gewöhnte sich langsam die Haushaltsführung von Yamato und meinem Vater an. Genauso wenig wie mein Bruder war ich nie ein großer Esser gewesen. Mittlerweile nervte es mich sogar regelrecht.

Vieles machte mich unruhig. Im Grunde war ich permanent nervös, wälzte mich nachts schlaflos in meinem Bett herum und wachte immer wieder panisch auf. Die Träume, die mir das eiskalte Grauen in meine Glieder trieben, hatte ich nach dem Aufwachen allerdings schon vergessen.

Vielleicht wollte ich mich nicht erinnern müssen.

"Du hast dich verändert." Diesen Satz, den ich nun so oft gehört habe, hätte ich auch meiner Mutter sagen können.
 

Dadurch, dass ich wieder mit Mädchen ausging, ließ Davis schließlich die Freundschaft zwischen uns erneut aufleben. Als er damals von Kari erfahren hatte, dass ich mit Taichi, seinem Idol, zusammen sein würde, waren seine ersten Reaktionen voller Unverständnis und Abscheu. Nach dem Ende dieser Beziehung tat Davis so, als wäre nie etwas geschehen.

Im neuen Schuljahr wurden wir derselben Klasse zugeteilt und verbrachten deshalb viel Zeit miteinander. Nichtsdestotrotz blieb unsere Freundschaft anfangs nur oberflächlich. Es war untypisch für Daisuke, dass er so wenig über sich erzählte und kaum aus sich herausging. Er schien seinen offenen Charakter nur noch zu spielen. Ich durchschaute das schnell, schließlich tat ich schon seit Jahren das Gleiche.

Mit der Zeit erkannte ich, dass er Probleme mit Hikari hatte. Ihr gemeinsames Kind, ein kleines Mädchen, war mittlerweile zur Welt gekommen. Ich stellte es mir grauenhaft vor, in diesem jungen Alter einen solchen Einschnitt in die eigene Unabhängigkeit akzeptieren zu müssen. Daisukes Leben war plötzlich auf eine brutale Weise festgelegt worden, und ich spürte, dass er darunter litt.

Er war nicht der Hellste, wenn es um schulische Angelegenheiten ging, nur Sport lag ihm ungemein. Doch nun, da er auch noch Vater sein musste, hatte er kaum Zeit zum Lernen. Seine Familie unterstütze ihn zwar, im Gegensatz zu den Yagamis, aber er wirkte permanent angespannt. Seine Konzentration verschlechterte sich, unterschwellige Aggressionen und ein für ihn ungewöhnlicher Spott schlichen sich in sein Verhalten. Das ihm eigene sonnige Gemüt wurde immer unehrlicher. Doch seine Umwelt schien es kaum zu bemerken.

Ich kann nur als Beobachter wiedergeben, was ich selbst zu sehen glaubte. Leider ist es wahr, dass die meisten nicht erkannten, wie zerrüttet Davis im Inneren aussah. Sein Verhalten konnte man durchaus als unehrlich bezeichnen, da er in Wirklichkeit nicht glücklich war. Er tat nur so, als sei er es. Aber vielleicht ist es so für ihn schon immer einfacher gewesen, um sich selbst einzureden, dass das Glück auch für ihn ein wenig die Arme öffnete.

Die Traurigkeit in seinem Blick, die Erschöpfung in seiner Stimme und die Schatten unter seinen Augen verrieten ihn jedoch.

Weil ich wusste, dass ich ihm genauso wenig wie jeder andere helfen konnte, verfielen wir in eine Art Selbstironie.

Wenn er wieder mal eine Nacht durchmachte, weil seine Tochter Fieber hatte, oder wenn er die ganze Zeit für eine anstehende Arbeit gelernt hatte, die er sowieso meist nachschreiben musste, dann warf er sich am nächsten Tag auf seinen Stuhl und konnte für eine Weile kein Wort mehr sprechen. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, ihm in solchen Momenten eine Koffeinkautabletten hinüber zu schieben.

Einmal sagte er daraufhin mit einem Lachen:

"Da hilft kein dämliches Halloo Wach. Ich brauche echt Speed."

Ich stimmte ihm in der gleichen saloppen Art zu:

"Oder gleich Crystal. Scheiß Abhängigkeit. Wenn die nicht wäre."

Es überkam mich der Gedanke, er könnte mit mir besser reden als mit Kari. Viele Menschen brauchen jemanden, der ihnen einfach zuhört. Taichis Schwester war mit sich selbst und ihren Problemen so beschäftigt, dass sie Davis darüber völlig vergaß.

Normalerweise verbindet ein gemeinsames Kind zwei Menschen noch mehr miteinander, zumindest sollte es so sein. Doch hier stand das Kind regelrecht zwischen Daisuke und Hikari. Es verband sie nur insofern, dass die beiden dazu gezwungen waren, zusammen zu bleiben.

Nach und nach war ihre Beziehung innerlich zu Bruch gegangen und existierte längst nur noch für die Außenwelt. Mein Freund und die Schwester meines Ex hatten sich nichts mehr zu sagen. Und doch konnten sie nicht ohne einander auskommen, weil sie sich selbst eine Daseinsberechtigung durch den anderen gaben.

Ich war nicht scharf darauf, vom Sexleben der beiden zu erfahren, aber Davis war es wichtig, das erzählen zu können. Während ich ihm zuhörte, wie er in einem ausgelaugten Ton von seiner Situation erzählte und sich auf diese Weise erfolglos davon zu befreien versuchte, ging mir die Textzeile eines Liedes durch den Kopf: Du küsst mich nur noch, wenn es dunkel ist, und sagst meinen Namen, damit du ihn nicht vergisst.

Und so ist es doch fast immer.

Es gibt keine Lebensgefährten, nur Lebensabschnittsgefährten. Nichts hält für die Ewigkeit. Menschen verändern sich mit jedem Tag, aber sie verändern sich nicht gemeinsam, weil sie unterschiedliche Lebewesen sind.

Irgendwann ist man sich fremd.

Und dann ist der Zeitpunkt gekommen, sich zu trennen.
 

Meine Tage flossen an mir vorbei. Mein Kopf war oft nur noch eine Masse aus verschiedenen Arten von Schmerz; dumpfes Hämmern, ein permanentes Stechen, Nebel, der sich wie eine Wand vor dem eigenen Blickfeld aufgebaut hatte, ein Druck, als würde man den Schädel mit aller Macht gegen diese Wand pressen, und dieses unangenehme Gefühl der Taubheit, als wäre all dieser Schmerz Meilen vom eigenen Körper entfernt.

Ich war müde.

Manchmal war ich zu ausgelaugt und erschöpft von mir selbst, dass ich nicht einmal die Kraft oder auch nur den Drang verspürte, die Hand einen Zentimeter zu heben. Dann saß ich in einer Ecke meines Zimmers und ließ mich in der Stille treiben. Ich lag in meinem Bett oder auf dem Boden, um für Stunden an die Decke zu starren. Und nichts zu fühlen.

Ab und zu schlief ich am späten Nachmittag ein und erwachte panisch in einem fahlen Dämmerlicht, ohne zu wissen, ob es Morgen oder Abend war.

An einem dieser Tage war ich aus dem Halbschlaf hochgeschreckt, nachdem ich in unendliche Tiefe gefallen war, die mich mit einem schmerzhaften Aufprall zurück in die Realität holte. Ich blickte an meine Decke, über welche sich ein graues Lichtspiel ausgebreitet hatte. Das Fenster war angekippt, die Dämmerung schlich zwischen dem Spalt hindurch und der Wind bewegte sanft meine Gardinen. Mein Computer surrte leise im Standbyemodus.

Es schien eine Unendlichkeit zu vergehen, bevor ich mich schließlich aufsetzte. Mein Körper fühlte sich an wie Blei, dabei war es nur mein Wille, der sich gegen mich selbst richtete.

Von draußen drang ein leichter Geruch nach Regen herein.

Was sollte ich hier?

Meine Hände waren eiskalt, doch ich zitterte nicht. Es war keine Kälte. Es war einfach gar nichts mehr in meinem Inneren.

Ich stand auf, durchquerte mein Zimmer und betätigte eine Taste meines Computers. Langsam, als würde er die erdrückende Schwerfälligkeit mit mir teilen, erhellte sich der Bildschirm, doch das Bild blieb von einzelnen Schlieren durchzogen und unscharf. Mein Computer war bereits alt, manchmal gab er einen grellen Ton von sich, sodass ich glaubte, der Schädel würde mir von diesem durchdringenden Laut platzen, was ich zuweilen ganz angenehm fand. Doch in diesem Moment starrte ich nur auf das halb angefangene Dokument, das auf dem Desktop geöffnet war.

Und das ließ mich im nächsten Augenblick verzweifeln.

Ich widerstand dem Drang, meine Faust mit allem Hass und der in mir angestauten Wut auf den flackernden Bildschirm einschlagen zu lassen. Stattdessen klammerte ich mich am Tisch fest und ließ den Kopf auf das kalte Holz sinken. So, wie ich es immer mache, wenn ich die Gefühle in meinem Inneren nicht nach außen dringen lassen kann oder will, vielleicht aus Angst, vielleicht weil ich zu viel über meine Handlungen nachdenke oder weil ich mich danach noch mehr hassen würde. Das alles hasste ich in dieser Sekunde an mir, die Tränen, die sich unaufhörlich auf der Tischplatte sammelten, meine verkrampften Hände, mein durch das Weinen verschnellerter Atem, den ich absichtlich und voller Scham unterdrückte, obwohl ich es als Einziger in meinem Zimmer hören konnte.

Es war keine Entscheidung, die ich erst in dieser Situation fällte, als meine Hand automatisch nach der kleinen Schachtel mit den Rasierklingen griff, welche Tai und ich vor schier endloser Zeit gekauft hatten. Unzählige Male waren sie seitdem benutzt worden. Eine braune Kruste hatte sich an den Klingenrändern festgesetzt, weil ich sie nach dem Spiel mit Tai nicht mehr sauber gemacht hatte.

Wenn ich mit dem metallischen Instrument durch Tais straffe Haut gefahren war, überkam mich ein Gefühl von Ehrfurcht. Einem perfekten Körper wie seinem eigenhändig Schaden zuzufügen, strahlte für mich viel Schönheit aus und war gleichzeitig ein Wechselbad aus Kontrolle und Versuchung. Es war ungemein erregend, Taichi unter meinen Händen vor Schmerz und Hingabe zittern zu spüren.

Doch nun war alles anders.

Mir selbst diese Wunden beizubringen, das trug keine Schönheit mehr in sich, sondern nur Faszination, die aus meinem Selbsthass erwuchs. Ich ertrug mich nicht mehr, war zu viel, ich hatte es verdient und besaß die Macht darüber, mir diese gerechte Strafe zukommen zu lassen. Ich sollte leiden und gleichzeitig gefiel mir dieser Schmerz.

Das macht das Leben so wundervoll wie ein Spiel, durch das Wissen, jederzeit damit aufhören zu können.

Es ist alles sinnlos.

Im Leben muss man sich ständig Situationen stellen, in denen man denkt, es würde nicht mehr weitergehen. Man will sterben, zögert das schmerzliche Ende hinaus und überlebt es. Ich weiß nicht, warum ich noch hier bin. Ich weiß nicht, warum ich das hier noch schreibe. Vielleicht weil mir klar ist, dass es keiner lesen wird, dass niemand die Wahrheit über sich selbst erfährt.

Der Mensch kriecht am Boden seiner Existenz herum, in Verlogenheit und voller Wut, Angst, Trauer und Hass auf sich und den Rest der Welt. Bis heute bin ich mir nicht sicher, was perverser ist: das alles zu wissen oder es unbewusst zu verleugnen.

Meine Augen schmerzen, eigentlich will ich nur schlafen, die ganze Zeit den Blick von allem um mich herum abwenden. Wenn ich die Augen schließe, dann blende ich ihn aus, dann sehe ich Taichi nicht mehr, der über mein sinnloses Dasein lacht, weil er jetzt meinen Bruder hat und ich niemanden. Ich bin so müde, Träume legen ihre kalten Finger auf meine Haut, ersticken mich, ich bekomme keine Luft.

Und dann sehe ich sein Gesicht, klarer als in der Wirklichkeit.

Was ist das nur? Was soll ich denn tun?
 

Ich erinnere mich an meinen Schulweg zu der Zeit, nachdem ich mich zu verletzen begonnen hatte. Immer wieder kam ich an einem Schild vorbei, das wie ein Pfeil aussah und auf dem geschrieben stand: "Dort steigt die Party". Wahrscheinlich war jemand an dem Schild hängen geblieben, denn es zeigte schräg zur Erde.

Wenn in der Hölle die Party steigt, dachte ich, warum sind wir dann alle noch hier? Vielleicht war das Fegefeuer nichts im Vergleich zu der Feier, die an der Oberfläche stattfand.

"Ich mache Schluss mit dem Fußball."

Als mir Davis dies auf dem Weg zur Schule sagte, konnte ich ihn nur ungläubig anstarren. Mir war klar, dass das für ihn eine Freikarte zu seinem eigenen Leichenschmaus sein würde.

"Ich steige aus dem Fußballverein aus", wiederholte er, als müsse er es sich selbst erst klarmachen. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, das ich nicht verstand.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann wird mir klar, dass ich immer gehofft hatte, Tai würde mit dem Fußballspielen aufhören. Damit ich ihm noch wichtiger werden und er nichts anderes mehr haben würde.

Die Erkenntnis gibt mir auch die Antwort darauf, warum ich Daisuke im letzten Jahr ständig beim Fußballspiel beobachtet hatte.

Ich wollte auf die Worte meines Freundes etwas sagen, um ihn aufzubauen oder zumindest über diese kleine Katastrophe lachen zu lassen, irgendetwas, das viel Eindruck machen oder ihn bis auf den Grund seines Herzens erschüttern würde.

Weil mir nichts dergleichen einfiel, hielt ich den Mund. Und den Rest des Weges schwiegen wir.
 

"Ich brauche noch was zu trinken." Sie schaute auf ihre Uhr und kramte dann in ihrer Tasche herum, bevor sie eine Packung Pillen hervorholte. Ich ertappte mich dabei, dass ich den Namen dieses Mädchens schon wieder vergessen hatte.

"Soll ich dir was holen?", fragte ich und sie nickte zur Antwort.

Ohne mich zu erheben griff ich unter mein Bett und förderte eine Flasche Whiskey hervor.

"Das hätte ich auch gekonnt", meinte sie, verdrehte dabei die Augen und lachte gespielt. Als ich den Alkohol zurück unter das Bett schob und ihr stattdessen eine Wasserflasche in die Hand drückte, lachte ich ebenfalls. Doch das Mädchen nervte mich genauso, wie mich mein eigenes Lachen nervte.

Schließlich stützte sie sich auf ihre Ellbogen und begann über meine Brust zu streichen. Mein langärmliges Hemd war geöffnet. Sie fuhr am Kragen entlang, um mir das Hemd komplett auszuziehen, doch ich hinderte sie daran.

"Warum ziehst du deine Oberteile nie aus?", fuhr sie mich beleidigt an, "Das ist doch total bescheuert." Ich zuckte nur unbestimmt mit den Schultern.

Daraufhin breitete sich eine Stille im Zimmer aus, die von so viel Unwissen und Verständnislosigkeit zwischen zwei einander fremden Menschen erfüllt war, dass es fast schmerzte. Ich hörte, wie sie ein paar Mal zum Reden ansetzte, bevor sie mitten im Atemzug abbrach.

"Irgendwie", sagte sie endlich, "hast du dich verändert."

Nach diesem Satz wusste ich, dass dies der Abend sein würde, an dem ich der Situation abrupt ein Ende setzen musste. Ich fuhr sie an:

"Warum schwafelt jeder davon, dass ich mich verändert hätte, sobald man mich ein bisschen besser kennt? Die wenigsten Menschen sind so, wie sie auf den ersten Blick scheinen! Selbst wenn man sich schon seit Jahren gegenseitig auf die Nerven geht, werden immer wieder Seiten auftauchen, die neu und ungewohnt sind und noch weniger in das Idealbild unserer Traumvorstellung passen, sodass man sich auch mal unverstanden, minderbemittelt oder wie der letzte Scheißdreck behandelt fühlt, weil niemand die ganze Zeit im gleichen Einheitsmatsch bleibt, den gleichen Bockmist denkt und ab und an mal zeigt, dass ihn dieses ganze beschissene Leben ankotzt und eben nicht permanent in Höhenflüge versetzt!"

Jetzt starrte sie mich entsetzt an. Ich wusste nicht einmal, ob sie mir zugehört oder ob mein Ausbruch ihre Aufnahmefähigkeit in diesem Augenblick auf Null gedreht hatte.

"Nein", sagte ich dann in normaler Lautstärke, "ich habe mich nicht verändert. Du bist nur zu blöd, um mich zu durchschauen, wenn ich mich verstelle."

Diese Aussage von mir war ihr eine Ohrfeige wert. Während meine Wange anfing zu brennen, schlug ich mit der flachen Hand zurück.

"Schwanzlutscher!", schleuderte sie mir daraufhin ins Gesicht, stand auf und packte schnell und voller Wut ihre Sachen zusammen, "Lass dich doch weiter in den Arsch ficken, bis dir das Hirn aus den Ohren rauskommt!"

Die Gerüchteküche brodelte demnach noch immer, aber es war mir egal, was die anderen Schüler über meine Sexualität dachten. All die Worte, die ich mir mit diesem Mädchen gegenseitig an den Kopf warf, sind mir noch gut in Erinnerung. Und ich bedauere kein einziges davon.

Nachdem sie gegangen war, atmete ich auf, als hätte man mir eine schwere Last von den Schultern genommen.
 

Danach hatte ich es aufgegeben, mich mit Mädchen zu beschäftigen. Ich beschäftigte mich lieber mit Davis, der meine neue Enthaltsamkeit ohne Kommentar zur Kenntnis nahm. Es schien ihn nicht mehr zu interessieren, dafür war ich ihm zu wichtig geworden.

Er schwänzte sogar die Nachhilfeschule, angeblich um für sich selbst Zeit zu haben, die er dann allerdings nur mit mir verbrachte. Ich sagte nichts dazu, schließlich wollte ich unsere gegenseitige Abhängigkeit weder zugeben noch zerstören.

Wir waren die meiste Zeit bei mir zu Hause. Und plötzlich war wieder alles wie damals mit Taichi.

"Es ist Sommer. Wieso trägst du nur diese langärmligen Oberteile?"

Diese Frage überraschte mich nicht, hatte ich doch schon lange darauf gewartet, dass Davis sie mir stellte. Es gab keinen Grund, ihm etwas vorzumachen, darum antwortete ich:

"Weil ich mir die Arme aufschneide und das nicht jedem unter die Nase reiben muss."

Daraufhin lachte Daisuke und tat, als hätte er es nicht schon gewusst.

"Ach deshalb bist du beim Sport immer zur Toilette gegangen, um dich umzuziehen. Du wirst wie dein Bruder."

Das tat weh. Ich konnte die doppelte Bedeutung dieser Aussage deutlich hören. Daisuke wollte mich absichtlich damit verletzen. Doch dann schlug er eine andere Richtung ein, indem er fragte:

"Darf ich es sehen?"

Ich zuckte teilnahmslos mit den Schultern, was er als Aufforderung verstand und nach meinem Arm griff. Er schob den Ärmel nach oben und betrachtete die einzelnen Schnitte, die ich mit Sorgfalt und Geduld auf meinem Arm hinterlassen hatte. Bei manchen war ich unzählige Male mit der Klinge hindurchgegangen. Schwarzer Schorf hatte sich gebildet, den ich immer wieder aufkratzte.

Mit seiner warmen Hand strich Davis über die Wunden, was einen wohligen Schauer auf meiner Haut hinterließ.

Ich wünschte mir, es wäre Tais Hand gewesen.
 

In der Schule war es verdächtig still geworden. Meine Beliebtheit schien sich in Luft aufgelöst zu haben, doch noch wurde ich von niemandem geschnitten. Den anderen Schülern genügte es, mich vorerst zu ignorieren. Bis auf einer.

"Darf ich mitkommen? Wir haben doch denselben Weg."

Das Mädchen, das mich ansprach, hatte etwas Ungewöhnliches an sich. Ihr Gesichtsausdruck wirkte stupide, aber irgendwie glaubte ich, sie würde ohne Schuluniform eher zum Punk tendieren.

Anfangs hatte ich nichts dagegen, dass sie mich begleitete. Aber schnell merkte ich, wie oberflächlich ihre Gesprächsthemen waren. Sie erzählte ununterbrochen von verschiedenen Partys, Diskotheken und Clubs, die sie besuchte, von Leuten, die sie traf, und Mädchen, mit denen sie flirtete. Es interessierte mich kein Stück, aber sie hörte nicht auf zu reden und störte sich nicht daran, dass ich mich offensichtlich langweilte.

Doch dann kam der entscheidende Satz, völlig zusammenhangslos:

"Bist du eigentlich schwul?"

Nur weil sie vom gleichen Ufer zu sein glaubte, nahm sie sich eine ganze Menge heraus.

"Ich mag beide Geschlechter", gab ich genervt zurück, "Da mache ich keine Unterscheidung, wenn ich mich für jemanden interessiere."

Das Gesicht des Mädchens nahm einen angewiderten Ausdruck an, als sie sagte:

"Beides? Also bist du bisexuell? Darum hast du auch mit Mädchen rumgemacht, nicht gerade wählerisch, was? Bisexuelle ficken doch echt alles, wahrscheinlich auch kleine Kinder. Na ja, wenn du es so nötig hast."

Damit ließ sie mich stehen, während etwas in meinem Inneren ziemlich zu schmerzen begann.
 

Als ich das nächste Mal mit Daisuke in meinem Zimmer saß, sprach er mich auf den vorigen Tag an, an dem er eigentlich die Paukschule mal wieder schwänzen und mit zu mir kommen wollte. Dann hatte er mich jedoch zusammen mit diesem Mädchen gesehen und auf sein Vorhaben verzichtet.

"Sie ist eine Außenseiterin", meinte er, "aber trotzdem finden sowohl die Jungs als auch die Mädchen an der Schule sie irgendwie cool. Die typische Rebellin eben."

Ich gab einen unbestimmten Laut von mir und entgegnete:

"Ich habe nicht vor, etwas mit ihr anzufangen. Nicht mein Ding."

"Ach so, ich dachte, du würdest sie mögen."

Mir kam die Erinnerung an das Gespräch mit ihr wieder hoch, als wäre es ätzende Galle. Unbeteiligt sagte ich:

"Ich habe nichts gegen sie." Nichts Wirksames oder Legales zumindest, dachte ich bei mir. "Wieso fragst du?"

"Na ja, weil sie auch schlitzt."

"Na und?", erwiderte ich mit einem falschen Grinsen, "Macht doch heutzutage jeder."

Wir lachten.

Danach wechselte ich das Thema.
 

Es verlangte keine Überwindung von mir, zur Schule zu gehen, schließlich war Gewohnheit das Einzige, das mich ohne mein eigenes Zutun lenkte, sodass ich mich aus meinem Körper zurückziehen konnte. Jeden Tag stand ich auf, zog mich um und ging zur Schule. Wann ich mich nachts zum Schlafen legte, wusste ich nicht und nahm es auch kaum wahr. Wenn ich einmal den ganzen Tag liegen blieb, registrierte ich das nur unbewusst.

Allein die Zeit mit Daisuke hinterließ prägnante Erinnerungen bei mir. Was interessierte mich der Rest?

In der Schule wurde ich mittlerweile als Störfaktor empfunden. Wirklich bewusst wurde mir das an einem Tag, bevor der Sportunterricht begann und alle Schüler in den Umkleidekabinen waren. Ich bildete die Ausnahme, da ich mich schon seit längerem in einer Toilettenkabine umzog.

Die Tür zum Bad öffnete sich knarrend und einige Jungen aus meiner Klasse kamen leise lachend herein. Dunkel konnte ich bereits ahnen, was passieren würde, bis schließlich ein Schwall kalten Wassers über den oberen Rand der Kabine auf mich hinabprasselte. Das Wasser war eisig, schmierig und dreckig, wahrscheinlich ein Eimer aus einem der Klassenzimmer, in denen die Lehrer die Schwämme wuschen.

Nass bis auf die Haut setzte ich mich auf den Toilettendeckel, die Leere und das Hämmern in meinem Schädel wurden vom Lachen meiner Klassenkameraden und dem Zufallen einer Tür begleitet. Lange Zeit rührte ich mich nicht, blieb einfach sitzen, während mir das Wasser aus den Haaren und von meiner Nasenspitze in den Schoß tropfte.

In den unzähligen Minuten, die vergingen, fing ich allmählich vor Kälte zu zittern an, dennoch bewegte ich mich nicht. Wahrscheinlich hoffte ich darauf, die Zeit würde sich zurückdrehen, wenn ich nur lang genug wartete.

Hin- und hergerissen, ob ich so schnell wie möglich gehen sollte, bevor der Sportunterricht zu Ende war und sie womöglich wiederkämen, oder ob ich warten sollte, da sie vielleicht draußen auf mich lauerten, rieb ich meine kalten Hände aneinander.

Mein Denken schaltete sich ab. Ich stand auf, zog mir mit langsamen, mechanischen Bewegungen meine nassen Sachen aus, um sie danach über der Toilette auszuwringen. Dann stand ich halbnackt in dieser stinkenden, abweisenden Umgebung und ließ die Welt um mich in der Stille zerbrechen.

Auch jetzt erinnere ich mich an diesen leisen Klang.

Wie das Zusammenfallen eines Kartenhauses.
 

So viel Scham empfinde ich mir selbst gegenüber bei dieser Erinnerung, dass ich eigentlich nicht darüber schreiben will. Ich will nicht davon schreiben, wie die anderen Jungen nach der Stunde noch einmal ins Bad kamen, um mir mitzuteilen, dass sie dem Lehrer gesagt hatten, ich würde schwänzen, wie ich stundenlang wartete, damit mich niemand sehen konnte und wie ich schließlich mit meinen klammen Sachen in der Dunkelheit nach Hause gegangen war.

Und nach all dem hasste ich mich noch mehr.

Darum erzählte ich niemandem etwas davon, erst recht nicht Daisuke. Dennoch war er aufmerksam genug, die ganze Situation mitzubekommen. Als er mich darauf ansprach, erklärte ich kurz:

"Die meinen, ich sei arrogant."

Entgegen meiner Hoffnung lachte mein Freund nicht darüber, wobei es sowieso unsinnig gewesen wäre, über eine solche Aussage zu lachen. Wegen meiner Schuldgefühle fügte ich deshalb leise hinzu:

"Sie merken nicht, dass ich den Kopf hochhalte, damit ich in meinem eigenen Morast nicht ersticke."
 

An diesem Ekel vor mir selbst hat sich nichts geändert.

Ich hasse mich so sehr, dass alles in meinem Inneren schmerzt. Vom Bauch breitet sich die Kälte in meinem ganzen Körper aus, meine Hände zittern, als würde in meinen Adern Eis fließen, das Denken gefriert. Es tut so weh. Warum hilft mir keiner? Weshalb will ich leben, obwohl ich nur ein wertloses Stück Fleisch bin, ein widerliches Etwas, an dem alles zu viel und nichts liebenswert ist?

Liebe. Vielleicht will ich nur geliebt werden, weil ich mich selbst so sehr hasse.

Und dennoch ertrage ich keinen Menschen um mich herum. Als wollte ich, dass die Einsamkeit mir jemanden schenkt, der mich allein lässt und trotzdem liebt. Ich verstehe mich selbst nicht.

Alles erdrückt mich.

Wenn von draußen die Nacht und das Geräusch des Regens durch mein Fenster hereindringt, dann fühlt es sich an, als würde ich mich auflösen. Das Licht in meinem Zimmer verursacht ein Stechen im Kopf, gegen das ich mich nicht wehren kann. Es ist so grell, so schmerzhaft, so anklagend. Auch wenn ich allein bin, lässt mich die Helligkeit entblößt und schutzlos werden.

Ich bin mir selbst zu viel.
 

"Bist du magersüchtig?"

Ich hob verschlafen den Kopf von meinen Armen, die ich auf dem Pult übereinander gelegt hatte, und schaute in Daisukes Gesicht. Sein Blick war eine Mischung aus Interesse und Langeweile. Im ersten Moment war ich zu perplex, um zu antworten.

"Also", fragte er erneut, "bist du es?"

"Nein, so ein Blödsinn", gab ich mit einem belustigten Grinsen zurück und fügte hinzu, "Ich bin doch nicht magersüchtig, ich kotze nur nach dem Essen."

Davis lachte, während ich teilnahmslos gähnte und mich umzuschauen begann. Nur wenige andere Schüler waren noch im Raum. Ein paar Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die graue Wolkendecke. Auf Daisukes Gesicht lag in diesem Augenblick ein sanftes, grauweißes Licht.

"Sicher, dass du nicht auf Magersucht umspringen willst?", entgegnete er, noch immer lächelnd, "Du sparst dir das Geld fürs Essen und die Zeit fürs Kotzen."

"Hast du nichts Besseres zu tun, als dir solches Zeug auszudenken?"

"Nein, das weißt du doch."

Das Lächeln verschwand nicht von seinen Lippen, als er an mir vorbeischaute und leise wiederholte:

"Ich habe nichts Besseres zu tun. Ich habe generell nichts anderes."

"Was ist mit mir?"

Warum ich diese Frage plötzlich stellte, weiß ich nicht. Es war für mich ein kleiner Hoffnungsschimmer, wie Balsam auf einer Wunde, der unangenehm brennt und den man dennoch herbeisehnt. Ich kann es nicht besser beschreiben als mit all der Hoffnung und vorgespielten Gleichgültigkeit, die in meiner Stimme mitschwangen.

Meine Frage ließ Daisukes Blick wieder klarer werden, bis er mir direkt in die Augen sah und mich eine lange Zeit fixierte.
 

Da gestand ich mir meine Sehnsucht ein. Ich wollte Davis so sehr, dass ich die Distanz zwischen uns zu verringern versuchte, obgleich ich Angst hatte, alles durch eine unbedachte Handlung zu zerstören.

Ich bin mir sicher, dass Davis unbewusst das Gleiche suchte, eine Person, die ihm die Liebe entgegenbrachte, welche er so schmerzlich zwischen sich und seiner Familie vermisste. Seine Augen sagten, dass er sich überall fühlte wie ein Fremder.

Er hatte tatsächlich nichts mehr, denn Hikari und Daisuke sprachen nicht miteinander, um diese unbekannten Probleme offen zu legen, der Schule konnte er noch nie etwas abgewinnen und selbst den Fußball hatte er aufgeben müssen. Eigentlich brauchte er die Zeit für die Nachhilfeschule, welche er allerdings nach wie vor regelmäßig schwänzte.

Nur bei mir konnte er sich fallen lassen. Und dafür hatte ich mittlerweile auf niederträchtige Art und Weise meine Arme geöffnet.

Es ist erstaunlich, dass dem Menschen eine Beziehung so wichtig werden kann, die nur auf Eigennutz basiert.

Wenn ich mit meinem Freund zusammen war und wir über irgendeine Belanglosigkeit lachten, berührte ich arglos seine Schulter, wobei meine Kehle unerträglich zu brennen begann, als würde ich im nächsten Moment ersticken.

Wir überbrückten die Stille immer mit einem Lachen.

Selbst jetzt sehe ich vor meinem inneren Auge Daisuke auf dem Schreibtischstuhl sitzen, seine Beine bewegen sich unruhig, während er voller Nervosität an seinen Fingernägeln kaut. Es kostete ihn jedes Mal Überwindung, von sich aus etwas anzusprechen, das ihm wahrscheinlich mit Hammer und Meißel die Gehirnwindungen wundschlug.

Er sagte mir, dass er gern bei mir sei, dass er sich bei mir wohl fühle, dass er Kari liebe, genauso wie seine Tochter, dass er sich jedoch nicht als Vater fühlte, mehr wie ein Bruder, als wäre sie seine Schwester, dass seine Familie ihn jetzt so anders behandelte, dass er sich auch anders fühle, aber irgendwie auch nicht, dass er sich so ausgeschlossen vorkam, doch bei mir sei das anders, bei mir sei er wieder er selbst, bei mir hätte er nicht das Gefühl, als würde irgendetwas fehlen. Davis erzählte mir so vieles.

Er meinte, dass er sich fühlte, als hätte man ihm ein Stück seiner Seele herausgerissen.

Die darauf eintretende Stille versuchten wir zur Abwechslung mal nicht mit unserem Gelächter auszufüllen.

"Vielleicht", fing ich unsicher an, "könnte man es damit vergleichen, dass ein Fußballspieler bei einem Unfall plötzlich sein Bein verliert und nicht mehr spielen kann."

"Ja", entgegnete Daisuke nur, als hätte er mir nicht zugehört. Ein erneuter, langer Moment des Schweigens entstand zwischen uns, bis ich schließlich sagte:

"Aber das eigentlich Traurige ist, dass du nicht dein Bein verloren hast." Ich lächelte bei diesen Worten meinen Fußboden an und fuhr leise fort, "Du hast dich einfach nur verliebt."

Im Augenwinkel sah ich, wie Daisuke den Kopf senkte. Er gab keinen Laut von sich, während er weinte.
 

Kann man sich seine Gefühle ausdenken? Sich vormachen, dass man etwas empfindet, wo nichts mehr ist?

Ich habe es geschafft, alles in meinem Inneren, auch das, was dort schon lange nicht mehr existierte, auf einen Punkt zu richten, der mich am Leben hielt. Damit projizierte ich meine Sucht nach Leben auf Daisuke. Mit jedem Blick wollte ich ihm sagen, dass er nicht gehen durfte, weil ich sonst sterben würde.

So sollte es doch nicht sein. Ist das mein Leben? Ist das mein zukünftiges Glück?

Daisuke ging es genauso, das spürte ich. Sein Verstand sagte ihm etwas anderes als sein Herz. Seine Handlungen widersprachen sich. Er wollte bei mir sein und doch weg von mir. Als hätte er Kari schon längst mit mir betrogen.
 

Die Erinnerungen an diesen einen Nachmittag sind schmerzhaft in mich eingebrannt. Es ist ein Schmerz, den ich nicht einordnen kann, von Sehnsucht oder von Reue?

Es war nicht kalt, doch ich fror, während ich am Fenster stand und nach draußen in den eisblauen Himmel sah. Der Löffel in meiner dritten Tasse Kaffee, die ich in meinen zitternden Händen hielt, klackerte leicht. Der Kaffee war schwarz, Davis hatte mir den Löffel gegeben.

"Du zeigst Schwäche." Jede einzelne Silbe dieses Satzes durchdrang mein Inneres und konnte mich dennoch nicht berühren. Daisuke stand hinter mir, ich spürte seine Gegenwart. Gleichmütig erwiderte ich:

"Es ist doch nur vor dir."

"Denkst du etwa, ich könnte dich nicht verletzen?"

"Nicht mehr als ich dich." Ich lächelte und wusste, dass Davis es mir gleichtat.

Mich umwendend nahm ich seine Hand und strich über die abgekauten Überreste seiner Fingernägel.

"Was ist mit dir?", fragte ich, "du schaffst es überhaupt nicht mehr, deine Schwäche zu verstecken."

"Was soll das?" Leicht aggressiv entzog er mir seine Hand. "Es gibt nichts, weswegen ich mich schwach fühlen müsste. Im Gegensatz zu dir habe ich alles."

Zum wiederholten Mal erstaunte es mich, wie schnell sich Davis widersprechen konnte. Mit einem sanften Lächeln, das sich für ihn auf meinen Lippen abzeichnete, schaute ich ihm in die Augen und fragte:

"Warum bist du dann nicht glücklich?"

Daisuke öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Er konnte mir jedoch weder antworten noch meinem Blick standhalten. Erneut nahm ich seine Hand und küsste sanft die blutigen Fingerkuppen.

Es gab keinen Weg für mich, wieder glücklich zu werden, aber ich bildete mir ein, dass die Befriedigung meiner Sehnsucht das Verlangen nach Glück ein wenig stillte. Und ich redete mir ein, Davis würde es genauso gehen.

Auch jetzt überkommt mich noch ein Hauch dieser Erfüllung, wenn ich daran zurückdenke, wie ich ihm sein braunes Haar aus dem Gesicht strich, das man ebenso wenig bändigen konnte wie das von Tai. Zwar zuckte Davis ein wenig zusammen, doch meiner Berührung widersetzte er sich nicht.

"Stell dir einfach vor", sagte ich und legte seine Hand an meine Hüfte, "dass dieser schmale Körper Kari gehören würde. Ihr kannst du doch schließlich nicht mehr zeigen, wie sehr du sie liebst, oder?"

Daisuke las in meinen Augen das unausgesprochene Ende meiner Aussage: Aber mir kannst du es zeigen.

In diesem Moment hatte er einen Entschluss gefasst, welchen er nun zaghaft in die Tat umzusetzen begann. Ich konzentrierte mich auf seine Hände, die über meine Haut wanderten, als hätte ich noch nie den Körperkontakt eines anderen Menschen genossen. Diese Hände brauchten mich. Sie stießen mich nicht fort. War das Abhängigkeit, Liebe, Leben, Sucht?

Jegliche Moralvorstellungen waren mir egal. Es war mir gleichgültig, ob ich mit meinem Handeln Daisuke in Schuldgefühle stürzte, ob ich den vielen Lügen eine weitere hinzufügte, ob ich andere durch mein Tun verletzte. Die Menschen halten sich doch sowieso nur aus Gewohnheit an ihre vorgeschobene Moral. Ich hatte es satt.

Unter meinen Lippen bebte der nackte Körper meines Freundes. Mit kalten Fingerspitzen strich ich über seine braungebrannte Haut. Irgendwie befand ich mich in einem Vakuum, in dem kein einziges Gefühl Platz hatte, nur angenehme Taubheit, die mich meine eigene Kälte nicht spüren ließ. Das alles war nicht wichtig, sodass ich es ignorierte.

Ich liebkoste seine Augenlider, die schwarzen Wimpern, während ein leises Keuchen über seine Lippen drang. Die Spitzen seiner braunen Haare kitzelten auf meiner Haut. Wie sehr hatte ich dieses Gefühl vermisst, wie sehr hatte ich seine Gegenwart vermisst.

Ihm ging es genauso. Er erforschte gierig meinen Körper, biss in meine Brustwarzen und hinterließ seine Spuren auf mir. Ich wollte immer noch mehr und rief leise seinen Namen:

"Tai."

Ich sah das flüchtige Lächeln, ein wenig Spott, bevor ich Taichi zu mir herunterzog und ihn küsste. Bereitwillig erwiderte er alles, was ich ihm gab.

Seine Bewegungen waren ein wenig zaghafter als sonst. Wahrscheinlich wollte er mir nicht wehtun, weil er befürchtete, ich könnte zerbrechen. Dann wäre er allein. Er konnte nicht ohne mich leben. Es gab sonst nichts für ihn, das hatte er mir gesagt.

"Ich habe sonst nichts."

Taichi würde mich nie verlassen.
 

Alles ist zerstört, nichts existiert mehr, außer der Ruine meiner Seele, das letzte Bisschen Leib, zu wenig wert, um es zu verkaufen. Ich stehe allein zwischen diesen leeren Mauern und höre dem Lied des Windes zu.

Ein trauriges Lied. Es erinnert mich an das, was mir Daisukes Körper sagen wollte, als er mir falsche Hingabe vorspielte:

Ich gehöre dir nicht.

Man kann um sich schlagen, mit den Händen das Leben umklammern und sich in den seidigen Schleier der Zeit krallen. Ich weiß, dieser zarte Fluss wird mir entgleiten, wie Wasser, wie Sand, wie unzählige Splitter aus Glas.

Es bleibt nichts. Es wird trotzdem vergehen.

Mir ist klar, dass ich nicht der einzige Mensch auf dieser Erde bin, dessen Verstand von der Sinnlosigkeit des Daseins angefressen wird. Man muss nur die Augen öffnen, dann sieht man lauter ruhelose und kaputte Seelen, die sich am letzten Rest Glück festkrallen und nicht einmal wissen, was das ist. Ich weiß es genauso wenig. Ich weiß nicht, was ich suche, was mich glücklich machen würde. Nur diese Trauer und Verzweiflung verdeutlichen mir die Lücke in meinem Inneren.
 

Zum Schulfest hatte sich der Trubel um meine Person größtenteils gelegt. Meinen Mitschülern war ich bis dato unwichtig geworden. Die Gesellschaft ist kein transparentes und einfaches Gebilde. Man gibt sich mit Leuten ab, die man nicht mag und noch nicht einmal ansatzweise versteht. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Ich kam mir besonders beim letzten Schulfest einfach fehl am Platz vor, doch da war ich nicht der Einzige. Soviel zur japanischen Zurückhaltung und Verschlossenheit.

Da sich meine Beliebtheit ins Gegenteil gewandelt hatte, lernte ich plötzlich jede Menge Außenseiter kennen, denen man bereits von weitem ansah, wie wenig sie in die genormte Gemeinschaft der anderen hineinpassten.

Während ich außerhalb der Ereignisse auf einer Bank saß, mich in ein Buch vertieft und gehofft hatte, dass mich niemand wahrnahm, kam dieser Fettsack auf mich zu, der mittlerweile mein Freund zu sein glaubte und mir bereits anvertraut hatte, er habe aufgrund seines geringen Selbstwertgefühls Bulimie.

Er brauchte meine Hilfe, da das Mädchen, das mich auf meine Sexualität angesprochen hatte, Probleme machte. Sie hatte heimlich jede Menge Alkohol getrunken und drohte nun damit, sich umzubringen. Der Fettsack war ziemlich schockiert darüber, die Wunden auf ihrem Arm zu sehen. Mir war es reichlich egal, doch aufgrund meiner jahrelang nach außen getragenen Hilfsbereitschaft unterstützte ich ihn, das Mädchen von alkoholischen Getränken und scharfen Gegenständen fernzuhalten.

"Ihr habt alle keine Ahnung", lallte sie mir entgegen, "Mit eurem perfekten Leben, keine Ahnung, wisst nich', wie ich mich fühl, könnt ihr nich' wissen. Ich seh das euch doch an, total bescheuert, könnt das nie ansatzweise nachvollziehn."

Ich hatte keine Lust mehr und sagte deshalb:

"Lass sie doch."

Der Fettsack sah mich irritiert an, die Frage stand ihm direkt ins Gesicht geschrieben.

"Soll sie sich doch umbringen", sprach ich gelangweilt weiter, "Ein Mensch weniger, was macht das schon."

"Sag mal, du hast wohl überhaupt kein Herz", entgegnete er, "Dann passt du ja super in die Gemeinschaft aller, die innen schon tot sind."

"Wieso? Wenn sie es doch will. Am Ende wird sie sowieso zu viel Schiss haben, um es durchzuziehen. Das ist bloß Getue, um auf sich aufmerksam zu machen."

"Du kannst nicht einfach so über andere urteilen, wenn du selbst nicht weißt, wie es in einer solchen Situation ist."

"Ich weiß es aber." Meine Stimme war leise und genervt. Ich konnte regelrecht beobachten, wie der Fettsack sich auf die Zähne biss, bis er schließlich in ruhigem Tonfall sagte:

"Dann tust du mir echt Leid."

"Auf dein Mitleid kann ich verzichten", erwiderte ich kalt, "Du spielst doch auch nur Nächstenliebe vor, weil du dich dann gebraucht fühlen kannst. Dabei wirst du nie etwas anderes sein als hässlich und überflüssig."

Damit ließ ich ihn stehen und ging. Ich hatte ihm eine Wahrheit geschenkt, die ihn genauso quälen sollte, wie sie mich quälte.
 

In meiner Umgebung fühlte ich mich zunehmend fremder. Ein kleiner Lebensraum um mich herum, da war eine Person, die ich oft sah und die mir doch unbekannt schien, die Frau, die mich gezeugt hatte und mich müde ignorierte, mein Zimmer, das mich wie auf der Durchreise in einem leeren Käfig aufnahm, dann dieser Junge, der Tai so ähnlich war.

Ich will irgendwo daheim sein.

Davis verstand nicht, was ich suchte. Es konnte ihm egal sein, schließlich benutzte er mich nur und wurde letztendlich selbst benutzt. Was spielt es für eine Rolle, wer man ist, welche Stellung man einnimmt, wie viel man wert ist, was man hinterlässt? Jeder Mensch muss nicht mehr tun als zu funktionieren.

Bei mir funktionierte lange Zeit gar nichts mehr. Nicht einmal das Schreiben.

Szenenartige Eindrücke jagen in meinem Kopf vorüber. Ich sehe den Regen meine Arme hinab, über die Schnittwunden fließen. Das Wasser tropft von meinen Fingerspitzen, während ich einem endlosen Weg folge. Neben mir eine Straße, Fahrzeuge rasen vorbei. Der Asphalt unter meinen Füßen ist aufgerissen, zersplittert. Fettig glänzende Regenwürmer liegen in den Pfützen. So unangenehm fettig und schmutzig wie meine Hände, die ich mit Spülseife zu waschen versuche. Dann stehe ich im Badezimmer vor dem Spiegel und putze mit Zeitungspapier die riesige Glasfläche. Ich mag diese glatten Oberflächen um mich herum. Die kalten Fliesen unter meinem Körper, während ich auf dem Boden liege, die Arme ausgebreitet, die viereckigen Flächen um mich herum, die weiße Decke, überall Ordnung, alles ist sauber, unbefleckt und lautlos.
 

Du küsst mich nur noch, wenn es dunkel ist, und sagst meinen Namen, damit du ihn nicht vergisst. Diese Textzeile traf auf mich genauso gut wie auf Daisuke zu, das wusste ich von Anfang an. Nur erkannte ich immer mehr, dass Davis nicht Taichi sein konnte. Mein kleines, beruhigendes Gespinst aus Lügen brach zusammen.

Man kann sich nicht ewig selbst betrügen, wie sehr man es sich auch einzureden versucht. Der einzige andere Ausweg ist der Wahnsinn. Dumm, wenn man zu normal ist, um verrückt zu werden, aber nicht normal genug, um unbeschwert leben zu können.

Ich brauchte Davis noch immer, doch das Gefühl ließ nach. Es fühlte sich einfach falsch an, alles fühlte sich falsch an. Das merkte ich auch bei Davis. Manchmal sah ich in seinen Augen Ekel, wenn er meinen Körper betrachtete und feststellen musste, dass ich keine Frau war. Seltsamerweise wollte ich diesen Abscheu, wie ich auch das Begehren wollte. Doch mit der Zeit ließ auch das nach.

Der Körper meines Freundes war unter meinen Berührungen nicht mehr warm, sondern bewegungslos und taub. Immer öfter wies er mich zurück und auch ich konnte seine Annäherungsversuche häufig nicht mehr erwidern. Selbst wenn mir Davis einen Gefallen tun und auf das Spiel eingehen wollte, gehorchte ihm sein Körper nicht.

Ich wünschte, ich hätte gehen können, doch dazu fehlten mir die nötigen Emotionen. Auf diese Weise war es mir einfach egal.
 

Eines Morgens wachte ich auf und fand mich in einem Gefängnis wieder. Die Wände meines Zimmers erdrückten mich. Im Bett war es unangenehm warm, kalter Schweiß überzog meine Haut und die Sachen, die ich trug, waren klamm. Ich musste hier raus, befreite mich von meiner Decke und erhob mich schwerfällig.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer zog die Umgebung schemenartig an mir vorbei. Die Erinnerungen an diesen Morgen sind nur bruchstückhaft, als würden einige Ausschnitte von der Filmrolle fehlen. Es war noch nicht zu spät, um zur Schule zu gehen, ich wollte frische Luft atmen und andere Leute sehen, doch alles drehte sich plötzlich.

Es wurde schwarz um mich herum, dann sah ich den Tisch, das Sofa, das Telefon. Ich spürte, dass mich meine Füße noch immer vorwärts trugen. Mir war kalt, und doch lief mit meiner Gänsehaut Schweiß meinen Nacken hinab. Am Rande meines Gesichtsfeldes bewegten sich Funken, kleine Blitze, spinnenartige Kreisel. Dann wurde es wieder dunkel. Ich griff mit der freien Hand nach dem Türrahmen.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich auf dem Boden in dem Durchgang zwischen Wohnzimmer und Küche wieder. Ich betrachtete die Hand, die neben meinem Gesicht lag, und stellte erst nach einigen Sekunden mit Erstaunen fest, dass sie mir gehörte. Langsam rührte ich mich, schaffte es jedoch nicht, mich komplett aufzurichten. Mir war so schlecht, dass ich mich nur vorsichtig auf allen Vieren in Richtung Bad schleppen konnte. Diese Entfernung zu überwinden schien eine endlose Tortur zu sein. Endlich zog ich mich an der kühlen Emailleschüssel nach oben. Ich wollte diesen schlechten Geschmack, die Übelkeit herausbrechen, würgte jedoch vergeblich. Meine Kehle brannte, als nur eine gelbe Flüssigkeit in die Kloschüssel rann.

Auch jetzt erinnere ich mich noch an den unbeschreiblichen Zwang, welchen ich auf mich ausüben musste, um schließlich aufzustehen. Ich war zurück ins Wohnzimmer gewankt, hatte unbewusst den Telefonhörer in die Hand genommen und Taichis Nummer gewählt. Aber ich kann mich nach wie vor nicht daran erinnern, was ich ihm gesagt habe, nachdem er abgenommen hatte. Ich weiß auch nicht mehr, wie lange ich reglos im Sessel saß und auf ihn gewartet habe. Doch ich spüre noch heute den Schmerz auf meiner Wange, den Tai mir zufügte, als er mich sofort nach seiner Ankunft vor Wut schlug.

Er drückte mich auf einen Küchenstuhl, bevor er Wasser aufsetzte, in das er anschließend Brühe und Ei rührte. Während dieser Zeit bis ich schließlich die Suppe löffelte, sagte keiner von uns ein Wort. Taichi betrachtete mich lange mit verschränkten Armen. Seinen Tonfall, als er endlich zu sprechen begonnen hatte, kann ich schwer einordnen. Mitleid, Wut, Trauer, Sorge oder war er einfach nur genervt von mir?

"Machst du dich absichtlich kaputt, um mir Schuldgefühle oder so einzureden?"

"Es tut mir Leid."

Mehr sagten wir einander nicht, bis Taichi mich wieder verließ.

Danach rief ich Daisuke an und sagte ihm, dass wir die Beziehung beenden sollten.

Er hatte nichts dagegen.
 

Was bedeutet es, verloren zu sein?

Wenn du in deinem Zimmer stehst und dich fragst, wo du eigentlich bist. Warum ist alles so fremd um dich herum? Diese Leere kanntest du früher nicht. Dann begann sie dich immer mehr auszufüllen, aber gleichzeitig hat dich damals noch etwas beschützt. Das war der Schmerz, dieser unglaubliche Schmerz, der dein Inneres zerreißt. Wo ist er nur? Verlierst du ihn, indem er dir mit deinen Tränen die Wangen hinabläuft?

Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder so fühlen kann wie damals.

Warum habe ich mir nur gewünscht, es möge aufhören?

Jetzt ist es kalt, leer und still um mich herum.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2009-04-17T12:03:49+00:00 17.04.2009 14:03
Hey...
Hab mir gerade mal die beiden Fanfictions durchgelesen und bin... nun, begeistert trifft es wohl am besten. Unglaublich gute Darstellung der Personen und eben T.K.s Gefühle...

Ich denke mir, dass viele Menschen ein solches Leben führen, vielleicht oftmals nicht ganz so extrem, aber dass wir uns meist etwas vormachen... Und viele Beziehungen und Verhältnisse aus Lügen bestehen... Dass man einander ausnutzt, nur um Nähe zu spüren... Dass viele Menschen alles tun würden, um ihre Zweifel, Hass oder Angst zu beseitigen...
Daher steckt in deiner Fanfic meiner Meinung nach eine gewisse Wahrheit...
Trotz allem finde ich jedoch, dass sie SEHR.. extrem und unglaublich traurig ist...
Außerdem hoffnungslos... Ja. Wenn man an dieser Stelle in T.K.s Leben angelangt ist, gibt es doch wirklich keine Hoffnung mehr. Und der Gedanke, dass Tai quasi genauso dran war, besonders dieses geteilte SVV.. Und nun mit Matt glücklich werden könnte...
Dass selbst Davis mit Kari ein schönes Leben führen könnte, irgendwann...
T.K. zwar ausgenutzt hat, klar, aber von diesen beiden noch viel mehr benutzt und verletzt wurde... und er selbst nun gar nichts mehr hat...

Man, irgendwie zieht mich die Story ganz schön runter. Trotzdem ist sie auf absurde Weise schön...
Liebe Grüße, BeautyMalfoy

PS: Es würde mich dennoch irgendwie interesieren, was nach diesem morgen mit Tai und dem 'Schlussmachen' mit Davis weiter mit T.K. geschehen ist. Er weiß, dass er nichts hat... und dass es auch nicht mehr 'gut' werden wird..
Und dennoch war er in den vorigen Kapiteln immer beinahe gegen Selbstmord.
Na, wie auch immer, ich fände eine kleine Fortsetzung toll.
Auch frage ich mich, wie Tai nun fühlt, da er mit Matt zusammen ist, ob der ihm wirklich geben kann, was er will. Waren wirklich keine echten Gefühle gegenüber T.K. vorhanden? Er kann diesen doch kaum einfach vergessen haben... Immerhin stand er wirklich knapp vor dem Tod.... mit T.K. zusammen...
Von:  _Eisblume
2009-03-28T19:31:05+00:00 28.03.2009 20:31
hey
ich hab mir mal deine fanfi durch gelesen
echt sche geschrieben
hat mir total gut gefallen


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