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Unsichtbar

Du siehst mich nicht
von

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Wie alles begann...

Die meisten Menschen glauben nicht an Magie, an Übernatürliches. Für sie sind Magier, Elfen und Vampire Fantasiewesen, Einhörner, Zentauren und Feen existieren nicht. Nur die Kinder erfreuen sich an dem Glanz der Magie, der Schönheit der Elfen, an der Eleganz der Einhörner. Es sind nur Narren, die an diese übernatürlichen Wesen glauben. Noch nie wurden solche Kreaturen in unserer Welt gesehen, denn sie existieren nur in den Köpfen weniger Menschen, die sich eine solche Fantasiewelt vorstellen. Doch auch sie glauben nicht daran. Es ist nur eine Welt, in die man fliehen kann, wenn sich der Alltag aufdrängt. Diese Welten existieren einfach nicht. So denken die Menschen. Doch ich weiß es besser: Ich bin ihnen begegnet! Haltet ihr mich jetzt für verrückt? Glaubt ihr, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe? Oder glaubt ihr mir? Vermutlich nicht. Dennoch möchte ich euch erzählen, wie diese seltsame Begegnung stattgefunden hat. Wisst ihr, ich bin anders als die Anderen. Klar, ich bin ein Mensch, oder, zumindest war ich das mal. Ich weiß nicht mehr genau WAS ich bin. Denn meine Mitmenschen können mich nicht sehen. Das glaubt ihr nicht? Wartet, bis ihr die ganze Geschichte gelesen habt. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, richtig. Ich bin unsichtbar. Nur ich sehe mich selbst, wenn ich in den Spiegel schaue. Kein Anderer sonst. Ich bin einfach wie Luft für die anderen Menschen. Das heißt, fast. Dass man mich nicht sehen kann, heißt nicht, dass man mich nicht fühlen kann. Schon mehrere Male bin ich auf der Straße gegen irgendjemanden gerannt, der sich dann gewundert hat, wo der Widerstand herkam, gegen den er gerade gelaufen ist. Ich fühle noch immer wie ein normaler Mensch, ich spüre, wenn ich gegen etwas stoße, Schmerz und ich spüre das sanfte Kribbeln auf meiner Haut, wenn es regnet. Und doch ist es so, als hätte ich nie existiert. Ich war sieben, als es passierte. Meine Eltern habe ich nicht gekannt, ich bin im Heim aufgewachsen. Ob sie gestorben oder noch am Leben sind weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, wie sie hießen. Jedenfalls hat es mir im Heim noch nie gefallen. Ich hatte kaum Freunde und bin oft weggelaufen. Es war kurz vor meiner Einschulung als ich ein weiteres Mal weglief. Ich wusste zwar, dass sie mich wieder finden und bestrafen würden, doch diese Stunde in Freiheit war es mir wert. Ich versteckte mich auf dem Friedhof, bis es dämmerte. Ich saß auf der Mauer, die sich rund um den Friedhof zog, als ich Stimmen hörte. Es waren die von einer kleinen Familie, einer Frau mit langen, leicht gewellten braunen Haaren, die eines jungen Mannes, der die Haare modisch mittellang trug, ebenfalls braun, und die eines kleinen Mädchens, an der Hand der Frau laufend. Ich fand, dass sie glücklich aussahen. Weil ich nichts anderes zu tun hatte, folgte ich ihnen und war erstaunt, als sie den Weg zum Wald einschlugen. Schnellen Schrittes gingen sie auf eine Höhle zu, die mit einem Vorhang abgedeckt war. Ich ging näher ran, bis ich merkte, dass die Familie sich verändert hatte. Sie hatten jetzt viel hellere Haare, und ihre Haut war blasser geworden. Die Ohren liefen spitz zu und in ihren Augen lag etwas Magisches. Ich blinzelte. Hatte ich mir das nur eingebildet? Nein, sie hatten sich eindeutig verändert! In diesem Moment flog ein Vogel, der neben mir auf einem niedrigen Ast gesessen war, hoch. Diesem Vogel habe ich es zu verdanken, dass ich heute bin, was ich bin. Denn dieser Vogel machte auf mich aufmerksam. Der Mann drehe sich um und sah mir direkt in die Augen. Ich bekam Angst und wollte weglaufen, doch irgendetwas hinderte mich daran. Stattdessen ging ich zaghaft, gegen meinen Willen, auf die außerirdische Familie zu. Die Frau reichte mir lächelnd die Hand und ich nahm sie, immer noch wider Willen, an. Langsam führte sie mich in die Höhle, wo sie mich auf einen niedrigen Hocker drückte. Leise sagte der Mann etwas zu der Frau. Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber ich verstand es trotzdem. „Es ist uns nicht gestattet, menschliches Leben zu nehmen, also was tun?“ Die Frau starrte ratlos zu Boden. Das kleine Mädchen quakte aufgeregt: „Unsichtbar, unsichtbar!“ Der Mann seufzte und machte einen Schritt auf mich zu. Er beugte sich zu mir hinab, sodass ich in seine grünen Augen sehen konnte. Ich hatte Angst vor ihnen, und doch, es war das Wunderschönste, was ich je gesehen hatte. „Tut mir leid“, murmelte er und tippte mir leicht an die Stirn. Ich spürte keine Veränderung, außer dass ich mich wieder frei bewegen konnte. Ich stand mit zitternden Beinen von dem Hocker auf und ging rückwärts dem Ausgang der Höhle entgegen. Erst als ich den Vorhang zwischen meinen Fingern spürte, drehte ich mich hastig um und lief so schnell ich konnte zum Heim zurück. Doch da schien mich keiner zu sehen. Die Erwachsenen stolperten über mich, die anderen Kinder rempelten mich an. Bis ich bemerkte, dass mich keiner sehen konnte, waren mehrere Stunden vergangen. Also lief ich weg. Ich war mir sicher, dass es mit den Wesen zu tun hatte, denen ich am Abend begegnet war. Die Direktorin des Heims hatte überall nach mir suchen lassen, aber keiner hatte mich finden können. Wie auch? Ich war ja unsichtbar! Das gefiel mir. Die nächsten Wochen schlich ich mich in fremde Häuser und Schuppen, um dort übernachten zu können. Als ich noch nicht unsichtbar war, hatte ich das auch oft gemacht. Heimlich stahl ich Früchte aus fremden Gärten und hier und da auch mal ein Stück Brot vom Tisch auf der Terrasse. Man konnte mich ja nicht sehen! Das Leben begann, Spaß zu machen. Ich musste nicht hungern, nur manchmal war es kalt in der Nacht. Und man konnte den Menschen Streiche spielen, sie erschrecken, ohne das man erwischt wurde! Ein Jahr lang hat es mir richtig Spaß gemacht. Doch nach und nach entdeckte ich den Nachteil am unsichtbar sein: Man konnte mit niemandem reden. Man hatte keine Freunde, konnte sich mit niemandem treffen. Ich fühlte mich verlassen, allein. Ich suchte nach Mitteln und Lösungen, den Fluch, wie ich ihn nenne, loszuwerden, Ich suchte nach den Wesen, die mir die Suppe eingebrockt hatten, versuchte, ihn mit Wasser abzuwaschen. Nichts hatte funktioniert.

Ein Engel

Ja und nun sitze ich hier, noch immer alleine, noch immer unsichtbar. Mittlerweile bin ich fünfzehn. Ich habe also acht Jahre in diesem Zustand zugebracht. Und ich war kein einziges Mal in der Schule. Ihr wisst gar nicht, was für ein Glück ihr habt, in die Schule gehen zu können. Manchmal schaffe ich es, mich in die Grundschulklasse zu schleichen und ein wenig Lesen und Schreiben zu üben. Das klappt mittlerweile ziemlich gut! Aber von Mathematik habe ich wenig Ahnung. Zwar kenne ich das kleine Einmaleins, das war es dann aber auch schon. Heute habe ich beschlossen, in die höheren Klassen zu gehen, einfach nur so aus Spaß an der Freude. Ich möchte wissen, was die anderen Jugendlichen meines Alters lernen müssen. Das Gebäude der Realschule ist noch leer. Es ist noch zu früh, der Unterricht fängt erst in einer dreiviertel Stunde an. Also erkunde ich erst das Schulhaus. Meinen Berechnungen nach müssten die Schüler meines Alters in der neunten Jahrgangsstufe sein. Also mache ich mich auf die Suche nach einem Klassenzimmer einer neunten Klasse. Schon bald werde ich fündig. Auf der Tür des Zimmers steht in dicken Buchstaben 9c. Ich versuche, mir den ungefähren Lagepunkt des Zimmers zu merken und laufe schnell die Treppen wieder hinunter, um das Schulhaus kennen zu lernen. Nach einigen Sackgassen finde ich einen Hinterausgang, der auf den Sportplatz führt. Auf diesem Platz stehen einige Schüler und wärmen sich auf. Sie scheinen aber in den höheren Klassen zu sein, da sie älter aussehen als ich. Ich höre die Schulglocke läuten. Anscheinend klingelt sie schon früher, damit die Schüler rechtzeitig da sind, wenn der Unterricht beginnt. Also schlüpfe ich wieder ins Schulhaus, unter neugierigen Blicken einiger Schüler, die sich wundern, warum die Tür von alleine aufgeht. Ich lache in mich hinein und laufe flugs weiter, darauf bedacht, nichts und niemanden zu berühren. Die Klassenzimmertür stand offen, als ich ankam. „Super“, denke ich und schleiche hinein. Es befinden sich erst wenige Schüler im Raum. „Umso besser“, profitiere ich, setze mich auf die Heizung und warte gespannt auf die anderen Schüler und den Unterricht. Plötzlich kommt der Lehrer herein und alle setzen sich. Ich muss grinsen. Der Lehrer kommt vor der Mehrheit der Schüler ins Klassenzimmer. Wahrscheinlich, damit sie keinen Unfug machen. Mein Kichern ging im Lärm unter. Ein weiteres Mal geht die Tür auf und ein Junge und ein Engel treten ein. Der Junge hat blonde Haare, braune Augen und trägt ausgewaschene Jeans und ein T-Shirt, das ebenfalls nicht mehr ganz neu aussieht. Der Engel hat mittellange, hellbraune Haare und ockerfarbene Augen. Außerdem.... Moment! Moment, zurückspulen und Standbild! Was zum Teufel tut ein Engel hier auf der Erde?! Er ist so schön, zudem hat er eine starke, aber freundliche Aura. Ich verliere mich in seinen Augen, verliere fast meinen Verstand. Im selben Moment wird mir klar, das er ein normaler, sterblicher Mensch ist, kein Engel. Er hat nur die Erscheinung eines Engels, und trotzdem... mein Herz vollführt einen Hüpfer. Dann schlägt es im doppelten Tempo weiter. Kann man es hören, das Rasen meines Herzens? Ich atme tief durch, solange es noch einigermaßen laut in der Klasse ist. Der Engel hatte sich inzwischen in die zweite Tischreihe vor dem Lehrerpult gesetzt und diskutiert mit seinen Klassenkameraden. Die Schulglocke läutet ein weiteres Mal, doch die Schüler setzen sich nicht. Erst als der Lehrer sich räuspert und aufsteht, kehrt Ruhe in der Klasse ein und der Unterricht beginnt. Der Erwachsene beginnt sofort, etwas zu erklären und an die Tafel zu schreiben, doch ich verstehe nichts von dem. Zum ersten baut das alles wahrscheinlich auf Stoff auf, den ich noch nicht gelernt habe, zum anderen bin ich viel zu abgelenkt. Die ganze Zeit über starre ich den Engel an, der die Tafelanschrift in sein Heft schreibt, , sich aber zu seinem Nachbarn lehnt und redet, wenn der Lehrer sich umdreht. Als die Klingel aber ertönt, springen die Schüler auf und bevor man „Hausaufgaben“ sagen konnte, waren sie verschwunden.

Zeit zum Mittagessen

Ich folge den Schülern unauffällig den Schülern in den nächsten Raum und lasse den zeternden Lehrer im Klassenzimmer zurück. Der hatte nämlich keine Zeit mehr gehabt, seinen Schülern Hausaufgaben aufzugeben. Mich stört das alles weniger und auch die Schüler waren gewiss froh darüber.
 

Ich aber bin auch viel zu abgelenkt. Zum einen muss ich mich darauf konzentrieren, mit niemandem zusammenzustoßen, zum anderen muss ich aufpassen, dass ich die Klasse nicht aus den Augen verliere.
 

Schließlich bleiben die Schüler der 9c vor einer Tür einen Stock weiter unten stehen. Auf der Klassentüre steht nichts, also muss dieses Zimmer ein allgemeiner Aufenthaltsraum sein. Ich halte ein wenig Abstand zu dem Rest der Klasse , aber ich stehe in einer guten Position, um den Engel sehen zu können.
 

Ich werde von einem Geräusch aus den Gedanken gerissen. Ich allerletzten Moment drehe ich mich um und mache flugs einen Schritt zur Seite, denn die Lehrerin war gekommen und bahnt sich nun einen Weg durch die Schüler zur Tür. Sie war direkt auf mich zugelaufen. Wäre ich nicht zur Seite gesprungen, hätte es vermutlich ein Dilemma gegeben.
 

Erleichtert atme ich auf. Keiner hatte mich bemerkt, also kann ich mich jetzt weiterhin ungesehen in das Klassenzimmer schleichen, mir einen Platz auf der Heizung suchen und den Engel beobachten, der sich in der hintersten Reihe niedergelassen hat und ein blaues Buch aufschlägt.
 

Kurze Zeit später beginnt die Lehrerin zu sprechen, in einer fremden Sprache. „Das ist also das berühmte Englisch!“, denke ich. Ich habe nie Englisch gelernt, aber auf den Büchern steht „English“, also wird es schon stimmen. Ich habe ohnehin keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Stattdessen beobachte ich die Schüler, vor allem aber haften meine Augen auf dem Engel.
 

Ich kann sehen, dass die Schüler Spaß an diesem Unterricht haben. Die Lehrerin scheint ein lustiges, nettes Wesen zu haben, denn die Jugendlichen lachen viel, kommen aber, soweit ich das beurteilen kann, nicht vom Unterrichtsstoff ab. Ab und zu erklärt die Lehrerin etwas auf Deutsch, zum Beispiel neue Vokabeln, sodass ich auch etwas verstehe. Viel zu früh, wie ich finde, gibt die Lehrerin Hausaufgaben auf, kurz bevor die Schulklingel ertönt. Höchste Zeit für mich, mein Mittagessen zu beschaffen.
 

Es klingt leichter, als es ist, etwas zu Essen zu finden. Im Sommer ist es leichter, da die Leute oft draußen im Garten speisen. Im Winter wird es schwieriger, denn dann muss ich mich in die Wohnung von anderen Leuten schleichen, um an etwas zu Essen zu kommen. Ich weiß, es ist nicht gerecht, den Familien gegenüber, aber etwas anderes ist mir bis jetzt nicht eingefallen.
 

Zum Glück meint es das milde Frühlingswetter gut mit mir, die Sonne steht neben vereinzelten, kleinen Wolken strahlend am Himmel. So finde ich schnell einen halb gedeckten Tisch auf einer ebenerdigen Terrasse. So leise wie möglich springe ich über den ohnehin niedrigen Gartenzaun und verstecke mich unter dem Tisch.
 

Just in diesem Moment höre ich, wie jemand näher kommt und etwas auf den Tisch stellt. Ich kann nur hoffen, dass noch etwas anderes auf dem Tisch zum fertigen Mahl gestellt werden muss. Und tatsächlich: Die Schritte entfernen sich wieder.
 

Flugs klettere ich unter dem Tisch hervor, nehme mir ein paar Scheiben Brot und Tomaten und verstecke mich hinter einem Strauch. Ich unterdrücke ein Kichern, als ich das Gesicht der Frau sehe, die eben einen dampfenden Topf auf den Tisch gestellt hatte. Da hatte sie doch tatsächlich zu wenig Brot nach draußen gestellt. Verwirrt nahm sie den Brotkorb wieder in die Wohnung, um ihn aufzufüllen.

Kindheitsträume und noch mehr

Zufrieden sitze ich neben dem Gartenzaun und kaue auf meinem Brot herum, im Schutz der Sträucher, versteht sich. Dabei beobachte ich die Frau mit ihren Kindern, die zum Essen an den Tisch gestürmt waren.

Nach einiger Zeit des Grübelns, was ich denn nun mit der folgenden Zeit meines Lebens anfangen sollte, beschließe ich, den Spielplatz aufzusuchen. Dort ist bei einigermaßen schönem Wetter fast immer etwas los, also gibt es etwas zu beobachten.

Ich atme tief durch. Der Spielplatz ist schon immer einer meiner Lieblingsorte gewesen, neben dem Friedhof, versteht sich. Jede Minute, die ich auf dem Spielplatz verbringen durfte, war ich glücklich, im Heim dagegen fühlte ich mich immer unwohl.

Als ich an meinem Ziel angekommen bin, lehne ich mich an einen Zaunpfahl und sehe über den Platz. Kinder kreischen, spielen im Sand, werfen Bälle durch die Luft und amüsieren sich. Der größte Teil der Kindermasse befindet sich auf dem großen Holzschiff, das in der Mitte des kreisrunden Sandkastens thront.

Ich muss lächeln, als ich an meine fröhlichen Spielplatzstunden zurückdenke. Mein Interesse hatte nie dem Schiff gegolten, auf dem die anderen stets Piraten spielten. Ich wollte hoch hinaus und liebte es, auf die Bäume, die den Platz umrandeten, zu klettern und nicht mehr hinunterzukommen, bis sich irgendwann einer der Betreuer erbarmte, selbst hinaufkletterte und mich vom Ast pflückte. Zugegeben, zu den Erwachsenen im Heim war ich nicht wirklich nett gewesen. Ich hatte ihnen gegenüber eine derartige Abneigung verspürt, dass ich sie einfach nicht mögen konnte.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich frei sein wollte, nicht gefangen. Ich wollte nicht in Regeln eingeengt sein, in Verboten gefangen. Deshalb tat ich dann immer genau das, was ich nicht tun sollte.

Ich hatte zum Beispiel nie wirklich Lust, regelgemäß mit dem Sand, der hier zu Genüge vorhanden war, zu spielen und Sandburgen zu bauen. Stattdessen liebte ich es, mit einem Eimer Wasser vom Bach, der neben dem Spielplatz vor sich hin plätscherte, zu holen, es über den Sand zu kippen und dann mit ein paar anderen Kindern eine ordentliche Schlammschlacht zu starten.

Ja, ich hatte auch kurzzeitige Anhänger, die sich aber wieder von mir entfernten, als sie merkten, dass die Folgen, die mein Handeln nach sich zog, nicht ihrem Gefallen entsprachen. Mir hingegen machten die Bestrafungen und Standpauken, die ich nach solchen Aktionen zu hören und zu spüren bekam, nicht das Leben schwer. Im Heim zu leben war das Schrecklichste, was ich mir hatte vorstellen können. Schlimmer ging es eben nicht mehr.

Ich unterdrücke ein Seufzen. Das war die Zeit gewesen, als ich noch sichtbar für den Rest der Menschheit war.

Langsam lasse ich meinen Blick über die vielen fröhlichen Gesichter der Kinder schweifen, dann drehe ich mich um und gehe ein Stück den Bach entlang. Allerdings komme ich nicht weit, denn schon nach ein paar Metern entdecke ich ein kleines Mädchen, das trotzig in den Bach starrt. Oder besser, sie bewirft den Ball, der in dem Bach liegt, mit wütenden Blicken.

Nach kurzer Zeit des Überlegens gehe ich vorsichtig an dem kleinen Mädchen vorbei und steige in das klare Wasser. Kurz erschaudere ich, als das kühle Nass meinen Fuß umspült. Das Mädchen beobachtet derweil mit offenem Mund, wie sich im Wasser Löcher bilden. Da sie mich ja nicht sehen kann, sieht sie durch meine Füße hindurch das Flussbett. Als ich den Ball erreiche, gebe ich ihm einen kurzen Stoß von unten, sodass er in die Hände der Kleinen zurückkehrt.

Das Mädchen, das immer noch fasziniert auf die Wasseroberfläche blickt, fängt nun an zu grinsen. Sie lässt sich in die Hocke sinken und flüstert ein „Danke, Bach!“. Dann neigt sie den Kopf. Wahrscheinlich will sie dem Wasser nun einen Dankeskuss geben. Ich schüttele lächelnd den Kopf. Die Naivität eines Kindes ist doch etwas Wunderbares!

Als das kleine Mädchen aber zu schwanken beginnt, richtet sie sich erschrocken auf. Anscheinend hat sie es sich anders überlegt. Glücklich hüpfend kehrt sie zu einer alten Frau zurück, die allen Anscheins ihre Großmutter ist. Fröhlich erzählt sie der in die Jahre gekommenen Dame die Rettung des Balles durch den Bach. Als sie kurz auf mich zeigt, erschrecke ich und denke kurz nach, ob sie mich gesehen hatte. Aber die alte Frau lächelt und streicht ihrer Enkelin liebevoll über den Kopf. Ihr Ausdruck, der ihr über das faltige Gesicht huscht, verdeutlicht meinen Gedankengang: Die Naivität eines Kindes ist etwas Wunderbares.

Langsam, darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu machen, steige ich aus dem Wasser und schüttele meine Füße trocken. Über nasse Kleidung brauche ich mir keine Gedanken machen, schließlich habe ich nicht viel an. Schon seit Jahren laufe ich barfuß durch die Straßen, da meine Füße schon längst viel zu groß für die kleinen Kinderschuhe geworden sind. Die Kleidung , die ich am Tag meiner Verwandlung trug, wurde zusammen mit mir unsichtbar. Die Kleider, die ich aber danach angelegt hatte, wollten einfach nicht unsichtbar werden.

Also ist das einzige, was ich trage, ein Slip, der mir in meiner Kindheit glücklicherweise zu groß war und ich zu meinem Heil auch nicht besonders groß gewachsen bin, und ein Hemd ohne Ärmel, das an den Seiten eingerissen ist .

Trotzdem friere ich nicht. Ich hatte schon vor meiner Unsichtbarkeit Nächte im Freien verbracht. Es schien auch so, als hätte sich mein Kälteempfinden mit der Verwandlung verändert. Ich friere nicht mehr so leicht wie als Mensch. Ich glaube, die Elfen hatten wenigstens dieses eine Mal zu meinem Gunsten gehandelt.

Allerdings ist es im Winter immer noch recht kalt. Das ist der Grund, warum ich mich an kalten Tagen gerne in Kellern von Häusern aufhalte, die einen Heizungsraum mit ein paar Winkeln zum Verstecken besitzen.

Zu meinem Glück steht die Jahresuhr jetzt auf Sommer, also muss ich mir keine Sorgen darum machen, zu erfrieren.

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich keinen Dreck mehr an meinen Füßen hatte, gehe ich zurück, um den Kindern weiterhin beim Spielen zuzusehen. Sie strahlen so viel Lebensfreude aus, dass sie mich damit anstecken.

Eine Weile bleibt mein Blick an einem kleinen Mädchen hängen, das ihre Puppe im Sand vergräbt und dabei „ La Li Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“ singt. Ich muss grinsen, denn das habe ich auch schon versucht. Nur war das nicht meine Puppe, sondern der Autoschlüssel meines Berteuers, gewesen. Ich war eben der Meinung, dass auch Schlüssel Gefühle hatten und ihren Schlaf brauchten. Damals verstand ich auch nicht, warum der Aufpasser sauer war, nachdem ich seinen Schlüssel so wunderbar in den Schlaf gesungen hatte.

Meine Augen streifen weiter durch die Gegend. Zwei Jungen beladen ihre Spielzeugtraktoren und schippern den Sand von einem Ort zum anderen. Ein Mädchen sitzt neben einem Hund und streichelt ihn ganz vorsichtig, als wäre er aus Porzellan. Ein anders Mädchen steht trotzig mit einem, bunten Ball im Arm bei einem weinenden, kleinen Jungen. Die Erwachsenen sitzen auf den Bänken, die rund um den Spielplatz angeordnet sind und beobachten ihre Schützlinge mit aufmerksamen, wachenden Augen.

Eine Bank erregte meine Aufmerksamkeit. Nur eine einzige Person saß darauf, und wüsste ich es nun nicht besser, würde ich erneut glauben, ich sähe einen Engel. Da sitzt doch tatsächlich der Junge, der mir heute Vormittag in der Schule über den Weg gelaufen war. Oder besser, ich war ihm über den Weg gelaufen.

Wie auch immer, er sitzt da, alleine, mit einer Gitarre auf dem Schoß. Ab und zu blickt er auf und scheint sich suchend umzusehen. Findet er sein gesuchtes Etwas, wendet er sich wieder seiner Gitarre zu und schlägt leise die Saiten an.

Zu dumm! Ich befinde mich gerade auf der anderen Seite des Platzes, sodass ich nicht hören kann, wie oder was er spielt. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Interesse nun seiner Musik – ich liebe Musik – oder ihm selbst gilt.

Jedenfalls überwinde ich mich und laufe außen am Platz zu ihm hinüber, um nicht irgendwelche Spuren zu hinterlassen oder irgendein Kind zum Fallen zu bringen. Vorsichtig bewahre ich Abstand, um mich nicht zu verraten und setze mich an das andere, freie Ende der Bank.

Die leisen Töne, die von der Gitarre des Engels herrühren, umschließen mich und ich fühle mich frei wie noch nie. Das Lied, das er spielt, scheint eine Ballade zu sein, ein gefühlvolles Lied. Dazu summt er noch leiser eine Melodie, die mich berauscht.

Mühsam versuche ich , einen klaren Kopf zu behalten. Zu dumm wäre es nun, meine Kontrolle zu verlieren und mich zu verraten.

Als das Lied verklingt, schlucke ich in letzter Sekunde einen bedauernden Seufzer hinunter. Die Nebel in meinem Verstand lösen sich auf, sodass ich wieder klar denken kann. Erschrocken merke ich, dass ich unwillkürlich näher an den Engel gerückt war, um der Musik besser lauschen zu können.

Schnell kehre ich also an meinen alten Platz am Ende der Bank zurück und gebe mich damit zufrieden, den Engel zu betrachten. Ja, er sieht wirklich aus wie ein Engel.

Promt werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein kleines Mädchen stürmt auf meinen Platz zu. Intuitiv springe ich auf und bringe mich in Sicherheit.

„Julian, Julian, ich will nach Hause!“, quäkt das Mädchen und setzt einen Hundeblick, wie ihn viele Kinder haben, auf. „Bitte! Mama hat gesagt, ich muss nur mal kurz an die frische Luft!“, bettelt sie nun.

Ich blinzle verwirrt. Sollte ich mich in der Schule verhört haben? Mir war, als hätten ihn alle anderen Yuri gerufen. Ich schüttele den Kopf. Vielleicht hat er ja einen Spitznamen.

Mir kommt ein weiterer, absurder Gedanke. Nein, das kann nicht sein, oder etwa doch? Ich kann ihn doch nicht einfach so verwechselt haben!

Vorsichtig schleiche ich um die kleine Göre herum, die nun vor dem Jungen steht. Nein, das ist definitiv der Engel von heute Vormittag.

Ich grinse in mich hinein. Wäre ja auch zu komisch gewesen, nicht?

Zu meinem Bedauern merke ich, wie sich der Engel, der augenscheinlich Julian heißt, seufzend erhebt, das kleine Mädchen an der Hand nimmt, und den Spielplatz verlässt. Einen Moment denke ich darüber nach, ihm zu folgen. Schließlich entscheide ich mich aber doch dafür, morgen noch einmal in die Schule zu gehen, und ihm schließlich dann nach Hause zu folgen.

Fröhlich hüpfend begebe ich mich auf den Weg, ein Quartier für diese Nacht zu finden.

Die blasse Seele der Welt

Aus einer Laune heraus entscheide ich mich, das Haus von heute Mittag aufzusuchen. Dort, wo ich mir mein Mittagessen, das im Übrigen sehr lecker gewesen war, stibitzt hatte. Ich vermag mich zu erinnern, dass der Tisch auf einer Terrasse stand, wo ich mich wohl einwandfrei verstecken könnte. Mein Gedächtnis täuscht mich nicht. Nach einigem Suchen – mein fehlender Orientierungssinn macht mir von Zeit zu Zeit das Leben etwas schwerer – finde ich das auserwählte Haus. Auch der Tisch ist glücklicherweise noch vorhanden.

Ich klettere also über den Zaun und krieche unter der Plastiktischdecke, an die ich mich jedoch seltsamerweise nicht erinnern kann, hindurch. Die Fliesen, die auf der Terrasse verlegt wurden, sind noch warm von der Sonne. „Perfekt“, denke ich und lege mich auf den warmen Grund.

Auch falls sich der Himmel in dieser Nacht entscheiden sollte, etwas Wasser loszuwerden, so würde ich, dank des Plastiküberwurfs, wenigstens im -Trockenen schlafen können.

Ich starre an die weiße Tischplatte über mir und lasse den Tag Revue passieren. Es war ein wundervoller Tag. Ich habe ein Mädchen wohl bestimmt ein Stück glücklich gemacht, meine Kindheitstage wieder aus meinem Gedächtnis gekramt – wobei ich die schlechten Tage doch lieber in der hintersten Ecke meiner Erinnerungen verstaut lasse - und einen Engel gefunden, der seltsamerweise zwei Namen hat. Vielleicht war das bei Engeln ja normal?

Kurzerhand nehme ich mir vor, morgen beizeiten aufzustehen, um ein weiteres Mal die Schule zu besuchen und meinen Engel wiederzufinden. Bei meinem Sinn für Orientierung kann man ja nie wissen.

Die Gedanken an den nächsten Morgen stimmen mich fröhlich. Verträumt projiziere ich das Bild des Engels an die Unterseite der weißen Tischplatte. Mit einem fiktiven Stift male ich ihm an jeder Seite einen großen, gefiederten Engelsflügel und betrachte schließlich zufrieden mein Werk.

Plötzlich beginnen seine Flügel zu leuchten, sie erhellen mein Gesicht. Ich fange an, mir Fragen zu stellen. „Bin ich denn jetzt total irre geworden?“, zweifele ich an meiner eigenen Wahrnehmung. Ich blinzle, einmal, zweimal, doch das Bild des Engels verschwindet nicht. Fast mechanisch strecke ich den Arm aus und berühre die Federn der Flügel. Da ist es wieder dunkel. Ich versuche, im Finsteren den Engel auszumachen, doch ich kann ihn nirgends finden. Kein Leuchten, kein Engel. Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht bin ich einfach zu müde und mein Unterbewusstsein spielt mir Streiche. Ich seufze und lege mich in eine bequeme Position. Bevor ich jedoch noch einmal „Engel“ denken kann, bin ich auch schon eingeschlafen.

Die Strahlen der Morgensonne kitzeln mich wach. Verschlafen recke und strecke ich mich und scheuche den Schlaf aus meinen Gliedern, während ich herzhaft gähne. Dann richte ich mich auf, nur um gleich festzustellen, dass es wohl besser gewesen wäre, mir zu merken, wo ich die Nacht verbracht hatte. Denn auch die Tischplatte begrüßt mich mit einem ordentlichen Stoß gegen den Kopf. Verärgert reibe ich mir den Kopf und nehme mir vor, beim nächsten Mal doch eher einen Schlafplatz aufzusuchen, der nicht mit einer Gefahr für morgendliche Beulen verbunden ist.

Ich krieche unter dem Tisch hervor und erstarre. Ich blinzle ungläubig, doch immer noch fangen meine Augen das gleiche Bild ein, das ich einfach nicht wahrhaben will. Ich lasse meinen Blick hinauf in den Himmel schweifen. Die Sonne, die eben erst aufgegangen war, scheint mit voller Kraft auf die Erde nieder. Sie kann also nicht der Grund dafür sein.

Es ist seltsam. War das Gras nicht gestern noch saftig und grün? Waren die Blüten der Sträucher nicht in kräftige Farben getaucht? Wieder kneife ich die Augen zusammen und schüttle den Kopf. „Ich werde irre, ich werde total verrückt!“, schießt es mir durch den Kopf. Das, was ich sehe, kann einfach nicht real sein.

Es scheint, als hätte die Welt ihre Farbe verloren. Als würden die Farben unter einer Krankheit leiden, die sie schlapp machen und auslaugen. Alles ist farblos, blass. Ich streife mit der Hand durch das Gras. Es fühlt sich normal an, gesund und kräftig, doch das blasse, wie ausgewaschene grün sieht alles andere als gewöhnlich aus.

Der Himmel, dessen blau ich so liebte, hat sich nun in ein trauriges blassblau gehüllt, die Sträucher sehen keinesfalls lebendig und fröhlich aus. Mir kommt es so vor, als habe sich ein Schleier über die komplette Welt gelegt, der alles blass und leblos wirken lässt.

Plötzlich ertönt hinter mir ein vertrautes Geräusch. Beinahe zu Tode erschrocken, drehe ich mich reflexartig um, nur um ein weiteres Mal zu erschrecken. Ich schnappe nach Luft. Das wird alles immer verrückter!

Vor mir sitzt eine Katze, die so freudlos wirkt wie der Rest der Umgebung, trotzdem schnurrt sie mich an und gibt mir so ihr Lebenszeichen. Aber noch etwas zeigt mir eindeutig, dass sie am Leben sein muss. Ihr Herz leuchtet. Ja, wirklich. An der Stelle, wo ich ihr Herz vermute, beweist mir ein roter, leuchtender Punkt ihr Leben. Was ist mit mir passiert? Oder ist das vielleicht der Anfang des Weltuntergangs, den man der Menschheit seit jeher prophezeit hat?

Ich atme tief durch. „Nur nicht verwirren lassen. Es ist alles in Ordnung, du lebst und noch ist nichts verloren. Bis auf deine Sichtbarkeit. Und die Farben“, versuche ich mich erfolglos zu beruhigen. Um mich zu zerstreuen, beschließe ich, einen Ort aufzusuchen, an dem sich viele Menschen befinden. Die Idee vom vorhergegangenen Tag, wieder die Schule zu besuchen, war längst im Papierkorb des Vergessens gelandet.

Der Marktplatz ist das erste, was mir einfällt. Am Morgen treffen sich dort alle Arbeitnehmer, die nicht hier im Umkreis arbeiten, um mit dem Bus zum Geldverdienen zu fahren. Nachdem ich auf dem Weg dorthin keiner Menschenseele begegnet bin, erschrecke ich nun dementsprechend heftiger. Und gleichzeitig fange ich an, zu begreifen, was mit mir geschieht.

Die Verwandlung

Der Marktplatz ist voller leuchtender Herzen. Die Vielfalt der Farben ist atemberaubend. Rot, schwarz, weiß, blau, sowie grün, pink, braun. Jedes Herz scheint zu schimmern. Selbst das Herz des Babys, welches eine Frau mit grünem Herzen eben an mir vorbei trägt, hat einen weißen, unschuldigen Glanz. Aber die Herzen der Menschen sind keineswegs das einzig farbenfrohe an der blass gewaschenen Welt. Die Augen. Auch die Augen heben sich stark von dem sonst trüben Erscheinungsbild der Menschen ab.

Ich keuche und lehne mich an eine Hauswand. Das ist alles zu viel für mich. Zu viel, um sofort zu begreifen, was hier vor sich geht. Ich spüre, dass ich mir bereits unterbewusst eine Theorie zusammenfüge, allerdings wird diese Vermutung noch ein wenig Zeit brauchen, um bis zu meinem Verstand vorzudringen.

Mir schwirrt der Kopf. Meine Augen beobachten die farbigen Punkte, die durch die Straßen hetzen, in Bussen verschwinden, sich freundlich begrüßen. Mir wird schwindelig, ich muss mich an der Hauswand hinabsinken lassen, um nicht plötzlich umzukippen.

Mit geschlossenen Augen versuche ich, kontrolliert tief ein und auszuatmen. Ich zähle bis drei, atme ein, zähle wieder und atme aus. Es funktioniert. Nach und nach beruhigt sich mein Kreislauf. Ich wage einen erneuten Blick in die Menschenmenge. Jedes Herz leuchtet.

Und sofort klingelt die Gefahrenglocke in meinem Unterbewusstsein. Jeder Mensch hat ein Herz, das zumindest ist ein Fakt. Ich war einmal ein Mensch, wenn auch vor langer Zeit. Wenn jedes Herz plötzlich anfängt zu leuchten…

In meinem Kopf bahnt sich eine üble Erkenntnis an. Bevor ich der Wahrheit ins Gesicht sehe, atme ich noch einmal tief durch. Wenn mein Herz jetzt beginnt zu leuchten, sind die Tage meines friedlichen, unerkannten und unsichtbaren Lebens mehr als gezählt.

Mit zusammengebissenen Zähnen – bereit, jede Art von Wahrheit zu akzeptieren – lasse ich meinen Blick an mir herabschweifen.

Nichts.

Keine Veränderung, kein Leuchten, nein, nicht einmal ein Schimmer geht von meinem Herzen aus. Erleichtert atme ich aus. Gleichzeitig kommt mir jedoch die Frage in den Sinn: Was zur Hölle bin ich?

Ich stöhne unwillkürlich auf. Der Schock, den mir die neue Welt versetzt hat, ist vorüber. Nun prasseln tausende von Fragen auf meinen Verstand ein. Dieser jedoch wehrt sich – mit Kopfschmerzen.

Glücklicherweise gelingt es mir dennoch, für einen Moment einen klaren Gedanken zu fassen: „Weg hier“, macht meine innere Stimme mir unmissverständlich klar und ich gehorche ihr, ohne auch nur an eine Widerrede zu denken. Schnell, jedoch darauf bedacht, niemanden anzurempeln, verlasse ich den Marktplatz und lasse die vielen bunten Herzen hinter mir.

Mein Unterbewusstsein, von dem ich mich nun leiten lasse, da mein Verstand noch immer verrückt spielt, führt mich auf direktem Wege zum Friedhof. Und siehe da – als ich mich auf die vertraute Mauer setze, sind die quälenden Stimmen, die mir Fragen an den Kopf werfen, plötzlich verstummt. Ich kann aufatmen. Trotzdem zwinge ich mich, über die neue Welt nachzudenken. Je mehr ich über sie weiß, desto besser werde ich in ihr leben können. In Gedanken mache ich mir eine Liste, und beginne, über die Fragen nachzubrüten.

Frage eins: Was ist passiert?

Die Welt hat ihre Farbe verloren. Die Herzen der Menschen sowie ihre Augen beginnen auf unnatürliche Art und Weise zu schimmern.

Frage zwei: Wie ist es passiert?

Als ich gestern eingeschlafen bin, konnte ich eine Veränderung spüren, einen Riss in der gestrigen Welt. Vielleicht war das der Auslöser für das ganze Chaos, das sich mir nun darbietet.

Frage drei: Warum ist es passiert?

Ich könnte wohl tagelang über diese Frage grübeln und mir würde keine passende Antwort darauf einfallen. Verschieben wir also die Frage etwas nach hinten.

Frage vier: Was will mir das ganze sagen?

Etwa, dass ich verrückt geworden bin? Dass die Welt untergehen wird?

Frage fünf: Warum benehmen sich die Menschen trotz alledem völlig alltäglich und normal? Müsste denn nicht allgemeine Panik unter der Menschheit ausbrechen?

Darauf fällt mir nur eine einzige Antwort ein. Höchstwahrscheinlich bin ich mal wieder die einzige, die das ganze Desaster überhaupt beobachten kann. Es muss wohl irgendwie an meiner Unsichtbarkeit liegen, dass ich plötzlich nur noch die ausgewaschene Version der Erde zu sehen bekomme. Könnte das mein Ende sein? Könnte es möglich sein, dass ich mich nun langsam einfach auflöse? Dass mir meine Sinne schwinden, mein Körper den Geist aufgibt und im Wind verweht?

Ein eiskalter Schauer läuft mir das Rückgrat entlang. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, rede ich mir ein. Müsste ich mich denn jetzt nicht tausendmal elender fühlen, wenn ich jetzt sterben würde?

Ein plötzlicher Schmerz fährt mir durch den Kopf und lässt mich auffahren, ein unterdrückter Schrei entflieht meiner Kehle. Und da sehe ich klar.

Nein, nicht etwa die Farben der Welt kehren zurück. Jedoch das Puzzle aus Fragen, dass in meinem Kopf viel Raum eingenommen hat, fügt sich nun zu einer Antwort zusammen. –Ich kann nicht erklären, woher die Erkenntnis so unvermittelt kommt. Ich weiß plötzlich die Antwort und bin mir mehr als sicher, dass es die richtige ist.

Es sind die Seelen. Ich kann die Seelen der Menschen lesen. Die Farbe ihrer Herzen teilen mir deren Charakter mit. Ob sie geduldig sind, nett, griesgrämig, verlogen, hoffnungsvoll oder sehnsüchtig. An ihren Augen kann ich erkennen, in welchem Gemütszustand sie sich eben befinden. Sie mögen so gute Schauspieler sein wie sie wollen, mir können sie nichts vormachen.

Unvermittelt beginne ich, zu zittern. Ich habe Angst, ja, ich mache mir selbst Angst. Mein halbes Leben habe ich im Verborgenen verbracht, unsichtbar. Selbst in der anderen Hälfte war ich nur ein kleines Kind im Heim gewesen, ein unbedeutender, kleiner Mensch, der keine Eltern hat. Nun die Macht zu besitzen, Lebewesen aus der Seele zu lesen, ja, das jagt mir den ein oder anderen Schauer über den Rücken. Gruselig.

Gleichzeitig muss ich grinsen. „Glückwunsch“, denke ich , „jetzt bist du noch anormaler geworden. Lerne noch Gedanken lesen und man wird dich wie im finsteren Mittelalter als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“ Trotzdem bin ich beinahe glücklich über die Veränderung des Lebens. Irgendwie hatte ich den Alltag davor gründlich satt.

Neuen Mutes mache ich mich auf, um meine neue Macht zu erforschen. Ob es wohl die Absicht der Elfen gewesen war, mir eine solche Fähigkeit zu verleihen? Niemand sonst könnte wohl eine derartige Veränderung in meinem Sichtfeld bewirken.

Ich brauche nicht lange zu gehen, um das erste Opfer zu finden, an dem ich meine eben errungene Macht zu erproben gedenke. Eine ältliche Dame schlurft mit ihrem kleinen Hund, dessen verfilztes Haar an einen Wischmopp erinnert, den Gehweg zum Spielplatz entlang. Schon von weitem sehe ich die lebendigen, blauen Augen des Tieres und die der Frau, die in einem sanften, gemütlichen Grün schimmern.

Ich schleiche mich bis auf wenige Meter an die Lebewesen heran und folge ihnen lautlos wie ein Panther auf der Pirsch, bis die ältliche Frau sich auf eine Bank am Rande des Spielplatzes setzt, um neuen Atem zu schöpfen. Ihr kleiner Wischmopp hüpft aufgeregt vor der Bank auf und ab.

Die Augen des Tieres waren leuchtend gelb, sein Herz hatte eine hellblaue Farbe. Ich kann daraus schließen, dass der Hund im Moment sehr ungeduldig ist, im Allgemeinen ist er ein kleiner, aufgeweckter Kerl, stets lebhaft und frech.

Das Herz der Frau jedoch wies eine grüne Färbung auf, ihre Augen leuchteten dunkelblau. Instinktiv stelle ich fest, dass die Dame im Moment ruhig und entspannt ist. Im Alltag ist sie engagiert, wenngleich auch sie des Öfteren die Geduld verliert.

Fasziniert drehe ich meinen Kopf gen Himmel. Mein unbedeutendes Leben hat eine abrupte Hundertachzig – Grad – Drehung vollführt und krempelt meinen gesamten Alltag um. Ich bin neugierig darauf, was wohl als nächstes geschieht. Gleichzeitig habe ich Angst – Angst vor dem, was vielleicht folgt, Angst vor einem plötzlichen Ende.



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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Von:  Thuja
2011-01-15T22:39:09+00:00 15.01.2011 23:39
Eine neue Fähigkeit
Und die alles entscheidende Frage
Ist das gut oder schlecht?
Sie sieht jetzt hinter die Fassade der Menschen. Eine sicher interessante Fähigkeit. Aber dafür hat die Welt ihre Farben verloren. Das wäre irgendwie traurig, all die kräftigen Farben nicht mehr so sehen zu können
Obwohl es manchmal wirklich toll wäre, zu erkennen, was wirklich hinter einer Person steckt.
Und wie immer war dein Ausdruck überzeugend. So dass man einfach Lust hat weiter zu lesen und nebenbei tief traurig ist, dass kein neues Kapitel da ist *snief*
Wird allerhöchste Zeit das du weiter schreibst
Morgen schon was vor?
Ein neues Kapitel zu entwerfen, wäre eine wunderbare Idee
Mir macht es wirklich Spaß zu lesen
Die Idee ist sehr gut
Der Ausdruck flüssig mit einer schönen Wortwahl
Und man wartet wirklich darauf, was als nächstes passiert. Man fiebert mit der Protagonistin mit.

Nur eines habe ich mich gefragt: wieso war sie nun auf dem Weg dorthin eigentlich keinem Menschen begegnet? Das wirkte fast so, als wären die Menschen verschwunden.


glg

Von:  Thuja
2011-01-04T23:27:36+00:00 05.01.2011 00:27
Was ist los?
Was ist passiert?
wahh wie spannend!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!1
ich will gleich weiterlesen!
aber erst MUSS ich mein Lob loswerden.
Es war sehr sehr schön geschrieben
du bringst es toll rüber, wie sie ihr Leben in der Unsichtbarkeit meistert, auf was sie achten muss, was ihr egal sein kann
was mir aber am meisten gefallen hat, war die Veränderung der Welt am nächsten Tag. Du hattest eine sehr bildhafte Sprache. Man konnte praktisch mit ihren Augen sehen, was sie gesehen haben muss. Und man konnte ihre Gedanken peferkt nachvollziehen. Super Arbeit
außerdem hast du einen herrlich einfach zu lesenden Schreibstil. Alles geht flüssig ineinander über. Selbst um die Uhrzeit liest man da gerne.

glg
Von:  Thuja
2011-01-04T23:27:14+00:00 05.01.2011 00:27
Was ist los?
Was ist passiert?
wahh wie spannend!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!1
ich will gleich weiterlesen!
aber erst MUSS ich mein Lob loswerden.
Es war sehr sehr schön geschrieben
du bringst es toll rüber, wie sie ihr Leben in der Unsichtbarkeit meistert, auf was sie achten muss, was ihr egal sein kann
was mir aber am meisten gefallen hat, war die Veränderung der Welt am nächsten Tag. Du hattest eine sehr bildhafte Sprache. Man konnte praktisch mit ihren Augen sehen, was sie gesehen haben muss. Und man konnte ihre Gedanken peferkt nachvollziehen. Super Arbeit
außerdem hast du einen herrlich einfach zu lesenden Schreibstil. Alles geht flüssig ineinander über. Selbst um die Uhrzeit liest man da gerne.

glg
Von:  Cygni
2010-06-13T10:51:31+00:00 13.06.2010 12:51
okayy~ das macht mir ein bisschen angst...
und ich weiß irgentwie aucvh nicht was ich mit der information jetzt anfangen soll... ich bin verwirrt...
kann das nächste kapi ein wenig den nebel lichten?
bitte? :)

lg stellax3
Von:  Cygni
2010-06-01T11:36:45+00:00 01.06.2010 13:36
okayy~ verwirrend.
was ist denn jetzt los?

das überfordert mich gerade ein bisschen...viel...
dir ist schon im klaren das du mit dem nächsten kapi nicht mehr so lange warten kannst? das macht mich kirre...

lg stellax3
Von:  Cygni
2009-11-28T18:45:22+00:00 28.11.2009 19:45
ich weiß nicht ob ich damtit umgehen könnte unsichtbar zu sein...
ich glaub ich hätt voll die identitätskrise. . .

mein einziger kritikpunkt wär das du überhaupt keine absätze drin hast... das ist schwer zu lesen...nya~ das wird durch die tolle story allemal ausgeglichen^-^

sagst du mir bescheid wenns weitergeht?

lg stellax3
Von:  Thuja
2009-11-28T06:40:20+00:00 28.11.2009 07:40
Hu
Irgendwie bin ich beeindruckt
Das war sehr gefühlvoll
Ein wunderbares Kapitel
Da kriegt man gleich am morgen gute Laune
Du hast ihre Gedanken und Gefühle super rüber gebracht. Man versteht dieses Mädchen total. Das ganze wirkte auch sehr tiefsinnig. Ganz besonders fand ich wie du Gegenwart mit Vergangenheit verknüpft hast und dadurch das sie bestimmte Dinge beobachtet hat, zu ihrer Vergangenheit gesprungen ist. Das war total toll.
Und einige Male echt zum Lachen
Lol
Ich musste lachen als sie das mit dem Autoschlüssel erzählt hat
*g*
der arme Betreuer. Das ist schon hart. Den Schlüssel wird er wohl nie wieder gesehen haben
und was ich extrem süß fand, war das kleine Mädchen, dass sich beim Bach bedankt hat
schon allein der Inhalt ist super und auch ergreifend, aber dein Stil hebt das ganze noch eine Stufe höher
und sie tut mir auch Leid, weil sie ihren persönlichen Engel immer nur beobachten kann. Sie muss sich wirklich schrecklich einsam fühlen. Niemand kann sie in den Arm nehmen, sie kann mit niemanden reden, muss jedes Problem alleine bewältigen. Ja sie hat es bestimmt hart.
Und ich frage mich wie das Ganze ausgeht
Vor allen was nun mit dem Jungen ist
Warum hat er in der Schule einen anderen Namen?
Ich bin sehr gespannt auf die Auflösung
Schreib schnell weiter
*motivationskekse back und dir geb, damit es ganz schnell weiter geht*

byebye


Von:  Thuja
2008-12-24T07:11:33+00:00 24.12.2008 08:11
och
"entäuschte Kinderaugen mach"
das war wirklich kurz und ein wenig mehr hätte passieren dürfen
aber sei es drum
das nächste Kapitel kommt ja hoffentlich bald

am Anfang hattest du ausversehen eine Wortwiederholung
"Ich folge den Schülern unauffällig den Schülern in den nächsten Raum..."
fiel mir nur so auf

ansonsten verstehe ich die Frau, dass sie sich gewundert hat, dass auf einmal Essen fehlte. Schätze würde den Fehler aber auch bei mir suchen
wer denkt schon dran, das eine Unsichtbare da stibitzt hat
obwohl ich an ihrer Stelle eher im Supermarkt essen holen würde
Wenn beim Bäcker ein Brötchen, bein Fleischer eine Wurst oder einfach nur ein Apfel fehlt beim Obst, stört das gewiss keinen und sie kann ja nachts sozusagen mal im supermarkt bleiben und sich da gleich mal ne Ladung mitnehmen

glg
und schreib schnell weiter

Von:  Thuja
2008-12-24T07:01:35+00:00 24.12.2008 08:01
Wirklich tolles Kapitel
Sehr schöne und abwechslungsreiche Formulierungen und es lässt sich flüssig lesen

Ich musste lachen, als sie einen „Engel“ zur Tür reinkommen sieht
Erst laufen ihre Gedanken so normal weiter, ehe ihr bewusst wird, als was sie den Jungen gerade bezeichnet hat. Der Kerl muss echt Eindruck auf sie geschindet haben
Und ich würde mal sagen das war wie Liebe auf den ersten Blick
Nur gibt es da ja ein ganz großes Problem
Er wird sie nie sehen können

Ich bin ja gespannt wie sich alles entwickelt
Im übrigen gefällt mir die Idee sehr gut

glg

Von:  Thuja
2008-12-24T06:51:52+00:00 24.12.2008 07:51
Guten morgen und fröhliche Weihnachten
Das ist vielleicht nicht so gut wie ein Geschenk, aber ich hinterlass dir trotzdem mal ein kleines Kommi
So beim prolog kann ich immer schlecht irgendeine richtige Beurteilung schreiben
Aber meine ersten Gedanken schon
Und zwar klingt die Geschichte sehr viel versprechend und interessant und ich werd auf jeden Fall weiter lesen und weil ich so neugierig bin sogar sofort, obwohl es eigentlich unten Frühstück gibt :D
Dein Schreibstil ist soweit ich beurteilen kann auch sehr schön
Mir hat diese erzählende Art des Protagonisten gefallen
Dadurch wirkte es wirklich real
Ich hab richtig jemanden vor mir gesehen, der mir seine Geschichte erzählt
Naja in diesen Fall hab ich eigentlich niemanden gesehen, da sie ja unsichtbar ist, aber zumindest gehört
Die Einleitung über den Glauben an die Magie ist dir auch sehr gut gelungen

Diese Unsichtbarkeit muss wirklich ein Fluch sein
Ich meine niemand redet mit einem
Einsamkeit ist mal schön, aber ständig
klar in der Anfangzeit wär das total aufregend
Man könnte alles machen
Im Supermarkt essen was man will
Auf den Rummel gehen ohne eintritt
Ins Schwimmbad gehen, ohne gesehen zu werden, also ohne was zahlen zu müssen
Ebenso in die sauna und soviel mehr
Aber trotzdem
Irgendwann verliert das den Reiz und was bleibt
Genau das was du am Ende so klar verdeutlichst
Einsamkeit

glg



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