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Advent

Stille Zeit
von

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1. Advent

Advent

Die stille Zeit
 

I: 1. Advent
 

„Los jetzt, Falborg! Attacke!” Der riesige, grüne Falke erschien, wandte sich jedoch nicht dem Gegner, sondern ihm zu, und maß ihn mit einem wissenden, gleichzeitig unglaublich quälenden Blick. Er erhob seinen golden blitzenden Schnabel zu einem widerhallenden Schrei und sein Gefieder raschelte, als er sich hoch in die Lüfte erhob.

„Was zum-“, er blickte seinen Gegner an, welcher den Befehl zum Angriff gegeben hatte, und schnappte nach Luft. Ihm gegenüber stand niemand anderes als er selbst, mit eisigem, undurchdringlichem Blick, ein klirrend kaltes, sadistisches Grinsen auf den Lippen.

„Jetzt“, gab sein Ebenbild den Befehl.

„Nein, hör auf!“, sein Bemühen, den Falken zu stoppen, war erfolglos.

Falborg blickte ihn einen zögerlichen Moment lang an. Dann schlug der mächtige, anmutige Falke einmal mit seinen leise raschelnden Schwingen, die an ein Windspiel erinnerten, und stieß herab. Direkt auf ihn zu.
 

„Nein!“, er schreckte auf. Bryan saß aufrecht in seinem Bett, keuchend wie nach einem Marathon. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er nach einem Marathon wirklich hätte so außer Atem kommen können. Langsam hob er seine zitternde Hand an seinen Brustkorb, fühlte sein Herz, das schmerzhaft in ihm schlug. Es war nur ein Traum. Es war nichts passiert. Zum Glück.

Sein Blick wanderte zu seinem Wecker, welcher gerade mal sieben Uhr anzeigte. Seufzend stieg der Silberhaarige aus dem Bett, schlurfte auf Socken in die kleine Wohnküche und setzte Kaffee auf.

Während er darauf wartete, dass das Türkengebräu heiß wurde, wandte er seinen Blick hinaus auf die verschneite Landschaft der Alpen.

Er hatte früher oft geträumt weit weg zu fahren. Irgendwohin in den Süden vielleicht, auf einem Segelboot oder – noch besser – mit einem Flugzeug. Er hatte einmal ein Bild von den weißen Sandstränden Hawaiis gesehen, und von da an unbedingt dorthin gewollt. Bryan seufzte leise und setzte sich an den vereinsamten Tisch, trank seinen Kaffee in langsamen Zügen.

Vor einem Jahr hatte er sich seinen Traum erfüllen können; er war alleine gereist, war mit dem Flugzeug geflogen, und hatte den Urlaub am azurblauen Meer und den weißen Palmstränden genossen..

Ein weiterer Blick auf die Uhr verriet Bryan, dass es Zeit wurde. Schon innerhalb weniger Minuten hatte er sich fertiggemacht – frisch rasiert und in Jeans und dunklem Pullover gekleidet holte er auch schon seinen schwarzen Mantel von der Garderobe. Dabei fiel ihm eine lila-weiße Jacke in die Hände, deren Pelz sich zwar abgegriffen, jedoch immer noch weich anfühlte. Unwirsch schüttelte er den Kopf und vertrieb seine Gedanken. Nein, diese Zeit war vorbei. Trotzdem griff er nach der Jacke.

Mit leisem Klicken rastete das Schloss hinter ihm ein, als er die leere Wohnung absperrte.
 

Bryan schritt langsam, beinahe schon gemächlich durch die Straßen seiner momentanen Heimatstadt Zürich. Er mochte diese Stadt mit ihrer zurückgenommenen Geschäftigkeit irgendwie. Alle waren ständig auf Trab, wie ein Uhrwerk, und doch herrschte eine gewisse Behaglichkeit.

Sein Weg zur Universität, wo er seit etwa einem Jahr Russisch unterrichtete, war nicht sehr weit, weshalb er ihn gerne zu Fuß unternahm – egal, welches Wetter herrschte.

Er schritt an einem bereits hell erleuchteten Schaufenster einer Gärtnerei vorbei, bei der er gelegentlich einkehrte, um sich mit frischen Kräutern für Tee einzudecken. Doch das Licht war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregte – es war jeden Morgen ab sieben Uhr geöffnet, und nun, wo der Winter nicht mehr fern war, brannte zu ebenjener Stunde auch Licht. Mehr war es die Ankündigung im Schaufenster, die ihn dazu veranlasste stehenzubleiben und einige Minuten reglos durch die Glasscheibe zu starren.

>Der Advent naht – nun führen wir auch Adventskränze!<

War es wirklich schon wieder Zeit? Bryan kam es so vor als wäre sein letztes einsames Advents- und Weihnachtsfest erst wenige Monate her. Doch tatsächlich schien wieder ein Jahr vergangen zu sein.
 

Eine Turmuhr schlug, und der Silberhaarige eiste sich von dem Anblick der glitzernden Tannenkränze los, eilte zur Universität. Doch der Gedanke an die bevorstehende Zeit verfolgte ihn während seiner Unterrichtsstunden.

Advent.. morgen war tatsächlich schon der erste Advent..
 

Er hatte es vor einigen Jahren aufgegeben, das Fest zu feiern. Es war nur deprimierend, weckte zu viele Erinnerungen. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie es mit seinen Eltern gewesen war. Das einzige, an das er sich noch erinnerte, war, dass er als kleiner Junge immer seiner Mutter zugesehen hatte, wie sie einen Kranz aus Tannenzweigen geflochten und anschließend die Kerzen darauf festgesteckt hatte.

Der Advent war früher immer die schönste Zeit des Jahres gewesen, die er kaum hatte erwarten können. Das ganze Jahr über hatte er sich darauf gefreut..

Immer, wenn es auf den Advent zugegangen war, war es ruhig geworden in der Abtei. Sicher, sie mussten immer noch trainieren, aber ihnen wurde etwas Freizeit zugesprochen. Für Balkov musste der Advent mehr bedeutet haben, denn zu jener Zeit hatte er nur leichte Strafen verhängt wie etwa Küchen- oder Putzdienst.

Das Schönste war immer der erste Advent gewesen. Sie alle waren vom Training freigestellt gewesen und waren in die Kirche der Abtei gegangen, wo ein Priester eine kurze Andacht gehalten hatte. Dann hatte ein auserwähltes Kind der jüngsten unter ihnen die erste Kerze anzünden dürfen. Er hatte es einmal gedurft, und es war einer der schönsten Momente seines damaligen Lebens gewesen. Bryan erinnerte sich noch gut an die Faszination, die er verspürt hatte, als die Kerze endlich gebrannt hatte.

Später, als er zusammen mit Ian, Spencer und Tala ein Team gebildet hatten, hatten sie jedes Jahr ausgelost, wer in den angrenzenden Wald und Zweige für einen Adventskranz abschneiden musste. Meistens hatte er verloren, aber es hatte ihm nichts ausgemacht. Wirklich nicht, niemals. Denn er hatte es gerne getan.

Bryan schmunzelte leicht, als er daran dachte, wie viel sie immer gelacht und gescherzt hatten, als sie gemeinsam den Kranz banden. Wie Ian immer fluchte, wenn er einen stacheligen Zweig ins Gesicht bekam. Wie Spencer immer helfen musste, den großen Baum mitten im Innenhof aufzustellen, weil es so groß und stark war. Und wie selbst Tala, der so selten lächelte und lachte, während der Advents- und Weihnachtsandacht immer ein Lächeln auf den schmalen Lippen gehabt hatte, wenn er dachte niemand beobachte ihn. Und er selbst.. er war entgegen seiner kalten Fassade innerlich erwärmt, jedes Jahr.
 

Auf dem Heimweg fiel ihm etwas Winziges, Federleichtes auf die Nase. Bryan sah nachdenklich zum Himmel und hielt die Hand auf. Eine weitere Flocke fiel auf seine Hand, schmolz. Tatsächlich, es schneite.

Schon den ganzen Tag über hatten schwere Wolken den Himmel verhangen, es roch nach Schnee, doch der Silberhaarige hatte die Hoffnung beinahe schon aufgegeben. Nun blieb er mitten auf dem Bürgersteig stehen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, genoss die leichte Brise, die durch die Straßen wehte. Menschen hasteten an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, ohne ihn anzustoßen, doch auch, ohne den Schnee zu bemerken.

In der Nähe stand ein kleines, in einen dicken Mantel gehülltes Kind, und zupfte aufgeregt am Mantel seiner Mutter. „Sieh mal, Mami!“, war seine klare, begeisterte Kinderstimme zu hören, „Es schneit!“

Bryan schmunzelte leicht und ging ein paar Schritte.

Und plötzlich stand er wieder vor dem Schaufenster mit den Adventskränzen. Wieder sah er ins Schaufenster, besah sich sein Spiegelbild, das ihn verwundert aus grauen Augen ansah, die verhalten begeistert blitzten. Sein Spiegelbild trug seine frühere Lieblingsjacke mit dem Emblem der Demolition Boys und dem Pelz am Kragen, dem kuscheligen, etwas abgetragenen Pelz, in den er sein Gesicht immer gerne kuschelte, auch wenn es seltsam klang. Er sah gesünder aus als früher, nicht mehr so blass, aber irgendwie auch einsamer. Etwas fehlte.

Leichte, weiße Flocken fielen vom Himmel, setzten sich in seinem Haar fest und ließen es glitzern. Bei diesem Glitzern musste er plötzlich an den großen, weißen Eiswolf denken, den Tala zum Bitbeast gehabt hatte. Bryan wusste, was fehlte. Drei Personen, seine Familie, die in alle Winde verstreut war. Spencer, Ian und Tala.

Ihr Kontakt war abgebrochen, als er Moskau vor Jahren verlassen hatte. Sie waren im Streit auseinander gegangen, alle, und er bereute es noch immer, acht Jahre später. Das Schlimmste war, dass er den Grund des Streits noch nicht einmal mehr benennen konnte.

Sein Spiegelbild blinzelte ihn wehmütig an. Was war bloß aus ihm geworden? Er war knappe 29, hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und lebte von Tag zu Tag in Einsamkeit. Sicher, er hatte sich seine Träume größtenteils erfüllt, doch was war das ohne sein Team, seine Familie gewesen?

Bryan stand nicht mehr unentschlossen vor dem Schaufenster, sondern betrat endlich das kleine Gärtnereigeschäft. Im Inneren war es feucht-warm, Blumen erblühten auf jedem freien Fleck. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die freundliche Verkäuferin am Tresen und lächelte ihm souverän zu.
 


 

„Falborg!“

Sein Spiegelbild mit den kalten Augen blickte ihn verwirrt an, ihn, der das Bitbeast mit solch ruhiger, beinahe schon sanfter Stimme gerufen hatte. Das Gefieder des Falken raschelte leicht in der warmen Brise, die er bei seinem Erscheinen erzeugte.

Wieder wandte der riesenhafte Vogel sich ihm zu, doch ohne jegliche Aggressivität. Er blickte ihn aus weisen, schwarzen Augen heraus verstehend an und gurrte zustimmend, als Bryan das Stadium ohne jede Furcht durchschritt, um zu seinem Spiegelbild zu gelangen. Der Junge war ein gutes Stück kleiner als er selbst und verbarg seine Angst gut. Doch Bryan sah sie in seinen Augen aufblitzen, als er langsam nähertrat.

„Jetzt hör schon auf“, er lächelte leicht, „Es ist Advent – du darfst du selbst sein.“

Bryan ging nicht weiter auf sein jüngeres Spiegelbild zu, sondern wartete darauf, dass es den nächsten Schritt machte. Das tat es auch. Seine jüngere Ausgabe lächelte leicht, und Falborgs weiches Gefieder streifte seine Schulter.
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen erwachte er an diesem Morgen, und ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass es schneite. Es war gerade zehn Uhr geworden, und er fand schneller als sonst in die Realität, die ihm mit einem Mal nicht einmal mehr so beklemmend und einsam vorkam.

Er verbrachte den Vormittag über Unterrichtsvorbereitungen, aß zu Mittag und entschied sich am Nachmittag für einen Spaziergang in der Züricher Altstadt, die schon in der schönsten Weihnachtsbeleuchtung strahlte.

Ihm war einfach danach, durch die verschneiten Straßen zu schlendern und die Menschen zu beobachten. Die Schaufenster waren schön herausgeputzt, obwohl die Geschäfte sonntags geschlossen blieben, und hin und wieder erwischte er sich, wie er stehen blieb, durch eine der Scheiben sah, und sich überlegte, was er wohl einem jeden seines Teams zu Weihnachten schenken wollte..

Dünn lächelnd schüttelte er den Kopf über sich selbst und setzte seinen Weg fort und steckte seine Hände in die Taschen seiner Lieblingsjacke. Leises Knistern von Papier war hörbar, als er den Zettel hervorkramte. Er blieb abrupt stehen, kaum hatte er die schwungvollen, kyrillischen Buchstaben erblickte.

Ian.. mit einer Telefonnummer.

Bryan konnte sich ein melancholisches Lächeln nicht verkneifen. Das war typisch für den Kleinen, den sie früher einmal liebevoll ‚Krümel‘ getauft hatten. Der Jüngste mochte den Spitznamen nicht wirklich, besonders nicht, nachdem er nach einem Wachstumsschub nochmal ein gutes Stück gewachsen war. Der Silberhaarige beschloss, diesen Wink des Schicksals zu nutzen, und steuerte zielstrebig eine Telefonzelle am anderen Ende des Platzes an, auf dem er sich gerade befand.

Es läutete nicht lange, bis sich Ians vertraute Stimme meldete.

>„Papov hier“<

Bryan lächelte leicht. „Hallo Krümel, ich bin’s.“
 

Die kleine Flamme des Streichholzes entzündete die erste Kerze, und Bryan sah von seiner dunklen Wohnung hinaus in die einzig von Straßenlaternen erhellte Dunkelheit der wolkenverhangenen Nacht.

Die Kerze strahlte nicht viel Licht aus, gerade so viel, dass er selbst ein wenig des wärmenden Scheins abbekam, doch er wusste irgendwoher, es war nicht zu spät.

„Kaum zu glauben.. der erste Advent..“, murmelte er, wie zu sich selbst, und fühlte, wie die Einsamkeit all der Jahre von ihm abfiel.

2. Advent

II: 2. Advent
 

Das Morgenlicht flutete über die wie bepudert wirkenden Dächer Paris‘ und spiegelte sich in der nicht weit entfernten Seine wieder, schillerte in verschiedensten Farben auf dem trägen Gewässer. Das Licht drang durch die Fenster der Mansardenwohnung hinein, auf einen niedrigen, für eine Person gedeckten Küchentisch, auf dem der geschlossene Koffer einer Violine lag.

Er kam ins Zimmer, hellwach und doch vom Schlaf trunken, nippte an einer Tasse Kaffee. Er verzog leicht sein Gesicht. Das schwarze Gebräu schmeckte bitter und war etwas zu stark, doch es zeigte Wirkung und vertrieb den letzten schläfrigen Nebel aus seinen Gedanken.

Ian seufzte und sah über die Dächer hinweg auf die Seine. Manchmal sehnte er sich nach gutem russischem Tee und den damit verbundenen endlosen Gesprächen, auch wenn letzteres bei ihm und seinen ehemaligen Teamkollegen nur nach einer ordentlichen Dosis Wodka vorzukommen pflegte..

Der Dunkelhaarige schüttelte den Kopf und zog die Nase kraus. Es war zwecklos. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen, was sollte da eine Teerunde nach guter alter russischer Sitte?

Außerdem kannte er leider nur einen, der wirklich passable Teemischungen herstellte, und den hatte er, genauso wie alle anderen, lange nicht mehr gesehen oder auch nur gesprochen. Zu Schade.
 

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Ian fest, dass es Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen. Er legte sich den Koffer seiner Stradivari auf die Knie und rollte ins Treppenhaus, zum Aufzug. Die Tür zu seiner hellen Wohnung, die er sich vor fünf Jahren inmitten der französischen Hauptstadt eingerichtet hatte, fiel hinter ihm mit einem dumpfen Klicken ins Schloss.

Die Aufzugtüren schlossen sich automatisch hinterihm. Er mochte Aufzüge nicht - in diesen Kisten fühlte er sich der Technik hilflos ausgeliefert - aber er hatte keine andere Wahl. Er wollte nicht schon wieder zu spät zur Probe kommen und damit den Groll des Konzertmeisters auf sich ziehen, einem ohnehin schon mürrischen Franzosen, der sehr viel Wert auf die Pünktlichkeit seiner Musiker legte – eine für einen Gemütlichkeit gewöhnten Russen eine schwer zu bewältigende Aufgabe.
 

Der Pförtner hielt ihm lächelnd und freundlich grüßend die Tür auf, sodass er ohne Probleme hindurch rollen konnte. Ian spürte das Mitleid im Blick des Pförtners, ignorierte es jedoch geflissentlich.

Er kam inzwischen alleine zurecht; er brauchte weder andere Menschen noch ihr Mitgefühl, weder ihr Mitleid noch ihre vermeintliche Barmherzigkeit gegenüber einem Invaliden. Er saß im Rollstuhl. Na und? Er konnte für sich selbst sorgen.

Menschen, die ähnliche Schicksale hatten wie er – er hatte sie getroffen, mit ihnen allen gesprochen – waren die einzigen, die ihn nicht bemitleideten. Sie hatte es teilweise schlimmer erwischt. Im Gegensatz zu Außenstehen hatten sie eine einzigartige Methode gefunden, sich mit ihrem Handicap abzufinden: eine unschlagbare Waffe namens Humor.
 

Der Konzertmeister funkelte ihn schon von seinem Pult aus zornig an, obwohl er nur eine einzige Minute in Verspätung war. Monsieur Grenallier war wohl einer der einzigen Menschen, die ihm wegen seines Handicaps keine Sonderstellung einräumten. Ian war es Recht. So wusste er, er war Solist, weil er das Spiel der Violine beinahe zur Perfektion beherrschte, und er konnte stolz auf diese Leistung sein – in Grenalliers Orchester waren nur die besten Musiker Paris‘. Und gerade probten sie für das große Silvesterkonzert, das jährlich zu wohltätigen Zwecken stattfand.

„Wir beginnen mit der französischen Weise, opus 46.“, ordnete Monsieur Grenallier an, und für einige Zeit war nur das Rascheln von Notenblättern und leises Kratzen von Bleistiften zu hören. Der Konzertmeister blickte von seinem erhöhten Platz auf Ian hinab und nickte ihm zu. „Monsieur Papov, ich habe mich entschieden, die zweite Solovioline mit Monsieur Challè an Sie zu vergeben.“, erklärte er und nickte besagtem Herrn mit graumeliertem Haaransatz zu, dessen Augen vor sanfter Trauer überschattet leuchteten. Ian nickte und erinnerte sich für einen Moment an die Frau Challès, die vor einem Jahr überraschend gestorben war – bis dahin hatte immer sie mit ihrem Mann zusammen dieses Solo gespielt.

Ian lächelte seinem Gegenpart aufmunternd zu und setzte die Stradivari ans Kinn, als Konzertmeister Grenallier den Einsatz gab.

Die folgende französische Weise war im Gedanken an Madame Challè, deren Geist für einige der feinfühligeren Musiker unter ihnen schwebte und sanft über die Saiten der Violinen strich..
 

Ian atmete tief durch und ließ sich auf die Melodie ein. Ein sanftes piano wurde angeschlagen, das sich langsam im Laufe des Stückes steigerte. Ian genoss einen jeden Ton, den er seiner Stradivari entlockte und gab sich völlig seinen Gedanken hin.

Manchmal schien es ihm so, als wäre niemals etwas geschehen, als könne er die Zeit zurückdrehen und dem Unfall entgehen.

Es kam ihm ein jedes Mal vor wie gestern, wenn er daran dachte, wie er das Vorspiel – das immerhin schon über 6 Jahre zurücklag – mit zitternden Knien aber völlig ruhiger Hand hinter sich gebracht, sein erstes Konzert als Soloviolinist gegeben hatte. Dieses unbeschreibliche Gefühl, vor einer Menschenmenge zu stehen, zu wissen, ein jeder starrte ihn an, und doch geistig entrückt zu sein, sodass er die Zuhörer nur am Rande wahrnahm, kam nur ein einziges Mal im Leben eines Violinisten vor. Bei seinem ersten Auftritt, bei welchem er einen erhöhten Platz neben dem Dirigenten einnimmt, so für einen jeden sichtbar ist..
 

„Papov! Ich muss Sie schon bitten..“, schnaubte Monsieur Grenallier ungehalten und sah den jungen Russen ungeduldig an, welcher aus seinen Gedanken, seiner eigenen kleinen Welt geschreckt endlich aufgehört hatte zu spielen und zu ihm aufsah. Ian nuschelte ein leises „Verzeihen Sie, Monsieur..“ und konzentrierte sich wieder auf seine Noten.
 

Er war dem Tod von der Schippe gesprungen. Vor etwa fünf Jahren.

Paris im Schnee war ein besonderes Erlebnis, wenn man durch die schmalen Seitenstraßen schlenderte. Er hatte sich ein wenig reumütig an seine ehemalige Heimat Moskau erinnert gefühlt. Die erste Dezemberwoche war gerade angebrochen, der erste Schnee hatte die Straßen und Bürgersteige mit einer spiegelglatten Eisschicht überzogen; alles glitzerte und glänzte, in Schaufenstern wie auf den Balkonen und in den Fenstern der Einwohner.

Er war durch die Straßen geschlendert, völlig in sich selbst verloren und von der Zeit und dem Rest der Welt vergessen..

Manche Dinge geschehen entweder in nicht zu erfassender Geschwindigkeit oder gar nicht. Aus dem Nichts war ein Wagen aufgetaucht, kam genau auf ihn zugeschossen; der Fahrer hatte die Kontrolle über den Wagen verloren, klammerte sich mit verzweifelter Panik an das Lenkrad. In weniger als einer Viertelsekunde wurde er von dem Wagen gerammt und zur Seite geschleudert, ehe das Fahrzeug nicht weit entfernt mit einem anderen zusammenstieß. Ian selbst war vom dichten Nebel der Ohnmacht umhüllt gewesen, nicht fähig sich zu rühren, ohne jegliches Schmerzempfinden.
 

„Sehr gut, sehr gut!“, Ian blinzelte überrascht. Hatte er wirklich zu träumen begonnen..? Schon wieder, wie so oft in der letzten Zeit. Der Konzertmeister ließ einen zufriedenen Laut hören. „Nun gut, versuchen wir ein anderes Stück. Bitte schlagen Sie alle Seite 13 auf. Opus neun, wenn ich bitten darf; Grave.“ Ian blätterte, nahm Haltung in seinem Rollstuhl an und ließ die Noten durch seine Finger auf die Saiten perlen.
 

Er hatte schon über Nahtoderfahrungen gelesen; es war beileiben nicht so gewesen. Sicher, er hatte seinen Körper gesehen, voller Blut aus Schürfwunden, Prellungen, sah die Sanitäter in verzweifelten Wiederbelebungsversuchen. Beinahe wäre er gegangen, hätte das Leben hinter sich gelassen.

Doch etwas hatte ihn zurückgehalten – die Erinnerung an den Klang einer einzeln gestrichenen Violinsaite, gepaart mit dem Bild seines ehemaligen Teams. Plötzlich wurde ihm klar, seine Zeit würde kommen – aber es war noch nicht an der Zeit.

Im Krankenhaus hatte man ihm nach zwei langen Wochen Koma erklärt, die Nervenbahnen an seiner Wirbelsäule wären unterhalb des ersten Brustwirbelkörpers unterbrochen worden; beide Beine waren gelähmt.
 

„So möchte ich das hören, Monsieur Papov, noch mehr Schwermut und wir ertrinken in Melancholie!“, scherzte Monsieur Grenallier gut aufgelegt und ordnete sogleich das nächste Stück an. „Dieses Mal bitte das Adagio!“
 

Seine Teamkollegen.. seine Freunde. Es tat ihm immer noch Leid, dass sie nicht friedlicher auseinander gegangen waren. Wie hatte es angefangen..?

Richtig, er, Bryan und Spencer hatten gute Angebote gehabt, wollten reisen, Moskau und Russland verlassen. Tala hatte sie zusammenhalten wollen, versucht, einen jeden zurückzuhalten.. Aber was konnte sich schon gegen den Drang auf Freiheit stellen?

Schließlich war es in einem Streit geendet - ein Streit hatte ihr Vertrauen zueinander zerstört, hatte eine dicke Mauer zwischen sie gezogen, die sie alleine nicht vermochten einzureißen.

Der Unfall hatte ihn verändert, nicht nur körperlich, auch seine Einstellung. Er lebte einen jeden Tag voll aus, ohne ausschweifend zu werden, lebte seinen Traum als Musiker und drückte seine Gefühle durch die Stradivari aus, die warm unter den Tönen vibrierte, zu schmelzen schien. Der Bogen, nein, er selbst war wie lebendiges Wasser, das um einen Stein im Flussbett strich und ihn zärtlich liebkoste, seine Kanten abschliff.

Ian bekam nichts von seinem Umfeld mit, war nur noch Musik, war nur noch Melodie. Der Konzertmeister hatte, wie ein jeder anderer Musiker sein Instrument abgesetzt hatte, aufgehört zu dirigieren und lauschte ihm mit scheinbar angehaltenem Atem.

Kaum hatte Ian geendet und die Augen geöffnet, rauschte ihm der Beifall seiner Kolleginnen und Kollegen entgegen. Etwas verlegen lächelnd sah er auf die Stradivari in seinem Schoß, die noch letzte Reste der Melodie in sich barg und unendliche Wärme auszustrahlen schien.
 

„Dank Monsieur Papov“, der Dirigend nickte freundlich zu ihm hinüber, „gebe ich Ihnen allen für den morgigen zweiten Advent frei. Verbringen Sie ihn mit Ihrer Familie, unternehmen Sie etwas und erholen Sie sich, wir sehen uns dann am Montag wieder. Au revoir!“, mit diesen Worten nahm der Dirigent seine Tasche und verließ am vorgezogenen Ende der Probe geschäftigen Schrittes den Saal. Die anderen Musiker ließen sich mehr Zeit, freuten sich über den gewonnen freien Tag und tauschten Neuigkeiten aus.

Ian rollte jedoch bald davon. Er hatte noch einige Besorgungen zu erledigen – schon längere Zeit wartete sein Kühlschrank auf nichtsaure Milch. Das war eine Sache, die er immer wieder vergaß..
 

Der Schnee war schon zum größten Teil vom Bürgersteig und von der Straße geräumt worden, schon frühmorgens von mürrischen Straßenarbeitern, sodass er nun mit dem Rollstuhl keinerlei Probleme auf dem ebenen Untergrund hatte.
 

Nach all den Jahren hatte er eigentlich die Hoffnung aufgegeben, nochmals etwas von seinen ehemaligen Teamkameraden zu hören, so traf ihn der Anruf mehr als nur unterwartet. Aber vor weniger als einer Woche hatte einer von ihnen angerufen. Bryan. Ihr Telefonat war kurz und ein wenig einsilbig gewesen, aber sie hatten miteinander gesprochen.. und nun wollte sein ehemaliger Teamkollege und Freund ihn besuchen. Einfach so, ohne besonderen Grund.

Da fiel ihm ein, wenn Bryan kommen wollte, musste er sich noch mit Tee eindecken..
 


 

Er erkannte Bryan schon von Weitem wieder, und sei es nur wegen der Jacke, die er zu Beyblader-Zeiten ständig zu tragen gedacht hatte. Der Silberhaarige war aus der Menge herausgetreten, ein wenig abseits, und ließ seinen Blick suchend über die Menge schweifen. Der Bahnhof war trotzdem hoffnungslos überfüllt an diesem frühen Sonntagmorgen.

Ian brachte seinen Rollstuhl nahe der Rolltreppe zum Stehen und suchte sich mit den Augen einen möglichen Weg zu Bryan, ehe er ihn auch zu bewältigen begann. Dabei ließ er hin und wieder ungeduldige Flüche auf Russisch verlauten, um die Menschen zum Platzmachen anzuregen.
 

„Ian?“, Bryan blinzelte ihn ungläubig an. Der Jüngere grinste lakonisch. „Ja, so lautet mein Name, Bryan.“, meinte er und blinzelte zum Silberhaarigen auf. Der schüttelte unwirsch den Kopf. „Das meinte ich doch gar nicht!“, ärgerte er sich und deutete dann auf den Rollstuhl. „Seit wann?“, wollte er mit einer Spur von Vorwurf wissen.

Natürlich, fiel Ian ein, der Unfall war zu einer Zeit geschehen, da sie nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Deshalb konnte Bryan unmöglich davon wissen.. Er zuckte mit den Schultern und murmelte: „Ein kleiner Unfall vor 5 Jahren, nichts weiter..“ Bryan funkelte ihn aufgebracht an. „Nichts weiter“, echote er unterkühlt.

Das wiederum ließ Ian seine Stirn in Falten legen. Er und Bryan hatten sich nie sonderlich nahegestanden und mit Leidenschaft eine jede Kleinigkeit in einem Streit ausgetragen – aber was sollte das schon wieder? „Hör mal zu, Kuznetsov“, sprach er ruhig und fixierte den Blick des anderen, „Wenn du nur hier bist, um mir auf die Nerven zu fallen und Streit zu suchen kannst du gerne wieder abreisen. Ich habe nichts dagegen.“

Bryan machte einen betroffenen Eindruck. Er brummte etwas, das nach einer Entschuldigung – oder zumindest annähernd nach einer Entschuldigung – klang und schulterte seine leichte Tasche, ehe er fragte: „Wohin?“ Ian ließ ein zufriedenes Grinsen aufblitzen und wies mit einer Hand in Richtung Rolltreppe: „Immer dem Typ im Rollstuhl nach.“, feixte er und rollte voran.
 

Bryan staunte offensichtlich über die Sauberkeit der Wohnung – „Woher hast du nur so ‘ne Putzfrau?“ – und blickte sich aufmerksam im hellen Raum um. Sein Blick fiel auf die Stradivari und den Haufen fein säuberlich aufgestapelter Notenblätter daneben, die auf dem Küchentisch ihren Posten bezogen hatten. „Du bist also wirklich Violinist geworden?“, erkundigte sich Bryan und sah Ian voller freundlichem Interesse an. Der Angesprochene nickte bestätigend. „Was machst du zurzeit?“, stellte Ian die Gegenfrage, während er Teewasser aufsetzte und Bryan, der am Küchentisch saß, die Gläser mit den verschiedenen Teemischungen zuschob. „Ich geb‘ Russisch an der Uni in Zürich.“, auf diese Antwort hin musste Ian doch schmunzeln. „DU?“, stichelte er leicht ungläubig, „Im Umgang mit anderen Menschen?“ „Stell‘ dir vor, das ist sogar möglich.“, ging Bryan auf den spöttischen Tonfall ein, den Ian angeschlagen hatte, und trat neben den Rollstuhl, „Übrigens denke ich, wir könnten Melisse vertragen.“
 

Bei Tee und vorweihnachtlichem Gebäck, das Ian in einer Ecke ausgegraben hatte, redeten die ehemaligen Teamkollegen bis zum Abend. Zu fortgeschrittener Stunde stand Bryan auf, verließ den Raum, und Ian vernahm leises Klackern, das Auf- und Zuziehen eines Reißverschlusses und das leise Rascheln einer Plastiktüte.

Dann kam Bryan wieder in den Raum getappt, in der Hand ein rundes Gebilde aus Nadelzweigen, worauf vier Kerzen dekorativ mit einigen rot-goldenen Schleifen angeordnet waren. Skeptisch maß Ian den Kranz mit den Augen, ehe er einen fragenden Blick auf seinen ehemaligen Teamkollegen richtete. „Was soll das werden?“, verlieh er seinem Misstrauen schließlich Ausdruck und beobachtete, wie der Silberhaarige den Kranz auf dem Couchtisch platzierte, zwei der Kerzen anzündete und die ruhigen Flammen eine Weile lang betrachtete.

Mit einem Mal schmunzelte Bryan und blickte ihn mit Schalk in den Augen an. „Du hast es tatsächlich vergessen, oder?“, vermutete er dann, obwohl er die Antwort schon so gut wie kannte. „Was vergessen?“, fragte Ian perplex und durchforstete sein Gehirn. Nein, heute hatte niemand Geburtstag, das konnte es nicht sein..

Bryan verdrehte gespielt verzweifelt die Augen. „Es ist der zweite Advent.“, klärte er dann auf und lächelte leicht.

Ian konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. Ja, er hatte ganz vergessen, wie versessen Bryan früher immer auf den Advent gewesen war. Dann wandte er seinen Blick auf die ruhige Flamme, blickte hinein und spürte auch die früheren Ängste und Assoziationen im Zusammenhang mit Feuer in ihm brodeln, doch nur mehr als leichte Erinnerung an vergangene Qual.

Bryan hatte Recht.

Es war der zweite Advent.

Nicht mehr lange bis Weihnachten.. und dann wären sie wieder zusammen..
 

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^^

cu next week;3

3. Advent

III: 3. Advent

Es war heiß. So unglaublich heiß.

An diesem Morgen fiel es Spencer noch schwerer als sonst, aus dem Bett zu kommen. Sein Blick wanderte zum Fenster hinaus, und gerade noch so konnte er ein wehmütiges Seufzen unterdrücken. Vor dem Fenster erstreckte sich karge Steppe, die Sonne brannte nur so vom Himmel. Es war heiß.. Und es war Mitte Dezember..

Ja, was wollte er? So war Australien nun einmal, und nicht anders.

Wie schon so oft drängte sich ihm die Frage auf, was ihn ins Australische Outback verschlagen hatte.. War es das Klima gewesen? Die wunderbare Aussicht, weit abgeschieden der Zivilisation eine eigene Schafzucht zu unterhalten? Die zwei Stunden Fahrt durch Wüste, Sand und Staub und das auch noch mit einer Schrottkarre, die Ihresgleichen suchte, nur, um in der Stadt Vorräte einzukaufen?

Angesichts der Tatsache, dass er die Hitze hasste wie sonstwas und des Wüstenstaubs, der ihm von Anfang an auf die Nerven gefallen war, nicht zu vergessen der Schrottkarre, über die er sich schlicht und ergreifend schwarz ärgerte, überdrüssig war musste es wohl etwas anderes gewesen sein.. Vielleicht war es ja.. die Liebe zu einer Frau gewesen..?

So seltsam es auch klingen mochte: ja. Mary, seine Frau, hatte ihn hergebracht, und würde wohl nicht mehr so schnell loslassen..

Als hätte sie seine Gedanken über eine verborgene Antenne oder Ähnliches verfolgt, regte sich plötzlich eine strohblonde, braungebrannte Gestalt neben ihm im Bett. Tiefbraune, beinahe schon ins Honigfarbene übergehende Augen lächelten ihn an, während sie sich an ihn kuschelte.

„Guten Morgen, Schatz“, murmelte sie sanft lächelnd, noch halb im Nebel des sich langsam verflüchtigenden Schlafs gefangen.

Er erwiderte die Begrüßung leicht brummig und richtete sich auf, setzte sich an den Bettrand. Der Schlaf war aus seinem Geist gewichen, zurück blieb die typische, schwere Hitze, die seinen Verstand lähmen wollte. Doch langsam hatte Spencer Übung darin, seine Gedanken trotzdem irgendwie in Schwung zu bringen. Meistens durch übertrieben starken Kaffee, ganz entgegen seiner vor Jahren abgelegten Gewohnheit, sich morgens mit einer Tasse frischen Tees zu erfrischen.

Zum Glück hatte er Bryan, als sie in der ersten Zeit in Freiheit gelebt hatten, einmal beim Kaffee-Brühen über die Schulter geschaut. Denn so gut der Silberhaarige auch Teekochen konnte, mit dem türkischen Getränk war er immer hoffnungslos überfordert gewesen..

Spencer musste leicht schmunzeln. Warum geriet ihm wohl gerade jetzt sein ehemaliger Teamkollege in die Gedanken hinein, wo er ihn doch acht Jahre erfolgreich verdrängt hatte?
 

Er bereitete in der Küche das Frühstück vor, während Mary ihren kleinen, dreijährigen Sohn versorgte. Matthew war ein kleiner Sonnenschein mit der zierlichen Statur seiner Mutter und der hellen Haut seines Vaters, der sie alle mit seinen kindlichen, tapsenden Schritten über den Hof oder die Veranda erheiterte. Spencer war unglaublich stolz auf seine kleine Familie, darauf, dass er das geschafft, was er sich niemals zu erträumen gewagt hatte.
 

„Oh, du hast Kaffee gemacht!“, freute sich Mary und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange; in derselben Bewegung setzte sie ihm ihren Sohn auf den Schoß. Spencer konnte sich ein Augenverdrehen nur schwer verkneifen. Jetzt schob sie ihm schon wieder Matthew zu.. Nicht, dass es ihm etwas ausmachen würde. Aber auch er musste mit anpacken, und mit dem Jungen bei sich wurde das oftmals doch erschwert, so ungern er es auch zugab.
 

„Holst du bitte die Post, wenn du in die Stadt fährst?“, fragte Mary wenig später, als sie schon auf dem Weg ins Arbeitszimmer war, um wie jeden Samstag die Buchhaltung zu erledigen, und lächelte ihn gewinnend an. Spencer konnte ihrem süßlichen Lächeln nicht wiederstehen, und das wusste sie auch – oftmals zu seinem Leidwesen..

„Und sei so lieb und nimm Matty mit – du weißt doch, bei der Buchhaltung kann ich mich nicht um ihn kümmern..“, bat sie mit bedauernder Miene und funkelte ihn gleichzeitig mit unwiderstehlichem Hundeblick an. Spencer schnaufte leise, sodass sie es nicht hören konnte, und wandte sich seinem Sohn zu. „Na, Matthew, kommst du mit mir in die Stadt?“, fragte er gespielt enthusiastisch, was vom Angesprochenen mit begeistertem aufeinander Patschen seiner kleinen Hände und freudigem Lachen belohnt wurde.

„Komm, Daddy!“, Matthew hopste von seinem Stuhl herunter und fasste seinen Vater bei der Hand, ging neben ihm her zum rostig-weißen Pick-Up, den Spencer sein Eigentum nennen durfte. Er hatte schon bessere Tage gesehen, das sah man ihm an, aber in letzter Zeit lief er wenigstens mehr oder weniger reibungslos – nach einem Besuch beim Schwiegervater, der ihn innerhalb eines halben Tages in Schwung gebracht hatte.

Matthew saß zufrieden auf dem Kindersitz hinter ihm, als Spencer den Wagen startete und erleichtert feststellen durfte, dass der Motor ausnahmsweise nicht abzusterben drohte. Sam – sein Schwiegervater – hatte also wirklich gute Arbeit geleistet..

Die Fahrt in die Stadt nahm jedes Mal einige Zeit in Kauf, die Spencer normalerweise mit Musik totzuschlagen gedachte, doch da sein Sohn mit im Wagen saß konnte er nichts anschalten, was ihm wirklich hätte gefallen.. Nun gut, der örtliche Radiosender tat’ s auch, wenn auch nur dürftig.

Die Straße zog sich hin, und Matthew schlief irgendwann ein. Spencer konnte sein schlafendes Gesicht im Rückspiegel sehen.

Wenn er es sich recht überlegte, hatte er wirklich Glück gehabt. Er war mit einer wunderbaren Frau zusammen einen liebevollen Sohn, einen Sonnenschein, der kein Leid gesehen hatte in seinem Leben, anders als er selbst, der mit vier Jahren schon in der Abtei abgegeben worden war.. Und er schwor sich, Matty sollte so etwas niemals erleben, dafür wollte er kämpfen.

Doch andererseits hatte er erst in der Abtei seine besten – und wahrscheinlich auch einzigen – Freunde gefunden, egal, ob sie noch miteinander sprachen oder in Kontakt standen. Für ihn würden sie wohl immer seine besten Freunde bleiben, wenn auch alle ihre eigenen Eigenarten hatten, das zu zeigen.
 


 

Spencer atmete erleichtert auf, als er den kleinen Ort erreichte. Ihm fielen diese endlosen Fahrten immer auf die Nerven, wohingegen er sich wirklich stundenlang mit Matty vergnügen konnte. Mary war dies meist Recht – sie hatte die Buchhaltung der Ranch inne, jonglierte mit Zahlen, während er den Haushalt erledigte. Eine seltsame Rollenteilung, aber effizient. Der Russe erledigte einige während der Woche angefallene Besorgungen, hievte die Einkäufe in den Pick-Up. Er fragte sich immer wieder, wer mit ihren wöchentlichen Vorräten wirklich versorgt wurde – Arbeiter konnten doch nie so viel essen!

„Daddy, gehen wir da rüber zum Spielplatz?“, bat Matty, nachdem er folgsam neben seinem Vater hergegangen war, während jener Marys Aufträge ausgeführt hatte. Spencer lächelte ihn freudig an. „Aber natürlich, Kleiner! Komm!“, mit diesen Worten hob er seinen Sohn auf seine Schultern.

Bei der Schaukel angekommen setzte der Russe seinen Sohn schließlich auf eines der Holzgestelle. Der kleine, blondhaarige Junge schlug die Beine in den Wind, um mehr Schwung zu holen, während er auf der Schaukel höher und höher flog. Matthew liebte es, zu schaukeln, deshalb hatte Spencer ihm auch auf ihrer Ranch eine Schaukel im Schatten eines der größeren Bäume aufgehängt. Matthew liebte die Schaukel und würde, wie der Russe insgeheim vermutete, wohl Tag und Nacht darauf verbringen, würden sie ihn lassen.

Plötzlich tauchten vor seinem inneren Auge Tala, Ian, Bryan und er selbst auf, auf einem etwas verkommenen Spielplatz irgendwo in einem Park Moskaus, den sie während einer Freistunde entdeckt hatten. Tala war noch nicht so, wie er später geworden war – viel mehr das Gegenteil davon. Er lachte, während er sich in kindlichem Übermut einen ‚Wer-schaukelt-höher‘-Wettbewerb mit Bryan lieferte. Ian war noch sehr klein und sah ihnen beiden mit faszinierten Augen zu.. Am Ende hatten er, Bryan und Tala den Jüngsten zusammen auf eine der Schaukeln gesetzt und eine Runde schaukeln lassen. Ian jauchzte vor Freude..

..genauso wie Matthew es in diesem Moment auch tat. Das ließ Spencer aus den wenigen schönen Erinnerungen an seine Kindheit, die er wie einen Schatz immer bei sich trug, in die Realität zurückkommen. Leider musste er in der Realität noch die Post abholen, anstatt Ewigkeiten mit seinem Sohn auf einem Spielplatz zu verbringen, wie er es gerne getan hätte.
 

„Rechnung, ‚Sie könnten 5000$ gewinnen‘, Rechnung, Mary, Rechnung, Werbung..“, murmelte Spencer vor sich hin, während er den Stapel von Post durchsah und grob aussortierte. Als letztes hielt er einen an ihn adressierten Brief in der Hand, und – er konnte nicht genau sagen, was es war – etwas störte ihn daran. Nicht nur, dass ihm auf Anhieb nicht ein Mensch einfiel, der ihm hätte schreiben können – außerdem wusste außer seinem Team niemand seine Adresse.. Das war nicht alles. Auf den ersten Blick war der weiße, fein säuberlich beschriftete Umschlag nichts Besonders. Doch auf einen zweiten und dritten Blick hin erkannte Spencer endlich die Ungereimtheit. Der Brief war in kyrillischen Buchstaben geschrieben. In einer ihm bekannten Schrift.
 

Er hatte versucht, die Bande zu kappen, immer wieder. Es hatte nie wirklich geklappt.

Manchmal gab es Zeiten, da dachte er nicht an seine Zeit in Russland, musste nicht verdrängen und lebte in den Augenblick hinein. Es war wirklich schön, in solchen Momenten mit Matthew und Mary unterwegs zu sein, und gemeinsam bei einem Picknick zu lachen und zu scherzen, ohne ständigen Gedanken daran, wie es mit dem Rest seiner Familie, seinem Team sein würde.

Manchmal war er einen Moment lang sogar glücklich. Wirklich glücklich.

Und wie es diese glücklichen Augenblicke gab, so gab es auch die, während derer er vor lauter Heimweh nicht wusste, wohin. Dann plagten ihn die Bilder vergangener Zeiten, seines vergangenen Lebens in Russland, diesem kalten, unwirtlichen, aber trotzdem sehr gastlichen Land, das er seine Heimat nennen durfte. Er vermisste den Schnee, den Umgang der Menschen miteinander, die gemütlichen Nachmittage, während derer man im Winter die Zeit vergessen konnte – er vermisste alles. Aber er hatte es hinter sich gelassen. Für Mary.

Nun kamen Spencer zum ersten Mal ernsthafte Zweifel, während er die Handschrift als die Bryans identifizierte – leichte, kleine Schwünge, gut leserliche Buchstaben, doch trotzdem mit einer Spur Eigensinn – ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte, seine Nationalität, seine Herkunft zu verleugnen und hierher zu kommen.

Eine Stimme in ihm schalt ihn, endlich seiner Frau und seinem Sohn die Wahrheit zu sagen. Er kam aus Russland, nicht aus Amerika, wo seine Frau und er sich kennengelernt hatten. Er war Staatsbürger des Staates, den Mary abgrundtief hasste, aus welchem Grund auch immer.

Er konnte es selbst auf dem Heimweg noch nicht so recht fassen. Nach Jahren des Schweigens sollte auf einmal ein Brief, noch dazu von einem der nachtragendsten Menschen Moskaus, die Funkstille zwischen ihnen brechen.

Es war nicht viel. Eine schlichte Weihnachtskarte, die ihm, zweckentfremdet wie sie eigentlich war, eine schöne Adventszeit wünschte. Und eine kurze Notiz – ‚Am Flughafen von Sydney liegen 3 Karten für den 24. nach Moskau – Bryan‘ – die ihn noch mehr verwirrte. Was sollte er in Moskau, wenn der Absender des Briefes in der Schweiz lag?

Es war ihm absolut schleierhaft, was er in seiner ehemaligen Heimatstadt sollte, noch dazu an Weihnachten, wo er mit der ganzen Familie seiner Frau im Haus der Schwiegereltern sitzen und sich zu Tode langweilen sollte, während der Rest auf die Russen schimpfte? Spencer fiel es leicht, sich vorzustellen, mit seinen alten Freunden einen gemütlichen Abend zu machen – es klang so viel schöner als diese grässliche.. Familienzusammenkunft seiner Frau.

Da war aber noch eine andere Frage, die sich ihm aufdrängte: woher wusste Bryan überhaupt von seiner Frau und seinem Sohn?

Ach ja, richtig.. er hatte bei Mattys Geburt je eine Karte an die verschiedenen Adressen der anderen drei – Moskau, Paris und Zürich - geschickt
 

Wenn sie sich in Moskau treffen sollten.. sollte es eine Art.. Versöhnung und Wiedervereinigung ihrer kleinen Familie werden? Keiner von ihnen hatte noch lebende oder auffindbare Verwandte, und vor dem.. ‚Vorfall‘ hatten sie zusammen eine gemütliche Wohnung am Stadtrand Moskaus bewohnt.

Aber.. Tala würde nie mitspielen. Niemals. ER hatte sie damals alle in Moskau, in Russland halten wollen. Erst durch ihn war es zum Streit gekommen – und das würde er niemals zugeben. Tala war nicht dazu imstande, Fehler einzugestehen.

Spencer seufzte ungehört und beobachtete eine kurze Weile Matthews fröhliches Spiel mit einer kleinen Zinnfigur, versuchte sich daran zu erheitern, doch seine Gedanken wollten nicht vom ‚Vorfall‘ – wie er ihren Streit getauft hatte – weichen.

Es beschäftigte ihn auch noch, während er die Einkäufe ins Haus brachte – jede Minute, jede Stunde des Tages.
 

Während sie ihm später beim Abwasch zusah und dabei Matthew auf ihrem Arm hielt bemerkte Mary fröhlich: „Mir ist heute über den ganzen Zahlen eine Idee gekommen - Wie wäre es eigentlich, wenn deine Familie zu Weihnachten zu uns kommen würde?“

Spencer sah sie für einen Moment lang sprachlos, vielleicht auch ein wenig geschockt, an und wollte schon zu einer seiner perfekten Lügen ansetzen. Doch da kam ihm ein Gedanke: Warum sollte er seiner Frau – der er geschworen hatte, immer ehrlich zu ihr zu sein – nicht die Wahrheit sagen? Kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, schien plötzlich alles so.. einfach.

„Na ja.. eigentlich habe ich keine Familie in diesem Sinn – du weißt ja, sie sind schon vor langer Zeit gestorben.“, begann er und wartete eine Reaktion ab. Als außer einem Nicken und einem abwartenden Blick nichts weiter kam, fuhr er fort: „Meine Familie sind drei Jungen, mit denen ich aufgewachsen bin.. aber nicht in den USA, wie du geglaubt hast.. sondern in Russland.“

Die Australierin blickte ihm ungläubig ins Gesicht, nachdem er sich ihr nun zugewandt hatte. „Nein.. das kann nicht sein..“, murmelte sie und hielt ihren Spross nur noch etwas fester im Arm. Sie schien es nicht glauben zu wollen. Spencer seufzte. Er hatte schon mit so etwas gerechnet, so oft wie er dieses Gespräch in Gedanken durchgespielt hatte. Aber zu einem Ende war er nie gekommen.

„Es ist aber so.“, bestätigte er und trat näher an sie heran, die, mit Matty im Arm, vor ihm zurückwich. Spencer fühlte einen Stich. Ein solches Überreagieren hatte er nun wirklich nicht erwartet. Resignierend seufzte er und blieb stehen. „Hast du es wirklich nicht gesehen? Wolltest du so blind sein?“, fragte er eindringlich, „Dir ist doch mein Akzent beim Sprechen aufgefallen, du hast dich über die fremd klingenden Flüche gewundert, du hast meine Angewohnheit, mich wenn es schneit mit starkem Tee wie du ihn nicht kennst aufzuwärmen gesehen. Du musst doch bemerkt haben, wie wenig mir Kälte ausmacht, Hitze dafür aber umso mehr..! Du hast das alles gesehen und dir eingeredet, ich täte diese Sachen nur wegen meinem Jahr in Europa.“

Mary schien sich etwas zu entspannen und trat wieder näher. Lächelte zögerlich. „Das ist ein Scherz.“, murmelte sie, „Ein schlechter Scherz.“ Ihr Lachen klang gepresst und brach sogleich auch wieder ab. „Milij, ich wünschte, es wäre so.“, seufzte Spencer und hielt ihren Blick fest, „Und ich werde gehen, wenn du es willst. Beantworte mir nur eine Frage: Warum hasst deine Familie die Russen so?“

Mary starrte ihn einen Moment verdutzt an, räusperte sich jedoch sogleich. „Mein.. Urururgroßvater hatte mal etwas mit einer Russin.. und sie ist ihm abgehauen, mitsamt allem was er damals hatte.“

Spencers stierte seine Frau minutenlang verständnislos an, seine Mundwinkel zuckten. Er hatte vieles erwartet, doch nicht das. Schließlich – es mussten mindestens fünf Minuten vergangen sein – brach das Lachen aus ihm heraus. „Das ist nicht lustig!“, fauchte Mary sogleich beleidigt. „Nein, überhaupt nicht..“, gab der Russe zurück, „und dabei dachte ich immer, Bryan wäre nachtragend..“, und prompt musste er wieder lachen, wobei Matthew diesmal mit einstimmte.

Als er sich endlich wieder gefangen hatte, lächelte er seine Frau und seinen Sohn erleichtert an. Dann wurde er jedoch ernst und sah Mary gespannt an. „Du hast jetzt fünf Jahre lang mit mir zusammengelebt.. du willst doch nicht etwa wirklich, dass ich abhaue?“ Mary schüttelte sacht den Kopf und lächelte leicht. „Nein, nie – eine bessere Haushaltsführung als dich habe ich leider noch nie getroffen.. Aber wir werden mit den elendigen Russenwitzen beim Weihnachtsessen aufhören müssen, fürchte ich..“, lenkte sie übertrieben reumütig ein.

Spencer fiel der Brief wieder ein, den er kurzzeitig aus seinen Gedanken hatte verbannen können. „Apropos Weihnachten.. dazu habe ich eine Überraschung für euch: dieses Weihnachten fliegen wir drei zu meiner Familie und feiern mit ihnen.“, verkündete er und nahm Matty auf den Arm. „Du meinst, nach.. Russland?“, wollte Mary zögernd wissen. „Um genau zu sein nach Moskau.“, verkündete Spencer, schon voller Vorfreude.
 

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Ihr fragt euch sicher, warum das hier erst jetzt kommt - die Antwort ist ganz einfach. Ich hab' zuhause kein Inet und da, wo ich sonst immer reinkomm ist der PC schrott... ich hatte also leider keine Möglichkeit. Ich hoffe, ihr verzeiht mir trotzdem^^

Das wär schön... und danke für die vielen Kommis - das hat mich echt gefreut!=3

4. Advent

IV: 4. Advent
 

Es war kalt. Das war das erste, was er wahrnahm, als der Schlaf sich wenigstens weit genug verflüchtigt hatte, um ihn etwas fühlen zu lassen. Die Kälte drang durch das schlecht isolierte Fenster ins Zimmer, kroch als eisiger Hauch unter seine Decke und seine Haut bis auf die Knochen und ließ ihn frösteln.

Die Kälte hatte auch etwas Gutes: er musste die Augen aufschlagen und feststellen, dass er noch nicht tot war. Tala seufzte deprimiert. Welch aufheiternder Gedanke, er hatte die Nacht überlebt.. Wirklich zum Jubeln..

Leise vor sich hin grummelnd raffte der Rothaarige sich seine Decke um die Schultern und tapste auf Socken zu seiner Kochnische. Der Gasherd tat seine Arbeit noch – welch Wunder – und schon nach wenigen Minuten köchelte das Wasser fröhlich vor sich hin. Tala ließ einige Teeblätter in den Topf fallen und ließ den Tee dann ziehen, während er hurtig Kleidung wechselte – die Decke um seine Schultern war trotz Schlafanzug nicht warm genug, um ihn vor den winterlichen Temperaturen Moskaus zu schützen, die noch immer in den Raum drangen.

Der Heizkörper war kalt – sein Vermieter hatte die Drohung, ihm die Heizung abzudrehen also tatsächlich wahr gemacht. ‚Respekt‘, dachte der Rotschopf spöttisch, während er am heißen Tee nippte und wartete, etwas der wohltuenden Wärme in sich zu spüren. Überraschender Weise verschluckte das schwarze, hohle Loch in seinem Bauch diesmal nicht die ganze Wärme, sodass er sogleich einen weiteren Schluck tat und sich dabei die Zunge verbrannte.
 

Wenig später war Tala schon auf dem Weg zur Arbeit – zu Fuß verstand sich. Seine derzeitige Arbeitsstelle war nicht weit von seiner Wohnung entfernt, und er war wirklich froh, überhaupt so etwas wie einen Job zu haben. Vor einiger Zeit noch war er als arbeitsloser Penner in irgendeinem Register des Arbeitsamtes vermerkt gewesen – für ihn, der immer einen gewissen Stolz gehabt hatte, keine schöne Vorstellung.

Wenn er daran dachte, was seine ehemaligen Freunde alles geschafft hatten..

Er musste nur an die Karte denken, die er vor dreieinhalb Jahren aus Australien erhalten hatte. Spencer hatte eine Frau, einen Sohn und war meilenweit weg. Doch er schien glücklich zu sein – dem Foto nach zu urteilen, und der wenigen persönlichen Worte in der Karte.. Was Tala am meisten verletzt hatte, war, dass die Karte noch nicht einmal auf Kyrillisch, sondern auf Englisch verfasst war. Gerade so, als wäre er nur irgendein entfernter Bekannter, dem man zu den wichtigsten Anlässen eine Karte schrieb..

Er hatte Ian erkannt, als er am Schaufenster eines Elektronikgeschäftes vorbeigegangen war; es musste etwa sechs Jahre her sein, er war sich nicht mehr so ganz sicher. Der Jüngste war in einem der besten Orchester Paris‘ gelandet – und das auch noch als Solist! Tala hatte nach wenigen Augenblicken schon den Kopf abwenden müssen, der Kloß in seinem Hals hätte ihn ansonsten überwältigt. Es war nicht in Worte zu fassen, wie stolz er auf den kleinen >Krümel< war..

Und schließlich war noch Bryan, von welchem er nichts wusste. Bryan war schon immer nachtragend gewesen, auch schon früher..

Es tat weh, an seine ehemaligen Teamkollegen zu denken, nach dem.. Streit von damals. Und wieder stellte Tala sich die Frage, die sich ihm jeden Tag mindestens einmal aufdrängte, seit Bryan, Spencer und Ian ihrer Wege gegangen waren: Ob sie ihm verziehen hatten? Oder zumindest hin und wieder an ihn dachten, wie er an sie dachte?
 

Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten Gehsteig wie Straße. Der Weg war dort, wo er nicht geräumt worden war, mit einer gefährlichen Eisschicht überzogen, und Tala musste höllisch aufpassen, nicht hinzufallen und sich womöglich noch zu verletzen.
 

„Iwanow, Sie sind zwei Minuten zu spät!“, der Chef, ein ebenso gerechter wie mürrischer Russe, der die Fünfziger schon längere Zeit überschritten hatte, maß ihn mit einem grantigen Blick, während der Rothaarige sich in seine Arbeitskleidung warf. Tala sagte nichts. Er hatte schon an seinem ersten Tag hier lernen müssen, dass Widerworte ihm nichts bringen würden.

Das Restaurant war – wie meistens – gut gefüllt, vielleicht sogar besser an diesem vierten Adventsonntag, der heute nun einmal war. Viele Gäste hatten für Mittag- und Abendessen reserviert, außerdem war jetzt schon – es war knapp nach zehn Uhr – die Bar gut gefüllt. Tala hatte kaum eine Verschnaufpause, wuselte und schlängelte mit einem Tablett voller gut gefüllter Teller zwischen den einzelnen Tischen hindurch.

Er strich sich in einem freien Moment, währenddessen er in der Küche auf die nächste Bestellung wartete, eine rote Haarsträhne, die ihm schon die ganze Zeit in die Augen fiel, hinters Ohr.

Dieses ganze Theater dort draußen – geheuchelte Familienliebe, erkaufte Barmherzigkeit, Lächeln an Mitmenschen, die man sonst noch nicht einmal mit einer Zange anfassen würde..

Der Rotschopf nahm die nächste Bestellung auf und brachte sie zu einem Familientisch. Er zwang sich zu einem Lächeln, als er dem jüngsten der Kinder einen der Kinderteller unter die Nase setzte und dieses eine rote Haarsträhne, die ihm ins Gesicht hing, offensichtlich sehr amüsant fand - kaum war er weg hörte er das Kind schon mit seiner hellen Stimme verkünden: „Der hatte ja komische Haare, Mami!“ Daraufhin erwiderte die Mutter etwas, was jedoch im allgemeinen Stimmgewirr unterging. Zum Glück. Tala hatte mit der Zeit gelernt zu erkennen, ob Familienmitglieder öfters zusammen aßen – die Kinder hatten gegenüber diesen Personen ein ganz anderes Verhalten als wenn das Familienmitglied arbeitete.

Tala war jedes Jahr froh, wenn diese elende Zeit vorbei und das neue Jahr begonnen hatte. Zur Weihnachtszeit herrschte nämlich akuter Personalmangel, da die meisten sich genau über diese Tage frei nahmen. Nun ja, wenigstens fiel die Prämie entsprechend hoch aus, wenn er an den Feiertagen arbeitete, und das hatte er während der letzten acht Jahre immer getan.

Auch dieses Jahr hatte er nicht vor, Weihnachten zu feiern, genauso wenig wie im nächsten Jahr. Er konnte seine Kollegen schon hinter seinem Rücken über ihn reden hören – „Hast du gesehen, er hat schon wieder über Weihnachten gearbeitet.“ „Armer Kerl, es muss hart sein, niemanden mehr zu haben“. Natürlich hatten ihn einige aus seiner Zeit als Beyblader erkannt, wenn auch nur wenige, und wussten oberflächlich um seine Vergangenheit in der Abtei. Sie glaubten, er würde ihre mitleidigen Blicke nicht sehen, doch er bemerkte jeden von ihnen wie eine siedende Flamme an seinem Körper. Tala seufzte innerlich, hielt jedoch das Lächeln, das er einem jungen Paar schenkte, erfolgreich an seinem Platz seiner Fassade. Es war Weihnachten. Der schöne Schein zählte, so wie der Schnee die Hügel mit einer dicken, weißen Decke bedeckte und all das Hässliche unter sich begrub.
 

Mit der vorbeiziehenden Mittagszeit wurde es etwas ruhiger, sodass Tala irgendwann auch einen Moment zum Verschnaufen fand.

Er saß mit seinem Mittagessen auf den Knien im Freien, den Blick auf einen etwas schäbigen, aber Großteils überdachten Innenhof gerichtet und beobachtete den zweiten Koch, der sich gerade als Abschluss für die Mittagszeit eine Zigarette genehmigte und den Rauch dabei tief inhalierte. Dmitri Andrejwitsch sah zufrieden dabei aus – wohl das Gegenteil Talas psychischen Zustandes. Und das schlimmste daran war, er hatte es selbst verschuldet.

So sehr er sich auch dagegen sträubte – es war seine Schuld, dass Spencer, Ian und Bryan gegangen waren, ohne „Bis dann“ zu sagen.

Tala hatte keinen Abschied für immer gewollt. Hätte ihn der zweite Koch nicht für total bescheuert gehalten – nicht, dass er etwas auf die Meinung anderer gab – hätte er am liebsten all seinen Schmerz aus sich hinausgeschrien.

Und noch nicht einmal Wolborg hatte er, um sich wenigstens etwas Luft in der engen Schlaufe zu machen, die sich immer fester um seinen Hals zu legen schien. Auch das war schlimm. Er hatte sein Bitbeast nicht mehr, seinen Beyblade schon lange zuvor bei einem Umzug verloren, da er ohne Bitbeast wehrlos war.

Wolborg war der letzte Teil seiner Familie gewesen, und auch sie war weg.

Tala ließ den Kopf leicht hängen, stocherte niedergeschlagen in seinem kalt gewordenen Auflauf herum. Er fühlte sich einfach nur einsam. Verdammt einsam und von allen alleingelassen.

„Die Pause ist vorbei, kommst du?“, sprach ihn plötzlich der zweite Koch an, der schon halb wieder in der Küche war, hinter ihm die gestrengen Augen des Chefkochs. Tala nuschelte ein undeutliches „Jaja, schon da“ und erhob sich endlich. Der Küchenchef funkelte ihn beleidigt an, als er sah, dass der Teller kaum halb geleert war, wandte sich jedoch ab und schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte er sich wenigstens daran gewöhnt, dass Tala nicht viel aß.
 

Und wieder ging das Gehetze los. Tala stand nachmittags hinter der Bar, wo jedoch nicht allzu viel zu tun war – es war ihm nur Recht nach dem Stress des Vormittags, auch wenn er abends bestimmt wieder würde einspringen müssen. Es machte ihm nicht wirklich etwas aus.

Stumpf füllte er die Getränke und kassierte, hin und wieder hatte einer der Gäste sogar ein Lächeln, ein kleines „Danke“ für ihn übrig. Die meisten waren nur auf einen kleinen Kaffee in die Bar des Restaurants gekommen, wo sie dann Freunde getroffen oder auch alleine an einem Fenster gesessen waren. Tala nahm seinen Notizblock wieder auf, um für die eigentliche Baristin Platz zu machen, und war schon bei der ersten Bestellung, als die schwarzhaarige Frau ihren Platz einnahm.

Der Chef hatte sie nicht umsonst eingestellt. Manuela, wie sie genannt werden wollte, war nur wenige Monate nach ihm gekommen, und von da an war die Bar auch spätnachts noch gut gefüllt, wenn er selbst sich nach Überstunden auf den Heimweg machte. Sie war nicht unglaublich hübsch, doch das machte ihre selbstbewusste und doch freundliche Art mehr als nur wett. Auch Tala mochte sie irgendwie, wenn auch nicht mehr als eine entfernte Arbeitsbekanntschaft.
 

Irgendwie mochte er seinen Job – besser als arbeitslos oder auf dem Strich zu sein war es allemal, und er wurde gut entlohnt.. was wollte er denn dann mehr?

Tala musste nicht überlegen. Er wusste, was fehlte: eine Familie, wie sie sich gerade an Tisch drei einfand. Der Vater hielt der Mutter den Stuhl hin, schien einen Witz zu machen, denn ein leichtes Lächeln huschte über ihr rundes Gesicht und mit liebevollem Ausdruck in den Augen versetzte sie ihm einen leichten Klaps, ehe sie sich niederließ. Die beiden Kinder, beides dunkelhaarige Ebenbilder ihrer Eltern lachten schon etwas lauter – sie mussten beide die zehn Jahre noch nicht überschritten haben. Der Vater mahnte sie mit leichtem Lächeln zur Ruhe und nahm auch endlich seinen Platz ein. Das war Talas Zeichen. Mit einem freundlichen Lächeln brachte er die Karte, zog sich zurück und nahm währenddessen die Bestellung eines anderen Tisches auf. Einige der Gäste des Abends waren Stammgäste, und als sie das Restaurant verließen, riefen sie ein freundliches „Einen schönen Abend noch!“ in Richtung der Kellner.
 

Auch für Tala wurde es Feierabend. Ruhigen Schrittes ging er durch die durch das Licht von Schaufenster erhellten, jedoch mehr oder weniger leeren Straßen. Der Weg war immer noch eisbedeckt, doch Kiesel war gestreut worden, sodass der Gang angenehm erleichtert wurde.

Der Rotschopf war nicht mehr weit von seiner kleinen Wohnung entfernt, da wurde er auf ein von Kerzenschein erhelltes Fenster aufmerksam. Auf dem Fenstersims waren vier Teelichter aufgestellt worden, die allesamt brannten.

War es wirklich der vierte Advent? Tala kam es vor wie Ewigkeiten, dass er die Advents- und Weihnachtszeit gefeiert hatte. Der Rotschopf fröstelte, als ein kalter Wind über ihn hinweg blies. Acht lange Jahre.
 

Die Erinnerungen hatten lange geschlummert, ihn zwar beschwert, doch nie in Albträumen heimgesucht. Nun stiegen sie schließlich in ihm auf, mitsamt all den verdrängten Schuldgefühlen.
 

~*~

Es war eiskalt draußen, und einzig das hatte ihn im Warmen gehalten. Sie waren im Wohnzimmer, saßen einander gegenüber, Tala auf der einen, Spencer, Bryan und Ian auf der anderen Seite.

Tala ahnte bereits, das dies hier keine gewöhnliche „Wir-müssen-mit-dir-reden-weil-du-uns-auf-die-Nerven-gehst“-Besprechung war. Schon lange ahnte er von Plänen seinen Freunde, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Aber nun, da er vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, tat es doch weh. Unglaublich weh. Doch er ließ sich nichts anmerken – darin war er schon immer gut gewesen..

Spencer war der erste, der ihn mit seinem Plan konfrontierte: „Du weißt doch, dass ich mich an der Uni in den USA beworben habe.“ Tala nickte langsam, wartete auf den eiskalten Schlag. „Ich hab‘ die Zusage.“ Der Rothaarige wurde innerlich niedergeschmettert, doch seine Selbstbeherrschung zwang ein Lächeln auf seine Lippen, er versicherte, er freue sich wirklich für seinen Teamkollegen.

Selbst wenn Spencer gehen würde, er würde doch sicherlich zurückkommen, nicht..? Und außerdem waren ja noch immer Bryan und Ian da..

Der Silberhaarige war der nächste, der ihm seine Mitteilung machte. „Ich hab‘ eine Zusage für Zürich.“, er teilte es ihm mit kühlen, neutral klingenden Worten mit, doch sein Blick sprach Bände für Tala. Bryan erwartete nur den Konflikt. Natürlich. Sie beide kannten sich beinahe schon am längsten.

Aber.. selbst wenn Bryan auch wegging.. es war doch noch Ian da..

Ian hob den Kopf und blickte ihn aus tiefen, rotbraunen Augen von unten her an. Ein leidender Ausdruck war in seinem Blick geschrieben, als er seine Worte formulierte. „Dieses Orchester in Paris hat mich zu einem Vorspiel eingeladen.“, Ian konnte die verhaltene Freude in seinen Augen nicht ganz verbergen. Natürlich, es war immer sein Traum gewesen, in einem großen Orchester zu spielen..

Tala schloss die Augen, fühlte den dicken Kloß in seinem Hals und das kaum bemerkbare Zittern seiner Hände, fühlte die Kälte in sich aufsteigen. Es konnte doch nicht sein, dass ihn alle verlassen wollten, ihn alle alleine lassen wollten.

„Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es jetzt.“, forderte Bryan plötzlich und maß ihn mit einem abschätzigen Blick. Natürlich, der Silberhaarige musste ihn durchschauen. Sie waren sich ähnlich. Doch Bryan wusste nicht, wie es ihm gerade ging. Niemand von ihnen konnte es ahnen, war ihre Freude über die Angebote doch so groß..

Vielleicht wurde er gerade wegen seiner Enttäuschung so kühl, so kalt. „Nein, habe ich nicht.“, meinte er emotionslos und sah zur Seite. Er konnte viel, doch den Schmerz aus seinen Augen verbannen konnte er nicht.

„Jetzt sag es schon! Du bist doch froh, wenn du uns nicht mehr sehen musst! Sag es!“, forderte Bryan, schon eine Spur schärfer.

Tala antwortete nicht. Auch Spencer meldete sich nun ruhig zu Wort. „Lass‘ ihn, Bryan. Er will es uns nicht ins Gesicht sagen, dass er sich über den Platz freuen wird.“, meinte er leise, und auch in seiner Stimme konnte Tala die Enttäuschung heraushören.

Kannten sie ihn wirklich so schlecht? Hatte er ihnen Unrecht getan, als er davon ausgegangen war, ihnen vertrauen zu können? Anscheinend.

Sonst würden sie hinter seine kühle Fassade zu blicken vermögen und den verletzten Menschen sehen, der er nun einmal war.

Er sprang auf, wollte protestieren, doch der Ausdruck in Ians Augen machte ihn mundtot. Auch Ian glaubte, dass er wirklich der gefühlskalte und emotionslose Mensch war..?

Kraftlos ließ sich der Rothaarige in den Sessel zurückfallen. Alle Energie schien aus ihm gewichen. Er verbarg das Gesicht verzweifelt in den Händen. „Dann haut doch ab, wenn es euch passt.“, brachte er bitter hervor, „Ich brauch‘ euch nicht.“

Er konnte den verletzten Ausdruck seiner Teamkollegen nicht sehen, fand sich jedoch plötzlich am Kragen gepackt und an eine Wand gedrückt. „Sag‘ das nochmal.“, fauchte Bryan aufgebracht.

Tala wandte seinen Blick ab. „Haut ab.“, murmelte er leise, doch in der eingetretenen Stille schien es wie ein Kanonenschuss. Bryan schien auf ihn losgehen zu wollen, als sich ihre Blicke trafen. Eiskaltes Blau traf auf temperamentvolles Grau.

Mit einem Ruck ließ er ihn los. „Na gut. Mich siehst du hier nie wieder.“, prophezeite der Silberhaarige und verließ den Raum mit stapfenden Schritten.

Ian blickte ihn flehentlich an. „Sag‘ einfach, dass du uns vermissen wirst. Bitte.“, bat er leise. Tala schüttelte matt den Kopf. „Das kann ich nicht.“, meinte er ruhig.

Ein gerader Bruch heilte schneller als ein Splitterbruch, das hatte er im Laufe seines Lebens gelernt. Es war am besten so.

Ohne ein weiteres Wort verließen auch die anderen beiden das Zimmer, Tala folgte ihnen wenig später in sein Schlafzimmer, wo er sich an die Tür gelehnt an dieser zu Boden rutschen ließ und die Beine eng an den Körper zog.

Er musste eingeschlafen sein, denn als er erwachte fand er nur noch eine leere Wohnung vor, ohne Lebenszeichen seiner Freunde.

Mit zittriger Hand hielt er sich am Küchentisch fest. „Ich werde euch vermissen..“, flüsterte er heißer, seine Sicht von den Tränen verschleiert, die sich ihren Weg ins Freie kämpfen wollten. Verdammt, warum konnte er es plötzlich? Warum konnte er es auf einmal sagen, jetzt, wo er es vermasselt hatte?

~*~
 

Tala saß fröstelnd und in seine Decke gehüllt vor den vier Teelichtern auf dem Tisch vor ihm. Langsam, beinahe bedächtig entzündete er ein Streichholz und setzte damit den ersten Kerzendocht in Flammen. Nach und nach wurde der kleine Raum vom schummerigen Licht der kleinen Kerzen erhellt, schafften die Illusion von Wärme.. oder hatte sein Vermieter tatsächlich die Heizung wieder angestellt..?

Mit einem prüfenden Blick legte Tala eine Hand auf den Heizkörper. Tatsächlich, er fühlte Wärme.

„Na dann einen schönen Advent..“, murmelte der Rotschopf und legte den Kopf auf seine auf dem Tisch übereinanderliegenden Hände, blickte müde in die Flammen.

Das einzige, das ihm noch fehlte, war seine Familie, dachte er traurig und wurde sich plötzlich eines Kratzens am Fenster gewahr. Auf dem Fenstersims hockte eine kleine Katze – es war ihm ein Rätsel, wie sie hier heraufgekommen war. Sie blickte ihn aus grauen Augen her an und kuschelte ihren getigerten Pelz an seine Hand, als er sie vorsichtig aufhob.

Er wollte es nicht dort draußen in der Dunkelheit lassen, obwohl sie bestimmt auch alleine zu Recht kam. Es war selbstsüchtig von ihm. Doch wenigstens an diesem einen Abend wollte auch er ein wenig Gesellschaft haben.

Fasziniert beobachtete Tala, wie sich kleine Milchtröpfchen in den Schnurrhaarigen des gierig schlürfenden Tieres ansammelten.
 

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Hier habe ich noch eine kleine Mitteilung an alle leser: es gibt noch ein Heiligabend-Kapitel, das ich aber leider erst nach dem 24. 12. onstellen kann und einen Silvester-Teil, dann ist das hier abgeschlossen.

Aber jetzt noch zu ein paar elementaren Sachen: Ich habe stundenlang an diesem Kapitel (Besonders am FB) gesessen und finde immer noch, dass der "Streit" nicht richtig rüberkommt. Was sagt ihr?
 

Heal, *knuddl*

FW
 

Und wer das hier zu Weihnachten ließt bzw. wer hier überhaupt reinschaut:

EIN FRÖHLICHES UND BESINNLICHES WEIHNACHTSFEST EUCH ALLEN=)

Heiligabend

V: Heiligabend
 

Der Flug Paris-Moskau war der erste an diesem Dezembermorgen in Moskau, der zur Landung ansetzte. Fröstelnd zogen die Reisenden die Ärmel ihrer Jacken über die Hände und schlugen ihre Kragen hoch, eilten in die Ankunftshalle.

Ian hatte als Rollstuhlfahrer die Berechtigung, den Gang hinter der überfüllten Ankunftshalle zu nutzen – das tat er auch mit Vergnügen. Ian hasste es zu fliegen, nachher war er immer steifer als ein Brett und verspannter als nach manchem Training in der Vergangenheit. Außerdem war kaum ein Flugzeug Behindertengerecht eingerichtet – Ian musste nur an die engen Gänge oder die Unbeweglichkeit im Sitz denken. Gerade deshalb war er froh, wieder auf der Erde und in seinem Rollstuhl zu sein, den er zielsicher durch das Menschengewühl lenkte. Mit einem bösen Blick, den selbst Bryan beeindruckt hätte, wimmelte er die mittlerweile fünfte Flugbegleiterin ab, die ihn unaufgefordert hatte schieben wollen, und rollte mitsamt seinem Gepäck gemächlich in Richtung des in jedem Flughafen ansässigen Cafés. Was er jetzt dringend brauchte war etwas Warmes zum Trinken, am besten einen Tee..
 

Der Himmel war an diesem 24. Dezember strahlend blau, keine Eisschicht überzog die Rollbahn – es grenzte an ein Wunder. An diesem Tag verließ auch Bryan Kuznetsov seine Maschine, die soeben eingetroffen war, und wurde sogleich von einer frischen Bö erfasst. Anders als die anderen Passagiere des Fluges Zürich-Moskau versuchte er nicht, sich davor zu schützen, sondern ließ ihn den Windstoß einfach erfassen.

Er war in seiner Zeit als Beyblader gerne geflogen, er tat es heute auch gerne noch – irgendwie machte es ihm Spaß.. Ein leichtes Schmunzeln überzog Bryans Gesicht, während er Falborgs stillen Willkommensgruß guthieß – er wusste wie abstrus das klingen mochte, doch er glaubte noch immer fest daran, dass sein ehemaliges Bitbeast ihn nicht vergessen hatte.

In der Menschenmenge der Abfertigungshalle fühlte er sich alles andere als wohl, doch um sein Gepäck zu bekommen musste er leider warten wie jeder andere.

Er sah Ian schon von weitem, nun, da er wusste, wonach er Ausschau halten musste, im Café sitzen und eine Flugbegleiterin, die sich dreister weise neben ihn platziert hatte, die Meinung zu sagen. Nicht ohne ein wenig Neugierde kam er näher und sah die Flughafenangestellte gerade noch verschwinden. „Was für ‘ne Laus ist der denn über den Weg gelaufen?“, fragte er verwundert, halb an sich, halb an seinen ehemaligen Teamkollegen gewandt.

Ian kicherte leise, aber deutlich amüsiert in seinen Kräutertee hinein, während er den Blick auf eine Morgenzeitung warf, die gerade vor ihm lag. „Ach, ich musste sie nur mal über den Unterschied zwischen Rollstuhlfahrer und schwerstbehinderten Krüppel aufklären..“, erklärte er leichthin und vertiefte sich dann in die kyrillischen Buchstaben der Zeitung. Bryan grinste schief und verdrehte die Augen. Das war wohl mal wieder typisch Ian – es machte ihm also noch immer noch unglaublich viel Spaß, andere Menschen ein wenig zu ärgern..

Bryan winkte der Bedienung zu, die ihm mit freundlichem Lächeln sogleich ebenfalls einen Kräutertee vorsetzte – er fragte sich, ob sie ihn erkannt hatte. Aber im Grunde genommen war das nicht möglich. Er trug einen schwarzen Lodenmantel – schön warm – und einen mintgrünen Schal, beides unterschied sich von seinem früheren Kleidungsstil dermaßen, dass er nicht glaubte, wirklich erkannt zu werden. Es war wohl einer dieser Paparazzi-Flucht-Instinkte, der ihn auf solche Ideen brachte..
 

Spencer starrte mürrisch aufs Gepäckband, während er versuchte, sich seine Ungeduld nicht allzu viel anmerken zu lassen. Endlich, da waren ihre Koffer – was auch langsam mal Zeit wurde, immerhin wartete er schon geschlagene fünfzehn Minuten auf die Gepäckstücke. Schnell ergriff er seine und Marys Tasche und wollte schon zurück zu seiner Frau und seinem Sohn kehren, da fiel ihm ein silberner Haarschopf im Café auf. Er saß beinahe teilnahmslos am Tisch mit einem etwas kurz geratenen jungen Mann mit großer Nase und unterhielt sich mit ebendiesem, ein schiefes Grinsen auf den Lippen. Der große Blondschopf beschloss, näher hin zu gehen. Es konnte doch nicht sein, dass…?

Mit wenigen Schritten war er bei seiner Frau, die sich auf einem Stuhl ausruhte, den schlafenden Matthew auf dem Schoß, und informierte sie schnell: „Ich gehe gerade etwas nachsehen, komme aber gleich zurück, ja?“ Mary hatte nur ein müdes Nicken für ihn übrig und vergrub ihre Nase an Mattys Halsbeute, der sich noch etwas mehr an sie kuschelte und leise „Momma“ murmelte. Natürlich, den beiden war kalt – wo sie gegen australische Hitze unempfindlich waren, war er gegen russische Kälte gefeit. Die Halle jedoch war sehr gut beheizt, so dürfte es für die beiden kein Problem werden, einige Minuten zu warten..

Mit wenigen Schritten war Spencer im Café, wurde schon Zeuge der Unterhaltung der beiden ihm bekannten Gesichter. „-t sie doch nicht alle! Proben an Weihnachten!“, regte sich der Silberhaarige mit dem schwarzen Mantel leise auf und nippte an seinem Tee. „Ich weiß, wie komisch das klingt, aber versetz‘ dich doch mal in Grenalliers Lage: du bist Dirigent und von acht Stücken sitzen erst drei. So nebenbei nimmt sich dein erster Violinist einfach so frei, während das Konzert an Silvester stattfindet!“, rechtfertigte sich der kleinere der Beiden – erst jetzt sah Spencer, dass er in einem Rollstuhl saß. „Aber-“, der andere stockte, seine graublauen Augen hefteten sich auf Spencer. Der Blonde erwiderte den Blick ein wenig perplex, er konnte wenig in diesen Augen lesen, doch die Überraschung blieb ihm nicht verborgen. Auch der andere hatte sich umgedreht, und für eine lange Minute standen sie sich schweigend gegenüber. Dann plötzlich bewegte sich Bryan; er stand auf, kam auf Spencer zu und umarmte ihn – trotz des gut einen Kopf betragenden Größenunterschieds. „Schön, dich zu sehen, Spence“, meinte er mit freundlichem Grinsen auf den Lippen, was Spencer umso mehr in Erstaunen versetzte. Der Silberhaarige hatte sich wohl sehr verändert..

Ian rollte nun ebenfalls näher. „Das ist nicht fair.“, fand er lakonisch, „Jetzt muss ich zu beiden rauf sehen..“ Bryan ließ ein leichtes Lachen hören, ebenso wie Spencer, und die beiden setzten sich.

„Zurück zum Thema“, bestimmte Ian plötzlich, „Was wolltest du eben sagen, Bryan?“ „Äh..“, machte der Angesprochene ein wenig ratlos und kratzte sich verlegen am Kopf, „Hab’s vergessen.. Sag mal, Spence, bist du alleine hier?“ Dem Blondschopf fielen sofort seine Frau und sein Sohn ein, die auf ihn warteten: „Nein, meine Familie ist mitgekommen.. Kommt‘ doch mit, dann stell‘ ich sie euch vor.“
 

Mary war eingenickt, den Kopf auf das Haupt ihres Sohnes gelegt, und schreckte nun bei Spencers Berührung leicht auf. Sie sah ihren Mann etwas müde an, blinzelte und bemerkte dann seine Begleiter. Der eine saß im Rollstuhl und hatte einen Geigenkoffer auf dem Schoß, lächelte ihr freundlich nickend zu, während der andere, dessen grüner Schal ihr auffiel, ein schiefes Grinsen für sie übrig hatte.

Matthew in ihren Armen wachte langsam auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah dann zu seinem Vater auf. „Hi, Daddy“, meinte er und lachte auch die beiden anderen fröhlich an, „Wer ist denn das?“ „Das sind meine Freunde, Bryan und Ian“, erklärte Spencer geduldig und wandte sich dann auch an seine beiden Freunde, „Und das ist meine Frau Mary und Matty.“ Ein jeder konnte den Stolz in seiner Stimme hören, und Bryan und Ian grinsten sich wissen an. „Ich hab‘ von Anfang an gesagt, Spencer ist der einzige von uns, der Kinder haben wird.“, witzelte Ian – aus Rücksicht auf Mary – auf Englisch. Diese lachte leicht. Bryan streckte sich und blickte sich einmal in der großen Halle um. „Ich glaube, wir könnten uns langsam mal auf den Weg raus machen..“, bemerkte er und schritt sogleich, seine Tasche auf dem Rücken, voran. Seine Freunde samt Spencers Familie folgten ihm gerne, wobei Spencer seinen Sohn auf den Schultern trug und dieser somit ein Stück über den Köpfen der anderen saß.

Ian schmunzelte leicht und erinnerte sich, wie er früher einmal ebenfalls auf Spencers Schultern hatte sitzen dürfen – es war lustig gewesen, plötzlich so groß zu sein..

Draußen pfiff ein eisig kalter Wind durch die Straßen, und Mary und Matthew zuckten frierend zusammen, während die drei Russen unter ihnen keine Regung zeigten. „Brr, ist das kalt..“, murmelte Mary und schlang ihre Arme um sich. Bryan lachte heiser. „Das ist noch gar nichts gegen die Temperaturen in Sibirien..“, meinte er und zwinkerte vielsagend, während er Spencer half, ihre Koffer ins Taxi zu laden.

Mary lächelte leicht, während sie Spencer und seinen Freunden während ihrer auf Russisch geführten Unterhaltung mit dem Fahrer lauschte. Es klang so seltsam, diese Sprache zu hören.. Doch es war die Muttersprache ihres Mannes, und ihn der Art, wie er sie zu sprechen wusste, unterschied sich so von dem Spencer, den sie in Amerika getroffen hatte. Man merkte einfach, dass er diese Sprache schon als kleines Kind gesprochen hatte – eine gewisse Gelassenheit lag darin, eine Art Selbstverständlichkeit.

Sie betrachtete das Bild, das ihr die drei Russen und ihr Fahrer boten, und fragte dann, an Spencer gewandt: „Seid ihr jetzt vollzählig?“ „Nein“, antwortete ihr zu ihrer Überraschung Bryan, „einer fehlt noch – bei ihm wird gefeiert.“ Ian setzte leise lächelnd auf Russisch hinzu: „Mit ihm wären wir wieder komplett..“
 


 

Tala fühlte sich ungeheuer müde an diesem Morgen – noch müder als sonst. Er hatte am Vortag Überstunden bis drei Uhr früh gemacht und war erst um vier Uhr Zuhause gewesen – und jetzt war es halb acht..

Leise grummelnd richtete sich der Rothaarige auf. Er hatte kaum 4 Stunden geschlafen und sollte schon wieder zur Arbeit? Das klang wirklich weihnachtlich, murrte eine spöttische Stimme in ihm, am 24. Dezember frühmorgens aufstehen, um dann durch menschenleere, eisbedeckte Straßen zum Arbeitsplatz stiefeln, sich vom Chef wegen der üblichen drei Minuten anschnauzen lassen und dann gute Miene zum bösen Spiel machen.. – aber er war selbst schuld. Der Rotschopf hatte immerhin selbst angeboten, Weihnachten zu arbeiten..

Sich an Festtagen, die andere Leute mit ihren Familien verbrachten, zum Weitermachen zu bewegen fiel ihm unendlich schwer. Diese Tage waren so vom Glück anderer getränkt, dass er sich vorstellte, lauter glänzende Fäden von Lametta hingen über der ganzen Stadt, nur er spann keinen einzigen. Er hasste solche heuchlerische Feste – ihm wurde an solchen Tagen immer wieder nur bewusst gemacht, dass er niemanden mehr hatte.

Es war als hinge ein grau-schwarzer Schleier depressiver Laune über ihm, der die Welt in trist gedämpfte Farben tauchte. Allerdings schien nur ihm die bedrückte Stimmung aufzufallen – andere Mitmenschen hatten sogar den Nerv, ihm quer über die Straße ein „Fröhliches Weihnachten“ zuzurufen und dann auch noch eine Erwiderung in ebenderselben schrecklichen Weihnachtsstimmung zu erwarten.

Nicht, dass viele ihn wirklich grüßen würden – wenn er eine dunkle Mütze aufsetzte unterschied er sich kaum von den anderen Menschen, die durch die Straßen liefen – oder die im Moment eben Zuhause saßen und nichts taten…
 

„Iwanow! Drei Minuten zu spät – wann merken Sie sich das endlich?“, der Chef grinste amüsiert, als Tala sich nicht entschuldigte, sondern ihn mit einem langen Blick maß. „Zweieinhalb“, meinte er schließlich, „Es waren heute zweieinhalb Minuten.“

Der beleibte Chef – Pjorsch nach Namen - verließ kopfschüttelnd den Raum und wunderte sich mal wieder über seinen besten Kellner – es war eine Tatsache, dass viele Gäste einzig wegen des attraktiven aber dennoch kühlen, rothaarigen Russen zum Essen kamen, obwohl das Restaurant nicht gerade für seine köstliche Küche in Moskau bekannt war..

Er richtete sein graumeliertes Haupt auf den Ausschankraum, wo der Rotschopf hinter dem Tresen stand und den ersten Saufnasen ihren Wodka ausschenkte. Er machte ein konzentriertes Gesicht, schien aber auch nicht so ganz bei der Sache zu sein. Pjorsch wusste, Iwanow war vor knapp zehn Jahren – vielleicht auch etwas mehr – einmal im Russischen Beyblade-Team gewesen, aber er hatte sich nie wirklich für den Sport interessiert, mehr noch erschien es ihm banal, Kreisel als Sport zu bezeichnen.. Doch irgendwas an dem Rotfuchs (wie er ihn im Stillen getauft hatte) hatte seine Aufmerksamkeit erregt – wahrscheinlich wohl dieses aalglatte Lächeln, das er jedem Gast schenkte und unglaublich echt aussah, das jedoch sofort verschwand, wenn er selbst beim Essen saß. Etwas stimmte mit diesem Kerl nicht, aber der Chef hatte anderes zu tun, als seinen besten Kellner zu beschatten..
 

„Na, was machen die Geschäfte?“, Manuela war, ebenso wie er selbst auch, für Weihnachten hinter der Bar, und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Ihre schwarz umrandeten Katzenaugen blitzten angeekelt, als sie die ersten Gäste schon über ihrem Wodka sah. „Wie kann man nur an solchen Tagen saufen..?“, murmelte sie vor sich hin, schüttelte leicht den Kopf und machte sich dann daran, den nächsten Kunden zu bedienen.

„Sie sind alleine.“, bemerkte Tala plötzlich, und fand sich mit erstauntem Blick gemustert. Doch er blickte nicht in Manuelas Richtung, starrte lieber geradeaus auf ein Plakat des Films „Psycho“, welches schon seit Jahren seinen Platz auf der Wand der Schenke hatte. „Wa-“, wollte die Russin schon anfangen, doch Tala unterbrach sie. „Sie sie dir doch an. Was würde dich dazu bewegen, an Weihnachten trübsinnig in ein Wodka-Glas zu starren?“, fragte er leise und mit leichtem Nicken in Richtung der Gäste in den dunklen Ecken.

Manuela starrte eine Weile ebenfalls auf das „Psycho“-Plakat, schien nachzudenken, und schließlich, als Tala schon gar nicht mehr damit rechnete, nickte sie. „Stimmt. Sie sind einsam. Sie haben keine Familien, oder Familien, in denen es ihnen schlecht geht – aber sollte man nicht wenigstens an Weihnachten mit seiner Familie aushalten, ist das nicht der Sinn des Festes?“ Tala wollte ihren Glauben nicht zerstören – deshalb schwieg er. „Wer weiß“, spann sie ihren Gedanken leise fort, „ob sie überhaupt einen Ort haben, an den sie zurückkommen können..“

Ihm wurde bewusst, dass er diesen Ort für seine ehemaligen Freunde zerstört hatte, als er in seine kleine, ein wenig schäbige Wohnung umgezogen war – er fühlte sich schrecklich. Manuelas mitleidiger Blick lag auf ihm, und wenn er etwas noch mehr hasste als Heuchelei, dann war es Mitleid. „Sieh mich nicht so an.“, bestimmte er und schaute demonstrativ weg.

Die Schicht ging nur sehr langsam vorbei – eine gewisse Verlegenheit lag zwischen ihnen, auch wenn sie oberflächlich nur über die Säufer in der Ecke gesprochen hatten. Es war diese Art der peinlichen Verlegenheit, die Tala zur Flucht in die Küche trieb – wo allerdings nichts zu tun war. Der zweite Koch qualmte eine Zigarette hinten auf dem Innenhof, während der für den Abwasch zuständige ihm mit einem kleinen Joint Gesellschaft leistete.

Alle hatten besseres zu tun als Weihnachten in der einzigen Kneipe zu hocken, die geöffnet hatte und auf Kunden wartete – nur er nicht. Tala war froh darüber, nicht über den inexistenten Weihnachtsschmuck in seiner Wohnung nachdenken zu müssen.

„Iwanow!“, Manuela schien sich einen Spaß daraus zu machen, sich heute von hinten an ihn anzuschleichen, und lachte ein fröhliches Lachen, „Wir haben frei! Ist das nicht toll?“ Verdutzt blinzelte der Rotschopf sie an. „Hä?“, machte er intelligent, „Was soll das jetzt heißen?“ „Ganz einfach, dass der alte Grantelbart uns für den Rest von heute Freigegeben hat!“, freute sich die Schwarzhaarige und war schneller wieder draußen als er schauen konnte.

Er hatte frei. An Weihnachten. Unglaublich.
 


 

„Und du bist dir sicher, dass wir hier richtig sind, Ian? Ich hab‘ nämlich keine Lust, den Rollstuhl nochmal zwei Stockwerke hochzutragen.“, brummte Bryan skeptisch. Ian jedoch nickte. „Hundertprozentig sicher – das Arbeitsamt wird doch wohl die richtige Adresse haben, nicht?“, meinte er und rollte näher an die Tür um anzuklopfen. Nichts rührte sich. „Also, das finde ich jetzt nicht witzig.“, merkte der jüngste der Russen an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast nur nicht stark genug geklopft – ich weiß noch, dass Tala das früher nie gehört hat.“, meinte Bryan und machte nun ebenfalls Anstalten anzuklopfen. „Wieder nichts.“, befand Spencer und der Silberhaarige ließ ein Schnauben hören. „Der Kerl wird sich doch nicht etwa zu perfekt zum Türöffnen sein..?“, brummte er, seine Laune schon ein Stück gesunken. Abermals hämmerte er gegen die Tür. „Jetzt mach schon auf“, murrte er.

„Der Kerl“, ertönte da plötzlich ein Stück unter ihnen, wo ein junger Mann mit dunkler Mütze und dunklem Parka zu ihnen aufschaute, „war bei der Arbeit – wie soll er dann aufmachen können?“ Seine kühlen eisblauen Augen ruhten auf dem Sammelsurium der Menschen vor seiner Tür, musterten jeden einzelnen, versuchten sie einzuschätzen, sie einzuordnen. Während er sie beobachtete, regelrecht anstarrte, schritt er langsam die Treppe hinauf, bis er vor seiner Tür stand. Die Angestarrten verharrten schweigend, Mary hielt Matthew auf dem Arm, der leise zu wimmern begann. Plötzlich regte sich der junge Mann mit den Eisaugen wieder. „Das gibt’s nicht..“, murmelte er beinahe tonlos und überbrückte die letzten Schritte zwischen ihm und Ian, der ihm am nächsten stand. Er ging neben Ian in die Hocke, zog sich noch in der Bewegung die Mütze vom Kopf.

Talas rotes Haar war kaum merkbar kürzer, doch noch immer von dem intensiven Rotton, der ihn abteiweit bekannt gemacht hatte; selbst die beiden Haarsträhnen fielen ihm noch ins Gesicht, während der Rest seines Haars in einem kurzen Zopf gebändigt war.

Stumm verharrte Tala, ohne sich zur letzten Bewegung überwinden zu können. Er hatte über acht Jahre lang ohne Nähe, Zuwendung oder Berührungen gelebt und nun weigerte sich sein Körper einfach, eine einfache Geste in die Tat umzusetzen.

Doch Ian schien ihn zu verstehen, wie er ihn auch früher oft verstanden hatte, und schloss seine Arme fest um seinen ehemaligen Teamleader. Nun ging es ganz leicht, und wie das selbstverständlichste der Welt schlossen sich auch Talas Arme um seinen alten Freund. Er spürte einen dicken Kloß im Hals, und Tränen der Freude und der Überraschung in seinen Augen aufsteigen, doch er hatte sich noch so weit unter Kontrolle, nicht los zu weinen. Ian hielt ihn lange fest, als wollte auch er selbst es noch nicht so ganz fassen, dass sie sich wirklich wiedersahen.

Als Tala sich von ihm löste und sich Spencer zuwandte, um auch ihn zu umarmen, war es einfacher als noch der erste Schritt. Tala bot Mary seine Hand an und lächelte ihr ein wenig scheu zu. „Ich nehme an, du bist Spence’s Frau? Freut mich.“, bemerkte er und schüttelte ihre Hand zaghaft. „Mary“, lächelte die Blondhaarige. Der Rotschopf nickte. „Tala.“

Er war sich der überraschten Blicke seiner Teamkollegen durchaus bewusst. Sie hatten ihn niemals so höflich erlebt, meist egoistisch und gefühlskalt. Doch das Leben als Kellner prägte doch mehr als er ursprünglich geglaubt hatte – er war höflicher geworden und hatte gewisse Umgangsformen verinnerlicht, ohne jedoch sich selbst zu verraten oder zu vergessen.

Vor Bryan zögerte Tala am meisten – er war der Nachtragendste gewesen, immer schon, sie kannten sich am längsten und vor allem war er sich nicht sicher, ob der Silberhaarige ihm verzeihen konnte. Doch Bryan grinste schief. „Was, immer noch so schüchtern?“, fragte er leise und schloss ebenfalls seine Arme um seinen ehemaligen Teamleader. Tala schloss lächelnd die Augen und musste die Tränen nun wirklich mit aller Kraft zurückdrängen.

Bryan drückte ihn mit viel Kraft an sich, sie klammerten sich förmlich aneinander – und Tala hatte nichts dagegen, im Gegenteil fühlte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig geborgen.

Ian wischte sich verhalten mit dem Ärmel über die Augen, und Spencer drückte seine Frau und seinen Sohn an sich.

Es war so schön, so wunderbar, so.. unwirklich..
 

Aufmerksam sahen sich Bryan, Ian und Spencer in der ausgekühlten Wohnung um. Tala seufzte und ging zum Heizkörper unter dem Fenster, legte seine Hand darauf. „Dieses Arschloch von Vermieter. Noch immer nicht die Heizung repariert..“, murmelte er brummig und drehte kurz am Regler.

Plötzlich meldete sich Ian zu Wort. „Es ist schon seltsam, auf einmal wieder hier zu sein“, meinte er und blickte sich demonstrativ um. Mit einem stummen Nicken stimmten ihm auch Bryan und Spencer zu. Ian meinte Russland, aber auch die Sprache, die Schrift und überhaupt die Lebensweise, die ihm, wie ihm gerade erst bewusst wurde, ungeheuer gefehlt hatte.

Bryan stand an einer Wand, an welcher ein gerahmtes, sehr großes Bild hing. „Das hast du nicht wirklich aufgehoben, oder?“, meinte er belustigt und deutete auf die Schemen von Schlange, Wolf, Wal und Vogel auf dem in blau, lila, grün und gelb gehaltenen Bildes. „Wie du siehst doch.“, grinste Tala leicht und machte sich in seiner Kochnische zu schaffen. Bryan hatte das Bild ein Jahr vor ihrer Trennung gemalt und Tala zum Geburtstag geschenkt, nachdem es ihm doch so gefallen hatte. Es war eines der Überbleibsel aus ihrer alten Wohnung.

In einer Ecke des Zimmers hatte der schwarze Holzofen seinen Platz gefunden, an dem sich Spencer mit seiner Familie niedergelassen hatten, genauso wie Ian. Bryan blickte Tala aufmerksam über die Schulter und zog schon sehr bald einen kleinen Beutel hervor – „Ich denke, der Tee wird besser schmecken.“

Wenige Momente später köchelte der Tee auf dem Ofen weiter, während die Erwachsenen und Matthew in einem Halbkreis darum saßen, über dieses und jenes sprachen oder auch schwiegen.

Auch der rot-graue Teppich war noch aus der größeren Wohnung, und als Tala den fragenden Blick sah, mit dem Spencer sich umsah, erklärte er: „Die paar Sachen, die ihr zurückgelassen habt, sind im Keller eingelagert – bis auf Ians Bett. Tut mir Leid, das ist fast auseinandergefallen.“ Sofort ruhten die Blicke aller auf Ian, und Bryan wollte süffisant wissen: „Was hast du da angestellt?“ Ian verzog gespielt beleidigt das Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nichts, was dich angehen würde.“, meinte er betont erhaben, was die anderen zum Lachen brachte.

Bryan erhob sich plötzlich. „Wo hast du den Kellerschlüssel?“ Tala gab ihm seinen Schlüsselbund, und der Silberhaarige verzog sich mit dem kurzen Kommentar, sogleich wieder zurück zu sein.

„Was braucht der den Schlüsselbund, ich wette, er hat seinen Dietrich immer noch..“, brummte Spencer, worauf die drei verbliebenen ehemaligen Demolition Boys lachten. Mary blickte ein wenig pikiert in die Runde. „Ach, weißt du“, klärte sie Ian auf, „Bryan war früher ungeschlagen im Schlösser knacken.“

„Redet ihr über mich?“, Bryan war wirklich schon nach wenigen Minuten wieder da, und machte sich am Raum zu schaffen, der im Halbdunkel lag. „Ich wusste doch, dass du den Weihnachtsschmuck noch hast.“, grinste er wohlwollend und befestigte eine Lichterkette rund ums Fenster. Einen kleinen Engel stellte er auf das Fensterbrett.
 

Sie unterhielten sich noch eine Weile, sodass die Zeiger der Uhr bald neun Uhr abends überschritten hatten, ohne bemerkt zu werden. Mary hatte sich gegen acht Uhr mit Matthew verabschiedet, mit der Begründung, ihn ins Hotel und ins Bett bringen zu müssen. In Wahrheit wollte sie ihrem Mann jedoch ein wenig Zeit mit seinen alten Freunden, mit seiner Familie gönnen.

Bryan blickte Ian an, welcher leicht nickte. Tala sah fragend zu Spencer, doch der konnte sich auch keinen Reim darauf machen und zuckte ein wenig hilflos die Schultern.

Ian öffnete seinen Geigenkasten, doch anstatt seiner Stradivari holte er ein kleines, schlichtes Holzkästchen hervor, das Tala bekannt vorkam.

Sie hatten sich vor Jahren darauf geeinigt, dass Ian ihre Bitbeasts verwahren sollte, in einem eigens dafür vorgesehenen Kästchen. Sie hatten es mit Wachs und einem Schloss versiegelt, wovon jeder einen Schlüssel besaß. Es war eine Art.. Zeitkapsel, wurde Tala nun bewusst, denn auch einige Fotografien hatten ihren Platz in dem Kästchen gefunden.

„Na dann“, meinte Ian. „Öffnen wir’s“, stimmten die anderen drei zu, und mit vorsichtigen Fingern brach der Jüngste das Siegel.

Er war der erste, der seinen Schlüssel hervorholte, das dafür vorgesehene Schloss aufschloss und das Kästchen an Spencer weiterreichte. Er löste den Schlüssel von einer Kette, schloss ebenfalls und reichte es an Tala. Der nahm den kleinsten Schlüssel seines Schlüsselbundes – als letzter war Bryan dran. Mit zitternden Fingern drehte auch er seinen Schlüssel im Schloss und wollte den Deckel schon öffnen, da besann er sich.

„Wir sollten das zusammen tun.“, meinte er nachdrücklich und legte eine Hand an ein Ende, woraufhin die anderen es ihm nachtaten.

Langsam öffneten sie den Deckel, breiteten langsam die verschiedenen Photografien des Inhalts vor sich aus: zwei Feiern nach der Weltmeisterschaft, bei denen sie zweite geworden waren, Geburtstagsfeiern… Talas Tätowierung an der rechten Schulter – eine Wolfsklaue, ihre gemeinsame Abschlussfeier nachdem sie die Schule endlich alle beendet hatten – „Hey, erinnert ihr euch noch an Ians erstes Konzert?“, wollte Bryan plötzlich wissen und zog ein Bild hervor, auf dem Ian tatsächlich mit der geliehenen Violine dastand. „Ja..“, meinte der Betroffene gedehnt, „Erinnere mich bloß nicht daran!“ „Och“, fand Spencer, „am lustigsten war doch, wie du damals fast den Pianisten umgerannt wärst..“ Die ehemaligen Demolition Boys brachen in Gelächter aus. „Aber danach war es wirklich ein tolles Konzert.“, lächelte Tala besänftigend und zog ein anderes Foto hervor, „Erinnert ihr euch noch an die Streiche, die wir verzapft haben?“
 

„Seht mal.. Ich glaub’ s nicht..“, meinte Spencer plötzlich verblüfft und betrachtete das Bild lange und eingehend. Tatsächlich zeigte das Bild vier kleine Kinder, lachend und tobend im Schnee, auf einem anderen Bild auf einem Spielplatz. „Wann ist denn das entstanden?“, fragte Ian und legte seine Stirn leicht in Falten. „Wollt ihr mal was wissen? Ganz ehrlich gesagt, ist mir das egal – es ist schön, dass es so etwas auch von uns gibt.“, lächelte Tala ein wenig versonnen. Tatsächlich war es ein wunderschöner Nachmittag gewesen damals, einer der wenigen glücklichen Momente ihrer gemeinsamen Kindheit.

Sie betrachteten noch lange Zeit die Fotos, ehe sie zu den kleinen Ketten kamen, die ihre Bitbeasts beherbergten. Ian nahm das erste vorsichtig heraus, reichte es an Bryan. „Falborg“, murmelte er dabei bedächtig. Spencer erhielt Seaborg als nächstes, schließlich Tala und Ian selbst.
 

Der Abend war schon beinahe wieder zum Morgen geworden, als Tala eine Frage aussprach, die ihm auf der Zunge und im Herzen brannte: „Wie lange wollt ihr denn überhaupt bleiben?“

Ian seufzte leicht und lächelte ihm zu. „Ich muss am 26. Dezember wieder nach Paris. Die Proben zum Silvesterkonzert sind leider zu wichtig, als dass ich länger als zwei Tage fehlen könnte. Tut mir Leid.“ Bryan grinste ihm zu: „Ich könnte noch ein Weilchen hier aushalten; die Uni macht erst in der zweiten Januarwoche wieder auf, vorher muss ich nicht in Zürich sein. Du kannst mir übrigens gerne beim Verbessern der Arbeiten helfen, die ich mit habe.“, während er das sagte, zwinkerte er scherzhaft. Tala rang sich ein Lächeln ab. Spencer überlegte: „Ich denke, bis Silvester oder so könnten sie uns auf der Farm entbehren, aber länger nicht. Entschuldige.“

Ihm war bewusst, dass er im Begriff war, sich zu verraten. Er hatte seine Mauer so lange aufgebaut, er wollte sie nicht mit wenigen Worten wieder stürzen. Und dennoch. Diese drei jungen Männer waren seine Familie.

Der Rotschopf schüttelte den Kopf. „Das macht nichts, ihr braucht euch nicht zu entschuldigen.“ Er lächelte leicht. Und spürte schon wieder, wie ihm die Tränen kommen wollten.
 


 

Morgens, halb elf, in Moskau, Russland. „Guten Morgen!“, flötete Ian gut gelaunt und platzierte geschickt ein Tablett mit vier Tassen frischgebrühten Tees auf dem Esstisch Talas. Der Rotschopf gähnte und blinzelte, war nach einem Blick auf die Uhr jedoch hellwach. „Verdammt!“, fluchend sprang er auf und war in weniger als drei Minuten fertig. „Was ist los?“, fragte Bryan etwas verpeilt von seiner Schlafstatt auf dem Boden und richtete sich leicht auf. „Ich hab‘ verschlafen“, informierte ihn der gestresste Rotschopf und wollte schon aus dem Haus laufen, da fuhr ihm Ian in den Weg. „Nichts da.“, bestimmte er. „Du rufst jetzt da an, dass du Familienbesuch hast und heute freinimmst.“ „Genau“, stimmte Bryan zu, „wie ich dich kenne hast du eh jeden Tag gearbeitet ohne eine Pause oder eine Lohnerhöhung zu verlangen.“

Gesagt – getan.

Die vier Russen verbrachten einen schönen Tag, während dessen sie Mary und Matthew in Moskau herumführten und ihnen ihre ehemaligen Lieblingsplätze zeigten – auch den Spielplatz. „Darf ich schaukeln, Daddy?“, fragte Matthew und schon fand er sich von Bryan angeschubst in luftigen Höhen.

Die ehemaligen Demolition Boys betrachteten den kleinen, glücklichen Jungen auf der Schaukel nicht ohne eine Prise Nostalgie – erinnert an gute Tage ihrer schweren Kindheit.
 


 

Sie hatten sich zum Abschied umarmt und waren gegangen. Niemand hatte von ihm gefordert, die drei Worte zu sagen, und er war dankbar dafür. Auch wenn er seine Familie sehr liebte – er war nie gut in Abschieden gewesen. Die Trennung tat weh, wie beim letzten Mal auch, doch dieses Mal wusste er, sie war nicht für immer. Bald würde er Ians Silvesterkonzert zu hören bekommen, in Paris, im Notre Dame, er würde Bryan und vielleicht sogar Spencer besuchen kommen..

Tala war wieder alleine, doch nicht mehr so sehr. Nun hatte er wieder Wolborg, und viele Fotos, die sie untereinander aufgeteilt hatten. Und mit einem Mal erschien ihm die Welt nicht mehr so grau wie vorher..
 

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Danke, dass ihr reingeschaut habt^^ und für die Kommentare der letzten Kapis

*Träne aus Augenwinkel wisch*

Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber beim Wiedersehen der Jungs an der Tür hab‘ ich mich so rein gesteigert, dass ich fast geheut hätt‘

=‘3 Kaum zu glauben, was? ;3

Das hier ist an Heiligabend entstanden, ich hoffe also, euch gefällt das Kapitel ebenso sehr wie die anderen^^ *alle ganz fest drück*

Einen schönen Jahresausklang an alle=)

FW

Silvester

VI: Silvester
 

Der Applaus verstummte langsam, der französische Dirigent Pierre Grenallier verneigte sich höflich vor dem Publikum, präsentierte die beiden Solisten des Duetts, die sich kurz erhoben und nach einer leichten Verbeugung wieder setzten.

„Madames et Monsieurs, ich danke Ihnen allen, dass sie gekommen sind, um unser Silvesterkonzert anzuhören.“, verkündete er mit kaum überhörbar gerührter Stimme, „Nun kommen wir zum letztem Stück des Abends, einem Adagio – von dem man sagt, es sei der schönste Teil eines jeden Werkes.“

Mit diesen letzten Worten drehte sich Grenallier zu seinem Orchester um, nickte leicht lächelnd in die Runde.

Mit einem leichten Klopfen an sein Pult ließ er die Musiker zur Ruhe kommen, gab mit einem gemeinsamen Einatmen den Einsatz.

Die Musiker des Orchesters ließen sich in diesen schönsten Teil des Werkes fallen, waren Gefangene der Melodie. Der weißhaarige Dirigent bedeutete den Celli ein crescendo, welches er durch die Bratschen, die dritten und die zweiten Violinen leitete. Endlich bedeutete er auch der ersten Violine mit einem Öffnen der Arme ein crescendo. Direkt vor ihm saß Ian Papov, erster Solist, die ruhigen, rotbraunen Augen auf Monsieur Grenallier gerichtet. Er erwartete sein Zeichen nur mit Ungeduld, ohne sie jedoch dem Dirigenten zu zeigen. Endlich wurde auch ihm erlaubt zu spielen.

Ian begann mit einem mezzoforte, heftete seinen Blick auf seine Partitur. Die Violine erbebte unter den süßen Tönen, die er ihr entlockte, der Bogen fühlte sich gleichsam schwer und federleicht in seiner Hand an.
 

Gebannt hörten ihm auch seine Teamkollegen zu, teils die Augen auf seine doch kleine Gestalt gerichtet, teils die Augen geschlossen. Sie hatten in einer der hinteren Kirchenbänke des Notre Dame Platz gefunden und ließen sich nun vom wunderbaren Klang und den bunten Lichtern einzelner Feuerwerke – in der Tat war es inzwischen eine Minute nach Mitternacht – die durch die Buntglasfenster schienen.

„Ian spielt wirklich unglaublich gut“, hörte Bryan seinen ehemaligen Teamleader neben sich murmeln und konnte nichts anderes als stumm nickend zustimmen. Er riskierte einen Blick zum Rotschopf. Tala saß im Halbdunkeln völlig entspannt auf der harten Bank, seine eisblauen Augen auf Ian geheftet. Als er des ihn Beobachtenden gewahr wurde, schickte er ein schmales Lächeln in Richtung Bryans, der es zögerlich erwiderte, und schloss dann die Augen. Bestimmt, um Ian besser zuhören zu können. Spencer grinste leicht, als er Bryans Blick bemerkte und hob fragend eine Augenbraue, woraufhin der Silberhaarige sacht den Kopf schüttelte.
 

Das Konzert war vorüber, der Ansturm der Gratulanten ebenso. Die Kirche Notre Dame du Paris hatte sich geleert, nur mehr wenige Musiker waren anwesend. Ian verstaute seine Stradivari sorgfältig, ehe er sie sich auf den Schoß legte und zum Ausgang rollte.

Nur mit Mühe konnte er ein Fluchen unterdrücken. Er hatte vergessen, wie hoch die Schwelle des Portals angesetzt war, und saß nun buchstäblich an seinem Platze fest. Plötzlich ergriff jemand den Rollstuhl und hob ihn beinahe mühelos über die Schwelle. Ian drehte sich um und grinste leicht zu Spencer hinauf. „Danke, Großer“

Der Blondschopf erwiderte das Grinsen amüsiert. „Gern geschehen, Krümel“

Tala lächelte ihm freundlich zu, wartete etwas abseits mit Bryan; sie schienen ihre Eindrücke des Konzertes zu teilen. Nun schritt Bryan den beiden jedoch entgegen und schlug dem Größeren scherzhaft auf die Schulter. „Na, freut sich Matty auf Väterchen Frost?“, fragte er breit grinsend.
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen erinnerte sich Tala an die Momente ihrer gemeinsamen Kindheit zurück, die er genossen hatte – das Suchen nach den Geschenken Väterchen Frosts war immer ein wunderbarer Augenblick gewesen.
 

„Schto?“, empörte sich Bryan nun, „Du hast Matthew noch nichts von Väterchen Frost erzählt?“ Gespielt entsetzt schüttelte er den Kopf und wandte sich seinem ehemaligen Teamleader zu, der scheinbar gedankenverloren Löcher in die Luft starrte: „Kannst du das glauben, Tala?“ Der Rotschopf schreckte kurz zusammen, schüttelte dann jedoch, auf das Spiel eingehend, den Kopf. „Wie kann man nur..“, murmelte er grinsend. „Das müssen wir gleich morgen früh nachholen!“, bestimmte Ian enthusiastisch, „Aber zuerst kommt ihr jetzt mit zu mir – ich hab‘ extra aufgeräumt.“

Für diesen Satz kassierte er drei leichte Kopfnüsse. „Das wollen wir aber auch hoffen!“

Scherzend machten sich die Russen auf den Weg zu Ians Wohnung – „Oh, ich hab’ euch vergessen zu sagen, dass der Aufzug kaputt ist? Wie dumm von mir..“ (Sein süffisantes Grinsen würde Ian im Laufe des Abends schon noch aus dem Gesicht gewischt werden..).
 

Trotz der räumlichen Trennung waren sie wieder alle zusammen.

Tala – doch nicht nur er; ein jeder der ehemaligen Demolition Boys – war irgendwie.. glücklich. So seltsam es auch klang.
 

___________________________

Ich muss zugeben, das Kapitel ist ein wenig kurz – ich sehe es aber auch mehr als Epilog, wenn ihr versteht=3

Nun, wie findet ihr das hier?
 

Danke an alle Kommentatoren und Kommentatorinnen, die so viel Geduld mit mir hatten, wenn ich mal nicht rechtzeitig hochladen konnte, danke an alle Leser, die hier reingeschaut haben – und danke für eure Komplimente zum Schreibstil hier;3

EIN SCHÖNES NEUES JAHR

Und die besten Wünsche für 2009, ihr alle^^



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Kommentare zu dieser Fanfic (22)
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Von:  Namika
2009-06-16T16:02:28+00:00 16.06.2009 18:02
Halli-Hallo,
hier kommt dein verdienter Kommentar eines Mitgliedes der Jury des Beyblade Freundschaftwettbewerbes von knoedelchen.
Mir!
Mir persönlich hat diese Geschichte einfach nur gefallen. Sie war süß und herzerwärmend. Sowas will ich zu Weihnachten lesen (auch wenn wir das gerade nicht haben x'D) und nicht dieses ganze Kitsch-Schnulz-wir-lieben-uns-für-immer-Zeug.
Das Thema -Freundschaft- hast du wie den Nagel auf den Kopf getroffen. Das ist Freundschaft zwischen den Jungs. Über die Jahre hinweg - obwohl sie sich aus den Augen verloren hatten. Es waren nicht zu viele Emotionen drin; damit hättest du schnell die schöne Atmosphäre zerstören können. Aber auch nicht zu wenige, so dass man genau wusste, wie sie sich fühlen, aber auch ein wenig der Fantasie überlassen war. Perfekt die Mitte gefunden ;)
Außerdem fand ich es super, dass jeder sein eigenes Schicksal hatte. Kreativ, kreativ. :D Besonders Ian im Rollstuhl (Das war doch Ian, oder?) fand ich gut und ebenso, dass du nicht zu sehr darauf eingegangen bist.
Ich bin begeistert von dieser Geschichte!
Eigentlich sollte ich nun noch kritisieren, aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht was. Da musst du die anderen Jurymitglieder fragen, denn ich hatte dich ehrlich gesagt für einen der ersten drei Plätze vorgeschlagen...Also, habe ich auch nichts zu meckern.

glg
ihka
Von: abgemeldet
2009-01-01T18:13:25+00:00 01.01.2009 19:13
Guck guck, da bin ich wieder ^^

Du schreibst so schö~~n!!! Hab eine Gänsehaut gekriegt XD
Ein schönes Ende für eine schöne Geschichte!
Hoffe das du bald noch eine tolle FF on hast ^^
*knuddel*

Moaboa


Von: abgemeldet
2009-01-01T17:53:50+00:00 01.01.2009 18:53
Oh, tut mir leid dass ich erst jetzt ein Kommi schreibe!
Ich wollte es gestern tun, aber hatte keine Zeit! Sorry! *knuddel*

Wieder Mal super geschrieben! Konnte mir nichts anderes erwarten ^^
Bei das Zusammentreffen hab ich fast vor freude geweint!
Es war so süss~~

Moaboa


Von: abgemeldet
2008-12-31T14:49:53+00:00 31.12.2008 15:49
Oh,ich stell mir gerade vor, wie die drei in der Kirche sitzen und Ian zuhören->angenehmes Gänsehautfeeling.=)
"Spencer grinste leicht, als er Bryans Blick bemerkte und hob fragend eine Augenbraue, woraufhin der Silberhaarige sacht den Kopf schüttelte."-->*grübelt* Ich frag mich gerade, was das wieder für eine doofe weil so geheimnisvolle Andetunung ist...ich lese einfach weiter. u.u
Also,ich fand,dass es ein netter Schluss war. Ein bisschen hab ich mich nur gewundert, dass du diese Frage mit dem Verzeihen und so nicht nochmal behandelt hast, aber im Endeffekt hats dann eh so gepasst, wie es jetzt ist. Das war mal wieder eine schön herzerwärmende Geschichte!=3
Tschau,
Ree
P.S.:Guten Rutsch ins neue Jahr!

Von: abgemeldet
2008-12-31T14:44:25+00:00 31.12.2008 15:44
*lacht* Ich stell mir grad vor, wie Ian vor fünf Weibern flüchtet. xD
Ich finds immer noch interessant, wie verschieden die alle sind. Ian hasst fliegen, Bryan liebt es- was vielleicht auch mit dem Element von Falborg zu tun hat, aber trotzdem- und Spencer ist einfach nur genervt vom Gepäckband.^^
Das Wiedersehen der Drei ist unspektakulär, aber süß.^^ Hat gepasst so. Mehr Pathos und es wäre überladen gewesen.
Ich denke mal, Tala hat keine Ahnung, was ihm da bevorsteht. xD Das arme Schwein ist total unvorbereitet! Übrigens kann ich mir gut vorstellen, dass einige Gäste nur kommen, um ihn begaffen zu können...*lechz**räuspert sich* Ähhh, okay, zurück zum Text. u.u
"Er hatte frei. An Weihnachten. Unglaublich."<-- Hat was leicht sarkastisches für mich. Aber wie praktisch,dass sie frei haben, nicht wahr?^^
Oh Maaaaaannn!*schmilzt dahin* Das Zusammentreffen von Tala-Schatz und den anderen ist sooooo süüüüüüüüüüß!*quietscht* Oh mein Gott, ich spamme hier alles voll...^^
Na gut, damit wäre auch geklärt, was mit den Bitbeast passiert ist...Momment. Eine Wolfsklaue? Wie geil!*_*
Wenigstens hat er jetzt wieder Wolborg...*lächelt versonnen* Gut,dann mal zum Silvesterkapitel,ne?^^
Tschau,
Reena


Von:  Bran
2008-12-31T14:31:14+00:00 31.12.2008 15:31
Erste, erste juhu....
ah das war toll. bei der szene als sie sich alle wieder getroffen haben hab ich richtig heulen müssen snif. ganz toll..........ah ich weis net was ich schreiben soll außer SUPI. nya wünsch dir nen guten rutsch ins neue jahr
Amy chan
Von:  WeißeWölfinLarka
2008-12-21T15:23:44+00:00 21.12.2008 16:23
PS:
hab ganz vergessen zu fragen, was mit Wolborg eigentlich passiert ist. Erklärst du das noch? Und haben die anderen ihre Bitbeasts noch?

Von:  WeißeWölfinLarka
2008-12-21T13:34:47+00:00 21.12.2008 14:34
Dir auch eine schöne Weihnachtszeit und ein besinnliches Fest!

Aber nun zur Geschichte:
Talas Geschichte unterscheidet sich echt gravierend von den anderen. Er hat sein Leben sozusagen vergeigt, während die anderen was aus sich gemacht haben.
Als Leser weiß man, dass den anderen Tala auch wohl fehlt, aber wenn man Talas Verzweiflung erkennt, dann ist das so... traurig!
Ich finde der Streit kommt gut zur Geltung. Er ist mehr subtil. Man muss ja nicht immer so einen Hau-drauf-Schlagabtausch-Blut-Streit haben. Und es ist so schade, dass es so kommen musste. Und dass sie Talas Abschiedsschmerz nicht erkennen.
(Hier möchte ich übrigens kurz anmerken, dass es "heiser" heißt, ohne ß ^^° Im Sinne von "krächzend, schwächelnd, kränklich")
Ich frage mich, ob Tala auch wohl eine Nachricht erhalten hat. Immerhin scheint es, dass er aus der gemeinsamen Wohnung der D-Boys ausgezogen ist. Mensch, er hat das nicht verdient.
Von:  WeißeWölfinLarka
2008-12-21T12:41:49+00:00 21.12.2008 13:41
Hi^^
Wow, unsere Lieblingsrussen sind bei dir ja wirklich in alle Himmelsrichtungen verstreut!
Wie bist du auf die Idee gekommen, Spencer gerade nach Australien zu verfrachten?
In diesem Kapitel kommt man dem "Zwischenfall" etwas näher, ich vermute, beim "Vierten Advent" wird es aufgeklärt?
Obwohl... hast du ja eigentlich schon, sie wollten alle die Welt sehen und Tala wollte sie in Russland halten. Eigentlich ein banaler Streit, der aber durch Engstirnigkeit sehr ausfallen werden konnte.
Alles mal so Spekulationen meinerseits ^__^
Der Grund für Marys Abneigung ist nun wirklich lächerlich... Ha und durch Zufall weiß ich sogar, was "Milij" heißt :D
Von: abgemeldet
2008-12-20T23:53:12+00:00 21.12.2008 00:53
Alsooooooooooooooo,erstmal suuuuuuuuuuuuuupiiiiiiiiiiiii grooooooooooooooßes Kompliment. Allerdings finden -Takao- und ich(wir haben zusammen gelesen) dass Tala doch einen besseren Job hätte machen können, er kommt irgendwie total als Looser rüber, und Russland als die schlechteste Wahl von allen Ländern. Das müssen wir dir als durch und durch gestandene Yuriy (Tala) Fans sagen^^. Ausserdem haben wir den Anschein dass eher Boris (Bryan) den Streit vom Zaun gebrochen hat, immerhin hat er gesagt dass er schon zugeben soll, dass er froh ist, wenn alle weg sind.also warum die Schuldgefühle?

Ebenso ein schönes Weihnachtsfest und nen guten Rutsch von uns^^ Mach nur weiter so


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