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Das Feuer Eos

...Hamburg, 1890...
von

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Prolog

1.5.1890
 

„Sie kommt hierher, nach Hamburg.“

Der Chilene beugte sich vor. „Diese Chance darfst du nicht verpassen. Du weißt, wie viel Geld unser Auftraggeber uns geboten hat.“
 

„Ach ja, der geheimnisvolle Sammler, der uns Unsummen versprochen hat, dessen Namen du selbst mir aber nicht nennen willst.“

Der Dieb lehnte lässig in seinem Sessel und hatte die Beine auf dem teuren viktorianischen Beistelltisch verschränkt, den González von seinen Freunden aus London bekommen hatte.

Er blickte nachdenklich in das Kaminfeuer und richtete schließlich seinen Blick auf seinen Arbeitgeber, der ihm erwartungsvoll entgegen sah.

„Na schön,“ sagte er. „Ich werde ihn stehlen, deinen wertvollen Diamanten. Und wenn es nur ist, um den reichen und schönen Lords und Ladys eins auszuwischen.“

González lachte erleichtert. „Ich wette, niemand versteht es besser als du, der hochwohlgeborenen und bislang allzu sorgenfreien Lady Crowley den Schrecken ihres Lebens zu besorgen, Bela.“
 

Der Angesprochene hob eine Augenbraue und verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. „Keine Sorge, ich bin nur hinter ihrem Schmuck her. Und davon sollte sie, auch nachdem ich ihr das ‚Feuer Eos’ gestohlen habe, noch genug übrig haben.“

Rod schenkte ihnen beiden von seinem doppelt gelagertem Cognac ein.

„Das will ich wohl meinen. Trinken wir auf deinen Erfolg?“

„Gern.“ Der Dieb nahm die Füße vom Tisch, richtete sich auf und hob sein Glas. „Ein Toast darauf, den hohen Damen und Herren das Tragen ihrer schweren Taschen zu erleichtern. Gold und Diamanten sind ziemlich schwer, da ist es doch nur recht und billig, wenn wir ihnen ihre Last ein bisschen erleichtern und auf unsere eigenen Taschen verteilen.“

Sie stießen an und nippten am teuren Brandy.

„Du hast es schon immer verstanden, es dir gut gehen zu lassen, alter Freund,“ sagte Bela. „Das ist verdammt gutes Zeug.“

Rodrigo González, der ungekrönte König der Hamburger Unterwelt, lächelte mild. „Ich bin sicher, mein Lieferant würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er wüsste, dass du seinen Vieille Réserve als ‚verdammt gutes Zeug’ bezeichnest.“
 

Bela hielt sein Glas in das flackernde Licht des Kamins und betrachtete zufrieden das golden schimmernde Getränk. „Ich trinke auf dich. Auf González, den geschmackssicheren Brandyexperten. Den jüngsten Strippenzieher der kriminellen Unterwelt, den diese Stadt je erlebt hat. Den Denker hinter drei der größten Schmuckdiebstähle, die die Hamburger Polizei niemals aufzuklären die Ehre hatte.“

Rodrigo unterbrauch ihn lachend. „Genug, genug, bitte. Es ist mir ein Vergnügen, mit dem größten Dieb und Fassadenkletterer des ausgehenden Jahrhunderts Geschäfte zu machen. Das wolltest du doch hören, oder...?“

29.5.1890
 

Lord Jonathan Maximillian Adrian Farin, Sohn des Barons von Inglewood war, obgleich er Engländer und somit Teil eines zur Zeit im Deutschen Reich nicht sehr beliebten Volkes war, einer der gefragtesten Junggesellen Hamburgs. Er war der britische Botschafter in der Hansestadt und somit oft und gern gesehener Gast auf Empfängen und Gesellschaftsabenden der „Reichen und Schönen“, wie Bela die Oberschicht im Geiste gerne nannte. Obendrein war der Lord unverschämt reich, jung, gebildet, gut aussehend, und, wie der Dieb zähneknirschend eingestehen musste, erstaunlich umgänglich und humorvoll.
 

Rodrigos Spione waren überall – britische Laufburschen in London, deutsche Angestellte in Hamburg; außerdem unzählige Bettler, Händler, Sekretärinnen, Dirnen, Schankwirte und Arbeiter jeglicher Herkunft. Keiner von ihnen wusste genau, welche seiner Informationen González verwertete und welche nur schmückendes Beiwerk waren, um von seinen eigentlichen Plänen abzulenken, sie alle kannten nur Bruchstücke der Wahrheit und die wenigsten hatten ihn je zu Gesicht bekommen.
 

Nach einigen Wochen harter Arbeit hatten Bela und Rodrigo alle Fäden in der Hand gehalten, die sie brauchten. Lord Farin würde im Sommer Gastgeber von Graf und Gräfin Crowley sein, die zum Anlass der Vermählung ihrer Tochter mit einem reichen Hamburger Kaufmann zwei Wochen in der Stadt weilen würden. Dem alten englischen Landadel angehörig hatten sie, in typischer britischer Arroganz, den Wunsch zur Geltung gebracht, unter englischem Dach zu schlafen, woraufhin ihnen Lord Farin ohne Zögern - auf Drängen seines Vaters, wie Rod Bela lachend erzählt hatte – die Nutzung des Ostflügels seines weitläufigen Hauses anvertraute. Lady Crowley hatte in der britischen Klatschpresse bereits angekündigt, „das Feuer Eos“, einen ungeheuer reinen und wertvollen roten Diamanten, der an einem schmuckvollen Collier befestigt war, mit sich zu führen, der ununterbrochen von einem privaten Sicherheitsmann bewacht werden würde. „Nichts ist mir zu gut für den Hochzeitsball meiner Tochter,“ sollte sie ausgerufen haben, ein Kommentar, der reichlich Spott heraufbeschworen hatte, schließlich würde besagte Tochter ausgerechnet einen nichtadligen Kaufmann heiraten, was wohl, so mutmaßten die Briten, vor allem daran lag, dass es um dem sagenhaften Reichtum der Crowleys nicht mehr so gut stehen konnte wie noch vor einigen Jahrzehnten.
 

Belas Ziel nun war es gewesen, sich um eine Anstellung als Valet im Haushalt Lord Farins zu bemühen, eine Aufgabe, die mit Hilfe einiger Empfehlungsschreiben von Rodrigos Londoner Kontakten geradezu lächerlich einfach gewesen war. Sein Englisch war zum Glück gut genug, um unter den diversen, meist ebenfalls deutschen Dienern des Botschafters nicht weiter aufzufallen, obendrein sprach der junge Lord selbst üblicherweise deutsch in seinem Haushalt, soweit er keine britischen Gäste hatte. Nun musste Bela nur, wie er seufzend feststellte, während er die frisch gestärkten Hemden seines neuen Herren ordentlich in den Schrank hängte, noch knappe drei Monate bis zum Besuch der Crowleys in dieser lächerlichen Stellung ausharren. Ein solcher Diebstahl wollte geplant sein, natürlich, aber die Idee, dass Bela als unbescholtener Valet vor und nach der eigentlichen Tat im Haus des Botschafters auszuharren hatte, war von González gekommen, schließlich hatte dieser keinerlei Interesse daran, dass der Diamantenraub auf Bela oder gar ihn selbst zurückfallen konnte. In der Theorie hatte das alles sehr vernünftig geklungen, ja, aber mittlerweile, nach erst einer der endlos scheinenden vor ihm liegenden Wochen, fragte sich der Dieb, warum zum Teufel er sich nur dazu hatte breitschlagen lassen. Der Nervenkitzel und die Abwechslung seines eigenen Berufes, nein, seiner Berufung, fehlten ihm und er kam sich in zunehmendem Maße albern vor, wie er für dem Botschafter den Diener spielte.
 

In diesem Moment hörte er die Klingel, das hieß wohl, dass Besagter wieder da war und mit seinem Abendessen rechnete. Rasch stieg er die Treppe hinab – einen englischen Lord ließ man nicht warten, hatte er in Vorbereitung auf diese Stellung gelernt – und betrat die Bibliothek, in die sich Lord Farin zurückzuziehen pflegte, wenn er von seiner Arbeit kam und nach ihm klingelte.
 

„Sie wünschen, Sir?“ fragte er, etwas unsicher, da Farin nicht wie sonst in ein Buch vertieft war, sondern ihm aus seinem Lesesessel heraus erwartungsvoll entgegen schaute.

„Setz dich, Nestor, ich würde gern ein bisschen mit dir reden.“

Dirk Nestor war der Name, den er in seinen Empfehlungsschreiben bekommen hatte, das rächte sich nun. Er hätte es umdrehen sollen, hatte eigentlich gehofft, dass er bei seinem Vor- statt seinem Nachnamen gerufen werden würde – obendrein hatte Rodrigo was davon gefaselt, Nestor sei doch ein guter Name für einen Valet, dieser Depp. Jetzt musste er sich also so rufen lassen, Bela unterdrückte ein Seufzen und beeilte sich zu antworten.

„Natürlich, Sir.“ Er setzte sich betont gerade auf die Kante eines weiteren Sessels, so wie er annahm, dass es einem Valet wohl zu Gesicht stehen würde.

Lord Farins Gesicht erhellte sich durch ein Grinsen, das charakteristisch für ihn war und bei dem Bela meist versuchte, verbissen auf einen Punkt hinter dem Kopf seines Gegenübers zu schauen, denn es war schwer, den Sohn des Barons nich zu mögen, wenn er so dreinsah.
 

„Ich mag dich, Nestor,“ sagte Lord Farin schließlich, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Du bemühst dich zwar, wie ein echter, britischer Butler zu wirken, aber durch alles scheint deine, vitality, deine, äh, Lebendigkeit hindurch.“

„Ich, äh, tut mir Leid, Sir,“ haspelte Bela, dem seine Unterwürfigkeit jetzt schon zum Hals heraus hing.

„Es muss dir nicht Leid tun. Im Gegenteil, ich finde es erfrischend. Tu mir den Gefallen und verstell dich nicht mehr.“

- Das wird unmöglich sein, dachte Bela, fast schon bedauernd. Irgendwie drang die Ehrlichkeit seines Hausherren durch seinen mühevoll konstruierten Schutzpanzer hindurch.

Der fuhr nun fort: „Ich hätte gern einen Valet, der ist, wie er ist, vor allem mir gegenüber. Ich habe genug von den Engländern, die allesamt mit, wenn du meine Offenheit verzeihst, einem, wie sagt man, Walking-Stick in ihrem Hintern herumlaufen.“

Belas Unterkiefer klappte herunter, dann lachte er laut auf, bevor er sich wieder in der Gewalt hatte. Lord Farin sah ihn weiterhin mit breitem Grinsen an, ihre Augen trafen sich und kurz darauf lachten sie beide, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Worüber, das wusste Bela selbst nicht so genau – über die Absurdität der Situation; darüber, wie die Freunde des hochgeborenen Lords wohl reagieren würden, hätten sie diese Aussage von ihm gehört oder darüber, dass er solche Ausdrücke überhaupt kannte, als englischer Gentleman hatte man sich schließlich jederzeit und überall in der Gewalt zu haben.

Schließlich wischten sie sich die Tränen ab und Lord Farin wurde ernst.

„Es freut mich, dass ich dich richtig eingeschätzt habe. Ich hoffe, ich kann auf deine Diskretion vertrauen, sonst muss ich dich unehrenhaft entlassen. Aber,“ er lächelte wieder, „ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen.“
 

„Sir, ich...“ setzte Bela an, dem so viel Vertraulichkeit – obendrein innerhalb seiner ersten Arbeitswoche und von einem Engländer – reichlich unheimlich war.

„Bitte, Nestor. Kein Sir. Wenn wir unter uns sind, bin ich Farin, in Ordnung?“

„Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee wäre. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber die Etiquette gebietet...“ verzweifelt versuchte Bela, das zusammenzukratzen, was er von Rod in kürzester Zeit über britische Diener-Hausherren-Beziehungen in den Kopf gestampft bekommen hatte, bis ihm selbiger brummte.

„Ich weiß, was die Etiquette gebietet,“ unterbrach ihn Farin, fast schon unwirsch. „Sie macht mich krank. Und bitte spiel mir nichts vor, ich sehe in deinen Augen, dass es dir ähnlich geht.“

Bela seufzte, vielleicht war es am besten, das Spielchen mitzuspielen, und sei es nur, um nicht frühzeitig entlassen zu werden, schließlich hatte er einen Auftrag.

„Na schön. Ein bisschen haben Sie schon Recht,“ antwortete er schließlich.
 

„Lass mich dir etwas von mir erzählen, Nestor.“

Bela erwog kurz, ihn zu unterbrechen und ihn zu bitten, ihn mit Dirk anzusprechen, aber auf einmal schien ihm dies zu vertraulich für diesen seltsam umgänglichen Lord, der, wenn es nach ihm ging, fast schon mehr in ein Irrenhaus als auf einen Botschafterposten gehörte.

„In Ordnung. Wünschen Sie vorher etwas zu Trinken?“

„Nein, danke, ich werde zum Essen etwas trinken. Also, hör zu. Als Kind wuchs ich mit meiner Mutter bei meinem Onkel in Indien auf, mein Vater, der Baron war ein busy, äh... beschäftigter Mann und mochte keine Kinder. Ich hatte eine wilde und freie Jugend, dort in Indien, bis zu meinem 16. Geburtstag, als mein Vater uns nach Hause holte, meine Mutter und mich. Er sagte, die Leute fingen an zu reden, ich müsse mich endlich wie ein junger Lord benehmen und meine Mutter, seine Frau, an seiner Seite leben, schließlich sei sie mit ihm verheiratet. Er schickte mich auf eine Boarding School, eine, äh...“

„Ein Internat,“ sagte Bela, gegen seinen Willen beeindruckt davon, wie gut das Deutsch des jungen Botschafters war. Er rollte das r leicht, ansonsten war, bis auf die Tatsache, dass er manchmal nach Worten suchen musste, kaum zu hören, dass er Brite war.

„Genau. Danach Trinity College, Cambridge, ich lernte Deutsch, Französisch, Economy, Sprachen – einiges, weil es mich interessierte, anderes, weil mein Vater es so wollte. Aber meine Freiheit war weg. Ich lernte, ein Lord zu sein. Aber Freude hat es mir nie bereitet. Lieber wollte ich wieder auf Elefanten reiten, wie als Kind, swimming, schwimmend im indischen Ozean und wieder mit den indischen Kindern unserer Angestellten spielen, als wären wir gleich gestellt.“
 

Er schüttelte traurig den Kopf. „Anyway, ich wurde also zum Lord, reich, wohlhabend, privilegiert und eingeengt. Als man mir vor einem Jahr anbot, Botschafter zu werden, ergriff ich die Chance mit beiden Händen, nur weg von meinem Vater und unserem gloomy Tudor Mansion. Natürlich ist das nur ein Aufschub, aber bis dahin, tu mir den Gefallen und rede mit mir, wie mit einem normalen Menschen, ja? Baron sein muss ich noch lange genug.“

Sein charakteristisches Grinsen erhellte wieder sein Gesicht und Bela konnte nicht anders, er musste zurücklächeln. Lord Farins Geschichte war nicht vom Selbstmitleid geprägt gewesen, im Gegenteil, er schien sehr genau zu wissen, dass er viele Vorteile auf seiner Hand hatte, aber dass er das Leben möglichst ungezwungen genießen wollte, so lange es noch ging, verstand Bela, schließlich waren sie beide jung und das Leben eines englischen Barons sicher nicht unbedingt immer angenehm.
 

„Na schön,“ meinte er dann. „Ich kann das verstehen. Aber geben Sie mir bitte etwas Zeit, mich daran zu gewöhnen. Ich nehme an, vor Fremden bin ich weiterhin der steife Valet mit,“ er grinste, „Wanderstock im Hintern?“

„Genau. Ich muss meinen Geschmack loben, ich habe mir einen intelligenten Valet eingestellt.“

Sie lachten beide und Bela stellte erschrocken fest, dass er Lord Farin ehrlich zu mögen begann.
 

-TBC-
 

----....----
 

Anmerkungen
 

Hintergrund:
 

An dieser Stelle ein paar Sätze zum historischen Hintergrund dieser Geschichte. Ich hoffe, ich langweile euch damit nicht, ich brauchte sie selbst, um das Setting zu bestimmen und bin nach wie vor fasziniert von dieser wirren, dekadenten, gegensätzlichen Periode. ;)
 

Wir befinden uns im Jahr 1890, in der freien Hansestadt Hamburg. Diese hat sich vor 19 Jahren dem Deutschen Kaiserreich angeschlossen, welches aktuell großen Veränderungen unterliegt. Vor zwei Jahren, 1888, ist der alte Kaiser Wilhelm I. gestorben, der für nur 99 Tage vom schwer kranken Friedrich III. abgelöst wurde. Nachdem dieser seinem schweren Kehlkopfkrebs erlegen ist, kommt im gleichen Jahr sein Sohn, Wilhelm II., an die Macht. Bismarck, der tiefkonservative Reichskanzler, und der junge Kaiser können sich nicht ausstehen, Bismarck befürchtet einen Krieg, während Wilhelm II. selbst regieren will und obendrein nicht von der eisernen Politik Bismarcks überzeugt ist.

1890 dann, kurz vor Beginn unserer Geschichte, kommt es zum offenen Konflikt, am 17. März 1890 tritt Bismarck endgültig ab und Wilhelm II. macht Leo von Caprivi zum neuen Reichskanzler. Auf das Deutsche Reich kommen unsichere Zeiten zu, nachdem Bismarck lange Zeit mit fester, nahezu erdrückender Hand die Stabilität im Reich zu erzwingen versucht hat.

Gesellschaftlich ist das Reich schwer in arm und reich gespalten – die sich im Vormarsch befindliche Industrialisierung sorgt für enormen Reichtum unter den Fabrikeigentümern sowie der reichen Bürger- und Händlderschicht und für enorme Armut, die nur bedingt von Bismarcks neuer Sozialgesetzgebung abgefedert wurde, unter den Arbeitern. Kinderarbeit, niedrigste Löhne, grausige Arbeitsunfälle und Hunger sind an der Tagesordnung, während sich die reiche Oberschicht teils in Dekadenz, teils in Expansion ihrer bereits beachtlichen Geldmittel durch Mehrwertschaffung und Handel übt. Die freie Hansestadt Hamburg ist durch ihren enormen Hafen reicher als die meisten Städte und offener als das konservative Preußen. In ihren Straßen und Gassen finden sich riesige Bürgerhäuser genau so wie winzige Wohnverschläge, florierende Bordelle jeder Preisklasse wie international wichtige Handelshäuser, gut gehende Arbeiterkneipen wie teure Hotels für internationale Gäste. Reichgekleidete Bürger treten angewidert über verhungernde Krüppel hinweg, während Diebe und Matrosen, leichte Mädchen und mit Pariser Moden bekleidete Damen, berittene Offiziere und arm gekleidete Arbeiter aus aller Herren Länder die Straßen bevölkern.

Ironischerweise verfügen ausgerechnet Verbrechernetzwerke, wie das in dieser Geschichte von Rod geleitete, bereits über eine hervorragende Nachrichten- und Kommunikations-Infrastruktur. Telegramme, Züge und Post existieren bereits und funktionieren sehr effizient, so dass sich verschlüsselte Botschaften ohne weiteres schnell verbreiten lassen. Obendrein kann ein florierendes Verbrechersyndikat auf weitaus mehr Loyalität seiner Mitglieder hoffen als der Staat, der trotz begonnener Sozialgesetzgebung, die meisten Bürger ihrem Schicksal überlässt.
 

Das Deutsche Reich und das viktorianische Großbritannien beäugen sich indes kritisch über die Nordsee hinweg, die Beziehungen sind nicht die besten. Im Commonwealth ist der Adel noch viel mächtiger als in Deutschland, wo das bürgerliche Kapital bereits Politik und Gesellschaft entscheidend bestimmt. Die britischen Lords entscheiden über große Bereiche von Innen- und Außenpolitik und stehen, soweit sie nicht verarmt sind, in hohem Ansehen in der Bevölkerung, während ihre Ladies sich in teure Stoffe kleiden und so versuchen zu vergessen, wie wenig sie in einer zugleich prüden und in Dekadenz versinkenden Oberschicht tatsächlich zu sagen haben. Allgemein ist es üblich, einen großen Mitarbeiterstab, von Kindermädchen über die vielbeschworenen Gärtner und Butler, Gesellschaftsdamen, Köchinnen, Aushilfen, bis hin Kindern, die Kurierdienste und kleinere Arbeiten im und um das Haus übernehmen, zu beschäftigen. Je mehr Mitarbeiter – die allesamt einen ausgezeichneten Ruf haben und am besten aus jahrhundertealten Diener-Familien stammen sollten – umso besser ist es auch um den Ruf der Familie selbst bestellt.

Keine Sorge – im nächsten Kapitel wird dann auch klar(er), warum ich euch das alles erzähle. Geschichtsstunde beendet. Erstmal.
 

PS: es gibt schon weitere zwei Kapitel. Ich hoffe, eins pro Tag posten zu können. Mal schauen. Ich stecke da grade erschreckend viel Arbeit rein. Juchu, das Schreiben macht mir wieder Spaß!

Ich hoffe nur, mein Epos bereitet euch auch Spaß zu lesen, hüstel. XD
 

PPS: Ich lese eindeutig zuviel Sherlock Holmes zur Zeit...
 

Noch ein paar Bemerkungen zu konkreten Personen und Ereignissen der Geschichte:
 

- Dank, Lob & Verehrung gebührt natürlich schonste (Livejournal) dafür, dass sie drauf kam, dass "Jan" sich wunderbar zu "Jon" bzw. Jonathan umbauen lässt. Auch das "Maximillian" ist ihre Idee, liegt aber natürlich auf der Hand. "Farin" ist in diesem Falle sein Nachname, zugegeben, nicht sehr britisch, aber hey, ich wollte es halt irgendwie einbauen.

- Liebe Briten, bitte fühlt euch nicht von meinen Kommentaren zu Lord & Lady Crowley beleidigt. Ich versuche, "in der Zeit" zu schreiben, das beinhaltet auch, dass ein aus heutiger Sicht völlig irrsinniger Nationalstolz nicht nur in GB, sondern auch und besonders in Deutschland (da komme ich bestimmt noch drauf in zukünftigen Kapiteln) den Alltag bestimmte.

- Die Barone von Inglewood gibt es tatsächlich und sie sitzen traditionell – bis heute – im House of Lords, sind also eine der einflussreichsten Familien Englands. Natürlich haben sie allerdings nichts mit Farin zu tun. Ich hab mir einfach irgendeine Baron-Familie herausgepickt.

- Die Barone von Inglewood gibt es tatsächlich und sie sitzen traditionell – bis heute – im House of Lords, sind also eine der einflussreichsten Familien Englands. Natürlich haben sie allerdings nichts mit Farin zu tun. Ich hab mir einfach irgendeine Baron-Familie herausgepickt.

- Das „Feuer Eos“ habe ich erfunden. Der Diamant ist an zahlreiche ähnliche Diamanten der Geschichte angelehnt, für die geliebt, geheiratet, getötet, Lösegeld gezahlt und natürlich gestohlen wurde.

- Ich weiß nicht genau, ob Hamburg in der angesprochenen Zeit einen eigenen britischen Botschafter hatte, ich gehe aber davon aus, weil es, trotz aller politischen Differenzen, lebhafte Handelsbeziehungen zwischen beiden Städten gab – und es einfach zu viele Lords in England gab, um sie alle im Inland zu beschäftigen. Daher gab es eine ganze Menge prestigeträchtige Botschafterstellungen im Ausland.

- Ein „Valet“ war in England ein Hausdiener. Nicht dasselbe wie ein Butler, sondern mehr ein persönlicher Diener für den Hausherren, der sich um seine Kleidung, seine persönlichen Bedürfnisse und nicht selten auch seine Korrespondenz kümmerte.

15.6.1890
 

„Erzähl mir von deiner neuen Anstellung. Gefällt es dir, endlich ehrlich in Lohn und Brot zu stehen?“

Nur ein belustigtes Funkeln in Rodrigos nahezu schwarzen Augen verriet den Schalk hinter seiner Bemerkung, während er Bela neugierig ansah. Sie hatten sich erneut in einem von Rodrigos zahlreichen, über die Stadt verteilten „Büros,“ wie er seine kriminellen Quartiere augenzwinkernd selbst nannte, getroffen. Bela wartete einen Moment mit der Antwort, streckte sich auf seiner mit Gold und zahlreichen Bommeln verzierten Rokoko-Chaiselongue und nippte bedächtig an seinem Drink.
 

„Ich denke darüber nach, mir endlich ein rechtschaffenes Leben zuzulegen. Du wirst es kaum glauben, aber die Valet-Dienste liegen mir. Hemden einordnen, Korrespondenz erledigen, Tee und Gebäck reichen, Stiefel putzen, Bankgeschäfte vorbereiten, die Kutsche rufen... So lässt es sich auch leben, Rod,“ sagte er schließlich todernst.
 

González sah ihn prüfend an, dann brachen sie beide in lautes Lachen aus.
 

„So, und nun die Wahrheit,“ verlangte Rodrigo.

„Na schön, ich finde es furchtbar,“ sagte der Dieb, während er, nach wie vor lachend, den Kopf schüttelte. „Aber keine Sorge, du musst dir keinen anderen Meisterdieb heranzüchten. Dafür ist dieser Auftrag viel zu reizvoll.“

Er ließ amüsiert seine Augen durch den Raum schweifen. „Eines muss ich dem Botschafter allerdings lassen...“
 

„Was denn?“ Rodrigo richtete sich aufmerksam auf und legte einen Stapel Papier und einen Füllfederhalter vor sich auf den reich verzierten Sekretär, wohl in der Erwartung, dass sie zum geschäftlichen Teil des Abends übergehen würden.
 

„Er hat einen nicht ganz so teuren Geschmack wie du.“
 

„Mein Lieber, glaube mir, ich habe für kein einziges Möbel in diesem Raum bezahlt.“ Rodrigos Augen leuchteten stolz, während er auf das aufwendig mit Schnitzarbeiten dekorierte Buffet zeigte: „ein Geschenk unserer Freunde aus Italien. Die Cosa Nostra vergisst nicht, wenn man der Familie einen Dienst erwiesen hat. – Oder dort,“ er zeigte auf die Sitzgruppe, zu der Belas Chaiselongue, sowie ein dazu passender Tisch und zwei kleinere Sessel zählten, „die sind vom ‚verschwundenen’ Frachter Marie-Claire, unterwegs von Frankreich hierher nach Hamburg. Mittlerweile fährt sie unter dem Namen ‚Herzogin Diane’ unter deutscher Flagge, drei Mal darfst du raten, wer Haupteigentümer ist. Glaube mir, mein Geschmack ist nur teuer für Leute, die dumm genug sind, dafür Geld auszugeben.“
 

Bela blickte ihn spöttisch an und hob sein Glas. „Eigentlich spielte ich nur wieder auf deinen Brandy an.“

Der dunkelhaarige Chilene lachte und hob gleichfalls sein Glas. „Touché, mein Freund. Und nun erzähle mir vom Botschafter und seinem Haus.“
 

„Nun gut,“ Bela setzte sich gerade auf und stellte seinen Brandy ab. Zeit für das Geschäft.

„Der Botschafter hat, mit mir, einen Dienerstab von acht Personen, die auf dem Gelände wohnen. Im Haus wohnen ich selbst, Ames, der englische Butler, obendrein Mary, die dicke Köchin, Katharina, das Küchenmädchen und zwei Haushilfen; Thea und Susanne. Außerdem gibt es Robert, den Kutscher, und Lukas, den Pferdeknecht, die ihre Räume hinter’m Stall, in der Nähe der Pferde haben. Hinzu kommen einige Gelegenheitsarbeiter; Gärtner, Stallburschen und Aushilfen, die mehrmals die Woche vorbeikommen, sowie diverse zusätzliche Bedienstete, die nach Bedarf eingestellt werden, falls Gäste erwartet werden. So wird es auch wieder sein, wenn die Crowleys kommen, Lord Farin wird in der Zeit mindestens fünf zusätzliche Hausdiener haben.“
 

Rodrigo schrieb in aller Ruhe einige Stichworte auf das Blatt Papier, das er vor sich liegen hatte.

„Das kann nur zu unserem Vorteil gereichen,“ sagte er dann. „Mehr potentielle Verdächtige, die sicherlich genauer von unserer ehrenwerten, aber unfähigen Polizei unter die Lupe genommen werden als der treue Valet.“
 

„Der Gedanke kam mir auch bereits,“ antwortete Bela. „Zurück zu den festen Bediensteten. Mit den männlichen Angestellten komme ich mittlerweile hervorragend aus. Abendliches Kartenspielen und häufiges Verlieren hat sich als sehr praktisch erwiesen. So zahle ich die Getränke, während die Herren Hausdiener sich als äußerst ergiebige Informationsquellen erwiesen haben. Billigere – und ergiebigere – Spione hattest du selten, mein Lieber.“
 

Der Chilene lächelte und nickte seine Zustimmung.

„Da magst du Recht haben. Wie sieht es denn mit dem Herrn des Hauses aus?“
 

„Lord Farin ist freundlich zu seinen Dienern. Er ist allerdings allgemein ein sehr auf Regelmäßigkeit bedachter Mensch und kann durchaus streng sein, wenn er der Meinung ist, dass sein Tagesablauf durch die Unachtsamkeiten seiner Angestellten gestört wird. Morgens steht er vor Sonnenaufgang auf, nimmt das Frühstück in der Bibliothek ein, während er sich die Zeitung zu Gemüte führt und bricht anschließend, gegen acht Uhr, zur Botschaft auf, wo er auch in der Mittagspause verweilt. Gegen sechs Uhr am Abend kommt er zurück, dann wechselt er seine Kleidung und legt Wert darauf, dass das Abendessen – er isst selten warm, außer wenn Gäste kommen – zu seiner freien Verfügung steht, wann immer ihm danach ist. Meist isst er jedoch erst gegen halb Acht und zieht sich vorher etwa eine Stunde lang in die Bibliothek zurück. Ein paar Mal musste ich ihn bereits daran erinnern, dass er noch nicht gegessen hatte, weil er so sehr in ein Buch vertieft war.“
 

Bela schwieg einen Augenblick, ein vages Lächeln auf den Lippen. Er konnte sich nicht helfen, er mochte diese seltsame Leseleidenschaft Lord Farins. Er hatte sich sogar schon dabei ertappt, wie er ihn heimlich beobachtete – die lange Gestalt aufgerollt in seinem Lesesessel, mit einer dampfenden Kanne Tee – darin war er tatsächlich sehr englisch – neben sich und einem Wälzer auf dem Schoß. Alles, weil er die Gewohnheiten des Botschafters auskundschaften musste, redete er sich ein.

Er wechselte schnell das Thema.
 

„Nun, jedenfalls laufen die Vorbereitungen für den Besuch der Crowleys auf Hochtouren. Meine Verlobte hat mir erzählt...“
 

Entgeistert unterbrach Rod ihn. „Moment, deine was?“
 

Ein leichtes Lächeln umspielte Belas Lippen, er hatte seinen Arbeitgeber durchaus ein wenig schockieren wollen.

„Meine Verlobte. Katharina, das Küchenmädchen. Es gibt keine bessere Methode, jemanden unwissentlich als Spion für sich arbeiten zu lassen. Die Liebe macht nicht nur blind, sondern auch redefreudig und glücklich...“
 

González schüttelte amüsiert den Kopf. „Eines Tages wirst du zu weit gehen, Bela...“

Der Angesprochene sah ihn aus funkelnden Augen an. „Du heuerst mich doch nur an, weil ich immer weiter als Andere gehe, Rod...“

„Da magst du Recht haben. Nun, sieh zu, dass du das arme Mädchen nicht um den Verstand bringst.“

„Keine Sorge, sie ist ein launisches junges Ding, hoffnungslos verliebt, aber ich nehme an, das wird spätestens vorbei sein, wenn ihr der nächstreichere Herr schöne Augen macht. Sie ist zwar Küchenhilfe von Beruf, aber Prinzesschen im Anspruch. Spätestens, wenn ich ihr keine neuen Kleider mehr kaufe, wird sie schnell über mich hinweg sein.“

„Nun gut, ich helfe dir hoffen. Falls du einen Auftragsmörder suchst um sie loszuwerden, komm bitte nicht zu mir.“

„Keine Sorge,“ lachte Bela, „das erledige ich schon selbst. Also, das loswerden, nicht das Umbringen, ich denke, das wird nicht nötig sein.“ Er wurde wieder ernst. „Nun, jedenfalls hat mir die liebreizende Katharina bei einem unserer romantischen Spaziergänge erzählt, dass ab nächster Woche der Ostflügel für die Crowleys renoviert werden soll. Lord und Lady Crowley sind, so flüsterte sie mir, ziemlich anstrengend, Lord Farin ist wohl auch dieser Meinung, gibt aber bislang ihren Wünschen statt. Unter anderem sollen alle Türen neue Schlösser bekommen, deren Schlüssel ausschließlich ihnen selbst und ihren vertrauenswürdigen Dienern zur Verfügung gestellt werden sollen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn die Handwerker völlig ausversehen ein paar zusätzliche Schlüssel für die neuen Schlafzimmertüren herstellen und bei dir deponieren könnten.“
 

Rodrigo lächelte, während er seinen Füllfederhalter in das Tintenfass tauchte und sich eine weitere Notiz machte.
 

„Keine Sorge. Du sollst deine Schlüssel bekommen. Auch wenn ich mich frage, ob der Auftrag damit nicht viel zu einfach für den schnell gelangweilten Bela B. werden wird...“
 

Bela unterdrückte ein Seufzen. Nein, einfach würde es nicht werden. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er einen Diebstahl plante. Nicht etwa, dass er Lady Crowley bestehlen würde belastete ihn; er blieb dabei, sie hatte mehr als genug Geld. Nein, was ihn störte, war, dass er den grundehrlichen Botschafter, der so vertraulich und freundlich mit ihm und dem Rest seiner Dienerschaft umsprang, da mit hineinziehen würde. Er war schon des Öfteren in verschiedenste Rollen geschlüpft, um einen Diebstahl besser planen und ausführen zu können; er hatte Frauen und Männer verführt, Bedienstete bestochen, Verdachte abgelenkt und alle Brücken hinter sich abgebrannt. Warum sollte es diesmal anders sein, sagte er sich wieder und wieder, und fand keine Antwort darauf, warum das fahrige Gefühl nicht weichen wollte.
 

- TBC -
 

---
 

Vielen Dank bis hier her all euch fleißigen Kommentierern - ich lese alles und freu mich wie ein Honigkuchenpferd, werde regelmäßig rot und habe ein albernes Grinsen im Gesicht, das Farin zur Ehre gereichen würde.

Ich sollte euch auch mal persönlich danken, aber momentan geht jede Minute, die nicht von der Migräne (verdammtes Scheißwetter!) bestimmt ist, fürs schreiben drauf. Trotzdem, vieeeelen Dank, ihr Lieben!! Und ja, die Tage hole ich das nach, wirklich. XD
 

Und noch eine kleine historische Anmerkung, weil ich mir selbst unsicher war: Chile gab es tatsächlich schon eine ganze Weile, von daher kann ich Rod ohne Weiteres "Den Chilenen" nennen. Übrigens: das Land hat - auch lange vor Pinochet - eine verdammt interessante - und leider sehr blutige - Geschichte. Ich muss mich da mal mehr rein vertiefen.

In diesem Sinne:
 

La resistencia vencerá.

La junta cairá!
 

;)

22.6.1890
 

„Nestor, Nestor, wann wirst du dir dieses, dieses exasperating ‚Sie’ abgewöhnen?“

„An dem Tag, an dem Sie aufhören, mich Nestor zu nennen, ich hasse diesen Namen.“

Bela klappte erschrocken den Mund zu, da hatte sein Mundwerk sich schon wieder geregt, bevor sein Gehirn mitgedachte hatte. Er fühlte sich einfach zu wohl im Umfeld Lord Farins, musste er zugeben – wie sollte er da auf seine verräterische Zunge Acht geben?

„Aber das ist dein Name,“ bekam er denn auch zu hören. „Wie soll ich dich denn sonst nennen?“

„Ich werde... Dirk genannt.“ Fast hätte er ‚Bela’ gesagt. Herrgott nochmal, Konzentration, Bela, dachte er. „Meinen Vornamen höre ich erheblich lieber als meinen lästigen Nachnamen.“

„Na schön, Dirk.“ Lord Farin hielt ihm höflich die Hand hin. „Ich bin Jon. It is a pleasure to meet you, my dear friend. Würde mein Vater jetzt sagen.“

„Jon,“ Bela ließ den Namen probeweise auf der Zunge zergehen und erwiderte den festen Händedruck. „Dich nennen sicher nicht viele so, oder?“ fragte er nach einer Weile, plötzlich mutig.
 

Die beiden machten einen Spaziergang an der Binnenalster, es war ein wunderbarer Sonntag im Sommer und die Sonne sackte gerade langsam hinter die Häuser der Hansestadt.

„Nein,“ Farin schüttelte nachdenklich den Kopf und schaute über das Wasser. „Es ist schon seltsam,“ sprach er weiter, „meine Kommilitonen aus Cambridge, meine Freunde aus England, selbst die Menschen hier... ich könnte zwei oder drei Personen, perhaps, außer meiner Mutter, nennen, die mich Jon rufen. Mein Vater würde mich sicher sofort nach Hause holen, um mir die Flausen aus dem törichten Kopf zu treiben, wenn er wüsste, dass ich ausgerechnet meinem Valet erlaube, mich so zu nennen.“
 

Bela war erschrocken vom vertraulichen Ton, den sein Gegenüber anschlug, und trotzdem fühlte er sich geschmeichelt und seltsam gerührt. Grimmig schüttelte er innerlich den Kopf. Es konnte nicht sein, durfte nicht sein, dass er sich zu ihm... hingezogen fühlte. Natürlich, er wusste seit langem, dass er Männern – wie Frauen – nicht abgeneigt war und lebte das, in seinem anderen Leben, das ihm im Augenblick seltsam fremd vorkam, in düsteren Spelunken oder bisweilen auch seinem Zuhause, einem geräumigen Dachgeschoss in der Neustadt, aus, wann immer ihm der Sinn danach stand. Aber dieser Mann. Nein. Ihn hatte das Verbotene schon immer gereizt, vielleicht war es das, dachte er, das ihn so verquere Gedanken fassen ließ.
 

Farin, Jon, blickte ihn derweil, plötzlich lachend an. „Wir sollten das feiern! Us both, wir zwei gegen den Rest der Welt,“ sagte er, „ich wollte schon immer mal St. Pauli erkunden!“

Bela war sprachlos. Lord Farin trank nicht, niemals, und er hatte ihn niemals dabei ertappt, wie er einem Mädchen auch nur hinterherschaute. Und jetzt wollte er in den größten Sündenpfuhl der Stadt eintauchen? Als Botschafter?

„Jon,“ setzte er an, der neue Name nach wie vor fremd auf seinen Lippen. „Ich weiß nicht, ob...“

„Natürlich ist das eine gute Idee. Wir gehen zurück zum Haus, du leihst mir etwas unauffälligeres,“ er gestikulierte zu seinem Zylinder und seinem viktorianischen Anzug, „zum Anziehen und ich lade dich dafür den ganzen Abend ein.“

Bela sah in die vor Schalk blitzenden Augen und konnte nicht nein sagen.
 

...
 

Einige Stunden später befanden sie sich im tiefsten Nachtleben der verrufenen Gässchen St. Paulis; Bela in seiner furchtbaren Freizeitkleidung, die er auf Rods Rat hin zur Tarnung in die Stellung mitgebracht hatte: ein zerbeulter brauner Anzug, eine graue, formlose Mütze, ein fleckiges weißes Hemd und kaputte graue Schuhe. Der hochgeborene Lord schritt derweil in einer eng anliegenden, viel zu kurzen Hose Belas, seinen eigenen Reitstiefeln, einem zerschlissenen Mantel seines Butlers Ames und einem zerbeulten grauen Zylinder, den er aus Belas Kleiderschrank gezogen hatte, durch die Gassen. Sie beide sahen über die Maßen albern aus, fand Bela, fielen aber, bis auf die Tatsache, dass Jon so ungewöhnlich groß war, im bunten Volk der Vorstadt nicht weiter auf.
 

Bela wäre vermutlich nach kürzester Zeit hier, in seinem Teil Hamburgs, hoffnungslos betrunken gewesen, hätte Lord Farin nach seinem ersten Gin nicht das Gesicht verzogen und sich auf Tee beschränkt, sehr zum Erstaunen der Schankleute, die sie bedienten. So war Bela wenigstens von Gin auf Bier umgestiegen, konnte seine Umgebung noch einigermaßen erkennen und Farin vorrangig in diejenigen Trinkhallen lotsen, in denen er nicht als „Bela“ bekannt war. Dieser Teil seiner Identität war etwas, das er, nicht mehr ganz fest auf den Beinen hin oder her, lieber vor dem hohen Lord geheim hielt.
 

Mittlerweile befanden sie sich im „Roten Schwan“, einem Etablissement, von dem Bela wusste, dass es nicht nur jegliche Alkoholsorten unter der Sonne und ein allabendliches Bühnenprogramm bot, sondern auch diverse leichte Mädchen, die durch Lord Farins silberne Markstücke angelockt wurden wie die Fliegen.

Der junge Botschafter schien sich köstlich zu amüsieren, er applaudierte lauthals den Damen, die auf der Bühne mit Lassos hantierten („Geradewegs aus Amerika, meine Herren, da staunen Sie, was?“), hatte eine andere halb auf dem Schoß liegen und sah grinsend zu Bela herüber, der neben ihm auf der harten Holzbank kauerte und mürrisch einen Bierkrug in der Hand hielt.
 

„Komm, Dirk, such dir eins dieser bezaubernden Wesen aus, ich bezahl!“

„Danke, schon gut... ich möchte nicht.“

„Nun gut, wie du willst.“ Farins Hände strichen bewundernd über das ausladende Kleid des Mädchens, das er sich ausgesucht hatte – sie war jung, drall, hübsch und für Belas Geschmack viel zu vulgär geschminkt. „Wie ist dein Name, meine Perle?“

Bela wurde schlecht.

„Minna,“ säuselte sie.

„Nun Minna, ich nehme an, ihr habt hier Räume, wo wir ein bisschen Spaß haben können? A little tumble, perhaps?“ fragte er und hielt ihr einige Münzen hin.

„Aber ja, oben,“ sagte sie und ließ das Geld eilig in der Rocktasche verschwinden. „Zu dem Preis kann Ihr Freund auch mitkommen, wenn er mag.“

„Oh nein,“ beeilte sich Bela abzuwehren, „ich...“

„Nichts da,“ wiegelte Farin ab. „Du kommst mit, musst auf mich aufpassen, schließlich bist du in meinem, äh, employment, arbeitest du für mich.“
 

Bela fragte sich kurzzeitig, ob er protestieren sollte – und ob Jon nicht doch heimlich weiter getrunken hatte. Am Ende jedoch fügte er sich in sein Schicksal. Denk an den Job, verdammt, denk an den Job, mahlte es in seinem Kopf, während er zusah, wie Farin die Hure die Treppe hinauf führte und ihn ungeduldig hinter sich her winkte. Du musst den Diamanten stehlen, dann kannst du dir ein gutes Leben machen und nie wieder an ihn zurückdenken, hämmerte es in seinem Hirn, während er in eine kleine Kammer gelotst wurde.
 

Der junge Lord nahm ihn beiseite und flüsterte in sein Ohr, nachdem er Minna befohlen hatte, sich schon einmal auszuziehen: „Es tut mir Leid, dass ich dich hier hineinziehe, Dirk. Ich traue dem Laden nicht. Sie wirken... greedy,... zu gierig, obwohl ich absichtlich keine meiner Goldstücke ausgegeben habe. Es ist, als könnten sie riechen, wer ich bin.“

„Vielleicht hast du Recht,“ sagte Bela nachdenklich, „man kann wohl nicht vorsichtig genug sein, wenn man der britische Botsch...“

„Shhht! Sprich es nicht aus. Vielleicht sehe ich Gespenster, but anyway, ich habe dich lieber hier bei mir, falls dem nicht so ist.“

„In Ordnung. Ich, ähm, ich stelle mich dort an die Wand und halte die Tür im Auge. Hm, lasst euch nicht stören.“
 

Bela fügte die Tat zum Wort und stellte sich, demonstrativ vom Bett abgewandt, vor die Tür und fragte sich, wo Farin die rauen Sitten gelernt hatte, die er hier zur Schau stellte. Die wenigsten Männer praktizierten den Beischlaf gern im Beisein anderer, aber die Geräusche, die er hinter sich hörte, wiesen eindeutig darauf hin, dass der Botschafter damit kein Problem hatte.

Er fühlte sich leer, während er danach trachtete, eventuell verdächtigen Lauten auf dem Flur zu lauschen und dabei möglichst gut alles, was hinter ihm geschah, auszublenden. Im Falle der Hure und dem Klatschen von Fleisch auf Fleisch gelang ihm das ohne weiteres – er war daran gewöhnt, sich in den schäbigeren Ecken der Stadt aufzuhalten, und dort war es durchaus üblich, dass direkt neben einem kopulierende Leiber sich aneinanderpressten, während man selbst ausschließlich darauf aus war, einen nicht zu verschnittenen Brandy zum bezahlbaren Preis zu bekommen.

Nur das leise Stöhnen des jungen Lords hallte tausendfach verstärkt in seinen Ohren, ließ ihn kurzzeitig wünschen, er hätte sich eines der Mädchen gegriffen, nur um neben Farin, Jon, seine Erlösung finden zu können, während er diesen leisen Lauten, die ihm durch und durch gingen, lauschte.
 

Dann hörte er es. Männerstimmen auf dem Flur.

„Sie sind in Minnas Zimmer, der hohe Herr und sein Begleiter.“

„Ja, ich bin sicher, sie haben gutgefüllte Geldsäcke dabei.“

Ein dreckiges Lachen ertönte, dann sprach wieder die erste Stimme: „Da magst du Recht haben. Wir warten noch auf Franz, dann gehen wir hinein.“

Wieder dreckiges Lachen.
 

Bela drehte sich um, wollte seinen Begleiter auf die Gefahr der Lage aufmerksam machen. Und erstarrte. Die Hure, Minna, kniete auf dem Bett und drückte ihr Gesicht in ein Kissen, während Farin sie, fast gänzlich bekleidet, von hinten nahm. Erschrocken weiteten sich die graunbrünen Augen des Botschafters, als er Bela so plötzlich genau in die Augen sah, er stöhnte, ein weiterer dieser unglaublichen Laute, und hielt seinen Blick fest, bis er mit einem heiseren Keuchen vom Mädchen unter ihm abließ und in die Kissen fiel.
 

Teufel, dachte Bela. Er fühlt es auch. Das kann nicht sein, dachte er gleich darauf, darf nicht sein.
 

Dann erinnerten schnelle Schritte auf dem Flur ihn daran, warum er sich ursprünglich umgedreht hatte.

„Jon... wir müssen weg. Sie scheinen dich wirklich überfallen zu wollen,“ brachte er hervor, eisern entschlossen, den Botschafter lebendig und wohlauf in sein langweiliges, aber sicheres Leben zurück zu bringen.
 

Farin hob den Kopf, auf einmal erstaunlich alert, dafür, dass er sich gerade erst so verausgabt hatte. „Oh,“ sagte er, einen Moment betreten. Dann sprang er aus dem Bett, schloss seine Hose, griff seinen Mantel und trat hinter die Tür, vor der die Männerstimmen gerade berieten, ob sie hineinstürmen oder abwarten sollten, bis die hohen Herren von sich aus hinauskommen würden.
 

„Weißt du hiervon?“ herrschte er Minna an.

„Nein Herr,“ brachte sie verwirrt hervor. „Ich... ich hätte das nicht gewollt.“

„Na schön,“ murmelte Farin, bedacht darauf, die Männer vor der dünnen Tür nicht zu warnen. „Bleib dort auf dem Bett und rühr dich nicht, dann geschieht dir nichts.“

Minna nickte betreten und suchte ihre Kleidung zusammen.
 

„Denen zeigen wir, was wir wert sind,“ murmelte Lord Farin derweil, wartete, bis Bela auf seinen Wink hin neben ihn trat und riss die Tür auf.
 

- TBC -
 

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- Ja, St. Pauli und die Reeperbahn gab es schon – der Sündenpfuhl mit allem, was wirklich Spaß machte, wuchs unaufhaltsam.

- Ein Wort zur Währung: damals gab es noch die Mark, genauer gesagt die Reichsmark, die gerade relativ neu war und die verschiedensten Währungen des deutschen Flickenteppichs abgelöst hatte. Eine Mark waren 100 Pfennige, des Weiteren gab es silberne Ein- und Fünfmarkstücke sowie goldene Zehner und Zwanziger, ebenfalls als Münzen. Eine Mark sind zum Zeitpunkt der Geschichte auf heutige Kaufkraft umgerechnet grob gerechnet 20 Euro.

Dieses Kapitel widme ich allen lieben Kommentierern. Vielen, vielen, vielen Dank für die lieben Worte *freu*

Wenn ich euch nicht einzeln danke, liegt es einfach und allein daran, dass ich a) wenig Zeit habe im Moment, b) mir die Worte fehlen und c) einfach eine faule Socke bin. Aaaaaber... ich gelobe Besserung, jawohl! :)
 

Edit: Übersetzungen für die englischen Wendungen unten. Sorry, ich vergesse immer, dass nicht jeder das Glück hatte, mit viel Englisch in der Familie aufzuwachsen, wie ich. :)
 

In der Nacht vom 22. auf den 23.6.1890
 

„Let me tell you, Dirk, das war, ...au. Au, verdammt!“

Lord Farin lag auf einer Couch in einem der Aufenthaltszimmer seines riesigen Wohnhauses nahe der Binnenalster und biss sich durch einige gesalzene britische Flüche, während Bela und Katharina besorgt auf ihn hinabsahen.

„Entschuldigung, Sir,“ sagte Katharina gerade, während sie den blutigen Lappen erneut in die Schale mit dem Alkohol tunkte. „Aber Sie wissen genau so gut wie ich, dass Ihre Wunden versorgt werden müssen.“

„Ja doch,“ der Botschafter winkte ab und bedeutete ihr, weiterzumachen, während er sich wieder an Bela wendete. „So, Dirk, what I, au,“ er pausierte kurz, biss sich auf die Zähne, während Katharina sanft, aber bestimmt mit dem Lappen über seine aufgeplatzte Augenbraue tupfte und fuhr schließlich mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber dennoch grinsend fort. „...was ich sagen wollte. So viel Spaß habe ich lange nicht gehabt.“
 

Bela schüttelte lächelnd den Kopf, froh, dass der Lord noch lachen konnte und sie beide mit halbwegs heiler Haut davongekommen waren. Zugegeben, sie hatten einiges an blauen Flecken einstecken müssen; er selbst hatte aufgeschürfte Knöchel und einen schmerzenden Kiefer, während Lord Farins Gesicht bereits begann, in allen Farben des Regenbogens zu leuchten. Trotzdem musste er zugeben, dass er beeindruckt war – sie hatten sich zu zweit ohne nennenswerte Schwierigkeiten durch einen gehörigen Schlägertrupp hindurchgeboxt – und das nicht zuletzt Dank sei Farinks beeindruckendem rechtem Haken, der sie aus ein oder zwei brenzligen Situationen gerettet hatte. Das hätte er dem üblicherweise so adrett in schwarz gekleideten Herren, trotz seiner zahlreichen Indien-Geschichten – und seiner Leidenschaft für seltsam gewalttätige britische Sportarten wie Rugby, Hockey und Polo – keineswegs zugetraut.
 

Sie hatten Franz und ein paar seiner Kumpanen eine gehörige Abreibung verpasst, soviel stand fest. Am Ende hatten zwei mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden gelegen, während ein weiterer fluchend Blut und zwei seiner Zähne ausgespuckt hatte. Als die Lage daraufhin drohte, zu eskalieren, hatten er und Lord Farin sich, mit Hilfe Minnas, aus dem Hintereingang aus dem Staub gemacht.
 

„Was Sie Spaß nennen,“ griff Katharina den Faden des Gespräches auf. „Das muss gehörig wehgetan haben...“

Bela hatte sie aus dem Bett geholt, als sie wohlbehalten zurück in der Villa des Botschafters waren, auf ihre Diskretion und ihre Erfahrung in der Wundbehandlung vertrauend. Sie war, ähnlich wie der Dieb selbst, in den ärmeren - und gefährlicheren – Teilen der Hansestadt aufgewachsen und ließ sich von wenig aus der Ruhe bringen. Dementsprechend gefasst hatte sie reagiert, als sie Belas blutende Knöchel sah und seine schnell zusammengereimte Geschichte von einem Überfall auf ihn und Lord Farin in einer Gasse in der Altstadt zu hören bekam. Sie hatte eilig einen Morgenmantel übergeworfen und sofort damit begonnen, sich um das geschundene Gesicht ihres Arbeitgebers zu kümmern.
 

„Aber ja, es hat trotzdem Spaß gemacht,“ reagierte der Angesprochene auf ihre Worte. „Lasse dir gesagt sein... Als Botschafter erfreut man sich occasionally, bisweilen, an jeder Abwechslung, die man von seinem reichen, aber tristen Alltag erfährt.“

Nun war es am Mädchen, lächelnd den Kopf zu schütteln, während sie den blutgetränkten Lappen in die Schale warf und beiseite stellte. Katharina arbeitete schon eine ganze Weile für den Lord und war an die informelle Atmosphäre gewöhnt, die in seinem Haus herrschte, wenn er und seine Dienerschaft unter sich waren. So wagte sie es auch, sich nun Belas blutigen Knöcheln zu widmen, während ihr Arbeitgeber sich noch im Raum befand.

"Das sieht böse aus, Dirk," murmelte sie. Zärtlich nahm sie seine rechte Hand in die ihre und begann, die Fingerlenke vorsichtig mit einem weiteren Lappen zu reinigen. Der Dieb sah weiterhin schweigend zu, während er sich einen Schmerzenslaut verbiss und sich zum ersten Mal fragte, ob er dieses naive Geschöpf wirklich für seine Diebstahl-Pläne missbrauchen wollte.
 

Farin goss ihm ein Glas Brandy ein und reichte es ihm mit den Worten: „hier, trink das. God knows, ich hätte einen Brandy gebrauchen können, wenn der Geschmack mir nicht so zuwider wäre.“

Bela nahm den Schwenker dankbar an und stürzte ihn, entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten, in einem Schluck herunter. Innerlich schüttelte er den Kopf über sich selbst, während er die brennende Spur genoss, die der Alkohol seine Kehle hinunterzog und augenblicklich dabei half, die Pein an seinen Knöcheln zu betäuben. Der Schmerz war es, der ihn weich machte, beschloss er - wie sonst sollte er sich erklären, dass er sich auf einmal so viele Gedanken um die Gefühle anderer machte? Zuerst Lord Farin, dann Katharina.
 

Das musste aufhören, beschloss er, während er, scheinbar unbeteiligt, geschehen ließ, dass das Mädchen begann, mit ihren Fingerkuppen sanft über seine Handfläche zu streicheln. Vorsichtig öffnete und schloss sie seine Finger zu einer Faust und prüfte, ob alles mit seinen Gelenken in Ordnung war. Es tat weh, er biss sich auf die Zähne und sah weg, zu Lord Farin, darauf erpicht, ein freundliches Gesicht zu sehen, welches nicht seiner ‚Verlobten’ gehörte.

Der blonde Brite sah ihnen zu, ein betoniertes Lächeln im Gesicht, doch seine zu lauernden Schlitzen verengten Augen verwirrten Bela zutiefst.

Teufel, dachte der Dieb, zum zweiten Mal an diesem Abend. Er fühlt es auch, er ist eifersüchtig.
 

Nein, dachte er dann. Lächerlich, ein britischer Lord, eifersüchtig auf eine Küchenmagd. Er ist irritiert, dass seine Diener nur mit sich selbst beschäftigt sind, statt mit ihm. Schließlich ist er der Herr im Hause, sein Beruf, seine Herkunft bergen einfach eine gewisse Arroganz mit sich, die zu allen Zeiten befriedigt werden muss. Und ich kümmere mich besser darum, bevor ich in seiner Achtung sinke – gerade jetzt, wo ich sein volles Vertrauen genieße.

Es ging um einen der größten Diamanten Europas, da musste er mit ein bisschen Selbsthass umgehen können, beschloss er.
 

Mit einem Ruck stand er auf und entzog Katharina ungeduldig seine Hände.

„Ich denke, es ist Zeit, dass wir alle etwas Nachtruhe finden,“ sagte er. „Gute Nacht, Katharina.“

Die Küchenmagd sah mit verletztem Blick von ihrem Stuhl zu ihm herauf. Dann wandte sie sich an den Botschafter. „Kann ich noch etwas für Sie tun, Lord Farin?“ fragte sie hoffnungsvoll.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, danke Katharina, bitte lass uns einen Moment allein. Gute Nacht, und danke für deine guten Sorgen.“
 

Sie lächelte und wünschte dem Botschafter ebenfalls eine gute Nacht, drehte sich um, warf Bela einen stechenden Blick zu und stolzierte aus dem Zimmer, bevor er ihr ebenfalls für das Versorgen seiner Hände danken konnte.
 

„Seid ihr zwei... an item?“ fragte der Botschafter jetzt, während er ihn forschend, mit unlesbarem Gesichtsausdruck, anblickte.

Bela kannte die englische Redewendung nicht, konnte sich aber denken, was Farin meinte.

„Ich, wir... ja,“ stammelte er, so weit vom undurchschaubaren Meisterdieb entfernt, dass er ein bisschen Angst vor sich selbst bekam. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er den jungen Briten so nahe an sich heran ließ und fragte sich, ob er nicht doch anderweitig versuchen sollte, reich zu werden. „Sie ist meine Verlobte,“ fügte er hinzu, unsicher ob er es wirklich aussprechen wollte oder nicht.

„I see.“ Lord Farins Augen verengten sich wieder. Er stand auf und sah auf Bela herab.

„Nun, wie dem auch sei, dir sei gedankt. Ich hatte einen amüsanten Abend. Gute Nacht, Dirk. Breakfast at seven, please.“ Seine Stimme klang eiskalt, der Abstand zwischen Lord und Valet war geradezu spürbar, stand wie eine Mauer zwischen ihnen.
 

„Ich...,“ setzte Bela an und überlegte es sich dann anders. „In Ordnung,“ sagte er dann, darauf bedacht, und seufzte. Auf einmal erschien es ihm unmöglich, die imposante Gestalt vor sich als Freund zu sehen, er war wieder der undurchsichtige, autoritäre britische Lord. „Ich werde dafür Sorge tragen. Gute Nacht, Lord Farin.“
 

Die Züge des Lords wurden weicher und er sah ihm in die Augen, während er eine Hand auf seine Schulter legte. „Es tut mir Leid... Really. Ich... bin es wohl nicht gewohnt, dass ich nicht darüber Bescheid weiß, was in meinem eigenen Haus geschieht.“ Er schlug die Augen nieder und nahm die Hand von seiner Schulter, blieb aber dicht vor ihm stehen. Eine Sekunde lang hatte Bela das absurde Bedürfnis, ihn in die Arme zu nehmen.

Stattdessen lächelte er vorsichtig und nickte.

„Keine Sorge. Es war ein langer Abend. Für uns beide. Wir reden ein Andermal darüber, in Ordnung? Gute Nacht... Jon.“ Er reichte ihm die Hand.

„In Ordnung.“ Der Schalk kehrte zurück in Farins Augen, während er Belas Hand schüttelte. „Gute Nacht, Dirk. Und denke daran, no immoral conduct under my roof. Ich bin schließlich Botschafter, I’m supposed to be a role-model. Das gilt für meinen gesamten Haushalt. Du schläfst in deinem eigenen Bett.“

Bela lachte, über die Worte genau so sehr wie darüber, dass Farin, wenn er müde war, zunehmend in seine eigene Sprache verfiel.

„Keine Sorge, für heute Abend habe ich genügend Aufregung hinter mir, um den Zorn eines Botschafters auf mich zu ziehen.“ Er zwinkerte. „Besonders, wenn der Botschafter einen solchen rechten Haken hat, den er gegen mich einsetzen könnte.“
 

Sie löschten das Licht und traten gemeinsam auf den Flur, wünschten sich erneut eine gute Nacht, diesmal lachend, und gingen in unterschiedliche Richtungen den langen Gang hinunter. Lord Farin wendete sich nach rechts, in die Richtung seines Schlafgemaches; Bela nach links, dorthin, wo sein Schlafgemach – und der Ostflügel lagen.
 

Vor dem Schlafengehen wollte er noch kurz dem zukünftigen Schlafzimmer der Crowleys einen Besuch abstatten. Schließlich, so dachte er sich, brauchte sein dummer Kopf einen Schubser in die richtige Richtung. Er war Bela B., Meisterdieb und Kind der Nacht – kein Valet und bester Freund eines Lordes, und schon gar kein Geliebter einer Küchenmagd. Die Beute rief – und es galt, eine Menge Vorbereitungen zu treffen, bevor der Diamant – und Lord und Lady Crowley – eintreffen würden. Gedanken an blonde Botschafter würden ihn nur ablenken - "Das Feuer Eos" zählte, und sonst nichts.

Geistesabwesend hielt er sich den schmerzenden Kiefer und stahl sich, mit sicheren Schritten die knarzenden Dielen vor den Bedienstetenquartieren umgehend, den Gang Richtung Ostflügel entlang.
 

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Übersetzungen (die völlig offensichtlichen Dinge lasse ich mal weg):

"Let me tell you" - "Lass mich dir sagen"

"Seid ihr zwei... an item" - damit meint er, ob die beiden liiert sind.

"I see." - sowas wie "Aha."

"no immoral conduct under my roof" - "Keine unmoralischen Handlungen unter meinem Dach"

"I’m supposed to be a role-model" - "Von mir wird erwartet, ein Vorbild zu sein."

Soo... ich bin ein paar Tage unterwegs, aber vorher gibt's noch Kapitel 5.

Wie gewünscht, sind die Übersetzungen zu den englischen Ausdrücken und Wörtern, die Farin in seine Sprache einbaut, unten aufgelistet (bis auf ein paar, die, denke ich, bekannt sind oder sich selbst erklären).

Anmerkungen und Geschichtsstunde finden sich gaaanz unten. ;)
 

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"Das Feuer Eos" - Kapitel 5
 

13. August 1890
 

Bela saß auf dem Bett in seinem engen Bedienstetenzimmer und versuchte im flackernden Kerzenschein, ein Buch zu lesen, das Lord Farin ihm geliehen hatte. Eigentlich war es sehr spannend, handelte von einem Piratenschatz und vielen Flaschen voller Rum, von Männern mit Holzbeinen, Papageien, Freibeutern, Meuterei und einer Insel voller Gefahren und Abenteuer. An und für sich sollte das Piratenleben ganz und gar nach seinem Geschmack sein, dachte er, aber augenblicklich drifteten seine Gedanken wieder zurück zu Lord Farin.
 

„Lass mich überlegen... ja, ich glaube, ich habe etwas, das könnte dir gefallen,“ hatte jener gesagt, als Bela ihn, fasziniert von der unstillbaren Leselust des blonden Briten, eines Abends darum gebeten hatte, ihm ein Buch zu leihen. „Mein Vater würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich einen solchen Schund lese, statt mich in die Wissenschaft zu vertiefen. Aber ehrlich gesagt... I’ve always wanted to be a little more like Long John Silver and a little less like my father. Wenn du verstehst, was ich meine.“

Bela hatte verständnislos dreingeschaut, woraufhin Jon in lachen ausgebrochen war und ihm ‚Treasure Island’ in die Hand gedrückt hatte. „Keine Sorge, lies das Buch und dann wirst du verstehen, was ich meine. Long John Silver ist der most selfish bugger den man sich vorstellen kann, aber dennoch der heimliche Held der Geschichte. Ein murderer und Pirat.“

Dann hatte er geseufzt. „Wünschst du dir auch manchmal, ein so freies Leben zu führen, wie ein buccaneer? Niemand, der dir etwas aufzwingen kann, was du nicht willst - und wochenlang nur der Wind, die Sonne und die waves, die Wellen um dich herum... Man wäre ein Dieb, ja, aber man wäre auch frei. Finally free...“

Bela war erschrocken. Der Lord konnte nicht ahnen, wie nahe er der Wahrheit über ihn selbst, seinen Valet gekommen war – und doch, wie würde er wohl reagieren, wenn er je davon erführe?
 

Stattdessen hatten sie gemeinsam über diese – vermeintlich – dumme Vorstellung gelacht und Bela das Buch mit auf sein Zimmer genommen. Das Lesen ging mühsam; die fremde Sprache und die vielen Buchstaben machten ihm zu schaffen. Dennoch hatte er mit Erstaunen festgestellt, dass Lord Farin ihn richtig eingeschätzt hatte. Das Buch gefiel ihm tatsächlich. Er hatte schon viele Stunden damit verbracht, darin zu lesen und war gespannt, wie die Geschichte um Jim und Long John Silver enden würde. Der Grund, dass er sich an diesem Abend nicht darauf konzentrieren konnte, war ein anderer.
 

Am Nachmittag hatte er sich mit Rodrigo in einer Schenke getroffen. Der Chilene war guter Dinge gewesen; er hatte nicht gemurrt, als Bela den teuren französischen Wein bestellt hatte, und ihm zur Begrüßung feierlich zwei Schlüssel überreicht, für die neuen Türen der Herrenschlafzimmer im frisch renovierten Ostflügel des Botschafter-Hauses.

„Nur für den neuen Safe, den Lord Farin installiert hat, habe ich keinen Schlüssel,“ hatte González bemerkt.

Bela hatte geseufzt. „Das dachte ich mir. Er hat ihn extra bei John Tann in London bestellt, hat er mir erzählt. Ich habe selbst die Bestellung zur Post gebracht. Es gibt nur zwei Schlüssel, einen behält er selbst, einen bekommt das Grafenpaar.“

„Ich bin mir sicher, du findest eine Lösung. Du weißt, wenn du für kurze Zeit an einen Schlüssel herankommst, kann ich in einer Stunde eine Kopie für dich machen lassen.“

„Das sagst du so leicht...“ hatte Bela in seinen nichtexistenten Bart gemurmelt und einen Schluck Wein getrunken.

„Nun... Du musst eben sein Vertrauen gewinnen.“ Rodrigos Blick war undeutbar gewesen, selbst für Bela, der ihn sehr gut zu kennen meinte.

„Das habe ich schon,“ hatte er zögernd geantwortet – und in Gedanken hinzugefügt: ‚und ich will es nicht missbrauchen. Nicht noch mehr als ich es schon tue.’

„Wir sollten einen anderen Weg finden,“ hatte er stattdessen gesagt. „Der Verdacht könnte zu leicht auf mich als Angestellten und Vertrauten fallen. Und wenn sie bei mir anlangen, ist der Rückschluss auf dich, vermeintlich unbescholtenen Bürger, nicht mehr weit. Es muss mehr wie ein Einbruch von außen wirken.“

„Vermutlich hast du Recht.“ Rodrigo hatte ihm ernst die Hand gedrückt und war aufgestanden.

„Ich habe vollstes Vertrauen in dich, alter Freund. Du findest schon eine Lösung. Auf Wiedersehen, die Geschäfte rufen. Halte mich auf dem Laufenden.“

Bela hatte es versprochen und war mit einem Kopf voller Sorgen in Lord Farins Haus zurückgekehrt.
 

Es war nicht so, dass er sich nicht zutraute, den extra importierten Safe zu knacken. Mit einigen guten Dietrichen und Engelsgeduld würde er das Schloss öffnen können, keine Frage – aber dafür brauchte er mindestens eine Stunde, wenn nicht mehr. So viel Zeit hatte er einfach nicht; nicht, wenn er sich selbst nicht verdächtig machen wollte.

Nein, er würde ihn sprengen müssen. Nur stellte ihn das vor völlig neue Probleme – der Lärm würde sicherlich...
 

Bevor er seinen Gedanken zu Ende bringen konnte, klopfte es an der Tür.

Erstaunt stand er auf, um sie zu öffnen. Er hatte keine Ahnung, wer es sein konnte – die meisten Bediensteten hatten einige freie Tage und Lord Farin selbst war vor einer Woche nach London abgereist, um einige geschäftliche Dinge zu erledigen und wurde erst in zwei Tagen zurück erwartet.

Doch genau jener junge Lord stand vor ihm, in Mantel und Stiefeln, die Haare, trotz Hut, vom Wind zerzaust, die schwere Reisetasche noch in der Hand, die Augen verzweifelt.

„Dirk,“ murmelte er, stellte die Tasche ab und blieb etwas ungelenk mit baumelnden Armen vor ihm stehen.

„Farin... Jon. Was...? Egal. Komm rein. Setz dich erst einmal.“

Er fasste den zitternden Botschafter am Arm und geleitete ihn, mangels weiterer Sitzmöglichkeiten, an sein Bett, auf das er ihn sanft hinunterdrückte und ihm Hut und Mantel abstreifte. Die Zweideutigkeit der Situation schoss durch seinen Kopf und in seine Lenden; der Blonde hatte ihm gefehlt und, anders als er sich erhofft hatte, waren seine – ungünstigen und verbotenen – Gefühle nicht weniger geworden.

Sofort schalt er sich einen Idioten und kniete sich besorgt vor Lord Farin, der keinen weiteren Ton gesagt hatte und zusammengesunken auf dem Rand seines Bettes kauerte.
 

Plötzlich griff er nach Belas Hand, krallte sich geradezu in ihr fest und sah Bela aus müden Augen an. „The scheming bastard,“ brachte er hervor. „Mein Vater... er hat mir in London aufgelauert.“

Bela wusste, dass das Verhältnis zwischen dem Baron von Inglewood und seinem Sohn zutiefst zerrüttet war. Dass Jonathan sich davon die gute Laune verderben ließ, geschweige denn so mitgenommen aussah, war jedoch noch nie vorgekommen.

„Beruhige dich erst einmal ein bisschen... du siehst furchtbar aus.“ Er drückte Farins Hand. „Willst du einen Tee? Etwas zu essen vielleicht...?“ fragte er schließlich, hilflos.

Der Blonde schüttelte seinen Kopf. „Nein. Ich muss mit jemandem darüber sprechen.“
 

„In Ordnung,“ Bela hockte sich vor Farin, legte seine Hände auf seine Knie, allen Abstand zwischen Lord und Valet, zwischen Meisterdieb und Mittel zum Zweck vergessen, und blickte ihn ernst an. „Ich bin hier. Erzähl mir davon. Was ist passiert?“
 

Farin atmete tief ein und wieder aus, um sich ein bisschen zu fangen, dann lächelte er schwach.

„Danke... wo anzufangen? Ich war in London, wie du weißt. Ich hatte ein appointment zum Dinner mit Foreign Secretary Iddesleigh und einigen anderen members of parliament, zur Besprechung von... nun, das ist egal.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Wenn ich dir das erzählte, würde ich wegen treason to the crown eingesperrt. Dabei hast du mehr Verstand als diese pigheads zusammengenommen.“ Er haute mit der Faust auf Belas Bett, plötzlich wütend. „Ich,... - hast du etwas von deinem Brandy da...?“

Bela sah seinen zeitweiligen Arbeitgeber erstaunt an – er hatte ihn fast nie Alkohol zu sich nehmen sehen, nicht einmal Wein, und zu mehreren Gelegenheiten hatte er betont, wie sehr ihm der Geschmack und der Effekt zuwider seien.

„Ja, natürlich,“ antwortete er, öffnete seine kleine Kommode und goss etwas von der goldenen Flüssigkeit in einen Schwenker.

„Drink with me... wenn ich schon against alle meine Prinzipien gehe, dann mit einem guten Freund. Bitte.“

Bela tat wie ihm geheißen, sie stießen an und während er bedächtig an seinem Glas nippte, sah er zu, wie Farin den Inhalt seines Schwenkers hinunterstürzte und dabei das Gesicht verzog.
 

„Danke,“ sagte er und schien sich wieder ein wenig gefasst zu haben.

„Das Dinner,“ erinnerte ihn Bela vorsichtig. „Was ist passiert, das dich so durcheinander gebracht hat?“

Farin sah auf, seine grünbraunen Augen blitzend im spärlichen Licht der Kerze. „Ich bin nicht durcheinander. Ich bin wütend und bestürzt. Melancholy, ein bisschen traurig, auch. Aber du hast Recht, ich benehme mich wie ein Idiot und sollte wohl endlich erzählen, was passiert ist. Bei diesem Dinner also sollte es um wichtige affairs of state gehen. Ich darf dir nicht erzählen, worum genau, aber es berührte auch Deutschland, einen möglichen Krieg gegen euren lächerlichen Kaiser und military Taktiken. Soviel wusste ich vorher und hatte mich darauf vorbereiten können, knallhart gegen einen Krieg zu argumentieren.“

Er gestikulierte traurig lächelnd um sich. „Dieses Haus, meine Freiheit, du... und all die Anderen. Hamburg. Ich will das nicht verlieren. None of it. Und... ich will schon gar nicht, dass es in einem Krieg untergeht.“
 

Bela erschrak. Er befasste sich nicht groß mit Politik, hatte er auch noch nie. Er wusste, dass der junge Kaiser Wilhelm II und Bismarck sich überworfen hatten und General von Caprivi, ein politisch unerfahrener preußischer Veteran, der neue Reichskanzler war.

Viel mehr wusste er nicht, obwohl die verschiedenen politischen Strömungen im täglichen Hamburger Leben förmlich spürbar waren. Die Konservativen und die Liberalen, in ihrem ewigen Hin und Her zwischen Tradition und Handelsdenken, zwischen Heldenverehrung und Marktöffnung, langweilten und befremdeten ihn. Der Nationalismus, geprägt von einem allgemeinen Überlegenheitsdenken – und einer Angst vor allem, was vom Bekannten abwich, war ihm fremd; höchstens eine gewisse Affinität zu Hamburg, seiner Stadt, und ein gesundes Misstrauen gegenüber Preußen würde er sich bescheinigen. Auch die ewig demonstrierenden Sozialdemokraten und Sozialisten waren ihm herzlich egal. Er wusste, dass die Arbeit in Industrie, Bergwerken und Häfen alles andere als angenehm war, aber deshalb hatte er das Diebesgewerbe gewählt, statt sich in, wie er fand, ineffektive Massen-Protestbewegungen zu stürzen.

Außenpolitik schließlich hatte ihn schon immer gelangweilt und die Möglichkeit eines Krieges hatte er, nach langen Jahren ausgleichender Politik Bismarcks, nie ernsthaft in Erwägung gezogen.

Farin hatte Recht – ihrer beider Freiheit stand auf dem Spiel, genau wie die vieler anderer – dabei hatte er sie immer als selbstverständlich hingenommen. Die Worte, die er in seiner Familie bis zum erbrechen gehört hatte, kamen ihm in den Sinn: für einen jungen Deutschen sollte es selbstverständlich – schon wieder dieses Wort - sein, sein Leben mit Freuden für das endlich vereinte deutsche Vaterland zu geben. Ruhm und Ehre waren alles gewesen in seiner Familie von preußischen Soldaten und Unteroffizieren. Ihm selbst jedoch war der bloße Gedanke an Krieg bereits ein Greuel; der Dreck und die Schmerzen, das sinnlose Blutvergießen der Schlachtfelder waren ihm fremd.

Geld und Vergnügen, das waren seine Antriebsmechanismen – nicht umsonst hatte er schon vor langen Jahren jegliche Verbindungen zu seiner Familie durchtrennt, war ein Dieb geworden, der so gut war, dass er nie erwischt wurde, um nicht vor die Wahl des Tötens oder getötet Werdens gestellt zu werden.

Er fing Farins Blick, der Blonde schwieg und sah ihn an, die ebenmäßigen Gesichtszüge bereits etwas entspannter als zuvor.
 

„Ich verstehe... das... danke,“ stotterte Bela, während ihm zum ersten Mal bewusst wurde, wie viel Macht Lord Farin, durch seine geerbten Kontakte im Vereinigten Königreich besaß – aber auch, wie unmöglich es für ihn war, den Weg zu wählen, den Bela gegangen war, selbst wenn er es gewollt hätte. Auf einmal verstand er die Sehnsucht des jungen Lords, auch einmal wie Long John Silver zu sein; frei von allen Verpflichtungen über die sieben Weltmeere zu segeln.
 

„Danke mir nicht zu früh, du hast ja noch nicht gehört, was eigentlich passiert ist.“

Farin richtete seinen Blick am nach wie vor vor ihm knienden Bela vorbei, auf die Wand.

„Wir hatten also dieses Dinner. Während wir aßen gab es nur den üblichen Dinner-Smalltalk unter britischen Lords, es gilt als ungesund, beim Essen über matters of state zu sprechen. Lords sind die größten hypocrites der Welt.“

Er krauste verächtlich die Nase.

„Anyway, wie dem auch sei, als wir uns zum geschäftlichen Teil des Abends in den smoking room begaben und die Herren ihre disgusting pipes anzündeten, stand auf einmal mein Vater in der Tür. Wie immer lachte er polternd, war übermäßig freundlich zu allen und tat, als wäre er stolz auf mich beyond belief. Unter den anwesenden Herren gab er damit an, welch exzellente Bildung ich genossen habe, wie gut mein Deutsch sei, wie vertrauenswürdig und amiable ich auch andere wirken könnte, ‚if his mind’s set to it’ hat er gesagt.“

Farin schnaubte, plötzlich wütend.

„Er wollte mich an den Hof des Kaisers schicken lassen. Ich soll für die vermehrte glory of the United Kingdom and the crown spionieren.“

Farins Hände suchten Belas, er nahm sie und drückte verzweifelt zu, zum zweiten Mal an diesem Abend.

„Später nahm er mich beiseite, sagte mir, das negligent Lotterleben in Hamburg müsste endlich ein Ende finden. Der Secretary of State habe ihm die Mission als Spion angeboten, aber er wolle mir diese Chance bieten, to prove him wrong.“

Er biss sich auf die Lippen, seine Hände zitterten in Belas.

„He tried to set me up, the baboon. Ich sei eine einzige Enttäuschung, immer gewesen, und habe nun die Chance to set die Dinge right. Er hatte keine Lust, selbst seine Hände schmutzig zu machen, also versuchte er to provoke me into going.“
 

Bela drückte seine Hände, versuchte ihn zu beruhigen.

„Was hast du gemacht?“ fragte er schließlich.

„Ich habe ihm gesagt, er könne hingehen, wo der Pfeffer wächst. Die hohen Herren habe ich damit besänftigt, dass ich sagte, ich fühle mich sehr geehrt, aber fühle mich zu jung for such a task.“

Er entzog Bela seine Hände und barg sein Gesicht darin.

„Ich weiß nicht, Dirk, vielleicht hat mein Vater recht. Maybe I am a failure. Not even serving my country when it needs me.“
 

Bela schluckte und nahm zärtlich wieder Farins Hände, wollte nicht, dass er schamerfüllt sein Gesicht verbarg, wenn er so stolz auf sich sein konnte.

Der Dieb fühlte sich schmerzhaft an sich selbst erinnert – nur dass er eine Wahl getroffen hatte, die einem jungen Lord wohl für immer verschlossen bleiben würde. Als Mitglied einer alten Adelsfamilie konnte man nicht einfach verschwinden, und erwarten, nie gefunden zu werden...
 

„You are not a failure,“ flüsterte er, über die fremden Worte stolpernd, aber dennoch froh, sie ausgesprochen zu haben. „Du bist ein großartiger Mensch, der viel mehr wert ist, als gleich welche Krone. Vaterland, was ist das schon? Eine Hand voll Staub. Was wichtig ist...“

Er richtete sich auf, ließ Farins Hände los und legte seine eigenen auf die Schultern des Botschafters – einerseits dem Bedürfnis nach Nähe folgend, das in seinem Herzen aufflammte, andererseits von Angst davor erfüllt, was passieren würde, wenn er zu weit ginge, die Zeichen falsch gedeutet hätte.

„Was wichtig ist, bist du. Nicht dein Vater, nicht dein Land, schon gar nicht irgendein Altherrenverein, der meint, dir Vorschriften machen zu können. Du bestimmst über dein Leben. Niemand sonst.“
 

Ihre Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, er spürte Jons warmen Atem an seinen Lippen und wollte nichts mehr, als ihn zu küssen. Aber das durfte er nicht, konnte er nicht – zu viel stand zwischen ihnen, und Farin hatte genug Sorgen, ohne dass er sich ihm...
 

Bevor er den Gedanken zuende bringen konnte, beugte Farin sich vor, legte seine Hände an Belas Wangen und ihre Stirnen aneinander. Ihre Nasen berührten sich und Belas Herz setzte ein paar Schläge aus, als er die warmen Augen so nah vor sich sah.

„Dirk,“ flüsterte der blonde Lord. „Sometimes I think I’d go mad without you. Danke. Danke, dass du da bist. Danke, dass wenigstens du ehrlich zu mir bist.“
 

Belas Magen zog sich zusammen. In diesem Moment wollte er die Lüge nicht weiterleben, wollte, dass Farin Recht hatte, wollte sein Valet sein und nichts anderes, wollte alles gestehen, und dann... dann küssten sie sich - und sein Denken setzte aus.
 

Im Nachhinein war es ihm unmöglich zu sagen, wer den Kuss angefangen hatte. Farins Lippen waren unsicher und schmal auf den seinen, aber sie passten perfekt, und als ihre Zungen sich trafen, jagte ein Stich durch seine Brust und die verzweifelte Zärtlichkeit, die er fühlte, erschreckte ihn zutiefst.

Er ließ sich von der Welle mitführen, willenlos, strich mit seinen Händen über die hohen Jochbeine, durch die vom Wind zerzausten Haare, legte sie schließlich in Farins Nacken.

Seine Hände lagen auf Belas Wangen, warm und rau, fast schon Halt suchend.
 

Der Kuss schien unendlich anzudauern, doch als Farin ihn schließlich brach, wünschte Bela sofort, er hätte tatsächlich nie geendet.

„Ich...“ Jons Augen glänzten verdächtig. „Das können wir nicht tun,“ brachte er schließlich hervor. „Dirk, ich vertraue dir mit meinem Leben und... was ich dir erzählt habe ist... more than my life’s worth. Aber...“

Er strich Bela durch die Haare, unendlich traurig, unendlich zärtlich, und jagte dem Dieb mit jedem Wort einen Stich durch die Brust.

„Aber das dürfen wir nicht. Nicht du und ich. Es tut mir Leid...“
 

Mit einem Ruck stand er auf, machte zwei große Schritte zur Tür und schloss sie hinter sich, bevor Bela eine Antwort überlegen konnte.

Nur sein Hut und sein Mantel auf Belas Bett erinnerten daran, dass er wirklich da gewesen, es wirklich passiert war – sonst hätte Bela vermutlich gedacht, er sei über seinem Buch eingeschlafen und hätte einen wilden Traum gehabt, wie sie ihn in letzter Zeit allzu oft des Nachts heimsuchten.
 

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Übersetzungen
 

„I’ve always wanted to be a little more like Long John Silver and a little less like my father.“ – „Ich wollte schon immer ein bisschen mehr wie Long John Silver und ein bisschen weniger wie mein Vater sein.“

„selfish bugger“ – „Egoistischer Mistkerl“

"Buccaneer" – Bukanier, Freibeuter

„scheming bastard“ – „Pläneschmiedender Bastard“

„treason to the crown“ – Verrat an der Krone

„matters of state“ / „affairs of state“ – Staatsgeschäfte

"hypocrites" - Heuchler

"disgusting pipes" – Widerliche Pfeifen

"beyond belief" - unglaublich

"amiable" – freundlich, nett

„if his mind’s set to it“ – wenn ihm der Wille danach steht / wenn er sich ein bisschen anstrengt

„glory of the United Kingdom and the crown“ – Ruhm des Vereinigten Königreichs und der Krone

„negligent“ – nachlässig, liederlich

„to prove him wrong“ – um ihm zu beweisen, dass er Unrecht hat.

„He tried to set me up, the baboon“ – „Der Idiot hat versucht, mich hereinzulegen“

„...to provoke me into going“ – „...mich dazu zu provozieren, zu gehen“

"for such a task" – "für eine solche Aufgabe"

"Maybe I am a failure. Not even serving my country when it needs me." – "Vielleicht bin ich ein Versager. Schließlich diene ich nicht einmal meinem Land, wenn es mich braucht."

„more than my life’s worth“ – mehr als mein Leben wert ist
 

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Anmerkungen
 

ich bin grade zu müde, alles zu schreiben, was ich hierzu eigentlich sagen wollte.

Die komprimierte Geschichtsstunde: nein, es kam historisch (zumindest um 1890) nicht zu einem Krieg zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich; es kam unter Caprivi und Wilhelm II sogar zunächst zu einer Annäherung der beiden Mächte. Das ändert nichts daran, dass die Zeiten ungewiss waren und jederzeit das eine oder andere politische Pulverfass explodieren konnte - eine Tatsache, der die verschiedenen Regierungen in der Tat mit exzessiver Spionage und Gegenspionage beizukommen suchten.

Belas politische Meinungen in diesem Kapitel sind nicht die meinen - aber seine Beobachtung seiner Zeitgenossen ist relativ akkurat (hoffe ich): um 1890 gab es diverse, alltäglich beobachtbare politische Strömungen, die in ihrer starken Ideologisierung um so gefährlicher - und radikaler - wurden. Die Ansätze zu bedingungsloser Helden- und Kaiserverehrung und Nationalismus waren genauso zu beobachten, wie der Beginn des Kapitalismus, der wiederum sozialdemokratische und sozialistische Gegenentwürfe insbesondere in der Arbeiterklasse fand. Auch Antisemitismus war weitverbreitet, desweiteren eine generelle Xenophobie, verknüpft mit Patriotismus und einer Vaterlandsliebe, die uns heute zutiefst fremd erscheint.

Für ein besseres Verständnis dieser Zeit sei den Lesefritzen unter euch jederzeit Heinrich Mann als Zeitgenosse und großartiger Autor ans Herz gelegt - insbesondere "Der Untertan" und "Professor Unrat" sind ganz und gar grandios.
 

Ähm. Ja. Was wollte ich noch sagen?

- Achja richtig. Farins Akzent, der mehr wird, statt weniger. Das ist kein Fehler meinerseits, sondern liegt a) daran, dass er grade aus London wiederkommt, b) die Konversationen, die er dort geführt hat und von denen er berichtet, tatsächlich auf englisch waren, c) er sehr aufgeregt ist und er d) ganz genau weiß, dass Bela ihn gut versteht. Ihr seht: Realismus pur ;)

- Das Buch, das Bela liest, ist natürlich nichts anderes als Treasure Island von Robert Louis Stevenson, das tatsächlich wunderbar spannend ist (und als kostenloses E-Book bei Projekt Gutenberg unter http://www.gutenberg.org/etext/120 herunterladbar). Eigentlich wollte ich ihm Kipling in die Hand drücken, aber der hatte damals das Jungle Book noch gar nicht geschrieben. Upps. ;)
 

So. Benehmt euch, während ich unterwegs bin - und ihr wisst ja, ich bin eine Kommentar-Hure (hm. commentwhore klingt irgendwie besser XD ).

22. August 1890
 

Bela lag auf dem Bett in seiner Kammer und genoss einen seltenen Moment der Ruhe. Seit Lord und Lady Crowley vor zwei Tagen endlich angekommen waren, glich Lord Farins Haus einem einzigen Hexenkessel. Ein nicht abreißen wollender Strom von Journalisten schellte zu Zeit und zu Unzeit am Eingangstor, Schmuckverkäufer verlangten die Gräfin zu sprechen, Schneider boten Hochzeitsanzüge an, Rosenverkäufer wollten das Haus verschönern und unzählige Bittsteller störten die würdige Ruhe, die ehemals im Botschafterwohnsitz im Binnenalsterviertel geherrscht hatte.

An ihm und Butler Ames war es nun, sie alle abzuweisen, ohne dass sie das Grafenpaar oder den Botschafter in ihren Tagesabläufen stören würden. Bela mutmaßte, dass sie alle nicht einmal so sehr auf das Geld der Crowleys aus waren, sondern heimlich auf einen einzigen Blick auf „Das Feuer Eos“ hofften, jenem unglaublich wertvollem Diamanten, dem jede norddeutsche Zeitung in den letzten Wochen täglich mindestens einen Artikel gewidmet hatte. Jenem Diamanten, den er, Bela stehlen würde.
 

Die Voraussicht, endlich wieder seiner Berufung nachgehen zu können, heiterte ihn auf. Die vergangenen Tage hatte er damit verbracht, in jeder freien Minute an seinem Plan zu feilen, die Gegebenheiten auszukundschaften, alle Möglichkeiten und eventuellen Probleme im Kopf durchzugehen, so dass ihn nichts unvorbereitet treffen würde. Erfahren wie er war, wusste er, dass es im Zuge seiner kriminellen Aktivitäten immer zu Unwägbarkeiten kommen konnte. Seinen Plan hatte er dementsprechend grobmaschig geknüpft, mit genügend Spielraum für spontane Veränderungen, die den Nervenkitzel, den er so sehr liebte wie er ihn brauchte, nur verstärken würden.

Rodrigo hatte ihm versprochen, alle notwendigen Gerätschaften am morgigen Tag persönlich vorbeizubringen. Die unzähligen Bittsteller würden ihnen somit doch noch einen Dienst erweisen; durch die hühnerstallgleichen Verhältnisse im Botschafterhaus konnte González ungestört selbst das Haus betreten.
 

Bela nickte zufrieden – ja, die Crowleys waren unsympathisch genug, dass es ihm eine helle Freude sein würde, sie zu bestehlen, der persönliche Juwelenwachmann war ähnlich arrogant wie seine Arbeitgeber und mit der Zeit hatte er sich davon zu überzeugen gesucht, dass Lord Farin sicherlich keinen direkten Schaden nehmen würde. Sein Ruf, sicherlich – aber seine Position als Botschafter war relativ sicher und seit der Spionage-Sache war Bela sicher, dass Farin kaum Wert auf Ansehen legte. Zumindest redete er sich das ein.

Lord Farin. Ja, das war sein Stolperstein. Er versuchte, zu tun, als könne der blonde Botschafter ihn nicht treffen, als sei er einfach einer dieser vielen Menschen, die er kennen lernte, für seine Zwecke benutzte und fallen ließ.
 

Nur war es nicht wahr.

Lord Farin sah unendlich müde und verletzlich aus in den letzten Tagen und Bela wollte nichts anderes, als ihn festzuhalten. Oder vielleicht mit ihm das nächstbeste Schiff zu kapern und mit ihm um die Welt zu segeln, der Sonne, dem Wind und den Wellen hinterher, so lange, bis das unbeschwerte Lachen nie wieder aus dem Gesicht des blonden Briten weichen würde.
 

Romantischer Tor, schalt er sich, und wollte gerade aufstehen und sich wieder an die Arbeit begeben – es war beinahe Zeit für Lord Farins abendlichen Tee - als es an der Tür klopfte.
 

„Herein,“ bat er erstaunt, froh darum, dass er noch keinerlei kompromittierende Gegenstände in seinem Zimmer gab.

Die Tür öffnete sich, im Türrahmen stand Katharina. Er seufzte innerlich, während er ein freundliches Lächeln, das seine Augen nicht berührte, aufsetzte. Er brauchte sie noch – und eigentlich war sie kein schlechtes Mädchen, ein bisschen Freundlichkeit konnte also nicht schaden.

„Hallo Katharina, meine Liebe. Du siehst bezaubernd aus.“

Das stimmte sogar – ihre rehbraunen Augen und die braunen Haare kontrastierten wunderbar mit dem dunkelroten Kleid, das er ihr gekauft hatte und das sie in ihrer Freizeit bevorzugt zu tragen schien.

Er winkte sie herein und klopfte einladend neben sich auf das Bett. „Was kann ich für dich tun?“

„Hallo Dirk,“ zögerlich kam sie herein und setzte sich nervös auf die Bettkante. Er hatte schon des Öfteren beobachtet, wie unbehaglich sie sich in seiner Gegenwart nach wie vor meistens zu fühlen schien, um so mehr wunderte er sich immer wieder, wie unhinterfragt sie ihm vor fast drei Monaten strahlend um den Hals gefallen war, als er um ihre Hand angehalten hatte.
 

Sie starrte eine Weile auf ihre feingliedrigen, von der harten Küchenarbeit schwieligen Hände, dann sah sie auf und ihm in die Augen.

„Liebst du mich eigentlich?“ fragte sie, geradeheraus.

Die Frage überraschte ihn, so sehr, dass er sie nicht direkt belügen wollte.

Stattdessen nahm er ihre Hand, strich über ihre Wange, küsste sie zärtlich, ohne aufdringlich sein zu wollen und war überrascht, als sie von sich aus den Kuss vertiefte und ihre zierliche Hand seinen Oberschenkel hinaufwanderte.

Er erschrak – er mochte Katharina, irgendwie, aber der Gedanke an Beischlaf mit ihr drehte ihm den Magen um. Sie war mehr wie eine kleine, naive Schwester – die er obendrein nach Strich und Faden ausnutzte.
 

Doch er brauchte sie für die Ausführung seines Plans – er musste sich über seine Bedenken hinwegsetzen und sie bei Laune halten, wenigstens noch einige Tage.

Vorsichtig brach er den Kuss und sah sie an. „Welcher Dummkopf würde dich nicht lieben?“ fragte er sanft, weiterhin darauf bedacht, sie nicht direkt zu belügen. Dann war eben er dieser Dummkopf, und vielleicht war er das tatsächlich. Sie war hübsch, gefügig, ein bisschen naiv vielleicht, ja, aber alles andere als dumm. Warum nur konnte er sich nicht mehr auf sie einlassen, statt seinen Kopf von einem blonden Lord dominieren zu lassen, den er nicht haben konnte?
 

Unwillig verbannte er die mahlenden Gedanken, das brachte nichts, er musste jetzt einen klaren Kopf bewahren, keine Fehler machen.
 

Sie blickte ihn einen Moment lang an, dann lächelte sie.

„Ich liebe dich auch. Ich bin sicher, meine Eltern werden sich freuen, dich bald kennenzulernen.“

Ihre Hand lag weiter auf seinem Oberschenkel, doch bevor sie sie weiter hinaufbewegen konnte, nahm er sie in seine Linke, so dass er nun ihre beiden Hände hielt.
 

„Übermorgen ist dein freier Tag, richtig?“ fragte er, bemüht, auf das Thema zu kommen, das ihn interessierte, ohne sie misstrauisch zu machen.

„Aber ja, das weißt du doch,“ antwortete sie und sah ihn aus fragenden dunkelbraunen Augen an.

„Was hältst du davon, wenn wir den Tag gemeinsam verbringen, nur wir beide? Ich kenne einen schönen Elbstrand, abgelegen genug, dass uns niemand stören würde, und nahe genug an der Stadt, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein könnten...“

„Gern... das klingt wunderbar.“

Sie schluckte, beugte sich vor, schien ihn noch einmal küssen zu wollen, als die Glocke über seiner Tür leutete.
 

„Das ist Lord Farin,“ sagte er hastig und drückte ihre Hände, bevor er aufsprang. „Er wird seinen abendlichen Tee trinken wollen, ich sollte mich besser beeilen.“

„In Ordnung.“ Sie nickte. „Morgen habe ich viel zu tun, aber übermorgen werde ich in meinem Zimmer auf dich warten.“

„Gut,“ er lächelte. „Ich hole dich um zehn Uhr ab, dann habe ich auch frei. Schlaf dich aus, ich kümmere mich um alles, du brauchst nur fertig zu sein und mit mir den Tag verbringen wollen.“

Er küsste sie flüchtig auf die Wange, dann verließ er den Raum, froh um die Ausrede, die Lord Farin ihm beschert hatte.
 

...
 

„Dirk, you look a bit dishevelled.“ Halb lächelte Farin, halb sah er besorgt aus. „Ist alles in Ordnung?“

Bela stellte die das Tablett mit dem Tee auf den Beistelltisch neben dem großen Ohrensessel, beruhigt, dass manche Dinge – wie die abendliche Tasse Tee und die freundschaftlichen Gespräche zwischen ihm und Jon – sich trotz Graf und Gräfin, die im Übrigen den Abend mit Otello in der Staatsoper am Dammtor verbrachten, nicht änderten.

Dann lächelte er, füllte die Tasse des Botschafters sowie seine eigene und setzte sich in den kleineren Sessel, in dem er schon viele Abende lesend, diskutierend oder einfach nur zufrieden schweigend mit Lord Farin verbracht hatte.
 

„Ja, alles in Ordnung,“ erwiderte er. „Es tut gut, dich zu sehen. Es war ein aufreibender Tag...“

Der Botschafter lächelte. „Wem sagst du das. Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen auf einmal claimen, meine Freunde zu sein und auf der Gästeliste zur Hochzeit vergessen worden zu sein. Was für ein Affentanz. Ich werde froh sein, wenn hier wieder Ruhe einkehrt und der Hohe Herr Crowley, seine Lady und ihr verdammter Diamant wieder wohlbehalten zurück auf unserer godforsaken island sind.“

Er nahm seine Tasse und blickte über ihren Rand zu Bela, während er vorsichtig über die heiße Flüssigkeit blies.
 

„Du und Ames, kommt ihr mit den unzähligen housecalls zurecht?“ fragte er plötzlich. „Ich habe darüber nachgedacht, zusätzliches Personal einzustellen, aber...“

„Das wäre ein Sicherheitsrisiko.“ Bela nickte begreifend und hoffte stillschweigend, Farin würde seine Erklärung akzeptieren, sonst könnten sich seine Pläne weiter verkomplizieren. „Keine Sorge, wir kommen schon zurecht zu zweit.“ Er lachte kurz. „Heute haben wir eine Strichliste geführt, wer mehr Bittsteller abgewimmelt hat. Ich habe gewonnen, mit vierundzwanzig zu neunzehn. Aber Ames hatte die Morgenschicht, mal sehen, wer morgen gewinnt.“
 

Farin schüttelte lächelnd den Kopf.

„Ich mag den Einfluss, den du auf den stocksteifen Ames hast. Er scheint dir gegenüber aufzutauen, das würde Vater gar nicht gefallen. Good.“

Bela lehnte sich vor und unterdrückte die Neigung, Farins Hand zu nehmen.

„Du solltest ihn nicht so sehr über dein Leben bestimmen lassen, Jon.“

Farin sah ihn ernst an. „Ich kann nicht anders, Dirk, das weißt du. He made me, and he can break me just as easily. Mir wäre das egal, aber mother...“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Es würde ihr Herz brechen.“
 

Bela hob in einer hilflos wütenden Geste die Schultern, wollte am liebsten seine Teetasse in den leeren Kamin – oder in Farins Gesicht – schmeißen. Sie hatten nie wieder über ihren Kuss gesprochen, und doch hatte er das Gefühl, dass er wie ein Damoklesschwert über ihnen hing, während Jons Vater ununterbrochen als geheimnisvoller Schatten an dem Rosshaar feilte, das das Schwert über ihren Köpfen hielt.
 

„Ist er hier? Nein! Kann er dir hier Befehle erteilen? Nein! Du bist der verdammte Botschafter, du kannst selbst entscheiden, was du tust, hör auf, dich hinter deinem Vater zu verstecken!“

Farin blieb äußerlich vollkommen ruhig, während er aus aufeinandergeklemmten Kiefern zischte: „was willst du damit sagen? Dass ich ein Feigling bin?“

„Nein, das bist du nicht, das weiß ich. Aber ein Tor, dass du dich von ihm oder sonst wem davon abhalten lässt, glücklich zu sein!“

Farins Augen sprühten Funken. Er öffnete den Mund, für einen Moment schien die Zeit still zu sehen, bis seine Worte zu Bela durchdrangen.
 

„Und woher weißt du, was mich glücklich macht, you rotten pervert, of all people?“
 

Ihrer beiden anklagenden Stimmen hallten in Belas Ohren nach, während er der geschockten Stille lauschte, die auf Farins Worte folgte. Er fühlte sich leer, nicht einmal verletzt – schließlich hatte er Jon endlich einmal wirklich treffen wollen, wissen wollen, wie er auf Provokation reagierte.
 

Er atmete tief durch und antwortete dann.

„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass du nicht glücklich bist. Und das...“ seine Stimme wurde leiser und er musste sich zwingen, weiter zu sprechen, wenigstens in diesem Kontext das ewige Lügen aufzugeben. „...das macht auch mich unglücklich. Verdammter Perverser, der ich nun einmal bin.“
 

Farin stand langsam auf, überbrückte den Abstand zwischen ihnen mit zwei kurzen Schritten und sank vor ihm auf die Knie, umarmte ihn fest und verbarg sein Gesicht zwischen seinen Jackett-Aufschlägen, an Belas Hemd, während seine Finger sich fast schmerzhaft um Belas Arme schlossen. Bela konnte ihr Zittern fühlen.
 

„Es tut mir leid,“ murmelte Jon, sein schneller Atem drang durch den dünnen Stoff an Belas Brust. „Du hast Recht. Er bestimmt mein Leben, ist immer da, hält mich von allem ab, was mich glücklich macht. Especially you. Ich... ich hätte das nicht sagen sollen. Nicht sagen dürfen.“

Er sah auf, die grünbraunen Augen verzweifelt.

„If you are a rotten pervert, so am I. Und, wenn du einer bist, dann... kann es nichts schlimmes sein.“
 

Bela schloss kurz die Augen, getroffen von Farins Worten – und von der Schuld, die er durch sein Lügengebilde auf sich lud. Er musste aufstehen und gehen, jetzt.
 

Stattdessen vergrub er seine Hände in den blonden Haaren, zog Farin zu sich hinauf und küsste ihn.

Die Gier, mit der Farin den Kuss erwiderte und ihn an sich zog, überraschte Bela.
 

- TBC -

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 7 - non adult

In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1890
 

„Hast du jemals...?“

Farin sah ihn unsicher an.

„Ja,“ erwiderte Bela ruhig und verflocht seine Finger mit denen des Blonden. Sie lagen auf dem großen Bett im Master-Schlafzimmer, nah beieinander, aber voll bekleidet.
 

Irgendwie hatten sie es geschafft, getrennt voneinander die Bibliothek zu verlassen. Farin hatte die Türen des Hauses verschlossen. Bela derweil hatte ihre Teetassen in die Küche gebracht und das Licht im gesamten Haus gelöscht - routinierte Aufgaben, für die er fast schon dankbar war, weil sie ihm dabei geholfen hatten, seine wirren Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen.
 

Schließlich hatten sie sich im flackernden Kerzenschein hinter Farins verschlossener Schlafzimmertür wieder getroffen. Der Gesichtsausdruck des Briten war so unlesbar gewesen, dass Bela fast schon erwartete, dass er ihn erneut abweisen würde. Ein Teil von ihm hatte darauf gehofft, ein anderer hatte sich vor Angst verkrampft, während er scheinbar ruhig seine Öllampe löschte und sie auf der Marmorplatte des Nachttisches aus dunklem Nussbaumholz abstellte. Der gesamte kerzenbeschienene Raum hatte ihm entgegen geschrien, dass er, der Dieb, nicht hierher gehörte. Das ausladende Bett, gleichfalls aus dunklem Nussbaumholz, mit den Schnitzereien und den gestärkten Laken flüsterte davon, dass ausschließlich Adligen das Recht besaßen, auf ihm zur Ruhe zu kommen. Der gebeizte Kleiderschrank, verziert mit im Kerzenschein geheimnisvoll glänzendem Wurzelholz, sprach von reichen, unnahbaren Lords, die eine Million Meilen von Belas Lebens- und Gefühlswelt entfernt waren.

Zimmer wie dieses betrat er nur, um Dinge daraus zu stehlen – nicht, um zu verweilen, während die strengen Portraits der Barone von Inglewood auf ihn und Jon herab starrten.
 

Fast hatte er erwartet, dass ihn der Schlag treffen würde – die Rache der Barone, hatte er zynisch gedacht, während er angesichts Farins fast schon stoischem Gesichtsausdruck in Erwägung zog, so schnell wie möglich wieder aus dem Raum mit der schweren, von der Vergangenheit überladenen Atmosphäre, zu flüchten.

Bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, war Jon auf ihn zugetreten, hatte seine beiden Hände genommen und ihn geküsst. Nur ein kurzes Aufeinandertreffen ihrer Lippen, nahezu schüchtern, keusch, wäre da nicht das kaum merkbare Zittern der feingliedrigeren Hände in den seinen gewesen. Farin hatte Angst, das spürte Bela mit jeder Faser seines Körpers, und es traf ihn tief.

Natürlich wusste er, dass es nicht er war, vor dem Farin Angst hatte – es war die Tatsache an sich, sich mit einer einzigen Handlung gegen alles zu stellen, das zu glauben der junge Lord erzogen worden war.
 

Bela selbst war all dies zutiefst fremd. Er war schon immer eine sehr sinnliche, hedonistische Person gewesen, hatte sich immer genommen, was und wen er wollte. Nicht umsonst hatte er mit seinen Eltern gebrochen – er hasste Konventionen und liebte es geradezu, gegen sie zu verstoßen.

Das war jedoch nicht der Grund gewesen, warum er Jon sanft zum Bett geleitet, sich neben ihn gelegt, für eine Weile einfach nur seine Nähe genossen und ihn festgehalten hatte, während er darauf wartete, dass die Atmung des Blonden sich langsam beruhigte und er mit ihm sprechen würde. Belas Herz schlug seltsam unregelmäßig und er schob den Gedanken daran, wie viel sein Gegenüber ihm eigentlich bedeutete, ganz weit hinab in die Tiefen seines Gewissens. Dorthin, wo er alle unwillkommenen Gefühle lagerte, wie seine Mutter früher die wurmstichigen Winteräpfel in der hintersten Ecke ihrer Speisekammer eingelagert hatte, so lange, bis sie faulig und ungenießbar gewesen und der Frühling schon lange angebrochen war.
 

Jons Frage nach seinen Erfahrungen hatte ihn nicht überrascht; der Dieb hatte sich bereits gedacht, dass der Blonde keine Erfahrung mit Männern haben würde, nicht haben konnte, angesichts seiner strengen Erziehung, seit er aus Indien zurückgeholt worden war. Er fragte sich nur, wie weit der junge Botschafter zu gehen bereit sein würde – er wollte ihn zu nichts drängen.
 

„Hab keine Angst,“ sagte Bela jetzt. „Ich werde nicht lügen. Ich würde gerne bei dir liegen.“ Er lächelte, küsste Farins Hals, der unter seinen Worten errötete. Auf Belas Liebkosungen hin seufzte er leise unter ihm und schien sich nicht recht entscheiden zu können, ob er mehr wollte, oder stocksteif daliegen und warten, bis es vorüber war.

Bela seufzte gleichfalls, aus gänzlich anderen Gründen als Jon vor ihm, und streichelte vorsichtig über die Seite des Mannes, der im alltäglichen Leben so imposant wirkte, der jetzt allerdings verunsichert und zwei Köpfe kleiner als noch vor wenigen Minuten schien.
 

„Wir müssen nichts tun, das dir nicht geheuer ist. Und schon gar nicht müssen wir das überstürzen. Ich kann mich zurückhalten,“ beendete Bela schließlich seinen Gedankengang. „Sprich mit mir, Jon... Ich... will nichts tun, das du nicht möchtest.“

Er hob eine Hand, fuhr sanft mit dem Zeigefinger Farins Gesichtszüge nach; die immer so beweglichen Augenbrauen, die gerade Nase, die kantigen Wangenknochen, die schmalen Lippen.
 

Endlich schien ein wenig Bewegung in den Engländer zu kommen. Er hielt Belas Hand fest, küsste die einzelnen Knöchel seines Zeigefingers. Langsam kehrte die alte Willenskraft in Farins Augen zurück, sie waren fest auf Belas eigene Augen gerichtet.

„Nein,“ sagte Farin, in seiner Stimme die gesamte Autorität des arroganten Lords. „Zeige es mir.“ Seine Gesichtszüge wurden sanft. „Bitte. Ich will es erfahren. Mit dir. Just you.“
 

Bela lächelte, legte seine Arme um den langen, dünnen Körper und hielt ihn fest, wollte ihn nie wieder loslassen.

„So gerne ich das würde, nicht heute. Das wäre... unpassend.“

Er küsste Farin kurz.

„Muss ich dich daran erinnern, dass wir beide in wenigen kurzen Stunden einen langen Arbeitstag vor uns haben?“

Farin grummelte und verteilte unzählige kleine Küsse auf Belas Kieferlinie; auf einmal seltsam entschlossen. „I don’t care,“ murmelte er, seine Stimme vibrierend auf der Haut des Diebes. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ich wenig schlafe...“

Seine Hand stahl sich zu Belas Schritt und bewegte sich prüfend auf und ab.
 

„I want to experience you... this,“ sprache Farin in Belas Ohr, während der sich, erstaunt unter ihm aufbäumte, Jons Hand entgegen, die sich viel zu gut anfühlte, warm und fest über dem zu dicken Stoff seiner Valet-Uniformhose. „Ich will endlich einmal das tun, was ich selbst will, nicht das was andere wollen. Und ich will dich. Deinen Geruch, deinen Geschmack, all of your...,“ seine Hand drückte zu und Bela konnte nicht verhindern, dass er laut in Farins Ohr stöhnte, „assets. Show me.“

Farin richtete sich halb auf, sein warmer Atem strich über Belas Gesicht.

„Do I have to beg again, first? Fine. Bitte. Bitte, zeige mir, wie... wie wir, als... Mann und Mann beieinander liegen können. Bitte, zeige mir, wie es ist, to feel you; bei, nein, mit dir zu sein.“ Er zögerte, schloss seine Augen kurz, öffnete sie wieder und schaute an Bela vorbei, auf das gestärkte weiße Laken mit dem eingearbeiteten Emblem seiner Familie. „Dirk, please,“ fuhr er fort, ohne ihm in die Augen zu sehen, seine Finger auf einmal wieder zitternd an Belas eigener Hand. „Show me how I can make love to you.“
 

Bela seufzte. Er wollte nichts lieber, als Farins Wunsch zu erfüllen. Aber er musste übermorgen einen Safe knacken, ohne entdeckt zu werden und brauchte dafür seine gesamte Beweglichkeit. Und selbst wenn dem nicht so wäre, keiner von ihnen beiden konnte es sich im Augenblick erlauben, die kommenden Tage über nicht richtig laufen zu können. Dafür wurden sie beide zur Zeit von viel zu vielen Menschen beobachtet - von unzähligen Hausgästen, Lords und Ladies, Bediensteten, Freunden und Bittstellern gleichermaßen. Lord Farin in seiner Eigenschaft als Botschafter und er selbst in seinem angenommenen Beruf des Valets, der eifrig Getränke und Essen, Mäntel, Hüte und Zeitungen hin- und wieder wegbrachte. Das Letzte was er wollte, war, dass jemand eins und eins zusammen zählen würde; Jon in Gefahr geraten könnte, weil er zum ersten Mal in seinem Leben seinem Herzen folgte und seinen sonst so messerscharfen Verstand für den Moment ausgeblendet zu haben schien.
 

Er sah in die verletzlichen, im verräterischen Kerzenlicht fast braun scheinenden Augen, drückte die zitternden Finger beruhigend und zog Jon zu sich hinab, küsste ihn, um sich bereits im Vorhinein für die kommende Zurückweisung zu entschuldigen. Es war ein ungeschickter Kuss, allein schon durch ihrer beider seltsamer Position auf dem Bett, aber Jon erwiderte seine Zärtlichkeit mit einer Ernsthaftigkeit, die Bela zutiefst rührte.
 

„Jon...,“ setzte er an und schluckte. „Ich will nichts lieber als mit dir zu schlafen. Wirklich. Aber wir können das nicht tun, nicht heute.“

Er zögerte, legte seinen Finger auf die Lippen des über ihm Lehnenden, der allzu schnell zu sprechen ansetzte.

„Hör mir zu. Es tut weh. Es gibt nichts schöneres, auch das ist wahr, aber... - wenn du in mich eindringst, oder ich in dich, einer von uns würde den Anderen tagelang in sich spüren. Er könnte nicht sitzen, nicht laufen, sich kaum bewegen, ohne, dass es ein bisschen weh täte. Ein angenehmer Schmerz, ja, aber...“
 

Farin nickte, lachte auf einmal. „People would be bound to notice. Ich verstehe. That wouldn’t do, indeed. Ich setze mich auf einen Stuhl, verziehe schmerzhaft das Gesicht, während jemand dir als meinem Valet sagt, du sollest mir gefälligst ein neues Kissen für meinen Hintern bringen, and quick. Neither of us is a good enough actor for that.“ Er lachte wieder und Bela lachte mit, froh, dass Farin den Humor der Situation einsah.
 

Er strich mit einer Hand durch die blonden Haare, wie so oft fasziniert von ihrer fast unnatürlich hellen Farbe, den feinen, widerspenstigen Strähnen unter seinen Fingern. Farin lächelte und drehte seinen Kopf leicht, so dass er Belas Handfläche küssen konnte.
 

„Dirk,“ murmelte er, während dieser die ersten leichten Stoppeln an Farins Wange unter seiner Hand spürte. „Promise me... wenn dieser ganze Affenzirkus vorbei ist bist du noch da und wir holen das nach. In Ordnung?“
 

Belas Herz rutschte in seine Hose. Würde er noch da sein?

Seine Pläne waren völlig andere, aber auf einmal schien es ihm unmöglich, Farin, Jon, einfach alleine zu lassen.

„Ja,“ murmelte er. „Wir holen das nach. Ich verspreche es.“

Er hasste sich dafür, Halbwahrheiten auszusprechen. Streng genommen hatte er nur versprochen, mit Farin zu schlafen, nicht, bei ihm zu bleiben. Dennoch – es tat weh. Treue zu seinen wahren Freunden war ihm, Diebesgewerbe hin oder her, immer wichtig gewesen, und nun... nun fand er sich in einer Situation, die sich völlig ausweglos anfühlte. Er konnte kein Valet bleiben, das war nicht er, er würde daran zerbrechen, früher oder später. Aber ohne Farin konnte er auch nicht mehr sein, zumindest konnte er es sich im Augenblick nicht vorstellen. Er seufzte, schloss die Augen.
 

Sanfte Finger strichen über seine Gesichtszüge und seine geschlossenen Augenlider. Er ließ es geschehen und dachte, dass er lieber das Heute genießen sollte, statt sich über das Morgen Gedanken zu machen. Dann verlagerte Farin sein Gewicht und sein Ellenbogen bohrte sich schmerzhaft in Belas Magengrube.

„Aahumpf,“ machte der Dunkelhaarige verblüfft, während ihm die Luft wegblieb, und schlug die Augen auf.

„Entschuldige,“ Farin beugte sich über ihn, die Knie hatte er links und rechts von Belas Hüften in das Laken gestemmt. „Du sahst für einen Moment so traurig aus. Aber auch so schön. And then, “ der Blonde lächelte verlegen, „I lost my balance. Sorry.“
 

„Ist schon in Ordnung.“ Bela lachte und zog Jon hinab, küsste ihn kurz.

„Weißt du,“ seine Hand strich über Farins Seite, verschwand unter seinem Hemdsaum, widmete sich der warmen Haut über seiner Hüfte. „Es gibt andere Wege, für uns beide, Befriedigung zu finden.“

Farin unterbrach ihn, lachte kurz auf. „Entschuldige bitte, aber... haha, hör auf, that tickles, damnit!“

Bela zog erschrocken seine Hand zurück und sah Farin verlegen an. „Tut mir Leid.“
 

„Don’t worry.“ Jon verzog den Mund zu seinem charakteristischen Grinsen, küsste ihn wieder.

„Now, was meinst du mit anderen Wegen?“

„Ich zeige es dir.“
 

Sie zogen sich aus, unendlich langsam, fasziniert vom Körper des jeweils Anderen, nahmen sich Zeit, sich kennen zu lernen, auf eine Weise, die keiner von Beiden zuvor bewusst geplant hatte.

Jon knüpfte Belas Trikotage auf, entblößte seine Brust, küsste sein Schlüsselbein, streifte den Stoff ab und küsste seine Schulter, verharrte an seinem Bizeps.

„Tattoos,“ murmelte er leise, während seine Augen sich verengten. Belas linker Oberarm war verziert mit einer schwarzen Fledermaus vor einem roten Nachthimmel, darunter verschnörkelt sein selbstgewählter Name, Bela. Auf dem anderen Arm prangte ein teils hinter einer Wolke versteckter, von einem Dolch durchbohrter Vollmond. Er hatte sie sich jeweils nach besonders gelungenen Raubzügen im Hamburger Hafen von einem pensionierten Seebären stechen lassen, in mühevoller Kleinarbeit mit einer Nadel, einem Faden und zahlreichen teuren Farben, jedes ein kleines Meisterwerk in Details und Aussage.

Die Tattoos dienten ihm als Symbol und sichtbares Zeichen seiner Passion, das nächtliche Diebesgewerbe, ohne dass übereifrige Polizisten diese tiefere Bedeutung allzu leicht ergründen könnten.
 

Nur, wie konnte er Farin erklären, dass er, der Valet mit dem vermeintlich so properen Lebenslauf, tätowiert war? Er wusste, dass dies nicht nur ein sofortiger Kündigungs-, sondern auch Misstrauensgrund erster Güte war, und zwar nicht nur im Haushalt eines reichen britischen Lords, sondern nahezu überall.

„Ich...“ setzte er an, nicht sicher, wie er den Satz beenden sollte.

Farin legte ihm einen Finger auf den Mund, küsste die Fledermaus.

„Ich will es nicht wissen. Du bist hier, bei mir. Mehr zählt nicht. Ich mag sie sogar, irgendwie And... I trust you, Dirk.“
 

Bela holte zitternd Luft. Immer mehr bekam er das Gefühl, dass er die Lüge nicht fortsetzen sollte.

Er richtete sich halb auf, suchte und fand Jons Lippen.
 

„Hier,“ sagte er dann und führte Farins Finger am den Schriftzug unter der Fledermaus entlang. „Bela. So werde ich genannt.“

Farin sah ihn ernst an, offenbar hin und hergerissen zwischen Neugier und Angst.

„Bela,“ sagte er schließlich, sein Ton schwer interpretierbar. „Warum?“
 

„Ja, Bela. Der Name erinnert mich an einen Ungarn, den ich einmal kannte. Er hieß Béla und hat mich die Schönheit der Nacht lieben lernen.“
 

Farin strich nachdenklich mit den Fingern über Belas Brustkorb und starrte auf das Laken.

„Was ist mit ihm passiert?“
 

„Er ist tot.“

Bela schluckte kurz.

„Du musst wissen, ich bin nicht der, für den du mich hältst.“
 

„Don’t! Sag nicht mehr!“
 

Farin sah hoch, seine Augen sprühten Feuer und Verzweiflung.

„Du bist Dirk. Hier, für mich, auch Bela, denn der Name passt zu dir, more than Dirk or Nestor ever could.“

Er nestelte am Stoff der unhandlichen Unterwäsche, befreite den Dunkelhaarigen gänzlich davon und zog ihn an sich. Bela bildete sich ein, er könnte durch ihrer beider erhitzter Haut hindurch spüren, wie Farins Herz genau so schnell schlug wie sein eigenes.
 

„Bela.“ Farin sprach seinen Namen nahezu ehrfürchtig aus, und nie hatte er schöner geklungen.

„You’re the most important person in my life right now. And my valet. Du hast versprochen, bei mir zu bleiben... Ich... ich will nicht mehr über dich wissen, nicht, wenn es hieße, dass ich dich nach bestem Wissen und Gewissen sofort zum Teufel jagen müsste. Like I said, I trust you. Mit meinem Namen, meiner Ehre, meinem Leben, wenn es sein muss.“
 

Bela küsste ihn dann, er konnte nicht anders. Farin, seine Wangen gerötet, seine Fäuste geballt, sein Blick verzweifelt ehrlich, war nie schöner gewesen. Es war egal, was sein würde, beschloss er. Er würde bei Farin bleiben. Solange es ging. Irgendwie musste es gehen.
 

Behutsam löste er sich, leckte sich die Lippen und drehte sie beide umsichtig herum.

„Leg dich hin,“ sagte er schließlich. „Ich habe dir noch etwas anderes versprochen,“ sagte er schließlich. „Lass mich dir Freude bereiten...“
 

Jon gehorchte, legte sich auf den Rücken und sah zu ihm hoch, in seinem Blick meinte Bela die gleiche Unzahl an Gefühlen zu erkennen, die ihm selbst zusetzte. Zärtlichkeit. Ehrlichkeit. Angst. Unterdrückter Zweifel. Freude. Erwartung. Unsicherheit.
 

„Habe keine Angst,“ murmelte er, während er, gänzlich nackt über ihm kniend, seinen Weg am entblößten Brustkorb des Anderen entlang küsste. „Es wird dir gefallen. Uns beiden.“

Er verharrte am Bauchnabel, tauchte seine Zunge kurz hinein und strich mit seinen Lippen über den flachen Bauch, genoss den einzigartigen Geruch nach leicht parfümierter Seife und... einfach nur Jon selbst. Der ließ derweil seine Hände an Belas Seiten entlangstreichen, atmete schnell und murmelte eine Vielzahl an halb englischen, halb deutschen Ermutigungen, weiterzumachen, immer wieder durchsetzt von seinem Namen, Bela.

Den immer so starken, unnahbaren Lord so zu sehen, ihm willenlos ergeben, erregte den Dieb mehr, als er sich eingestehen wollte, und so wanderte er kurzentschlossen weiter hinab.
 

Der Blonde schien keine Unterwäsche zu tragen, hatte Bela vorhin gedacht, wurde jedoch eines besseren belehrt, als er die schwarze Hose mit den schmalen weißen Nadelstreifen öffnete.

„Seide,“ stellte er amüsiert fest und küsste den weichen Stoff.

„Ja,“ keuchte Farin unter ihm. „I guess you just ruined it. Egal. Dekadenz nennt meine Mutter das. Ich nenne es... just a little vanity.“

Er wand sich unter ihm, ergriff Belas Hände, legte sie auf seinen Hosensaum und hob den Hintern, so dass Bela die lästige Kleidung abstreifen konnte.

„Bela please. Just get it off. I want to feel you.“

Der Angesprochene ließ sich nicht lange bitten.
 

Sie teilten einen Kuss, stöhnten in den Mund des Anderen hinein, Haut an Haut, völlig nackt, vielleicht nicht nur im körperlichen Sinne.
 

Bela küsste Jons Nasenspitze und bewegte sich zielstrebig an seinem Körper hinab.
 

„You can’t...“ weiter kam Farin nicht, biss sich auf die Hand um nicht zu laut zu keuchen, während Belas Zunge ihre Erkundungen aufnahm.

„Doch,“ murmelte Bela, wohl wissend, dass die Worte als Vibrationen an Jons Penis entlang huschten. „Ich kann und ich werde.“

Er lauschte auf weitere Proteste, die nicht kamen, stattdessen grub Jon seine Hände in Belas Haare und sah ihn flehend an. „Do it, then. Please. Dirk. Bela.“
 

„Ich hätte nie gedacht, dass du mich so sehr um dies alles bitten würdest...“

Bela lächelte zu ihm hinauf und ließ sich nicht hetzen, dafür genoss er zu sehr, was er tat.

Der Blonde war Wachs in seinen Händen, streckte sich ihm entgegen und schien zu nichts weiter fähig zu sein, als ihn aus fiebrig glänzenden Augen anzustarren, während er die Kiefer aufeinanderklemmte, um nicht zu laut zu werden. Der Anblick war so ungeheuer sinnlich, dass Bela seine Linke zur Faust ballen musste, um sich nicht selbst zu berühren.
 

Stattdessen widmete er sich wieder ganz Farin und dessen Gefühlen. Er wollte, dass es gut war, etwas Besonderes für sie beide. Jons Augen waren fest auf die seinen gerichtet, er murmelte unentwegt kurze, zustimmende Laute und die leisen Laute machten alles für Bela um so realer.
 

Sein Kopf wanderte auf und ab, darauf bedacht, seine Bewegungen auf Jons mühsam unterdrücktes Zucken unter ihm abzustimmen.

„Wait,“ keuchte der nun, seine Hände zitternd an Belas Wangen.

Der Dunkelhaarige dachte nicht daran, zu warten, verschnellerte seine Bewegungen noch.

„Bela,“ Farin stöhnte unterdrückt, die braungrünen Augen glänzten vor Lust vernebelt im Kerzenschein. „I can’t last.“
 

Bela wusste es, hatte es kommen fühlen, erfreute sich am Klimax des Blonden, obwohl er ihn zu unvorbereitet erwischte. Das war nicht sein Plan gewesen, innerlich schüttelte er den Kopf über sich selbst, in seinem Kopf war das alles etwas einfacher gewesen.
 

„Tut mir Leid,“ murmelte er schließlich. „Das war nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte.“

Jon zog den Dieb zu sich hoch, so nah zu sich wie möglich.

„Sei nicht albern,“ flüsterte er, küsste ihn, gierig und lang. Danach hielt er kurz Belas Unterlippe mit seinen Zähnen gefangen, leckte mit der Zunge an ihr entlang.

„Das war...“ Er schüttelte ratlos den Kopf, schien nicht zu wissen, wie er den Satz beenden sollte. „Wundervoll,“ endete er schließlich. „Thank you.“
 

Sie fielen zurück auf das Bett, hielten sich fest, Haut an Haut.
 

„Ich gehe besser,“ sagte der Dieb schließlich und seufzte. „Morgen muss ich, wie immer, für deine Morgentoilette sorgen, und es ist schon spät.“
 

„Bleib,“ sagte Farin, zog ihn näher an sich.

„Du hast noch keine Erlösung gefunden...“ seine langen Finger wanderten abwärts an Belas Körper. „Let me give you pleasure, too. Und, more importantly, schlafe hier, bei mir. Bitte.“

Bela stöhnte langgezogen. Er hatte nicht bleiben wollen, sich nicht noch mehr binden wollen. Aber er konnte unmöglich nein sagen, nicht jetzt, nicht hier, nicht zu Jon.
 

„In Ordnung,“ murmelte er schließlich an Farins Hals. „Ich bleibe gerne. Lass morgen sein, was morgen ist.“
 

- TBC -
 

--

Anmerkungen
 

Ein Wort zur Unterwäsche um 1890. Nicht allzu lange zuvor war es – außer in höchsten Kreisen – noch höchst unüblich gewesen, als Mann Unterwäsche zu tragen. Lange Hemden, deren Enden man zwischen den Beinen hindurchziehen konnte, waren das höchste der Gefühle.

Seit den 1870ern änderte sich dies rapide in den deutschsprachigen Landen – ein gewisser Herr Huber von der Firma Schiesser hatte das Knüpftrikot erfunden, aus heutiger Sicht ein ziemlicher Liebestöter, aber damals durch die durchgehende Knopfleiste extrem gewagt. Obendrein war es bezahlbar, da aus günstigerem Stoff gefertigt als die bis dahin in der Oberschicht beliebte Seidenunterwäsche, und ganz einfach praktisch, besonders im Winter, wenn den Herren allzu schnell kalt wurde. Bela, modebewusst wie er nun einmal ist, hat sich gleich ein Exemplar gesichert, lange bevor besagtes Design auf der Weltausstellung von 1900 den großen Innovationsreis gewann.

Farins Seidenunterwäsche war zu jener Zeit bereits aus der Mode geraten, da sie einfach zu teuer war – diejenigen, die sie noch trugen, galten als allzu verschwenderisch, vielleicht sogar ein bisschen rebellisch. ;)
 

Durchaus kunstvolle Tattoos in verschiedenen Farben gab es natürlich schon, auch in Europa, obwohl sich die elektrisch angetriebene Tätowiermaschine, und damit die Praxis des professionellen Tätowierens erst etwa 10-20 Jahre später auch in Kontinentaleuropa verbreitete. Bela hat allerdings völlig recht – Tattoos waren alles andere als hoch angesehen, wurden im Allgemeinen mit Seefahrern und Kriminellen assoziiert und waren sofortiger Kündigungsgrund, wenn nicht gar Verhaftungsgrund.
 

Noch etwas: ich habe natürlich recherchiert, was Schlafzimmereinrichtung, Kleidung, etc. der beiden Herren angeht. Solltet ihr etwas finden, das euch spanisch vorkommt, sagt bitte Bescheid. Gar nicht so einfach, sich mit damaliger Mode vertraut zu machen...
 

Uuuund: vielen lieben Dank für alle Kommis bis hierher! Freu mich stets über mehr. :)

(8)

23.8.1890
 

Bela war niemand, der von selbst aufwachte, wenn es am Vorabend spät geworden war.

So musste Farin ihn beim ersten Sonnenlicht wecken, mit einem kurzen Kuss auf die Nasenspitze und der zärtlichen, aber bestimmten Aufforderung, sich auf den Flur zu schleichen, sich umzuziehen und das Haus für den Tag vorzubereiten, bevor sich jemand wunderte, wo der Valet abgeblieben sein konnte.
 

So löste sich der Dieb widerwillig vom warmen Körper neben sich und fand sich prompt in der kalten Realität wieder.

Den Tag verbrachte er mit unzähligen kleinen und größeren Arbeiten, die ihm ausnahmsweise zusagten, da ihm zum Nachdenken wenig Zeit blieb. Er assistierte Farin beim Ankleiden und Rasieren, wie es sich für einen Valet geziemte, und beide waren froh um die unzähligen kleinen Berührungen, die kurzen gestohlenen Küsse, die die Morgentoilette mit sich brachte. Vor dem Frühstück trennten sie sich, mit dem geflüsterten Versprechen, sich Abends erneut in Farins Schlafzimmer zu treffen. Bela war sich allzu bewusst, dass er mit dem Feuer spielte, und doch konnte er es nicht lassen, strich ein letztes Mal über die frisch glattrasierten Wangen des Blonden, bevor sie beide, mit künstlich entspannten Gesichtern, auf den Flur traten und in verschiedene Richtungen davongingen.
 

Er frühstückte eilig in der Küche, brachte eine kurze Begegnung mit Katharina, die ihn anstrahlte und erklärte, sie hoffe, das wunderbare Wetter würde auch zum morgigen Tag halten, hinter sich und war gerade rechtzeitig an der Tür, um Farin Hut und Mantel zu reichen, ein geheimes Lächeln mit ihm zu tauschen und die ersten Bittsteller des Tages zu empfangen.
 

Am späten Vormittag kam Rod, wie versprochen persönlich, in der Hand eine Hutschachtel, hinter ihm zwei vielleicht zwölfjährige Burschen, die zwischen sich eine hölzerne, mit Eisen beschlagene Kiste trugen.
 

„Guten Tag,“ Rod schüttelte ihm förmlich die Hand, während er sorgfältig die Schachtel in seiner anderen Hand behielt. Mit seinen ordentlich gestutzten Koteletten, dem nicht teuren, aber gepflegten braunen Anzug und anständig gebürstetem Hut hätte ihn niemand für den Verbrecherkönig Hamburgs gehalten.
 

„Juan Santoro mein Name, ich komme im Namen von Meier und Söhnen, Kleidermacher.“

Er deutete auf die Hutschachtel und die Kiste.

Ich bringe Lord Farins Hut, sowie seinen Anzug für Lady Crowleys Hochzeit.“

Bela stellte amüsiert fest, dass der in Deutschland geborene Rodrigo erstmalig mit leicht spanischem Akzent sprach.

„In Ordnung,“ spielte er das Spiel mit, während die Schmetterlinge der Aufregung vor einem Diebstahl, die er so sehr liebte, in seinem Bauch Purzelbäume schlugen. „Kommen Sie bitte herein.“
 

Er führte Rod und seine jugendlichen Träger durch das Haus zum Ankleideraum. Er hatte beschlossen, dass dies der beste Ort war, die Utensilien für seinen Diebstahl zu lagern. Nur Farin, er selbst und Thea, das Hausmädchen, das für die privaten Räumlichkeiten des Lords zuständig war, hatten hier Zutritt. Thea war seit Ankunft der Crowleys so beschäftigt, dass er bezweifelte, dass sie hier am heutigen Tag noch einmal putzen würde, da sie am Vortag bereits alles in Ordnung gebracht hatte, und Farin selbst würde die Kiste und die Hutschachtel nicht bemerken, wenn Bela sie einfach jeweils zwischen die Deckenkisten und die anderen Kopfbedeckungen stellen würde; dafür war der Lord zu selten in diesem Raum und hatte zu viele Kleidungsstücke.
 

„Vielen Dank,“ sagte Rod und drückte den Trägern einige Münzen in die Hand. „Ihr seid tüchtige Burschen. Nun lasst uns bitte allein, ich muss die Rechnung mit Herrn Nestor begleichen.“
 

„Meier und Söhne?“ fragte Bela amüsiert, sobald sie allein waren.

„Ja,“ Rod zog leicht einen Mundwinkel nach oben. „Eine meiner Deckungsfirmen. Völlig legitime Kleidungsmacher. Und sehr effiziente Geldwäscher.“

„Du erstaunst mich immer wieder, Rodrigo. Gibt es irgendeinen Geschäftszweig, in dem du nicht deine Finger hast?“

Rod wollte antworten, doch Bela unterbrach ihn lachend.

„Lass nur, ich will gar keine Antwort darauf, glaube ich. Nun denn, zum Geschäftlichen. Hast du alles dabei?“ fragte er und deutete auf Kiste und Hutschachtel.“

„Natürlich. Vorsichtig mit der Schachtel. Die ist... explosiv, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Völlig. Danke alter Freund.“

„Danke nicht mir – deine Arbeit ist um ein Vielfaches gefährlicher.“

„Dafür bekomme ich ja auch meinen Anteil. 70 Prozent, wie abgemacht?“

„70 Prozent. Ich stehe zu meinem Wort, das weißt du doch.“

„Ein ehrlicher Verbrecher. Wer hätte das gedacht?“

„Lach du nur. Aber es stimmt nun einmal. Du hast die schwierigste Aufgabe, du bekommst den Löwenanteil. Ich bin nur... dein Makler, sozusagen.“

Bela lächelte. „Manchmal frage ich mich, wie du so weit gekommen bist. Du bist viel zu nett.“

Rods Gesichtsausdruck war unlesbar, wie so oft.

„Glaub mir, mit nett habe ich nichts zu tun. Die Leute wissen, dass mein Wort etwas wert ist, deswegen bekomme ich all die guten Aufträge. Obendrein arbeite ich gerne mit dir zusammen – es ist selten, dass ein Dieb ein so zuverlässiger Freund ist wie du.“
 

Bela hätte schwören können, dass Rods Augen ihn prüfend ansahen. Er musste sich das einbilden, beschloss er – es lag alles an seinem schlechten Gewissen. Er würde sich ganz einfach an den Plan halten, dann würde alles gut gehen. Er hatte schon weitaus schwierigere Aufgaben hinter sich gebracht – und der Gedanke an blonde Briten musste hinten an stehen, vorerst zumindest.
 

„Wir sollten gehen,“ sagte Bela schließlich. „Bevor sich Ames fragt, warum ich nicht an der Tür bin und Bittsteller abwimmele.“

„In Ordnung.“

Rod umarmte ihn kurz, Bela beantwortete die Geste. Es stimmte, Rod war nicht nur sein Arbeitgeber, er war ein guter Freund, der beste.

„Viel Erfolg,“ sagte der Chilene. „Wir sehen uns morgen. Wenn alles gut gegangen ist.“

„Natürlich wird alles gut gehen,“ sagte Bela. „Du kennst mich.“
 

- TBC -
 

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Anmerkungen:
 

Zugegeben, ein sehr kurzes Kapitel, aber es wollte einfach nicht länger sein. Im nächsten geht es dann endlich um den Diebstahl selbst. Ob das mal gutgeht?

Zur Geschichtsstunde: diesmal gibt es nicht viel zu erklären. Höchstens, dass braune (oftmals Cord- oder Leinen-)Anzüge und Hüte tatsächlich modisch waren zu jener Zeit. Und Koteletten natürlich auch, je breiter, je besser. Wenn man schon keinen Bart hatte, dann die Dinger.

Farin trägt in dieser Geschichte nur keinen Bart, weil blonde Bärte absolut lächerlich sind - und Bela... sieht einfach doof aus mit Rotzbremse. *lach*

(9)

Zunächst: vielen Dank für all die lieben Kommentare, meine Lieblingsleser.

Dieses Kapitel ist euch gewidmet, die ihr schon so lange mitlest und immer wieder nette Dinge zu dieser FF schreibt.

Viel Spaß mit Belas Diebstahl - und ihr wisst ja, Kommentare sind das Brot des (hust) Künstlers. An diesem Kapitel habe ich wirklich lange gesessen - insgesamt sicher 15 Stunden - also lasst mich wissen, wie es euch gefällt, ja?
 

PS: Englische Sätze mit * sind unten übersetzt.
 

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24. August 1890
 

An diesem Morgen musste Lord Farin Bela nicht wecken.

Wann immer ein großer Arbeitstag anstand, konnte der Dieb sich ohne Fehl auf seine innere Uhr verlassen.

Beim ersten Sonnenstrahl schlug er die Augen auf und war hellwach. Einen Moment lang erlaubte er sich den Luxus, den warmen Arm an seiner Brust zu genießen, dann schob er ihn vorsichtig weg und machte sich bereit, aufzustehen.

Farin grummelte leicht im Schlaf und drehte sich, wachte aber nicht auf. Die Sonne schien durch einen Spalt in den schweren Samt-Gardinen und verwandelte sein Haar in gesponnenes Gold. Bela betrachtete es für einen Moment liebevoll, dann gab er sich selbst einen Ruck und schalt sich einen romantischen Dummkopf dafür, an diesem Tag derartige Gedanken zu hegen. Es ängstigte ihn ein wenig, wie sehr er sich nach zwei Nächten bereits daran gewöhnt hatte, des Nachts bei Jon zu schlafen, seinen leisen Atem zu hören, seine Körperwärme neben sich zu spüren, ihn direkt nach dem Aufwachen zu sehen.
 

Er küsste den Blonden auf die Stirn, dieser murmelte zufrieden ohne aufzuwachen.

Bela sah einen weiteren Moment zärtlich auf ihn herab, dann stand er auf, so lautlos wie möglich.

Er stahl sich über die leeren Korridore in seine kleine Kammer, wo er seine gestern getragene Valet-Uniform mit Freizeitkleidung – ein helles Hemd, darüber ein brauner Sommermantel und passende hellbraune Mütze – tauschte. Anschließend warf er einen Blick auf seine Taschenuhr und trat zufrieden auf den Flur hinaus. Er hatte genügend Zeit, dachte er bei sich, während er das Herren-Ankleidezimmer betrat.

Dort angekommen legte er alles für die Morgentoilette bereit – einen gedeckt schwarzen Anzug, denn das war die Farbe, die Lord Farin in seiner Kleidung bevorzugte; das Rasiermesser, die zugehörigen Handtücher, Rasierseife sowie die Wasserschale, die er mit frischem Brunnenwasser aus dem Garten füllte. Außerdem legte er Kämme bereit – Lord Farins Haare waren stetiger Quell der Verzweiflung ihres Besitzers, jedoch stetiger Quell der Freude für ihn, Bela, der nichts lieber tat, als des Morgens mit der Hand und einem grobflächigen Kamm endlos hindurchzufahren.
 

Als er sich versichert hatte, alle Vorbereitungen für Farins Morgentoilette getroffen zu haben, öffnete er die schwere Kiste, die Rodrigo mitgebracht hatte. Er lächelte angesichts des zusammengeschnürten Päckchens, das darin lag. Ganzález und er hatten schon vor langer Zeit festgestellt, dass auffällige Verkleidungen die beste Wahl waren, wenn man seine Gesichtszüge unauffällig halten wollte. Die heutige Kleidung bildete keine Ausnahme –sie bestand aus einer bunt karierten Anzughose im britischen Stil, dazu ein gestärktes weißes Hemd, eine schwarze Fliege, eine schreiend bunte Weste – inklusive Taschenuhr – und ein weinroter Mantel. Obendrein lagen ein grauer Zylinder, ein Monokel, eine graue, langhaarige Perücke und ein bereits fertig getrimmter, gezwirbelter, grauer Bart zum Ankleben in der Kiste.

„Rodrigo, Rodrigo,“ murmelte er grinsend. „Da soll nochmal jemand behaupten, du hättest keinen Humor...“

Er langte in die Kiste und holte ein kleines, in Papier eingeschlagenes Päckchen hervor. Rod hatte einen Zettel darangesteckt, ‚Schlafpulver’, stand darauf, und: ‚etwa drei Teelöffel für den Wachmann, einer für deine kleine Verlobte. Viel Erfolg, wir sehen uns später, als reiche Männer.’

Unterschrieben hatte er nicht – dafür war Rodrigo viel zu vorsichtig, das wusste Bela.
 

Ein weiterer Griff in die Kiste brachte eine kleine Petroleumflasche zum Vorschein, die er neben sich abstellte. Bela warf einen erneuten Blick auf seine Taschenuhr – kurz nach sechs, spätestens in zwanzig Minuten würde Lord Farin aufwachen und Köchin Mary die Küche betreten. Er schloss umsichtig die Kiste, nicht ohne zuvor das Päckchen mit dem Pulver entnommen zu haben, und machte sich mit Petroleum und Schlafpulver auf den Weg Richtung Küche.
 

Es war ein wahrer Glücksfall, dass der englische Wachmann Harold, der von den Crowleys mitgebracht worden war, bereits seit seiner Ankunft über Zahnschmerzen klagte. Harold hatte schon so gut wie jedes Mitglied des Haushalts mit der unsinnigen Geschichte gequält, dass das rückständige Deutschland, das furchtbare Festland, der Sündenpfuhl Hamburg, ihn krank machten. Somit bestand er auf eigens zubereitetem Essen. Zum Frühstück umfasste sein Menü Grütze, oder porridge, wie Harold selbst die Getreidekost, die man nicht zu kauen brauchte, nannte. Obwohl diverse Briten das Haus bevölkerten – zur Zeit mehr denn je – teilte niemand sonst seine Vorliebe für porridge und es wurde ausführlich über den zähen Schleim gewitzelt und gelästert. So konnte Bela ohne weiteres einen von Lord Farins geliebten Teelöffeln dazu benutzen, drei kleine Häufchen Schlafpulver unter Marys bereits gestern angesetzten Haferschleim zu rühren, ohne Angst haben zu müssen, er könnte versehentlich das falsche Opfer erwischen.

Anschließend legte er alles an seinen Platz zurück, deponierte die Petroleumflasche in einer selten genutzten Suppenterrine in einem der Esszimmerschränke, holte einen geflochtenen Weidenkorb aus der Speisekammer und begann pfeifend, einige von ihm bereits vor einigen Tagen gekaufte und von Mary liebevoll zubereitete Lebensmittel, sowie eine Flasche Wein für sein und Katharinas Picknick hinein zu packen.
 

Mitten in seinen Vorbereitungen betrat Mary die Küche, wünschte einen guten Morgen und fragte ihn freundlich in ihrem, mit stark englischem Akzent durchsetzten deutsch, was er denn für die liebe kleine Katharina geplant habe.

Bela, der Mary ob ihrer Gemütlichkeit und ihrer stets guten Laune mochte, legte lächelnd einen Finger auf die Lippen.

„It’s a surprise,“ sagte er, wohl wissend, dass Mary sich immer freute, wenn er versuchte, englisch mit ihr zu sprechen, egal wie schlecht seine Aussprache sein mochte.

„Ich verstehe,“ lachte sie. „Habt Spaß, you young people, solange ihr könnt.“

„Wir geben uns Mühe.“ Bela schenkte ihr ein weiteres Lächeln, wünschte einen schönen Tag und verließ, von ihr mit einem Frühstückstablett für sich und Katharina ausgestattet, den Korb baumelnd an seinem rechten Arm, die Küche.
 

Er warf einen weiteren Blick auf seine Taschenuhr. Kurz vor sieben. Er war zu spät zu Farins Morgentoilette, allerdings war heute sein freier Tag und er wusste sehr wohl, dass Jon sich auch ohne ihn ankleiden und rasieren konnte.

Dennoch, der Blonde fehlte ihm, und so traf er die erste irrationale Entscheidung des Tages. Tablett noch in der Hand, Korb noch am Arm, machte er sich auf den Weg in den ersten Stock und klopfte, so gut es eben ging, an die Tür des Ankleidezimmers.
 

„Herein,“ ertönte Jons Stimme.

„Das geht nicht,“ lachte Bela. „Ich komme nicht herein, hab die Hände voll. Kannst du mir öffnen?“

Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür und Farin stand in Hemdsärmeln und seiner favorisierten Seidenunterwäsche vor ihm.

„Nanu, breakfast?“ fragte er, während er die Tür sorgfältig hinter ihnen beiden verschloss und Bela mit in die Höhe gezogener Augenbraue dabei zusah, wie er Tablett und Korb abstellte.

„Guten Morgen,“ der Dunkelhaarige legte seine Arme um den Blonden und küsste ihn, kurz aber verlangend. „Ich muss dich leider enttäuschen. Das ist nicht für dich...“

Farin lächelte ihn an, strich seine schwarzen Haare zurück, stupste kurz Belas Nase mit seiner eigenen an. „Für wen dann?“

Bela schluckte kurz. „Für Katharina. Ich habe ihr versprochen, dass wir den Tag zusammen verbringen.“

Farins Gesichtszüge verhärteten sich. „Your finacé. Ich verstehe,“ sagte er tonlos.
 

„Jon...,“ Bela nahm flehend seine Hand, hasste es, dass er schon wieder Dinge verschweigen, die Wahrheit verdrehen musste. „Ich muss sie weiterhin sehen, tun, als hätte sich nichts verändert... verstehst du das? Nicht für mich. Für dich.“

Der Blonde seufzte. „Ich verstehe es. Aber es tut weh.“ Zärtlich strich er mit seinen Händen über Belas Wangen, hielt seinen Kopf fest. „Ich will dich nicht teilen müssen.“

Bela lächelte, legte seine Stirn an Farins. „Du musst mich nicht teilen. Ich gehöre dir. Katharina ist jung und naiv, sie ist schon zufrieden, wenn ich ihre Hand halte und freundlich zu ihr bin.“ Er nahm Jons Hand, küsste sie. „Siehst du das nicht? Wenn ich deine Hand halte, bedeutet das unendlich viel mehr.“

Farin seufzte, entzog ihm seine Hand, drehte sich um und zog seine von Bela bereitgelegte schwarze Hose an. „Lass uns nicht mehr über sie reden. It kills my appetite for any breakfast whatsoever.“

Er trat wieder vor Bela, die Augen entschuldigend, strich mit seinem Gesicht an dem des Diebes entlang. Ihre beiden unrasierten Wangen erzeugten ein kratzendes Geräusch aneinander, die kurzen Härchen kitzelten an Belas Haut.
 

„Rasierst du mich?“ fragte Farin.

„Natürlich,“ sagte Bela, geleitete ihn zum Stuhl, knöpfte sein Hemd auf, konnte es nicht lassen, hineinzufassen, kurz an einer Brustwarze entlangzufahren. Jon seufzte wohlig, hielt seine Hand dann aber fest. „Nicht hier,“ sagte er. So gerne ich würde, aber es ist zu gefährlich. Someone could hear, or come in, at any time.“

Bela seufzte und nickte. „Du hast Recht.“

Er schwieg eine Weile, während er Jons Gesicht und Hals einseifte, dann lachte er leise.
 

„Was ist denn so witzig?“

„Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, ob mehr Valets sich in ihre Arbeitgeber...“ er stockte. Das konnte er nicht sagen. Wollte er nicht sagen. „Mit ihren Arbeitgebern etwas anfangen,“ korrigierte er sich. „Schließlich gibt es kaum einen sinnlicheren Akt als die tägliche Rasur.“

„Findest du?“ Farins Augen sahen skeptisch zu ihm hoch, ohne dass er den Kopf bewegte.

„Natürlich,“ Bela wetzte das Messer und begann sehr vorsichtig damit, an Farins empfindlicher Haut enlangzukratzen. „Denk doch mal darüber nach.“

Er zog mit dem Messer eine schmale Spur über Jons Hals und Kinn, entfernte die weiße Seife, sowie die feinen Stoppeln. „Du begibst dich ganz und gar in meine Hände...“ Er spülte das Rasiermesser im bereitstehenden Wasserbecken und begann, eine neue Spur im weiß auf Jons Gesicht zu ziehen. „...Musst mir voll und ganz vertrauen. Während ich mit einem tödlichen, und daher um so sinnlicheren Gegenstand an deiner verletzlichsten Stelle, dem Hals, entlangfahre.“

Jon wartete, bis Bela das Messer wieder von seiner Haut nahm, dann lachte er.

„So gesehen... you are right.“ Er zog Belas Kopf zu sich hinab, küsste ihn, auf die Wange, die Nase, den Mund, und hinterließ überall weiße Abdrücke in seinem Gesicht. „So fahre denn fort mit dem sinnlichen Akt. Ich bin ganz und gar bei der Sache...“

Bela lachte mit und wischte sich mit dem für Jon bereitliegenden Tuch den weißen Schaum aus dem Gesicht.

„Wie soll man dich denn rasieren, wenn du nur Flausen im Kopf hast?“

„Alles deine Schuld. You started it!“

„Nein!“

„Doch!“

„Nein!“

„Come on, mach schon weiter!“

„Na schön.“
 

Gestohlene Minuten mit Jon am frühen Morgen, Bela war jetzt bereits süchtig nach ihnen, dabei war er nie ein Morgenmensch gewesen.

Nachdem er Farin fertig rasiert hatte, bestand der darauf, nun seinerseits Bela zu rasieren. Nach einigem hin und her stimmte der Dieb zu und war nach zehn Minuten, in denen Farin konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Lippen, mit dem Rasiermesser hantierte, tatsächlich glattrasiert, mit nur einem nennenswerten kleinen Schnitt am Hals. Es hörte jedoch fast sofort auf zu bluten, und Farin küsste ihn dort, entschuldigte sich so oft, dass Bela ihm nicht böse sein konnte, sondern an Ort und Stelle über ihn herfallen, sein eigenes Blut an Jons Lippen schmecken wollte. Er hatte nicht gelogen, das Spiel mit den Schmerzen hatte schon immer etwas Sinnliches für ihn gehabt, und Farin war die erste und einzige Person in seinem Leben, die er jemals mit einem scharfen Messer so nahe an sich herangelassen hatte. Der Gedanke daran, dass er Farin ganz und gar vertraute – und dass er wollte, dass er ihm eines Tages Schmerzen zufügen würde; süße Lust verbunden mit scharfem Schmerz, erregte ihn ungemein. Er ärgerte sich über sich selbst, verdrängte den Gedanken tief in sein Unterbewusstes.
 

Dann mussten sich ihre Wege erneut trennen. Farin war bereits eine Viertelstunde zu spät in seiner täglichen Routine – für ihn, das Gewohnheitstier, unverschämt viel. Bela derweil musste an seinen Zeitplan denken. Auf einmal waren sie wieder da, die Gedanken an den bevorstehenden Diebstahl, und sofort war er wieder hellwach und hochkonzentriert.
 

„Bis heute Abend,“ Farin strahlte und küsste ihn kurz. „Ich freue mich auf dich. Morgen ist diese vermaledeite Hochzeit,... afterwards... maybe... we’ll have more time for each other.“

Tief im Innern verfluchte Bela die gemeine, von ihm selbst herbeigeführte Realität. Morgen würde nichts im Haushalt des Botschafters mehr so sein wie es war, aber das konnte er nicht aussprechen. Stattdessen lächelte er, bewunderte Jons wunderschöne Gesichtszüge, wenn er glücklich lächelte, und hoffte aus tiefstem Herzen, dass er ihn nicht mit seinen Handlungen ins Unglück stürzen würde.

„Maybe,“ wiederholte Bela Farins Worte, und küsste ihn zurück, vertiefte den Kuss, genoss das Gefühl von Jons Zunge, die trotz zahlreicher Erkundungstouren in den letzten Tagen nichts von ihrer Neugier eingebüßt zu haben schien, an seinen Lippen, seiner eigenen Zunge, seinen Zähnen.

Schließlich trennten sie sich, sahen sich atemlos in die Augen.

„Bis heute Abend,“ sagte Bela.

„Ja... Have a nice day, Bela.“

Bela wollte ihn nicht loslassen, nie mehr, aber tat es trotzdem. Manchmal konnte man einfach nicht anders.
 

Es war zehn vor acht. Bela wartete, bis Jon in die Bibliothek gegangen war, um dort, bei der morgendlichen Tageszeitung, zu frühstücken, dann nahm er seine Taschenuhr und stellte sie eine Stunde vor, zehn vor neun. Gelassen räumte er Rasiermesser, Handtuch, Kämme und herumliegende Kleidung weg, stellte einen Korb mit schmutziger Wäsche auf den Korridor, wo ihn Hausmädchen Thea später abholen würde. Anschließend ergriff er, mit einem letzten prüfenden Blick, der ihm bestätigte, dass der Raum zufrieden stellend aufgeräumt war, den Korb und das Tablett und machte sich auf den Weg zu Katharinas Dienstbotenzimmer, zwei Stockwerke weiter oben, unter dem Dach des Botschafterwohnsitzes.
 

Er klopfte an, ein schläfriges „Moment,“ und Katharina, die ihm nach einer halben Minute verschlafen blinzelnd im Morgenmantel die Tür öffnete, überzeugten ihn davon, dass sie noch geschlafen hatte. Das konnte ihm nur Recht sein – heimlich hatte er damit gerechnet.

„Guten Morgen, Siebenschläfer,“ lächelte er ihr zu und küsste sie kurz auf die Wange.

„Ohje, wie spät ist es?“ fragte sie, bevor sie ihn ebenfalls auf die Wange küsste und herein bat.

„Kurz vor neun.“

Sie erschrak sichtlich und setzte sich auf ihr Bett. „Wirklich? Herrje, so lange habe ich schon lange nicht geschlafen.“

„Das macht doch nichts, heute ist dein freier Tag. Da darfst du ausschlafen so lange du möchtest.“

Er setzte sich neben sie und deutete auf das Tablett. „Ich habe dir Frühstück mitgebracht.“

Katharina strahlte ihn an, ein kindliches Lächeln inmitten der zu früh ihr Gesicht zeichnenden Sorgenfalten, und nicht zum ersten Mal wurde Bela klar, wie jung sie eigentlich war. Siebzehn, das galt als erwachsen, aber im Moment spürte er die zehn Jahre und die vielen sorgenlosen Zeiten, die er ihr voraus hatte, wie eine erdrückende Last der Schuld auf seinen Schultern. Immerhin, versuchte er sich zu beruhigen, er würde sie am heutigen Tage mit aus der Stadt nehmen, somit würde sie zumindest nicht verdächtigt werden, den Diamanten gestohlen zu haben. Genauso wenig wie er selbst.
 

Während er sich aufmachte, die schlichte, aber geschmackvolle Leinengardine zu öffnen, die ihr Dachfenster des Nachts verdunkelte, begann Katharina, neugierig die Schutzdeckel von den verschiedenen Speisen zu heben, die er ihr mitgebracht hatte.

„Oh, Pfannkuchen. Und Himbeeren,“ rief sie aus. „Die sind doch viel zu teuer! Wo hast du die denn her?“

‚Ein weiteres kleines Geschenk von Rodrigo, dachte er, laut sagte er jedoch, während er sich wieder neben sie setzte und ihre Hand nahm: „Das, meine Liebe, wird nicht verraten. Ich hoffe, du erweist mir die Ehre, mit mir zu frühstücken?“

„Natürlich,“ kicherte sie und küsste seine Wange. „Du bist zu gut zu mir. Warum machst du das nur?“

„Weil du es wert bist,“ sagte Bela, und begann, ihr einen Frühstücksteller zusammenzustellen.
 

Eine Stunde später führte Bela Katharina, die sich ein hübsches blaues Kleid angezogen hatte, während der Dieb auf dem Korridor auf sie gewartet hatte, galant die Dienstbotentreppen des großen Botschafterhauses hinunter. Es war ein strahlender Sommertag, einer dieser in Hamburg so seltenen, und daher um so kostbareren Tage, an denen ein azurblauer Himmel die Stadt überkuppelte und die unbarmherzige Hitze der Sonne vom leichten Seewind genau richtig heruntergekühlt wurde. Sie warteten auf eine Droschke, die nach einigen Minuten kam, gelenkt von Samuel, einem von Rodrigos Jungs für alles. Katharina derweil gab sich angemessen beeindruckt von der Mühe, die Bela sich – vermeintlich – nur für sie gemacht hatte. Die Fahrt verlief zügig, zunächst vorbei an opulenten Prunkbauten, wenig später an einfacheren Bürgerhäusern, dann durch die Vorstädte, erneut vorbei an reichen Villengegenden. Katharina, die nicht oft in Fahrzeugen saß, schien sich wie eine Königin zu fühlen, zeigte hierhin und dorthin, plapperte endlos und schien mit seinen einsilbig zustimmenden Antworten zufrieden zu sein.

Nach einer etwa halbstündigen Fahrt erreichten sie ihren Bestimmungsort. Bela bedeutete Katharina, nachdem er einige geflüsterte Worte mit dem Kutscher gewechselt hatte, aus der Kutsche zu steigen. Er bot ihr seinen Arm an und führte sie eine leicht abschüssige Wiese hinab, zwischen einigen Bäumen entlang, hin zu einem kleinen Sandstrand an der Alster, versteckt zwischen alten Trauerweiden. Sie befanden sich im Niemandsland zwischen den in den letzten Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden schießenden Prachtbauten Eppendorfs. Das Gelände war unbebaut, die Chance entdeckt und verjagt zu werden, minimal.

Bela liebte diesen kleinen Strand, die Ruhe, die er ausstrahlte; ein kleines Stückchen Paradies mitten zwischen den absurd teuren Villen der Reichen und Schönen, die er so gerne bestahl. Ein wenig hatte er das Gefühl, ihnen auch diesen Ort gestohlen zu haben, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hatten – vielleicht liebte er ihn deshalb so sehr.

Er starrte eine Weile über das Wasser, an den alten Bäumen entlang, die das Ufer säumten, tief in Gedanken versunken.
 

„Dirk,“ sagte Katharina schließlich. „Das ist wunderschön.“

Er zwang sich, sie anzusehen, anzulächeln, während er nicht verhindern konnte, dass seine Gedanken zum wiederholten Male an diesem Tage zu Lord Farin, schweiften. Jon war es, der mit ihm diesen Ort teilen sollte, fernab von Diebstählen und Lügengebilden, die weder Jon, noch Katharina, noch ihm selbst gegenüber gerecht waren. Zum ersten Mal in seinem Leben begann er fast, seinen Beruf zu hassen.

Dann dachte er an die Crowleys; reiche, unhöfliche Lords, die sich etwas Besseres fühlten. Sie hatten es nicht verdient, ein solch ausschweifendes Leben zu führen, während auf den Straßen Hamburgs die Kinder hungerten. Nicht, dass er selbst allzu viel Mitleid mit diesen Kindern spürte – meist ging er an ihnen vorbei, nur manchmal, wenn er besonders gute Laune hatte, ließ er eine Münze oder etwas zu essen in ihre ausgestreckten Händchen fallen. Dennoch manchmal, im Winter, blutete sein Herz, wenn er die ausgezehrten spitzen Gesichtchen, die verlumpte Kleidung sah, während die Kutschen der Reichen an ihnen vorbeidonnerten, ihnen den Schneematsch entgegen spritzten.
 

Anders als Jon, von dem Bela wusste, dass er regelmäßig Geld an die Kirche spendete, obwohl er an Gott noch Teufel glaubte, wie er zu sagen pflegte, nur an das Gute im Menschen, gehörten die Crowleys zu diesem Menschenschlag, den er zutiefst verabscheute. Sie scheinen der Meinung ihnen gehöre die Welt – was vermutlich sogar stimmte und seinen Hass nur verstärkte.

Gestern erst hatte Lord Crowley Susanne, dem Hausmädchen, eine Backpfeife verpasst, als sie seine Stiefel nach seiner Meinung nicht sauber genug geputzt hatte. Nein, dachte er, Lord und Lady Crowley verdienten es, bestohlen zu werden, zutiefst in ihrem Stolz verletzt zu werden.

Natürlich würde er das Geld, das er mit dem gestohlenen Diamanten verdiente, nicht den Straßenkindern geben – solche Träumereien von der Rettung der Welt überließ er Jon. Aber vielleicht, so dachte er, könnte er das im Bau befindliche Krankenhaus hier in Eppendorf finanziell unterstützen, zumindest ein bisschen. So würde der Diamant, an dem so viel Blut klebte – er wusste von drei wegen ihm begangenen und fünf versuchten Morden -, doch ein wenig zur Rettung von Menschenleben beitragen.
 

Sofort schalt er sich einen Narren. Jon machte ihn weich, dachte er, das konnte nicht gut sein.

Es war Zeit, sich an seinen Plan zu halten – und das Fell des Bären nicht zu verkaufen, bevor er ihn erlegt hatte.
 

Er öffnete den Weidenkorb, nahm eine Decke heraus und breitete sie auf dem kleinen Sandstrand aus.

„Ich freue mich, dass es dir gefällt,“ sagte er endlich zu Katharina und deutete auf die Decke. „Setz dich doch. Ich habe Wein mitgebracht, möchtest du einen Schluck?“

Sie küsste ihn kurz auf den Mundwinkel, er musste schlucken, dachte an Jons Lippen auf seinen, so viel bestimmter, härter, schöner. Zum Glück beließ sie es bei dem kurzen Kuss und setzte sich.

„Gern,“ antwortete sie auf seine Frage, drehte sich ein Stück, so dass sie einen besseren Blick über die träge dahinfließende Alster hatte.

Er nutzte seine schnellen Finger und die Tatsache, dass sie weg sah, dazu, ihr ein Glas Wein einzuschenken, die von Rodrigo empfohlene Menge Schlafpulver hineingleiten zu lassen und sich selbst ebenfalls ein Glas zu füllen.

Dann setzte er sich neben sich, reichte ihr das präparierte Glas.
 

„Auf uns, mein Schatz,“ sagte er, und stieß mit ihr an.

Sie kicherte leicht. „Darauf trinke ich gern,“ sagte sie und sah ihm in die Augen.

„Danke. Für diesen Tag. Er ist wunderschön... Ich habe nicht so viele wunderschöne Tage, weißt du?“

Bela nickte schwach und nahm sich vor, ihr tatsächlich einen schönen Tag zu bereiten, sobald sie wieder wach sein würde.
 

Nach zehn Minuten sagte sie, sie sei müde, sie verstehe nicht warum, schließlich habe sie bereits so lange geschlafen und entschuldigte sich für ihr anhaltendes Gähnen. Er bot ihr an, sich hinzulegen, und so lagen sie eine Weile nebeneinander auf dem Rücken, betrachteten eine verirrte weiße Schäfchenwolke am blauen Himmel, ein paar über ihnen kreisende Möwen, die Zweige der Trauerweiden, die sich über ihnen leicht im Wind bogen. Schließlich hörte er neben sich ihren regelmäßigen Atem und hoffte nur, dass Rodrigo mit der Dosierung Recht gehabt hatte.

Er stand auf und klatschte laut in die Hände, um die Festigkeit ihres Schlafes zu testen. Sie reagierte nicht. Gut. Er ließ seinen Sommermantel neben ihr auf der Decke liegen und schaute auf seine Taschenuhr – zwanzig vor zwölf, zeigte sie an, also war es zwanzig vor elf.
 

Eilig machte er sich auf zur wartenden Kutsche, ab sofort tickte die Uhr. Jeder Schritt, den er jetzt machte, wollte gut durchdacht sein. Samuel, der dunkelhaarige Kutscher, wusste Bescheid; in fliegender Fahrt ging es durch die Straßen Hamburgs, bis sie zwei Straßen vom Botschafterwohnsitz entfernt waren. Bela streifte seine Weste und die Mütze ab, er brauchte nun alle Bewegungsfreiheit, die er bekommen konnte, stieg aus und hörte, wie Samuel hinter ihm die Droschke wendete – er würde sie gegen eine geschlossene Kutsche tauschen und vor dem Botschafterwohnsitz auf ihn warten.
 

Bela eilte durch die ausladenden Gärten und Parks des Binnenalter-Viertels zum Haus des Botschafters. Mit seinem eigenen Schlüssel schloss er die kleine Gartenpforte in der hohen Gartenmauer auf, huschte hinter einen Baum, um erst einmal die Lage zu peilen.

Er hatte Glück, konnte sehen, wie Heinrich, einer der Gärtner, gerade um die Ecke des Hauses bog. Der Weg war frei zur offen stehenden Terrassentür des Teezimmers, das um diese Zeit; es war mittlerweile etwa zwanzig nach elf, leer sein würde, wusste er. Eine Minute später war er im Inneren des Hauses, er war völlig ruhig, von einer Energie durchflutet, die er nur beim Stehlen spürte. All seine Sinne schienen geschärft. Er konnte die Politur riechen, mit der gestern noch das Parkett des Teezimmers gebohnert worden sah, er hörte Heinrich hinter dem Haus pfeifen, sah mit einem Augenaufschlag durch die offene Tür, dass er freie Bahn hatte.

Lautlos lief er durch den Flur, gerade schnell genug, dass jemand, der ihn nur aus dem Augenwinkel sah, ihn nicht sofort als verdächtig empfinden würde. Eine Tür weiter lag er sein Bestimmungsort, das Esszimmer; getäfelt und möbliert mit Kirschholz. Trockenem Kirschholz.
 

Er öffnete eine der bauchigen Kommoden, holte die Petroleumflasche, aus ihrer Suppenterrine, hervor und begann, den Esstisch und die Stühle großzügig mit dem flüssigen Brennstoff zu bedecken. Er hatte kein schlechtes Gewissen dabei, wusste er doch, dass Jon die pompöse Einrichtung in diesem Raum hasste.

Es kam ihm zu Gute, dass der Raum drei Ausgänge hatte – einen zur Küche, einen zum Hauptkorridor und einen zu jenem Flur, der zum Treppenaufgang des Herrenflügels führte. Das meiste Personal war um diese Zeit des Tages in Küche und Wohnraum beschäftigt, würde also durch jenen Eingang herbeigeeilt kommen, durch den er gerade selbst den Raum betreten hatte – oder aber durch die Tür zur Küche, hinter der er Mary singen hörte. Die erste Hürde war genommen, dachte er fröhlich, während er ein Schwefelholz mit seinem Daumennagel anschnickte und es auf den Esszimmertisch fallen ließ.

Hinter ihm loderten die Flammen auf, während er in aller Ruhe die Tür hinter sich schloss und anschließend etwas eiliger die Treppe zu Lord Farins persönlichen Räumen hinaufhuschte.
 

Er betrat das Ankleidezimmer, schloss die Tür hinter sich, lauschte grinsend den gedämpften „Feuer“-Rufen, die von unten zu ihm heraufdrangen. Alles Personal würde sich nun auf das Esszimmer konzentrieren, wusste er, und weder Lord Farin selbst, noch Lord und Lady Crowley befanden sich im Haus. Er war in Sicherheit, relativ zumindest. Nun musste er nur noch den Diamanten stehlen.

Entspannt öffnete er Rodrigos Kiste. Er beschloss, sein eigenes Hemd an zu lassen und zog schnell die lächerliche karierte Hose, die absurd prunkhafte Weste und den pflaumenfarbenen Frack über seine eigene Kleidung. Die Fliege band er vor Jons Spiegel und unterdrückte jeglichen Gedanken daran, wie sich seine Beziehung zum jungen Lord ab dem kommenden Abend verändert haben würde.
 

Umsichtig klebte der Dieb den grauen, gezwirbelten Bart mit Hilfe von ebenfalls von Rod bereitgestelltem Fischleim an seine Oberlippe. Nein, stellte er mit einem Blick in den Spiegel fest, der Bart und er würden keine Freunde werden. Er sah furchtbar albern aus, wie eine Mischung aus Kaiser und Caprivi, aber immerhin; völlig anders als zuvor, und das war ja sein Ziel. Schließlich setzte er die graue Perücke auf und steckte das Monokol in die Westentasche. Den Zylinder, eindeutig den besten Part der Verkleidung, wie er fand, setzte er auf und überlegte bereits, ob er Rod fragen sollte, ob er ihn behalten durfte, als Andenken an den heutigen Tag sozusagen. Ein letzter Blick in den Spiegel – perfekt, er war kaum wiederzuerkennen, sah aus wie ein alter Mann mit etwas schrulligem, flamboyantem Geschmack für Kleidung.

Er öffnete den Kleiderschrank und nahm Rodrigos Hutschachtel – fast hätte er sie mit Lord Farins eigener Hutschachtel für seine schwarze Melone verwechselt, er lachte leise – aus dem Schrank. Auf geht es, dachte er, völlig ruhig.
 

Der Korridor, der in den von Lord und Lady Crowley bewohnten Ostflügel führte, war menschenleer, ebenso die Treppe hinab in die ebenerdige Etage, wo sich die privaten Räume der prätentiösen Adligen befanden. Außer Harold, dem Wachmann, hatten sie nur ein einziges Hausmädchen aus England mitgebracht, und dieses war, wie er wusste, mit den hohen Herrschaften bei ihrer Tochter, um den praktischen Teil der Hochzeitsvorbereitungen zu übernehmen. Alle anderen Bediensteten waren Deutsche, von Lord Farin auf seine eigenen Kosten bereitgestellt und nur morgens und abends, wenn die Crowleys selbst zugegen waren, im Haus.

So betrat er denn ungehindert, mit Hilfe des von Rod besorgten Schlüssels, Lady Crowleys Ankleidezimmer, in dem der schmale, eigens aus London importierte Safe von John Tann & Co. stand. Davor lag Harold auf dem Boden, laut schnarchend und mit offenem Mund. Bela lachte leise in sich hinein, stellte die Hutschachtel ab und begann, Harold in das nebenan liegende Schlafzimmer zu schleifen. Der schnarchende Engländer war hochgewachsen, muskulös und dementsprechend schwer, Belas Rücken begann schon nach einem halben Meter zu schmerzen, aber der Gedanke an das „Feuer Eos“ ließ alle Schmerzen schnell abklingen.
 

Schließlich hatte Bela Harold im sicheren Abstand vom Safe geparkt, ohne dass er aufgewacht wäre. Routiniert durchsuchte er den Wachmann, vielleicht waren die Crowleys ja dumm genug gewesen, ihm den Schlüssel zu geben, doch fand er, wenig überraschend, nichts. Er öffnete vorsichtig die Hutschachtel, entnahm ihr einen Strick und band den schnarchenden Wachmann an Händen und Füßen. Dann, noch vorsichtiger, entnahm er der Hutschachtel zwei Stäbe Dynamit.

Weiß der Geier, wo Rod das wieder aufgetrieben hat, dachte er, aber eigentlich interessierte es ihn nicht, solange der Sprengstoff so funktionierte, wie González es versprochen hatte. Fachmännisch brachte er die Stäbe an der Tresortür an, einen an der Scharnierseite, einen vor dem Schloss. Er verband sie mit einem dünnen Draht und rollte die Lunte aus, auf den Flur und in den Schutz der dicken Steinmauern.

„Drei, zwei, eins,“ zählte er leise, dann leitete er die Sprenung ein.
 

Mit einem riesigen Krachen flog die Tresortür aus den Angeln. Als er nach der Explosion das Ankleidezimmer der Crowleys betrat, war es nicht wiederzuerkennen. Er hatte nicht nur die Safetür an die gegenüberfliegende Wand gesprengt, auch die Kommode und der Kleiderschrank schienen in ihre Bestandteile zerlegt, während die Luft dicht vom Staub und Rauch war.

Gelassen trat Bela an den Tresor, stellte mit einem Blick fest, dass er eine beachtliche Menge Bargeld zu Asche reduziert hatte. Nun, dachte er, das geschieht der dicken Lady und ihrem lächerlichen Lord nur Recht, und schob den qualmenden Aschehaufen zur Seite, auf der Suche nach dem Diamanten.
 

Dort lag er, auf dem Fußboden, die Wucht der Explosion hatte ihn aus dem Safe geschleudert. Das zugehörige Collier war völlig verbogen, aber das interessierte Bela nicht – kleine Fische, diese funkelnden Steinchen, Perlen und das verbogene Gold. Mit einer kleinen Zange befreite er den eingeaschten, aber ansonsten natürlich unbeschädigten Diamanten von seiner Fassung und ließ ihn nonchalant in die Westentasche gleiten. Mit seinem Schlüssel schloss er die nur leicht beschädigte Tür zum Ankleidezimmer ab – ein kleines Hindernis für die Hausangestellten und wandte sich um. Es war höchste Zeit, dass er ging, wusste er, und doch konnte er es nicht lassen, das Monokel in sein Auge zu klemmen, kurz in das Schlafzimmer der Crowleys zu treten, und dem mittlerweile aufgewachten, wütend gegen seine Fesseln ankämpfenden Harold mit einer angebeuteten Verbeugung und einem Augenzwinkern seinen Dank für die reiche Beute auszusprechen. Mit dem heiseren Flüstern eines alten Mannes selbstverständlich; Bela beherrschte die Schauspielkunst von Kindsbeinen an und fühlte sich in vielen seiner Rollen ähnlich zuhause wie in seinem wirklichen Selbst.
 

Voilá. Er war gesehen worden – als alter Mann in Kleidung, die sicherlich viel besser beschreibbar sein würde als sein Gesicht. Er drehte sich um und lief den Korridor hinab, ohne den lauten, erschrockenen Stimmen, die sich eilig näherten, Beachtung zu schenken. Mit fliegenden Rockschößen eilte er die Treppe hinab, öffnete die Bedienstetentür, hörte schnelle Schritte, die ihn verfolgten und beschloss, ihnen seinen geliebten Zylinder dazulassen. Er lüpfte ihn im Laufen, warf ihn ihnen vor die Füße, ohne sich umzudrehen, und rannte die Auffahrt herunter. Samuel, der Kutscher, eingemummelt in einen schwarzen Schal, um nicht erkannt zu werden, sah ihn kommen, das Kutschenportier wurde von innen geöffnet, Bela warf sich hinein und schon fuhren sie, so schnell das Gespann sie ziehen konnte.
 

Der Dieb lag auf dem Boden der Kutsche und lachte.

„Das war einfach,“ japste er zu Rod, der ihm ein Glas Wein entgegenhielt.

„Hast du ihn?“ fragte der Chilene nur, während Bela sich endlich auf die Bank der mittlerweile langsam fahrenden Kutsche – das hieß wohl, dass sie entkommen waren – sinken ließ, das Glas Wein entgegennahm und es gierig leerte.

„Natürlich,“ sagte er, sein Atem wieder ruhig und gleichmäßig. „Was denkst du von mir?“

„Sehr gut.“ Rodrigo umarmte ihn kurz, holte ein weiteres Glas hervor und stieß mit ihm an. „Ich bin stolz auf dich.“

„Das darfst du sein.“ Bela lachte selbstbewusst und holte den Diamanten aus der Tasche seiner über die Maßen albernen Westentasche. „Da ist er, das Feuer Eos.“

Rodrigo holte sein Taschentuch hervor, spuckte darauf, und begann, den wertvollen Diamanten von Staub und Asche zu befreien. Als er dies zu seiner Zufriedenheit getan hatte, hielt er den tropfenförmig geschliffenen Diamanten ins Sonnenlicht. Er funkelte golden, mit einem leicht rötlichen Schimmer.
 

„Das Feuer der Morgenröte,“ murmelte Rodrigo, der schon immer ein Auge für schöne Dinge gehabt hatte. „Mögest du uns Reichtum und Glück bringen.“

„Ja,“ erwiderte Bela. „Ich hoffe nur, dein Käufer bleibt dabei, dass er ihn haben möchte. Ich sehe nicht, was an dem Ding so besonders sein soll.“

Rod lachte kurz. „Das mag ich so an dir, Bela. Ein nüchterner, norddeutscher Dieb.“

Er deutete auf Belas auffälliges Kostüm. „Nun denn, du solltest dich wieder umziehen, Katharina will dich so bestimmt nicht sehen. Obwohl ich sagen muss, dass es dir steht...“

„Lach du nur,“ sagte Bela, während er sich aus den grellen Kleidungsstücken schälte. „Ich sehe immer gut aus, das weißt du doch,“ sagte er mit einem Zwinkern und zog seine eigene Weste wieder über. Die Kutsche hielt, Samuel sprang vom Kutschbock und öffnete die Tür.

„Wir sind da,“ sagte er kurz.

Bela warf einen Blick auf seine Taschenuhr – zehn nach eins, zeigte sie; er stellte sie zurück auf die tatsächliche Tageszeit, zehn nach zwölf. Genau richtig, um sein Picknick mit Katharina fortzusetzen.

„Danke Samuel,“ sagte Rod. Er reichte Bela einen ungeschickt zusammengestellten Strauss frisch gepflückt aussehender Wiesenblumen.

„Hier, falls sie aufgewacht ist und fragt, wo du warst.“

„Du denkst wirklich an alles, oder?“ fragte Bela und nahm die Blumen.

„Ja,“ erwiderte Rod trocken, und Bela lachte.

„Also denn, wir sehen uns in ein paar Tagen, Rodrigo, wenn alle Aufregung ein bisschen abgekühlt ist.“

„Ja,“ lächelte der Chilene. „Ich halte deinen Anteil bereit. Und eine Flasche guten Brandy.“

„Ich freue mich darauf.“ Sie tauschten einen Händedruck und eine erneute kurze Umarmung.

„Es ist mir stets eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen,“ sagte Rod durch das offene Fenster, während er die Kutschentür hinter Bela zuzog.

„Und mir erst,“ erwiderte Bela und winkte.

„Denk daran, mich und Katharina in etwa drei Stunden mit der Droschke abzuholen, Samuel.“

„Natürlich,“ erwiderte der Kutscher. „Bis nachher.“
 

Bela wandte sich um und lauschte er Kutsche, die sich langsam entfernte. Er grinste seinem kleinen Strand entgegen – ja, es war ein erfolgreicher Tag. Da konnte er sich auch noch ein paar Stunden um die kleine Katharina kümmern.

Sie lag nach wie vor so auf der Decke, wie er sie zurückgelassen hatte. Er küsste sie vorsichtig auf die Wange und hielt ihr den kleinen Strauss Wiesenblumen vor die Nase, als sie aufwachte.
 

„Oh,“ fragte sie verwirrt, „habe ich geschlafen?“

„Ja, aber das macht nichts. Nur eine halbe Stunde lang. Ich habe die Zeit genutzt und dir ein paar Blumen gepflückt,“ sagte Bela, sein schlechtes Gewissen lang vergessen, ob der Euphorie, die nach wie vor tief in ihm tobte. Er könnte fast an Ort und Stelle mit ihr schlafen. Fast. Nur der Gedanke an Jon hielt ihn ab.

Sie richtete sich verwirrt auf und er reichte ihr ein Glas Wein. „Hier, trink,“ sagte er. „Es ist ein warmer Tag, nicht, dass du austrocknest.“

„Danke,“ sagte sie. „Wie spät ist es?“

„Gerade halb eins,“ stellte er fest, und zeigte ihr beiläufig seine Taschenuhr. So, mein Alibi ist gesichert, dachte er.

„Hast du Hunger,“ fragte er laut.

„Ja, und wie. Es fühlt sich an, als hätte ich den halben Tag nichts gegessen,“ sie lächelte ihn an und er begann, den Picknickkorb auszupacken.
 

Katharina und Bela verbrachten einen vergnüglichen Nachmittag am Wasser, sie genossen das kalte englische Lunch, das Mary ihnen bereitet hatte, hielten später die Füße ins Wasser und sprachen viel mehr als Bela je für möglich gehalten hätte.
 

Katharina war in einer Volksgegend Hamburgs aufgewachsen, erfuhr er. Ihr Vater war Maat auf einem Händlerschiff gewesen und vor drei Jahren ertrunken. Ihre Mutter, die sich mit Nähen für die reichen Familien Hamburgs ein karges Zubrot verdiente, hatte eine Stelle als Küchenhilfe bei dem Besitzer des Händlerschiffs, auf dem ihr Vater umgekommen war, für Katharina gefunden. Einige Monate später hatte sie die Stellung gewechselt und begonnen, für Lord Farin zu arbeiten. Im Gegenzug dazu erzählte er ihr seine eigene Familiengeschichte – vom Militarismus, von der Strenge seines Vaters, den trüben Augen seiner Mutter, der Begeisterung seines kleinen Bruders für Waffen und seiner eigenen Verzweiflung. Soweit war es die Wahrheit, und auch, dass er schließlich geflüchtet war, war nicht gelogen. Der künstliche Hausdiener-Lebenslauf, den er ihr anschließend auftischte, war ein einziges Lügengebilde, doch die Essenz blieb – er hatte frei sein wollen und hatte seine Freiheit hier, in Hamburg, gefunden.
 

„Ich bin zufrieden mit meinem Leben, meiner Arbeit,“ sagte sie nachdenklich, ihre kleine Hand in seiner. Dann strahlte sie Bela an, die verfrühten Sorgenfalten in ihrem jungen Gesicht verschwunden. „Aber ich hätte nie gedacht, dass ich einmal nicht nur zufrieden, sondern glücklich sein würde. Dank sei dir... danke, Dirk.“
 

Das schlechte Gewissen stach.

Er küsste sie, um es zu beruhigen, doch fühlte er sich danach noch dreckiger.
 

„Weißt du,“ sagte sie nach einer kurzen Pause. „Ich habe dieser albernen Verlobung ursprünglich nur zugestimmt, um ein bisschen Sicherheit zu haben, für mich, meine Mutter, meine Geschwister. Dass ich mich in den stattlichen Valet auch verlieben würde, war nicht geplant.“
 

Bela hörte die Droscke kommen, zum Glück.

„Das freut mich,“ lächelte er nur, und es fühlte sich falsch an.

„Es ist drei Uhr,“ fuhr er fort. „Wir sollten gehen, damit wir noch ein bisschen mit der Droschke durch Hamburg fahren können.“

„Oh ja,“ rief sie freudig. „Weißt du, vor heute bin ich erst zwei Mal in einer Kutsche gefahren, immer wenn Lord Farin mich netterweise mitgenommen hat.

Immerhin mache ich sie glücklich, dachte er fahrig, während sie in das Gefährt stiegen.
 

Am Abend, nach einer schönen Kutschfahrt und einem einfachen Abend in einer Herberge nicht weit von der Binnenalster, kamen sie zurück zum Botschafterwohnsitz. Das Eingangstor wurde von zwei Polizei-Beamten bewacht. Einer von ihnen erklärte unfreundlich, dass sie hier keinen Zugang hätten.
 

„Aber wir wohnen hier,“ sagte Katharina verwirrt, und Bela fragte ruhig, was denn los sei.

„Nun, wenn Sie hier wohnen, folgen Sie mir bitte,“ sagte der Beamte, und bedeutete seinem Kollegen, weiterhin das Tor zu bewachen.

Er führte sie durch die große Eingangshalle, in dem sich ein großer Teil des Haushaltes vor der Tür des Salons versammelt hatte. Nur Farin selbst war nirgends zu entdecken.

„Thank God, da seid ihr ja endlich,“ flüsterte Mary, und Katharina wollte gerade fragen, was los war, als der Polizist ihr fast schon grob bedeutete, den Mund zu halten und ihm in den Salon zu folgen. Der große Raum mit den bequemen Sesseln war anscheinend zum Verhörzimmer umfunktioniert worden, stellte Bela fest. Zwei ernst dreinblickende Polizisten saßen an einem Tisch, daneben eine Sekretärin, die wohl Protokoll führte. Bela fragte sich kurz, ob sie überhaupt beim Schreiben mitkam, denn in der Mitte des Zimmers hatte sich Lady Crowley aufgebaut und ließ eine Schimpftirade erster Güte auf die Polizisten herabregnen.
 

„It’s impossible,“ schrie sie. „This city is one big cesspit full of sins. You Germans, you believe you have the right to everything, including my diamond. How could you let that happen? Are you not supposed to be competent keepers of law and order? This would never have happened in England, I can tell you that. So, what are you doing to rectify this, I am asking you?“*

„Lady Crowley,“ unterbrach sie der rechte Polizist, ein untersetzter Mann mit einem Ruhe ausstrahlendem Gesichtsausdruck und braunem Kinnbart. „I promise you we are, äh, doing everything that is in our power for find your diamond.“
 

Sein Englisch hatte einen starken Akzent, doch sein ruhiger Ton schien Wirkung zu haben, Lady Crowley schwieg einen Moment, den Belas und Katharinas Begleiter prompt ausnutzte.

„Äh, Herr Polizeioberkommissar, ich habe die beiden Verdächtigen Mitglieder des Haushaltes...“

Der Bärtige blickte das Dreiergrüppchen an und nickte zufrieden.

„Ah, ja, Meier, gut gemacht. Gehen Sie dann bitte wieder an die Arbeit am Gartentor.“

„Jawohl, Herr Kommissar,“ sagte ihr Begleiter und verschwand durch die Tür, die er hinter sich schloss.

„Lady Crowley,“ sagte der Kommissar, „I will ask you to leave this room now, please. We have to, äh, investigate these suspects.“

„What do you mean, suspects?“ rief die Fürstin erbost aus und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. „I know them, they work here. Do they look like an old, bearded fellow to you?“*
 

Bela blickte auf seine Schuhe hinab und musste sich auf die Wange beißen, um nicht zu lachen. Katharina hielt derweil seine Hand und flüsterte in sein Ohr: „Dirk, glaubst du, ihr Diamant ist gestohlen worden?“

„Sieht ganz so aus,“ murmelte Bela zurück.
 

Der Kommissar hatte es mittlerweile endlich geschafft, die erboste Gräfin freundlich, aber bestimmt aus dem Raum zu bugsieren und wendete sich nun an Bela und Katharina.

„Guten Abend,“ sagte er, nicht unfreundlich.

„Von Wied mein Name, Polizeioberkommissar, das mein Kollege, Kommissar Kirch. Wie Sie vielleicht unseren Worten entnehmen konnten, ist Lady Crowleys Diamant gestohlen worden, gegen halb zwölf Uhr heute Mittag.“

Er warf einen Blick auf einen Zettel, der vor ihm auf dem Tisch lag.

„Ich nehme an, Sie sind Dirk Nestor, der Hausdiener, und Katharina Schrey, Küchenmädchen? Wo waren Sie beide heute Mittag?“
 

Bela überlegte kurz, aber Katharina kam ihm zuvor.

„Das ist ja furchtbar,“ rief sie aus, und dann: „der arme Lord Farin! In seinem Haus...“

Bela drückte für den Polizisten sichtbar ihre Hand und unterbrach sie, sanft aber bestimmt.

„Ja, Herr Polizeioberkommissar,“ – „bitte, Kommissar reicht“ – „Herr Kommissar von Wied, wir sind der Valet und das Küchenmädchen. Heute ist unser freier Tag, meine Verlobte und ich waren an der Alster, in der Sonne,“ er zeigte auf den Weidenkorb, den er nach wie vor in der Hand hielt. „Aber falls wir Ihnen trotzdem irgendwie behilflich sein können, sagen Sie es bitte.“

„Ja,“ sagte Katharina jetzt, „das stimmt, wir waren an der Alster. Tut mir Leid, Herr Kommissar, aber diese Nachricht war ein Schock für mich...“

„Machen Sie sich mal keine Sorgen, das ist verständlich.“ Der dicke Kommissar sah sie beide nachdenklich an.
 

In der nächsten halben Stunde mussten Bela und Katharina, zunächst einzeln, dann gemeinsam, diverse Fragen zu ihrem Tagesablauf beantworten. Kommissar von Wied blieb freundlich und sachlich, ein gutes Zeichen dafür, dass er sie nicht verdächtigte, fand Bela.

Auch hörten sie Details zum Diebstahl. Das Esszimmer war ausgebrannt, aber kein anderer Raum im Haus war zu schaden gekommen. Butler Ames und Köchin Mary hatten den vermeintlich alten, grauhaarigen Räuber nur von hinten gesehen, aber der Kommissar war hoffnungsvoll, dass die Beschreibung des Wachmannes Harold wertvoll werden könnte.

Katharina lauschte der Schilderung des Kommissars mit großen Augen und vielen entsetzten Ohs und Ahs, während auch Bela gekonnt ein paar ernst klingende „ist ja furchtbar“ und „was manche Leute sich erlauben“ einfließen ließ.
 

Schließlich ließ der Kommissar sie gehen, mit den Worten, dass sie sicher müde seien und mit ihren Hausgenossen sprechen wollen würden. Er wollte sich am morgigen Tag noch einmal bei ihnen melden.
 

Bela geleitete Katharina zu ihrem Zimmer, küsste sie beruhigend auf die Wange und sagte, dass alles gut werden würde. Dann sagte er, er müsse sich unbedingt umziehen, sein Anzug sei voller Sand und sie lachte, sagte ja, ihrem Kleid ginge es ähnlich.

„Danke für einen schönen Tag,“ sagte er und strich ihr über die Wange. „Schade, dass er so ein Ende nehmen muss.“

„Ach weißt du,“ lächelte Katharina, „wenn es mir nicht um Lord Farins Ruf so Leid täte, fände ich es vielleicht gar nicht schlimm. Die dicke Crowley geht mir aufs Gemüt, kommt in unseren Haushalt und benimmt sich wie ein Trampeltier. Und immerhin ist niemand zu körperlichem Schaden gekommen. Was ist so ein Diamant denn schon? Ein dummer Stein, der schön glitzert, den man aber nicht essen kann. Schall und Rauch.“

Bela lächelte. „Du hast Recht. Schall und Rauch. Gute Nacht, meine Liebe.“
 

Nachdenklich stieg er die Stiege zu seiner Kammer herab. Er hatte sie unterschätzt, das war sicher.

Er öffnete die Tür schlüpfte hindurch und schloss sie hinter sich, mit der Intention, sich schnell umziehen zu gehen und sich dann, endlich, auf die Suche nach Lord Farin zu machen. Er machte sich Sorgen um den großen Blonden, und...
 

„Da bist du ja endlich,“ zwei lange Arme schlossen sich um seinen Körper, Farin, stand vor ihm, der Blick verzweifelt.
 

- TBC -
 

---
 

Anmerkungen
 

Puh, das war harter Stoff. Seid ihr noch aufnahmefähig für ein paar Anmerkungen und die obligatorische Geschichtsstunde? Ich halte es auch kurz. ;)
 

- Valets hatten tatsächlich die Aufgabe, ihre reichen Arbeitgeber zu rasieren und allmorgendlich Kleidung für sie herauszulegen. Die fauleren Herren ließen sich auch tatsächlich noch von ihren Dienern ankleiden, aber die meisten machten das selbst.
 

- "Das Feuer Eos" ist natürlich kein tatsächlich existenter Diamant. Der Schliff, den ich ihm verpasst habe, ist in etwa so wie beim berühmten Taylor-Burton Diamant, einfach mal googlen.

"Das Feuer Eos" ist aber natürlich gelblich rot - übrigens eine zwar sehr seltene, aber existente Diamantenfarbe.

Übrigens: ich hasse Diamanten. Zu viele Morde, zu viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu viele Waffenhandel für Steine, die eigentlich nichts anderes machen, als schön zu glitzern. Nein danke.
 

- Droschken, falls ihr es nicht wissen solltet, waren die Vorläufer vom heutigen Taxi - meist einspännige, offene Kutschen, die zu einem für den Mittelstand halbwegs preiswerten, aber für die Armen unbezahlbaren Preis Menschen von A nach B brachten.
 

- Eppendorf, nördlich der Außenalster gelegen, war zu jener Zeit tatsächlich gerade in die Stadt Hamburg hineingewachsen und wurde zunehmend mit reichen Villen bebaut. Außerdem befand sich gerade die berühmte Uniklinik in der Entstehung, da Hamburg immer wieder schwer mit Cholera und Typhus zu kämpfen hatte und die Stadtkrankenhäuser chronisch überlastet waren.

Nichtsdestotrotz gab es noch einige wenige unbebaute Grundstücke an der Alster - dorthin nimmt Bela Katharina mit. Die Droschkenfahrt von der Binnenalster muss, bei gestrecktem Trab, etwa eine halbe Stunde lang gewesen sein, im Schrittempo natürlich ungleich länger.
 

- Belas Outfit ist eine Art irre Mischung aus Willy Wonka (*hust* Tag mit Schutzumschlag), der Mode der damaligen Zeit und einem gehörigen Schuss Daniel Day Lewis in "Gangs of New York" (Bild gibts hier: http://kathyddl.tripod.com/btb.jpg ). Die grauen Haare sind nur, damit er, Bela, weniger schnell als der eigene Valet erkannt wird.
 

- Und schließlich: ich bin grade zu fertig, das alles nochmal durchzulesen und auf Rechtschreibfehler zu überprüfen. Mach ich später, ich hoffe, es ist nicht zuviel drinnen.

Viel Spaß beim Lesen, mehr (*hüstel* adult *hüstel*) kommt bald. ;)
 

*** Und zum Schluss: uppsa, ganz vergessen, hier die Übersetzungen der Schimpftiraden der Lady Crowley:
 

* "Das ist unmöglich! Diese Stadt ist ein einziger Sündenpfuhl. Sie Deutschen, Sie glauben, Sie hätten das Recht auf alles, inklusive meinem Diamanten. Wie konnten Sie das passieren lassen? Sollten Sie nicht kompetente Bewahrer von Recht und Ordnung sein? Das hier wäre in England nie passiert, das kann ich Ihnen sagen. Also, was machen Sie, um dieses Unrecht zu beheben?"
 

* "Was meinen Sie, Verdächtige? (...) Ich kenne sie, sie arbeiten hier. Wirken sie auf Sie wie ein alter, bärtiger Mann?"

(10)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

(10) Non Adult Edition

Am Abend des 24.10.1890
 

Farin drückte Bela von innen an seine schmale Kammertür, schloss sie ab, und küsste ihn, hart.
 

„Verdammt sei der Tag an dem diese bloody bitch, with her cursed diamond in mein Haus kam. Warum?“

Er küsste ihn erneut, drängte seinen Körper gegen Belas, fast schon grob, verweifelt.

„Why? Why do I always come out at the little end of the horn? Warum, immer dann wenn ich denke, dass ich vielleicht, endlich, glücklich werden könnte?“

Bela antwortete nicht, küsste ihn aus gänzlich anderen Gründen ähnlich verzweifelt zurück.
 

„Ich bin so froh, dass du hier bist. Ohne dich... this day was terrible.“
 

„Denk nicht mehr daran.“
 

Bela begann, Farin hastig von seiner Kleidung zu befreien, küsste sein Schlüsselbein, seine Brustwarzen. In kürzester Zeit waren sie beide nackt, drängten sich aneinander, als könnten sie alleine nicht stehen.
 

„Ich will, dass du es tust,“ mumelte Bela gegen Farins Haut, während er einen Weg an seinem Arm entlangküsste. „Bitte, liege bei mir.“
 

Er drängte sich an Farins Körper, um immer noch ein kleines bisschen näher bei ihm zu sein. In ihm tobte noch die Euphorie des gelungenen Diebstahls. Gemeinsam mit seinem schlechten Gewissen und dem fast unheimlichen Vertrauen, das er Jon gegenüber fühlte, ließ es ihn alle Bedenken über Bord werfen.

Morgen war die Hochzeit der jungen Crowley geplant, er wusste nicht, ob sie stattfinden würde – sicher war nur, dass die meisten Haushaltsmitglieder anderes zu tun haben würden, als ihn beim Humpeln zu beobachten. Und wenn doch jemand fragen sollte... nun, dann war er eben die Stiege hinabgefallen und auf seinem Steiß gelandet.
 

Farin sah ihn einen Moment zweifelnd an, dann drückte er ihn wieder gegen die Wand, fest, aber nicht schmerzhaft.

„In Ordnung,“ sagte er. „If you really want me to.“

„Ja,“ sagte Bela schlicht.

Farins Mund vereinnahmte seinen. Jons neugierige Zunge, seine festen Lippen, die glatten Zähne, die leichten Bartstoppel; schon wieder deutlich spürbar seit der morgendlichen Rasur – Bela liebte es, von ihm geküsst zu werden, fordernd und entschlossen.
 

„I don’t want to hurt you,“ sagte Jon, vergrub sein Gesicht in Belas Haaren.

„God,“ flüsterte er. „It must hurt, doesn’t it?“

Bela drückte sich gegen Farin.

„Keine Sorge,“ sagte er, „es muss weh tun, ein bisschen nur. Gerade genug... um die Lust um so intensiver zu spüren.“
 

„In Ordnung,“ erwiderte der. „Wenn du sagst, dass du bereit bist, dann... show me what to do.“
 

„Warte eine Sekunde,“ sagte Bela, bedauernd, dass sie sich trennen mussten, wenn auch nur für so kurze Zeit. Eilig machte er zwei Schritte zu seiner schlichten Kommode, entnahm ihr den Flakon mit dem duftenden Öl, das ein Bekannter von ihm zum unverschämten Preis von einer Mark verkauft hatte.
 

Er drehte sich um, musste sich zurückhalten, nicht zu sabbern zu beginnen, als er Farin im abendlichen Schummerlicht stehen sah. Der große Blonde stand mitten im Raum, blickte ihm halb verlangend, halb lasziv entgegen, sein Körper glänzte im spärlichen Licht, während er sich langsam streichelte.

„Du bist wunderschön,“ sagte Bela, trat auf ihn zu, küsste seine Schulter, seinen Hals, seinen Kiefer, sein Gesicht.

„Ich hätte nicht gedacht, dass mir das jemand einmal sagen würde,“ sagte Jon, seufzte leise und schloss die Augen. „Oder dass es mir gefallen würde, to be called ‚wunderschön’. By a man, too.“

Er öffnete die Augen wieder, seine Pupillen glänzten im Spätlicht.

„Die Wahrheit ist, you made me find myself, Bela. Thank you.“

Sie küssten sich, wieder und wieder, bis Bela den Flakon öffnete, das zähflüssige Öl auf seine Finger tröpfeln ließ. Die Luft füllte sich mit dem zarten, nicht aufdringlichen, aber deutlich wahrnehmbaren Duft nach Kieferwäldern, abgerundet durch eine leichte Note spätsommerlicher Blumenwiesen.

„Smells good,“ lächelte Jon, während seine Finger unsichtbare Muster auf Belas Brustkorb zogen.

„Ja.“ Bela lächelte zurück, küsste sein spitzes Kinn. „Nicht nur das, es fühlt sich auch gut an...“

„You’re such a dirty boy sometimes.“

„Amüsant, dass gerade du das sagst, wenn man bedenkt, was du gleich mir mir machen wirst.“

„I didn’t say I didn’t like it...“

Sie lachten, küssten sich, während Belas Unterleib ihn fordernd daran erinnerte, was er eigentlich wollte.
 

„Nun,“ sagte er. „Es ist am besten, wenn ich mich umdrehe.“

Farin warf einen fragenden Blick auf ihn, dann auf Belas schmales Bett, schließlich standen sie beide noch immer mitten im Raum.

„Sollten wir nicht,“ begann er zögernd.

Bela lächelte grimmig. „Ich befürchte, das Bett würde unserem Akt nicht standhalten. Obendrein würde das halbe Haus uns hören... Und ich möchte, dass du mich im Stehen nimmst, gegen die Wand. Hart.“

Er küsste Jon fordernd, erstickte eventuelle weitere Einwände im Keim und zog ihn einen Schritt zurück, bis er erneut an der kühlen Wand lehnte.
 

„Bitte Jon.“ Er brauchte den Schmerz, heute mehr denn je.
 

Danach lehnten sie eine Weile an der Wand, zutiefst erschöpft. Schließlich drehte Bela sich um, zog Jon an sich.

„Danke,“ flüsterte er, dann führte er sie beide zum Bett, das zwar schmal, aber gerade groß genug für sie beide war und ihrer beider Gewicht hoffentlich halten würde, wenn sie sich nicht zu hektisch bewegten. Er sollte sein Zimmer von den Überbleibseln ihres Aktes säubern, dachte er, aber ein Blick auf Jons gerötete Wangen, dem Ausdruck tiefer Befriedigung in seinem Gesicht, ließ ihn nur noch näher an ihn heranrücken.
 

Sie dösten eine Weile, Bela fühlte sich langsam in den Schlaf hinüberdriften. Als er aufwachte, war es dunkel, und Farin kniete halb über ihm, streichelte über sein Gesicht, lächelnd.

„Danke,“ sagte er. „That was incredible. Völlig anders, als ich gedacht habe. Aber... es fühlte sich... richtig an.“

Bela strich über die Seiten des Blonden, unter der Haut konnte er schwach seine Rippen spüren. „Gern geschehen,“ sagte er. „Ich fand es wunderschön. Wie dich.“

„Wann wirst du mit diesem furchtbaren ‚wunderschön’ aufhören? I’m not your girl, you know?“

„No,“ lächelte Bela, auf einmal vom Bedürfnis erfüllt, Jon in seiner Muttersprache zu antworten, vielleicht, weil es weniger bedeutsam in seinen Ohren klang, wenn er auf Englisch aussprach, was er dachte. „But you’re my man. Wenn du willst.“

„Bela,“ Jon küsste ihn zärtlich auf die Lippen. „You’ve been my man for a long time.“

Farin strich über Belas Hals, dort wo er ihn gebissen hatte, und es tat ein bisschen weh. „I marked you as mine already, you know?“
 

Belas Herz zog sich zusammen, er zog den Blonden an sich und eine Weile lagen sie schweigend nebeneninander, zufrieden damit, einanders leisem Atem zu lauschen.
 

„You know,“ setzte Jon schließlich an, richtete sich auf und sah Bela in die Augen. „I’d almost be glad about all this... diamond-business.“ Er lächelte traurig. „Sie werden mir nie wieder anbieten meine Karriere zu... pushen. Im Gegenteil. Ich muss mir wohl nie wieder Sorgen darum machen, dass mein Vater große Pläne mit mir haben könnte.“
 

Bela schwieg eine Weile.

„Ich muss mit dir reden, Jon,“ sagte er schließlich, er hielt es nicht mehr aus, er musste endlich reinen Tisch machen, alles auf eine Karte setzen, wie er es in seinem Leben als Dieb so oft getan und immer gewonnen hatte.

„Ich war es,“ er hob die Hand, fuhr mit ihr die Konturen in Farins Gesicht entlang, so lange, bis er den Mut gefunden hatte, weiterzusprechen.

„Ich habe diesen vermaledeiten Diamanten gestohlen.“
 

Farin wurde leichenblass, schlug Belas Hand weg, schüttelte den Kopf, langsam, immer schneller.

„Bela. Dirk. Don’t say that. Don’t even joke about that.“

Farin sprang aus dem Bett, sah verzweifelt auf Bela herab, der sich nun auch aufrichtete.
 

„Es ist kein Witz. Ich war es. Ich verdiene daran genug, dass wir beide für immer von hier verschwinden können. Du und ich. Bitte... Farin. Jon. Komm mit mir. Ich lege mein Schicksal in deine Hände. “

„Nein.“ Der harte, unbewegliche Lord war zurück. „Das kann ich nicht tun. Niemals.“

Farin schloss die Augen, schien kurz mit den Tränen zu kämpfen, bevor sein Gesicht wieder zu einer starren Maske wurde.

„You comprimised my honor. I let you. Warum, Dirk? Warum?“

„Ich...“

„Ich will es nicht hören!“ Farin sammelte hastig seine Kleidung ein, zog Hemd, Hose und Stiefel über und klemmte den Rest unter den Arm. „Ich gehe. Wage es nicht, mir zu folgen.“
 

Er schloss die Tür auf, Bela stützte den Kopf in die Hände und lauschte verzweifelt, wie die verzweifelt stampfenden Schritte Jonathan Maximillian Adrian Farins, einziger Sohn und Erbe des Barons von Inglewood, langsam verklangen.
 

- TBC -
 

--

Anmerkungen: Hm. Dieses Kapitel in der Non-Adult-Version ist wirklich, im wahrsten Sinne des Wortes (*g*) beschnitten. Naja, der Plot ist drinnen, größtenteils zumindest.
 

PS: ich darf euch nicht für Kommentare danken oder explizit um konstruktive Kritik bitten, sagt Animexx, das sei Kommentar-Bettelei, schließlich schreibe ich für mich selbst, nicht für euch.

Achso. Hamwa wieder wat jelernt.
 

Dann nicht.

(11)

25. August 1890
 

Es war früher Morgen, als Bela aus seiner Kammer auf einen der zahlreichen Korridore des Botschafterwohnsitzes trat. Draußen kündigte die aufgehende Sonne einen weiteren strahlenden Tag an, doch in ihm tobte die Finsternis. Niemals hätte er sich Lord Farin anvertrauen dürfen, schalt er sich, er hatte doch gewusst, dass dem jungen Lord sein albernes Ehrgefühl über alles ging, trotz – oder vielleicht gerade wegen – seines unausstehlichem Baronen-Vaters. Niemals durften einen Dieb seine Gefühle übermannen, wollte er nicht den Schutzmantel der Nacht verlieren.
 

Bela gestattete sich keinen Moment lang die Furcht, dass der Botschafter ihn verraten würde. Ihre im Erblühen ergriffene Beziehung schien definitiv erloschen, wie ein schlampig angelegtes Kaminfeuer, das man, wenn es erst einmal aus war, unmöglich wieder erzünden konnte. Und doch, er konnte einfach nicht glauben, dass Jon ihn willentlich ins Gefängnis schicken würde – oder vielleicht wollte er es einfach nicht glauben.

So würde er sich denn vorerst der täglichen Routine widmen, als wäre nichts gewesen – und baldmöglichst seine Kündigung schreiben. Natürlich, Rodrigo und er hatten ausgemacht, dass er zumindest drei weitere Monate für den Botschafter arbeiten sollte, doch würde González es schon verstehen, wenn er sagte, dass er die Sicherheit seiner falschen Identität, die wie ein Deckmantel über ihm lag, nicht weiter garantieren konnte. Begeistert wäre der Chilene sicher nicht, dachte Bela, aber eigentlich konnte keinerlei Spur zu ihm führen, nicht einmal Samuels Kutscher-Unternehmen war in irgendeiner Weise offiziell mit Rodrigo González verknüpft.
 

Ja, dachte er, es würde das Beste sein, Gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich so bald wie möglich aus dem Staub machen, weg von diesem ganzen Affenzirkus, seiner „Verlobten“, den hysterischen Crowleys, und ganz besonders weit weg von Lord Farin.

Er schüttelte den Kopf darüber, wie weh es tat, noch verstärkt davon, dass auch ein sehr körperlicher, ziehender Schmerz ihn konstant an Jon erinnerte. Er verfolgt mich buchstäblich bei jedem Schritt dachte er, und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er machte sich auf, aus dem Haus zu treten, um einen Eimer frisches Brunnenwasser für Jons morgendliche Rasur zu holen, obwohl er nicht wusste, wie er diesen seltsam intimen Akt mit Jon an diesem Tage hinter sich bringen sollte. Schon wieder so ein schmerzender Gedanke an gestern, dachte er fahrig, passend zu meinem schmerzenden Hintern, haha.

Er zwang die Gedanken aus seinem Kopf, versuchte, sich die endlosen Geldstapel goldener Münzen vorzustellen, die er, piratengleich, in einer Kiste bei Rodrigo abholen würde. Er könnte in dem Geld baden, oder sich ein Schiff davon kaufen, und wie Long John Silver um die Welt segeln, sich um nichts und niemanden, außer sich selbst, scherend.
 

Long John Silver. Die Schatzinsel. Farin.

Gott, er fehlt mir, dachte er, jetzt schon.

So sehr, dass er sich nahezu lächelnd und mit klopfendem Herzen umwandte, als eine Hand ihn an der Schuler griff, in der halb ängstlichen, halb freudigen Erwartung, dass es Lord Farin sein würde, der mit ihm sprechen wollte.

„Dirk Nestor,“ sagte Kommissar Kirch, der schweigsame Kollege des Oberkommissars von Wied. „Sie stehen unter dem Verdacht des Raubes und sind festgenommen.“
 

Bela war so perplex, so verletzt, so versteinert im Innern, dass er sich willenlos die Handschellen umlegen und abführen ließ.
 

In der Eingangshalle standen Lord Farin im Morgenmantel, Katharina und Ames, völlig bekleidet aber mit wilden Haaren, Mary, die eilig ihren Mantel über ihrem Nachthemd zu schließen trachtete. Der halbe Haushalt schien versammelt, in verschiedenen Stadien des Erstaunens, Entsetzens, Nichtverstehens begriffen. Sogar die zahlreichen Gemälde streng dreinsehender Herrschaften, die die Wände bedeckten, schienen ein wenig perplex zu sein. Nur die Crowleys standen nicht dort, zum Glück, das hätte ihm noch gefehlt, dachte Bela, während er an seinen – Freunden? Kollegen? Mitteln zum Zweck? – vorbeigeführt wurde.
 

Katharinas Tränen tropften lautlos auf den weißen Marmor der Eingangshalle, Bela sah schnell weg, konnte sich nicht auch noch mit ihren Gefühlen auseinandersetzen. Sein Blick blieb an Farin hängen, er konnte nichts dafür, ein Dolch wurde in sein Herz gerammt und langsam gedreht, während er in diese versteinerten Gesichtszüge blickte.

Er fühlte sich seltsam gelöst von seinen Gefühlen, von der ganzen Situation. Seine Stiefel klackten scharf auf den teuren Steinen, während die Schuhe der ihn abführenden Polizisten – Kommissar Kirch und einer seiner dämlich dreinschauenden Spießgesellen, eher zu flüstern schienen. Ein bisschen Melodramatik könnte nicht schaden, dachte Bela, schließlich brach gerade sein gesamtes Lügengebilde über seinem Kopf zusammen, und fast musste er lachen über die Absurdität seiner eigenen Gedanken. Dennoch überlegte er kurz, ob er schreiend oder weinend auf Farin losstürzen und ihm den Dolch, den er immer, auch jetzt noch, im Stiefel trug, in sein kaltes Herz rammen sollte – Handschellen hin oder her.

Er tat nichts dergleichen, stattdessen senkte er den Blick und flüsterte den Marmorplatten ein fassungsloses „Nein... nicht Jon“, ob dieses ungeheuerlichen Verrates, zu.
 

Die Wut kam aus dem Nirgendwo; gerade hatte er noch gedacht, er hätte keinen Gefühle mehr in sich und nun riss sie ihn mit sich, wie die Flutwellen, die ab und an die norddeutsche Küste heimsuchten. Wut war besser als Schmerz, befand er, stürzte sich mitten hinen. Jon war es gewesen, musste es gewesen sein, der ihn verraten hatte – dabei hätte er, Bela, noch gestern sein Leben für ihn gegeben. Aber nicht so. Ehre hin oder her, er hatte ihm vertraut, sein Leben in seine Hände gelegt, und Farin trampelte mit Füßen darauf herum. Er war von sich selbst erstaunt, als seine eigene Stimme in seinen Ohren widerhallte, lauter und verzweifelter als er sie hatte klingen lassen wollen.
 

„Ich hasse dich, Jon Farin!“
 

Lord Farin sah ihn kurz an, über seinem Gesicht lag eine in langen Jahren perfektionierte Maske der Arroganz, doch in seinen Augen meinte Bela kurz eine Regung des tiefen Schmerzes sehen zu können.

Romantischer Unsinn, dachte er kurz darauf, als Farins Stimme an seine Ohren drang, so bitter kalt.

„Schaffen Sie ihn fort aus meinem Haus, Herr Kommissar.“
 

- TBC -
 

--

Amerkungen: Danke fürs Lesen. Heute keine Geschichtsstunde - im nächsten Kapitel dann wieder, das gibt's nachher. :)

(12)

16. September 1890
 

Zweiundzwanzig Tage.

Bela tigerte in dem feuchten Kellerloch, das wohl für undefinierte Zeit seine Zelle bleiben würde, auf und ab und starrte auf das kleine vergitterte Fenster, durch das ein wenig Tageslicht, sowie die lebendigen Geräusche der mittäglichen Hafenstadt heraufdrangen. Klappernde Kutschenräder, fliegende Händler, die lautstark ihre Waren – meist Fisch und warme Pasteten - anpriesen, Lausbuben, die kichernden Mädchen anerkennende Rufe und Pfiffe hintendrein schickten. Drei Wochen der Kälte, der Einsamkeit, des Drecks, der fehlenden Bewegungsfreiheit und der auf ihn einprasselnden Unsicherheit.

Das brausende Leben der Stadt dort draußen fehlte ihm.
 

Hier drinnen war er zur Untätigkeit verdammt, und das, obwohl er über sich täglich die lauten Geräusche der unablässig durch dickes Tropenholz ratschenden Sägen hören konnte.

Es stimmte; er wurde, im Vergleich zu seinen Mitgefangenen im Hamburger Zuchthaus, nicht schlecht behandelt. Er musste nicht auf stinkenden Lagern schlafen, die er mit unzähligen Mitgefangenen und noch viel mehr Läusen und Flöhen teilen musste, er musste nicht an den Sägen arbeiten, bis die Blasen auf seinen Händen aufplatzten und das Blut seine Hände hinunterrann und niemand quälte oder folterte ihn. Es gab genug zu essen und eine Decke – auch diese flohverseucht, das mochte sein, aber warm.
 

Doch hinterließ die erzwungene Einzelhaft Folgen in seinem Kopf. Ab und zu meinte er, verrückt zu werden und unterhielt sich mit all denen, die ihm fehlten. Mit Rodrigo, während sie gute Gespräche vor einem prasselnden Kaminfeuer führten und sich eine teure Flasche Brandy teilten. Mit Katharina, die ihn unter der warmen Sommersonne zum Lachen brachte. Manchmal, wenn der Tag am hellsten und die Geräusche draußen am quälendsten schienen, die Einsamkeit ihn zu erdrücken drohte, sprach er mit Jon.
 

„Jon, ich kann dich immer noch spüren, will dich nicht verlieren“ flüsterte er seinen Stiefeln am zweiten Tag zu, während er den ziehenden Schmerz im Gesäß versuchte, festzuhalten.
 

„Ich liebe dich, weißt du?“ erzählte er der weiß gekalkten, von Feuchtigkeit dunkel gefärbten Wand unter dem hellen Fensterloch am siebten Tag.

„Obwohl du mich verraten hast, du Bastard, ich liebe dich.“

Dann schrie er die Wände an: „Verdammt!“ – und nahm mit einiger Befriedigung zur Kenntnis, dass draußen verwirrte Stimmen fragten, wo dieser Ausruf denn hergekommen sei.
 

„Immer noch,“ sagte er am zwölften Tag, von sich selbst erstaunt.

„Ich würde so gerne wütend auf dich sein, doch bin ich nur traurig, wenn ich an dein Lächeln denke.“
 

„Jon, ich wäre auf immer dein Valet gebeten, hätte diesen verfluchten Stein zurückgegeben und Rodrigo gegen mich aufgebracht, hättest du mich darum gebeten,“ gestand er seinen Fingern, in die er seinen Kopf am fünfzehnten Tag gestützt hatte.

„Warum musstest du mich verraten?“

Er würde nicht weinen, niemals, auch nicht, wenn es niemand sah. Dann tat er es doch, lautlos, in seine dreckstarrenden Hände hinein.
 

„Vielleicht hätte ich dich entführen sollen, aufs Meer. Nur du und ich, um die Welt, immer unserer Nase hinterher. Du hättest dich nicht wehren können, nicht gegen mich, hätte ich dich darum gebeten, oder dich einfach gefesselt und dich erst losgemacht, wenn um uns nicht als Wasser gewesen wäre. Du der Schiffkoch, ich der Janmaat, auf einem großen, freien Piratenschiff. Wäre das nichts, Jon...?“

Er lächelte traurig am zwanzigsten Tag.
 

Drei Wochen der Unsicherheit hatte er nun hinter sich. Er tigerte hin und her.

Zwei Schritte von einer Wand zu seiner Pritsche.

Drei Schritte an seiner Pritsche und dem erbärmlich stinkenden Eimer für seine Bedürfnisse vorbei.

Wieder zwei Schritte an der Wand mit der verriegelten Zellentür entlang.

Drei Schritte bis zu der Wand mit dem hellen Fenster, so unerreichbar weit oben, dass er nicht einmal hindurch schauen konnte.
 

Von vorn.
 

Zwei Schritte.

Drei Schritte.

Zwei Schritte.

Drei Schritte.

Zwei Schritte.
 

Quietschend öffnete sich die Zellentür, Bela hielt erstaunt inne in seinen Bewegungen. Es war noch nicht an der Zeit für das karge Mittagsmahl, obendrein wurde ihm das üblicherweise durch eine kleine Luke gereicht. Seit jenem Tag, an dem Kommissar Kirchner ihn in diese Zelle geleitet hatte, hatte die große Tür sich nicht mehr geöffnet.

Zwei uniformierte Polizisten traten herein, er wurde fest, aber nicht schmerzhaft an die Wand gedrückt – weitere Erinnerungen an Jon prasselten auf ihn ein, ungebeten – und seine Hände mit Handschellen gefesselt.
 

„Mitkommen!“
 

Er wurde durch Gänge und Treppen hinauf, sogar über einen kleinen Innenhof, geschleift, halb betäubt von der plötzlichen Menge an Licht, Menschen und Geräuschen, die ihn umgaben.

Zahlreiche Türen wurden aufgeschlossen und hinter ihnen wieder sorgfältig verschlossen, zunächst aus schwerem Eisen, später aus gebeiztem Holz. Schließlich stand er, so viel Bewegung nicht mehr gewöhnt, keuchend in einem kleinen, holzvertäfelten Raum mit hohen Fenstern, die Aussicht auf einen kleinen, blumengeschmückten Innenhof boten, darüber zirkelten Möwen, sogar die Sonne konnte er sehen, halb verdeckt von einem wolkenverhangenem Himmel.

Gott, es war gut zu sehen, dass die Welt dort draußen noch existierte.
 

„Herr Nestor,“ wurde er aus seinem Gedankengang gerissen.

Ein in einem schwarzen Talar gekleideter Herr, mit einer weißen Perücke auf dem Kopf – Bela fand, er sah ungeheuer albern aus und war selbst erstaunt, dass sein alter Zynismus wieder in ihm aufbrodelte – sah von einer kleinen Kanzel aus streng auf ihn hinunter.
 

„Sie werden beschuldigt, Lord und Lady Crowley ihren Diamanten, ‚das Feuer Eos,’ im Wert von geschätzten 100.000 Reichsmark, gestohlen zu haben.“

Bela konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen – ihr Auftraggeber hatte ihnen das Fünffache für den Diamanten geboten, ein beachtliches Vermögen.

„Des Weiteren sollen Sie den Wächter des besagten Grafenpaares brutal vergiftet und misshandelt, sowie mehrere Zimmer im Wohnhaus des britischen Botschafters zu Hamburg, Lord Jonathan Farin, mutwillig zerstört haben.“
 

Die Gerichtssitzung – so es denn eine war; es gab keine Anwälte, kein Publikum, keine Protokollanten; nur ihn selbst, seine Bewacher und den Richter – ging vorbei in einem Nebel der Unwirklichkeit. Er antwortete – möglichst irre kichernd – auf alle Fragen, gestand alles, denn sie schienen alles sowieso schon zu wissen.

Nur nicht, wo er den Diamanten versteckt hatte. Das würde er niemals preisgeben.
 

Er gab sein bestes, verrückt in sich hinein zu lachen, behauptete, die ganze Aktion sei ein Spaß gewesen, um sich an der vermaledeiten reichen Oberschicht zu rächen, die ihm und den Armen der Welt so viel angetan habe. Wieder lachte er und erklärte, er habe den Diamanten auf Nimmerwiedersehen in die Alster gepfeffert, damals, an diesem Nachmittag, an dem er Katharina mit Schlafpulver betäubt hatte, denn selbst darüber schien der Richter bereits Bescheid zu wissen.

Nur seine wahre Identität kannten sie nicht – Rod hatte ganze Arbeit geleistet, mit den falschen Papieren, die er ihm beschafft hatten. Obendrein schienen sie nicht sonderlich an ihm selbst interessiert zu sein, nur am Diamanten. Scheinbar wuchs der Druck von oben, dachte Bela mit einem halben Grinsen, und ließ die Fragen auf sich einprasseln.
 

Es war nicht schwer, sich ein bisschen irre zu stellen, denn so fühlte er sich, spätestens seit den drei Wochen der erzwungenen Einsamkeit. Vielleicht würden sie ihn in die Klapsmühle stecken, hoffte er, von dort wäre es leichter zu entkommen, als aus diesem vermaledeiten Zuchthaus.
 

Dann wurde sie hineingeführt.

Katharina.

Sie kam am Arm eines Gerichtsdieners, gebeugt, wie eine alte Frau, doch ihre Augen strahlten in einer heiligen Wut.
 

„Katharina Schrey,“ ihr wurde eine Bibel unter die Nase gehalten, lautlos tropften ihre Tränen auf den Ledereinband, wie vor wenigen Wochen auf den Marmor der Eingangshalle.

„Schwören Sie die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit, so wahr Gott Ihnen helfe?“

„Ich schwöre,“ sagte sie leise, holte ein Taschentuch hervor und trocknete ihre Tränen.

Der Richter forderte sie grimmig auf, ihre Aussage zu machen und nichts auszulassen, während Bela, gegen seinen Willen, fasziniert in ihr seltsam entschlossenes Gesicht sah. Mehr denn je fühlte er sich, als würde ein Schauspiel zu seinem Vergnügen aufgeführt, statt über sein weiteres Leben entschieden.
 

„Dirk... dieser Mann dort,“ erklang ihre helle Stimme durch den Raum.

„Er hat mich unter falschen Vorwänden zu seiner Verlobten gemacht, mich belogen und betrogen, mich zu einer unwillentlichen Komplizin gemacht.“
 

Sie schilderte ihren gemeinsamen Nachmittag, wie sie eingeschlafen war und erst später, nachdem sie von Harold vom Schlafpulver gehört hatte, den Verdacht bekommen hatte, dass Bela Ähnliches mit ihr gemacht haben könnte.
 

„Er ist schuldig, Herr Richter,“ sagte sie, und ihre Augen flammten einen Moment lang in Belas Richtung.

„Glauben sie die Gründe, die er anführt? Könnte er verrückt sein und den Diamanten in den Fluss geworfen haben?“ fragte der Richter, und in seiner Stimme, die bislang so gleichgültig geklungen hatte, lag zum ersten Mal hörbare Spannung.
 

„Ich bin nicht verrückt,“ kreischte Bela, der seine Chance witterte. „Ihr müsst alle sterben! Ihr vergnügt euch an unheiligem Reichtum, während auf den Straßen die Kinder sterben!“
 

Katharina blickte ihn an, auf einmal sah er etwas, fast wie Respekt, in ihnen aufleuchten, oder vielleicht bildete er sich das ob ihrer folgenden Worte nur ein.

„Ja,“ sagte sie klar. „Vielleicht ist er verrückt und hat den Stein in der Alster versenkt. Um so schlimmer, dass ich darauf hereingefallen bin.“
 

Sie senkte den Kopf, der Richter dankte für ihre Aussage, dann durfte sie gehen.

Vor Bela blieb sie stehen.

„Ich weiß alles, du Mistkerl, alles!“ schrie sie. Und fügte leiser ein einziges Wort, „Farin“, hinzu.

Bela erbleichte, und wankte kurz, während sie ihm in die Augen sah und leise, aber bestimmt, sagte: „Mögest du im schlimmsten Irrenhaus des Landes verroten.“
 

Ihre letzten Worte trafen ihn nicht so sehr wie ihre Aussage, sie wisse von ihm und Farin, Gott, nein, er hatte niemals Jon in Gefahr bringen wollen.

Was, wenn sie ihn verriet?

Wie betäubt wurde er aus dem Gerichtssaal geführt. Sein eigenes Schicksal interessierte ihn nicht – ihn ihm schrie und tobte es nach Jon, immer nur Jon.
 

Dabei hatte der Mistkerl ihn verraten, nicht anders herum.
 

Und doch.
 

- TBC -
 

--

Anmerkungen & Geschichtsstunde:
 

- Das Zucht- und Spinnhaus Hamburgs war, auch noch um 1890 herum, kein angenehmer Ort.

Wie allgemein in solchen „Besserungsanstalten“ üblich wurden die dort Einsitzenden zur harten körperlichen Arbeit gezwungen, bis zur völligen Erschöpfung. Wie genau es explizit in Hamburg zuging, kann ich euch nicht sagen – dazu reicht mein fundiertes Halbwissen wieder einmal nicht aus. Fakt ist jedenfalls, dass einige der in solchen Stadtgefängnissen durch die Gefangenen ausgeführten Arbeiten aus (importiertem Tropen-) Holz sägen, Steine klopfen, Torf stechen, Leim herstellen und ähnlichen unangenehmen Arbeiten mehr bestanden.

Die einsitzenden Frauen derweil wurden ebenfalls zur Arbeit gezwungen – zum Spinnen und Weben, Nähen und Stricken, ohne Bezahlung und nicht selten dabei begafft durch reiche, zahlende Bürger, die einen Ausflug ins Spinnhaus durchaus als legitime Beschäftigung an ihren freien Tagen betrachteten.

Einzelzellen – wie Belas – gab es natürlich auch, insbesondere nachdem die seit dem 17. Jahrhundert weit verbreiteten Zucht- und Spinnhäuser (wie auch jenes in Hamburg) zu allgemeinen Stadtgefängnissen ausgebaut wurden.
 

- Die Handschellen, mit denen Bela gefesselt wird, sind anders, als diejenigen, die wir heute kennen. Fans von Houdini kennen den Mechanismus vielleicht – gebogene Eisenbügel, versehen mit einem Feder-Mechanismus, der durch einen eckigen Schlüssel geschlossen oder geöffnet werden kann.
 

- 100.000 Reichsmark sind in heutiger Kaufkraft gerechnet etwa 2 Millionen Euro. Der geheimnisvolle Bieter, der Bela und Rod für ihren Diebstahl 500.000 bietet, ist also durchaus sehr reich, keineswegs aber undenkbar reich. Auch damals schon gab es eine absurd reiche Oberschicht, die mit ihrem Geld nichts anderes anzufangen wusste, als es für riesige private Kunstsammlungen und Ähnliches auszugeben. Der Auftrags-Diebstahl besonderer Kunstgegenstände, wie auch Diamanten und Schmucks, war dabei fast schon ein Kavaliersdelikt – nicht viel anders als heute, in der abstrusen Welt der Sammler, auch noch.
 

- Danke für alle Arschtritte und Kommentare bislang. Dieses Kapitel hat – als ich erst einmal meinen Hintern zum Schreiben hochbekommen hatte – wieder einmal eine Menge Spaß gemacht. Ich bin nach wie vor guter Dinge, die Geschichte diese Woche noch zu Ende zu bekommen. :)

(13)

30. September 1890
 

Bela gab sich nicht mehr die Mühe, kleine Striche für jeden vergangenen Tag in die Wand seiner Zelle zu ritzen – es hatte keinen Sinn zu wissen, welcher Tag es war. Es wurde langsam kälter, so viel bemerkte er, während sein Schicksal völlig ungewiss war und blieb.
 

Er war und blieb stur, was das Nennen seiner Komplizen („ich hatte keine!“) oder das Versteck des „Feuer Eos“ („in der Alster, ihr Idioten!“) anging. Er wurde nicht gefoltert, aber endlos befragt, bis es ihm wirklich nicht mehr schwer fiel, den kichernden, sabbernden Irren zu geben. Langsam bekam er das Gefühl, dass sie nicht so sehr wissen wollten, wo der Diamant war, als ihn zu brechen.
 

Bei einer der Befragungen waren die Crowleys selbst zugegen. Der Graf versuchte, ihn mit Drohungen einzuschüchtern und die alte Fregatte beschimpfte ihn in ihrem arroganten Englisch, während er die Augen schloss und an Farin dachte, die Welt um ihn herum ausblendete und all die schönen Momente, wieder und wieder, erlebte, um sich nicht in der hoffnungslosen, einsamen Realität wiederfinden zu müssen.
 

Ein anderes Mal war Lord Farin selbst bei der Befragung zugegen. Die wie aus Stein gehauenen Gesichtszüge trafen Bela wie ein Faustschlag. Nicht einmal mehr ein Funkeln der alten Lebendigkeit konnte er in den toten Augen des Botschafters finden, während jener mechanisch alle Fragen zu seiner eigenen – nicht existenten – Rolle in den Geschehnissen rund um den Diebstahl beantwortete. Immerhin schien Katharina ihre Klappe gehalten zu haben – niemand befragte ihn oder Jon zu irgendeiner Form der Sittenwidrigkeit.

Im Hinausgehen zögerte Lord Farin, blieb kurz stehen, als wolle er etwas sagen.

„Jon,“ murmelte Bela, zu, sah hoffnungsvoll auf in die so matt gewordenen Augen.

„No, leave me alone, scumbag“ der Botschafter drehte sich weg, und doch konnte Bela schwören, dass er ihn absichtlich mit seinem Arm streifte, mit den Fingern beruhigend über seinen Unterarm strich, ganz kurz nur.

Er klammerte sich daran, dass er es sich nicht eingebildet hatte.
 

An diesem Tag nun, als der Wind kleine Regentropfen und zwei erste gelb verfärbte Blätter durch sein winziges Fenster fegte, öffnete sich einige Zeit nach dem Mittagessen wieder einmal seine Zellentür.

Bela seufzte und stand von seiner durchgelegenen Pritsche auf, versuchte sich innerlich erneut auf die immer gleichen Fragen einzustellen.
 

„Guten Tag, Herr Nestor.“

„Kommissar von Wied...?!“

Bela ergriff die Hand des Kommissars, erstaunt, dass er sie ihm anbot, sie angesichts seiner vor Schmutz starrenden Hände nicht zurückzog.

Der Kommissar war in Zivil, trug einen braunen Anzug und passenden Hut, den er nun abnahm und unsicher in den Händen drehte.

„Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass wir eine Entscheidung bezüglich Ihres Schicksals getroffen haben, Herr Nestor,“ sagte er schließlich.

„Was...?“ setzte Bela an, verstummte aber, als der Kommissar eine Hand hob und ihn stumm bat, ihn aussprechen zu lassen.
 

„Das britische Oberhaus hat sich eingeschaltet. Die Sache ist nun eine Frage der Diplomatie. Heute Nacht werden Sie sich in Ihrer Zelle erhängen, da Sie offensichtlich verrückt sind. Ich habe keine Sekunde gedacht, dass Letzteres die Wahrheit ist, daher denke ich, es ist Ihr Recht, von Ihrem geplanten Schicksal zu erfahren.“
 

Bela erbleichte. Lebenslang, ja, damit hatte er gerechnet. Aber Tod? Für einen Diebstahl? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen, nicht im vermeintlichen Rechtsstaat, Diplomatie hin oder her. Er grub die Fingernägel in seine Handflächen, bemühte sich, ruhig zu bleiben.
 

„Herr Kommissar,“ begann er schließlich. „Wenn Sie nicht glauben, dass ich verrückt bin, dann helfen Sie mir, verhindern Sie dies. Ich weiß, dass es gegen alles geht, woran Sie glauben.“
 

Der Kommissar sah ihn ernst an.

„Sie sind ein Verbrecher, Herr Nestor. Es ist mein Beruf, Verbrecher zu verhaften. Alles Weitere verrichtet die juristische Vertretung des Reiches und ich vertraue ihr. Es stimmt, dass ich nicht glücklich mit dieser Lösung bin, aber ich könnte sie nicht verhindern, selbst wenn ich das wollte.“
 

„Meinen Sie das ernst? Sie lassen mich kaltblütig exekutieren? Einen gewöhnlichen Dieb?“
 

„Ja.“

Die intelligenten Augen des Kommissars sahen ihn an, und Bela konnte ihm für seine bedingungslose Ehrlichkeit nicht einmal böse sein. Vielleicht war er aber auch einfach froh, endlich wieder mit jemandem, der ihn für voll nahm, sprechen zu können. Den Gedanken, dass es auch sein letztes intelligentes Gespräch sein könnte, ließ er nicht an sich heran. Er würde nicht sterben, und schon gar nicht so.
 

„Ich habe die Gerichtsverwaltung allerdings überreden können, Ihnen Ihre Henkersmahlzeit, sowie ein Bad, so Sie dies wünschen, zuzugestehen. Nun, was würden Sie gerne essen?“

„Denken Sie wirklich, ich hätte Hunger nach dem, was Sie mir gerade gesagt haben?“

„Der Hunger wird schon wiederkehren, wenn Sie erst einmal das Essen vor sich sehen. Glauben Sie mir, der menschliche Körper ist sehr gut darin, unmittelbare Bedürfnisse zu befriedigen, ohne über das, was in absehbarer Zeit mit ihm geschehen könnte, nachzudenken.“
 

Bela dachte an die Sonne. Würde er sie wirklich nie wieder sehen? Und den Mond? Das Meer? Farin?

Er erinnerte sich an die unzähligen Abendmahlzeiten, die er und Jon in der Bibliothek zu sich genommen hatten. Der Brite war kein Freund von Fleisch, deshalb hatten sie häufig Fisch gegessen.
 

„Hecht,“ sagte er schließlich, dachte an Jons leuchtende Augen, als er ihm eines Abends erklärt hatte, warum manche Fische im Salzwasser, andere im Flusswasser und ganz wenige in beidem überleben konnten. Normalerweise interessierte ihn so etwas nicht – aber wenn Jon sprach, war ihm, als hätte er vielleicht doch eine Universität besuchen können, solange alle Professoren dabei so von den Wundern der Natur fasziniert aussahen wie Farin im flackernden Kerzenlicht, über dem Hecht, den sie beide sich, jeglicher Etiquette widersprechend, geteilt hatten.
 

„In Ordnung,“ Kommissar von Wied drückte seine Hand erneut. „Es tut mir Leid,“ sagte er schlicht. „Genießen Sie Ihr Bad.“
 

Bela war sich nicht sicher, ob er sich bedanken sollte, entschied sich dann aber dagegen, schließlich weigerte dieser Mann, seinen Tod zu verhindern. So schwieg er denn und sah nachdenklich zu, wie der Kommissar seine karge Zelle verließ. Er hatte keineswegs die Absicht, zu sterben.
 

~~
 

Bela genoss sein Bad zutiefst. Es war eine der einfachen, eingedellten Wannen der Strafanstalt, irgendwo in den ausladenden, kalten Kellergewölben – nicht gerade das warme, dampfgefüllte Bad, das er von Jons Haus kannte, und oh, was hätte er darum gegeben, einmal nur dort mit Jon gemeinsam baden zu können. Aber für den Moment genügte es ihm, was er hatte – das Wasser war warm, man hatte ihm sogar eine nicht zu raue Kernseife zur Verfügung gestellt, und alle Zeit, die er brauchte. Er fühlte sich wie ein neuer Mensch, als er aus der Wanne stieg und sich mit dem groben Tuch, das für ihn bereit lag, vor den Augen dreier Polizeibeamter abtrocknete.

Sogar saubere Kleidung hatte man ihm gegeben – gut, sie bestand aus einem einfachen grauen Hemd und passender Hose und sollte wohl die Ausstattung sein, in der er begraben werden würde, aber frische Kleidung war frische Kleidung, beschloss er.

Außerdem würde er nicht sterben.
 

Der Hecht war großartig – gerade richtig gegrillt, mit Gemüsebeilage und wunderbar frischer Sauce. Er fragte sich kurz, ob Mary selbst ihn gekocht haben könnte, dann lachte er und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich großartig, viel mehr er selbst als er in den letzten Wochen gewesen war. Meilenweit entfernt vom weinenden Bündel Elend, das sich auf seiner Pritsche aufgerollt hatte, krank vor Sehnsucht nach der frischen Luft, dem Leben, der Hansestadt und Jon, immer nur Jon.

Nein, er würde nicht sterben.
 

Dann wurde er zurück in seine Zelle geführt. Dort hatte man einen einfachen Strick über die dicken Deckenbalken, die das Erdgeschoss des Zuchthauses hielten, geschlagen. Lord Crowley höchstpersönlich war anwesend, außerdem ein Südländer, der wohl sein Henker sein würde, ein Priester, sowie zwei Polizisten in Uniform, die wohl sicherstellen sollten, dass er nicht entkommen konnte.

Bela lächelte leicht beim Anblick seiner mit Menschen, die Zeugen seines Todes sein sollten, gefüllten Zelle. Er würde nicht sterben.
 

„Schickt den Priester weg!“ sagte er.

Er wurde entsetzt angeschaut, nach einigem Hin und Her – und einigen gesalzenen Flüchen von Seiten Belas – verließ der Geistliche die Zelle, murmelte etwas von ewigem Höllenfeuer für Sünder wie ihn.
 

Der Henker stellte einen instabil wirkenden Schemel unter den baumelnden Strick.

„Gehst du freiwillig hinauf, oder müssen wir dich zwingen?“ fragte er, alle Formalitäten über Bord werfend, wissend, dass er es mit einem toten Mann zu tun hatte.

„Zwingt mich,“ sagte Bela fröhlich, schließlich war er völlig verrückt, nicht wahr?

Er wurde von den beiden Polizisten auf den Schemel gehoben, dann stieg der Henker auf die Pritsche und legte Bela den Strick um den Hals.
 

„All right, Lord Crowley?“ fragte einer der Polizisten.

„Yes, yes, get on with it already. He’s been the downfall of my family, let me see him hang,“ antwortete Graf Crowley. Bela bekam fast schon Mitleid mit ihm.
 

„Letzte Worte?“ fragte der Henker, nicht unfreundlich.

„Wir sehen uns in der Hölle,“ antwortete Bela aus der Höhe herab, mittlerweile nicht mehr ganz so selbstsicher, wie er den Abend begonnen hatte.

„Schön und gut,“ erwiderte der Henker, „ich hoffe sehr, dass das in meinem Fall noch eine Weile dauert.“
 

Dann trat er den Hocker, auf dem Bela stand, um.

Der berüchtigste Dieb Hamburgs fiel ein Stück hinunter, bis der Strick ihn auffing, rang nach Luft, zappelte kurz mit den Beinen, wie um sich an der Pritsche, die er nicht erreichen konnte, abzustützen. Dann hing er still.

Bela B., König der Diebe, war tot.
 

Lord Crowley drückte dem Henker ein goldenes Zehnmarkstück in die Hand und bedeutete ihm, sich um das Begräbnis der Leiche zu kümmern, anonym, ohne Aufsehen, in einem nicht gekennzeichneten Grab.
 

Anschließend verließ er angewidert die Zelle, gefolgt von den beiden Polizisten, die froh waren, endlich Feierabend machen zu können.
 

- TBC -
 

--
 

JA, es gibt ein weiteres Kapitel,

NEIN, ich verrat nix.

(14) - Ende.

30. September 1890
 

Der Henker vergewisserte sich, dass Lord Crowley außer Hörweite war, dann stellte er sich unter die baumelnden Füße der Leiche, stützte ihren Körper mit seinen Schultern und pfiff eine leise Melodie.

Aus dem Quartier der Wachmannschaft kam ein hochgewachsener Blonder geeilt, zog ein Messer aus seinem langen Mantel und begann, den Strick zu durchtrennen.

Belas Körper fiel bewegungslos auf die lausige Pritsche seiner Zelle.
 

„Nein,“ flüsterte Farin.
 

Er öffnete das mit Seil umwickelte Drahtgeflecht, an dem Bela gehangen hatte, das aussah, wie ein Henkerstrick, aber hatte sicherstellen sollen, dass er an seinem Kiefer hängen, nicht ersticken und sein Genick nicht brechen konnte.
 

„Nein... Bela... Please. Talk to me.“

Er streichelte zärtlich über die blauen Schwellungen an Hals und Kiefer des Dunkelhaarigen, tastete nach einem Herzschlag. Er war zu aufgeregt, seine Finger zitterten zu sehr, er konnte nichts finden.
 

Dann hustete Bela, richtete sich röchelnd auf, um mehr Luft in seine Lungen zu bekommen.

„Das hätte nicht viel länger dauern dürfen,“ keuchte er zwischen zwei Atemzügen.
 

„Thank God,“ zwei langgliedrige Hände griffen sein Gesicht, ein ungläubiges, im Schummerlicht fast grau erscheinendes Augenpaar, studierte Belas Gesichtszüge.

„I thought I lost you. God. Bela. I’m so, so sorry.“
 

Bela griff die Hände, löste sie von seinem Gesicht, nicht grob aber bestimmt, und bedeutete Farin, ihn nicht zu berühren. Er war sich nicht sicher, was er fühlen sollte, wie er Farin gegenübertreten sollte.

„Was ist geschehen, wer hat mich verraten?“ fragte er tonlos, blickte vom südländischen Henker, der niemand anderes als Rodrigo selbst war, zu Lord Farin. Dann lachte er leise und überraschte sich selbst damit. „Wir sehen uns in der Hölle, herrje, Rod,“ sein morbider Sinn für Humor driftete zurück an die Oberfläche, er keuchte leise und holte rasselnd Luft. „Was glaubst du eigentlich, wie viel Mühe ich mir geben musste, nicht in Lachen auszubrechen?“
 

Rod zuckte gelassen mit den Schultern.

„Es ging um dein Leben, außerdem hab ich mich auf deine Schauspielkunst verlassen.“
 

Bela schwieg einen Moment, dann schüttelte er amüsiert den Kopf und beschloss, das Thema zu wechseln.

„Und was ist denn nun schief gelaufen? Wer von euch Mistkerlen hat mich verraten?“

Er fragte halb im Scherz, doch tat es noch immer weh, wenn er daran dachte, wie überzeugt er gewesen war, dass Jon schnurstracks zur Polizei gegangen war. Er konnte es sich nicht mehr vorstellen – nicht jetzt, wo er Jon ihn, Bela, so ruhig ansehend und fast unmerkbar lächelnd neben Rodrigo stehen sah, aber... es waren lange Wochen im Gefängnis gewesen. Er musste wissen, wem er die Schuld dafür geben konnte.
 

Katharina war es... Ich fürchte, du hast sie dümmer eingeschätzt, als sie ist,“ erwiderte Rod trocken auf seine Frage.

„Die kleine Schlampe,“ murmelte Bela und war von sich selbst überrascht, dass so wenig Überzeugung in seiner Stimme lag. Er hatte es verdient, schätzte er, ein bisschen wenigstens – und immerhin lebte er noch, steifer Nacken hin oder her. Obendrein wog die Erleichterung darüber, dass es nicht Farin gewesen war, leichter, als die Enttäuschung, die er dem Küchenmädchen entgegenbrachte.

„Sie hat bemerkt, dass du weg warst und nach dem Diebstahl eins und eins zusammengezählt. Unterschätze niemals den verletzten Stolz einer Frau...,“ ergänzte Rodrigo.
 

Bela lachte kurz, betastete seinen geschwollenen Hals. Mehr als flüstern würde er die kommenden Tage nicht können. Das geschah ihm Recht, konkludierte er, solange er nur wusste, dass Jon ihn gerettet hatte. Und dass Rod hier war, hieß wohl, dass er nach wie vor auf seiner Seite war – und ihm seinen Anteil am Diamanten auszahlen würde. Ja, all das war einen schiefen Hals allemal wert.
 

Er sah Farin an, schluckte und zog eine Grimasse ob des Schmerzes, den er sich selbst damit zuzog.

„Es tut mir Leid, Jon.“ sagte er schließlich leise. „Ich hätte dich nicht hier hineinziehen dürfen.“

Farin schüttelte den Kopf, lächelte leicht und machte einen Schritt auf ihn zu, aber sagte nichts.

„Und... es tut mir noch viel mehr Leid, dass ich gedacht habe, du hättest mich verraten. Dabei hast du mir das Leben gerettet. Du und Rod.“

Er schaute vom einen zum anderen.

„Danke. Ich verstehe immer noch nicht, woher ihr euch kennt, geschweige denn, wie ihr dieses Kunststück fertig gebracht habt... Aber ich danke euch aus tiefstem Herzen.“
 

Rod lächelte grimmig.

„Danke uns später. Dann ist auch Zeit für Erklärungen. Zunächst müssen wir hier weg, dringend, bevor sich jemand fragt, warum ich so lange dafür brauche, dich, die Leiche, abzutransportieren.“

Er drehte sich zu Farin.

„Wir treffen uns später.“

„In Ordnung.“

Farin lehnte sich vor, küsste Bela kurz auf die Lippen, flüsterte „es muss dir nicht Leid tun.“

Dann drückte er schweigend Rodrigos Hand, sie tauschen einen Blick.
 

Lord Farin, letzter Spross der Barone von Inglewood, drehte sich um und verließ leise die Zelle, in der sich die Ursache der vermutlich ersten heimtückischen, obendrein illegalen, Handlung seines Lebens befand. Es tat Bela im Herzen weh, dass es soweit gekommen war, dass Farin für ihn gegen seine tiefsten Prinzipien hatte verstoßen müssen – und doch jubilierte es in ihm, dass sein Leben Jon offenbar so viel wichtiger war als dieser alberne Ehrenkodex.
 

Rods Gesichtsausdruck war unverändert gelassen.

„So,“ sagte er schließlich. „Ich dachte mir bereits, dass der gut aussehende Lord mehr wollte, als nur seinen Valet zu retten.“

Er schüttelte den Kopf.

„Du hattest schon immer ein Händchen dafür, alles komplizierter zu machen als nötig.“
 

Bela lachte auf und bereute es sofort. Die Glücksgefühle darüber, am Leben zu sein, konnten den Schmerz nicht verdecken. Er hustete, lehnte sich schwer atmend auf seine Pritsche zurück.

Rodrigo stand kopfschüttelnd daneben, sein Gesicht wirkte nicht sehr mitleidig und Bela, der ihn und seine meist absichtlich stoische Mine schon seit vielen Jahren kannte, hätte schwören können, dass er einen Mundwinkel leicht hochzog – die Andeutung eines Lächelns in González’scher Körpersprache.

Viel Zeit, darüber nachzudenken, bekam er nicht.
 

„Du musst jetzt wieder Leiche spielen,“ sagte Rod kurzerhand, auf seine gewohnt trockene Art und Weise. „Mach dich bitte so steif, aber so leicht wie möglich – ich muss dich hinaus, auf meinen Karren, schleifen, ohne dass jemand von der Wachmannschaft auf die Idee kommt, du könntest noch leben.“

Bela grummelte kurz, dann ließ er sich von Rod unter den Armen packen, schloss die Augen und spielte Toter Mann, im wahrsten Sinne des Wortes. Er wurde unsanft von seiner Pritsche auf den Boden gehievt, anschließend aus der Tür, durch den Gang und eine Treppe hinauf geschleift. Dann hielten sie an und er wurde wie eine Gliederpuppe auf den Boden geschmissen.
 

„Ah, der Dieb,“ hörte er eine tiefe Männerstimme angewidert sagen, dann bekam er einen schmerzhaften Tritt in die Rippen und konnte nur hoffen, dass er nicht zu offensichtlich zusammenzuckte, während er verzweifelt versuchte, die Luft anzuhalten, um nicht zu keuchen. Glücklicherweise schien derjenige, dem die tiefe Stimme gehörte, nicht zu genau hinzusehen, er sprach ungehindert weiter.

„Ich habe schon gehört, dass er sich erhängt hat. Schaff ihn nur fort von hier, bevor er anfängt zu stinken.“
 

„Das werde ich,“ erwiderte Rod. „Keine Sorge.“

Bela lauschte, wie González’ Schritte sich entfernten, dann wechselte er ein paar leise Worte mit jemand Neuem. Der ‚tote’ Meisterdieb gab sich Mühe, so flach wie möglich zu atmen und wurde, bevor er sich an seine Position auf dem unbequemen Straßenpflaster gewöhnen konnte, unsanft von zwei Paar Händen hochgehoben und auf einen harten Holzuntergrund, wohl die Ladefläche eines einfachen Pferdekarrens, gewuchtet.
 

Man bedeckte ihn mit einem lakenähnlichem Stoff; wohl ein Leichentuch, kurz darauf hörte er das Klackern von Hufen und spürte unter sich, wie sie langsam von Dannen rollten.
 

Hatte es geklappt? Waren sie entkommen? Er fühlte sich extatisch fröhlich, unsicher, unglaublich lebendig, ängstlich, doch noch erwischt zu werden, alles zugleich. Er wollte vor Freude schreien und durfte sich nicht bewegen, er wollte seinen schmerzenden Hals und Nacken vor den Stößen des Karrens schützen und durfte es nicht.

Wo befanden sie sich? Wo rollten sie hin?
 

Nach einer scheinbaren Ewigkeit hielt der Wagen, die Plane wurde von ihm gezogen und Rodrigo und Samuel sahen grinsend auf ihn herab.
 

„Willkommen in der Freiheit, Prinzessin.“

Samuel drückte seine Hand und zog ihn unsanft vom Karren und auf die Füße. Bela war sich nicht sicher, ob er wirklich schon von sich aus stehen können würde, bis er tatsächlich stand. Ein bisschen wackelig zwar, aber frei.
 

„Danke... Wo sind wir?“ fragte er, und blickte sich im nur von zwei Ölfunzeln beleuchteten schummrigen Halbdunkel, in dem er vage die Formen weiterer Kutschen und einiger angebundener Pferde ausmachen konnte, um.

„Im Stall eines meiner Wirtshäuser,“ sagte Rod. „Kannst du schon laufen, meinst du?“

„Ich versuche es.“

Bela machte einen wankenden Schritt, dann noch einen, schon etwas weniger unsicher. Sein Hals schmerzte, ja, aber er war am Leben und so langsam begann die Euphorie darüber, dass die Welt ihm offen stand, endlich wieder, nachdem er es sich in seiner einsamen Zelle so lange gewünscht hatte, einzusetzen.
 

Samuel grinste zu ihm hinüber, seine braunen Augen mit den goldenen Punkten darin blitzten, während er mit dem Arm Schlangenlinien in die Luft malte, wohl um Belas Bewegungen nachzuempfinden.

„Du schwankst wie ein betrunkener Seemann, Bela.“

„Danke auch, Sam. Versuch du mal, ein paar Wochen in einem lausigen Kellerloch zuzubringen, mit nur den Flöhen als Gesellschaft. Dann lass dich obendrein noch hängen, und du weißt in etwa, wie ich mich fühle.“

Sie lachten, Samuel kam zu Bela herüber und haute ihm auf die Schulter.

„Ich bin froh, dass du überlebt hast, du Halunke.“ Er wechselte einen Blick mit Rod. „All diese Gespräche machen mich durstig, ich denke, ich gehe da mal etwas gegen tun und die Nachricht in der Stadt verbreiten, dass der gefürchtete Dirk ‚Nestor’ – schicker Nachname übrigens, fiel euch nichts besseres ein?“ Er zuckte ironisch mit den Schultern. „Nun, jedenfalls, dass der gefürchtete Dirk Nestor sich in seiner Zelle erhängt hat und keinerlei Gefahr mehr für die hemmungslose Dekadenz der Reichen bedeutet.“

Bela schüttelte lachend den Kopf.

„Sam, alter Gauner, du hast viel zu gute Laune. Wie viel hat Rod dir versprochen?“

Samuel zuckte ertappt mit den Schultern, hob die Handflächen zum Himmel und zog seine Augenbrauen hoch, so dass sie unter seinen dunkelbraunen Haaren verschwanden.

„Gar nicht einmal so viel, dafür, dass wir deinen hübschen Hintern gerettet haben, unter Gefahr unserer eigenen Haut, wohlgemerkt. Zehntausend.“

„Zehntausend?“ Bela war heimlich erleichtert – im Vergleich zum Wert des Feuer Eos war das tatsächlich geradezu lächerlich. Der Dieb in ihm frohlockte. „Alter Halsabschneider,“ sagte er fröhlich zu Samuel und drückte ihm die Hand. „Danke, auch dir, für deine Hilfe.“

Samuel sah ihn prüfend an, seine Mundwinkel zuckten. „Ich wusste es doch, dass das noch viel zu wenig war. Nun, immerhin kann ich jetzt allen erzählen, ich hätte den berüchtigsten Dieb Hamburgs zu seinem Grab gefahren, das sollte den Kutschbetrieb florieren lassen. Die Kundschaft liebt morbiden Klatsch.“

„Sehr gut,“ schaltete Rod sich ein. „Das sollte die Gerüchte über deinen Tod festigen. Aber jetzt, Bela, brauchst du wirklich neue Kleidung und ein Halstuch, bevor irgendjemand hier hineinguckt und dich sieht, wie du mit blauem Nacken und im Totenhemd hier stehst... Also, Samuel.“

„Ja, ich verschwinde! Bela, Rod,“ der junge Kutscher nickte ihnen beiden zu, dann verschwand er eilig durch eine Tür, die er sorgfältig hinter sich schloss.
 

„Komm,“ Rod führte Bela durch eine andere Tür in einen Korridor, eine Treppe hinauf und lotste ihn in ein kleines Zimmer, möbliert mit einem kleinen Sekretär, einer niedrigen Kommode, einem Stuhl und einem ausladenden Bett, auf dem frische Kleidung bereit lag. Für Bela, dessen karge Zelle noch frisch in seinem Gedächtnis herumspukte, wirkte es wie der Himmel.
 

González öffnete eine Tür, die in ein erstaunlich gut ausgestattetes, kleines Badezimmer führte.

„Falls du baden willst...“

Er deutete auf eine große, emaillierte Wanne, die bereits mit dampfendem Wasser gefüllt war, daneben standen einige Eimer mit kaltem Wasser, falls ihm die Temperatur nicht zusagen sollte.
 

Bela schüttelte lächelnd den Kopf, nicht weil er nicht baden wollte, sondern weil er davon erstaunt war, wie González’ messerscharfer Verstand augenscheinlich mit Befreiungsplänen nicht ausgelastet gewesen war, sondern obendrein allen praktischen Komfort für ihn, den befreiten Dieb, bereits im Vorhinein arrangiert zu haben schien.
 

„Du bist unglaublich, Rodrigo,“ sagte er denn auch. „Denkst du eigentlich an alles? Du hast keinen Augenblick daran gezweifelt, dass es dir gelingen würde, oder?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, seine Mundwinkel zuckten. Falsche Bescheidenheit stand dem Sohn chilenischer Eltern nicht zu Gesicht – er wusste zu genau, dass er nicht umsonst der jüngste Verbrecherkönig in der Geschichte Hamburgs geworden war.

Bela lächelte. „Das ist mein zweites Bad heute – aber...“ er atmete tief ein und erfreute sich am Geruch von teurer, frischer Seife, „was für ein Unterschied zum Zuchthaus.“ Er schritt zur Kommode, auf der eine Karaffe mit bernsteinfarbenem Brandy und zugehörigem, goldverziertem Schwenker bereitstand. Er öffnete kurz den Stöpsel und sog den scharfen Alkoholgeruch ein.

„Vieille Réserve erneut... der Kreis schließt sich. Du kennst mich zu gut, Rodrigo – mich und meinen Hang zur leichten Dekadenz.“

„Alles für dich. Schließlich hast du den Diamanten für mich gestohlen, unter Gefahr Leib und Lebens. Im wahrsten Sinne des Wortes... Ich lasse dich nun eine Weile allein, damit du dich an den Gedanken gewöhnen kannst, dass Bela B., Meisterdieb, tot ist und, zumindest hier in Hamburg, das auch bleiben muss.“
 

Darüber hatte Bela noch nicht nachgedacht, er schloß die Brandyflasche, sackte auf das Bett und biss sich nachdenklich auf die Lippen. Rodrigo hatte natürlich Recht, er konnte sein Gesicht hier, in dieser Stadt, nicht mehr blicken lassen, dafür war es zu markant – und er bezweifelte nicht, dass viele seiner ehemaligen Freunde den Bericht seines Todes, wenn auch unter falschem Namen, registrieren würden. Hier würde es keine Arbeit, keine Ruhe mehr für ihn geben.
 

Unter dieser Voraussicht verblassten all die Fragen nach dem „wie“ und „warum,“ selbst jene nach Jon, kurzzeitig. Rod, in einer seltenen Geste der Empathie, kniete sich vor ihn und umarmte ihn kurz.

„Dein Anteil liegt unten, in meinem Büro, bereit. Damit kannst du ein neues Leben anfangen, fern von hier, Bela. Du hast Glück gehabt – du lebst noch, und hast die Mittel, dies weiterhin zu tun, unter sehr komfortablen Voraussetzungen. Du könntest mal über Südamerika nachdenken. Sie ist wunderschön, meine Heimat...“

Er legte seine Hände auf Belas Schultern und sah ihm ernst in die Augen.

„Du wirst mir fehlen wenn du gehst, alter Freund, wohin auch immer. Wenn du mich brauchst, oder wenn du fertig bist, klingele einfach, ich komme dann hoch.“

Rod deutete mit seinem Kopf in Richtung des Klingelseils, das von der Decke baumelte, dann stand er auf, drückte Belas Schulter und schritt aus dem Zimmer.
 

Allein. Wieder allein.

Bela drängte mit aller Macht die Gedanken an seine Gefangenschaft, seinen – vermeintlichen – Tod, aus seinem Kopf und begann, sich auszuziehen. Rodrigo hatte Recht, ein Bad würde ihm gut tun und vielleicht würde die Voraussicht, seine Perle, Hamburg, verlassen zu müssen, im heißen Badewasser etwas von ihrem Schrecken verlieren.
 

Nachdem er einen halben Eimer kaltes Wasser in das heiße Badewasser verrührt hatte, ließ er sich wohlig seufzend in die Wanne sinken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zwei Mal an einem Tag gebadet zu haben, das war unerhörter Luxus, und doch hatte er das Gefühl, es sich absolut verdient zu haben.

Vorsichtig ließ er sich hinab in das Wasser rutschen, genoss die Wärme an seinem geschundenen Hals, betastete vorsichtig seine blauen Rippen, wo ihn der Wachmann des Gefängnisses vorhin getreten hatte.
 

Derweil öffnete sich die Tür seines Zimmers, vorsichtige Schritte näherten sich, dann steckte Farin den Kopf zur Tür hinein.

„In Ordnung, wenn ich hereinkomme?“

Bela lächelte. Es war schön, Jon zu sehen, alle Komplikationen hin oder her.

„Natürlich...“

Jon streifte seinen langen Mantel ab, dann durchschritt er mit zwei langen Schritten den Raum und kniete sich vor die Wanne. Er strich mit den Fingern über Belas Wange, der schloss kurz die Augen, genoss die rauen Fingerspitzen auf seiner Haut. Dann nahm er die Arme aus dem Wasser und zog den Blondschopf zu sich herab, musste ihn küssen, auch wenn er dabei seinen gestärkten Kragen durchnässte. Kurz befürchtete er, dass er zuviel vorausgesetzt hatte, dass Jon ihn nicht küssen wollte. Dann trafen sich ihre Lippen, ihre Zungen, und es war so schön wie immer, schöner, da Bela nicht damit gerechnet hatte, dass sie sich jemals wieder küssen würden.

Er legte seine beiden Hände auf Jons Wangen, sah ihn ernst an.

„Jon, ich...“

„Shh. Don’t talk about it. Du bist ein Dieb. Aber du hast nie mich bestohlen. Oder belogen, wenn es um dich und mich ging. I was an idiot. So were you. It’s over. Du lebst noch. Das ist most important...“

Farin griff seine Finger, hielt sie kurz fest, dann richtete er sich auf und trat hinter die Wanne und Bela. Seine Hände fuhren über Belas geschwollenen Hals, unendlich vorsichtig küsste er um die Striemen herum.

„Das muss weh getan haben,“ murmelte er gegen seine Haut.

„Nicht so sehr, wie zu denken, du hättest mich verraten.“

„I never would’ve. Aber... ich verstehe, warum du das dachtest.“

Farins Hände fuhren über Belas Schultern, der Dieb hatte beinahe schon vergessen, wie gut sie sich anfühlten.

Und doch. Wo war die Leichtigkeit hin, mit der sie immer miteinander umgegangen waren, fragte er sich. Selbst an ihrem ersten Tag hatte er sich entspannter in Jons Gegenwart gefühlt, dabei saß er nackt in einer Badewanne und wurde von ihm massiert, er sollte ganz und gar glücklich sein. Stattdessen fragte er sich konstant, wie es zwischen ihnen weitergehen würde, vor allem nun, wo er Hamburg würde verlassen müssen.
 

Jons Finger fuhren an seinen Seiten entlang, Bela spürte, wie sie über seine Rippen fuhren.

„Du bist far too thin...“

„Keine Sorge, das fress ich mir schon wieder an. Mit Tonnen von Fleisch.“

Farin verzog das Gesicht und küsste ihn auf die Wange. „Ughh... Tasty. Now, kommst du mal aus der Wanne heraus?“

„Natürlich nicht. Es ist viel zu schön warm.“

„Na schön.“ Farin stand auf und ging aus dem kleinen Raum, kurz darauf kam er mit dem Stuhl aus dem Schlafzimmer wieder und setzte sich darauf, vor die Badewanne, in der Bela lag und das Gefühl hatte, endlich, ganz langsam, die Gefängnisluft aus seinen Poren waschen zu können.

„Wir müssen ein paar Dinge besprechen, Dirk.“

Der Blick des Botschafters war freundlich, aber entschlossen.

„Aber zuerst... willst du wissen, wie deine Rettung zu Stande kam, perhaps?“
 

Bela hatte eigentlich nicht mehr darüber nachdenken wollen – sein „Tod“ fühlte sich schon jetzt unwirklich an. Allerdings wusste er schon jetzt, dass er nicht würde schlafen können, wenn er die Hintergründe seiner Befreiung nicht doch erführe, und so nickte er langsam, ließ sich tiefer in das warme Wasser sacken, auf einmal wurde ihm kalt.

„Ja, erzähle es mir. Alles.“
 

„All right. So, ich schmiss dich hinaus, nachdem du mir dein Innerstes offen gelegt hattest. Danach... verbrachte ich eine schlaflose Nacht in meinem Bett, wälzte mich hin und her in dem Wissen, dass du nie der gewesen warst, who you said you were from the start. Und doch, belogen hattest du mich auch nicht, nicht wirklich – schließlich hattest du schon in unserer ersten Nacht angesetzt, mir zu erklären, woher die Tattoos kamen, und ich hatte dich abgewürgt, voller Angst davor what you might say. Irgendwann gab ich es auf, schlafen zu wollen, und zog mich in die Bibliothek zurück, wo ich darüber nachdachte what would be my next steps. Ich muss zugeben...“ der junge Lord schwieg einen Moment und schüttelte den Kopf. „Ich muss zugeben, I did think about turning you in. Not for long. But I did.“

Bela lächelte. „Aber du hast es nicht getan.“

„Nein. Ich stand vor den Fenstern der Bibliothek und beobachtete den Sonnenaufgang, als es an der Tür klopfte. Davor stand dieser schweigsame Kommissar... um, I forgot his name again...“

„Kirchner.“ Bela beließ es bei der Nennung des Namens – er war zu sehr davon gefesselt, zu beobachten, wie Farins Gesicht die Gefühle, die er an diesem Morgen gehabt hatte, widerspiegelte. Sorge, Angst, Geringschätzung, Unsicherheit...
 

„Yes, Kirtschner, dankeschön. Einer dieser deutschen Namen, die ich wohl nie auszusprechen lernen werde. Nun, anyway, er sagte, er müsse dich verhaften, weil du der gesuchte Juwelendieb wärst. Es war nicht schwer für mich, Entsetzen zu spielen. Nicht, weil du der Täter warst, of course, but because irgendjemand die Wahrheit herausgefunden zu haben schien. Before I had decided for myself what to do about it, too.“

Er sah Bela an, seine Augen wieder ähnlich stumpf wie sie gewesen waren, als sie sich im Gefängnis zu Farins Zeugenaussage gesehen hatten.

„I was devastated, hatte keine Ahnung, was ich machen könnte. Ich beschloss, abzuwarten, konnte mir nicht vorstellen, dass dir irgendjemand etwas nachweisen können würde, außerdem hatte ich selbst keine Ahnung, wie du den Diebstahl eigentlich angestellt hattest. Little did I know, dass Katharina es gewesen war, who turned you in. Ich erfuhr das auch erst viel später – an jenem Morgen wusste ich von nichts, zwang mich selbst, bei deiner Verhaftung anwesend zu sein. Your words carved through my very soul, Bela. ‚Ich hasse dich, Jon’ hast du gesagt. Ich fühlte mich, wie ein Verräter, als hätte ich die Worte verdient, because I allowed those damn police-bastards to take you away. Aber... ich hatte keine Wahl, verstehst du das, Bela?“
 

Bela nahm Jons Hände, seine Augen brannten, das musste am Kerzenlicht liegen, beschloss er.

„Jon, verdammt, wage es nicht, dich bei mir zu entschuldigen. Das ist völlig falschrum. Ich muss mich bei dir entschuldigen, für alles, nicht anders herum!“

Er flüsterte, seine Stimme drohte ihn im Stich zu lassen, er schob es auf seinen geschundenen Hals.

Farin drückte seine Hände, nahm seine Rechte in die Linke und fuhr die Linien auf seiner Handfläche mit den Fingern nach.
 

„It doesn’t matter anymore. Du bist sicher. Bei mir. That’s all I ever wanted, Bela.“

„Jon...“

Bela richtete sich auf, beugte sich über den Wannenrand und hinterließ warme Wassertropfen auf Farins Hose; es war ihm egal. Er musste ihn küssen, nur kurz, um sicherzustellen, dass er Wirklichkeit war, dass der kühle Botschafter für ihn alles aufs Spiel gesetzt hatte. Er murmelte Jons Namen gegen seine Lippen, spürte mehr, als dass er es hörte, wie der Blonde ein Bela zurückmurmelte. Schließlich ließ er sich zurück in das langsam kühler werdende Wasser sinken, ihm war kalt und er war neugierig.
 

„Erzähl weiter. Wie hast du erfahren, dass Katharina mich verpfiffen hat? Wie hast du Rod kennen gelernt? Wie habt ihr Verrückten diese irrwitzige Rettungsaktion geplant und durchgeführt?“

Jon lächelte, tauchte seine Hand in das Badewasser und tippte Bela gegen die Brust.

„Geduld, mein Bela... I’m getting to it.“

‚Mein Bela’ hatte er gesagt. Bela fühlte einen angenehmen Schauer seinen Rücken herunterwandern.
 

„Gut. So, sie brachten dich in jail. Die folgenden Wochen waren... torture für mich. Ich wollte etwas tun, hatte aber keine Ahnung, was und beschloss, erst einmal abzuwarten. Ich konnte nur sicherstellen, dass du gut behandelt wurdest, indem ich sagte, dass es nicht anginge, dass mein Valet ohne eindeutige Beweise einsitzen müsste. Als ich hörte, dass du gestanden hattest, brachen alle meine vagen Pläne zusammen. Ich wollte alles tun, dich zu retten, doch wusste ich nicht, wie – ich würde mich nur selbst verdächtig machen, if I tried to give you an alibi. Das hätte keinem von uns beiden geholfen.“

Er lächelte kurz.

„The next part of the story... wirst du kaum glauben. Am Tag nach der ersten Verhandlung saß ich in der Bibliothek, dachte an dich, an uns beide, wie so oft... in those lonely weeks. Dann klopfte es an der Tür. Katharina stand davor, in Tränen aufgelöst. Sie hatte so häufig geweint in letzter Zeit – ich dachte mir nichts dabei, fand es verständlich, fühlte mich ihr sogar ein bisschen verbunden – a kitchen-maid! My father would’ve had a seizure. Ich hatte allerdings kaum mit ihr gesprochen, seit du verhaftet worden warst. Das Haus war awfully quiet without you, selbst Mary machte kaum noch den Mund auf.

Anyway, ich bat Katharina also herein. Ganz entgegen des Abstands, den sie eigentlich stets gegenüber mir bewahrte, flog sie geradezu um meinen Hals. Sie schluchzte mein Hemd voll – nicht sehr angenehm, muss ich sagen, aber - I had grown curious. Ich klopfte ihr also ein bisschen ratlos auf den Rücken und wartete darauf, dass sie etwas sagen würde. Das tat sie dann auch... and left me completely flabbergasted.

‚Ich weiß, dass du ihn liebst. Und er dich,’ sagte sie.“
 

Farin schüttelte langsam den Kopf, noch immer ungläubig. Bela biss sich auf die Zunge, um nicht zu fragen, ob Katharina Recht gehabt hatte, ob Farin ihn liebte. Das war eine Frage für später.

„Oh,“ sagte er stattdessen, unschlüssig, was er dem folgen lassen sollte, doch es war unnötig, Jon sprach bereits von sich aus weiter, schien bestrebt, seine Geschichte endlich zu Ende zu bringen, alles herauszulassen, das ihn so lange beschäftigt hatte.
 

„Sie sagte, sie habe am Abend vor deiner Verhaftung mit Harold gesprochen. Der hatte ihr vom Schlafpulver erzählt. Sie wurde suspicious, warum sie selbst an jenem Nachmittag einfach eingeschlafen war, wollte mit dir darüber sprechen und kam zu deinem Zimmer.“

Eine leichte Röte überzog Jons Gesicht, als er weitersprach.

„She must have heard us... schließlich gaben wir uns nicht gerade große Mühe, leise zu sein. Sie verließ den Korridor, ohne uns zu überraschen und genau wie ich verbrachte sie eine schlaflose Nacht. Meanwhile, her suspicions against you became certanities. Am nächsten Morgen sandte sie den Stalljungen nach Kommissar, äh, Kirtschner und erzählte ihm von ihrem Verdacht, darauf wurdest du verhaftet...“
 

Farins Hände ballten sich zu Fäusten, während er weitersprach. Bela derweil suchte unauffällig eine bequemere Position in seinem ausgekühlten Badewasser – er wollte Farins Monolog nicht unterbrechen, hatte das Gefühl, dass er die Geschehnisse genauso sehr in ihrer Gesamtheit hören musste, wie Farin das Bedürfnis hatte, sie zu erzählen.
 

„She was smart, I’ll give her that. And cruel. For two weeks, she let you suffer. Als ich das hörte, war ich wütend, hätte sie fast hinausgeschmissen, doch irgendwo verstand ich ihre Wut zu gut. Sie flehte mich an, sie anzuhören, so I did. Wir sprachen miteinander, stundenlang, glaube ich.

Sie sagte, sie habe versucht, all ihren Hass, ihre verletzte Eitelkeit, auf dich zu fokussieren, all die Tage zuvor, und erst recht, als sie dir schließlich bei der Verhandlung selbst gegenüberstand. It worked, during the hearing at least. Danach allerdings habe der Kommissar ihr erzählt, dass du kein ordentliches Verfahren bekommen, sondern die Briten über dein Schicksal entscheiden würden.

So she came to me.“
 

Jon zog eine Augenbraue in die Höhe.

„Sie wollte dich retten, mit aller Macht, sie sagte, sie könne mit der Schuld nicht leben, wenn du wegen ihr sterben müsstest. Ich versuchte, sie zu beruhigen, dass ich mir nicht vorstellen könne that my fellow countrymen would decide to kill you in cold blood, without a trial.“

Seine Augen sprühten wütende Funken.

„So much for their honour and upholding the law – they did intend to kill you, after all. Aber... I’m getting ahead of myself.

Katharina erzählte mir, dass sie dich nicht nur ans Messer geliefert hatte, weil sie wütend war, sondern auch, weil es einen stattlichen reward geben sollte. 5000 Reichsmark. Sie brauchte das Geld, sagte sie – ihre Mutter ist schwer krank und kann nicht mehr arbeiten. Deshalb wollte sie dich unbedingt heiraten. Nicht, weil sie dich geliebt hätte.“
 

Belas Ego litt. Er hatte Katharina nie geliebt, natürlich nicht – aber dass auch sie ihm etwas vorgelogen hatte, verpasste seinem Selbstbewusstsein einen gehörigen Dämpfer.

Farin derweil konnte nicht verbergen, dass ihn Belas Reaktion amüsierte.
 

„Weißt du, ich glaube, es tut dir ganz gut, dass du da über eine kleine guttersnipe gestolpert bist, die ähnlich shrewd ist wie du...“

Er beugte sich kurz vor und küsste Bela auf die Nasenspitze.

„What a marriage that would have been. Es tut mir fast schon Leid, dass es nie so weit gekommen ist.“

Nun lachte der Dieb ebenfalls.

„Das hättest du wohl gern. Aber erzähl mir, wie kam es zur Befreiung?“
 

„Well... Katharina und ich schlossen einen Pakt – wir würden dich da rausholen, gleich wie. Es tat ihr immens Leid, dass sie dich im Gerichtssaal so angegriffen und damit konfrontiert hatte that she knew about us. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie sich erfolgreich eingeredet, dass sie dich deshalb um so mehr hasste – dabei, sagte sie mir, hatte sie eigentlich nichts dagegen, except for all her plans, hopes and dreams falling apart within a single evening. Sie sagte...“ Farin lachte kurz.
 

„Sie sagte, irgendwie wäre es kind of sweet, you and me... und sie wäre auch nicht im Traum darauf gekommen, deshalb zur Polizei zu gehen.

Anyway, Katharina und ich entschieden uns, erst einmal abzuwarten, wie die Anhörungen weiter laufen würden. Ich versuchte, hart zu bleiben, doch als ich dich sah, so abgemagert und halb krank vor Einsamkeit, fühlte es sich an, als würde etwas in mir zerbrechen. Als hätte ich dich im Stich gelassen, schon viel zu lange.

After the hearing, I went straight to Katharina. Sie hatte einen Plan, erinnerte sich an den Kutscher, der euch beide gefahren hatte an dem fatalen Nachmittag, vielleicht wusste der etwas. Wir machten ihn ausfindig, schließlich gibt es nicht allzu viele selbstständige Kutscher in Hamburg. It took us a while to convince him we were not spies, aber... nach ein paar Tagen führte er mich zu González. Der war erstaunt, mich zu sehen, auch bei ihm kostete es mich wertvolle Zeit, ihn zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sprach, dich wirklich retten, nicht in seine Geschäfte pfuschen wollte.

Schließlich, vor einigen Tagen, kam Lord Crowley zu mir, freudestrahlend darüber, dass unser beider Ehre wiederhergestellt werden könne. The House of Lords was good for something, after all, he said, und dass du zum vermeintlichen „Freitod“ verurteilt worden warst. Ich konnte es nicht glauben, verbarg mein Gesicht, um ihm nicht meine... compassion in the matter... zu zeigen. Nach einer Weile fand ich genügend zu mir selbst zurück, um ihn zu fragen, wie er sich das vorstellte. Well, sagte er, wir suchen einen Henker, someone who can keep his mouth shut und der keine Angst davor hätte, sich die Finger zu verbrennen. Ich sagte, ich hätte genau den richtigen Mann im Auge; tat, als wäre ich sehr angetan von dem Plan, dich für deine Verbrechen gegen die Krone – against the crown! They must be delirious! – hinzurichten.

Der Rest ist Geschichte – Rodrigo wurde unter falschem Namen als Henker eingestellt – er dachte sich eine elaborierte Gastarbeitergeschichte aus, so viel Fantasie dabei – und beim Nachstellen deines Todes – hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
 

Bela lächelte.

„Unterschätze ihn nicht. Dieser Diamantendiebstahl ist bei weitem nicht der erste – oder der letzte – Plan, der von ihm kommt. Und jetzt... werde ich endlich aus dieser Wanne herauskommen, meine Haut ist schon ganz schrumpelig.“

Farin nahm seine Hand und küsste sie.

„You do just that. Ich will doch keinen verschrumpelten Valet.“
 

Bela antwortete nicht sofort. Zunächst stieg er aus der Wanne, trocknete sich ab und ging in das anliegende Schlafzimmer. Dort kleidete er sich an; Rodrigo hatte ihm eine einfache Kordhose und ein abgenutztes Hemd bereitgelegt. Unauffällige Alltagskleidung.
 

Schließlich ließ er sich rückwärts auf das Bett fallen, bedeutete Jon, ihm Gesellschaft zu leisten. Der Botschafter sah einen Moment zweifelnd drein, dann legte er sich neben ihn. Bela wusste nicht, wer zuerst näher an den Anderen heranrückte, doch schon bald lagen sie umschlungen nebeneinander, auf der Seite, damit sie sich anschauen konnten. Bela hob eine Hand, fuhr mit den Fingern Farins Gesichtszüge nach, wie in jener ersten Nacht.

„Jon,“ flüsterte er schließlich, küsste ihn kurz, mit Schmerzen im Herzen.

„Ich kann nicht mehr dein Valet sein, das weißt du... Ich muss Hamburg verlassen, für immer.“
 

Unglaublicherweise lächelte Farin, drehte leicht den Kopf und küsste seine Handfläche.

„I know, of course. Weißt du, Bela... I have fallen out with my father. And with basically everyone who mattered to me before all of this happened. Ich kann kein Botschafter mehr sein, schon gar nicht hier – wie sollte das funktionieren, wenn ich nicht einmal mein eigenes Haus vor ‚feindlichen Einflüssen’ schützen kann?“

„Feindliche Einflüsse? Interessante Bezeichnung, gefällt mir. Vielleicht sollte das mein nächstes Tattoo werden. ‚Feindlicher Einfluss’.“

„Stop fooling around.“

„Entschuldige. Was willst du damit sagen, Jon?“

Belas Herz schlug ihm bis zum Hals. Wollte Jon Hamburg verlassen? Ihm folgen? Er traute sich nicht, zu viel weiter zu denken, aus Angst, dass er ihn falsch verstehen könne.
 

„I need a change of air. Ich dachte an Südamerika, vielleicht...“

„Das klingt gut,“ murmelte Bela. „Ein Abenteuer... für Long Jonathan Farin.“

Jon lachte, strich durch Belas schwarze Haarmähne, die in seiner Gefängniszeit nahezu unanständig lang geworden war.

„Ja. Ich dachte... I could become an explorer. Jede Menge Urwald zum Entdecken. Inka-Ruinen. Reichtümer, kulturell und weltlich. And it’s a respectable profession, even for an English Lord...“
 

Bela lächelte, küsste ihn kurz auf die Lippen.

„Das klingt wunderbar... für dich. Ich... willst du...“
 

Farin lächelte zurück, sah ihm in die Augen, ihre Nasen berührten sich, so nahe lagen sie beieinander.
 

„Ja. I could use a Valet there, you know. Or a companion.“
 

--- FIN ---
 

Danke für's Lesen.

Ich weiß nicht, inwieweit es realistisch ist, dass man von so Nahem eine Hängung (ist das wirklich das Nomen??) fälschen kann. Es ist allerdings eine historische Tatsache - ja, auch das habe ich mal wieder geklaut - dass es mit genau jener Methode einige Male gemacht wurde. Nur war das natürlich weiter weg von jeglichen Zuschauern...

Naja, nennen wir es künstlerische Freiheit. ;)
 

Ich ende übrigens absichtlich nicht mit einem "Und wenn sie nicht gestorben sind..." - offene Enden sind doch viel schöner.
 

Und nein, natürlich konnte ich Bela nicht wirklich sterben lassen (obwohl einige Vorschläge durchaus Charme hatten *g*). Ich bin doch viel zu harmoniesüchtig dafür...
 

So. Das "Feuer" ist damit abgeschlossen. Es wird mir fehlen.

Gute Nacht!



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Kommentare zu dieser Fanfic (107)
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Von:  yamina-chan
2012-07-28T02:14:22+00:00 28.07.2012 04:14
Autor oder Autorin abgemeldet, mein Feedback wird also warscheinlich nicht ankommen...
Dennoch möchte ich anmerken wie sehr mir diese Geschichte gefallen hat. Definitiv die beste in diesem Fandom die ich kenne - auch wenn es eine AU ist XD Oder vielleicht deswegen.
Der schreibstiel ist toll, die Erzählweise stimmig, die Handlung flüssig, alles ist sorgfltig recherchiert... und es wird sowohl an Leser mit Adult Berechtigung als auch ohne gedacht.
Wunderbares Werk und sehr zu empfehlen.
Danke.
Von: abgemeldet
2008-11-23T14:04:08+00:00 23.11.2008 15:04
ich finds echt richtig gut geschrieben und alles hat seine logik! auch wenn es hier nicht direkt um die ärzte geht, hat man trotzdem einen ähnlichen draht zu den "figuren" wie zu bela, farin und rod von heute ... das finde ich echt bemerkenswert! ich hoffe sehr das du noch weitere so gute geschichten auf lager hast und nicht zu lange wartest sie auch öffentlich zu machen ... das paring gefällt mir übrigens auch sehr, sehr gut^^
einfach herrlich und weiter so!
glg jenny
Von:  Kelandria13
2008-10-24T06:57:17+00:00 24.10.2008 08:57
Für die Story gibts nur drei Buchstaben: WOW!
Der Schreibstil, der Bezug auf tatsächliche Begebenheiten von damals... es passt einfach alles!
Ich bin total begeistert und weiß gar nicht was ich sonst noch schreiben soll...

Liebe Grüße (und Reis!)
Kela

PS.: Ich glaube ich wär nicht die einzige, die sich über eine Fortsetzung von Eos freuen würde *mit dem Zaunpfahl wink* ;-)
Von: abgemeldet
2008-10-12T15:40:32+00:00 12.10.2008 17:40
Wow, der Beginn dieses Kapitels hat mich am meisten beeindruckt.
Man konnte quasi diese Einsamkeit spüren, die der arme Bela 3 Wochen lang erleiden musste.
ich jedenfalls konnt mir genau vorstellen, wie es ist, in solch einem Rattenloch eingesperrt zu sein und Selbstgespräche zu führen, während das Leben draußen an einem vorbeizieht.
Auch die Szene im Gerichtssaal hat mir sehr gut gefallen. ;)
Einfach wunderbar geschrieben!

black-wulf
Von: abgemeldet
2008-10-12T15:01:46+00:00 12.10.2008 17:01
Verdammt, in den letzten Wochen hatte ich kaum Zeit um ins Internet zu kommen, gescheige denn zu lesen oder zu kommentieren, dabei ist deine FF einfach großartig.

Man merkt, dass du dir sehr viel Zeit genommen hast, jedes einzelne Kapitel ist grandios.
Jetzt muss ich noch die weiteren lesen...hab noch einiges nachzuholen. ;)

liebe Grüße
black-wulf
Von: abgemeldet
2008-10-11T12:46:52+00:00 11.10.2008 14:46

irgendwie hab ich deine FF die ganze Zeit übersehen...
Hab sie gestern Abend entdeckt und sie an einem Stück
verschlungen, und ich kann nur sagen, ich bin sprachlos...

Die Geschichte ist einfach so wundervoll..
Sie hat mich gefesselt, wie wenige andere zu vor, und dein
Bezug auf wirkliche Begebenheiten liesen das ganze so
realistisch wirken.
Rod als König der Unterwelt... Die Rolle ist toll.
Belas Rolle als Meisterdieb ist auch klasse.. Ich kann ihn
mir so gut darin vorstellen. Genial.
Aber alles wird getoppt von Farins Rolle.
Der junge Lord, der doch so sehr nach Freiheit strebt....
Und jede klitzekleine Kleinigkeit hat so super zu ihm gepasst.
Der Tee, die Bücher, sein Akzent.. Ich kann es mir so
richtig vorstellen...

Ich liebe die Geschichte... Und ich vermisse sie jetzt schon total.
Du hast mich wirklich vom Hocker gehauen... Ich bin sprachlos!
Zweifels ohne eine der besten, die ich je gelesen habe - vielleicht
sogar die beste.
Ich hoffe wir dürfen uns bald auf neuen Lesestoff freuen :)
Von: abgemeldet
2008-10-04T19:06:51+00:00 04.10.2008 21:06
das... das...
first of all: es tut mir leid das ich die zwischenzeitlichen kapitel nicht kommentiert habe, aber ich hatte keine gelegenheit online zu gehen... darum jetzt alles auf einmal.
WOW!
Wahnsinn!! Das sit der hammer...
ich hab so mitgefiebert... wie schnell sich emotionen verändern können =)
so schön geschrieben, so lebendig! das ist echt.. hach <3
ich wiederhole mich das tut mir leid, bist du aber mitlerweile von mir gewohnt :P
ansonsten schließ ich mich allen anderen an

dieser schluss ist der schönste den ich je gelesen haben und einfach perfekt für diese geschichte! ich liebe es durch und durch - meine absolute lieblings fic, wirklich!

okay... für den rest fehlen mir einfach die worte desshalb vielen dank für diese wunderbare storry und gute nach

jede menge L&V auf das noch viele weitere wundervolle ffs von dir folgen mögen =)
ganz viele liebe grüße
nanni

Von: abgemeldet
2008-10-04T12:42:15+00:00 04.10.2008 14:42
Absolut filmreif, diese Geschichte^^
Ich hoffe, es gibt mal wieder so was!

lg
Von:  YouKnowNothing
2008-10-03T18:00:07+00:00 03.10.2008 20:00
*seufzt*
Schade, dass es vorbei ist... aber, alles geht mal zu Ende, nicht? ^___^

Es ist perfekt, dass Bela nicht wirklich tot ist *___* ein wunderschöpnes und absolut perfektes jappy end! *___*

trotzdem, ich werd die FF vermissen... und deine tollen geschichtsstunden! hat immer großen Spaß gemacht.

ich freu mich auf dein nächstes projekt!

LG Sharingan-Moerder

Von:  Kokuren2
2008-10-02T08:15:03+00:00 02.10.2008 10:15
*einen langen seufzer im raum stehen lass* hach.....die fanfic wird nicht nur die fehlen. sie ist P E R F E K T !!! Ich habe nichts, aber auch wirklich rein gar nichts daran auszusetzen. Wie du die ganzen handlungstränge miteinander verbunden hast und wie viel du dir ausgedacht hast, doch auch im logischen zusammenhang mit wahren begebenheiten in der damaligen zeit....einfach genial!!! Und das ende ist zum sterben süß!

Zudem hast du es wirklich immer wieder geschafft, mich zu überraschen, was autoren nicht oft gelingt( da kann man dann vorrausschauen was als nächtes geschieht...) aber so..einfach genial!^^ man kann gar nicht mehr aufhören mir lesen!

So....vielen dank für so eine einzigartige ff. Ich bin wirklich traurig, dass sie vorbei ist.......hach.

ganz liebe grüße
caro


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