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Wie lange noch...?

Die Geschichte eines jungen Prostituierten
von

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Prolog zum 1. Teil

London im Dezember 1898 bis Januar 1900.

Die zwei jungen Prostituierten Jamie und Ethan leben in einer Welt voll Schein und Glitzer, sie sind die Stars des Szenenachtclubs „Vouge“ und ihnen liegen die Männer zu Füßen.

Jamie wird jedoch nicht nur von seinen Freiern verehrt, auch der gleichaltrige Luca aus dem Haus nebenan empfindet mehr für ihn als er sich eingestehen will.

Selbstmord und Hoffnungslosigkeit gehören in Jamies Leben zu einem Bild des Alltags und obwohl er sich kein Leben außerhalb des „Vouge“ vorstellen kann, kann er nicht umhin, sich Fragen zu stellen. Und eine davon ist:

„Wie lange noch...?“

Aus der Sicht von Jamie

1.Teil
 

„Gott, ich bin so fertig, das glaubst du garnicht!“, Ethan sank auf das weinrote, diwanähnliche Samtsofa, streckte sich mit verzerrtem Gesicht und sah sich im Zimmer um. Der Raum, in dem er sich befand, war durch schwere, weinrote Brokatvorhänge abgedunkelt worden, in der Luft hing der betäubende Duft von Räucherstäbchen. Und dank der zwei schmiedeeisernen, schnörkeligen Brennöfen war es gemütlich warm. Über dem großen Bett, neben dem Jamie stand, hing ein Baldachin aus dunkelviolettem, gazeartigem Stoff; auch über dem Diwan hing ein Himmel und überall funkelten Pailletten und Perlenstickereien. Alles sah aus wie im Gemach eines indischen Palastes.

Jamie stand neben dem breiten, mit saphirgrüner Seide bezogenem Bett und ließ seine Hand über die schwarzen Metallrosen gleiten, mit denen das Gestell geschmückt war. Seine kobaltblauen Augen schimmerten im Licht der Kerzen, die rings um sein Bett in die weichen Perserteppiche gestellt worden waren. Ethan stöhnte erneut und jammerte leise vor sich hin.

„Hättest ja auch mal etwas kürzer treten können. Dreiundzwanzig Freier an einem Tag, du bist verrückt.“ Aber eigentlich hätte Jamie sich das denken können. Heute hatten sie wieder mal gewettet, wer die meisten Freier abschleppen würde, an einem Abend. Jamie hatte nur siebzehn gemacht, aber auch er war hundemüde und wäre am liebsten gleich ins Bett gegangen. Gedankenverloren blickte er in den großen, goldgerahmten Spiegel über dem Diwan und betrachtete sich.

Große blaue Augen, goldbraunes Haar und volle rote Lippen. Seine Statur war schlank, schmal, fast zierlich und weckte bei seinen Freiern meist einen nützlichen Beschützerinstinkt. Hätte Jamie gewollt, er hätte Ethan schlagen können, denn die Männer standen Schlange bei ihm und zahlten Unsummen, um ihn...

„Jamie! Mir ist schlecht!“, unterbrach Ethan ihn lautstark und an seinem bleichen Gesicht sah Jamie, dass schlecht wohl meilenweit untertrieben war. „Geh draußen kotzen. Und nicht auf meine Möbel!“, warnte Jamie und zog Ethan vom Sofa hoch. Ethans amethystfarbener Morgenmantel war ihm halb über die Schulter gerutscht und als Jamie ihn die Treppe hinunterstützte öffnete sich der Samtgürtel und entblößte einen Großteil Ethans perfektem, athletischen Körpers. Kaum hatte Jamie seinen Freund durch die Hintertür auf den schmalen Hinterhof des Gebäudes bugsiert, sank dieser auf die Knie und erbrach sich. Angewidert blickte Jamie weg und besah die Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Die zwei Gebäude waren sich so nah, hätte er den Arm ausgestreckt, er hätte die bröckelnde Wand berühren können. Es war schweinekalt und ein paar verirrte Schneeflocken trieben vom grauen Himmel herab.

Nachdem die Kotzgeräusche hinter ihm verstummt waren, drehte Jamie sich wieder um und sah ungeduldig und frierend auf Ethan herab. Die schwarzen halblangen Haare klebten ihm in der Stirn und als er den Kopf hob und sich den Mund abwischte, funkelten die tiefgrünen Augen schon wieder. Ethan war eigentlich immer gut gelaunt und das war der Grund, warum Jamie überhaupt mit ihm befreundet war. Ethan brachte ihn zum Lachen.

„Mann“, begann Ethan und grinste Jamie schief an. „Das waren wohl eindeutig zu viele Blowjobs heute!“, dann lachte er und Jamie musste unwillkürlich grinsen. Er griff nach der Hand, die Jamie ihm hinhielt und ließ sich hochziehen. „Jetzt weiß ich auch, warum du immer so schnell fertig bist mit den Typen.“

Ethan lachte wieder und fuhr sich durch die Haare, dann zuckte er die Schultern.

„Bei dreiundzwanzig muss man auch abwägen, ob es sich überhaupt lohnt was anderes zu machen, nicht wahr?“ Jamie grinste wieder und nickte.

Plötzlich knarrte es hinter ihnen und die zwei Jungen drehten sich um. Die Hintertür des Gebäudes nebenan hatte sich geöffnet und ein blonder Junge in ihrem Alter trat hinaus. „Hey.“, grüßte Ethan und grinste ihn freundlich an, doch als der Junge sah, dass es die zwei Jungen von nebenan waren, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder.

„Ich sag nur: Vorurteile!“, spottete Jamie und betrat den Flur des Hauses. Ethan folgte ihm und zog derweil den Gürtel seines Morgenmantels wieder fest. Die Treppenstufen hoch in Jamies Zimmer knarrten, doch sie übertönten nicht die Geräusche, die teils aus dem vorderen Teil des Hauses, teils aus dem hinteren kamen. Die Musik der Band, lachende und redende Stimmen, Klirren unzähliger Schnapsgläser und zeitweise das Ploppen einer Champagnerflasche, leise verführerisch klingende Stimmen, das Knarren von Betten und ab und zu mal einen leisen Schrei. Jamies Zimmer war das beste und teuerste aller Hinterzimmer, denn Viktor – Jamies und Ethans „Arbeitgeber“ – liebte kleine Jungs und die zwei Freunde waren die unumstrittenen Stars des Nachtclubs. Sie waren richtige Künstler in ihrem Job und ihre ständigen Wetten um die meisten Freier brachten auch Viktor ordentlich Profit.

„Kann ich noch mit hoch zu dir kommen, oder willst du schlafen?“, fragte Ethan und seine Augen funkelten. „Ich könnte dir zeigen, was ein Freier heute mit mir gemacht hat.“, bot er an und stellte sich auf die Stufe unter Jamie.

Ethans Zimmer lag zwar auch im ersten Stock, doch auf der anderen Seite des Gebäudes, was hieß, dass er noch einmal durch den Barraum hätte gehen müssen, um in sein Zimmer zu kommen.

Jamie überlegte kurz. Eigentlich fand er es scheiße, mit seinem Freund und Kollegen manchmal sogar Konkurrenten rumzumachen, doch er wusste, dass Ethan scharf auf ihn war. Jedenfalls was Sex mit ihm anging. Und total erschöpft von ihrem Marathon war er auch. Doch vielleicht konnte er sich ja auf die Art ein bisschen Entspannen.

„Wenn es nicht zu anstrengend ist, weil sonst penn ich dir mittendrin weg.“ Ethan schüttelte den Kopf und Jamie nickte kurz. „Okay, dann komm noch eben mit hoch.“

Ethan stieg an ihm vorbei die Treppe hoch und öffnete sich im Gehen schon den Mantel. Kaum waren sie im Zimmer angekommen und Jamie hatte die Tür hinter sich geschlossen, forderte Ethan ihn auf, sich auch auszuziehen und aufs Bett zu legen. Weder übermäßige Erregung noch Aufregung durchströmten ihn, allenfalls leichte Neugier darüber, was Ethan mit ihm anstellen würde.

Jamie ließ seinen bordeauxfarbenen, ebenfalls seidenen Morgenmantel zu Boden fallen und legte sich abwartend auf die kühlen Laken. Seine Hand spielte mit den Troddeln eines der vielen Kissen, die in dunklen Rot-, Orange- und Violetttönen über das Bett verstreut lagen. Ethan dämmte das Licht und schmiegte sich dann an ihn.

„Es wird dir gefallen“, schmunzelte er und strich Jamie leicht mit den Fingerkuppen über die Brust.

„Mach schon, sonst schlaf ich echt gleich ein.“, konterte Jamie und sah Ethan gelangweilt in die Augen.

„Keine Chance“, flüsterte Ethan und beugte sich über ihn.

Ethans weiche Lippen suchten sich einen Weg über seinen schmalen Oberkörper und seine Hände wanderten an seinen Seiten entlang und verursachten eine Gänsehaut auf Jamies Armen.

„Siehst du, es gefällt dir.“

„Wie aufmerksam du mich beobachtest.“

Ethan lachte erstickt und leckte kurz über Jamies Brustwarze. Jamie atmete heftig ein und seine Hand schloss sich fest um den Troddel, mit dem er grad gespielt hatte.

„So lange im Geschäft und immer noch nicht desensibilisiert.“, scherzte Ethan und sah Jamie ins Gesicht. Jamie ahnte, was kommen würde und schüttelte den Kopf.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht ständig versuchen sollst, mich zu küssen?“ Ethan grinste und setzte eine Schmollmiene auf. Dann wandte er sich wieder seinem eigentlichen Vorhaben zu. Jamies Körper hatte derweil auf Ethans kundige Berührungen reagiert und als sich Ethans Mund erneut seiner unteren Körperpartie näherte stöhnte er leise auf. Auch Ethan war nun völlig vertieft in ihr Spiel und als Jamie gerade damit rechnete, dass Ethan ihm nun einen Blasen würde und sich fragte, was daran so neu sein sollte, griff Ethan nach seinem Glied und rieb daran.

„Was...wird...das?“, keuchte Jamie und öffnete die Augen einen Spalt, um Ethan einen fragenden Blick zuzuwerfen.

„Wart’s“, Ethan verlagerte kurz sein Gewicht und sah ihn dann mit leicht geröteten Wangen an. „Wart’s ab.“

Jamie richtete sich etwas auf und sah, wie Ethan nun auch nach seinem eigenen Glied griff und es im Gleichtakt mit seinem massierte. Ihre Glieder rieben aneinander und Jamie verstand den Reiz dieses Spiels. Heftig atmend ließ er sich zurück in die Kissen sinken und gab sich ganz den Gefühlen hin, die Ethan in ihm auslöste.

Ihr Stöhnen war durch jahrelanges Training beherrscht und die vorangegangenen Anstrengungen zehrten an ihnen, doch ihre Lust war uneingeschränkt.

Jamie spürte, wie so oft schon, dass er kurz vor seinem Höhepunkt stand und so öffnete er die Augen und stieß auf Ethans Blick, der sich glühend grün in seine Augen bohrte.

„Willst du kommen?“, die Frage war sachlich gestellt und Jamie nickte leicht.

Ethan beschleunigte die Art, wie er ihre beiden Glieder stimulierte und es dauerte nicht lange, da presste Jamie die Lippen fest zusammen und kam heftiger als er gedacht hatte. Ethan hatte seinen Höhepunkt kurz vor ihm erreicht und als sich das Zittern von Jamies Körper etwas gelegt hatte, ließ Ethan sich neben ihn plumpsen und tippte ihm gegen die Schläfe.

„Sag ich doch, ist garnicht übel, nicht wahr? Kannst ja mal bei einem Freier versuchen.“

Jamie nickte und war gerade im Begriff einzuschlafen, da meinte Ethan plötzlich völlig ernst. „Hast du eigentlich schon mal daran gedacht aufzuhören?“

Jamie kämpfte die Müdigkeit nieder und sah seinen Freund an. „Wie: Aufhören?“

„Naja, mit dem Ganzen hier. Weißt du, manchmal kotzt es mich richtig an. Dann wünsche ich mir, dass ich hier wegkann, raus aus diesem miesen Geschäft, raus aus diesem Ort, raus aus England.“

Kurz dachte Jamie über das nach, was Ethan gerade gesagt hatte. Es stimmte, manchmal war es echt ein beschissener Job, aber er tat das alles hier schon so lange. Was sollte er sonst machen?

Jamie hatte die letzte Frage laut gestellt und Ethan rollte sich, ihm zugewandt, auf die Seite. Seine grünen Augen musterten Jamie eindringlich als er antwortete.

„Du bist sechzehn, Jamie. Da fangen normale Jungen eine Ausbildung an. Du könntest alles werden!“

„Normal!?“, schnaubte Jamie. „Und du?“ Ethan war eineinhalb Jahre älter als Jamie.

„Ich könnte Matrose werden!“, lachte Ethan nun wieder fröhlich und legte sich auf den Rücken.

„Und dann fahr ich einmal rund um die Welt und bring dir von allen Häfen etwas mit.“ Jamie grinste und schloss die Augen. Aber Innerlich hallten Ethans Fragen in ihm wieder und drängten ihn geradezu dazu, über die Möglichkeiten nachzudenken, doch Jamie wollte nicht denken. Denken war nicht gut in seinem Job.

„Lass uns schlafen Ethan.“, meinte er schließlich und rollte sich auf die andere Seite.

„Okay.“, stimmte Ethan ihm zu und es klang ganz danach, als freute er sich diebisch darüber, diese Nacht bei Jamie schlafen zu dürfen.

„Und wehe du betatscht mich, während ich schlafe!“, warnte Jamie seinen Freund und schlug nach dem Arm, der sich gerade um seine Taille hatte legen wollen.

„Schon gut, war ein Scherz.“, Ethan lachte leise und drehte ihm den Rücken zu. „Schlaf gut.“

„Gute Nacht.“

Aus der Sicht von Luca

Luca ließ vorsichtig die Gardine zurückfallen und entfernte sich ein Stück vom Fenster. Heiße Erregung floss ihm durch die Adern und seine Hände zitterten, als er nach der Kerze griff, die er, wie ihm schien vor Stunden, auf die Kommode gestellt hatte. Während er langsam den Raum durchquerte und auf seine Kammer zuging, ließ er das gerade Gesehene noch mal Revue passieren. Es reichte also nicht, dass er den beiden Typen von drüben im Hinterhof begegnen musste, nein sie machten auch noch vor seinen Augen rum. Luca wusste, dass er sich was vormachte. Nicht die zwei Typen hatten vor seinen Augen rumgemacht sondern er hatte die beiden bei ihrem kleinen Intermezzo beobachtet. Leise schloss er die Tür hinter sich und stellte die Kerze auf den Nachttisch. Es raschelte kurz und eine Ratte rannte quiekend über seine nackten Füße.

„Widerliche Dinger!“, fluchte Luca durch zusammengepresste Zähne und schwang die Beine aufs Bett. Zur Decke blickend lag er da und rief sich das Bild des einen Jungen ins Gedächtnis zurück. Nicht der größere, schwarzhaarige mit seinen unwahrscheinlich grünen Augen und dem muskulösen Körper hatte es ihm angetan, sonder der kleine, mit den goldbraunen Haaren und den blauen Augen. Er wollte es sich eigentlich nicht eingestehen, doch er war eifersüchtig auf diesen schwarzhaarigen, der vorhin kotzend im Dreck gekniet hatte. Und doch schämte er sich gleichzeitig, dass er etwas für so einen wie den blauäugigen empfand.

Er war den Jungen erst ein paar Mal begegnet, doch egal wie flüchtig die Blicke auch gewesen waren, mit dem der blauäugige ihn gestreift hatte, sie ließen sein Herz jedes Mal schneller schlagen und dann hatte er plötzlich immer tierische Angst sich zu blamieren.

Luca versuchte einzuschlafen. Er würde die paar Stunden Schlaf bitter benötigen, denn seine Ausbildung zum Schneider spannte ihn mächtig ein. Von morgens bis abends schuftete er im Laden seines Vorgesetzten, doch das Gute daran war, in ein paar Jahren würde er seine Meisterprüfung machen und dann konnte er raus aus diesem Viertel. Raus aus diesem Haus, weg von seinem Vater.

Lucas Vater war ein freizügiger Alkoholiker, der den ganzen Tag nur soff, dann um sich schlug und schließlich bewusstlos zusammenbrach oder von seiner Frau ins Bett geschleppt werden musste. Seine Mutter war einst die Tochter einer wohlhabenden Familie gewesen und hatte seinen Vater aus Liebe geheiratet, doch der Vater hatte nicht ertragen, dass seine Frau etwas Besseres war als er. So hatte er angefangen zu trinken und versoff nun regelmäßig seinen Lohn, den Luca und seine Mutter so dringend gebraucht hätten. Versuchte man mit ihm zu reden, schlug er als Antwort kräftig zu und pöbelte rum.

Luca war der jüngste von fünf Söhnen, die seine Mutter zur Welt gebracht hatte. Zwei waren noch im Kindbett an irgendwelchen Epidemien gestorben und die beiden anderen, William und Paul, waren weggezogen, als sie ihre Lehren beendet hatten.

Er dachte an den Jungen von Nebenan und dachte, Warum kann ich es nicht auch so gut haben, wie er? Doch gleich darauf schalt er sich dafür. Mit fremden Männern schlafen, überhaupt sich von widerlichen, wildfremden Typen anfassen lassen. Das war der Preis dafür, dass die da drüben in mit Seide bezogenen Betten schliefen und den gesamten Vormittag frei hatten. Da war ihm seine schnöde Schneiderlehre doch lieber.

In der unteren Etage rumpelte etwas, dann klirrten Scherben und Lucas Mutter schrie herum. Der Bass seines Vaters drang durch die Wände und Luca verstand ein paar üble Schimpfwörter, die sein Vater seiner Mutter grad im Suff an den Kopf schmiss.

Er sollte schlafen. Wenn die zwei Typen demnächst zum Kotzen in den Hinterhof kamen, was des öfteren passierte, dann würde er den blauäugigen nach seinem Namen fragen, nahm Luca sich vor. Dann schloss er die Augen und ein paar Augenblicke später war er fest eingeschlafen.

Aus der Sicht von Jamie

Ein paar bleiche Sonnenstrahlen, die durch nachlässig zugezogene Gardinen fielen, weckten Jamie am nächsten morgen. Sich den Schlaf aus den Augen reibend drehte er sich zu Ethan um, der immer noch seelenruhig schlief.

Sogar im Schlaf schien er zu lächeln und automatisch lächelte auch Jamie. Leise stand er auf, zog sich ein violettes Hemd mit weitem Ausschnitt und ein paar feingewebte Hosen an, schlüpfte in seine schwarzen Lederstiefel und strich sich mit den Fingern durch sein Haar. Bald würden es so lang sein wie Ethans, aber noch war es ein Stück kürzer.

Irgendwie schaffte er es die Treppe hinunterzuschleichen, sodass nicht eine einzige Stufe knarrte, dann durchquerte er den Flur und öffnete die Tür zur Bar. Im Licht, das hell durch die wenigen Fenster fiel, wirkte das Ambiente und der Aufbau der Bar irgendwie lächerlich fehl am Platz. Doch Jamie hatte seit Jahren nichts anderes gesehen und war dementsprechend daran gewöhnt.

Rund ein Dutzend auf ihre Art überdurchschnittlich gutaussehende Jugendliche saßen über die Bar und die vielen Sitzecken verstreut und frühstückten.

„Morgen, Jamie!“, riefen ein paar Jungen ihm zu und winkten ihn in eine der hinteren Bereiche des Raumes. Jamie ging zu ihnen und ließ sich auf einen mit grellrotem Leder bezogenen Sessel fallen.

„Morgen.“, murmelte er und griff nach einer Tasse und der Kaffeekanne. Die Beine über der Armstützen und den Kopf an die Lehne des Sessels gelegt, schloss er seine Hände um die warme Tasse und trank Schluck für Schluck den abartig schwarzen Kaffee.

„Sag mal, Jamie, haben du und Ethan gestern wieder einen Marathon gemacht?“, fragte Emil, ein achtzehnjähriger Farbiger aus Westafrika, und beugte sich zu ihm hinüber.

Jamie nickte und Emil grinste ihn mit seinen strahlend weißen Zähnen an.

„Ethan hat gewonnen, oder?“

Wieder nickte Jamie nur, doch dann ergänzte er: „Und später hat er sich die Seele ausm Leib gekotzt, weil er die ganzen Typen mit Blowjobs abgefertigt hat.“

Einige andere Jungen, die das Gespräch mitbekommen hatten, lachten nun ausgelassen und machten sich über Ethan lustig.

Sie lachten immer noch, als Jamie hörte, wie die Tür zu den Hinterzimmern auf seiner Seite des Gebäudes erneut aufging und gleich darauf rief Ethan laut:

„Was gibt’s denn hier zu lachen? Ich bin doch grad erst runtergekommen?“ Dann lachte er und ließ sich neben Jamie auf einen umgedrehten Stuhl fallen und stützte sich mit überkreuzten Armen auf die Lehne.

„Hast du bei Jamie übernachtet?“, fragte Emil Ethan süffisant grinsend und blickte ihn anzüglich an.

Ethan nickte nur. Es war eigentlich nichts Unübliches, wenn zwei Jungen aus der Bar eine Nacht zusammen verbrachten, zum Austauschen von Techniken und Informationen über irgendwelche Freier. Doch Emil schien die Vorstellung, dass Jamie und Ethan es als beste Freunde auch miteinander taten zu belustigen und er schlug Ethan fast beglückwünschend auf den Arm.

„Muss Spaß gemacht haben“, meinte er mit einem eindeutigen Blick auf Jamie und musterte ihn unverhohlen. „Es mit dem Star des Clubs treiben zu dür–“, doch Ethan brachte Emil mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Emil räusperte sich und wechselte dann das Thema.

„Jamie hat erzählt, wie rühmlich du den Rest des gestrigen Abend verbracht hast.“

Ethan errötete kurz – Kotzen war peinlich – dann stieß er Jamie an, dem die Kaffeetasse fast aus der Hand fiel und grinste.

„Aber ich hab gewonnen, das ist alles, was zählt!“

Wieder lachten die anderen und Ethan griff nach der Kaffeekanne.

„Will noch wer Kaffee?“

Ein paar zustimmende Rufe erschollen und Ethan ging mit der leeren Kanne in die Küche. Jamie stellte die Tasse ab und sah sich um.

„Wo ist denn Leander?“

Emils Miene verfinsterte sich und er seine Stimme war gedämpft als er antwortete.

„Der hat sich letzte Nacht in der Männertoilette erhängt. Aber sag es nicht weiter. Offiziell hat man ihn in einen anderen Club verkauft.“

Jamies Herzschlag setzte kurz aus und sein Blick schnellte zu Isaak hinüber, der mit verschlossenem Gesichtsausdruck in einer Ecke für sich allein hockte und mit einer Rasierklinge spielte.

Ethan nickte langsam. Emil griff sich ein Brötchen und begann es zu essen. Jamie beobachtete unterdessen Isaak, der die Klinge nun an seinem Unterarm angesetzt hatte und zum Schnitt ansetzte. Isaak und Leander waren zusammen gewesen. Und nun hatte Leander seine große Liebe in diesem elendigen Leben, das nur aus Freiern und Schlafen zu bestehen schien, allein gelassen. Er fragte sich, wie lange Isaak, mit seinen gerade vierzehn Jahren, das Ganze noch alleine durchstehen würde. Bald würden sie wahrscheinlich seinen Körper still aus der Bar tragen und am nächsten Morgen würde keiner darüber sprechen, genau wie jetzt.

Jamie wandte sich ab. Selbstmord. Das kam selten vor, doch es kam vor und doch verdrängten es alle. Emil, zum Beispiel, hatte schon wieder ein fröhliches Grinsen im Gesicht und lachte ausgelassen über Anekdoten, die ein paar andere Jungen ihm gerade erzählten. Es ging um Pannen, die ihnen bei Freiern unterlaufen waren.

Ethan kam mit der neu gefüllten Kanne zurück und musterte Jamie eindringlich.

„Du hast es auch bemerkt, oder?“

„Leander?“, fragte Jamie zurück.

Ethan nickte. Jamie nickte ebenfalls und griff sich dann ein Brötchen.

„Willst du eine Hälfte?“

Doch Ethan war woanders mit seinen Gedanken.

„Lass uns das gemeinsam beenden, Jamie.“

„Was?!“, rief Jamie und dämpfte schnell seine Stimme, als er Ethans warnenden Blick bemerkte. „Du willst dich... umbringen?“

„Nein, du Trottel, ich will weg hier!“

Das Gespräch von letzter Nacht fiel Jamie wieder ein und wieder verdrängte er seine Hoffnung so gut es ging.

„Wo willst du hin, Ethan? Wir haben kein Geld, wir sind nie zur Schule gegangen, wie willst du was erreichen? Wir werden auf der Straße enden oder wieder anfangen mit den Freiern, nur ich denke nicht, dass wir dann genauso davon leben können, als wenn wir gleich hier bleiben würden.“

Ethan sah ihn an und Jamie sah, dass er resignierte. „Du hast Recht, wir kommen hier nicht weg.“, dann stand er auf und verließ den Raum.

Jamie ging ihm nicht hinterher.

Aus der Sicht von Jamie

An einem Champagnerglas nippend saß Jamie, ein Knie an den Körper gezogen, auf dem Rand des Musikerpodiums und durchsuchte die Menge nach Ethan. Der Club war brechenvoll, die Musiker spielten und die Gäste unterhielten sich lautstark. Noch lief das Geschäft schlecht, doch in ein paar Stunden würden die Lichter gedämmt und andere Musik gespielt werden, dann kam ihre Zeit. Vollkommen konzentriert, um Ethan nicht zu übersehen, bemerkte er nicht die Person, die sich ihm von der Seite näherte und ihm schließlich leicht auf die Schulter tippte.

„Entschuldige, darf ich dich auf einen Drink einladen?“

Jamie fuhr herum und verschüttet fast den Champagner, als er zurückfuhr, da die Person sehr dicht vor ihm stand. Viktor.

„Nein danke, hab noch.“

Viktor musterte ihn mit einem wohlgefälligen Grinsen.

„Wie läuft’s?“, fragte er und zupfte Jamies Hemd zurecht, dass ihm von der Schulter hinabzurutschen drohte. Jamie hatte gerade noch Zeit „Noch zu früh“, zu murmeln, da ertönte eine laute Stimme hinter ihnen.

„Viktor! Schön Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen?“ Jamie sah den stämmigen Mann in den besten Jahren auf sie zukommen und blickte zu Viktor auf. Der verdrehte die Augen und Jamie grinste.

„Die Arbeit ruft. Für uns beide! Sieh zu, dass du noch ein paar Fische an Land gezogen bekommst. Wir sehen uns!“ Dann drehte er sich breit grinsend zu dem Herren um und schüttelte ihm freundlich die Hand. Jamie stand auf, trank den letzten Schluck auf einen Zug aus, stellte das Glas einer Bedienung aufs leere Tablett und streifte ein bisschen durch das Gedränge. Dann erblickte er Ethan. Sein Freund fütterte eine gutbetuchte Dame in den Dreißigern mit roten Weintrauben und der Frau schien seine Aufmerksamkeit sichtlich zu gefallen. Grinsend lehnte Jamie sich ein Stück entfernt gegen einen Sessel und sah dem Schauspiel zu. Nach einer Weile entdeckte Ethan ihn und als die Frau gerade damit beschäftig war, Ethan sonst was ins Ohr zu flüstern, verdrehte Jamie die Augen und Ethan nickte und lächelte gequält. Um nicht laut lachen zu müssen, drehte Jamie sich um und sein Blick fiel auf den Eingang des Clubs. Gerade hatte sich die Tür geöffnet und zusammen mit einem Wisch Schnee, betraten drei junge Männer den Club. War es schon so spät?, fragte Jamie sich, denn anstatt den um diese Uhrzeit noch üblichen älteren Herren und Damen, die nicht wegen Sex in den Club kamen, waren diese drei Männer höchstens Anfang bis Mitte Zwanzig und somit die Zielgruppe von Jamie, Ethan und den anderen Jungen. Kaum hatten die drei sich in eine Ecke gesetzt, ging Jamie gewohnt kühl und verführerisch lächelnd auf sie zu.

„Guten Abend, darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Der stämmigste von den dreien, ein junger Mann mit Marineschnitt und braunen Augen schaute ihn an und nickte dann grinsend.

„Du kannst uns unsere Mäntel abnehmen.“ Mit diesen Worten knöpfte er sich seinen dicken, dunkelblauen Mantel auf und auch die anderen beiden taten es ihm nach.

Drei Matrosen; Nein, korrigierte Jamie sich. Zwei Matrosen und ein Offizier. Den Offizier hatte er an den goldenen Streifen auf den Schulterplaketten, dem rotgesäumten Jackett und dem Abzeichen auf der Brust erkannt. Außerdem war er der bestaussehendeste von den drein. Längere dunkelbraune Locken, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, kantige, maskuline Züge, einen vollen Mund, wenig Bartwuchs und rehbraune Augen. Der dritte im Bunde trug wie der andere Matrose die blonden Haare im kurzen, praktischen Schnitt der Seefahrer der Marine.

Kokett lächelnd nahm Jamie die Mäntel entgegen und hängte sie an die Garderobe. Der Offizier sah verdammt gut aus, und auch die anderen beiden waren nicht von schlechten Eltern. Kurz beobachtete Jamie die drei und stellte fest, dass sie irgendwie etwas fehl am Platz wirkten. Nicht nur aufgrund ihres Alters, sondern sie schienen sich auch etwas unbehaglich zu fühlen. Er würde ihnen etwas Zeit lassen müssen, sich einzugewöhnen, nervöse Freier waren keine guten Freier. Mit einem knappen Wink, rief er eine Bedienung zu sich und befahl ihr, einen teuren Champagner an den Tisch der drei Marinematrosen zu bringen.

Bald war es Zeit die Lichter zu dämmen, bemerkte Jamie und schaute sich noch einmal im Club um. Ethan stand an die Tür zu den Hinterzimmern gelehnt da und schien nach ihm zu suchen. Jamie drängte sich schnell durch die Leute und erst als er fast direkt vor seinem Freund stand, bemerkte dieser ihn.

„Na, wie läuft’s?“ Ethan hielt ihm sein Glas hin und Jamie nahm einen Schluck Brandy, dann zuckte er die Schultern und nickte mit dem Kopf zu der Ecke mit den drei Matrosen.

„Die drei sind irgendwie komisch, aber der Offizier sieht verdammt gut aus, findest du nicht?“

Ethan sah einen Augenblick lang zu den jungen Männern hinüber und nickte, dann standen sie schweigend und die Leute beobachtend an die Tür gelehnt da und warteten darauf, dass ihre Zeit kam.

Auf einmal kam Ethan wieder auf ihr Gespräch über die drei Matrosen zurück und fragte: „Überlässt du mir den?“

„Wen?“, fragte Jamie zurück und musterte den Offizier.

„Den schwarzhaarigen. Was meinst du, ist der im Bett dominanter als ich?“ Lachend sah Ethan Jamie an.

Auch Jamie lachte. „Du will dich von dem da ficken lassen?“ Ethan grinste anzüglich sagte: „Wieso darf ich nicht auch mal meinen Spaß haben? Diese alte Hexe von eben war gruselig, das glaubst du garnicht!“

Jamie lachte wieder und klopfte seinem Freund dann auf die Schulter.

„Du musst ja nicht immer gleich alles mitnehmen, was dich dir anbietet.“

Plötzlich verstummte die Band und leiser Blues kam aus den kleinen, mit dunkelrotem Leder bezogenen Lautsprechern. Die großen Lichter gingen aus und eine schummrige Atmosphäre breitete sich im Club aus.

„Dann mal los.“, meinte Ethan und stieß sich von der Tür ab. Der Club hatte sich in den letzten Minuten mit immer mehr jungen Leuten und noch älteren Herren gefüllt. Die Gespräche wurden nun leise murmelnd geführt und ein paar Pin-ups hatten die Bühne betreten und tanzten verführerisch aufreizend in ihren knappen Kleidern.

Die Stimmung war auf einmal ganz anders und es fühlte sich an, als ob alles darauf wartete, dass eine wasserstoffblonde, wunderschöne junge Frau sich in ihrem weißen und mit perlenbestickten Kleid an das Mikro schmiegen und mit verrucht rauchiger Stimme schmutzige Texte singen würde. Jamie seufzte und folgte Ethan.
 

Jamie war heißt und sein eisgekühlter Drink konnte die Hitze auch nicht mildern. Zigarettenrauch waberte durch die Luft und nun hauchte wirklich ein Blondine versaute Texte ins Mikro. Es war zwei vielleicht auch drei Uhr morgens. Ethan hatte er schon lange nicht mehr gesehen und davor auch nur kurzzeitig. Seit beginn des Abends hatte er nun schon sieben Freier erledigt und bis seine Schicht vorbei war, würde er noch mindestens die doppelte Anzahl machen. Die drei Matrosen waren immer noch da und unterhielten sich leise in ihrer Ecke. Vielleicht sollte er einfach mal zu ihnen gehen und fragen. Wer weiß, manche waren eben schüchtern.

Doch noch bevor er seine Gedanken in die Tat umsetzten konnte, sprach ihn ein Mann an.

„Guten Abend.“

„Guten Abend, kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“, fragte Jamie lächelnd und wandte sich dem Herren zu.

„Ja, du könntest mir ein wenig Gesellschaft leisten.“

Jamie neigte den Kopf nach unten und sah den Mann von unten herauf kokett an. „Gerne.“

Der Mann griff nach seiner Hand und Jamie ließ sich von ihm an einen ruhigen Tisch führen.

Sie unterhielten sich eine Weile und es stellte sich heraus, dass John, so hieß der Mann, ein wohlhabender Bankier war, der seine Frau auf Geheiß seines Vaters geheiratet hatte und eigentlich gar keine Frauen bevorzugte. Jamie nickte lächelnd und hörte seinem Kunden scheinbar aufmerksam zu. John schüttete ihm sein Herz aus und legte ihm anschließend einen Hundertpfundschein auf den Tisch.

Jamie dankte ihm und steckte das Geld ein. John war neu hier, jedenfalls hatte Jamie ihn noch nie zuvor im „Vouge“ gesehen. Beim nächsten Treffen würde John schon noch etwas für sein Geld verlangen, das kam öfter vor. Die meisten Freier trauten sich nicht gleich beim ersten Treffen nach Sex zu fragen. John verschwand und kaum eine halbe Stunde später winkte ihn ein junger, grobschlächtiger Mann an seinen Tisch.

„Wie viel?“, fragte er mit starkem russischen Akzent und hielt ihm drei fünfziger hin. Jamie nickte nur knapp und griff nach dem Geld, doch der Mann zog die Hand zurück und sagte: „Danach.“

„Wo geht raus?“

Statt einer Antwort drehte Jamie sich um und ging auf die Tür zu den Hinterzimmern zu. Der Russe folgte ihm und als sie alleine im Flur standen und Jamie Anstalten machte, die Treppe hinauf zu gehen, hielt der Mann ihn am Arm fest.

„Raus.“ Jamie sah ihn verständnislos an, dann deutete er auf die Tür zum schmalen Hinterhof und der Russe nickte.

Die Tür fiel hinter ihnen zu und Jamie rieb sich fröstelnd über die Arme. Was hatte der Typ vor?

„Da in die Ecke“, forderte der Mann und deutete auf die Backsteinmauer, die den Hinterhof begrenzte. Jamie stellte sich in die Ecke und überlegte, ob er dieses würdelose Umhergeschicke nicht einfach beenden und auf diesen merkwürdigen Freier verzichten sollte. Es gab genügend Männer, die da drinnen auf ihn warteten und da musste er sich nicht von diesem Ausländer umherkommandieren lassen.

Der Russe stellte sich dicht vor ihn und griff nach seinem Kinn. Jamie drehte den Kopf weg, sodass die Hand von seinem Kinn abrutschte. Kein Kunde durfte ihn küssen. Niemand. Sex und alles was dazu gehörte, aber keine Küsse.

Der junge Mann versuchte es erneut, doch Jamie löste die Hand und trat noch einen Schritt zurück.

„Keine Küsse.“, stellte er klar und sah den Russen fest an.

„Du willst nicht?“ Die Stimme des Russen war drohend geworden.

„Nein.“, stimmte Jamie zu und wollte an ihm vorbei wieder ins Gebäude zurückgehen, da packte der Mann ihn erneut am Arm und presste Jamie mit dem Rücken an die Wand.

„Lass mich los, du Dreckskerl!“, knurrte Jamie und versuchte sich zu befreien, doch der Russe hielt ihn fest.

Ein Grinsen schlich sich auf das kantige Gesicht des Mannes und er fragte: „Na, hat kleine Hure Angst?“

Jamie biss die Zähen zusammen und stieß dem Russen sein Knie in die Weichteile. Der Ausländer heulte auf und krümmte sich zusammen.

„Kleine Dreckshure!“, brüllte er dann und holte aus, doch bevor er Jamie schlagen konnte, traf ihn irgendetwas am Hinterkopf und er sackte nach vorne und in die Knie.

„Was-?“, fragte sich Jamie laut und blickte auf.

Aus der Sicht von Luca

Unsicher richtete der Junge sich auf und lehnte sich tief luftholend an die Mauer. Das weinrote Hemd war ihm von der Schulter gerutscht und Schmutz tropfte von den sorgsam polierten, teuren Lederstiefeln. Doch als der Junge aufblickte, sah er wütend aus.

„Du kannst doch nicht einfach meinen Kunden erschlagen! Wie kommst du überhaupt dazu?“

Luca fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen und dann wurde auch er wütend.

„Stimmt ich hätte den Typen auch machen lassen können. Er hätte dich ja wahrscheinlich nur zu Matsch geprügelt und ich denk mal nicht, dass ein Gesicht, dass nach Hackfleisch anmutet, in deinem Beruf so gut kommt!“

Der Junge schaute ihn noch einen Augenblick ungehalten an, sagte aber nichts und murmelte schließlich leise:

„Danke.“

Luca schluckte und riss sich von den unwahrscheinlich blauen Augen des Jungen los.

„Gerne. Ich heiße Luca.“

„Jamie. Mit was hast du ihn geschlagen?“

Luca grinste und zog Baseballschläger hinterm Rücken hervor. Den hatte er heute auf dem Weg von der Schneiderei nach Hause gefunden und mitgenommen.

Jamie stöhnte und beugte sich zu dem Mann hinunter.

„Und was mach ich jetzt mit dem Kerl?“

Luca zuckte die Achseln. „Liegen lassen?“

Er konnte Jamies Gesicht nicht sehen, doch ein lautes Schnauben zeigte ihm, dass das eher nicht in Frage kam.

„Hilf mir.“, meinte Jamie bestimmt und griff nach einem Arm des Typen.

„Wir müssen ihn aus dem Hinterhof bekommen, es ist besser, er wacht auf der Straße wieder auf.“ Luca ging zögerlich auf Jamie zu und wuchtete sich dann den anderen Arm über die Schulter. Zusammen schleiften sie den Mann in den Flur des Hauses zurück.

Kaum hatte sich die Tür hinter Luca geschlossen, begann sein Herz schneller zu pochen. Er war im Haus nebenan! Jeder wusste, dass das „Vouge“ ein Nachtclub mit exklusiven Gefälligkeiten war und Jamie war einer der Jungen, die diese „Gefälligkeiten“ ausübten.

„Warte hier.“, befahl ihm Jamie und Luca wartete, als der andere in den Barraum verschwand.

Hinter ihm knarrten Treppenstufen und der schwarzhaarige Freund von Jamie kam die Treppe hinunter. Als er Luca sah, zog er die Augenbrauen hoch und dann fiel sein Blick auf den bewusstlosen Typen.

„Was hast du denn mit dem angestellt und was machst du hier?“

„Ich-...äh“, stotterte Luca, doch da öffnete sich die Tür zum Club wieder und Jamie kam mit einem farbigen als Verstärkung wieder herein.

„Emil, das ist der Typ. Luca, der da, hat ihn auf den Hinterkopf geschlagen“, Jamie warf einen Blick auf Luca und fügte hinzu: „als der Kerl handgreiflich geworden ist.“

Der Farbige, Emil, musterte Luca eindringlich, dann nickte er und wuchtete sich den Typen dann über die Schulter.

„Ich bring ihn raus. Ruf du mal die Polizei an und dann ziehst du mit allen Minderjährigen in die Hinterzimmer ab, verstanden?“

Jamie nickte ernst und sah dann Luca an. „Du verschwindest jetzt am besten auch wieder.“

„Ja, ist in Ordnung.“

Gerade als er sich zum Gehen wandte, sah er den fragenden Blick, den der schwarzhaarige ihm zuwarf und Jamie, der leise sagte: „Alles in Ordnung mit mir, Ethan, der Russe hat mich nicht angefasst. Dank Luca.“

Ein Lächeln leget sich auf Lucas Lippen und er senkte den Kopf, um es zu verbergen, dann öffnete er die Tür und trat hinaus.

Aus der Sicht von Jamie

Seit dem Vorfall mit dem aufdringlichen Russen waren drei Wochen vergangen und heute war Weihnachten. Jamie sah durch die Brokatvorhänge nach draußen und beobachtete die wild umhertanzenden Schneeflocken. Viktor hatte ihm hundert Pfund gegeben, Jamie sollte sich davon was Schönes kaufen. Den Schein zwischen den Fingern drehend, beobachtete er die vorbeieilenden Menschen. Sein Atem beschlug die kalte Scheibe, doch im Zimmer war es angenehm war.

„Was ist denn da draußen so Tolles?“, fragte Ethan, der auf ein dickes, rotes Kissen gestützt und in voller Montur auf Jamies Bett saß.

„Nichts. Nur die Leute. Ich überlege, was ich mir von dem Geld kaufen soll.“

Es war ungefähr ein Uhr nachmittags und bis ihre Schicht heute Abend begann, hatte er noch unendlich viel Zeit, die er totschlagen musste.

Ethan ließ sich auf den Rücken fallen und schaute hoch zu dem Baldachin. „Ich spar das Geld, damit ich-..“, doch Jamie unterbrach seinen Freund rigoros. Er wollte nicht über die Zukunft sprechen. Zu viel Hoffnungslosigkeit und schöne, aber schmerzende Träume.

„Ich geh zum Schneider und lass mir einen Wintermantel nach Maß machen. Was hältst du davon?“ Jamie drehte sich zu Ethan um und setzte sich auf die Bettkante.

„Mach. Ist doch dein Geld.“ Ethan wusste, dass Jamie ihn absichtlich abgewürgt hatte, doch Jamie wusste, er konnte das Warum nachvollziehen.

„Willst du mit?“, Jamie blickte Ethan an und strich mit den Händen unbewusst das Laken glatt. Sein Freund seufzte, dann schüttelte er den Kopf. Grinsend erwiderte Ethan Jamies Blick und meinte: „Da draußen ist es mir eindeutig zu kalt!“ Jamie lachte und warf ein Kissen nach Ethan, dann stand er auf, streifte sich einen Pullover aus hellgrüner Kaschmirwolle über, zog seinen jetzigen dunkelblauen Cordwintermantel an und setzte sich die Kapuze auf. Der am Saum der Kapuze befestigte, weiße Pelzrand fiel ihm weit in die Stirn und wenn er den Kopf neigte, dann konnte man sein Gesicht nicht mehr erkennen.

„Ja, so kannst du raus. Ich will ja nicht, dass du geklaut wirst.“, kicherte Ethan und zog Jamie im Vorbeigehen die Kapuze noch ein Stück tiefer ins Gesicht.

„Haha, wer würde mich denn klauen wollen?“, fragte er Ethan zurück und schob sich die Kapuze wieder ganz vom Kopf. Übertrieben vorsichtig schlich Ethan sich wieder an ihn ran und wisperte ihm dann dramatisch ins Ohr.

„Große, starke und vor allem sehr böse Männer, die auf kleine Jungs stehen, verstehst du?“ Jamie sah seinen Freund bedeutungsvoll an.

„Ich werde aufpassen!“, versprach er dann und hob die rechten Hand in die Luft.

Ethan hatte sich vor einen der Öfen gekniet und warf ein Stück Holz hinein. Dann setzte er sich davor und streckte die Arme aus, sodass sich die Hände nah vor der Glassscheibe des Ofens befanden.

„Frostbeule.“, murmelte Jamie.

„Bis dann.“

„Bis dann.“
 

Jamie verließ das Haus durch den Hinterhof, denn falls er erwischt wurde, wie er den Club durch die Eingangstür verließ, würde man ihm Fragen stellen.

Ein dünner Schneeflaum bedeckte den Gehsteig und Jamies Stiefel rutschten leicht über den teilweise vereisten Boden. Die nächste Schneiderei lag ungefähr eine halbe Stunde von hier und er würde das nahe Reichenviertel durchqueren müssen. Jamie fand es grotesk, dass so große Armut und solcher Reichtum so nah nebeneinander existieren konnten. Luca, der Junge vom Nachbarhaus, war denkbar arm, das „Vouge nur renoviert und herausgeputzt und auch die restlichen Häuser in der Straße waren heruntergekommen und baufällig. Viktor hatte das „Vouge“ absichtlich in diesem Viertel eröffnet, weil er wusste, dass die Nachtclubs der Reichen meist unter strengen Auflagen geführt werden und eine ständige Kontrolle über sich ergehen lassen mussten. In seinem Club war das anders. Niemand interessierte sich für Clubs in Armenvierteln, egal wie populär sie waren. So war Viktor einerseits einer Zensierung durch die Behörden entgangen, andererseits, und da war Jamie sich sicher, dass er es nur sagte, weil es gut klang, war Viktor der Meinung, dass wenn die Reichen Tag für Tag durch das Armenviertel gingen, um ins „Vouge“ zu kommen, dass sie dann etwas an der Armut hier ändern wollen würden. Jamie fand diese Aussage recht zweifelhaft, doch Viktor hatte ein paar Eigenheiten, und er schämte sich auch keineswegs seine wirren Gedanken kundzutun, doch alles in allem, war Viktor ein talentierter, knallharter Geschäftsmann, der etwas von seinem Beruf verstand und sich nicht übers Ohr hauen ließ.

Die Straße machte einen Knick und Jamie kam an einer Armenspeisung entlang. Heißer Dampf entstieg den drei überdimensionalen Kochtöpfen, aus denen eine Hand voll Frauen mit Schürzen und Kopftüchern irgendeiner Organisation je drei Kellen in die von den Obdachlosen mitgebrachten Behältnisse gossen. Die kalte Luft roch schwer nach Hühnerbrühe und Jamie sah zu, dass er in die nächste Straße kam. Auf einmal war es, als hätte jemand bei der Bebauungsplanung mit dem Bleistift einen sauberen Strich über die Karte gezogen und verkündet: „Hier wohnen die Reichen.“

Denn nun waren die Baracken von teuren Großraumvillen abgelöst worden und hübsch angelegte Vorgärten säumten das breite Kopfsteinpflaster. Freitreppen führten empor zu kunstvoll geschnitzten, doppelflügeligen Einganstüren mit Messingklopfern. Überall wuchsen immergrüne Gewächse, die dem Ganzen einen Hauch von zeitloser Eleganz gaben. Jamie war noch nicht oft hier gewesen und schaute interessiert von Haus zu Haus, verglich den Baustil und die Verzierung der Fassaden, die Muster der Gärten und schaute hier und da durch ein mit Buntglas geschmücktes Fenster in eine teuer eingerichtete Diele. In der Ferner tauchte das Emblem der Schneiderei auf und Jamie zog den Mantel fester um sich.

Als er die Ladentür aufzog, schlug ihm warme, leicht nach Kamille duftende Luft entgegen und eine Glocke bimmelte leise.

Die Stangen an den Wänden des Raumes hingen voller Kleidungsstücke. Ballkleider, normale Röcken und Blusen, Smokings und noch viele andere Accessoires zum Ausschmücken der festlicheren Roben.

Fasziniert ließ Jamie die Fingerspitzen über den schillernden Stoff eines prachtvollen Kleides gleiten, als ihn eine bekannte Stimme ansprach.

„Bitte, Sir, nicht anfassen. Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Jamie drehte sich um und zog überrascht eine Augenbraue hoch.

„Du?“, brachte Luca ungleich erstaunter als Jamie heraus und trat unsicher einen Schritt auf ihn zu.

„Ja, ich.“ Jamie trat ebenfalls auf Luca zu und schob sich die Kapuze vom Kopf und fuhr sich durch die goldbraunen Strähnen. „Ich möchte mir einen Mantel maßschneidern lassen.“

Unterdessen hatte ein großer, schmächtiger Mann mit grauem Haar den Raum durch eine Tür, die wahrscheinlich in die Nähstube führte betreten und sah Jamie freundlich an. Die Nase des Mannes sah aus wie der Schnabel eines Greifvogels und war über die Maßen groß.

„Guten Tag“, begrüßte er Jamie höflich, warf ihm einen durchdringenden Blick aus unvermutet klaren, grauen Augen zu und wies auf die Kleider an den Wänden, „kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

Jamie nickte dem Schneidermeister gewohnt kühl zu und erwiderte dann: „Wie ich eben schon zu ihrem“, er unterbrach sich kurz und sah Luca an, „zu ihrem Lehrling sagte, ich würde mir gerne einen Wintermantel maßschneidern lassen.“

Der Meister nickte und lud seinen Kunden mit einer förmlichen Handbewegung zu den Stoffrollen im hinteren Teil des Zimmers ein.

„An was für Stoff hatten sie denn gedacht?“, er musterte Jamie kurz und intensiv durch den Zwicker, den er sich auf die Nase geklemmt hatte und deutete dann auf ein paar Rollen mit teuer anmutendem Stoff. „Brokat, Samt, oder Ich könnte auch teuren Filz anbieten.“

Der Schneider ließ Jamie einen Augenblick sich zu entscheiden und sah ihn abwarten an.

Jamie warf Luca einen kurzen Seitenblick aus den Augenwinkeln zu und deutete dann auf den Samtballen.

„Ich hätte gerne einen Gehrock – gefütterte und mit Kapuze – aus dunkelblauem Samt. Doppelte Knopfreihe, eine Zierde eine zum Schließen, und die Knöpfe sollen aus Silber mit orientalischer Prägung sein. Was kostet mich das?“

Der Schneider schaute ihn aus großen Augen an und überschlug dann mit zusammengekniffenen, dichten Brauen die Endsumme.

„Insgesamt wären Sie bei ungefähr achtzig Pfund.“

Jamie überlegte kurz und deutete dann auf einen Ballen dunkelvioletter Seide. „Ich hätte gerne noch ein Hemd aus diesem Stoff dort. Wäre ich dann bei rund hundert Pfund?“

Wieder rechnete der Schneider und nickte dann. „Ja, hundert Pfund ist ein guter Preis.“

Jamie zog den Schein aus der Tasche und hielt ihn dem Schneider hin. „Ich bezahle im Voraus.“

Luca sah ihn mit leicht geöffnetem Mund an und Jamie stellte fest, dass Luca auf eine zierliche, fast mädchenhafte Art hübsch war, wie er ihn so ungläubig anschaute.

Der Schneider nahm ihm den Schein aus der Hand und wandte sich dann zu Luca um.

„Du misst ihn und beginnst dann mit dem Zuschneiden der Stoffe, verstanden?“

Luca nickte und errötete, Jamie fragte sich warum.

Mit einem kurzen Bückling verabschiedete der Meister sich von Kunde und Lehrling und verschwand ins Hinterzimmer.

Ein Blick auf Luca sagte Jamie, dass der sich wieder gefangen hatte und eine ein freundliches Lächeln lag auf seinen blassroten Lippen.

„Bitte folgen Sie mir.“

„Seit wann siezen wir uns?“, fragte Jamie belustigt und trat hinter Luca in ein kleines, aber elegant möblierte Zimmer. Das einzige Fenster war mit einem lichtdurchlassendem Stoff verhängt, an der Wand stand ein samtbezogenen Stuhl mit hölzernen, hohen Beinen und gerader Lehne.

„Zieh dich bitte aus.“, forderte Luca ihn auf, ohne Jamie dabei anzusehen und Jamie glaubte zu verstehen, was dem Blonden gerade durch den Kopf ging.

Er grinste breit und zog sich langsam aus. Als er das Hemd abstreifte und es auf den Stuhl fallen ließ, warf Luca ihm einen kurzen Blick zu und errötet aufs Neue. Jamie konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen, dann langte er, obwohl er wusste, dass Luca nur sein Hemd und den Mantel gemeint hatte, nach der Gürtelschnalle und zog sie auf.

Sofort schoss Lucas Kopf hoch und nun überzog feuerrote Scham seine Wangen. „Nur, ich meine... Stopp! Nur...“, dann brach er ab und schaute wieder zu Boden.

Jamie genoss es, den Jungen sichtlich eingeschüchtert zu haben und fragte leise und etwas verführerisch: „Nur was?“

„Den Mantel und das Hemd.“, es klang fast wie eine Frage und das Ganze begann Jamie wirklich Spaß zu machen.

Betont nebensächlich schloss er die Schnalle wieder und stemmte dann die Hände in die Hüften. Ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, zog Luca ein Maßband aus der Hosentasche und rang dann sichtlich einen Moment mit sich, bis er schlussendlich wieder auf Jamie zuging und sich hinter ihn stellte.

„Arme auseinander, bitte“, murmelte er und Jamie grinste, dann breitete er die Arme aus und Luca legte ihm das Band über den Rücken, hielt das eine Ende an seinem linken, das andere an seinem rechten Handgelenk fest und schien so gut es ging den direkten Hautkontakt zu meiden. Jamie riss sich zusammen, um nicht zu lachen, dann sann darüber nach, wie er Luca ein bisschen Ärgern konnte. Schließlich, Luca maß gerade die Länge seines Oberkörpers vom Nacken bis zum Hosenbund, murmelte er gespielt verwundert: „Mir ist plötzlich so schwindelig...“ und ließ sich nach hinten umkippen. Luca machte ein erschreckten Laut und fing ihn auf, doch Jamie war zu schwer für ihn und er kippte, wie Jamie es geplant hatte, ebenfalls um. Zusammen landeten sie auf dem weichen Teppichboden, Jamie auf Luca.

Jamie drehte sich auf Luca um, der stocksteif unter ihm lag und sah ihm entschuldigend in die Augen. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt und Jamie stellte fest, dass Luca gut roch. Sehr gut sogar.

„Oh, das tut mir wirklich leid.“, und er setzte noch einen oben drauf. „Wie du sicherlich weißt, kommt man nachts nicht sehr viel zum Schlafen.“

Luca errötete wieder bis unter die Haarwurzeln und blickte zur Seite, dann presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor:

„Wenn es dir so leid tut, warum gehst du dann nicht endlich von mir runter?“

Jamie grinste und setzte sich auf. Luca murmelte ein leises „Danke.“ Und rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht, schließlich senkte er die Arme und sah Jamie an.

„Du kannst dich jetzt wieder anziehen, ich bin fertig.“

„Das ging aber schnell.“, stellte Jamie fest und machte keine Anstalten nach seinem Hemd zu greifen. „Weißt du, ich finde dicht echt nett.“

Nachdem er es ausgesprochen hatte, merkte Jamie, dass es sogar stimmte. Er fand diesen blonden Jungen wirklich nett. Er hatte so was... irgendwas.

Luca wich ein Stück zurück und starrte ihn an.

„Luca!“, die Stimme des Schneidermeisters drang laut durch die Tür und Luca zuckte zusammen. Seufzend erhob Jamie sich, warf sich das Hemd über und schlüpfte in den Mantel.

„Wann kann ich die Sachen abholen?“

Zuerst sah Luca ihn fragend an, dann verstand er und meinte nach der Türklinke greifend und ohne Jamie anzusehen leise: „In zwei Wochen.“

„Gut“, sagte Jamie und trat an Luca, der ihm dir Tür aufhielt, vorbei. „dann komm ich noch mal vorbei.“

Er sah Luca aus den Augenwinkeln nicken und die Tür in Gedanken vorsichtig wieder schließen.

„Wiedersehen.“

Jamie blieb kurzentschlossen stehen und drehte sich noch einmal zu Luca um. Noch ehe Luca hätte protestieren könne, hatte er seine Hand fest um dessen Nacken gelegt und ihn zu sich herangezogen. Als er ihn kurz auf den Mund küsste, spürte Jamie, wie Luca sich versteifte. Es war ein völlig keuscher Kuss gewesen, nur Lippen auf Lippen, doch Luca starrte ihn an, als hätte er wer weiß was mit ihm angestellt. Bei dem Gedanken musste Jamie grinsen, denn das Bild von Luca in einem Nachtclub wie dem „Vouge“ wirkte irgendwie seltsam unmöglich.

„Wiedersehen.“

Dann wandte Jamie sich zum Gehen, zog die Tür auf und verließ die Schneiderei.

Aus der Sicht von Luca

Der Tag rauschte nur so an Luca vorbei. Jamie. Er hatte ihn geküsst. Ihn, den unscheinbaren, blonden Jungen von nebenan. Luca grinste, als er daran dachte, dass er die Zuschnitte wahrscheinlich so ordentlich wie nie zuvor erledigt hatte.

Der Schwächeanfall in der Anprobe kam ihm in den Sinn und noch jetzt spürte er, wie sein Körper auf Jamies plötzliche Nähe, auf das Gefühl von Jamies Körper auf seinem reagierte, wenn er nur daran dachte. Er hatte das Gefühl, ohne Jamie und dessen ständige Nähe, hatte sein Leben kein Sinn mehr. Nie zuvor hatte er so für jemanden empfunden, seine Eltern gaben ihm als Beweis ihrer Liebe dann und wann eine kräftige Ohrfeige, damit er zu einem starken jungen Mann heranwuchs, der was aushalten konnte. Aber im Grunde war Luca anders, er würde sich zum Beispiel Jamie ohne jegliche Einwände unterordnen. Er hatte einfach von Natur aus keine Führungsqualitäten. Heute war Weihnachten. Plötzlich fiel Luca siedendheiß ein, dass er Jamie kein Frohes Fest gewünscht hatte.
 

Im Laufe des Tages, war der Entschluss in Luca gereift, dass er heute Abend ins „Vouge“ gehen, nach Jamie fragen und seine Wünsche zu überbringen. Ein paar von den Jungen da, kannten ihn schließlich schon, sie würden ihn zu Jamie bringen.
 

Der Abend kam und Luca saß nervös in seiner Kammer. Seine Eltern mussten schlafen, damit er unbemerkt aus dem Haus schleichen konnte. Eine Feier hatte es nicht gegeben, Vater hatte das von Mutter versteckte Weihnachtsgeld gefunden und verflüssigt. Außer einem „Frohe Weihnachten, mein Sohn.“ Von seiner Mutter, und im Suff gegrölten, wüsten Beschimpfungen von Seiten seines Vaters hatte er auch keine guten Wünsche bekommen.

Endlich wurde es still im Haus und so leise wie möglich schlich Luca sich die Treppe hinunter und schlüpfte durch die Tür nach draußen.

Lautlos wie ein Schatten schlich er über den Hinterhof und auf den Bürgersteig hinaus. Das rote Leuchtschild des „Vouge“ erhellte die Nacht ein paar Meter weit und schien ihn gerade zu einzuladen, den Club zu betreten. Eisiger Wind fuhr Luca durch die Kleider und er ärgerte sich, dass er keinen Mantel angezogen hatte.

Gegenüber in den Häusern schien durch einige Fenster warmes Licht und Luca stellte sich vor, wie eine glückliche Familie dahinter im bescheidenen Kreis Weihnachten feierte.

Die Tür vom „Vouge“ ging auf und Gelächter erschallte. Eine Hand voll junger Männer Mitte Zwanzig waren aus dem Club gekommen und steckten sich draußen Zigaretten an. Als sie ihn erblickten, winkten sie ihn zu sich und grinsten ihn freundlich an.

„Na Kleiner, suchst du was?“, lallte der eine Luca an und die anderen schüttelten sich vor Lachen.

Ohne ihnen Beachtung zu schenken, betrat Luca nun mit einem etwas mulmigen Gefühl den Club. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, umgab ihn Wärme und Zigarettenrauch waberte in Schwaden durch die stickige Luft. Schon allein von der Atmosphäre wurde Luca schwindelig und unsicher machte er einen Schritt auf die gutbesetzten Tische, die sich um das Podium scharten, zu.

Ein nett aussehender, junger Mann winkte ihn zu sich und weil er ja nach Jamie fragen wollte, ging er lächelnd auf den Mann zu.

„Guten Abend, wissen Sie, wo Jamie ist?“, fragte Luca höflich und sah sich derweil aus den Augenwinkeln im Club um.

„Jamie? Ja, der kommt gleich wieder, er ist nur eben kurz sich frisch machen.“ Luca fiel ein Stein vom Herzen, er hatte nicht damit gerechnet, Jamie so schnell zu finden.

„Oh gut, ich wollte ihm etwas sagen.“

Der Mann sah ihn freundlich an und winkte eine Bedienung heran. „Einmal einen Orangensaft für den Jungen hier, er wartet auf Jamie.“ Die Bedienung sah den Mann erst mit gerunzelter Stirn an, dann maß sie Luca mit einem fast mitleidigen Blick und verschwand.

„Komm Junge, setzt dich doch solange zu uns!“

Ein paar andere junge Männer lachten Luca freundlich an und so setzte er sich zu ihnen auf die rote Couch.

Ein paar Augenblicke später kam sein Orangensaft und Luca nahm einen Schluck. Er schmeckte irgendwie komisch, doch das schob Luca darauf, dass er so lange keinen Saft mehr getrunken hatte. Nach dem dritten Schluck wurde ihm schwindelig und als er den Kopf drehte, verzerrten sich die Bilder vor seinen Augen leicht.

„Na?“, der junge Mann neben ihm, hatte sich zu ihm umgedreht und lächelte ihn an. „Schmeckt er dir?“

Vergeblich versuchte Luca das Gesicht vor sich scharf zu stellen, doch es schwankte hin und her.

„Ist dir schwindelig?“ Luca nickte benommen.

„Trink noch etwas, dann wird es bestimmt besser...“, riet ihm der Mann und Luca nippte erneut an dem Saft, doch das Schwindeln wurde nur noch schlimmer.

Plötzlich spürte er, wie eine Hand sich auf seinen Oberschenkel legte und Stück für Stück höher rutschte.

Luca wollte sich wehren, die Hand da wegschieben, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Auf einmal hörte er undeutlich seinen Namen. Laut und doch irgendwie von ganz weit weg. Luca öffnete die Augen; er hatte nicht bemerkt, dass er sie geschlossen hatte. Wieder reif ihn jemand. „Luca!?“

Dann löste sich die Hand von seinem Bein und der jemand, der jetzt immer wieder seinen Namen rief, riss ihn unsanft hoch. „Luca! Verdammt!“

Die Umrisse vor seinen Augen wurden deutlicher und dann erkannte Luca das Gesicht.

Vor ihm stand Jamie und sah ihn zu gleichen Teilen wütend und auch besorgt an.

Aus der Sicht von Jamie

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Aus der Sicht von Jamie

„Was bekommst du?“, der junge Mann sah Jamie an und spielte mit einer Rolle Scheinen.

„Siebzig.“, antwortete Jamie, zog seinen Gürtel fest und streifte sich sein Hemd wieder über.

Der junge Mann gab ihm vier zwanziger. Jamie steckte sie wortlos ein. Trinkgeld fürs Zuhören.

Wartend an die Tür gelehnt, wartete Jamie bis sein Kunde sich ebenfalls angezogen hatte, dann stieg er hinter ihm die Treppe wieder runter.

Schweigend durchquerten sie den Flur und erst als der Mann die Tür zum Club öffnete, unterbrachen die leise Musik und die vielen Stimmen ihr Schweigen.

Jamie sah sich im Club um. Dafür dass es Weihnachten war, saßen hier ziemlich viele Leute rum, fand er und hielt nach Ethan Ausschau. Plötzlich blieb sein Blick an einem blonden Schopf hängen, der hier irgendwie nicht reinzupassen schien. Jamie näherte sich dem Tisch und erkannte Luca, der vollkommen weggetreten auf einer der roten Ledercouchen hing und ein anderer Mann gerade dabei war, ihn zu begrabbeln. Ein heißer Stich durchfuhr ihn und er bahnte sich einen Weg durch die Leute und rief Luca beim Namen, doch der schien nichts mehr mitzubekommen. Vor dem Blonden stand ein Glas mit Orangensaft und Jamie brauchte garnicht zweimal hinsehen, um zu wissen, dass man Luca nach allen Regeln der Kunst abgefüllt hatte.

„Luca!?“

Jamies laute Stimme ließ den Mann zu Lucas rechten die Hand von dessen Oberschenkel nehmen und er blickte Jamie erstaunt an.

„Luca! Verdammt!“, rief Jamie erneut und riss Luca am Hemd hoch. Langsam öffneten sich Lucas Augen und er schien ihn zu erkennen. Immer noch von diesem stechenden Gefühl und plötzlich aufkommender Wut geleitet, packte Jamie Luca fester und schleppte diesen dann weg von dem Tisch wieder auf die Tür zu, aus der er gerade eben erst gekommen war.

Als Luca dann halb bewusstlos auf seinem Diwan lag, konnte Jamie sich schon nicht mehr erklären, wie er ihn überhaupt die Treppen herauf bekommen hatte.

„Luca?“, fragte Jamie und ließ sich vor dem Blonden in die Knie sinken.

Luca nuschelte nur leise etwas, dass Jamie nicht verstand und dann sackte sein Kinn wieder auf die Brust.

Seufzend und leicht genervt, packte er Luca erneut und schleppte ihn auf die Badezimmertür zu. Im Bad ließ er Luca mit der Brust gegen die Badewanne sinken und beugte seinen Kopf etwas vor, dann drehte Jamie den Kaltwasserhahn auf und hielt Luca die Brause erbarmungslos über den Kopf. Fast augenblicklich kam Leben in Luca und er stieß einen Schrei aus.

„Ah! Das ist scheißekalt!“

Jamie stellte das Wasser ab und wickelte Luca, der sich nun kraftlos mit den Händen auf den Badewannenrand gestützt hatte, ein Handtuch um den Kopf.

Wortlos hievte er ihn wieder hoch, bugsierte ihn aus dem Bad heraus und drückte ihn aufs Fußende des Bettes.

Diese innere Aufruhr hatte ihn schon wieder befallen und immer noch konnte Jamie nicht sagen, woher sie kam, geschweige denn, was sie auslöste.

„Was machst du hier?“, in seiner Stimme klang mehr Wut und Genervtheit mit, als er beabsichtigt hatte. Aus den Augenwinkeln sah Jamie, wie Luca unbewusst zusammenzuckte, sein Blick zur Zimmertür schnellte und dann das Zimmer überflog, indem er sich befand.

Jamie wartete nicht, bis er eine Antwort bekam, sondern sprach weiter.

„Wie kommst du dazu, in einen Erwachsenenclub zu gehen und dich voller Naivität abfüllen zu lassen? Die hätten sonst was mit dir angestellt, wenn ich dich da nicht rausgeholt hätte!“

Luca errötete und schien sich wirklich zu schämen und irgendwie besänftigte das reumütige Gesicht von dem Blonden Jamie sofort und ihm fiel der Kuss wieder ein.

„Jetzt sind wir quitt. Du hast mir geholfen, ich dir.“

Luca nickte zaghaft und Jamie hatte das plötzliche Bedürfnis, Luca, der da so zierlich und unschuldig vor ihm saß, in den Arm zu nehmen. Und küssen wollte er ihn wieder.

Doch da ging die Tür auf und Ethan kam herein. Als er Luca auf dem Bett sitzen sah, wie er mit dem Handtuch seine Haare trocknete, sah er stirnrunzelnd zu Jamie und schließlich räusperte er sich, da Luca ihn noch nicht bemerkt hatte.

Aus der Sicht von Luca

Der funkelnd grüne Blick des schwarzhaarigen Jungen ließ Luca erschauern, doch irgendwie schaffte er es, nicht zu erröten und sich ganz selbstbewusst zu Jamie umzudrehen.

„Was macht der denn hier?“, fragte der schwarzhaarige, Ethan – jetzt fiel ihm der Name wieder ein – und maß Luca von oben bis unten einmal ab.

„Ich wollte Jamie Frohe Weihnachten wünschen.“, sagte Luca deutlich und schaute Jamie dabei direkt in die Augen. Seine Gefühle für diesen Jungen, weckten unglaubliche, nie vorher gekannte, kämpferische Fähigkeiten in ihm. Luca war stolz auf sich, doch plötzlich fiel ihm wieder das Szenario unten in der Bar ein und sein Blick schoss zu Boden und er betrachtete eingehend die persischen Teppiche und ihre ineinander verschlungenen Muster.

Ethan brach in ein unterdrücktes und spöttisch klingendes Lachen aus und Luca schoss zu seiner Schande nun doch das Blut in die Wangen.

Er hatte nicht daran gedacht, wie eindeutig es aussehend musste, wenn ein junger Bursche sich aufmacht, jemanden in einem Nachtclub besuchte, um ihm Frohe Weihnachten zu wünschen.

„Du wolltest ihm Frohe Weihnachten sagen?“, kichernd sah Ethan Luca mit hochgezogenen Brauen an. Dann grinste er diebisch und meinte: „Das habe ich schon ge-...“

„Ethan“, mahnte Jamie plötzlich zu Lucas großer Überraschung den älteren in einem warnend, scharfen Ton, „Lass ihn in Ruhe und verschwinde. Bitte.“

Luca sah auf und bemerkte den ungläubigen Blick, den der schwarzhaarige Jamie zuwarf. Jamie blickte seinen Freund unverwandt an, bis dieser sich umdrehte und wieder hinausging. Fassungslos schaute Luca auf die sich hinter Ethan schließende Tür und bemerkte nicht, wie Luca auf ihn zuging und erst als Jamie ihn ansprach, schoss sein Kopf erneut herum und er sah zu Jamie hinauf, der ihn vage lächelnd musterte.

„Du wolltest mir Frohe Weihnachten wünschen?“ Luca musste schlucken und nickte dann vorsichtig. Jamie war ihm schon wieder so verdammt nah.

Ein paar Augenblicke lag Schweigen über ihnen, nur das Knistern aus den Gussöfen war zu hören.

„Ich warte“, meinte Jamie plötzlich und Luca hörte, dass er grinste.

Wieder warf er einen unsicheren Blick nach oben und sah, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Jamie sah grinsend auf ihn hinab und trat dann einen Schritt zurück.

„Du wolltest mir doch-...“, dann brach Jamie ab und Luca stutze. Der Blick in seinen Augen hatte sich verändert und das intensive Blau erschien Luca dunkler und bodenloser, als noch ein paar Sekunden zuvor.

Plötzlich fühlte Luca sich hochgerissen und ein drängendes Lippenpaar presste sich ihm auf den Mund. Jamie hielt ihn mit beiden Händen an den Oberarmen fest und Luca stand steif wie ein Brett vor ihm und konnte nicht glauben, dass er schon das zweite Mal von Jamie geküsst wurde, und das am selben Tag.

Keuchend und nach Luft schnappend wich Jamie schließlich vor ihm zurück und auch Lucas Atem ging flach und laut.

„Was-?“, wollte Luca gerade ansetzten, da schlang Jamie seine Arme um seinen Hals und küsste ihn wieder. Diesmal weniger heftig, dafür aber intensiver, fast neugierig, so kam es Luca vor, doch bis jetzt lagen nur ihre Lippen aufeinander und Luca hatte keine Ahnung, wie weit Jamie mit ihm gehen würde. Dieser Kuss war nicht sein erster, nun ja, jedenfalls nicht, wenn er Mädchenküsse mitrechnete, weil außer Jamie hatte Luca bis jetzt noch nie einen Jungen geküsst.

Und dieser Kuss war bestimmt nicht Jamies erster, in seinem Job musste man doch bestimmt jeden Freier abknutschen, wie es dem Kerl grad passte.

Jamie atmete nun durch die Nase und schien nicht die Absicht zu haben, Luca in kürzerer Zeit wieder loszulassen, also brachte Luca noch einmal all seinen Mut auf und legte schüchtern und zärtlich seine Arme um Jamies Taille. Dann öffnete er den Mund ein wenig, achtete genau auf Jamies Reaktion, und strich ihm dann mit der Zunge sanft über die Unterlippe.

Aus der Sicht von Jamie

Jamie war fast außerstande die gerade geschehende Situation zu verstehen und die sanfte, neugierige Zunge an seiner Unterlippe brachte ihn restlos um den Verstand. Die Unruhe hatte sich in einen brausenden Sturm verwandelt, der sein Innerstes mitzureißen schien. Gedankenfetzen wirbelten ungreifbar durch seinen Kopf und Funken sprangen hinter seinen geschlossenen Augen auf und ab. So etwas hatte er noch nie erlebt, sein Körper reagierte auf eine ungekannte Weise auf die Nähe und auf die zärtliche Berührung ihrer Lippen. Das Gefühl war berauschender als der vor kurzem erlebte Sex mit Ethan, benebelnder als Alkohol und intensiver als der leuchtende Sonnenuntergang, welchen er manchmal vom Dach des „Vouge“ aus betrachtete. Wie sollte er auf Lucas vorsichtigen Vorstoß reagieren? Jamie fühlte sich plötzlich so unsicher wie ein Kind, das wankend und schwanken von den haltenden Händen des Vaters hinüber zu den einladenden Armen der Mutter schwankt. Doch Luca nahm ihm die Entscheidung ab und beendete den Kuss.

Stumm blickten sie sich in die Augen und Jamie sah, dass Luca genauso überrascht war, wie er selber.

Vorsichtig, damit dieser Moment nicht kaputt ging, legte Jamie seine Hand an Lucas Wange und spürte die warme Haut seltsam beruhigend an seiner Handfläche.

„Ich hab noch nie...Das war mein erster Kuss.“, flüsterte Jamie dann und ein schüchternes Lächeln glitt kurz über seine geröteten Lippen. Luca sah ihn erst verständnislos dann ungläubig an.

„Du hast noch nie...jemanden... geküsst?“, stotterte Luca und schaute Jamie mit großen, braunen Augen an. Jamie schüttelte den Kopf und strich leicht mit den Fingerkuppen über Lucas Wange. „Noch-...nie?“

„Nein“, stimmte Jamie ihm mit rauer Stimme zu und trat dann wieder einen Schritt auf den Blonden zu. Er wollte mehr, das Gefühl, welches ihn beim Küssen durchströmte, war einfach zu unbeschreiblich.

„Küss mich...“, hauchte er Luca gegen die leicht geöffneten Lippen, schmiegte sich an den Blonden und strich probeweise mit seiner Zunge über Lucas Unterlippe. Sie schmeckten auf eine knabenhafte Art süß und herb zugleich. Ein Geschmack, der Jamie faszinierte und gierig nach mehr machte. Ihn näher an sich heranziehend und fest mit den Armen umschlingend öffnete Luca den Mund ein wenig weiter und stupste mit seiner Zungenspitze leicht gegen Jamies. Ihre Zungen spielten zärtlich miteinander und Jamie spürte mal die etwas raue Oberseite, oder die weiche Unterseite an seiner. Erst als ihm ein leises Stöhnen entglitt, fühlte Jamie, dass sein Körper ungeahnt heftig auf ihr Zungenspiel reagiert hatte und die Taubheit seiner Glieder, die sie bei Beginn des Spiels überfallen hatte, brach in sich zusammen und pulsierend ergoss sich die Erregung durch seine Venen. Jamies Körper glühte und dann berührten sich ihre Lippen wieder und sie schlossen sich um den leidenschaftlichen Kampf ihrer Zungen. Jamie küsste Luca mit genau der gleichen Intensität zurück, wie er ihn, doch dann drang Luca tief in Jamies Mundhöhle ein und erforschte jeden Winkel. Jamie spürte, wie Lucas Zunge neugierig über seine Zähne, am Gaumen entlang und über seine Zunge glitt, sie kurz antippte und sich dann in den eigenen Mund zurückzog. Jamie schloss den Mund und auch Luca rieb nur noch mit seinen pochenden Lippen über Jamies.

„Fröhliche Weihnachten.“

Aus der Sicht von Jamie

Plötzlich klopfte es leise an die Tür und Luca ließ Jamie sofort los und stolperte einen Schritt zurück, strich sich mit vor Erstaunen geweiteten Augen mit den Fingerspitzen über die den Mund und starrte Jamie an. Jamie starrte mehr oder minder zurück und versuchte das gerade Erlebte einzuordnen. Unbewusst öffnete er schließlich den Mund, um etwas zu sagen, doch es war las hätte er vergessen, wie man sprach. Die Spannung, welche eben noch zäh und pulsierend zwischen ihm und Luca gewesen war, fiel mit einem Mal zusammen und fast schamvoll versuchte Jamie die beflügelnden Gefühle zu verdrängen. Er räusperte sich und riss seine Augen von den Lucas los.

„Herein?“

Ethan betrat das Zimmer und sein Blick glitt von Jamie zu Luca.

„Störe ich?“

„Nein, tust du nicht. Ich wollte Luca gerade bitten zu gehen.“, erklärte Jamie. Seine Stimme klang anders als sonst, vielleicht schwangen die nur mit Mühe aus seinen Zügen verbannten Emotionen in ihr mit, doch der Satz verfehlte seine Wirkung nicht.

Lucas Blick schnellte zu ihm und Verletztheit gemischt mit Verwunderung über diese plötzliche Abfuhr, paarte sich in seinen Augen, doch Jamie wandte den Blick ab und sah zu Boden.

„Was-?“, brach es aus dem Blonden hervor und aus den Augenwinkeln sah Jamie, wie er die Hand hob, als wolle er Jamie mit Gewalt dazu bringen, ihn anzusehen. Luca wollte sehen, ob das Gesagte ernst gemeint war. Hätte Jamie Luca jetzt angesehen, dann hätte er selber nicht gewusst, was seine Augen dem Blonden verraten würden. Immernoch rangen die Gefühle in ihm. Auf der einen Seite die Unsicherheit, für die er sich selbst schalt – es war doch bloß ein Kuss –, diese unbekannten Gefühle, die Lucas bloße Nähe in ihm auslösten und die Geborgenheit, die r verspürte, wenn der Blonde bei ihm war. Andererseits machte ihn dieser Kontrollverlust über seinen Körper, seine Gefühle wütend und Jamie fühlte sich schwach. Und er wollte nicht, dass jemand sah, wie er schwach war, er wollte sich niemandem öffnen, aus Angst verletzt zu werden und Luca machte ihn definitiv schwach. Jamie konnte einfach nicht anders.

„Du hast gehört, was Jamie gesagt hat. Er möchte, dass du gehst.“

Ethans Stimme brachte Jamie zurück in die Realität und nach einem kurzen Blick auf Luca, drehte Jamie sich um und trat ans Fenster und sah hinaus auf die verschneite Straße.

Er musste Luca vergessen, Luca musste ihn vergessen und dann wäre wieder alles beim Alten. Alles so, wie es vorher gewesen war. Bis jetzt hatte er gewusst, was passieren würde, hatte selbst bestimmen können, wie weit er ging und hatte sich unter Kontrolle gehabt. Luca warf alles in ihm um, bewirkte, dass er seinen Verstand aufgab und sich seinen Gefühlen überließ. Bis heute war alles so gewesen, wie er es schon immer gekannt hatte, und im Falle, dass er sich auf Luca einließ, würde alles anders werden müssen. Jamie hatte Angst davor, dass Luca ihn vielleicht irgendwann darum bitten würde, aufzuhören. Er konnte nicht einfach aufhören, das „Vouge“ war alles. Sein Heim, seine Familie, sein Job. Wo sollte er hin?

Das Klacken der Tür holte ihn erneut aus den Gedanken zurück und langsam drehte er sich um. Ethan stand mit dem Rücken an die Tür gelehnt und betrachtete ihn eingehend.

„Du weißt schon, dass du heulst, oder?“

Jamie sah ihn im ersten Moment verständnislos an, dann fuhr er sich mit der Hand über die Wange und spürte die warmen, salzigen Tränen. Eine Träne lief ihm langsam über die Handfläche und Jamie betrachtete sie stumm.

Ethan stieß sich von der Tür ab und trat auf seinen Freund zu.

„Bleib heute Abend hier. Ich übernehme deine Schicht mit.“

Jamie sagte nichts, nickte nur und fuhr sich dann mit einer Hand durch die Haare. Dann holte er tief Luft, machte den Rücken gerade und wischte sich die feuchten Spuren von den Wangen. Ethan klopfte ihm wortlos auf die Schulter und einen Augenblick später ging die Zimmertür erneut zu und Jamie stand alleine im flackernden Kerzen.

Sein Blick fiel in den großen Wandspiegel. Der halb ausdruckslose Blick, den seine Augen ihm zuwarfen, ließ ihn erschauern und als er ununterbrochen in diese traurigen, blauen Augen zurückstarrte, da blickte ihm plötzlich jemand anders entgegen. Ein blonder jemand mit braunen Augen.

Aus der Sicht von Luca

Luca stand hinter dem Vorhang und beobachtete regungslos, wie Jamie vor den Spiegel trat und kurz darauf entsetzt davon zurückstob. Ihm zugewandt, sah er Jamie auf das ihm gegenüberliegende Fenster treten und zu ihm hinübersehen. Luca wusste, er konnte ihn nicht sehen, denn das Zimmer war stockdunkel und sein Körper befand sich im Schatten der Vorhänge. Jamie legte gegenüber die Handfläche ans Glas und ließ seine Stirn dann ebenfalls gegen die Scheibe sinken. Luca betrachtete ihn sehnsüchtig. Wieso hatte er ihn vorhin so grob aus herausgeschmissen?

Warum hatte er ihm nicht mehr in die Augen sehen können?

Was war in ihm vorgegangen, dass er nicht in seinem Blick hatte offenbaren wollen?

Das Knarren der Dielen hinter ihm, ließ Luca herumfahren.

„Was machst du hier? Es ist erst früher Morgen!“, Luca starrte seine Mutter erst an, dann ließ er schnell die zurückgezogene Gardine fallen und senkte den Blick.

„Nichts. Ich konnte nicht schlafen.“

“Geh wieder zu Bett. Wenn du morgen nicht ausgeschlafen bist, dann schmeißt Mister Tribbles dich raus.“

Luca nickte und ging an seiner Mutter vorbei wieder auf seine Kammer zu.

Erst als er wieder in seinem Bett lag, fiel ihm auf, dass seine Mutter vollständig angezogen gewesen war. Wo kam sie mitten in der Nacht her?

Doch noch bevor er sich ernsthafte Gedanken darüber machen konnte, fielen ihm vor Müdigkeit die Augen zu und er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Aus der Sicht von Jamie

Jamie versuchte in den folgenden Tagen vehement die Gedanken an Luca zu verdrängen, doch er musste sich eingestehen, dass er es nicht schaffte. Immer wieder fand er sich plötzlich vor dem Fenster stehend wieder, hinüber zu dem Wohnhaus nebenan schauend, oder er stand plötzlich frierend im Hinterhof, unbewusst darauf hoffend, dass Luca zufällig aus der Hintertür trat. Auch Ethan war sein befremdliches Verhalten aufgefallen und am Tag vor Sylvester sprach er ihn schließlich darauf an.

Sie saßen gerade in Jamies Zimmer, Ethan lag bequem auf seinem Diwan und Jamie stand, zum wiederholten Male an diesem Tag, am Fenster und starrte hinaus.

„Jamie, könntest du mir vielleicht endlich mal erklären, was eigentlich mit dir los ist?“, durchbrach Ethan genervt die Stille.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis das Gesagte zu Jamie durchgedrungen war, dann wandte er sich um und schaute Ethan fragend an.

„Was soll denn los sein?“

Ethan schnaubte und stand auf. „Oh, ich wundere mich nur gerade darüber, dass du dich in letzter Zeit so außergewöhnlich []normal verhältst!“, er klang fast schon wütend.

„Es ist nichts.“

Ein lautes Seufzen sagte ihm nur zu deutlich, dass Ethan ihm nicht im Geringsten glaubte.

„Dann ist nichts wohl blond, hat braune Augen und...“, doch Jamie unterbrach ihn.

„Tu nicht immer so, als wenn du für mich verantwortlich wärest! Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß!“, brüllte Jamie ihn an und schubste seinen Freund grob vor die Brust.

Zuerst schaute Ethan ihn nur verdutzt an, dann glomm auch in seinen Augen Zorn auf und er gab eben so lautstark zurück:

„Ach ja? Dann ist dieser Luca wohl nicht dafür verantwortlich, dass du mindestens zehn mal am Tag vor dem verdammten Fenster hockst und hinausstarrst, dich zu einem Zombie entwickelst, weil du Nachts nicht mehr schläfst und zudem deine Kleider anfangen zu schlottern, weil du nichts mehr isst?“

„Nein!“

Ethan schnaubte erneut und wandte sich ab. Dann drehte er sich wieder um und taxierte Jamie scharf. Seine Stimme war beherrscht und leise, doch Jamie hörte den unterdrückten Zorn.

„Weißt du, nur mal Interesse halber, könnte es vielleicht sein, dass du dich in den Blondie verliebt hast?“

Jamies Kopf schoss hoch und er setzte grad zu einer heftigen Antwort an, als alle Wut plötzlich verrauchte und seine geballten Fäuste sich langsam senkten. Es war sinnlos, Ethan hatte Recht, Jamie resignierte.

Ethan deutete die Reaktion richtig und trat wieder auf Jamie zu. Dann schloss er ihn in die Arme.

„Du hast Angst, stimmts?“, flüsterte Ethan und Jamie nickte stumm und ließ sich umarmen. Dann schob er Ethan ein Stück von sich und sah ihn an, doch sein Freund drehte den Kopf weg und Jamie begriff.

„Wie lange ist es her?”

Ethan antwortete nicht sofort, sondern schaute nun seinerseits lange aus dem Fenster.

„Zwei Jahre.“

„Zwei Jahre?”, wiederholte Jamie und rechnete nach. Vor eineinhalb Jahren war Ethan ins “Vouge” gekommen.

„Bist du deswegen versetzt worden?”

Ethan nickte leicht und legte eine Hand an die Fensterscheibe.

„Ich hab sie geliebt wie mein Leben.“

„Sie?”, Jamie stutze. “Du-?”

“Ja, ich steh auf Männer und Frauen. Und sie war mein Ein und Alles, bis...“, Ethan brach ab und fuhr sich durchs schwarze Haar.

Solange sie sich gegenseitig auch schon kannten, noch nie hatten sie sich etwas über ihre Vergangenheit erzählt.

„Bis was?”, hakte Jamie vorsichtig nach und ließ sich auf sein Bett sinken.

„Bis der Vater das zwischen mir und ihr herausbekommen hat und sie mit einem reichen Typen verheiratet hat.“

„Warst du damals schon“, Jamie zögerte, „im Geschäft?“

Abermals nickte Ethan leicht und verspürte Mitleid mit seinem Freund. Doch die Chancen, dass Luca verheiratet werden würde und auch noch gegen seinen Willen, standen schlecht.

„Wie…wie bist du damals damit fertig geworden?“

„Garnicht. Deswegen wurde ich ja versetzt. Ich hab nicht mehr genug Elan in die Arbeit gesteckt und deswegen wollten die mich nicht mehr.“

Jamie erinnerte sich daran, wie verschlossen und verbitterte Ethan gewesen war, als er ins „Vouge“ kam.

„Aber du bist doch darüber hinweg gekommen!“, beteuerte Jamie und schlug mit der flachen Hand auf die Bettdecke.

Ethan schwieg einen Moment, dann drehte er sich um und lächelte Jamie traurig an.

„Du bist der Grund, warum ich mich noch nicht umgebracht habe. Der Grund, den ich gebraucht habe, um wieder den Sinn meines Lebens zu erkennen.“

Jamie wurde speiübel. “Aber du liebst mich nicht, oder?!“, rief er und starrte Ethan entsetzt an. Es war unmöglich, Ethan konnte ihn nicht auf diese Weise lieben!

Entgegen allen Erwartungen, brach Ethan in schallendes Gelächter aus und fuhr sich dann mit den Händen durchs Gesicht.

„Nein! Natürlich nicht! Jedenfalls nicht so.”, er kicherte immer noch.

Jamie atmete zittrig ein und aus, dann raffte auch er sich auf, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht.

Als er sich das Gesicht abtrocknete, und zufällig in den Spiegel über dem Waschbecken blickte, sah er Ethan hinter sich im Türrahmen stehen und ihn mustern.

„Was?“

Die Stimmung war wieder so normal wie immer, nichts erinnerte mehr an das, was eben zwischen ihnen beiden gesagt worden war. Ethan grinste und seine Augen funkelten wieder und auch Jamie fühlte sich merkwürdig ausgeglichen und fröhlich.

„Nichts.“, grinste Ethan und verschwand aus seinem Blickfeld. Kurz darauf klickte die Tür und Jamie wusste, dass Ethan gegangen war.

Aus der Sicht von Luca

Als es klopfte, war Luca alleine im Haus. Die nächsten drei Tage hatte er aufgrund der Feiertage um den Jahreswechsel frei. Es klopfte erneut und widerwillig stand Luca vom Küchentisch auf, an dem er gerade die Zeichnung für Jamies Mantel fertigte und stieg die Treppe zum Hausflur hinab. Die Arbeit hatte ihn die letzten Tage völlig eingespannt, doch sein Beruf war eintönig und beim Nähen hatte man viel Zeit nachzudenken. Tiefe Ringe unter den Augen zeugten von seinen schlaflosen Nächten, wunde Augen von der Arbeit und seine blasse Gesichtsfarbe von seinem nichtvorhandenen Appetit. Luca quälte die Frage, was er wohl falsch gemacht hatte, dass Jamie ihn so abserviert hatte.

Als er in Gedanken die Treppe hinunterstieg, durchzuckte ihn auf einmal von seinem Rücken her ein unbeschreiblicher Schmerz. Sein Vater hatte ihn wieder verprügelt. Für nichts und wieder nichts. Über Lucas gesamten Rücken zogen sich rote Striemen von seines Vaters Gürtel und die Wange, auf die er ihn geschlagen hatte, war innen aufgeplatzt und blutete immer noch hin und wieder. Manchmal wünschte er diesem Teufel wirklich den Tod, doch dann schämte er sich dafür, denn erstens war er sein Vater und zweitens hatte er bestimmt einen Grund gehabt, seinen Sohn zu schlagen, auch wenn dieser Luca nicht geläufig war.

Kurz bevor er am unteren Ende der Treppe angekommen war, begann die Person davor noch einmal zu klopfen und Luca beeilte sich, die Tür zu öffnen.

Doch als er sah, wer dort vor der Tür im Schnee stand, hätte er beinahe die Tür wieder zugeschlagen.

„Was willst du hier?“

„Reden.“

Aus der Sicht von Jamie

„Jamie?“ Ethan betrat sein Zimmer und Jamie drehte sich um.

„Ja, was ist?“ Ein Grinsen umspielte die Züge seines Freundes und Jamie grinste zurück. „Was hast du jetzt wieder ausgeheckt?“

Immer noch grinsend schnippte Ethan ihm einen kleinen, runden Silberknopf hin, den Jamie mühelos fing.

„Rate mal, wer mir den grad gegeben hat.“

Jamie öffnete die Hand und betrachtete den Knopf. Er war mit einer orientalischen Prägung verziert und Jamie stockte der Atem. Dann schoss sein Kopf herum und er fixierte Ethan.

„Wie bist du denn an einen von meinen Knöpfen gekommen?

Doch Ethan überging seine Frage, setzte sich auf den Diwan und streckte die Beine aus. „Ich habe heute Abend frei und geh mit ein paar anderen Jungs auf die Sylvesterkirmes. Viktor hat uns ein bisschen Geld gegeben. Die Buden sollen ziemlich zugig und kalt, die Attraktionen langweilig und der Glühwein ranzig sein. Wahrscheinlich wird’s voll scheiße. Was ich fragen wollte, willst du mit?“

Er meinte Ethan leise Lachen zu hören, doch als er aufsah, flocht dieser gerade die Zierborte des Diwans zu kleinen Zöpfen.

„Lass das, ich muss die immer alle wieder rausfriemeln.“

Ein unübersehbares Grinsen lag immer noch auf den vollen Lippen seines Freundes, als dieser ihm noch einmal versicherte, dass es wahrscheinlich total langweilig werden würde.

Ein kurzer, forschender Seitenblick von Ethan ließ Jamie ein Licht aufgehen.

„Kann es sein, dass du nicht willst, dass ich mitkomme?“

Ethan schaute ihn unschuldig an und schüttelte seinen Kopf, doch seine Augen verrieten ihn. „Warum sollte ich das wollen?“

Das wusste Jamie auch nicht, doch auch während ihres weiteren Gesprächs ließ ihn der Verdacht nicht los, dass Ethan irgendetwas plante oder ihm eher verschwieg.

„Wieso denkt Viktor eigentlich, dass heute Abend niemand kommt?“, fragte Jamie den schwarzhaarigen nach ein paar Augenblicken des Schweigens.

Ethan zog ein ahnungsloses Gesicht und griff nach einer Strähne von Jamies Haaren. Nachdenklich drehte er sie zwischen den Fingern und zog dann so daran, dass Jamie den Kopf in den Nacken legen musste, damit es nicht schmerzte.

Jamie runzelte die Stirn und warf Ethan einen fragenden Blick zu. „Was wird das, wenn es fertig ist?“

Lachend strich Ethan ihm über die Stirn, die Nase und schließlich über die Lippen.

„Ich frage mich nur, wie es wohl für Luca war, als er dich geküsst hat.“

Als Jamie den Mund zu einem Grinsen verzog, strich Ethan ihm die Mundwinkel entlang über die Wange und stieß den Finger gegen seine Schläfe, sodass sein Kopf zur Seite schwang.

„Jetzt sag nicht, dass du eifersüchtig bist?“, stutzte Jamie und sah seinen Freund verschmitzt an. „Und was, wenn es so wäre?“, gab Ethan mit einem ebenfalls spitzbübischen Grinsen zurück. Wendig rollte Jamie sich auf die Knie und stützte Ethan seine Hände auf die Brust.

Einen Moment schauten sie sich nur grinsend in die Augen, dann beugte Jamie sich langsam hinab und als sich ihre Lippen fast berührten, schloss Ethan automatisch die Augen. Doch Jamie hatte nicht vor Ethan zu küssen. Das merkte auch Ethan, der seine Augen wieder öffnete, als auch nach ein paar Sekunden immer noch nichts passiert war.

„Dann muss ich dich leider enttäuschen, mein Freund. Denn küssen tu ich dich nicht.“, hauchte Jamie dem älteren entgegen, der daraufhin unwillig den Mund verzog.

„Auch wenn mir mein Leben als Ethan O’Conner gefällt, manchmal wünsche ich mir ein gewisser Luca mit blonden Haaren und braunen Augen zu sein.“

Jamie lachte und richtete sich wieder auf. „Amüsier dich heute Abend schön mit den Jungs, ich werde vielleicht zur Abwechslung mal früh ins Bett gehen-...“, doch Ethan unterbrach ihn. „Aber dann verpasst du ja das Mitternachtsfeuerwerk!“ Jamie seufzte.

„Stimmt, du hast Recht, das wird bestimmt schön.“ Ethan grinste vielsagend und Jamie warf ein Kissen nach ihm.

„Ich habe keine Ahnung, was du mit deinem Getue bezwecken willst, doch irgendwie habe ich kein gutes Gefühl.“

Dennoch ließ er sich grinsend im Schneidersitz auf das Bett sinken und spielte mit dem Silberknopf. Die Matratze hinter ihm dellte sich ein und Ethan begann ihm stillschweigend den Nacken zu massieren. Nach und nach zog Ethan den Saum des Morgenmantels im Nacken immer weiter hinunter und als er einen ziemlich verspannten Punkt zu fassen bekam, stöhnte Jamie leise auf.

„Mach dir heute einen schönen Abend und genieß den Jahreswechsel. Ich komme erst morgen früh wieder.“

Jamie stöhnte erneut auf – Ethans Hände waren wirklich ungnädig zu seinen verspannten Muskeln – und fragte:

„Wo willst du dich denn so lange rumtreiben?“

„Mal sehen, London ist groß.“, meinte Ethan vage und zog ihm den Mantel wieder über den entblößten Rücken. „Ich werd dann auch mal los.“

Jamie nickte und schnappte dann nach Ethans Hand. „Bringst du mir was mit?“

Ethan lachte laut auf und beugte sich zu dem jüngeren hinab. „Natürlich bring ich dir was mit. Ich glaube, ich bin noch nicht einmal aus gewesen, ohne dir etwas mitzubringen.“

Jamie grinste. Es stimmte. Er liebte es, wenn Ethan ihm nachdem er ausging kleine Souvenirs mitbrachte. Mal eine kleine Schmuckdose, mal Streichhölzer, deren Verpackung besonders hübsch war, mal ein kunstvoll besticktes Kissen. Ethan brachte ihm immer etwas mit. Egal von wo er zurück kam.

Schon fast an der Tür angekommen, drehte Ethan sich noch einmal um.

„Weißt du noch die drei Matrosen, die vor ein paar Wochen bei uns im Club waren?“

Jamie überlegte und nickte. Ethan grinste. „Der schwarzhaarige wird heute auch dabei sein.”

Es dauerte keine Sekunde, da begriff Jamie und ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht.

„Du willst dich heute Nacht von dem flachlegen lassen!“

Ethans Grinsen war Antwort genug. Jamie stand auf und zog sich den Mantel fester zu. „Na dann wünsch ich dir viel Spaß, welchen du sicher haben wirst.“

Das „Oh, ja!“ von Ethan war so anzüglich, dass Jamie zu Lachen begann und sich dann gespielt anschmiegsam an Ethans Brust presste.

„Ich sag dir, unten zu liegen ist viel besser. Ich spreche aus Erfahrung...“, hauchte er seinem Freund erotisch ins Ohr und Ethans vor unterdrücktem Lachen bebender Körper drängte sich an seinen. Dann kicherte Ethan ihm seinerseits ins Ohr: „Ich kann dich mir auch nur ganz schwer im dominanten Part vorstellen. Du bist zu...“ Jamie drückte Ethan spielerisch empört von sich und sah zu ihm hoch. „...feminin.“, beendete Ethan seinen Satz und versuchte dann ganz schnell durch die Tür zu entkommen, denn Jamie hatte ein paar Kissen gepackt und begann sie nun gut gezielt auf seinen Freund zu feuern. Schließlich standen sie nach einem erbitterten Kampf um die Herrschaft in der Kissenschlacht heftig keuchend an die Tür gelehnt. Ethan von außen, Jamie von innen. Die Tür war nur noch einen Spalt offen und Jamie grinste Ethan da hindurch an.

„Bild dir ja nicht ein, dass ich dich in den nächsten Tagen noch ein einziges Mal in mein Zimmer lasse.“ Ethan lachte.

„Auch nicht, wenn du bettelnd und bittend vor der Tür kniest und mit den Fingernägeln daran kratzt.“

„Einverstanden.“, stimmte Ethan Jamies Drohungen zu und wandte sich zum Gehen.

„Einverstanden?!“, rief Jamie ihm hinterher, doch Ethan drehte sich nicht noch einmal um.
 

Es war bestimmt schon nach zweiundzwanzig Uhr, als Jamie sich gelangweilt auf sein Bett fallen ließ. Nachdem Ethan gegangen war, hatte er ausgiebig gebadet und sich mit teurer, parfümierter Körperlotion eingecremt, die seine Haut in einem leichten Goldton schimmern ließ. Nun lag er auf den kühlen Laken und fragte sich, was er mit seiner verbliebenen Freizeit anstellen sollte. Das Bild des einen Matrosen schoss ihm in den Kopf und er fragte sich, wann Ethan Kontakt zu dem schwarzhaarigen bekommen hatte. Im „Vouge“ waren die drei seit drei Wochen Stammgäste, doch nicht einer von ihnen hatte bisher die Dienste einer der Jungen in Anspruch genommen. Oder hatte der schwarzhaarige Ethan-...? Erzählt hatte sein Freund ihm jedenfalls nichts.

Jamies Gedanken schweiften ab, als es plötzlich leise und zaghaft an der Tür klopfte. Jamie seufzte und grinste, dann rief er:

„Das kannst du vergessen, ich lass dich nicht rein!“ Ethan konnte ruhig noch ein bisschen länger vor seiner Tür stehen. Ob er ihn am Ende wirklich draußen stehen lassen würde, wusste Jamie noch nicht, doch noch sollte sein Freund ein bisschen schmoren.

Wieder klopfte es und Jamie stand auf. Dicht vor der Tür blieb er stehen und wartete darauf, dass es erneut klopfte.

Tock, tock.

Jamie riss die Tür auf und erstarrte.

Aus der Sicht von Luca

Jamie starrte ihn an, als hätte er jemanden ganz anderen erwartet.

Nachdem sie sich eine Weile ungläubig angestarrt hatten, trat Jamie einen Schritt zurück und verzog die Mundwinkel.

„Was willst du denn hier?“

Es dauerte einen Moment, bis Luca seine Stimme wiedergefunden hatte, dann stotterte er: „Hat Ethan dir nicht erzählt-...“

„Ethan“, zischte Jamie und zog die Augenbrauen zusammen. Dann ergänzte er: „Nein, hat er nicht.“

Jamies abwehrende Haltung verunsicherte Luca immens und er egal was er sich zurechtgelegt hatte, bevor er an die Tür geklopft hatte – es war weg.

„Ich... ich dachte du liebst mich?“, stammelte Luca und sah schon fast ängstlich zu Jamie hoch.

Ein wütendes Luftschnappen machte ihm deutlich, dass das wohl nicht ganz zutraf. Plötzlich machte Jamie einen Schritt auf ihn zu, zog ihn ins Zimmer und schloss geräuschvoll die Tür hinter ihm.

„Es muss ja nicht jeder mithören“, murmelnd, drehte er sich wieder zu Luca um und der Ausdruck in den azurblauen Augen, ließ den Blonden nichts Gutes erwarten.

„Jetzt noch mal von vorne. Wieso bist du hier? Wer sagt, dass ich dich liebe und was zur Hölle hat Ethan damit zu tun?“

„Hör auf zu fluchen“, rutschte es Luca ungewollt heraus und unter dem darauf folgenden Blick, versank er fast im Erdboden.

„Ich fluche solange ich Lust dazu habe, verstanden?“ Luca nickte kleinlaut.

Den Blick auf die Teppiche gerichtet und die Finger ineinander verschlungen wagte Luca nicht, ihm zu antworten. Nach dem Gespräch mit Ethan schien ihm alles so einfach, so klar. Doch jetzt, Auge in Auge mit Jamie, war es das ganz und garnicht.

Vielleicht hatte Jamie bemerkt, wie unsicher Luca auf einmal geworden war und hakte etwas freundlicher klingend erneut nach.

„Könntest du mir bitte meine Fragen beantworten?“

Luca atmete tief ein und nickte dann zaghaft.

„Gestern war dein Freund bei mir und hat mir gesagt, dass... dass“, er stockte und schaute hoch zu Jamie.

„Dass, was?“, wollte Jamie wissen, doch Luca wusste, dass Jamie den Rest des Satzes kannte.

Er holte erneut tief Luft und murmelte dann: „Dass du mich liebst.“

Zu seinem Erstaunen blieb Jamie nun, als er es zum zweiten Mal sagte, ganz ruhig.

„Wie bist du hier her gekommen?“

Errötend blickte Luca wieder zu Boden und begann nervös an seinem Hemdsärmel zu zupfen.

„Er hat mir gesagt, dass er gegen acht die Hintertür aufschließen würde und dann sollte ich die Treppe am Ende des Ganges hinaufsteigen.“

Fast zuckte Luca zusammen, als Jamie leise anfing zu lachen. „Das wird der Junge mir büßen.“ Doch es klang nur belustigt, nicht ernsthaft drohend.

„Und der letzte Punkt?“ Luca sah Jamie fragend an. „Du wolltest mir sagen, was du hier willst.“

Wieder schaute Luca vorsichtig zu Jamie empor und sah, dass dieser mit einem Traumfänger spielte, der von der Decke herabhing.

Jetzt.

Trau dich, hatte Ethan ihm mehrmals eindringlich gesagt. Er liebt dich, du musst es ihm nur klarmachen.

Entschlossen trat Luca schnell auf Jamie zu, griff mit einer Hand nach dem erhobenen Arm und mit der anderen nach Jamies Nacken. Er spürte, wie Jamie sich erstaunt versteifte, als er die Lippen auf seinen Mund legte. Nachgiebig und weich lagen ihre Lippen sanft aneinander, doch noch bevor Jamie hätte reagieren können, löste Luca den Kuss wieder und trat zurück.

Das wollte ich.“
 

Jamie sah ihn nicht an und Luca hatte ein paar Augenblicke Zeit, ihn genauer zu betrachten. Das goldbraune Haar glänzte im Licht der Kerzen, die im ganzen Raum verteilt standen und auch Jamies Haut schimmerte leicht bronzefarben. Ein Stück des Oberkörpers schaute aus dem auseinandergefallenen Kragen des bordeauxroten Morgenmantels heraus und ließ den verborgenen Teil nur erahnen. Doch Luca hatte Jamie schon in weit enganliegenderen Kleidern gesehen und wusste also, dass Jamies Körper muskulös aber dennoch schmal war. Schmal ja, aber immer noch irgendwie männlich. Was man von ihm nicht behaupten konnte. Sein Körper hätte auch der eines Mädchens sein können, denn hatte er weder übermäßig Muskeln noch war er besonders groß. Zierlich. Schmächtig. Das beschrieb ihn wohl am besten.

Als er noch so am Sinnieren war, spürte er plötzlich Jamies heißen Atem an seinem Nacken. Jamie hatte sich unbemerkt hinter ihn gestellt, hatte Lucas Körper mit den Armen umschlungen und biss ihn nun neckisch in die sanfte Beuge zwischen Hals und Schulter. Luca wollte sich aus dem Griff herauswinden, doch Jamies Arme lagen unnachgiebig um seine Brust.

„Ja-… mhm… Jamie!”, hörte Luca sich stottern und auf einmal löste sich eine der Hände von seinem Oberkörper und wanderte unter sein Hemd.

Ein unglaubliches Gefühl schoss durch seinen Körper, als Jamie ihm sanft am Ohrläppchen knabberte und schließlich in sein Ohr flüsterte:

„Weißt du, wo du schon einmal da bist... .“
 

Luca keuchte auf, als Jamies Hand seine Brust hinab und durch den Hosenbund strich.

Sanft aber fest legte Jamie seine Hand um Lucas Glied und begann es kundig zu massieren, gleichzeitig trat er näher hinter ihn, sodass Luca die Wärme von Jamies Körper dicht an seinem Rücken spürte.

„Ja-...“, keuchte Luca, doch Jamies andere Hand, die nun unter sein Hemd glitt und ihm leicht in die Brustwarze zwickte, ließ ihn verstummen. Luca wollte, dass Jamie aufhörte – doch gleichzeitig wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass Jamie ihn überall berührte, ihn nahm und ihm das gab, nach dem er sich schon seit so langer Zeit sehnte.

Doch Luca wollte es nicht so, nicht auf diese Art und Weise. Die Hand um sein Glied beschleunigte ihren Rhythmus und auch seine Brustwarze war unter der gekonnten Behandlung von Seiten Jamies hart geworden.

„Jam-... Jamie... Ich-… nein-… aufhö-…”, keuchte Luca durch halb geöffnete Lippen und kämpfte den zähen Nebel fort, der sich in seinen Kopf geschlichen hatte. Sein Körper lehnte sich mittlerweile an Jamies und sein Kopf lag auf dessen Schulter. Der leicht zimtige Geruch von Jamies Haut brachte ihn um den Verstand und Luca hatte das Gefühl, sein eigener Körper gehorchte ihm nicht mehr, sondern war Jamies Berührungen willenlos ausgeliefert.

Schließlich waren es Jamies Lippen an seinem Hals, die ihm die Kraft gaben, seine Arme zu befreien, die Hand am Gelenk zu packen und aus seiner Hose zu ziehen.

„Ja-...“, sein flach und unregelmäßig gehender Atem ließ ihn stocken. „Jamie, bitte. Nicht so... .”

Aus der Sicht von Jamie

Lucas braune Augen sahen ihn halb lusttrunken halb flehend an und Jamie wollte in ihnen versinken.

All die Gefühle, die er versucht hatte auszublenden, waren mit einem Schlag, welcher ihn unerwartet und unbarmherzig wie mitten ins Gesicht getroffen hatte, zurück gekommen und auch Luca wollte ihn. Das war Tatsache, denn warum sonst hätte er sich noch einmal in die Höhle des Löwen wagen sollen, wenn nicht, weil er ihn nicht hatte vergessen können? Der Geruch von Lucas warmer Haut, der Geschmack, all das machten ihn süchtig. Er wollte mehr. Lucas Blick war nun wieder ernst und doch funkelte aus ihnen die Neugier über das, was hätte passieren können, wenn er ihn eben nicht aufgehalten hätte. Jamie lächelte. Luca hatte Recht: Er liebte ihn wirklich.

Falls das, was er gerade fühlte, diese Mischung aus Lust, Verlangen und dem warmen, Geborgenheit gebenden Gefühl, welches seinen gesamten Körper zu erfüllen schien, Liebe war.

„Wie denn?“, fragte Jamie leise und zu seiner eigenen Überraschung klang seine Stimme fast verzweifelt.

Nach ein paar Augenblicken, näherte Luca sich ihm wieder und legte die Handflächen auf seine Brust.

„So.“

Dann beugte er sich vor und legte seine warmen Lippen an Jamies. Bloß ein Kuss? Doch dann spürte Jamie tiefer in den Kuss hinein und fand eine ungeheure Zärtlichkeit und viel mehr Bedeutung, viel mehr Liebe hinter dem Kuss, als hm ein Kuss der Leidenschaft je offenbart hätte. Überwältigt von dieser Erkenntnis schlang er seine Arme um den Blonden und zog ihn eng an sich. Diese einfache, simple Berührung ihrer Lippen machte ihn so unwahrscheinlich glücklich, wie er noch nie zuvor gewesen war.

„Oh, Luca“, seufzte er leise und im darauffolgenden Moment der Stille kochte die Leidenschaft in ihnen beiden wieder hoch und als sie sich nur den Bruchteil einer Sekunde später wieder küssten, war alle Zärtlichkeit einer alles umfassenden Leidenschaft gewichen, die ihn mitriss wie eine Sturmflut. Wogen der Lust fluteten durch Jamies Körper und wie das Meer der Gezeiten zerrten sie ihn hinaus auf den brodelnden Ozean. Lucas Hände, die ihm den Morgenmantel von den Schultern zerrten spürte er auf seiner Haut wie kühlende Regentropfen, denn er brannte. Jamie brannte von innen heraus.

Lucas Lippen glitten seinen Hals entlang, pressten sich ihm auf den Mund, süß, verlangend, suchend. Jamie gab ihm was er suchte und schließlich fanden auch seine Hände den Saum von Lucas Hemd, zogen es ihm über den Kopf und nur einen Moment später fiel Lucas Hose zu Boden.

Ein halb ersticktes, halb hungrig klingendes Stöhnen kam ihm über die Lippen und Jamie griff mit beiden Händen in Lucas Haar, zog dessen Kopf zu sich und küsste ihn, wie dieser ihn das erste Mal geküsst hatte. Jamie spürte, wie Luca sich ihm ergab, sich ihm auslieferte und dieses Gefühl der Dominanz berauschte ihn. Er wollte Luca mit Haut und Haaren. Und zwar jetzt. Sofort.

Jamie dirigierte Luca so, dass sie schließlich eng umschlungen vor dem Fußende des breiten Bettes standen. Ihre Lippen lösten sich voneinander und das darauf folgende, laute Keuchen von Luca zog Jamie endgültig den Boden unter den Füßen weg. Ein einsamer Wunsch beseelte seinen ansonsten leer gefegten Kopf. Er wollte den Blonden dazu bringen, sich zu verlieren, wollte Luca kommen sehen, sehen wie sich seine wunderschönen roten Lippen zu einem lautlosen Schrei der Verzückung öffneten und spüren, wie er seinen bebenden Körper an ihn presste.

Ein Stoß vor die Brust ließ Luca rücklings vor ihm aufs Bett fallen und Jamie kniete sich links und rechts neben Lucas schmalen Hüften auf die Matratze. Unterschwellige Aufregung mischte sich unter Jamies überkochenden Gefühle. Der Blick aus den vor Erregung halb geschlossenen Augen des Blonden brannte sich glühend und begehrlich in seine und ließ ihn unwillkürlich erschauern.

Doch noch war Jamie nicht dazu bereit, ihnen beiden zu geben, wonach sie sich sehnten und so glitt er wieder an Lucas Körper hinab, vom Bett runter und zog Lucas Körper ein Stück zu sich ran. Dann schaute er dem Blonden noch einmal kurz in die Augen, beugte er sich runter und ...
 

... und Luca keuchte unterdrückt auf. Jamie kniete hinter dem Fußende auf dem Boden, Lucas Beine hingen über das Bettgestell und Jamies Hände lagen an den gespreizten Oberschenkeln. Ein Zittern durchlief Luca und er ergoss sich heiß in Jamies Mund. Jamie schluckte und sah, sich seine Lippen leckend, auf. Lucas Augen waren geschlossen, doch als Jamie ihn schwach lächelnd musterte öffneten sie sich und der Blick, der ihn daraufhin durchdrang, brachte sein Blut zum wiederholten Male zum kochen. Ein leichter Rotschimmer überzog die blasse Haut des Blonden und als Jamie sich wieder zu ihm aufs Bett legte, griff Luca nach seiner Hand und verschränkte die Finger mit seinen. Jamie schloss seine Augen und spürte den Gefühlen hinterher, die Lucas Reaktion auf seine Berührungen in ihm ausgelöst hatten. Plötzlich strichen ihm zwei zärtliche Finger über die Brust, strichen über seine ebenfalls erhitzte Haut und kurz darauf küsste Luca ihn ausgiebig und immer noch irgendwie neugierig. Ihre Zungen spielten miteinander; rangen spielerisch um die Vorherrschaft und Jamie schmeckte Luca intensiver als zuvor. Obwohl das Feuer der Leidenschaft eben noch gestillt schien, entfachte Luca es bewusst oder unbewusst erneut, als er sich auf den Rücken rollte und Jamie mit und auf sich zog.

Die Berührung ihrer erregten Körper war wie ein Funke im trockenen Heu und sofort brannten sie beide wieder lichterloh.

Ihr Kuss wurde gieriger und wilder. Sie küssten sich wie zwei ausgehungerte Löwen, verschlangen den anderen halb und machten sich gegenseitig zu ihrem Eigentum.

Schließlich konnte und wollte Jamie seine eigne Erektion nicht länger unbeachtet lassen und spreizte Lucas Beine soweit, dass er gut dazwischen Platz hatte.

„Bist du bereit?“, fragte er Luca und seine Stimme klang rau und zitterte etwas.

Als Antwort nickte der Blonde nur leicht, das Gesicht etwas blass und die Lippen zusammengepresst. Jamie lächelte, beugte sich vor und strich mit den Lippen leicht über Lucas Schläfe.

„Ich werde ganz vorsichtig sein, aber das könnte jetzt etwas wehtun. Sag mir, wenn es dir zu sehr wehtut, dann höre ich sofort auf“, flüsterte er dem Blonden zärtlich ins Ohr und strich ihm eine verschwitze Strähne aus der Stirn. Luca drehte seinen Kopf, sodass jetzt seine Lippen an Jamies Ohr lagen.

„Mach schon, sonst überlege ich es mir noch anders... .“

Jamie lachte leise und küsste Luca kurz und leicht auf den Mund.

„Keine Chance!“

Sie küssten sich erneut und schließlich stütze Jamie seine Arme links und rechts neben Lucas Oberkörper auf und begann vorsichtig in Luca einzudringen. Luca sagte nichts, doch Jamie spürte, wie sich sein Körper unter ihm anspannte.

Jamie küsste Luca immer wieder sanft bis er schließlich gänzlich in ihm versunken war. Das Gefühl war überwältigend! Es fühlte sich anders an, als alles, was Jamie bis dahin erlebt hatte und in den funkelnden Augen von Luca erkannte er, dass er ähnlich fühlen musste. Nachdem Luca sich an ihn gewöhnt hatte, nahm Jamie rhythmische Bewegungen auf und staunte über Lucas Reaktion. Luca kam ihm entgegen, umschlang Jamies Körper mit seinen Beinen und begann mit seinem Becken nach hinten zu drängen, wahrscheinlich um mehr von dem Gefühl zu bekommen, welches Jamies Stöße in ihm auslösten. Jamie stöhnte heiser auf und stieß fester zu.

Lucas Keuchen verstummte kurz, um beim nächsten Atemzug umso lauter zu werden. Das Bett ächzte unter Jamies Rhythmus und dennoch wollte Jamie mehr. Das, was Lucas Nähe, die Berührungen ihrer Körper und Lucas genussvolles Keuchen in ihm auslösten, war zu unbeschreiblich. Sein Tempo wurde halsbrecherisch und Luca schrie auf.

„Jamie...Oh Gott, Jamie!“ Jamie wurde ganz anders. Er hätte am liebsten laut aufgelacht, denn eine Welle der Glückseligkeit durchströmte ihn. Luca liebte ihn und er liebte Luca. Ihr Beisammensein war nicht egoistisch, es würde am Ende keine Bezahlung geben, kein schweigsames Anziehen, sondern Luca gab ihm jedes Gefühl doppelt zurück. Ihre Liebe nahm nicht, sondern sie gab!

Plötzlich schlang Luca seine Arme um Jamies Nacken und zog seine Stirn gegen die eigene. Sein heißer Atem strich Jamie über die Lippen und als er stockend zu sprechen begann – Jamie penetrierte ihn immer noch hart und schnell – kam jedes Wort nur bruchstückhaft.

„Ja-...Jam-... mhm... ah... ich... nhh-...lie-...iebe... di-... dich!“

Das letzte Wort ging in einem lauten Schrei unter. Lucas Körper bebte und seine Muskeln umklammerten Jamie, massierten seinen Schaft und dann kam auch Jamie unter heftigem Zucken seines Körpers.

Aus der Sicht von Luca

Jamies heißer Körper lag auf ihm und dessen ruhiger Atem verriet Luca, dass Jamie schlief. Verträumt strich Luca dem Menschen, den er mehr als alles andere liebte durchs Haar. Die Berührung schien Jamie aufgeweckt zu haben und als er sich auf ihm regte, spürte Luca ihn in sich.

„Bin ich eingeschlafen?“, nuschelte Jamie und blickte ihn verschlafen an. Er hatte kaum zehn Minuten geschlafen. Luca nickte und Jamie lächelte.

„Was machst du bloß mit mir?“, fragte Jamie ihn und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn. Widerwillen errötete Luca und wandte den Blick von den funkelnden, blauen Augen seines Gegenübers ab.

„Das was du mit mir gemacht hast, war jedenfalls unglaublich“, murmelte Luca und spürte, wie ihm die Röte noch heißer ins Gesicht schoss. Jetzt lachte Jamie wirklich und Luca fand, dass es das schönste Geräusch war, dass er seit langem gehört hatte.

„Kannst du-... ähm, ich meine-...“, stotterte er und brach ab.

„Was denn?“, fragte Jamie zurück und stützte sich wieder auf seine Arme. Die Bewegung ließ Luca wieder den Teil von Jamie spüren, der noch in ihm war und er zuckte leicht zusammen. Als er die Augen wieder öffnete, sah Jamie ihn breit Grinsend an.

„Meintest du gerade, dass ich von dir runter gehen soll?“ Der Schalk hinter seinen Worten war nicht zu überhören und Luca nickte bloß; erneut bis an die Haarwurzeln errötend.

Doch auch nachdem mehrer Sekunden verstrichen waren, machte Jamie keine Anstalten von ihm – aus ihm – zu gehen. Stattdessen beugte er sich vor und flüsterte Luca leise ins Ohr: „Weißt du, ich hätte auch nichts gegen eine zweite Runde. Und du?“

Lucas Atem stockte als er das hörte und augenblicklich begann sein Körper auf diese Möglichkeit zu regieren. „Ich-... Ich-...“, stotterte Luca, und falls es möglich war, wurde Jamies Grinsen noch breiter. Schließlich beugte Jamie sich zu ihm hinab und küsste ihn lange. Die Minuten vergingen und immer wenn Luca dachte, dass Jamie den Kuss jetzt beenden würde, intensivierte dieser ihn stattdessen nur noch.

Luca genoss das samtige Gefühl von Jamies Zunge in seinem Mund und betete darum, dass dieser Moment nie zuende gehen möge.

Doch schlussendlich löste Jamie den Kuss und rollte sich von Luca herunter.

Schweigend und zufrieden lagen sie still nebeneinander, nur die Hände waren ineinander verschränkt, ansonsten berührten sich ihre Körper nicht mehr.

Es musste auf Mitternacht zugehen, da erhob Jamie sich und sah ihn einen Moment lang an.

„Komm mit, ich möchte dir was zeigen“, meinte Jamie und griff nach seinen Kleidern, die neben dem Bett ordentlich über einen Stuhl gehängt waren.

Luca fragte sich, was Jamie wohl vorhatte, stand auf und sammelte seine Kleidungstücke zusammen, die Jamie vorhin über den Boden verteilt hatte. Bei dem Gedanken wurde ihm wieder heißt und er warf einen Seitenblick auf Jamie, der gerade seinen Gürtel schloss. Ob Jamie seinen Blick bemerkt hatte, wusste Luca nicht, doch plötzlich schaute Jamie auf und lächelte ihn an. Luca konnte nicht anders und stürmte auf Jamie zu, warf sich ihm in die Arme und presste die Stirn gegen seine nackte Schulter. Die Wucht ließ Jamie ein paar Schritte nach hinten stolpern, doch als er sich gefangen hatte, legte er beide Arme um Luca, strich ihm durch die Haare und hielt ihn einfach.
 

Ein Klaps auf seinen nackten Hintern ließ Luca hochschrecken und er schaute Jamie erstaunt und zugleich wütend über den Klapser an.

„Was-..“, begann er, doch Jamie unterbrach ihn, indem er ihm den Finger auf die Lippen legte.

„Komm, sonst verpassen wir es noch.“

Luca schmollte und Jamie grinste. „Du siehst zu süß aus, wenn du beleidigt bist.“, stellte er fest und musterte Luca ausgiebig. Luca, der immer noch nichts anhatte, errötete erneut und schlüpfte schnell in seine Kleider. Als er fertig angezogen war, hielt Jamie ihm die Hand hin und Luca griff danach. Jamie durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür und schaute nach oben zur Decke.

Luca folgte ihm und sah, dass sich über dem schmalen Treppenabsatz eine Dachbodenluke befand. Jamie ließ seine Hand los, griff nach einem dünnen, langen Holzstab, der unbemerkt neben dem Türrahmen gelehnt hatte und öffnete mit dem Haken am einen Ende des Stabes die Luke. Eine schmale Klappleiter erschien und Jamie zog sie auseinander.

„Nach dir“, meinte er grinsend und machte eine linkische Verbeugung. Luca sah ihn zweifelnd an, dann kletterte er zögernd die Leiter hoch. Plötzlich zog ihn etwas am Fuß und Luca hätte beinahe aufgeschrieen. Doch als er sich umdrehte, sah er, dass Jamie ihn nur zurückgehalten hatte, damit er ihm eine Winterjacke hochreichen konnte.

„Du wirst sie brauchen. Ist vielleicht ein bisschen groß, aber besser als dass zu frierst.“, erklärte Jamie und Luca griff nach dem Mantel. Auch Jamie hatte sich einen Wintermantel unter den Arm geklemmt und Luca fragte sich, wem dieser Mantel wohl gehörte.

Wie als hätte er seine Gedanken gehört rief Jamie: „Das ist meine alte Winterjacke.“ Und klapste Luca dann erneut auf den Hintern, was Luca dazu veranlasste, unwillig und so leise, dass Jamie nicht verstand was er sagte, vor sich hin zu meckern.

Prompt kam die Reaktion. „Hast du was gesagt?“, fragte Jamie hinter ihm und Luca schüttelte nur schnell den Kopf.

Luca stieg die letzte Sprosse empor und fand sich auf dem Spitzboden des Hauses wieder. Es war stockduster.

„Wohin jetzt?“, fragte er Jamie, der ihm soeben durch die Luke gefolgt war und diese nun wieder hochzog und schloss.

Luca beobachtete ihn dabei. „Wie sollen wir jetzt wieder runterkommen?“

„Das zeig ich dir, wenn es soweit ist. Jetzt sollten wir uns beeilen, wir haben nämlich nur noch etwa fünf Minuten.“

Jamie ging an Luca vorbei und öffnete ein kleines Dachfenster.

„Ich geh zuerst, dann helfe ich dir hoch, einverstanden?“

Luca, der keinen blassen Schimmer hatte, was Jamie da machte, nickte einfach.

Sofort zog Jamie sich durch das Fenster aufs Dach hinaus und Luca stürmte zu der Öffnung und schaute ängstlich hinaus.

„Jamie?“, flüsterte er hinaus in die schwarze Nacht und unter seinem Hemd spürte er sein Herz schnell pochen.

Ein Finger tippte ihm auf den Scheitel und Lucas Kopf schoss hoch.

„Gib mir deine Hand, dann zieh ich dich rauf.“ Luca tat wie ihm geheißen und einen Augenblick später saß er neben Jamie auf dem Dachvorsprung eines Dachfensters. Die ebene Fläche, auf der sie saßen war gerade groß genug, damit sie zusammen – er zwischen Jamies Beinen und mit dem Rücken an seine Brust gelehnt – dort Platz fanden.

„Und was machen wir jetzt hier?“, fragte Luca ungeduldig und drehte sich soweit um, dass er Jamie ansehen konnte.

„Warts ab, gleich ist es soweit.”

„Was denn?”, hakte Luca wieder nach und Jamie seufzte.

„Sei doch mal ein bisschen geduldig!”

„Ich bin-...“, doch sein erneutes Aufbegehren wurde von Jamies Lippen beendet, die sich sanft und zugleich endgültig auf die seinen legten.

Sie küssten sich bis plötzlich ein lauter Knall die Stille durchbrach und Luca unwillkürlich zusammenzuckte.

„Was-...?“, wollte er gerade ansetzten, da drehte Jamie sein Gesicht sanft nach vorne und Luca sah den leuchtend roten Funkenschauer, der die Nacht erhellte.

„Es fängt an.“, flüsterte Jamie leise und legte seine Arme um Lucas Körper. Die roten Funken wurden von grellgrünen Spiralen abgelöst, die noch nicht ganz verglüht waren, als schon drei riesige goldene Funkenregen vom schwarzen Himmel fielen.

„Gefällt es dir?“, fragte Jamie ihn leise und Luca nickte nur, unfähig etwas zu sagen. Das Feuerwerk dauerte eine knappe halbe Stunde und malte mit seinen bunten Farben und den kunstvollen Figuren wunderschöne Bilder in die dunkle Nacht. Luca fühlte, wie das Meer an Ereignissen und Gefühlen überzulaufen drohte kuschelte sich dichter an Jamies warmen Körper.

Doch als Jamie seine Lippen an Lucas Ohr legte und leise „Ich liebe dich“ flüsterte, konnte Luca die Tränen nicht mehr zurückhalten und ungehindert liefen sie ihm über die Wangen. Es war einfach zu viel. Jamies Nähe, seine Liebe, der eben erlebte, fantastische Sex und nun dieses atemberaubende Feuerwerk.
 

Lucas Tränen versiegten noch nicht einmal, als das Feuerwerk zuende ging und die Schwärze den Nachthimmel zurückerobert hatte. Es waren zu viele Dinge, die ihn im Moment so unglaublich glücklich machten. Jamie liebte ihn. Jamie liebte ihn!

Doch so sehr Luca es auch zu verdrängen versuchte, es würde nicht für immer so bleiben können, wie es jetzt gerade war. Jetzt war er glücklich, denn Jamie liebte ihn und er liebte Jamie, daran würde sich nichts ändern, doch tief in seinem Inneren wusste Luca, dass es vielleicht jetzt so war, doch morgen würde ihr Leben weitergehen. Und dann musste Jamie zurück zu seinen Freiern. Schon allein bei diesem Gedanken war es ihm, als bohrte sich ihm ein glühendes Messer direkt ins Herz.

Luca hatte Angst, nicht damit fertig zu werden. Vielleicht konnte er es einige Zeit ertragen, Jamie jede Nacht an andere Männer zu verlieren, doch-...

Wie lange noch...?
 

Ende vom 1. Teil
 

Ich möchte mich bei allen Leuten bedanken, die meine Geschichte bis hier hin mitverfolgt haben und euch sagen, wie sehr ich mich über jedes einzelne Kommentar gefreut habe! Vielen Dank!

Ich hoffe wir sehen uns im zweiten Teil der Story wieder!

Prolog zum 2. Teil

Januar 1899 bis August 1899.

Jamie und Luca versuchen es trotz der widrigen Umstände mit einer Beziehung.

Doch Jamie muss mit ansehen, wie Luca immer mehr daran zerbricht.

Schließlich überschlagen sich die Ereignisse und Jamies Leben wendet sich abrupt um 180°.

Aus der Sicht von Jamie

Es war der 27. Januar, als es passierte. Eigentlich hätte der Tag wunderschön werden können, denn Luca hatte vor, ihn heute seinen Eltern vorzustellen. Jamie war dagegen gewesen, doch Luca hatte darauf beharrt. Er wollte Klarheit an den Fronten und dazu gehörte eben auch, seiner Meinung nach, dass er Jamie zuhause vorstellte.

Doch dann ging irgendwie alles schief.

Um kurz nach halb zwei Klopfte es an Jamies Tür und er sprang vom Bett auf, um Luca zu begrüßen. Kaum hatte Jamie seinen Freund durch die Tür gezogen und diese wieder geschlossen, umschlangen ihn Lucas Arme und einen Augenblick später küssten sie sich, als stände eine sofortige Apokalypse bevor.

„Ich hab dich so vermisst!“, keuchte Luca und Jamie spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen. Lächelnd vergrub Jamie seine Hände in Lucas Haar und atmete dessen Duft tief ein. „Ich dich auch“, gab er zurück und küsste den Blonden erneut stürmisch und liebevoll.

Schließlich löste Luca sich von ihm und strich Jamie leicht über die Wange. „Bist du soweit?“

Die Frage verunsicherte Jamie sofort. Nein, nicht die Frage, sondern die Aufgabe, die hinter der Frage steckte. Eigentlich wollte Jamie antworten „Ich weiß es nicht.“, doch dann nickte er nur. Luca griff nach seiner Hand und zusammen gingen sie die Treppe hinunter und durchquerten den Flur. Vor der Hintertür blieb Luca stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um.

„Egal was meine Eltern gleich sagen, ich liebe dich und daran wird niemand etwas ändern können“, sagte er bestimmt und schaute Jamie dabei fest in die Augen. Jamie wusste, wie schwer es für Luca sein musste, zu ihm zu stehen. Immerhin war er ein Prostituierter und tat, obwohl er mit Luca zusammen war und ihn liebte, immer noch seinen Beruf. Jeden Abend. Es wunderte ihn schon von Beginn an, dass Luca damit klarkam, doch wie Lucas Eltern auf ihn reagieren würden, konnte er sich denken.

„Ich liebe dich auch“, sagte er schließlich und drückte Lucas Hand. Luca nickte, öffnete die Hintertür und zog Jamie hinter sich her auf den schmalen Innenhof. Wortlos und innerlich bis aufs Äußerste gespannt betrat Jamie das Nachbarhaus. Es war das erste Mal, dass er überhaupt Lucas Haus betrat, sonst hatten sie sich immer bei ihm getroffen, oder Jamie hatte Luca zum Spazieren gehen an der Schneiderei abgeholt.

Zu aller erst durchquerten sie eine kleine Küche, einen düsteren Flur dessen Wände kahl und grau waren und schlussendlich blieb Luca vor einer schmalen Holztür stehen durch die zwei Stimmen drangen. Luca sah Jamie liebevoll an, dann küsste er ihn kurz und sanft. Jamie fühlte sich schlimmer, als an dem Tag, an dem er seinen ersten Freier gemacht hatte. Viel schlimmer.

Luca öffnete die Tür und betrat vor Jamie den Raum. Die leisen Stimmen verstummten und Stille breitete sich aus.

„Mutter, Vater. Ich möchte euch jemanden vorstellen.“ Jamie hörte, wie Luca zitternd Luft holte und weitersprach. „Wir lieben uns und ich fand, dass es an der Zeit war, euch einander vorzustellen. Jamie?“

Jamie holte tief Luft, dann betrat er den kleinen Raum. Die Gesichter von Jamies Eltern waren blass und die Hand der Mutter schnellte zum Mund, als sie sah, dass es sich bei Jamie nicht um ein Mädchen handelte. Jamie sah vom einen zum anderen und bemerkte, wie die Gesichtsfarbe des Vaters immer dunkler wurde. Dann sprang der bullig wirkende Mann vom Sofa auf, deutete mit ausgestrecktem Arm auf Jamie und begann zu brüllen.

„Mein Sohn ist verdammt noch mal nicht schwul! Du-...Du Dreckskerl hast ihm das eingeredet! Du verdammter, kleiner Hurensohn! Ich werde dich windelweich prügeln, wenn du nicht deine dreckigen Finger von meinem Sohn lässt!“

Es fühlte sich an, als sackte ihm alles Blut aus dem Körper und Jamie wurde kalt. Wusste Lucas Vater mehr als er seinem Sohn erzählt hatte, oder bezog sich das eben gesagte nur darauf, dass Jamie und Luca sich liebten?

Luca stellte sich vor Jamie und sah seinen Vater flehentlich an. „Vater, wir lie-... .“ Doch der Vater machte Anstalten Luca einfach aus dem Weg zu schieben um sich dann auf Jamie zu stürzen. Jamie stand da, wie vom Donner gerührt. Unfähig sich zu bewegen starrte er auf den wutentbrannten Mann vor ihm und auf Luca, der, vergeblich wie es schien, versuchte, ihn von Jamie fern zu halten.

Schließlich war es die Mutter, die die Schimpftiraden von ihrem Mann auf Jamie unterbrach und ihren Gatten fest am Arm nahm.

„William, komm zu dir! Beruhige dich bitte! Lass uns doch vernünftig darüber reden! Ich bitte dich!“, rief sie und William schien langsam wieder herunter zu kommen.

Mit einem verkniffenen, unterdrückt zornigen Gesicht ließ sich Lucas Vater wieder auf das Sofa nieder, griff sich an die Brust und schnaufte laut.

„Luca, setz dich bitte“, wies die Mutter Luca an und Luca setzte sich gehorchend auf den Stuhl gegenüber des Sofas. Jamie blieb stehen, doch auf einen drängenden Blick Lucas hin, setzte er sich auf den Stuhl zu Lucas Linken. Jamie blickte der Mutter ins Gesicht und sah auch in ihren Augen die Ablehnung.

Luca begann erneut.

„Mutter, Vater, Jamie und ich sind schon eine Weile zusammen und“, der Vater schnaubte erneut wandte sich angeekelt von seinem Sohn ab.

Lucas Züge wurden weich, wie immer, wenn jemand oder etwas ihn tief verletzte, doch er sprach tapfer weiter.

„und wir lieben uns. Ich verlange nicht von euch, dass ihr es sofort akzeptiert, ich will nur, dass ihr es wisst.“

Die Mutter schaute Jamie unverwandt an. „Wer ist er denn überhaupt, Luca? Woher kennst du ihn?“

Jamie sah, wie Luca schluckte. „Das ist Jamie Stuart. Ich habe ihn in der Schneiderei kennen gelernt.“

Der Blick, den Luca Jamie auf seine Worte hin zuwarf, war flehentlich. Er wollte so lange wie möglich Jamies Beruf geheim halten, denn nach der Reaktion des Vaters eben, wäre das das Letzte, was Luca seinen Eltern über ihn erzählen würde. Dennoch verletzte es Jamie etwas, dass Lucas Eltern redeten, als ob er garnicht anwesend wäre.

„Wie alt ist er und wie kommst du auf die lächerliche Idee, dass du ihn liebst?“

„Mutter, es ist weder eine lächerliche Idee, noch ist meine Liebe zu ihm unerwidert.“

Langsam wurde auch Jamie wütend. Wenn die Eltern ein Problem mit ihm hatten, dann sollten sie nicht Luca dafür strafen.

„Ich bin sechzehn.“ Die Mutter, die gerade wieder damit beginnen wollte, ihren Sohn zu befragen, stockte, wandte sich zu ihm um und ihre Augen verengten sich.

Doch dann drehte sie ihren Kopf wieder Luca zu und fuhr fort. „Luca, mein Sohn, du bist sechzehn, da wollen sich die jungen Männer noch austoben, das versteh ich. Und ich versichere dir, dass diese...Phase“, sie warf einen schnellen Blick zu Jamie hin, „auch bald wieder vorbeisein wird, aber-...“

Doch Luca unterbrach sie. „Mutter, du verstehst nicht-...“

„Luca, er liebt dich nicht. Für ihn bist du nur ein Spielzeug, sieh ihn dir doch an. Diese herausgeputzten, feinen Kleider, er passt nicht zu dir!“ Jamie stockte der Atem. Luca starrte seine Mutter entgeistert an, dann wandte er sich zu Jamie um und der sah den Schmerz in den Augen des Blonden nur zu deutlich. Unheimlicher Zorn brodelte in ihm empor und Jamie sprang auf.

„Wie können Sie behaupten, dass ich Ihren Sohn nicht liebe? Ich liebe ihn mehr als alles andere und ich werde nicht dulden, dass Sie ihn meinetwegen so verletzen!“

„Jamie...!“, rief Luca, und Jamie wandte sich zu ihm um. Luca hatte, genau wie er, Tränen in den Augen. Eine Bewegung hinter ihm, ließ Jamie herumfahren und plötzlich stand er Auge in Auge mit Lucas Vater.

„Was bist du für ein Kerl, der denkt, er kann meinen Sohn den Weibern abtrünnig machen? Was bist du für einer?“, zischte der Mann ihn an und Jamie konnte nicht umhin, den Alkohol in seinem Atem wahrzunehmen.

„Ich liebe Luca-...“, begann er, doch der Vater fuchtelte wild mit einer Hand umher und brüllte: „Was hast du meinem Sohn zu bieten? Wo kommst du überhaupt her? Was sagt dein Vater dazu, dass du anderer Mütter Söhne-...“

„Vater!“, schrie Luca und ihm liefen die Tränen nun über die Wangen. Doch weder der Vater, noch Jamie beachteten ihn.

„Ich bin aus dem Haus nebenan. Meine Familie habe ich nie kennen gelernt. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen und ich denke mein Vater würde mich auch dann noch akzeptieren, wenn er wüsste, wer oder was ich bin!“

Geschockt von dieser Antwort öffnete und schloss Lucas Vater einige Male den Mund. Es war totenstill im Raum.

Lucas geflüstertes „Jamie?!“ ging im darauffolgenden Gebrüll unter.

„Du bist wirklich ein Hurensohn! Lässt dich von anderen Männer ficken, auf Teufel komm raus!? Diese widerlichen Kerle geben sich deine Türklinke in die Hand und dann erzählst du, dass du ihn liebst?! Du lässt dich von jedem Typen, der mit ein paar Scheinen wedelt angrabschen während du mit Luca zusammen bist? Das nennst du Liebe?!“ Zum Schluss war Williams Stimme immer lauter geworden und nun brüllte er Jamie so laut an, dass kleine Spucketröpfchen durch die Luft flogen.

Aufgebracht und schwer atmend wandte der Vater sich dann zu Luca um, der weinend und mit vors Gesicht gelegten Händen auf dem Stuhl saß und sich langsam vor und zurück wiegte.

„Und du bist nicht länger mein Sohn! Du lässt dich von diesem Kerl da anfassen! Ich ekele mich vor dir! Du hast die Ehre meiner Familie zerstört und wagst es auch noch, mit so dermaßen frech unter die Augen zu treten, ich will dich nicht mehr sehen! Raus! Verschwinde!“

Wutentbrannt riss er Luca am Hemdkragen hoch und stieß ihn auf Jamie zu, dem er in die Arme stolperte.

„Raus! Geh mit deinem kleinen Hurenfreund! Der Teufel soll euch holen!“, brüllte er die beiden an und Jamie griff nach Lucas Hand, zog ihn auf die Tür zu und verließ schweigend und mit dem Gefühl zerbrochen zu sein, das Haus.

Aus der Sicht von Luca

Einzig das leise Klicken von Jamies Zimmertür durchbrach die Stille, die seit dem Verlassen seines Zuhauses, das es nicht mehr länger war, herrschte. Jamies Zimmer war für ihn immer eine Art Zuflucht gewesen, doch jetzt bedrückte die verruchte Atmosphäre dieses Raumes ihn nur.

„Wieso hast du ihm das erzählt?“, fragte Luca und er hörte selber, wie schwach und resigniert seine Stimme klang.

Jamie kehrte ihm den Rücken zu und spielte schweigend mit der Quaste eines Vorhangs.

„Warum, verdammt, hast du ihm das alles gesagt?!“, schrie Luca und stampfte vor hilfloser Wut mit dem Fuß auf. Hätte Jamie seinen Vater doch bloß noch ein wenig in dem Glauben gelassen, dass er eine anständige Ausbildung in irgendeinen Beruf machte, sodass sein Vater vielleicht mit der Zeit darüber hinwegzusehen gelernt, dass Jamie nun mal ein Junge war. Außerdem hatte sein Vater Luca mit seinen Worten unglaublich verunsichert und verbittert. Luca wusste, dass Jamie wusste, wie sehr es ihn belastete, dass er weiterhin seinen Beruf ausübte, doch die Worte seines Vaters hatten sich wie glühende Schriftzeichen in seinen Kopf gebrannt und glommen jedes Mal auf, wenn er die Augen schloss.

Lässt dich von anderen Männern ficken, auf Teufel komm raus?...

„Er hätte es nicht wissen müssen, er hätte-...“ Doch Jamie unterbrach ihn genauso lautstark jedoch ohne sich umzudrehen.

„Er hätte was?! Glauben sollen, dass ich etwas bin, das ich nicht bin?! Hätte dich das glücklich gemacht? Das dein Vater dich nur wegen deiner Liebe zu einem Jungen gehasst hätte und nicht weil du mich liebst? Falls du das überhaupt tust!“ Luca schnappte nach Luft und starrte Jamies Rücken an.

„Ich-... du denkst... ich liebe dich nicht?“, stotterte er dann und taumelte ein paar Schritte rückwärts auf die Tür zu. Doch da hatte Jamie sich schon umgedreht und war auf ihn zugerannt, hatte seine Arme um ihn geschlungen und presste Lucas Körper fest an sich.

„Entschuldige, nein, so war das... ich wollte nicht!... Ich weiß, dass du mich liebst, es tut mir... ich liebe dich!“, stammelte Jamie ihm in die Haare und seine zitternde Stimme und sein bebender Körper verrieten, dass er weinte. Schließlich tropften Luca warme Tränen auf die Schulter und durchweichten den Stoff. Jamie weinte wirklich. In seiner Gegenwart. Auch Luca kamen die Tränen und er erwiderte die innige Umarmung.

„Warum hast du das gesagt? Warum...?“, schluchzte Luca und begann mit den Fäusten auf Jamies Brust einzudreschen.

„Warum?!“, schluchzte er erneut laut und zog die Nase hoch. Doch Jamie stand nur da, ließ sich wehrlos schlagen und schwieg während ihm die Tränen am Kinn entlang liefen und schließlich auf sein Hemd tropften. Luca spürte, wie Wut in ihm aufstieg; Wut darüber, dass er Jamie liebte, Wut darüber, dass er ihm das auch sagte und darüber, dass er nicht wirklich wütend auf Jamie sein konnte. Wegen ihm hatte er in der letzten halben Stunde alles verloren. Vater, Mutter, Heim, Familie. Und doch hielten ihn der Anblick von den Tränen, die über die Haut seines Gegenübers liefen und dessen am Körper herabhängenden Arme mit geballten Fäusten an den Enden davon ab, Jamie das vorzuwerfen. Noch einmal nahm er die Arme hoch und schlug mit beiden Händen gleichzeitig gegen Jamies Oberkörper. Da rührte dieser sich und griff nach Lucas Handgelenken. Erstaunt sah Luca hoch und begegnete Jamies unwahrscheinlich blauen Augen, die sich voller Schmerz und Verzweiflung in seine brannten.

Sanft berührten sich ihre Lippen und trennten sich auch schon wieder, als Jamie seine Hände losließ und mit einem Finger Lucas Kinn anhob.

„Ich hab das gerade gesagt, weil ich nicht begreifen kann, dass einer wie du einen wie mich lieben kann. Ich fasse es einfach nicht, dass du mich noch -...“ Jamie stockte und ließ den letzten Satz unvollendet in der Luft hängen. Dann schüttelte er leicht den Kopf und strich Luca sanft über die Wange. Luca sah ihn nicht an, doch er konnte den Blick auf sich spüren, die Zärtlichkeit mit der er gemustert wurde und doch antwortete er nicht. Er sagte nicht so etwas wie: „Warum sollte ich dich nicht lieben, es ist mir egal was du bist, denn ich weiß, dass du bei allem was du tust, nur mich liebst“, oder dergleichen, denn er wusste, es wäre immer nur zur Hälfte die Wahrheit. Es war ihm nicht egal, was Jamie war, er litt unter Jamies Beruf und das war beiden klar. Luca konnte nicht verleugnen wie sehr er damit zu kämpfen hatte, dass er Jamie jede Nacht an andere Männer verlor, dass er wusste, dass es Jamie immer irgendwie gefallen würde, was die Freier mit ihm anstellten, wenn nicht freiwillig, dann weil sein Körper auf die Berührungen reagierte. Luca hasste sich dafür, aber manchmal flüsterte eine Stimme in seinem Kopf eben genau das, was Jamie eben gesagt hatte. Die Stimme sagte ihm, dass Jamie ihn nur benutzte, dass er ihn nie wirklich geliebt hatte und dass er nur einer von vielen war.

Ein weiterer, vorsichtiger Kuss unterbrach Lucas Gedankengänge und erinnerte ihn daran, dass Jamie ihm seinen ersten Kuss geschenkt hatte. An diese Wahrheit klammerte Luca sich und richtete seinen gesamten Verstand darauf, dass Jamie sich diesen einen Kuss solange aufbewahrt hatte und dass er ihn ihm geschenkt hatte, als einziges, was er ihm an Jungfräulichkeit noch hatte schenken können. Jamies warme Lippen lagen auf seinen und Luca hatte nicht vor, diesen Zustand auf kurze Sicht zu ändern. Doch ein Gespräch von ihnen beiden, welches sie vor ein paar Tagen geführt hatten, kam ihm in den Sinn. Sie hatten zusammen auf Jamies Bett gelegen und in den Himmel aus violetter Gaze hinaufgeschaut. Sein Kopf hatte auf Jamies Schoß gelegen und Jamie hatte mit seinen Haaren gespielt.

„Luca, ich liebe dich. Weißt du, mich erstaunt die Tatsache, dass du mich auch liebst ziemlich. Weil, ich meine, ich kann dir nur so wenig von mir geben. Du hast von Anfang an gewusst, dass ich dir weder meine Jungfräulichkeit, noch meine absolute Treue schenken kann. Du wusstest, dass ich trotz unserer Liebe weiter arbeiten würde und dass uns nur wenig gemeinsame Zeit bleiben würde und dennoch hast du dich für mich entschieden. Jedes Mal, wenn du mir sagst, dass du mich liebst, kann ich es kaum glauben, verstehst du? Aber eins wird sich nie mehr ändern und das ist, dass ich dich mehr als alles andere auf dieser Welt liebe. Mehr als mich, mehr als mein Leben einfach mehr als alles. Versprichst du mir, dass du immer daran denkst?

Luca hatte es ihm versprochen. Und nun war es für ihn an der Zeit dieses Versprechen zu beherzigen.

Als hätte Jamie bemerkt, dass Luca zu einem Schluss gekommen war, beendete er ihren Kuss und lehnte seine Stirn gegen Lucas.

Bevor er sprach, räusperte Luca sich kurz und legte seine Hand an Jamies Wange.

„Du hast mir gesagt, dass du nicht viel hast, das du mir geben kannst“, er schaute Jamie tief in die Augen und küsste ihn kurz, „aber du hast auch gesagt, dass das was du mir gibst alles sein wird. Obwohl ich garnicht anders gekonnt habe, so habe ich dennoch gewusst, auf was ich mich da einließ und ich habe mich mit allem was in mir ist für dich entschieden und ich werde dich für immer lieben.“ Und dann gab er die Frage des Versprechens an Jamie weiter.

„Versprichst du mir, dass du immer daran denken wirst?“

Ein winziges Lächeln erschien in Jamies Mundwinkeln und Luca spürte, dass er ebenfalls lächelte. Plötzlich zog Jamie ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich und so drängend, als hätte er Angst ihn dennoch zu verlieren. Und Luca küsste ihn mit der gleichen Intensität zurück, verlangte er doch ebenso nach Jamies Nähe und dessen Liebe. Kurz lösten sich ihre Lippen und Jamies Hände in seinem Haar bogen seinen Kopf ein Stück nach hinten, sodass er an Lucas Hals knabbern konnte. Dann flüsterte Jamie leise: „Ich verspreche es.“

Aus der Sicht von Jamie

Ich verspreche es, ich verspreche es, ich verspreche es... hallte in Jamies Kopf nach und es war ihm, als schrie jede Faser seines Körpers jeder Schlag seines Herzens genau dieses Versprechen. Er wollte es versprechen, er versprach es und er wollte es halten.
 

„Luca?“, Jamie knabberte an Lucas Ohr und seine Hände suchten unendliche Wege durch das goldblonde Haar seines Freundes.

„Mhm?“, kam es zurück und der warme Mund, der sich bis dahin begehrlich auf seinen Hals gepresst hatte, löste sich von seiner Haut.

Sosehr und gerne Jamie ihr Spiel weitergeführt und intensiviert hätte, er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie es jetzt mit ihm und Luca weitergehen sollte.

„Was machen wir jetzt? Kannst du... zurück, oder wo...“, Jamie brach ab, denn er wusste nicht, wie er seine Frage formulieren sollte, schließlich war er ganz allein für den Schlamassel verantwortlich. Auch Luca wusste, dass sie die Fragen nicht weiter aufschieben konnten. Seine Arme lösten sich von Jamies Körper und seufzend ging er die paar Schritte auf das große Bett zu und ließ sich darauf sinken.

„Meine Eltern wollen mich nicht mehr sehen, das heißt, ich kann jetzt nicht einfach wieder rübergehen.“

„Aber hier bleiben kannst du auch nicht, sonst...“, Jamie musste seinen Satz nicht beenden, Luca wusste, was er meinte und die Art, wie Luca errötete zeigte das nur zu deutlich. Schweigen breitete sich über sie aus und Jamies Gedanken schweiften ab. Ein Klopfen an der Zimmertür ließ beiden zusammenschrecken und Jamie wandte sich zur Tür und öffnete.

Vor ihm stand ein gutgelaunter, grinsender Ethan, dessen Miene sich aber schlagartig veränderte, als er die wahrscheinlich gut sichtbaren Tränenspuren und Jamies wohl eher verzweifelten Gesichtsausdruck sah.

„Was ist denn mit dir-...? Du? Hab ihr euch gestritten?”, mutmaßte Ethan und schob sich an seinem Freund vorbei ins Zimmer.

Zu Jamies Erstaunen stand Luca auf, wischte sich ebenfalls über die Wangen und antwortete Ethan.

„Ich hab den großen Fehler gemacht und versucht, Jamie meinen Eltern vorzustellen...“, erklärte der Blonde und Jamie musste Lächeln, weil Luca bei seinen Worten wirklich reumütig aussah. Ethan grinste mitfühlend. „Nach euren Gesichtern zu urteilen, ist alles schief gelaufen, was hätte schief laufen können.“

Jamie nickte. „Und jetzt?“, fragte Ethan und setzte sich dort aufs Bett, wo eben noch Luca gesessen hatte. Ein Blick in Lucas Augen und dessen wortloses Schulterzucken machten eine Antwort überflüssig.

Schweigen legte sich über die drei und erst als Ethan seufzend aufsprang und verkündete, dass er nun zu Steve gehen würde – Steve war der schwarzhaarige Marinematrose –, kam wieder Bewegung in Jamie.

„Oh, ach so. Na klar“, stotterte er etwas verwirrt, denn seine Gedanken hatten sich gerade um etwas völlig anderes gedreht. Um genau zu sein, um jemanden anders.

Ethan kam auf ihn zu und strich ihm leicht über die Wange. „Meinst du, nur du darfst hier deinen Spaß haben?“

Ein Grinsen huschte über Jamies Züge und er schlug spielerisch nach Ethan. „Du denkst echt immer nur an das Eine. Aber trotzdem viel Spaß!“, rief er Ethan hinterher und wandte sich wieder um. Direkt vor ihm stand Luca und schob nun zärtlich seine Hände in Jamies.

„Und wie geht’s jetzt mit uns beiden weiter?“ Die Frage kam schüchtern und doch ernsthaft. Ein leises Seufzen konnte Jamie nicht unterdrücken, denn wie sollte er Luca antworten, wenn er es doch selbst nicht wusste. Jamies Blick fiel auf einen kleinen Wecker und der zeigte an, dass es kurz nach drei war.

„Lass uns spazieren gehen“, schlug er seinem Freund vor und Luca nickte. So zogen sie sich ihre Wintermäntel, Schals und Handschuhe an, Jamie nahm Lucas Hand fest in seine und zusammen gingen sie die Treppe hinunter und durch den Barraum hinaus. Die Bürgersteige waren mit einer frischen Schneedecke verziert und von der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses hingen lange Eiszapfen wie Girlanden herunter. Jamies Atem quoll weiß aus seinem Mund und auch vor Lucas Lippen hatte sich eine Wolke gebildet. Ob diesem wirklich lustig aussehenden Bild musste Jamie seit Tagen das erste Mal wieder richtig lachen und als Luca den Grund dafür ebenfalls bemerkte, stimmte er in sein Lachen mit ein.

„Wie zwei Dampfloks sehen wir aus!“, kicherte Luca und pustete eine große weiße Wolke in die Luft. Jamie lachte und machte es ihm nach. Die Straße zweigte ab und in der Ferne konnte Jamie die Tore zum Stadtpark erkennen. Aus den Augenwinkeln betrachtete er Luca, der jetzt still vor sich hinlächelnd, neben ihm ging. Der wollweiße Schal und der braune Filzmantel mit gestricktem Kragen und Ärmelaufschlägen, die derben Winterstiefel und die Wollmütze, die aus einer der Manteltaschen herausschaute.

Lucas Nase war aufgrund der Kälte ein bisschen rot und ein paar verirrte Schneeflocken hatten sich in dem blonden Haar festgesetzt und schmolzen nicht. Ihre Schritte hatten sich einander angepasst und ihre Hände waren wärmend ineinander verschränkt.

„Was findest du schöner“, fragte Luca ihn auf einmal und sah Jamie aus seinen braunen Augen an, „Sommer oder Winter?“

Jamie überlegte und antwortete dann: „Ich weiß nicht so genau. Ich finde, der Sommer bringt die Sonne und Wärme mit sich, man kann Baden gehen und die Natur springt vor Lebensfreude, aber der Winter hat auch seine schönen Seiten. Zugefrorene Teiche und Flüsse, Schneeflocken und Eisblumen an den Fenstern. Die Stille in der Nacht, wenn es frisch geschneit hat und der Schnee alle Geräusche zu schlucken scheint. Wenn es so kalt ist, dass man Tausende von Sternen am Himmel sehen kann... Außerdem gibt es ja auch noch den Frühling und den Herbst.“ Luca boxte ihn mit der freien Hand in die Seite.

„Sehr diplomatisch geantwortet, Kompliment. Also findest du, dass alles seine Vor- und Nachteile hat?“

Jamie nickte und sah Luca an. „Was wäre denn deine Antwort gewesen?“

Nun war es an Luca, zu überlegen.

„Ich denke, wenn es wirklich nur diese zwei Auswahlmöglichkeiten von Sommer und Winter gäbe, dann würde ich den Winter nehmen.“

„Warum denn das?“

Luca löste seine Hand aus Jamies und legte ihm den Arm um die Hüften. Ihn enger an sich ziehend, legte Jamie seinen Arm um Lucas Schulter und sah nun, da er ein Stück größer war als Luca, auf ihn hinab.

„Weil der Winter eine stille Schönheit hat. Eine Schönheit, die man sogar im kleinsten Teil sehen kann, wie in der Form von Schneeflocken. Jede ist einzigartig und doch wunderschön. Der Winter zeigt mir immer wieder, dass man nur genau hinsehen muss, um in allem etwas Schönes zu finden.“ Luca schmiegte sich enger an Jamie und legte seinen Kopf an dessen Schulter.

„Aber der Winter kann trotz seiner Schönheit auch grausam sein. So grausam...“, Lucas Stimme wurde immer leiser und als er schließlich verstummte ahnte Jamie, warum Luca ihm das alles erzählte.

Als der Blonde nach ein paar Augenblicken wieder begann zu sprechen, war seine Stimme immer noch leise und zaghaft.

„Im ersten Moment zaubert der Winter einen Hauch aus glitzerndem Eis aufs Land und im nächsten fegt ein verheerender Schneesturm über dich hinweg, fährt in deinen Mantel und zersticht dir die Haut mit unendlich vielen, kleinen Nadeln aus Eis, die sich in dich hineinbohren. Vielleicht ziehst du dir deinen Mantel enger um den Leib, damit er dich schützt, doch dann schneit der Sturm dich ein und langsam wird die Kälte dir in den Körper kriechen und dir Hände und Füße abfrieren. Du denkst, wenn ich hier lebend rauskomme, dann opfere ich dafür gerne meine Füße und Hände. Doch der Sturm lässt nicht nach und du beginnst dich zu fragen, ob du überhaupt mit dem Leben davonkommst... .“

Jamie wusste, was Luca ihm sagen wollte und ein paar Tränen, die ihm in die Augen geschlichen waren, gefroren an seinen Augenwinkeln.

Luca verglich ihn mit dem Winter, doch Jamie wollte nicht so absehbar sein. Er würde nicht zulassen, dass Luca eingeschneit und langsam erfrieren würde. Auf einmal blieb er stehen, legte seine behandschuhten Hände an Lucas Wangen und ließ ihn zu sich aufblicken.

„Doch sogar der härteste und kälteste Winter muss der Sonne weichen. Und dann kommt der Sommer und befreit alles und jeden von der Zeit der Kälte. Das ist der Lauf der Dinge. Nach dem Winter kommt der Sommer und nach der Nacht kommt der Tag. Sommer und Winter sind wie Hoffnung und Verzweiflung. Das eine kann nicht ohne das andere sein.“ Luca schaute Jamie aus aufgerissenen Augen an, die Arme schlapp und bewegungslos am Körper.

„Wenn ich dein Winter bin, dann bist du mein Sommer. Es wird immer hoffen und verzweifeln geben.“

Lucas Beine knickten ein und er fiel Jamie in die Arme. Jamie hielt ihn und fühlte eine unglaubliche Erleichterung seinen Körper durchfluten. Das, was er eben gerade gesagt hatte, war die Antwort auf Lucas ungestellte Frage gewesen. Doch nicht nur auf Lucas Frage hatte er gerade geantwortet. Auch ihm selbst war gerade klar geworden, dass das was er gesagt hatte wahr war. Dass er sich selbst eine Antwort gegeben hatte.

„Ich kann nicht ohne dich leben“, flüsterte Luca und schlang seine Arme um Jamies Hals.

„Und ich nicht ohne dich.“

Aus der Sicht von Luca

Jamie hatte sich als seinen Winter bezeichnet und sosehr Luca das auch nicht wahrhaben wollte, sosehr wusste er dennoch, dass Jamie Recht hatte.

Wie der Winter, den Luca liebte, war auch Jamie wunderschön, sanft, verlockend, gefährlich und grausam. Luca brauchte ihn zum Leben und doch zersplitterte sein Herz daran, dass Jamie war, was er war.

„Komm“, sagte Jamie schließlich und griff wieder nach seiner Hand, „lass uns weitergehen.“

Luca nickte. Schweigend passierten sie das Tor zum Park und dahinter bot sich ihnen ein wahrhaft wunderschöner Anblick. Die Rasenflächen waren vollkommen verschneit und der Schnee glitzerte unberührt und spurenlos. Die Bäume waren schneebeladen, sodass ihre Äste schwer hinabhingen und dann und wann eine Ladung Schnee staubend und funkelnd zu Boden rauschte. In der Mitte des Parks lag still der zugefrorene, im milchigen Licht schimmernde See, auf dem ein paar Menschen Schlittschuh liefen.

Jeder ihrer Schritte knirschte unter ihren Schuhsohlen und dann und wann trieb ein Windhauch losen Schnee vor sich her, ließ ihn in der Luft herumwirbeln und schließlich leise klirrend zu Boden rieseln.

Luca blickte hoch zu Jamie und konnte nicht anders, als stehen zu bleiben, Jamies Kopf zu sich hinunter zu ziehen und ihn überglücklich zu küssen. Eng umschlungen standen sie auf dem Weg. Dann plötzlich löste Jamie sich von ihm und Luca konnte gerade noch das verwegene Grinsen auf dessen Lippen sehen, da schubste Jamie ihn auch schon um. Wie wild mit den Armen rudernd versuchte Luca, sein Gleichgewicht wiederzufinden, doch Jamie legte ihm nur erneut die Hand auf die Brust und ein leichter Stups genügte und Luca landete hinterrücks im Schnee.

„Hey!“, rief er und versuchte sich aufzurichten, da kniete Jamie schon über ihm, langte nach einer Hand voll Schnee und ließ ihm das kalte Puder mitten in sein Gesicht fallen. Luca prustete und schnaubte, doch Jamie lachte nur ausgelassen und machte nicht die geringsten Anstalten, von ihm runterzugehen.

„Bäh, mach mir gefälligst den Schnee aus dem Gesicht, oder geh von mir runter, oder- ihhh... das... AH!... schmilzt doch alles!“, brüllte er Jamie an und tatsächlich spürte Luca, wie ihm die ersten eiskalten Tropfen den Nacken hinab rannen.

„Jamie, verdammt!“

Jamie leckte ihm eine Schneeflocke von der Nasenspitze und stand wieder auf. Neckisch von oben herab grinsend langte Jamie erneut nach Schnee, doch Luca hatte sich schon aufgerappelt und formte ein bisschen Schnee zwischen seinen Händen zu einer festen Kugel.

„Na warte-...!“, drohte er seinem Freund und zielte, doch Jamie drehte sich um und rannte vor ihm weg, den Weg hinunter.

„Glaub ja nicht, dass ich dich ungestraft davonkommen lasse!“, rief er ihm hinterher und sah, wie Jamie sich daraufhin ein Stück entfernt umdrehte und ihn immer noch grinsend musterte. Wieder zielte Luca und der Ball flog schnurgerade auf Jamie zu und traf diesen an der Schulter.

Ein Siegesgrinsen umspielte Lucas Mundwinkel, da traf ihn ein Schneeball am Oberschenkel und als er aufblickte, formte sein Freund ein paar Meter entfernt stehend schon den nächsten Schneeball.

„Das bekommst du zurück!“, rief Luca, schnappte sich ein bisschen von dem eisigen Nass und binnen Sekunden entbrannte eine wilde Schneeballschlacht zwischen ihnen.
 

Sie endete erst, als beide völlig durchnässt und mit geröteten Gesichtern sich gegenseitig um Gnade anbettelten.

„Frieden?“, keuchte Jamie und eine weiße Wolke stieg zwischen ihnen auf.

„Frieden“, stimmte Luca ebenso atemlos zu und ließ sich auf die Knie sinken. Ihre Schlacht hatte sie weit in den unberührten Teil des Parks geführt, und nun saßen sie umringt von schneeigen Bäumen und Sträuchern, einem zugefrorenen kleinen Flusslauf und einem einsamen Wegweiser da und sahen sich grinsend an.

„Hast du schon mal einen Schneeengel gemacht?“, fragte Luca Jamie und an dem überraschten Gesicht sah er, dass das wohl nicht der Fall war.

Lachend ließ Luca sich hinten über fallen, streckte Arme und Beine im Schnee aus und machte Wischbewegungen auf- und abwärts. Als er kurz aufblickte, sah er, wie Jamie mit gerunzelter Stirn neben ihm kniete und sein Tun skeptisch beobachtete.

„Was ist? Einfach auf den Rücken legen und mit den Armen und Beinen durch den Schnee wischen, schau, so.“

„Das sieht dann wie ein Engel aus?“, meinte Jamie und sah ihn immer noch zweifelnd an.

Kurzentschlossen richtete Luca sich auf, packte Jamie beim Kragen seines Mantels und warf sich auf ihn drauf, sodass Jamie mit dem Rücken im Schnee landete.

„Was wird das?“, kam es ängstlich und zugleich erwartungsvoll von Jamie und Luca konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Vielleicht sollte er Jamie erst einmal das Einseifen von vorhin zurückzahlen... . Doch ein Blick aus diesen kobaltblauen Augen fegte ihm alle Rachegedanken aus dem Kopf und als Jamie zärtlich eine Hand auf seinen Rücken legte und ihm mit der anderen über die Wange strich, schloss er schon fast automatisch seine Augen und kurz darauf spürte er Jamies warmen und zugleich irgendwie kalten Lippen auf seinem Mund.

„Ich will mal etwas ausprobieren!“, lachte Jamie plötzlich und griff nach einem Bisschen Schnee. Instinktiv zuckte Luca zusammen und schreckte zurück, doch Jamie grinste ihn an und steckte sich den Schnee in den Mund.

„Um jepft küff miff“, sagte er und Luca musste laut auflachen.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fraget er zurück, doch Jamie packte ihn kurzerhand am Schal und presste seinen Mund auf Lucas Lippen. Kurz darauf öffnete Jamie den Mund und schob mit seiner Zunge eine Ladung Schnee von seinem in Lucas Mund. Unterdrückt kichernd küssten sie sich und schoben sich den langsam schmelzenden Schnee immer wieder gegenseitig zu. Luca stellte fest, dass das das verrückteste war, dass er seit langem getan hatte und auch das außergewöhnlichste. Jamies heiße Mundhöhle und seine Zunge im krassen Gegensatz zu dem kalten Schnee, eine interessante Mischung.

Der Schnee war mittlerweile längst geschmolzen, doch Luca genoss den Kuss zu sehr, als dass er ihn abgerochen hätte.

Er konnte einfach nicht genug von Jamie bekommen. Seine Küsse, seine Nähe, seine Berührungen, sie machten ihn süchtig. Schließlich, nachdem sie sich fast eine halbe Stunde lang nur geküsst hatten, drehte Jamie den Kopf zur Seite und gähnte.

„Bist du müde?“, fragte Luca und schob seinem Freund sanft eine gefrorene Strähne aus der Stirn. Jamie nickte nur und zog ihn wieder dicht an sich, sodass sie sich gegenseitig wärmten. Auch Luca war ziemlich geschafft und müde. Der Tag war anstrengend gewesen; anstrengend und nervenaufreibend.

„Ich liebe dich“, flüsterte Jamie ihm ins Ohr und als Antwort schlang Luca seine Arme um Jamie und kuschelte sich dicht an ihn. Es war traumhaft mit dem Schnee um sie herum, der Stille und diesem fast unwirklichen Licht. Auf einmal murrte Jamie leise und rollte sich mit Luca auf die Seite.

„Du bist schwer“, rechtfertigte er sich murmelnd und schloss dann wieder seine Augen.

„Nicht einschlafen!“, warnte Luca, doch Jamie schüttelte bloß leicht den Kopf und drehte Luca so, dass er mit dem Gesicht an Jamies Brust lag und es somit auch für ihn dunkel wurde. Durch die plötzliche Dunkelheit verstärkte sich die Müdigkeit um ein Vielfaches und Luca spürte, wie er immer weiter wegtrieb und wie sich auch seine Augen langsam immer fester schlossen.

„Wi-... solltn... ni-... einschl-... fn... .“, murmelte er erneut nicht wirklich überzeugend in Jamies Schal, dann seufzte Luca einmal tief und kurz darauf war er eingeschlafen.

Aus der Sicht von Jamie

Eine ziehende Kälte in seinem Rücken und das Gefühl von alles umfassender Taubheit in seinem Körper ließen Jamie ein paar Stunden später erwachen.

Es dauerte einen Augenblick, bis er wieder wusste, wo er war, denn es war stockdunkel.

„AH!“, entfuhr es ihm, als er versuchte, sich etwas aufzurichten. Sein Rücken fühlte sich an, wie mit Brettern vernagelt und ihm waren das linke Bein und sein linker Arm eingeschlafen. Der Grund dafür war Luca, der immer noch schlafend darauf und neben ihm lag. Jamie war eisig kalt und der Wind trieb ihm Tränen in die Augen.

„Luca“, flüsterte er und rüttelte den Blonden sanft an der Schulter.

„Mhm...was ist denn?“, nuschelte Luca und öffnete langsam die Augen. Dann war er plötzlich hellwach und richtete sich abrupt auf. Es knackte und Jamie grinste.

„AU!?“, kam es von Luca und er sah ihn aus großen braunen Augen verwirrt an.

„Wir sind eingeschlafen und ich habe keine Ahnung, wie spät es ist und wie lange wir geschlafen haben. Tut dir dein Körper auch so weh?“

Eine Weile starrte Luca ihn noch entsetzt an, dann fühlte er kurz nach und ein Zittern durchlief seinen Körper.

„Mir ist kalt“, kam es daraufhin leise und wie auf Kommando zogen sie beide ihre laufende Nase hoch. Lachend erhob Jamie sich und half Luca, ebenfalls aufzustehen.

Doch kaum standen sie nah voreinander, drehte Jamie abrupt den Kopf zur Seite und nieste laut.

„Gesundheit“, murmelte Luca immer noch verschlafen und schob seine Hand in Jamies.

„Danke, komm lass uns los.“ Ein ungutes Gefühl schlich sich in Jamies Magen; was war, wenn es mitten in der Nacht war und Viktor seit Stunden darauf wartete, dass Jamie ihm die Kunden bediente? Und was dachte Ethan? Er hatte gesehen, wie dreckig es ihm nach dem Streit mit Lucas Eltern gegangen war. Und der Selbstmord von Leander lag erst ein paar Wochen zurück... .

Jamie fiel auf, dass er Isaak seit dem Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. War er versetzt worden? Als 14-jähriger in diesem Geschäft! Heftiges Mitleid überkam Jamie und er schloss seine Finger fester um Lucas. Braune Augen musterten ihn besorgt.

„Du bist ganz blass und deine Augen glänzen. Ich glaube du hast Fieber!“, sagte Luca und sah ihn durchdringend an. Jamie fiel auf, dass Luca nicht besser aussah und ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.

„Warum grinst du?“, fragte Luca erstaunt und zog seine Nase hoch. Die Antwort, die Jamie seinem Freund hatte geben wollen wurde von einem Hustenanfall unterbrochen.

„Au“, machte Jamie und hielt sich den Brustkorb. Seine Lunge schmerzte. Alarmiert beschleunigte Luca seinen Schritt und Jamie stolperte hinterher.

„Warum rennst du denn auf einmal so?“, krächzte Jamie und räusperte sich. Als Luca sich, ihn missbilligend musternd, umdrehte, sah Jamie, dass auch auf seiner Stirn kalter Schweiß stand. Luca ging es genauso schlecht wie ihm. Sie hatten sich beide gehörig erkältet, wenn nicht sogar Schlimmeres.

Viktor würde überhaupt nicht begeistert sein, zumal Jamie in den letzten Wochen mehr schlecht als recht seine Arbeit getan hatte. Den Grund dafür kannte Viktor noch nicht, aber spätestens heute Abend würde er alles erfahren und vor den Konsequenzen fürchtete Jamie sich schon seit Ethan ihm dazu geraten hatte, Luca vor Viktor geheim zu halten.

Das rote Leuchtschild des „Vouge“ tauchte am Ende der Straße auf und unbewusst verlangsamte Jamie seine Schritte.

„Luca, warte mal kurz“, begann er und sofort drehte Luca sich zu ihm um und sah ihn erwartungsvoll an.

„Ähm, Viktor, mein... mein Chef, weiß nichts von dir. Und“, sprach er sofort weiter, ohne auf Lucas fragenden Gesichtsausdruck zu achten, „da du ja jetzt nicht mehr nach Hause kannst, will ich, dass du bei mir übernachtest.“

„Wieso weiß dein Chef nichts von mir?“, fragte Luca und drehte die Schuhspitze im Schnee.

Jamie seufzte und fuhr sich durch die immer noch teilweise vereisten Strähnen. „Ethan hat mir geraten unsere Beziehung noch geheim zu halten, weil Viktor vielleicht dann schon vor Wochen auf die Idee gekommen wäre, dich im „Vouge“ wohnen zu lassen und du weißt ja, was bei mir aus einfach im Vouge wohnen geworden ist.“

Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf Lucas Gesicht und Jamie bemerkte das leichte Beben von Lucas Lippen. Luca wusste nur zu gut, was ihn schlussendlich erwartete, wenn er ins „Vouge“ zog. Jamie dachte an den Tag vor vier Jahren zurück, an dem Viktor ihn in der Londoner Innenstadt aufgegabelt und mitgenommen hatte.

Es war auch im Winter gewesen. Halb erfroren und verhungert hatte Jamie als zwölfjähriger Ausreißer aus dem städtischen Waisenhaus auf der Türschwelle eines geschlossenen Ladens gesessen. Er wusste nicht mehr, wie Viktor ihn dazu bekommen hatte, dass er mitgegangen war, aber wahrscheinlich wäre er jedem, der ihm etwas zu essen und ein Bett zum Schlafen angeboten hätte, widerstandslos gefolgt. Auf diesen einen Tag waren zwei Jahre gefolgt, in denen Jamie als Küchenhilfe und Junge für alles im „Vouge“ gearbeitet hatte. Und dann war Ethan ins „Vouge“ gekommen. Depressiv, launisch und unausstehlich zynisch. Man hatte ihm das Zimmer gegeben, in dem Jamie bis dahin hatte wohnen dürfen und da Jamie kein anderes Zimmer bekommen hatte, war er einfach zusammen mit Ethan in diesem Zimmer wohnen geblieben. Mit der Zeit hatte Ethan ihm gegenüber seine Schutzmauer aus Kälte und Schweigen abgebaut und schließlich war Ethan es gewesen, dessen Auftrag es gewesen war, Jamie in die „Kunst“ des Geschäfts einzuweisen. Ein bitterer Zug schlich sich um Jamies Mund und er spürte, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. So wie Ethan ihn ins Geschäft gebracht hatte, wollte Jamie niemals derjenige sein müssen, der irgendjemanden darin zu unterweisen hatte, wie man fremde Kerle am besten befriedigte. Und lieber brachte er sich um, als dass er die Liebe seines Lebens auf diese Art ans Messer lieferte. Niemals. Lieber sterben.

„Jamie? Was ist los?“, fragte Luca ihn und umfasste seine geballten Hände mit den eigenen.

Doch trotzdem Jamie wusste, wie es für Luca enden könnte, falls er ihn jetzt mit zu sich nahm, schüttelte er nur stumm den Kopf.

„Nichts. Alles in Ordnung.“

„Komm“, Luca zog an seinem Arm, „dann lass uns jetzt endlich gehen, sonst holen wir uns noch den Tod hier!“

Bevor sie endlich weitergingen, nieste Jamie noch einmal laut und wischte sich über seine inzwischen tränenden Augen.

Kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, da rief eine wohlbekannte Stimme hinter ihnen: „Hey! Jamie, Luca! Wartet mal!“

Ethan, schoss es Jamie in den Kopf und er drehte sich irgendwie erleichtert um.

Genau derselbige kam, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und eine dunkelgrüne Wollmütze auf dem Kopf, durch die Dunkelheit auf sie zugestapft.

„Na wie war’s bei Steve?“, fragte Jamie und erwiderte Ethans Umarmung. „Gut“, kam es einsilbiger als erwartet zurück, doch das glückliche Grinsen in Ethans Gesicht sagte nur zu deutlich, was seine knappe Antwort verschwiegen hatte.

„Was habt ihr zwei bitteschön angestellt? Ihr seid alle beide“, er umarmte auch Luca, „klatschnass!“ Jamie blickte zu Luca und sah, wie der grinste. Seit Ethan und Luca sich besser kennen gelernt hatten, verstanden sie sich super und Jamie freute sich. Denn er hätte weder auf den einen, noch auf den anderen verzichten können.

Doch anstatt dass Ethan seine Bemerkung wie sonst üblich einfach aussprach und vergaß, drehte er sich besorgt erneut zu Jamie um und zog ihn dann unter das Licht einer Laterne.

„Du siehst schrecklich aus, Schatz.“

Jamie schüttelte den Kopf und machte eine Geste mit seiner Hand. „Nicht so schlimm. Ich hab mich bloß etwas verkühlt.“

Doch obwohl er das glauben wollte, was er gerade gesagt hatte, fühlte er, dass sein Körper ihm nicht ganz gehorchen wollte. Sein Puls glich einem rasenden Puckern und seine Hände waren in den Handschuhen schwitzig und kalt. Hinzu kam noch ein stechender Kopf- und Brustschmerz.

„Jamie...?“ Luca kam auf ihn zu und legte ihm seine vom schützenden Stoff befreiten Hände an die heißen Wangen. „Du glühst!“

„Ethan, wir müssen ihn ins Bett bringen, sonst kippt er gleich um! Mein beiden Geschwister sind am Fieber gestorben, damit ist nicht zu spaßen!“

Doch Jamie kämpfte ein aufkommendes Schwindelgefühl nieder und schüttelte Lucas Hände ab. Langsam ging ihm das Getue der beiden auf die Nerven.

„Mir geht es gut!“, rief er und stiefelte vor sich hinniesend ein paar Meter voraus. Doch das Schwindelgefühl wurde immer stärker und als alles langsam begann, sich zu drehen, blieb er stehen und holte tief Luft. Ein heftiger Hustenkrampf schüttelte ihn und erst als er sich gelegt hatte, spürte Jamie die Hand auf seinem Rücken, die ihn hielt.

„Dir geht es dreckig, sieh es ein!“, sagte Ethans Stimme hinter ihm hart. Der Abfall hatte Jamie in die Knie gezwungen und als er sich abrupt aufrichten wollte, spürte er nurnoch ein ziehendes Gefühl im Kopf und schwarze Wände kamen von den Rändern seines Sichtfeldes auf ihn zu.

Lucas Stimme, die seinen Namen rief war das Letzte, was er hörte, dann wurde es dunkel.

Aus der Sicht von Luca

„Halt ihn fest!“, rief Ethan ihm zu und als ob das nicht schon so schwer genug gewesen wäre, ließ er Jamies leblos herumbaumelnden Arm los und lief Richtung „Vouge“.

„Jamie! Jamie... Hey, hörst du mich?“, Luca hörte seine eigene Stimme zittern. Doch außer dem leichten Atem, der seine Hand strich, geschah nichts.

Nicht auch noch du, Jamie...bitte..., dachte Luca und ließ sich langsam zu Boden sinken. Vielleicht war es einfach nur eine Erkältung und simple Überanstrengung, doch trotzdem hatte Luca eine tiefsitzende Angst, dass Jamie vielleicht nicht mehr... . Das aufgeregte Durcheinander mehrer männlicher Stimmen, ließ Luca aus seinen finsteren Gedanken hochschrecken.

„...Er ist dann einfach umgekippt und klatschnass waren sie alle beide...“

„...wo ist er denn, man sieht ja nichts hier... diese vermaledeite Dunkelheit...“

„...nein, ich denke er ist einfach nur überanstrengt und erkältet...“

„Dort vorne.“ Das war Ethans Stimme. Luca blickte den vier Jungen entgegen. Wie schon von ihm vermutet war der farbige unter ihnen. Außerdem noch ein asiatisch aussehender Junge und ganz zu Letzt kam ein Junge, der noch fast ein Kind war. Isaak, Jamie hatte von ihm erzählt. Sein Freund hatte Selbstmord begangen und der Kleine war erst 14 Jahre alt. Die vier scharten sich um ihn und verstummten.

„Emil, du nimmst seine Beine und du Yuui nimmst seine Arme. Und dann durch den Hinterhof rein, verstanden?“ Ethan blickte zu Luca hinab und lächelte etwas angestrengt. „Wir machen das. Du kannst nach Hause.“

Luca schwieg. Ethan hatte ja keine Ahnung.

„Nein, kann er nicht.“ Ein kurzes Schwindeln erfasste Luca und er blickte den Kleinen an, der gesprochen hatte. Woher wusste Isaak davon?

„Wieso kann er nicht-...?“, wollte Ethan gerade nachhaken, da schlug Jamie kurz die Augen auf und hustete. „Los, er muss unbedingt ins Bett, sonst krepiert er!“

Geschockt saß Luca immer noch auf dem verschneiten Gehweg und rührte sich nicht. Doch Ethan, Emíl und Yuui packten Jamies bebenden Körper und hievten ihn hoch.

„Ich will mit“, stotterte Luca immer noch etwas überfordert mit dem gerade um ihn herum geschehenden. Schließlich hatte auch er einen schrecklichen Tag hinter sich und auch seine Nerven lagen blank und sein Kopf weigerte sich, noch mehr aufzunehmen. Ehe Luca sich versah, hatte er das Gesicht in seinen Händen vergraben und unaufhaltsam liefen ihm die Tränen an den Wangen hinab und tropften von seinen Fingern.

„Komm“, sagte Isaaks helle, kindliche Stimme neben ihm und als Luca aufsah, streckte der kleine dunkelhaarige ihm seine zarte Hand hin.

Luca griff danach und ließ sich hochziehen.

„Weißt du, du bist mutig, dass du es wagst, ihn zu lieben...“, stellte Isaak leise fest und legte seinen Arm um Lucas Taille. Luca hätte in einem anderen Moment wahrscheinlich mit einer Mischung aus Entsetzten und Wut reagiert. Doch jetzt ließ er ihn machen und war im Grunde genommen sogar dankbar dafür, dass Isaak ihn so daran hinderte umzufallen, denn der Boden schwankte und kam ihm entgegen, sodass er unweigerlich bei den nächsten Schritten gestolpert wäre.

„Mutig?“, fragte er undeutlich und Isaak nickte. Eine Welle aus Selbstmitleid und Selbsthass überrollten Luca und er schluchze auf.

„Ich würde es eher wahnsinnig, selbstmörderisch und masochistisch veranlagt nennen!“ Noch ehe er ganz ausgesprochen hatte, biss Luca sich auf die Lippe und schalt sich in Gedanken für seinen Ausbruch.

„Tut mir leid.“

Isaak sah ihn von der Seite an und blieb stehen. „Es braucht dir nicht leid zu tun.“

Zum ersten Mal, seit sie angefangen hatten zu sprechen, fiel Luca Isaaks Akzent auf. Er war weich und irgendwie klang es beim Sprechen so, als ob Wasser über runde Steine plätscherte. „Wo kommst du her?“

„Aus Israel.“

Ja, Israel, das passte. Isaaks dunkles Haar, die dunklen, großen Augen und die feinen Gesichtszüge. „Wie bist du hier her gekommen?“

Sie waren schon fast im Hinterhof des „Vouge“ angekommen, als Isaak antwortete.

„Auf einem Schiff. Bitte frag nicht mehr.“

Luca schluckte und nickte stumm. Das Schwindeln hatte abgenommen und eine riesige Müdigkeit hatte ihn stattdessen erfasst.

„Isaak, kann ich-... Ich-...“, doch Isaak schien ihn verstanden zu haben und half Luca, sich langsam gegen die Wand des Hinterhofes zu lehnen und daran herabzurutschen.

„Nur einen kleinen Augenblick, bitte.“ Isaak nickte und hockte sich neben ihn. Luca sah, wie Ethan und die anderen Jungen Jamie hinzustellen versuchten, ihn fest hielten und Emil die Hintertür öffnen.

„Du wirst sehen, Jamie schafft das“, tröstete Isaak ihn, doch Luca nickte nur stumm und sah zu Boden. Er war so müde und sein Körper tat ihm überall weh. Rasender Kopfschmerz raubte ihm fast den Atem und Luca wusste, dass er sich ebenfalls eine schlimme Erkältung zugezogen haben musste.

Probeweise schloss Luca kurz seine schweren Lider, um sie sofort wieder aufzureißen. Die Versuchung einzuschlafen war einfach zu groß.

„Komm, Luca“, Isaak zog an seinem Arm. „Du kannst gleich schlafen.“

Schlaftrunken ließ Luca sich hochziehen und wankte hinter Isaak und den anderen Jungen her in den Flur und die Treppe zu Jamies Zimmer hinauf.

Als der dunkelhaarige Junge vor ihm die Tür aufstieß, lag Jamie schon auf seinem Bett, die Arme und Beine von sich gestreckt; er war immer noch bewusstlos.

Ethan machte sich an Jamies Kleidern zu schaffen, doch eine plötzliche Eifersucht gab Luca wieder Kraft und er sagte leise: „Lass Ethan, ich mach das.“

Einen langen Augenblick maß der Schwarzhaarige ihn mit seinem stechend grünen Blick, dann nickte er unmerklich und schob auch die anderen aus dem Zimmer. Bevor sich die Tür ganz hinter den Jungen geschlossen hatte, wandte Ethan sich noch einmal um und lächelte Luca an.

Luca lächelte zurück. „Danke.“

Ein Schatten flog über Ethans Gesicht und große Traurigkeit ließ seine Augen zu tiefen Seen werden.

„Danke mir nicht zu früh.“

Zu müde, um noch viel in diesen Satz hineinzuinterpretieren, nickte Luca nur und setzte sich zu Jamie aufs Bett.

Die Tür schloss sich leise und Luca hörte Emíl, der fragte: „Wie willst du das jetzt Viktor erklären?“ Und Ethan der antwortete: „Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.“

Aus der Sicht von Jamie

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Aus der Sicht von Jamie

Wohlige Schläfrigkeit erfüllte Jamie und der warme Körper an seiner Seite verstärkte dieses Gefühl noch.

Er hörte, wie Luca leise seufzte und drehte den Kopf so, dass seine Lippen an dem blonden Schopf lagen.

„Ich wünsche mir gerade, jetzt würde die Zeit um uns herum stehen bleiben. Dann könnten wir ewig hier so liegen“, beantwortete Luca Jamies Frage, noch bevor er diese hatte äußern können. Zustimmend brummend sah Jamie wieder hoch zur Decke, die von dem violetten Himmel verhüllt wurde und betrachtete die schnörkelige Borte daran. Ein plötzliches Ziehen im Brustkorb ließ ihn scharf die Luft einziehen und ein plötzlicher Hustenanfall war die Folge darauf.

Luca richtete sich neben ihm auf und sah ihn aus sorgenvoll geweiteten, braunen Augen an.

„Du bist immer noch so blass und dir steht der Schweiß auf der Stirn... wir hätten eben nicht-...“, doch Jamie unterbrach ihn, indem er ihm einen Zeigefinger auf die Lippen legte.

„Haben wir aber und du willst mir doch nicht ernsthaft weis machen, dass du es bereust, oder?“, neckte Jamie liebevoll und strich mit dem Finget sanft über Lucas Gesicht.

„Nein, aber-...“, „Nichts aber, mir geht es gut soweit, nur ein bisschen Schlaf, dann ist alles wieder in Ordnung, ehrlich.“

Nun richtete sich Luca mit halb entrüsteter halb besorgter Miene gänzlich auf und stemmte die Hände in die Hüften.

„Du bist vorhin bewusstlos zusammengebrochen und warst eine ganze Zeit lang ohnmächtig, und jetzt willst du mir weismachen, dass du nur ein bisschen Schlaf brauchst?“

Beschwichtigend griff Jamie nach Lucas Hand und verschränkte ihre Finger miteinander.

„Hey, so war das nicht gemeint. Ich denk einfach nur, dass es gestern zu viel war und dass ich deswegen diesen Zusammenbruch hatte. Es wird keine Lungenentzündung sein oder so.“

Luca erwiderte sanft den beruhigenden Druck seiner Hand und ein leises Lächeln schlich sich zurück auf die roten Lippen.

„Mute dir aber bitte nicht zuviel zu. Ich möchte nicht, dass du ernsthaft krank wirst!“

Jamie schüttelte den Kopf und legte sich zurück. Luca rutschte dicht an ihn heran und schlang einen Arm um seine Brust.

„Und jetzt musst du schlafen!“

Jamie lachte und hob dann eine Hand wie zum Salutieren an den Kopf.

„Aye, Sir!“
 

Durch die Tür dringende, heftig miteinander diskutierende Stimmen weckten Jamie. Er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, doch da kein Licht mehr durch die zugezogenen Gardinen fiel, schien es schon wieder Abend geworden zu sein.

Fetzen des Gesprächs ließen ihn erkennen, dass die Stimmen dort draußen Ethan und Viktor gehörten. Viktor... der wäre – nein, der war – ganz bestimmt nicht erfreut über die Nachricht, dass einer seiner Angestellten wegen eines persönlichen Problems nicht zur Arbeit erscheinen würde. Leise fluchend schob Jamie die Decke beiseite, darauf bedacht, dass Luca nicht erwachte und stieg vorsichtig aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich er im Zimmer herum und suchte seine Kleider zusammen, dann huschte er ins Bad und wusch sich das Gesicht. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm das bleiche Gesicht und die stumpfen Augen eines erschöpften jungen Mannes, der er nicht sein wollte. Seufzend nahm Jamie eine Bürste zur Hand und zog sie durch seine goldbraunen Strähnen. Ihm bangte vor der Auseinandersetzung, die er mit Viktor würde führen müssen. Ethan hatte anscheinend schon damit angefangen und er sollte die Situation gleich dazu nutzen ein paar Dinge zu klären.

“Ich verspreche dir, aufzuhören, sobald ich kann...“

Seine eigenen Worte kamen ihm in den Sinn und er spürte Angst in sich aufsteigen. Was, wenn Viktor ihn nicht gehen lassen würde? Was, wenn er ihn dazu zwang, Luca nicht mehr wieder zu sehen?

Zu welchen Mitteln würde Viktor greifen, um ihn bei sich zu behalten? Auch wenn Viktor im Grunde gegen Gewalt war, so ließ er unwillige Angestellte und Neuankömmlinge von seinen Sicherheitsmännern gefügig machen und vielleicht brachte er auch potenzielle Aussteiger wie ihn mithilfe dieser Männer wieder auf die rechte Bahn. Das heftige Pochen seines Herzens machte Jamie klar, dass er, wenn er erst einmal angefangen hatte, nie mehr zurück können würde.

Abrupt wandte er sich von seinem Spiegelbild ab und durchquerte erneut leise das Zimmer, öffnete die Tür ein bisschen und schlüpfte durch den Spalt nach draußen in den Treppenaufgang.

„... wenn er seine Arbeit vernachlässigt, kann ich das nicht dulden und da er das ja tut, bleibt mir keine andere Wahl. Das siehst du doch wohl ein!“

Jamie blieb auf der Treppe stehen und wartete auf Ethans Antwort.

„Das war ein einmaliger Ausrutscher, Viktor, das weißt du ganz genau. Das ist nicht Jamies Art!“

Viktor schnaubte und schlug mit der flachen Hand aufs Treppengeländer.

„Nachher kommt er noch an und kündigt, weil er denkt, dieser Typ da wäre besser als der Job hier.“

Unschlüssig, was er nun tun sollte, stand Jamie noch einen Augenblick auf der Treppe, dann stieg er die restlichen Stufen geräuschvoll hinab.

„Jamie?!“ Ethan sah ihn erstaunt an. Fast hätte sich ein bitteres Lächeln auf Jamies Lippen geschlichen, doch er konnte es gerade noch verhindern.

Viktor drängelte Ethan zur Seite und baute sich vor Jamie auf.

„Du siehst scheiße aus, Junge“, stellte Jamies Chef dann mit erstaunlich nüchternen Stimme fest.

Viktor hatte schon seit jeher immer ein gutes Gespür für offensichtliche Dinge gehabt... .

Jamie versuchte wegwerfend zu grinsen und es gelang ihm.

„Was erwartest du?“ Er sah Viktor fest in die Augen. „Ich arbeite jede Nacht und halte deinen Laden am Laufen, die Kerle zahlen Unsummen für ein paar Stunden mit mir und“, er stieß dem leicht untersetzt wirkenden Mann mit dem Zeigefinger gegen das Revers, „das weißt du auch.“

Jamie wusste, dass er gerade undankbar und frech war, aber er wollte einer längeren Auseinandersetzung mit Viktor aus dem Weg gehen und die beste Waffe gegen Viktors scharfes Mundwerk waren immer noch seine eigenen Waffen. Das viele Geld, das Jamie einbrachte, der Luxus ihrer Kleidung, ihrer Zimmer und das gute und reichliche Essen waren Dinge, die sein Chef Jamie seit Beginn seiner Arbeit hier vorhielt, falls er sich dann und wann beschwert hatte. Jetzt konnte er all das gegen ihn verwenden. Viktor wusste nur zu gut, dass er Jamie weder ernsthaft rausschmeißen würde, noch dass er nicht alles daran setzten würde, ihn gut zu stimmen und zum Bleiben zu überreden. Denn Jamies Erfolg trugen maßgeblich zum Luxus hier bei und das konnte Viktor nicht leugnen.

„Frecher Bengel, pass auf was du sagst“, knurrte Viktor, doch ein vorsichtiger Ausdruck trat in seine Augen und er musterte Jamie noch einmal intensiv.

„Ethan,“, fuhr er jetzt in seinem normalen, autoritär klingenden Ton fort, „sorg dafür, dass Jamie heute Abend wieder annähernd menschlich aussieht, sonst setzt’s was!“ Dann rauschte er von dannen und die Tür zum Barraum schlug geräuschvoll hinter ihm ins Schloss.

Als Jamie sich Ethan zuwandte grinste dieser. Obwohl ihm eher nach heulen zumute war, war das Grinsen seines Freundes mal wieder so ansteckend, dass sich seine Mundwinkel wie von alleine hoben.

„Du hast gehört, was unser Chef gesagt hat. Bleibst du ein Zombie bin ich heute Abend Hackfleisch. Bitte tu mir den Gefallen und trete deine Schicht heute Abend mit einer Tüte über dem Kopf an, ja?“ Der Blick, mit dem Ethan ihn daraufhin ansah brach endgültig das Eis und Jamie lachte laut auf. Ethan stimmte mit ein und griff nach seiner Hand.

„Ich gehe mal davon aus, dass dein herzallerliebster Schatz noch tief und fest schläft, aufgrund der Anstrengungen der letzten Stun-...“, auch wenn Jamie ihn nicht ansah, fühlte er den höchst anzüglichen Blick auf sich und boxte Ethan in die Seite, „in der letzten Zeit“, verbesserte Ethan sich daraufhin ungeschickt und kicherte.

Sein Blick hätte todbringender nicht sein können, doch Ethan lachte nur noch mehr und zog ihn die letzten Stufen hinab.

„Also kommst du mit in mein Zimmer und dort machen wir dich ein bisschen zurecht.“

Schmollig ließ Jamie sich von Ethan durch den Barraum bugsieren. Auf der anderen Seite des Raumes ging es wieder durch eine Tür und eine Treppe hinauf. Jamie war nicht oft in Ethans Zimmer, da Ethan es vorzog zu ihm zu kommen, daher schaute er sich interessiert um, während Ethan die Tür hinter ihm abschloss.

„Ja, Jamie, das ist ein Bett“, neckte sein Freund ihn, als er bemerkte, dass Jamie ohne wirklich hinzuschauen das Bett anstarrte.

Doch in Gedanken war Jamie wirklich weit weg.

„Das was Viktor vorhin gesagt hat. Er hat gar nicht so unrecht.“ Ethan kam auf ihn zu, setzte sich auf die Bettkante und zog ihn neben sich. Jamie setzte sich und erwiderte Ethans Blick ausdruckslos.

„Was meinst du, ich versteh dich nicht.“

„Na, dass ich ankomme und kündige. Er hat Recht.“

Statt der erwarteten, heftigen Reaktion schwieg Ethan einfach und sah gerade aus. Jamie schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können und blickte Ethan dann erstaunt an.

„Du sagst gar nichts. Was ist los?“

„Was sollte los sein. Es ist deine Sache wenn du kündigst. Willst du, dass ich dich jetzt mit einer leidenschaftlichen Rede auf das Leben hier davon abhalten?“

Ethans Stimme troff vor Sarkasmus und Jamie musste wider willen grinsen.

„Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur... Du wolltest doch auch weg. Lass uns dann doch zusammen gehen.“

Mit einem Seufzen ließ Ethan sich hinten über kippen und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

„Ich weiß nicht.“

Jamie, der sich an ein Gespräch erinnerte, das er und Ethan vor ein paar Monaten geführt hatten, legte sich neben seinem Freund auf die Matratze, rollte sich dann aber auf die Seite und sah den älteren forschend an.

„Vor ein par Monaten hattest du es doch noch so hold hier wegzukommen. Woher die plötzliche Gleichgültigkeit?“

Ethan brummte irgendetwas und drehte sich von ihm weg.

Im Grunde war es Jamie egal und so betrachtete er Ethans Rückansicht eine Weile, dann streckte er die Hand aus und kniff Ethan in die Seite. Mit einem lauten Quietschen wirbelte Ethan herum und sah Jamie einen Moment erschrocken an, dann stürzte er sich auf ihn und eine wilde Rangelei entbrannte, die erst endete, als Jamie mit Lachtränen in den Augen vom Bett fiel. Ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Brustkorb erinnerte ihn daran, dass sein Körper alles andere als fit war und so rappelte er sich auf und streckte Ethan seine Hände entgegen.

„Bitte, Gnade! Ich ergebe mich! Aufhören!“

Ethan stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete ihn kritisch, dann nickte er und fuhr sich durchs Haar.

„Siehst du, jetzt hast wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Ich dachte schon, ich müsste dich ernsthaft schminken.“

Es war an sich nichts unübliches, wenn sich die Jungs eines Nachtclubs schminkten, denn im Grunde wurden sie von den Männern ja wie Frauen benutzt.

Ein kurzer Hustenanfall schüttelte Jamie und Ethans Miene wechselte über zu Besorgnis.

„Komm hoch“, Ethan klopfte auf den Platz vor sich, „ich massier dich ein bisschen.“

Jamie blickte in Ethans grüne Augen und richtete sich langsam auf. Dann ließ er sich auf die Bettkante plumpsen und zog sich das Hemd über den Kopf.

Ethans Hände bearbeiteten geschickt seinen verspannten Nacken und als Ethan die Massage schließlich beendete, glühte die Haut seiner Schultern förmlich.

„Danke.“

„Nichts zu danken. Du hast uns echt einen riesigen Schrecken eingejagt.“

Reumütig dreinschauend krabbelte Jamie an Ethan vorbei und streckte sich hinter ihm komplett auf dem Bett aus.

„Eigentlich war es ja auch gar nicht geplant, dass wir da im Schnee einfach einschlafen. Ich war einfach nur so kaputt und erschöpft von dem Desaster mit seinen Eltern“, ein Stich durchfuhr Jamie bei diesen Worten, denn wieder führte es ihm klar vor Augen, was Luca seinetwegen alles aufgegeben hatte, „und unserem Streit danach... es war alles ein bisschen viel.“

„Er liebt dich wirklich, oder?“

Jamie schwieg und schloss die Augen. Sofort erschien Lucas Gesicht hinter seinen Lidern und er lächelte.

„Ja, das tut er wohl. Und ich ihn.“

Sie schwiegen eine Weile, bis Jamie einfiel, dass ja auch Ethan seit ein paar Wochen so etwas wie eine Beziehung pflegte.

„Du, was ist eigentlich mit deinem Matrosen?“, neckte er Ethan und grinste ihn unverschämt breit an.

Ein Kissen traf ihn am Kopf und Jamie lachte.

Steve ist im Moment wieder auf See, aber er kommt in zwei Wochen zurück. Und ja, bevor du mich danach fragst, wir sind immer noch... mhm... liiert“, schloss Ethan und grinste Jamie an.

Mit einer eingeübten Bewegung zog Ethan plötzlich seine Taschenuhr aus der Hose, schnippte den Deckel auf und runzelte die Stirn.

„Wir sollten uns fertig machen, in einer Viertelstunde beginnt unsere Schicht.“

Jamie seufzte, rollte sich auf den Bauch und vergrub unwillig sein Kopf in Ethans Kissen.

„Ich will nicht!“, nuschelte er gedämpft und Ethan bekam einen Lachanfall, dann schlug er ihm unbarmherzig auf den Hintern und öffnete seine Schranktüren, um sich ein passendes Outfit heraus zu suchen.

Aus der Sicht von Jamie

Bevor Jamie schließlich seine Schicht angetreten hatte, war er noch einmal in seinem Zimmer gewesen, um nach Luca zu sehen. Dieser hatte jedoch friedlich schlafend im Bett gelegen und so hatte Jamie ihn nur sanft auf die warme Stirn geküsst und war leise aus dem Zimmer geschlichen.

„Man, ist das voll heute Abend!“, bemerkte Ethan munter und lehnte sich neben ihm gegen den Bühnenrand. Jamie nickte und nippte an seinem Champagner.

Zum wiederholten Mal zog Ethan an diesem Abend unruhig seine Taschenuhr hervor und Jamie beobachtete ihn von der Seite.

„Ethan, was ist los?“ Wie ertappt sah Ethan seinen besten Freund an und ein gewisses Gefühl des Misstrauen schlich sich in Jamies Gedanken.

Doch anstatt ihm seine Frage zu beantworten, sah Ethan ihn nur eindringlich an und fragte:

„Sag mal, ist dein Zimmer eigentlich abgeschlossen?“ Verständnislos sah Jamie den schwarzhaarigen an und runzelte die Stirn.

Gerade wollte er dazu ansetzten, zu antworten, als Viktor zwischen sie trat und auch Ethan ein Glas Champus in die Hand drückte.

„Jamie lass das, das gibt nur Falten und Ethan mit deiner Miene verscheuchst du jeden Kunden im Umkreis von hundert Metern.“

Jamies Blick schnellte von Viktors gerötetem Gesicht zu Ethan und er stellte fest, dass ein angespannter fast nervöser Ausdruck in den Zügen seines Freundes lagen.

„Ist schon gut, Viktor. Ethan macht sich nur Sorgen um mich.“ Jamie wusste nicht, warum er Ethan so spontan in Schutz nahm und der erstaunte Blick Ethans zeigte ihm, dass dieser ebenso wenig damit gerechnet hatte. Einzig und allein Viktor schien sich dieser Tatsache nicht bewusst zu sein und so wandte er sich Jamie zu und musterte ihn kritisch.

„Ganz so schlimm siehst du ja nicht mehr aus, aber wenn das noch einmal vorkommt-...“, Viktor beendete seine Drohung nicht und Jamie war es egal.

Einen Moment lang taxierten sie sich, dann verschwand Viktor zu einer Gruppe Männer und verwickelte sie galant und übers ganze Gesicht strahlend in ein Gespräch.

„Entschuldigung?“

Jamie und Ethan schauten gleichzeitig auf und blickten in das freundlich lächelnde Gesicht eines Mannes.

„Ihr seid doch bestimmt zwei der... nun ja, Jungen, die hier... arbeiten, nicht wahr?“

„Ja. Was willst du und wie viel zahlst du?“ Ethans Direktheit verwunderte Jamie über die Maßen und er fragte sich immer ernsthafter, was mit dem sonst so charmanten und zu jedem kleinen Flirt aufgelegten Ethan los war.

Der Mann schien etwas vor den Kopf gestoßen zu sein und so schob Jamie Ethan einfach zur Seite und lächelte den Kunden verführerisch an.

„So viele gut aussehende Männer hier und nur ein paar Stunden Zeit, das zehrt sogar an den Nerven der Besten.“

„Ja, in der Tat, es ist bestimmt nicht ganz so entspannt, wie es sich die meisten vorstellen“, stimmte der Mann Jamie zu und musterte ihn mit unverhohlenem Interesse.

Auch Jamie nahm den Kunden nun etwas genauer unter die Lupe und stellte fest, dass seine Kleider von höchster Qualität waren, sogar die Schuhe schienen maßgefertigt zu sein und die weißen Handschuhe rundeten das Bild eines gebildeten, wohlhabenden Mann höheren Adels ab.

„Sagen Sie, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Ein wohlwollendes Lächeln zuckte um die Mundwinkel des Aristokraten und er strich durch das perfekt geschnittene, mit einzelnen grauen Strähnen durchzogene Haar.

Dieser Mann war etwa um die vierzig, strahlte Autorität und Würde aus und war augenscheinlich zu seinem Vergnügen hier. Amüsiert stellte Jamie sich die dazu passende Ehefrau vor und fragte sich – nicht ohne ein kleines Bisschen Boshaftigkeit – ob jene wusste, dass ihr Gatte sich in einem Nachtclub mit minderjährigen Jungen vergnügte.

„Es ist wirklich laut hier, lassen Sie uns ein stilleres Plätzchen suchen, bevor wir uns weiter unterhalten“, schlug Jamie vor und wies mit der Hand auf die – der Hintertür, die zu seinem Zimmer führte gegenüberliegende – Tür zu den Privatzimmern.

„Eine wirklich wunderbare Idee“, stimmte der Kunde ihm lächelnd zu und folgte ihm. Ein Blick zurück zu Ethan zeigte Jamie, wie dieser erneut seine Taschenuhr hervorholte, draufschaute und plötzlich begegneten sich ihre Blicke und in Ethans Augen lag eine große Unruhe.

Jamie hatte die Tür erreicht, öffnete sie und trat mit einem Seufzen hindurch...

“Ich verspreche dir, aufzuhören, sobald ich kann...“

...Und mit einem leisen Klicken schloss Jamie einen Augenblick später eine der Zimmertüren hinter sich – und drehte den Schlüssel im Schloss um.
 

Ein gellender Schrei, das Splittern von Holz und lautes Trampeln panischer Menschen übertönte plötzlich die leisen Geräusche, die vom Barraum durch die anliegende Wand gedrungen waren. Jamie stockten. Er hatte sich gerade das Hemd zuknöpfen wollen, doch als er erneut nach der Knopfreihe griff, zitterten seine Hände.

„Wie viel macht das?“, John – so hieß der Edelmann – hatte ein Rolle Scheine hervorgezogen und zählte schon etliche in die Hand, als die Zimmertür aufflog und Ethan mit entsetzt aufgerissenen Augen ins Zimmer stürzte.

„RAUS!“, brüllte er Jamie und den Kunden an. „Los Jamie, wir müssen hier raus! Eine Razzia! Die haben alles angezündet!“

Das Blut gefror in Jamies Adern. Eine Razzia. Ethan hatte ihn am Arm gepackt und zerrte ihn auf die Hintertür zu, der Kunde schien ihnen nicht zu folgen.

Immer noch geschockt hörte Jamie das Splittern einer Tür hinter sich und als er laut aufbrandende Geräusche hörte wusste er, dass es die Tür zum Barraum gewesen sein musste. Eine unglaubliche Hitzewelle flutete durch den schmalen Flur und Jamie drehte sich vorwärts stolpernd um. Angstvolle Rufe und das Klirren von zerbrechendem Glas, flackerndes orangerotes Licht und leises Knistern. Das Geräusch fauchender, nach Nahrung suchender Flammen.

Plötzlich prallte Jamie mit voller Wucht gegen Ethan, der stehen geblieben war und verzweifelt auf die Hintertür starrte.

„Was ist–?!“, schrie Jamie und dann hörte er das laute Krachen. Jemand versuchte, sich mit Hilfe von Gewalt Zugang zum hinteren Trakt des Hauses zu verschaffen.

„Zurück!“ Ethan riss ihn herum und sie rannten auf die bereits geborstene Tür des Barraumes zu. Je näher sie kamen, desto heißer wurde es und als sie in den vom roten Feuerschein erhellten Raum stolperten und die panisch umherlaufenden Menschen sahen, schlug die Erkenntnis unbarmherzig und markerschütternd ein.

Wenn sie hier nicht sofort hinauskamen, würden sie in dem zusammenstürzenden Flammeninferno umkommen.

Alles wurde plötzlich langsamer, die Zeit schien stehen zu bleiben, als Jamie sich zu Ethan umdrehte und sie sich in die Augen sahen.

Unglauben gepaart mit Angst flackerte ihm aus Ethans Blick entgegen und dann wurde alles schlagartig still in Jamie.

Luca...

“NEIN!”, brüllte Ethan, als er in Jamies Augen las, was diesem gerade in den Kopf geschossen war.

„Nein, Jamie! Du bringst dich um!“ Ethan schnellte zu ihm, packte ihn und schlang ihm die Arme um den Oberkörper.

Ein lauter Knall kam aus der Richtung, in der sich Jamies Zimmer befand, und Jamie begann ohne Rücksicht darauf, dass Ethan sein bester Freund war, um sich zu treten und zu schlagen.

„LASS MICH LOS!“, schrie er immer wieder, doch Ethans Griff schien sich nur noch zu verstärken. Dann kam seine Chance. Jemand stieß Ethan von Panik angetrieben hart in den Rücken und dieser taumelte und ließ Jamie los. Ohne lange zu überlegen rannte Jamie los, stolperte über einen umgestürzten Stuhl und fiel, rappelte sich auf und rannte weiter auf die gegenüberliegende Hintertür zu.

„Jamie!“, rief Ethan voller Panik hinter ihm, doch Jamie hatte nur einen Gedanken im Kopf. Luca!

Die Luft war inzwischen so heiß, dass jeder Atemzug unglaublich schmerzte, doch gerade als er keuchend und hustend am Geländer angekommen war, barsten im Zimmer hinter ihm klirrend die Fensterscheiben und kurz darauf vernahm er polternde Schritte, die sich ihm näherten.

„Luca!“, Jamie rief und hustete gleichzeitig, „LUCA!“

Eine Hand packte ihn von hintern und riss Jamie zu Boden.

Fünf Gestalten in dunklen Kleidern standen hinter ihm, ihre Schlagstöcke erhoben und mit einem nassen Tuch vor dem Mund.

„Nein!Nein!NEIN!“, brüllte Jamie und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen und die Treppe hoch zu laufen, doch die Männer versperrten ihm den Weg und versuchten ihn festzuhalten. Wie von Sinnen schlug, biss, kratze und trat Jamie um sich, bis ihn einer der Schlagstöcke traf und sich unaufhaltsame Schwärze um seinen Körper hüllte.
 

Als Jamie das nächste Mal erwachte, spürte er nichts als das beständige Rütteln einer Kutsche.

„Er ist aufgewacht.“

„Dann gib ihm noch mehr.“

„Es tut mir so leid, Jamie“, murmelte eine ihm sehr vertraute, männliche Stimme und Jamie fühlte, wie jemand ihm den Mund öffnete und eine Flüssigkeit hineinträufelte.

Kaum hatte er geschluckt, legte sich erneut eine schwarze Decke über ihn und er wurde ohnmächtig.

Aus der Sicht von Jamie

Februar...
 

...März...
 

...April
 

Ich fühle meine Sinne nicht mehr,

Ich fühle nur noch diese Kälte.

Alle Farben scheinen zu verschwinden.

Ich kann meine Seele nicht mehr spüren.

Vielleicht würde ich aufhören mich anzuklagen,

wenn ich nur eine Chance bekommen hätte.

Ich hab das alles nie opfern wollen.

Doch ich bin gezwungen, loszulassen.
 

Ein leises Klopfen an der Zimmertür weckte Jamie. Ohne die Augen zu öffnen, blieb er liegen und genoss die Dunkelheit um sich herum.

„Jamie, kann ich reinkommen?“, drang nun eine Stimme durch die geschlossene Tür. Jamie antwortete nicht und wünschte innerlich, dass der Störenfried endlich verschwand.

„Jamie?“, kam es nun drängender und leise knarzend wurde die Tür nun ohne seine Zustimmung aufgemacht. Widerwillig öffnete Jamie nun doch seine Augen und starrte zum dunklen Baldachin hinauf.

„Ethan, verpiss dich.“

Jamie hörte, wie Ethan scharf die Luft einzog und die Tür etwas lauter als es eigentlich nötig gewesen wäre wieder zuschlug. Doch dann flog sie erneut auf und Ethan stürmte mit wütenden Schritten ins Zimmer.

„Jamie, jetzt stehst du auf! Los!“

Jamie ignorierte ihn und starrte weiterhin melancholisch zum dunkelroten Samtbaldachin hoch. Wenig beeindruck von seinem Schweigen, ging Ethan nun auf die Fenster zu und zog die schweren Vorhänge zur Seite. Helles Sonnenlicht ergoss sich in den bis dahin im Dunkeln liegenden Raum. Staubkörner tanzten wirbelnd in den Strahlen und als Ethan nun auch unbarmherzig die Fenster weit öffnete, wehte warme Luft durch den Raum.

Leises Vogelgezwitscher und das Rauschen von großen, alten Bäumen war zu hören, doch Jamie wollte einfach nur seine Ruhe. Wut darüber, dass Ethan ihn einfach nicht in Ruhe lassen wollte stieg in ihm auf und er schlug zornig die Bettdecke zur Seite und stellte seine nackten Füße auf die knarrenden Holzdielen vor dem großen Bett. Leicht bekleidet wie er war – nämlich nur mit einer hellgrünen Flanellschlafanzugshose – warf er sich seinen Morgenmantel über, schubste Ethan zur Seite und schloss ein Fenster nach dem anderen wieder.

„Du solltest sie auf lassen, ein bisschen frische Luft würde dir gut tun.“

Nun endgültig erzürnt über das anmaßende Verhalten seines Gegenübers wirbelte Jamie herum und stieß Ethan seinen Zeigefinger in die Brust.

„Bist du meine Mutter oder mein Kindermädchen oder so?“ Er funkelte ihn wütend an. Die Wut tat gut, sie war eine willkommene Abwechslung zu dem sonstigen Schmerz, der ihn in den einsamen Nächten fast zu zerreißen schien. „Nein! Also verschwinde, lass mich in Ruhe und kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram!“

Mit zusammengepressten Lippen stand Ethan vor ihm und in seinen Augen funkelte nun auch unterschwelliger Zorn.

„Ich weiß, dass ich weder dein Kindermädchen, noch deine Mutter oder auch sonstiges bin, aber ich weiß, dass du mein Freund bist und dass ich nicht länger mit ansehen werde, wie du dich kaputt machst!“

Bilder eines brennenden Gebäudes stiegen vor Jamies innerem Auge auf und trieben ihm die Tränen in die Augen.

„Nein,“, brachte er mit brechender Stimme hervor und wischte sich eine Träne von der Wange, „das mit dem kaputt machen, das hast du schon vorher geschafft.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging wider auf das Bett zu, doch Ethan packte ihn am Oberarm und zwang ihn, sich umzudrehen.

Ich hab dich kaputt gemacht? Weil ich dich und mich aus diesem elenden Leben rausholen wollte? Weil ich dir helfen wollte, damit du nicht so endest wie ich? Ohne Ausbildung, ohne Möglichkeit, aus diesem widerlichen Gewerbe jemals wieder herauszukommen? Damit habe ich dich kaputt gemacht?!“, schrie Ethan ihn an und Jamie zuckte zurück. Dann riss er seinen Arm weg und trat einen Schritt auf Ethan zu.

„Du wolltest mir helfen? Ach, jetzt verstehe ich, du hilfst also anderen Menschen, indem du jemanden engagierst, der das Zuhause dieser Person anzündet, dann indem du ihm das wichtigste in seinem Leben nimmst und ihn schlussendlich bewusstlos schlagen lässt?!“ Jamie taxierte Ethan einen Moment, dann wandte er sich um und schmiss die Arme in die Luft. „Ach stimmt, warte, ich habe vergessen, dass du ihn auch noch sicherheitshalber an einen Ort bringst, von dem er nicht weglaufen kann! Ohja, ich fühle mich richtig gut hier!“ Wutentbrannt stellte Ethan sich ihm in den Weg, als Jamie das Zimmer verlassen wollte und zischte:

„Du weißt, dass ich nie auch nur im Entferntesten vorhatte, dass Luca etwas zustößt!“

Als Ethan den Namen aussprach war es, als würden zentnerschwere Steine ihn unter Wasser und hinab ins Dunkel ziehen. Jamie merkte, wie er schwankte und hielt sich am Türrahmen fest.

„Ich habe dir schon tausend mal gesagt, dass das nicht beabsichtig war! Luca sollte mit hierher kommen!“, rief Ethan und rüttelte ihn an der Schulter.

„Hör auf.“ Doch Ethan fuhr unbarmherzig fort.

„Jamie, Luca ist vielleicht nicht tot, vielleicht ist er von dem Lärm aufgewacht und hat sich in Sicherheit gebracht!“

„Du sollst aufhören, sei still!“, schrie Jamie und hielt sich die Hände vor die Ohren. Doch Ethan hatte mit seinen Worten wieder all das heraufbeschworen, was er in den letzten Monaten so gut es ging zu verdrängen versucht hatte.

Luca... tot…Luca… tot...Luca… .

“Halt dein verdammtes Maul!”, brüllte er Ethan an, der ihn verschreckt ansah, dann stieß er ihn grob zur Seite und rannte den Flur hinunter auf das Badezimmer zu, riss die Tür auf, schlug sie hinter sich zu und schloss ab. Dann ließ er sich heftig schluchzend gegen die Tür sinken und ließ dem Schmerz in seiner Brust, der ihn fast zerriss, freien Lauf.

Als er sich nach einer halben Ewigkeit wieder etwas beruhigt hatte, stand er zitternd auf, drehte den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht. Als er seinen Blick aus dem Handtuch hob und das erste Mal seit Monaten in den Spiegel sah, erschrak er beinahe vor sich selbst. Seine Augen wirkten stumpf und das viel zu lange Haar hing ihm strähnig und glanzlos ins Gesicht.

„Keine zwanzig Pfund würden sie im „Vouge“ für dich zahlen“, sagte er bitter zu seinem Spiegelbild und strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn.

Von draußen auf dem Flur drangen Stimmen zu ihm ins Bad und er trat näher an die Tür, um zu verstehen, was gesagt wurde und wer da sprach.

„... er ist total ausgerastet. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich ihm klarmachen soll, wie sehr mir diese ganze vertrackte Scheiße leid tut. Und dass er keinen Grund hat, sich mir gegenüber aufzuführen wie ein depressives, launisches und ekelhaft zynisches Arsch!“

Ethan.

„Ich-...“

Jack.

„Ich meine, wir sind jetzt schon seit drei Monaten hier und er ist bis jetzt nur vom Schlafzimmer bis ins Bad und wieder zurück gegangen, hat blöde Sprüche gelassen, sich ausgeschwiegen oder wegen nichts angefangen herumzuschreien!“

Ethan.

„Ich denke, du solltest ihm einfach noch etwas Zeit geben.“

Jack.

„Ja, ich weiß, aber wie lange noch? Wie lange soll ich noch warten? Hast du ihn dir mal angesehen? Er ist viel zu dünn, seine Haare sind strähnig, stumpf und spröde und er ist blass wie ein Gespenst. Jamie hat seit Monaten nicht mehr die Sonne gesehen, geschweige denn, dass er draußen an der frischen Luft war! Und irgendwann muss er auch mal akzeptieren, dass Luca eventuell tot ist und dass ihn dann nichts zurückbringt“, fügte er leise hinzu.
 

Es folgte ein kurze Pause und Jamie schluckte. Ethan sorgte sich wirklich um ihn, obwohl er sich dabei anhörte wie eine zänkische Ehefrau.

„Wo ist Jamie jetzt?“, fragte Jack und Jamie wich von der Tür zurück. Einen Moment später klopfte es vorsichtig.

„Jamie?“

Jamie sah einen Augenblick auf die Tür, dann antwortete er.

„Ja?“

„Schon gut. Ich wollte nur wissen, ob du noch hier bist“

Verwirrt machte Jamie einen Schritt auf die Tür zu, entriegelte sie und trat auf den Flur. Ethan war nirgends mehr zu sehen.

„Jack?“

Der gutaussehende, junge Mann drehte sich zu ihm um und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.

„Du siehst wirklich schrecklich aus. Bleib bloß in deinem Zimmer, damit dich meine Gäste nicht sehen.“

Nicht wissend, ob Jack das jetzt erst gemeint hatte, starrte Jamie ihn an und Jack brach in schallendes Gelächter aus.

„Oh man, Jamie. Das war ein Scherz. Naja, nicht ganz“, korrigierte er sich und kam ihm ein paar Schritte entgegen. „Du siehst wirklich schrecklich aus. Ich sollte einen Friseur rufen lassen, findest du nicht?“

Unbewusst griff Jamie sich an den Kopf und Jack lachte abermals.

„Sehe ich wirklich so schrecklich aus?“

„Hast du eben im Bad nicht einen Blick in den Spiegel geworfen?“, staunte Jack und musterte ihn erstaunt.

„Doch.“

„Na also, dann weißt du ja, wie schrecklich du aussiehst.“

Jamie nickte resigniert und Jack quittierte das mit einem zufriedenen Schmunzeln.

„Ich werde gleich heute nach einem Friseur schicken lassen, dann kann der dich gleich morgen wieder ausgehfein machen.“

Jamie nickte und Jack wandte sich zum gehen, da fiel Jamie ein, dass Jack vorhin etwas von Gästen gesagt hatte.

„Jack, warte mal.“

Erstaunt dreinschauend sah Jack sich um.

„Du hast was von Gästen gesagt, wer ist denn da?“

Ein erfreuter Ausdruck erhellte Jacks Züge und ein unbestreitbares Leuchten stand in seinen rehbraunen Augen.

„Steve ist da. Sein Schiff ist vorgestern eingelaufen und er hat beschlossen uns einen Besuch abzustatten.“

„Sind er und Ethan immer noch-...?“

Das fragst du Ethan am besten selber“, lachte Jack und wandte sich nun endgültig zum gehen.

Jamie seufzte leise, ein kurzer Stich der Eifersucht durchzuckte ihn. Warum durfte Ethan glücklich sein und er nicht? Doch Jamie rief sich die Erinnerung an ein Gespräch mit Ethan in den Sinn.

Ethan hatte mit dem Rücken zu ihm gestanden und aus dem Fenster gesehen.

„Bist du deswegen versetzt worden?”

Ethan hatte leicht genickte und eine Hand an die Fensterscheibe gelegt.

„Ich hab sie geliebt wie mein Leben. Sie war mein Ein und Alles, bis-...“

„Bis was?”, hatte er vorsichtig nachgehakt.

„Bis ihr Vater das zwischen mir und ihr herausbekommen hat und sie mit einem reichen Typen verheiratet hat.“

Er hatte Mitleid mit Ethan gehabt.

„Wie…wie bist du damals damit fertig geworden?“

„Gar nicht.“

Jamie erinnerte sich nur zu gut daran, wie verschlossen und verbitterte Ethan gewesen war, als er ins „Vouge“ gekommen war. Hatte er sich zu einem genauso unnahbaren Menschen entwickelt? War er wirklich so kalt und zynisch geworden?

Jamie wusste, er tat Ethan unrecht, wenn er ihm das Bisschen Glück, dass er wohl mit Steve gefunden hatte auch noch verdarb. Er seufzte leise und ging langsam in sein Zimmer zurück. Kaum hatte er sich daran gemacht, mit leicht schlechtem Gewissen Ethan gegenüber, die Vorhänge nun doch aufzuziehen, da klopfte es an der Tür.

„Ja?“

Jamie drehte sich um und zu seiner Verblüffung stand ein ausgenommen hübsches, rothaariges Mädchen im Türrahmen. Sie trug eine Bedienstetenuniform, doch Jamie hatte sie noch nie gesehen. Kein Wunder, schalt er sich selbst, er hatte die drei Monate, die er nun schon hier war nur in seinem Zimmer verbracht. Es war also wirklich nicht verwunderlich, dass er sie nicht kannte.

„Was ist?“, fragte er sie und versuchte, nicht allzu unfreundlich dreinzuschauen.

„Der Herr lässt fragen, ob Sie nicht am Abendessen teilnehmen wollen.“

Ihre Stimme war angenehm zu hören und aus ihren grünen Augen lachte eine ungetrübte Heiterkeit.

„Ähm, ja, gerne. Richtest du das Jack aus?“

Sie lachte und machte einen schalkhaften Knicks. „Jawohl, verehrter Herr, ich werde es dem Hausherrn ausrichten.“

„Danke.“ Jamie wandte sich um, doch sie schien noch etwas sagen zu wollen, denn auch als er sich noch einmal umdrehte, weil er kein Klicken einer zugehenden Tür gehört hatte, stand die Bedienstete immer noch da.

„Was ist denn noch?“

Sie grinste ihn so breit an, dass er sich beinahe beleidigt fühlte, dann sagte sie munter:

„Ich frage mich nur gerade, ob die Jungen in den Nachtclubs alle so schlimm aussehen.“

Jamie stockte der Atem bei so viel Dreistigkeit, doch sie schien das nicht weiter zu stören und ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen wandte sie sich um und verschwand.

Dreistes Miststück, dachte er sich, doch so sehr Jamie es auch versuchte, er konnte sich nicht wirklich über diese Äußerung ärgern, denn im Grunde hatte sie ja Recht.

Nein, hatte sie eigentlich nicht, denn als er noch im „Vouge“ gearbeitet hatte, hatte er gut, wenn nicht sogar mehr als gut ausgesehen. Doch jetzt konnte er es ihr nicht übel nehmen, dass sie sich fragte. Schließlich sah er aus wie ein Penner.

Jamie warf sich aufs Bett und lauschte auf die leisen Vogelstimmen draußen.

Auf irgendeine merkwürdige Weise fühlte er sich besser.

Vielleicht lag es daran, dass er sich endlich mit Ethan gestritten hatte, dass sie sich endlich die Meinung gesagt hatten und Ethan nicht mehr länger bereit gewesen war, seine Selbstmitleidigkeit zu schlucken und zu schweigen.

Vielleicht hatte sein Körper auch einfach keine Kraft mehr weitere Schmerzen zu empfinden. Der Anblick, der sich ihm im Badezimmerspiegel geboten hatte, war auch wirklich schrecklich gewesen.

Wenn Luca – der Name ließ einen gleißend schmerzenden Strahl durch seinen Körper zucken – wirklich tot war, Jamie holte tief Luft und hielt sich die Brust, dann war es so und er würde es endlich akzeptieren müssen. Und wenn er noch lebte, dann trug es erheblich wenig dazu bei, Luca zu finden, dass er sich in seine Zimmer verschanzte und sich weigerte, es zu verlassen.

Falls Luca noch lebte, dann – das schwor Jamie sich –, dann würde er ihn finden!

Aus der Sicht von Luca

Stimmen weckten ihn. Benommen fragte Luca sich, was das für Stimmen sein konnten, doch er kam nicht drauf. Woher kam dieses leise Brummen?

Ihm fiel ein, dass er ja einfach nachschauen konnte. Doch dazu musste er seine Augen öffnen. Es dauerte einen Moment, da Luca sich nicht mehr sicher war, ob er wusste, wie das ging.

Was ist nur mit mir los?, fragte er sich und blinzelte leicht. Verschreckend helles Licht drang durch den Spalt und gleißende Kopfschmerzen waren der Dank seiner übermütigen Tat. Das Brummen schwoll immer weiter an.

„Es soll aufhören zu brummen“, nuschelte er undeutlich und versuchte es erneut mit dem Augenöffnen.

Das Licht war immer noch so hell wie vorher, doch es tat nicht mehr ganz so doll weh, die Augen offen zu halten. Vorsichtig öffnete Luca immer weiter seine Lider und langsam nahm alles um ihn herum Gestalt an.

Grau. Stein. Eine Neonröhre an der Decke.

Das war alles, was er sehen konnte, ohne sich zu bewegen. Wo bin ich?, schoss es ihm durch den Kopf, doch ein lautes Klirren unterbrach seine weiteren Gedankengänge und eine Tür öffnete sich quietschend.

„Er ist wach“, stellte eine dunkle Männerstimme fest und etwas klopfte ihm nicht gerade sanft auf die Brust.

„Junge, steh auf!“, befahl eine andere, leicht cholerisch klingende Stimme und Luca leitete den Gedanken aufzustehen an seinen Körper weiter, doch nichts passierte. Plötzlich wurde er hochgerissen und ein dunkelrotes, großporiges Gesicht tauchte vor ihm auf, bevor es wieder hinter einem schwarzen Schleier voller bunter Lichter verschwand und das Brummen alle anderen Geräusche überdeckte.

„Chef, pass auf, sonst bringst du ihn noch um“, gab die dunkle Stimme daraufhin zu bedenken und die Hand um seinen Kragen löste sich und Luca fiel zurück.

Eine andere Hand zog ihn in eine aufrechte Position, dann zuckte ein kurzer Schmerz, der von einem leisen Klatschen begleitet wurde erst durch seine eine, dann durch seine andere Wange und der eigenartige, schwarze Nebel verzog sich.

Das Brummen wurde leiser und leiser und verschwand dann ganz plötzlich. Luca sah auf.

Zwei Polizisten hatten sich vor ihm aufgebaut und der eine machte Anstalten, ihn wieder hochzureißen, doch sein Kollege kam ihm zuvor, packte Luca am Arm und führte ihn in das angrenzende Zimmer. Benommen stellte Luca fest, dass es eine Polizeiwache war, in der er sich befand und ihm wurde klar, dass der andere Raum, in dem er aufgewacht war, dann vermutlich eine Zelle war.

Es war einfach zu absurd um wahr zu sein, und so fragte er, bevor ihm klar wurde was er tat: „Wo bin ich?“
 

Die beiden Polizisten schauten sich an und der rotgesichtige brüllte daraufhin: „Bist du blöd oder was? Du bist auf der Polizeiwache, Junge!“

Luca sah ihn stumm an.

Aus dem zusehends dunkler werdenden Rotton vom Gesichts des Polizisten, schloss Luca, dass das nicht die gewünschte Reaktion gewesen war.

Aufgrund dessen baute sich der bullige Kerl in Uniform nun schnaufend vor Luca auf und stierte ihm in die Augen.

„Weißt du eigentlich, warum die hier bist?“, zischte er ihn an und ein Anflug von Häme trat in seine Augen.

Luca dachte nach.

Lange... .

Und plötzlich fiel ihm wieder alles ein und der plötzliche Schmerz ließ ihm die Tränen in die Augen schießen.

Der Polizist grunzte zufrieden und grinste ihn frech an.

„Na ich wusste doch, dass es dir einfallen würde.“

Luca hörte ihm gar nicht zu. Bilder eines brennenden Hauses legten sich vor die augenblickliche Szenerie und in seinen Ohren klangen Schreie und das Bersten von Holz und Glas.

„Jamie...!“, wimmerte Luca und vergrub den Kopf in seinen Händen.

„Hä? Heißt du so?“, fuhr ihn der Polizist an und schubste Luca vor die Brust.

Als Luca nicht antwortete, sondern stattdessen begann, mit dem Oberkörper vor und zurück zu schwanken und leise Jamies Namen vor sich herzuflüstern, zog der Polizist die Nase hoch und ließ sich auf seinen Stuhl hinter dem Sekretär des Verhörraumes fallen.

Unbändige Wut stieg in Luca auf und auf einmal riss er die Hände vom Gesicht und schlug auf den Wachmann hinter sich ein.

„WAS HABT IHR SCHWEINE MIT JAMIE GEMACHT?!“, brüllte er ihn an und trommelte mit seinen Fäusten auf die Brust des überrumpelten Mannes ein.

Schneller als man es ihm zugetraut hätte, war der bullig wirkende Polizist wieder hinter seinem Schreibtisch hervorgestürmt, riss Luca am Oberarm herum und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

Schnaubend und schnaufend drückte er Luca dann auf den Stuhl vor dem Tisch und sah ihn drohend an.

„Wenn du dich nicht beherrschen kannst, stecken wir dich in ein Loch, bis du auf den Knien angekrochen kommst, verstanden?“

Luca nickte, benommen von dem Schmerz des Schlags. Seine Lippe war aufgeplatzt und Blut lief ihm langsam aus dem Mundwinkel.

„Hier“, der Wachmann mit der dunklen Stimme warf ihm aus sicherer Entfernung ein Taschentuch hin und Luca betupfte vorsichtig seine gesprungene Lippe.

Wieder ließ der Polizist sich hinter dem Schreibtisch nieder und taxierte Luca einen Moment, bis er mit seinem Verhör begann.

„Wie heißt du?“

„Luca Sullivan.”

„Wo geboren?”

„London. Upper Road 92.“

„Derzeitiger Wohnort?“

„Upper Road 92, London, England.“

„Eltern?“

„Vater: William Sullivan, senior, Mutter: Catherine Mary Sullivan, geborene Delane.“

„Ah, also ein Herrn von und zu haben wir hier. Die Delanes sind eine der alten Familien, musst ja gewaltig was verbockt haben, wenn die dich in einem Nachtclub“, er betonte das Wort mit triefendem Sarkasmus, „arbeiten lassen.“

„Ich arbeite da nicht!“, rief Luca wütend. „Ich-...“

Der Polizist beugte sich vor und grinste ihn hämisch an.

„Ja?“

„Ich habe jemanden dort besucht.“

Der Mann schnaubte und schlug krachend auf den Tisch.

„Das kannst du deiner verehrten Frau Mutter erzählen Junge, aber nicht mir!“, brüllte er ihn an und Luca zuckte unwillkürlich zusammen.

„Wie alt“, schnauzte er sogleich weiter.

„Sechzehn“, antwortete Luca ihm widerstrebend und sich bewusst, was diese Aussage für Konsequenzen haben würde.

„Aha“, auch der bullige Polizist hatte den Braten gerochen und grinste ihn breit an. „Als gebildeter Schnösel müsstest du das ja eigentlich wissen, aber ich sage es dir gerne noch einmal: Nachtclubs dürfen nicht von Minderjährigen betreten werden!“

„Das weiß ich. Aber das gilt nur für die Zeit, in der die Clubs geöffnet sind.“

„Willst du mir jetzt erzählen, dass du nachmittags hingegangen, dort eingeschlafen und dann von uns mitten in der Nacht dort aufgeweckt worden bist, hä?“, grölte der Mann und tat, als erheitere ihn diese Tatsache ungemein.

Luca ballte die Hände zu Fäusten und wollte aufstehen, doch der Wachmann packte ihn von hinten an den Schultern und drückte ihn unnachgiebig auf den Stuhl zurück.

„Ja, das will ich“, presste Luca zwischen den Zähnen hervor und versuchte, dem Polizisten so fest wie möglich in die feisten, kleinen Schweineaugen zu starren.

„Kannst du das auch irgendwie beweisen?“, säuselte der Polizist und grinste ihn erneut breit an.

„Sie können nichts davon beweisen. Und wen Sie keine Beweise für meine Schuld haben, können Sie mich auch nicht weiter hier gegen meinen Willen festhalten!“

Der Polizist starrte ihn nun seinerseits entgeistert an und brach dann in lautes Gelächter aus, dann wurde er wieder ernst und aus seinen Augen sprühte der Zorn.

„So, du kleine, widerliche Ratte. Du lässt dich also so gerne von Männern durchvögeln, dass du freiwillig in dieses Loch zurückkehren willst, ja? Dann sag ich dir jetzt mal was: Dein kleines, kuscheliges Zuhause ist bis auf die Grundmauern runtergebrannt und all deine anderen kleinen Hurenfreunde sind auf und davon in alle Winde verstreut. Auch wenn du wolltest, du könntest gar nicht zurück!“

„...auf und davon, in alle Winde verstreut...“

Ein riesiger Stein fiel Luca vom Herzen und ein glückliches Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Sie sagen, alle sind weg?“

Der Wachmann hinter ihm sagte:

„Nein, ein paar hatten wir zusammen mit dir noch hier, aber die wurden – nachdem sie die Adressen ihrer Eltern angegeben hatten – von ihren Vätern abgeholt und bis auf dich ist keiner mehr da.“

Luca drehte sich zu dem Wachmann um und sah ihn fest an.

„War ein Junge mit braunen Haaren und blauen Augen darunter?“

Der Wachmann runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.

„Hat man-... Leichen von Halbwüchsigen gefunden?“, Lucas Stimme bebte. Was wäre, wenn es so war?

Doch wieder schüttelte der Mann den Kopf und Lucas Herz begann kräftig und freudig zu klopfen.

Jamie lebt!, jauchzte Luca in Gedanken. Dann richtete er seinen Blick wieder auf den stiernackigen Polizisten vor sich.

„Sie wissen, dass Sie mich nicht ohne Gesetztesverstoß von Ihrer Seite aus hier behalten können, also steht es mir frei zu gehen. Auf Widersehen.“

Luca stand auf, erwartete von dem Wachmann aufgehalten zu werden, doch der rührte sich nicht und sah ihm nur mit gerunzelter Stirn hinterher, als Luca den Raum durchquerte und zur Tür hinausmarschierte.

Draußen empfing ihn Londons wolkenverhangener Himmel.

Kaum dass er ein paar Schritte gegangen war, setzte ein heftiger Regen ein und nur Minuten später, war Luca bis auf die Knochen durchnässt.

„Verdammt!“, fluchte er laut und stellte sich in einem Hauseingang unter.

Sein Blick glitt über die vorbeifahrenden Kutschen, deren Räder sich durch die aufgeweichten Schneemassen auf der Straße pflügten. Wohlhabende Männer rannten mit fliegenden Rockschößen an ihm vorbei. Manche hielten sich schützend eine Zeitung über den Kopf, andere zogen den Kragen ihrer Mäntel über den Kopf.

Lucas Gedanken begannen zu wandern und blieben an einem geliebten Gesicht hängen. Jamie..., dachte er und lächelte, dann fiel ihm ein, dass er keine Ahnung hatte, wie er ihn, geschweige denn irgendeinen anderen Jungen aus dem „Vouge“ in dieser riesigen Stadt wieder finden sollte. Panik und Verzweiflung schnürten ihm die Kehle zu und sein Atem beschleunigte sich.

Wo war Jamie und wie um alles in der Welt, sollte er ihn jemals wieder finden? Ohne länger auf den Regen zu achten, rannte Luca los. Die Straße, in der sich das „Vouge“ einmal befunden hatte, lag ein ganzes Stück von seinem jetzigen Stadtpunkt entfernt. Aber vielleicht waren ein paar Jungen ja zum Ort des Geschehens zurückgekehrt. Ein winziger Funke der Hoffnung flammte in Luca auf und er beschleunigte seine Schritte noch einmal.

Bevor er in die Straße einbog, die zum „Vouge“ geführt hatte, blieb Luca plötzlich stehen. Warum er angehalten war, wusste Luca selber nicht, doch seine Füße weigerten sich scheinbar, weiterzugehen. All seine Kraft zusammennehmend, zwang er seine Beine, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Dann sah er um die Hauswand und sein Blick blieb an dem geschwärzten Haus hängen. Alle Fenster waren geborsten, vom Dach war nur noch die Reste des Dachstuhls übrig geblieben. Schwarze Schmauchspuren um die Fenster herum, ließ in Lucas Kopf ein Bild von wild aus den Öffnungen hervorzüngelnden Flammen entstehen. Unwillkürlich hörte er plötzlich wieder die schreienden, durcheinander rufenden Stimmen. Wie benommen ging er auf die weit geöffneten Türen des ehemaligen Nachtclubs zu und trat hindurch.

Bei Tag wirkte der Barraum unnatürlich und fehl am Platz. Überall lagen umgestoßene Tische und Stühle, unzählige Scherben hatten die Polster der Sessel und Sofas durchschnitten, sodass die Füllung herausquoll. Langsam drehte Luca sich einmal im Kreis und hob den Kopf. Kaputte Kronleuchter hingen völlig schief von der Decke und als er den Blick wieder senkte und einen Schritt auf die geborstene Hintertür zu machte, knirschten Scherben unter seinen Füßen. Keine Flasche in den Regalen der Bar war heil geblieben und noch immer Roch es schwach nach Rauch. Luca machte einen weiteren Schritt auf die nicht mehr existierende Hintertür zu, durchschritt sie und trat langsam die leicht angebrannten Stufen der Treppe hinauf. Angst kroch seinen Rücken hinauf, Was würde er in Jamies Zimmer vorfinden? Überall in der Treppenflucht war die Tapete angekokelt und hier und dort waren sogar richtige Brandlöcher in dem feinen Stoff zu sehen. Leise knarrend öffnete er Jamies Zimmertür und blieb angewurzelt auf dem Treppenabsatz stehen. Das Feuer von unten war nicht bis hierher vorgedrungen, das zeigte die fast unbeschädigte Zimmertür, doch man hatte die zwei Gussöfen umgeworfen und so hatten die Vorhänge der Fenster Feuer gefangen und das Feuer hatte sich auch an diesem Zimmer gütlich getan. Alle Möbel waren zerbrochen worden und lagen umgekippt und zerstört herum. Die Fliesen im Bad waren zerschlagen und das Waschbecken lag in Scherben vor dem kleinen Waschtisch. Lucas Blick flog zum Bett und er sah, dass sich jemand mit einem Messer an der Matratze zuschaffen gemacht hatte. Die Kissen waren geöffnet worden und durch die geborstenen Fenster war Regen gefallen, der die lose herumliegenden Federn nass gemacht hatte. Ein Gefühl der Leere durchflutete Luca und er sank in die Knie. Tränen rannen ihm über die Wangen und er vergrub den Kopf in den Händen.

Nach endlosen Augenblicken, erhob er sich wieder, die Augen rot verweint und mit laufender Nase. Zögerlich betrat er den verwüsteten Raum und begann hier und da einige Möbel wieder aufzurichten und auf einmal fiel ihm eine kleine, zinnerne Schmuckdose auf, die unter dem zerteilten Diwan hervorschaute.

Vorsichtig griff er danach und öffnete den Deckel. Im Inneren der Dose, die mit leicht rosa Samt ausgelegt war, lag ein silbernes Medaillon, das über und über mit wunderschönen, filigran gearbeiteten Mustern bedeckt war. Neugierig klappte Luca es auf und betrachtete das Bild der Frau und des Mannes im Inneren. Es war nicht mehr viel auf dem alten Schwarzweißphoto zu sehen, doch man konnte noch erkennen, dass die Frau ausnehmend hübsch gewesen sein musste.

Andächtig strich Luca mit dem Zeigefinger über das Bild. Die Kleider verrieten, dass sie nicht sehr wohlhabend gewesen sein mussten. Luca sah genauer hin. Am Rand des Bildes war noch etwas zu erkennen. Es sah aus, wie eine Wiege. Die Frau hatte ihre Hand auf den Rand dieser Wiege gelegt, als schaukele sie sie gerade sanft hin und her.

Schwere Schritte auf der Treppe ließen Luca zusammenfahren und schnell streifte er das Medaillon über seinen Kopf und ließ den schweren Anhänger unter dem Hemd verschwinden, dann wandte er sich um und stand auf.

Ein Mann tauchte im Türrahmen auf und als er Luca bemerkte, zog er die Augenbrauen in die Höhe.

„Du solltest dich nicht in abgebrannten Häusern herumtreiben, es könnte jemand auf die Idee kommen, du würdest etwas stehlen.“

Luca senkte den Kopf und ging auf den Mann zu, doch als er an ihm vorbei und die Treppe hinunter wollte, hielt der Mann ihn zurück.

„Was hattest du hier zu suchen?“

„Ich-... jemand, den ich kann-... kenne hat hier gelebt.“

Der Mann seufzte und klopfte ihm auf den Rücken.

„Mach trotzdem lieber, dass du hier rauskommst.“

Luca nickte und stieg die knarzenden Stufen hinab. Unten angekommen, sah er sich noch einmal um, dann schritt er auf die Tür des Clubs zu und ging in die entgegengesetzte Richtung eilig die Straßen hinab. Seine Schritte hatten ihn unbewusst zum Stadtpark geführt und Luca stutze, als er vor den schmiedeeisernen Toren stehen blieb. Der Regen hatte viel von dem Schnee geschmolzen, doch Luca wusste, dass es in der Nacht frieren würde und dann wieder schneien und das Eis unter dem Schnee würde zu den all den schrecklichen Unfällen führen, die sich jedes Jahr um diese Zeit ereigneten.

Seufzend ging Luca noch ein paar Schritte, dann ließ er sich auf einer der Parkbänke nieder.

Nach und nach hörte es auf zu Regnen und schließlich kam ein Mann vorbei, blickte Luca kurz und desinteressiert an und warf seine durchnässte Zeitung in den Mülleimer neben Lucas Bank. Vorsichtig, um das nasse Papier nicht zu zerreißen, holte Luca die Zeitung wieder aus dem Müll und suchte nach dem heutigen Datum.

Dann stutzte er, schloss kurz die Augen und schaute erneut hin.

Da stand London, 31.1.1899.

Er war drei Tage in der Zelle der Polizeiwache gewesen? Drei volle Tage, ohne Bewusstsein?

Dann fiel Luca auf, dass er nichts mehr von der Erkältung spüren konnte. Hatte man ihn auf der Wache von einem Arzt untersuchen und behandeln lassen?

Er konnte es immer noch nicht fassen und versuchte daraufhin fieberhaft die Momente bevor er bewusstlos geworden war, zu rekonstruieren.

Er war alleine aufgewacht. Jamie musste schon länger fort gewesen sein, denn der Platz neben ihm war kalt gewesen. Er hatte sich angezogen und auf die Bettkante gesetzt. Die Erinnerung an die Übelkeit in seinem Magen, als er daran hatte denken müssen, dass Jamie gerade in einem der anderen Zimmer mit einem anderen Mann schlief, kam zurück und Luca holte tief Luft und verdrängte den Gedanken. Doch ein pochender Schmerz blieb bei der Erinnerung an Jamie zurück. Wo war er?

Dann waren Schreie und das Geräusch berstender Gegenstände nach oben gedrungen, erinnerte sich Luca weiter. Er war aufgestanden und wollte gerade zur Tür, als drei Männer in Uniform hereingestürmt gekommen waren, ihn gepackt hatten und ihn wegzerren wollten. Dann waren aber erneut drei dunkle gekleidete Männer hereingestürmt und hatten die Polizisten angegriffen. Luca hatte versucht, während des Kampfes unbemerkt zu entkommen, aber sein geschwächter Körper hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und schließlich hatten zur Unterstützung herbeigeeilte Polizisten die Männer zurückgedrängt und zwei der Wachmänner hatten ihn gepackt und aus dem Zimmer und die Treppe hinunter geschleift. Das Letzte, was er mitbekommen hatte war, dass sein Kopf gegen den Treppenpfeiler geschlagen war.

Luca fühlte nach einer Beule und fand sie. Ein großes Ei direkt neben seiner Schläfe. Deshalb bin ich also bewusstlos geworden, dachte er und ließ das Geschehen abermals Revue passieren. Dann keuchte er unterdrückt auf.

Was war, wenn Jamie tot war und keiner seine Leiche hatte identifizieren können? Luca schossen Tränen in die Augen. Jamie,...tot?!

Nein, Luca zwang sich, diesen Gedanken zu verwerfen. Der Polizist hatte nichts von umgekommenen Jungen gesagt.

Aber wenn Jamie vor ihm oder erst nachdem Luca weggebracht worden war da hinausgekommen war, dann wusste er seinerseits nicht, dass er – Luca – noch lebte!

Jamie musste vermuten, dass er tot war! Lucas Herz schlug rasend gegen seine Rippen. Wenn Jamie wirklich dachte, dass er tot war, dann würde er vielleicht gar nicht nach ihm suchen... . Doch wenn er Luca suchen würde, dann doch bestimmt dort, wo sie sich zuletzt gesehen hatten, oder nicht?

Eilig rappelte Luca sich hoch, und rannte auf den Ausgang des Parks zu, die Straße hinab und zurück zum „Vouge“.

Hier würde er bleiben, bis Jamie kam, um nach ihm zu suchen.

Aber was war, wenn Jamie nicht kam?

Aus der Sicht von Jamie

Die Kleider, die eine andere Bedienstete ihm hingelegt hatte, fühlten sich ungewohnt auf Jamies Haut an. Sie waren zwar von der Qualität her bestimmt genauso, wenn nicht noch besser als seine Kleider es im „Vouge“ gewesen waren, dennoch – nach so vielen Wochen, die er ausschließlich in Schlafkleidung oder Morgenmantel verbracht hatte, war es ungewohnt wieder vollständig angezogen herumzulaufen.

Leise schloss Jamie seine Zimmertür hinter sich. Der lange Flur mit dem bunt geknüpften Läufer lag vor ihm. Unsicherheit überfiel ihn und er trat zögerlich ein paar Schritte den Flur hinunter. Im Grunde hatte er keine Ahnung, wo er hin sollte, denn er war noch nicht einmal weiter gegangen, als bis zum Bad und zurück.

„Herr?“, eine bekannte Stimme rief den Flur hinunter, doch Jamie fühlte sich nicht angesprochen und schritt den Flur weiter entlang.

„Herr?“, rief es noch einmal hinter ihm und dann leiser: „Ach, verflucht, wie heißt der Kerl noch gleich...“

Jamie wandte sich um. Am Ende des Ganges stand die junge, rothaarige Bedienstete und kratze sich am Kopf.

„Meinst du mich?“

„Ach ja, Jamie!“, sagten sie gleichzeitig und das Mädchen brach in Gelächter aus.

„Ja, ich meine dich und du heißt doch Jamie, oder?“ Sie kam näher und winkte ihn dann zu sich.

„Zum Esszimmer geht es hier entlang, wenn Sie mir folgen wollen?“

Jamie kam auf sie zu und musterte ihr ausgelassenes Lächeln missmutig.

„Seit wann duzen wir uns?“

Sie grinste und schenkte ihm einen spitzbübischen Blick.

„Ich soll Sie duzen, Sir?“

Jamie knurrte entnervt von ihrer übertriebenen Fröhlichkeit und sah zu Boden.

„Hier entlang, bitte, Sir!“, rief sie ihm zu und blieb an einer Abzweigung des Flures stehen, an der Jamie schon vorbei gelaufen war.

Sie sah ihn an und er warf ihr einen ungnädigen Blick zu.

„Dort geht es zur Bibliothek, fall sie wollen, kann ich Sie nach dem Essen auch noch ein wenig herumführen.“

„Nein danke“, erwiderte Jamie und ging schweigend weiter neben ihr her.

Nach kurzer Zeit zweigte der Flur erneut ab und sie stiegen eine breite Freitreppe in eine geräumige Eingangshalle hinab. Jamie konnte nicht umhin die Schönheit und Größe des Gebäudes zu bewundern.

„Wo sind wir hier?“

Das Mädchen sah ihn plötzlich ernst von der Seite an und schüttelte bedauernd den Kopf.

„Das darf ich dir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.“

Er sah sie halb entsetzt halb zweifelnd an und blieb stehen.

„Warum denn das nicht?“, fragte er, doch sie hob nur ihre Schultern und antwortete: „Das gesamte Personal hat den Befehl bekommen, dir... gewisse Dinge nicht zu sagen, beziehungsweise, gewisse Fragen nicht zu beantworten. Vielleicht sagt Jack es dir heute Abend selber.“

Als Jamie sich von diesem Schock erholt hatte, fielen ihm die vertrauten Worte der Angestellten wieder ein.

Er verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln. „Jack?“, fragte er bedeutungsvoll und sie errötete, dann wandte sie sich ab und begann erneut, vor ihm herzugehen und Jamie musste sich beeilen, um sie nicht zu verlieren. Schließlich blieb sie vor einer hohen Doppeltür stehen und klopfte.

Von Innen erklang eine Zustimmende Antwort und das Mädchen öffnete die Tür.

„Herr? Jamie ist hier.“

Wortlos ging Jamie an ihr vorbei ins Zimmer und blieb staunend stehen. Der vor ihm liegende Raum war so groß wie die gesamte Barraum des „Vouge“ zusammengerechnet und an zwei der vier hohen, mit reichlich Stuck verzierten Wänden befanden sich riesige Kamine in denen das Feuer munter prasselte.

Der gelackte Dielenboden verschwand fast zur Gänze unter teuren Teppichen und um den Kamin auf der ihm gegenüberliegenden Seite herum, standen Sessel und Sofas. Rechts von ihm waren bis zur Decke reichende Fenster in die Wand eingelassen und eins davon war geöffnet, sodass man auf die angrenzende Terrasse hinaustreten konnte.

Zu Jamies Linken war ein Teil des Bodens nicht von Teppichen bedeckt und dort stand ein großer Flügel, dahinter und mehr in der hinteren linken Ecke des Raumes stand ein langer jedoch ziemlich schmaler Tisch um den etwa zwölf Stühle standen. Schwere Kronleuchter hingen von der Decke und die Wand links und rechts von dem Kamin, der sich zu seiner Rechten befand standen deckenhohe Regale voller Bücher, einige so hoch oben, dass man eine zu diesem Zweck gebaute Leiter erklimmen musste, um sie erreichen zu können.

„Jamie!“, Jacks freudiger Ausruf lenkte Jamies Aufmerksamkeit auf den attraktiven, jungen Mann, der nun mit ausladenden Schritten auf ihn zu kam.

In den Monaten, die er hier nun schon verbracht hatte, war Jack nur ein paar Mal in sein Zimmer gekommen, um sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Jedenfalls hatte er das versucht.

Jamie verstand noch immer nicht ganz, wie die Dinge zusammenhingen, die bewirkt hatten, dass er und Ethan nun hier waren. Vielleicht würde er das beim Essen erfahren.

Jack hatte ihn nun erreicht, schloss die Tür hinter ihm und zog ihn an der Schulter weiter in den Raum hinein.

„Schön das du hergekommen bist, die anderen beiden freuen sich bestimmt, dich zu sehen.“ Jamie wandte sich um und sah, Ethan und Steve nebeneinander an dem Geländer der Terrasse lehnen und auf den Garten hinab sahen.

Sein schlechtes Gewissen meldete sich und Jamie fragte sich, ob Jack wusste, was er Ethan vorhin bei ihrem Streit an den Kopf geworfen hatte.

Da drehte Ethan sich um und ein breites Grinsen erhellte seine Züge.

„Jamie!“, rief er und winkte ihm stürmisch. Erstaunt darüber, dass Ethan ihm so freundlich begegnete nachdem er ihn so angemacht hatte, runzelte er die Stirn und Jack, der ihn wahrscheinlich beobachtet hatte, begann zu lachen.

„Jamie,“, Jamie bekam eine Gänsehaut, als er hörte, wie liebevoll Jack seinen Namen aussprach und unwillkürlich versteifte er sich, „Ethan wird dir nicht den Kopf abreißen. Er kann dich verstehen und weiß, dass das was du gerade durchmachst unglaublich schwer und schmerzhaft für dich ist.“

Unentschlossen machte er einen Schritt auf die Terrassentür zu, gab sich dann einen Ruck und durchquerte das Wohnzimmer bis er über die Schwelle trat und die Aussicht auf den Garten, der vor ihm lag, ihn überwältigte. Soetwas Buntes und Schönes und Anmutiges hatte in London noch nie gesehen. Überall waren Blumen; sie wuchsen an den Rändern heller Kieswege, wucherten als riesige Rosenbüsche oder waren zu Mustern angelegt worden.

„Mund zu, Jamie“, neckte Ethan ihn und Jamie, der sich dessen gar nicht bewusst gewesen war, schloss errötend den Mund.

Ethan und Steve hatten sich zu ihm und Jack, der hinter ihm aus der Tür getreten war, umgedreht und jetzt kam der Schwarzhaarige auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen.

„Ich-...Ethan, es tut mir leid.“

Doch Ethan lachte nur, boxte ihm gegen die Schulter und zog ihn dann ihn eine feste Umarmung.

„Schön dich wieder unter den Lebenden zu sehen“, flüsterte er und klopfte ihm auf den Rücken. Dann ließ er ihn los und ging auf Steve zu, der ihn zu sich zog und kurz küsste.

Jamies Blick wanderte wieder zu den bunten Blumenbeeten des Gartens und in Gedanken versunken, und die warme Sonne auf seinem Gesicht genießend, stand er da und schreckte fast zusammen, als Jack sie plötzlich von drinnen zum Essen rief.
 

Der Tisch war reichlich gedeckt. Viel zu reichlich, wenn man daran dachte, dass nur vier Personen daran essen würden.

Jack hatte sich an das rechte Kopfenden des Tisches gesetzt, Steve und Ethan sich auf die zwei Stühle, die an der Breitseite gleich daneben standen und für Jamie war der Platz gegenüber von Ethan gedeckt worden.

Während sie auf den ersten Gang warteten, besah sich Jamie ungläubig all die Dinge, mit denen der Tisch geschmückt worden war. Zwei riesige Blumensträuße zwischen Schalen mit exotischem Obst, das Jamie noch nie gesehen hatte hier und da Kerzen in Silberständern zwischen den Schalen und auch das Gedeck, das Jamie vor sich hatte war überaus vielteilig.

Unsicher betrachtete er die drei Gabeln auf der linken und die drei Messer auf der rechten Seite des Tellers. Neben dem Teller standen noch drei verschiedene Arten von Gläsern und dazu noch einmal drei Löffel in unterschiedlichen Größe und Formen, wie all sein Besteck.

Jamie blickte auf, denn es war merkwürdig still geworden. Alle drei Tischgefährten sahen ihn breit grinsend an. Dann lachten sie wie auf Kommando los.

„Iss einfach mit dem Besteck, das dir gerade am besten passt“, lachte Steve und zwinkerte ihm zu. Ethan nickte zustimmend.

„Was meinst du, was ich für ein blödes Gesicht gemacht habe, als ich diesen ganzen Pomp das erste Mal gesehen hab!“

Jamie nickte und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über das teure Silberbesteck. Dann warf er Jack einen unauffälligen Blick zu.

Das der Offizier so reich war, hatte er nicht gedacht. Zwar war ihm das Haus schon vorher unverhältnismäßig groß und luxuriös vorgekommen, aber dass es wirklich im ganzen Haus so war... . Die Wände in seinem Schlafzimmer waren mit Seidentapeten bezogen und überall an den hohen Fenstern hingen Samtvorhänge, die Möbel waren aus teurem Holz. Jamie musste ein Schaudern unterdrücken. Warum tat dieser Jack das alles für sie? Nur weil er mit Steve und Jamie mit Ethan befreundet war?

Warum nahm ein außergewöhnlich reicher, junger Marineoffizier zwei Bordelljungen bei sich auf und verlangte nichts im Gegenzug?

Wieder schaute er Jack, der sich lachend und scherzend mit den anderen beiden unterhielt, an und fragte sich, ob Jack vielleicht nur mit seiner Gegenforderung gewartet hatte, bis Jamie wieder auf den Beinen war. Vielleicht würde er heute Nacht vor seiner Zimmertür stehen und erwarten, dass er sich für all das hier revangierte!

„Ethan?“ Der Angesprochene verstummte und wandte sich zu ihm um.

„Ja?“

„Können wir mal eben ungestört reden?“ Ethan zog die Augenbrauen hoch und sah ihn kritisch an.

„Gleich kommt der erste Gang, kann das nicht bis nach dem Essen warten?“ Es klang nicht böse, sondern einfach in der Hinsicht bedauernd, dass die anderen beiden alleine anfangen müssten.

„Bitte“, murmelte Jamie und schaute schnell zu Steve und Jack hinüber, die sich schon wieder ungetrübt unterhielten.

Ethan nickte und stand auf. Jack sah fragend von Jamie zu Ethan, dann lächelte er Jamie an und wandte sich wieder Steve zu.

Jamie folgte Ethan auf die Terrasse und beobachtete, wie sein Freund (er war sich nicht sicher, ob er Ethan nach allem was passiert war, noch so nennen durfte), wie er erst mit geschlossenen Augen tief einatmete und ihn dann lächelnd anschaute.

„Es ist wunderschön hier, nicht?“

Jamie nickte eindringlich und trat einen Schritt auf Ethan zu.

„Das ist es ja gerade! Es ist zu schön!“

Ethan sah ihn irritiert an.

„Ethan, das Haus ist ein halbes Schloss, ich hab die letzten Monate in Samt und Seide geschlafen und wir speisen wie Könige! Das kann dieser Jack uns doch nicht alles geben, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten, oder?“

Ethans irritierte Miene war während Jamie gesprochen hatte immer mehr zu einem breiten Grinsen geworden und Jamie sah ihn nun seinerseits irritiert an.

„Jamie, das Haus mag groß sein, aber ein Schloss ist es nicht. Du hast doch bis jetzt nur ein Bruchteil davon gesehen. Dass du in Samt und Seide schläfst, dürfte für dich kaum etwas Neues sein und obwohl auch ich nicht weiß, warum Jack das alles für uns tut, tut er es ohne jegliche Erwartungen uns gegenüber und glaub mir, das wird er ganz sicher nie als Gegenleistung fordern.“

Jamie musterte Ethan noch eine Weile, dann nickte er langsam.

„Werde ich-... ich meine, wann erklärt mir hier mal einer, was vor drei Monaten eigentlich passiert ist?“

Seufzend wandte Ethan sich wieder dem Garten zu und stützte seine Unterarme auf das marmorne Geländer der Terrasse. Kurze Zeit verharrte er dort so, dann richtete er sich auf und strich Jamie über die Wange.

„Ich glaube die anderen beiden erwarten von mir, dass ich es dir erkläre. Also“, Ethan zuckte linkisch die Schultern und grinste ihn an, „werde ich mich wohl oder übel in mein Schicksal fügen und es dir erklären. Aber nicht jetzt“, fügte er hinzu, als er Jamies erwartungsvolles Gesicht sah.

„Ich komme heute Abend zu dir und dann können wir ungestört reden, meinetwegen auch die ganze Nacht.“

Jamie schämte sich immer mehr, je länger er wieder mit Ethan zusammen war. Ethan war so-... so normal zu ihm und eigentlich hätte er nach den vergangenen Wochen allen Grund dazu, nicht so zu ihm zu sein.

Wahrscheinlich hatte Ethan gut aus seiner Miene lesen können, denn er kam auf ihn zu und nahm ihn in den Arm.

„Jamie, ich weiß ganz genau, wie sich das anfühlt, das du da gerade durchmachst. Ich habe dir dein Verhalten in keinem Maße übel genommen, sondern ich bin einfach froh, dass du so weit bist, zu akzeptieren, was geschehen ist. Ich bin froh, dich wieder als Freund zu haben.“

Jamie schluckte und erwiderte die Umarmung, dann trat er einen Schritt zurück und atmete bewusst tief ein und aus.

„Ethan?“

Ethan sah ihn an und grinste. „Ja?“

„Ich glaube, wir sollten die anderen beiden nicht länger warten lassen.“

Aus der Sicht von Luca

Luca zitterte und bibberte am ganzen Körper. Seine ungeschützten Hände waren rissig und rot und auch der Rest seines Körpers war voller Spuren der letzten vier Nächte, die er nun schon in der eisig kalten und zugigen Ruine des „Vouge“ verbracht hatte. Der Hunger nagte an ihm ebenso sehr wie die Kälte und schon zweimal hatte er sich notgedrungen an der langen Schlange der Armenspeisung ein paar Straßen weiter angestellt. Doch so konnte es nicht weiter gehen. Wenn er in den nächsten paar Tagen nicht ein richtiges Dach überm Kopf und etwas Vernünftiges zu Essen bekam, dann würde er eines Morgens erfroren oder verhungert aus einem Hauseingang geschleppt werden. Und sterben wollte Luca nicht. Noch nicht, jedenfalls.

Jamie war nicht gekommen. Nicht am ersten Tag, den er gewartet hatte, nicht am zweiten und nicht am dritten. Hoffnungslosigkeit begann sich ihren Weg in sein Herz zu bahnen und Luca wusste, dass er nicht viel mehr länger warten würde können. Er musste etwas Essen und er musste endlich raus aus der eisigen Kälte der endlos scheinenden Nächte.

Warum kam Jamie nicht? Luca hatte sich in den letzten Tagen den Kopf darüber zerbrochen, warum um alles in der Welt Jamie nicht auftauchte, geschweige denn nach ihm suchte. War er vielleicht doch nicht aus dem brennenden „Vouge“ entkommen?

Luca zwang sich, nicht an diese eventuelle Wendung zu denken und erhob sich vorsichtig von seinem provisorischen Lager. Er hatte es in Jamies Zimmer nicht lange ausgehalten, also hatte er sich eines der anderen, weitgehend erhaltenen Zimmer ausgesucht und dort geschlafen. Doch durch die zerbrochenen Scheiben kam ein eiskalter Wind und manchmal warfen betrunkene Penner ihre leeren Flaschen durch die Fenster. Feuer machen konnte er keins, denn der Rauch hätte die Polizei alarmiert und sie hätten ihn erneut auf die Wache geschleppt und jetzt wäre er wegen Hausfriedensbruch eingekerkert worden. Die Ruine gehörte schließlich immer noch diesem Viktor.

Langsam, denn ihm taten alle Glieder schrecklich weh, schleppte Luca sich durch die Tür und in den Barraum. Es sah hier nicht mehr allzu verwüstet aus, denn die vielen Obdachlosen Menschen der Umgebung hatten alles noch halbwegs brauchbare hervorgekramt und mitgenommen. Als er durch den Barraum auf die Tür zuging, die auf die Straße führte, fasste Luca den Entschluss nach Hause zu gehen.
 

Die große, dunkle Tür nahm Luca allen Mut, den er noch gehabt hatte. Wie würden seine Eltern reagieren, wenn er wieder bei ihnen auftauchte? Jamie war nicht mehr da, also waren all ihre Gründe, aufgrund derer sie ihn rausgeschmissen hatten, nicht mehr existent. Und dass er Jamie nach wie vor liebte, konnten sie ihm nicht nachweisen.

Zögernd hob er seine Hand an das Holz und klopfte leise. Nachdem er drei Mal geklopft hatte, brannte ein ungeheurer Schmerz in seinen Fingerknöcheln und er wollte sich gerade umdrehen und wieder gehen, da wurde die Tür geöffnet.

„Luca?“

Seine Mutter starrte ihn unverwandt an.

„Mutter“, murmelte Luca und er spürte, wie Tränen in seinen Augenwinkeln brannten.

„Luca, was tust du hier? Wie-... was ist passiert?“ Sie öffnete die Tür etwas weiter und bedeutete ihrem Sohn hereinzukommen.

Schweigend streifte Luca sich die Schuhe von den Füßen und zog die Jacke aus. Seine Mutter starrte ihn immer noch an, nahm ihm aber beides ab und ging in die Küche, um die Kleidungsstücke zum trocknen neben den Ofen zu hängen.

„Magst du... etwas essen? Oder trinken?“

Luca nickte stumm. Dann setzte er sich auf einen der drei Küchenstühle und blickte auf die eingekerbte Tischplatte. Es dauerte ein paar Augenblicke, dann stand ein dampfender Becker Kräutertee und ein Teller mit einer belegten Brotscheibe vor ihm.

„Danke“, sagte Luca leise und biss von dem Brot ab. Seine Mutter setzte sich ihm gegenüber und sah ihm beim Essen zu. Schließlich brach sie das fortwährende Schweigen.

„Wo ist der Junge?“

Luca schluckte und schloss kurz die Augen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er ihr dann wahrheitsgemäß und wartete auf eine abwertende Feststellung von Seiten seiner Mutter, doch die blieb aus.

Unsicher blickte Luca auf und sah eine steile Sorgenfalte auf ihrer Stirn und in ihren Augen stand das, was sie eben nicht ausgesprochen hatte.

„Ich habe dir gleich gesagt, dass er dich nicht liebt... .“

Luca musterte seine Mutter und bemerkte, dass sie sich verändert hatte. Ihr Gesicht war weicher und auch ihre Augen waren nicht mehr stumpf, sondern leuchteten verhalten. Ihr blondes, zum Knoten gestecktes Haar war nicht mehr glanzlos, sondern hier und dort hatten sich Strähnen gelöst und umgaben glänzend und in federnden Locken ihr Gesicht. Auch der Zug um ihren Mund, sonst so streng und bitter, hatte sich gelöst.

„Wo ist Vater?“, fragte Luca als es ihm plötzlich auffiel und sofort wurde der Blick seiner Mutter wieder hart.

„Arbeiten.“

„So spät noch?“

Seine Mutter zuckte die Achseln und betreten aß Luca sein Brot auf.

Nachdem er aufgegessen hatte, breitete sich eine unangenehme Stille aus.

„Wo warst du die letzten Tage?“, fragte seine Mutter Luca plötzlich und ihm fiel auf, dass sie ihre Hand fest um ihre eigene Teetasse geklammert hatte, denn ihre Fingerknöchel traten weiß hervor.

„Bei Jamie“, erwiderte Luca leise.

„Das Haus nebenan ist abgebrannt, also wo warst du?“

In der Stimme seiner Mutter schwang ein leicht panischer Unterton mit und Luca begriff.

„Bevor das „Vouge“ abgebrannt ist bei Jamie, dann fast drei Tage in einer Zelle der Polizei und schließlich vier Tage in der Ruine des Nachtclubs, weil ich gehofft hatte, dass Jamie kommt und mich sucht.“

Ein entsetzter Ausdruck lag auf den ihren Zügen und ihr Mund war ein fahlweißer Strich. Ihre Stimme bebte, also sie wiederholte, was er gesagt hatte.

„Bei der Polizei?“

Luca nickte.

„Du hast vier Nächte in einer Ruine verbracht?“ Wieder nickte Luca.

„Dann hast du Glück gehabt, dass du noch lebst. Und das nur, weil du geglaubt hast, dass dieser Bengel dich suchen würde?“

„Nein Mutter, ich habe es nicht geglaubt, ich glaube es und er wird mich finden!“

Seine Mutter stieß geräuschvoll die Luft aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Plötzliches, lautes Poltern ließ beide zusammenzucken.

Seine Mutter sprang auf und riss Luca hoch, ein ängstlicher Ausdruck lag in ihren Augen.

„Dein Vater kommt zurück, er darf dich nicht sehen, sonst prügelt er dich tot!“

Luca sah sie entsetzt an, dann ließ er sich widerstandslos in sein altes Zimmer bugsieren.

„Du bleibst hier und verhältst dich bis morgen früh mucksmäuschenstill, verstanden?“

Luca nickte und zuckte nur kurz zusammen, als sie seine Zimmertür zuwarf und abschloss. Mit geschlossenen Augen lauschte er ihren sich entfernenden Schritten hinterher und erst als er die betrunken umhergrölende Stimme seines Vaters hörte, gestattete er sich, leise aufzuschluchzen.

Dann zog er die Knie an die Brust, schlang seine Arme darum und ließ seinen tagelang angestauten Tränen freien Lauf.

Aus der Sicht von Jamie

Jamie saß auf seinem Bett. Jemand hatte es während seiner Abwesenheit gemacht und dennoch sah es schon fast wieder so zerwühlt aus, wie vor ein paar Stunden noch. Bis auf eine kleine Nachttischlampe war kein Licht im Zimmer an und die schummrige Stimmung machte ihn müde. Jamie unterdrückte ein Gähnen.

Das Abendessen mit den anderen war schön gewesen und so ungezwungen und freundlich wie Steve und Jack sich ihm gegenüber benommen hatten, war auch seine Anspannung langsam einem widerwilligen Glücksgefühl gewichen.

Ein leises Klopfen an der Tür schreckte ihn aus seinen Erinnerungen hoch und als er „Herein!", gerufen hatte, schlüpfte ein grinsender Ethan durch die Tür und huschte auf das Bett zu. Wohlig seufzend warf er sich auf die Decke und schloss die Augen.

„Ich bin so satt, das glaubst du gar nicht!"

Jamie sah den entspannt schmatzenden Schwarzhaarigen zufrieden an und fühlte dem eigenen Sattheitsgefühl hinterher.

„Bei diesen Massen an Essen, frage ich mich, wie du es geschafft hast, nicht rund und fett zu werden", bemerkte Jamie trocken und fing sich daraufhin einen Knuff von Ethan ein.

Sich aufsetzend grinste Ethan ihn an und antwortete lachend: „Es gibt ja nicht jeden Abend so ein Festmahl. Nur heute Abend war eben ein besonderer Anlass."

Jamie runzelte die Stirn. „Ein besonderer Anlass?"

Ethan schnaubte und schüttelte den Kopf. „Natürlich, du hast dich das erste Mal seit Monaten aus deinem Zimmer gewagt, das ist in Jacks Augen ein besonderer Anlass."

Jamie verzog unwillig seine Mundwinkel und Ethan lachte.

Schweigen legte sich über sie und Jamie sah aus dem Fenster.

„Also", Jamie räusperte sich und sah Ethan auffordernd an, „dann fang mal an zu erklären, ich bin gespannt."

Ein Schatten huschte über Ethans Augen und er stand auf und ging zu einem der Fenster. Zuerst sah er eine Weile hinaus, dann öffnete er es und atmete tief die angenehm kühle Nachtluft ein.

Jamie sah ihm dabei zu und wartete. Er wusste nicht genau, ob er wirklich wissen wollte, was in dieser einen Nacht passiert war, denn irgendetwas war augenscheinlich schief gegangen und Jamie wusste, dass falls Ethan etwas damit zu tun hatte, er nicht umhin kommen würde, ihn für Lucas eventuellen Tod verantwortlich zu machen.

Schließlich schloss Ethan das Fenster wieder, seufzte und setzte sich gegenüber auf das Bett.

„Weißt du noch den Tag, als Steve, Jack und Derrick bei uns Im Club aufgetaucht sind?"

Jamie nickte.

„Steve und ich...", Ethan errötete ein kleines Bisschen, „haben diese Nacht-... haben uns da kennen gelernt. Und naja, wir haben uns danach noch ein paar Mal auf diese Art getroffen und er hat mich irgendwann gefragt, ob ich nicht raus will. Raus aus diesem elenden Leben."

Ethan sah ihn an und Jamie nickte erneut und schaute stumm auf die Bettdecke hinab.

„Und du hast Ja gesagt, oder?"

Nun war es an Ethan zu nicken und er sah ihn nervös und gleichzeitig auch leicht furchtsam an.

Jamie musterte die Miene seines Freundes und dachte über die Bedeutung des eben gehörten nach.

„Das heißt, hättest du abgelehnt, wäre das alles nicht passiert?"

„Ja", antwortete Ethan leise und sah ihn an.

Ein wohlbekannter Schmerz stieg in Jamies Brust auf und er presste die Lippen zusammen. Gegen aufkommende Tränen ankämpfend ballte er die Fäuste ins Laken und schluckte mehrmals.

„Weiter, ich will wissen, wie es weitergegangen ist."

Und Ethan begann zu erzählen.

„Nachdem ich Ja gesagt hatte, begann Steve immer öfter von dieser Möglichkeit zu sprechen und aus meinem Traum wurde mehr und mehr Realität. Ich wusste, dass du eigentlich auch weg wolltest, du aber nicht freiwillig gehen würdest. Das „Vouge" war deine Heimat und die Jungs da deine Familie. Doch als Steve mir vorschlug, mich als einzigen da rauszuholen, habe ich ihm klargemacht, dass ich ohne dich nicht gehen würde. Er hat daraufhin Jack mit in den Plan eingeweiht und der hat uns angeboten mich und dich, Luca und wenn nötig auch Steve bei sich aufzunehmen."

Ethan fuhr sich kurz durch die Haare und sprach dann weiter.

„Weißt du, Jack hat einen ziemlich einflussreichen Vater und der hat ziemlich viele Freunde deren Söhne alle bei ihm arbeiten. Nun ja, sie waren bereit gegen eine kleine Entlohnung ein bisschen Radau im „Vouge" zu veranstalten, sodass Steve uns unbemerkt da rausholen können würde... ."

Jamie gab einen bitteren Laut von sich und Ethan sah auf.

Ein bisschen? Dann ist etwas in eurem tollen Plan wohl gänzlich schief gegangen."

Ethan biss sich auf die Lippe und nickte. „Unter den Männern, die Jack in den Plan eingeweiht hatte, war wohl ein Verräter. Der hat die Polizei benachrichtigt, dass ein paar Minderjährige im „Vouge" arbeiten und dass dort wohl am 28. Januar ein Überfall geplant wäre."

In Jamies Kopf fügten sich alle Teile nun zu einem Großen Ganzen zusammen und er verstand, was in dieser einen, unglückseigen Nacht passiert war.

Wie benommen stand er auf und ging zu einem der Fenster hinüber, legte seine Hand an die Scheibe und starrte sein eigenes Spiegelbild an. Dann begann er leise zu sprechen.

„Die vermummten Männer waren Jacks Gefolgsleute und die in Uniform die Polizisten." Es war eine Feststellung keine Frage. „Die Polizisten haben alles angezündet, damit wir nicht raus und entkommen können?" Er wandte sich zu Ethan um, der mit hängenden Schultern auf dem Bett saß und ihn traurig ansah.

„Nein, das waren die Männer in Jacks Mannschaft, die sich gegen ihn gewandt haben. Sie haben einfach verrückt gespielt, haben alles kurz und klein geschlagen und sind dann abgehauen. Das Feuer war nicht geplant."

Jamie holte tief Luft und nickte den Tränen nah. Ethan stand auf, kam auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. Jamie schluchzte auf und versuchte die Bilder, die schon wieder vor seinem Inneren Auge aufblitzten zu verdrängen. Dann löste er sich aus der Umarmung und schaute wieder in die dunkle Nacht hinaus.

„Und dann? Dann haben die Polizisten die Zimmer gestürmt und sich die Jungen gegriffen?"

Ethan schüttelte den Kopf. „Nein, nach Jacks Informationen sind nur einige wenige geschnappt worden. Aber die, die sie bekommen haben wurden alle abgeholt."

Auf Jamies fragenden Blick hin, fügte er hinzu: „Von Viktors Gefolgsleuten natürlich."

Jamie nickte. Jeder von ihnen hatte bei seiner Ankunft im „Vouge" einen Namen, eine Geschichte und eine Adresse eingebläut bekommen, die sie bei einer eventuellen Festnahme angeben sollten.

Er wusste, dass er sich nur unnötigen Schmerz einhandelte, wenn sich die Hoffnung als falsch erweisen würde, doch er musste es wissen.

„Das heißt-... Luca könnte noch leben?"

Ethan schüttelte den Kopf. „Jamie, es ist Winter und auch wenn er aus dem „Vouge" hat fliehen können, er hätte kein Dach überm Kopf und nichts zu Essen gehabt. Er wäre erfroren, bevor er hätte verhungern können."

Jamies Beine knickten ein und hätte Ethan ihn nicht gepackt, dann wäre er ohnmächtig geworden.

Tränen hatte Jamie keine mehr, nur noch diese unaufhaltsame Leere in seiner Brust, die ihn schier zu zerreißen schien.

Wie oft hatte er in den Nächten wach gelegen und sich vorgestellt, Luca hätte überlebt und würde irgendwo in London nach ihm suchen. Träume in denen Luca nach ihm rief und ihm sagte, dass er es noch rechtzeitig geschafft hatte, hatten ihn ebenso häufig heimgesucht, wie die Wahnvorstellung von Lucas brennendem Körper, der leblos und zwischen zerbrochenen Möbeln eingeklemmt dalag.

Luca war tot. Musste tot sein. Konnte nicht überlebt haben. ...war tot.

Jamie spürte den weichen Teppich unter sich und Ethans Arme, die ihn aufrecht hielten.

Seine Augen irrten umher und blieben an dem schwachen Schein der Nachttischlampe hängen.

Lange Zeit, und Jamie wusste später nicht mehr wie lange, saß er dann einfach nur noch da und starrte ins Leere.

Aus der Sicht von Luca

„Luca!" Irgendetwas rüttelte an Lucas Schulter und er wachte auf.

„Luca! Wach auf!", jetzt erkannte er die Stimme seiner Mutter.

„Mum?"

„Ja, ich bin's, wach endlich auf."

Schläfrig richtete Luca sich auf und blinzelte zu seiner Mutter hoch. Dann schwang er die Beine über den Bettrand und streckte sich.

„Was ist denn?"

„Dein Vater ist jetzt weg. Mister Tribbles hat dir fristlos gekündigt, weil du die letzten Tage nicht erschienen bist!"

Die Stimme seiner Mutter war immer lauter geworden und Luca spürte, wie sich Trotz in ihm regte.

„Hättet ihr mich nicht wegen-... wegen meiner Liebe zu Jamie rausgeschmissen, wäre das alles nicht passiert!", ereiferte er sich und stand auf.

„Du hättest dich ja nie in diesen Bengel verlieben müssen!"

Entsetzt wandte Luca sich zu seiner, mit in die Hüfte gestemmten Händen dastehenden Mutter um und funkelte sie an.

„Meinst du, ich habe es darauf angelegt, mich in Jamie zu verlieben?"

„Also bereust du es?"

Luca stöhnte auf und vergrub den Kopf in seinen Händen. „Nein! Natürlich nicht! Und ich werde es nie tun. Er wird mich finden."

Seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll und zweifelnd an, dann fasste sie sich an den kleinen, schlüsselförmigen Anhänger um ihren Hals und murmelte: „Hoffentlich bevor dein Vater dich findet und jetzt komm essen."
 

Das Rührei war kalt und die Brotscheibe mit Butter war hart, und dennoch schmeckte beides für Luca wie ein königliches Mahl.

„Du wirst dich nach einer neuen Arbeit umsehen müssen."

Luca nickte und biss von dem Brot ab.

Seit fast zwei Jahren war er bei Mister Tribbles in der Lehre gewesen. Alles umsonst. Bilder aus dieser Zeit stiegen in ihm auf und ihm schoss heiß die Röte ins Gesicht und er senkte schnell den Kopf, damit seine Mutter das nicht sehen konnte.

..."Jamie, nicht! Wenn Mister Tribbles uns hier erwischt!"

„Luca... der ist zum anderen Ende der Stadt unterwegs, er wird hier nicht reinplatzen. Komm schon!"

„Und wenn Kunden kommen?"

„Wir drehen eben das Schild an der Tür um."

„Jamie, das können wir nicht machen-...AH! ... Jamie!... ni-..."

Luca erschauerte und dachte an das, was danach passiert war. Er erinnerte sich gut daran, wie unnachgiebig Jamie ihn genommen hatte und ihn so fast wahnsinnig gemacht hatte.

Eigentlich hatte Jamie nur seinen Wintermantel abholen wollen, doch dann hatte er bemerkt, dass Luca allein in der Schneiderei gewesen war und das sofort ausgenutzt.

Ein leises Grinsen flog über Lucas Lippen, dann aß er den Rest seines Frühstücks, nahm den Teller und den Becher und wusch beides ab.

Seine Mutter hatte stillschweigend neben ihm gesessen, ihn beobachtet und malte nun abwesend mit den Fingerkuppen kleine Ringe auf die Tischplatte.

Luca fiel auf, dass sie einen Ring trug.

„Hat Vater dir den Ring geschenkt?" Es klang in seinen Ohren so abwegig, dass er eigentlich selbst nicht glaubte, dass es so sein könnte.

Doch seine Mutter nickte.

„Wo hat er denn das Geld her?" Ein komisches Gefühl befiehl ihn und er fragte sich, ob sein Vater ihn vielleicht nicht rechtmäßig erworben hatte.

Überrascht und mit einem fast ängstlichen Blick in den Augen, sah seine Mutter zu ihm hoch und kniff die Lippen fest zusammen. Dann stand sie auf und strich sich den Rock ihres blauen Kleides glatt.

„Luca, ich muss jetzt in die Stadt gehen."

„Warum?" Ein plötzlicher brennender Schmerz in seiner Wange, ließ Luca erschrocken die Augen aufreißen. Seine Mutter hatte ihm eine Ohrfeige gegeben. Noch mit erhobener Hand stand sie vor ihm und ihr ungehaltener Blick verwirrte ihn.

„Fang du jetzt nicht auch noch an, mich zu kontrollieren! Ich bin dir keinerlei Rechtfertigung schuldig!", mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ die Wohnung.

Wie benommen stand Luca in der Küche, hielt sich seine heiße Wange und versuchte das Verhalten seiner ehemals so sanften und liebevollen, geduldigen Mutter zu verstehen. Was war in den Tagen seiner Abwesenheit geschehen?

Seufzend ließ er sich zurück auf seinen Küchenstuhl sinken und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.

„Jamie..."

Ein unleugbares Ziehen in seiner Brust ließ ihn zitternd Luftholen und seine Augen waren schon wieder kurz davor, überzulaufen.

„Verdammt! Luca, hör auf rumzuheulen!", schalt er sich selbst und blinzelte kräftig.

Das macht nichts besser, dachte er und stand auf.

Er musste sich wirklich eine neue Lehrstelle suchen. Andererseits würde er wieder auf der Straße landen, denn dass sein Vater ihn finden würde, davon ging er aus. Wenn nicht früher, dann später auf jeden Fall. So sehr hatte ihn der Alkohol dann doch noch nicht kaputt gemacht. Vielleicht blieben ihm gerade einmal noch zwei, drei Tage, bis er ihm auf die Schliche kam. Dann wäre er wieder ohne Dach überm Kopf und Essen, und wenn es schon keine Lehrstelle war, dann vielleicht eine Aushilfsarbeit.

Sein Mantel lag noch oben in seiner Kammer und so durchquerte er den Flur und stieg die knarrende Treppe hinauf.

So lange hatte er diesen Ort sein Zuhause genannt; er war es nicht mehr. Irgendetwas hatte sich geändert. Das Gefühl von Geborgenheit und Schutz existierte nicht mehr. Stattdessen fühlte er sich fremd, wie ein Gast. Seine Füße fanden den Weg über die Holzstufen, ohne auch nur den geringsten Laut zu machen. Sein Körper erinnerte sich noch an diese Wohnung, doch seine Erinnerungen waren seltsam grau geworden. Hatte das Bild schon immer dort gehangen? Luca strich mit den Fingerkuppen über das Glas und den schmucklosen Rahmen. Das Bild zeigte einen englischen Hafen am frühen Morgen. Triste, farblose Nebenschleier verhüllten das Wasser und schluckten die Schatten der bauchigen Schiffe. Hatte Ethan nicht einmal erzählt, dass er gerne zur See fahren würde? Sahen so die Marineschiffe aus?

Luca stellte sich vor, dass Ethan vielleicht schon jetzt auf so einem Schiff war und einer neuen, besseren Zukunft entgegensegelte. Und Jamie? Wo war Jamie?

Luca stieg die letzten Stufen hoch und sah sich um. Die kleine Diele und die zwei Türen zu seinem und dem Schlafzimmer seiner Eltern. Der klobige Sekretär neben dem Fenster zur Straße hinaus. Das andere Fenster zu seiner Rechten zeigte die geschwärzten Backsteinmauern des „Vouge".

Gedankenverloren ging Luca zu dem Sekretär und ließ seinen Blick über die Papierbögen und die fein säuberlich in einen Behälter gestellten Bleistifte gleiten. Ein paar lose Knöpfe lagen auf der Schreibfläche und Luca sammelte sie auf und betrachtete ihre Prägungen. Ein lautes Knacken ließ ihn zusammenzucken und er fuhr herum. Die Knöpfe sprangen über den Boden davon. War sein Vater etwa früher als gewöhnlich nach Hause gekommen?

Luca blieb bewegungslos stehen und lauschte. Nein. Keine Schritte. Es war wohl bloß eine durch die Kälte gesprungene Dachpfanne gewesen, die heruntergefallen war und nun zerborsten auf dem Spitzboden lag.

„Mist!", murmelte Luca und ließ sich auf alle Viere sinken, um die Knöpfe aufzusammeln. Ein Knopf war unter den Sekretär gerollt und Luca schob seine Hand unter die Schubladen. Seine Fingerspitzen stießen gegen den Knopf und er zog ihn hinaus. Als er sich gerade wieder aufrichten wollte, fiel ihm ein kleines Schlüsselloch auf der Unterseite des Schreibtisches auf und die Frage nach der Bedeutung dieser augenscheinlich geheimen oder privaten Schublade schoss ihm in den Kopf.

Er hatte bis zum heutigen Tage weder seine Mutter noch seinen Vater beim Verstauen von Dingen in diesem Fach beobachtet und mehr noch, er hatte nicht einmal von der Existenz dieser Schublade gewusst. Und das, obwohl er schon etliche Stunden hier verbracht hatte und Muster für Kleidungsstücke gefertigt hatte.

Plötzlich fiel ihm der Anhänger ein, den seine Mutter um den Hals trug. Sie trug ihn schon ein paar Monate, wenn nicht mindestens ein halbes Jahr und Luca hatte sich noch nie Gedanken um dessen Bedeutung gemacht. Für ihn war es einfach ein Schmuckstück seiner Mutter gewesen, wie jedes andere. Neugier stieg prickelnd in ihm hoch und obwohl er sich gleich dafür schämte, wollte er wissen, was in dieser Schublade war.
 

Luca saß nervös auf der Kante seines Bettes und schaute – wie ungefähr alle drei Sekunden – in die kleine Diele. Dort unter der Platte des Schreibtisches war eine geheime Schublade und seit mindestens einer Stunde saß er nun hier und haderte mit sich und seinem Gewissen, ob er es wagen sollte, dieses Fach zu öffnen. Zwar hatte seine Mutter den Schlüssel, doch aus den vielen Spielen seiner Kindheit wusste er, wie man mit einer Haarnadel Schlösser problemlos öffnete.

„Ich kann nicht", murmelte er, doch dann schüttelte Luca den Kopf, ballte die Hände zu Fäusten und stand auf. Mit klopfendem Herz öffnete er das elterliche Schlafzimmer und auf dem Nachtisch seiner Mutter fand er sogleich eine Haarnadel. Aufs Genaueste bedacht, keinen Laut zu machen, ging Luca mit der Nadel in seiner zitternden Hand zum Sekretär und kniete sich unter die Tischplatte. Wieso tat er das hier eigentlich? Abermals schüttelte Luca den Kopf, er konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas hatte ihn an dem Verhalten seiner Mutter irritiert und vielleicht lag der Grund für ihr verändertes Auftreten in dieser Schublade.

Obwohl er wusste, dass sein Vater eigentlich nie früher, sondern eher viel später als nötig nach Hause kam, schreckte jedes noch so leise Geräusch Luca auf und erst nachdem er ein paar Sekunden abgewartet hatte, fuhr er fort, die Nadel in dem kleinen Schloss hin- und herzudrehen.

Schließlich, Luca war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, klickte es leise und die Schublade sprang auf. Ein Stapel Briefe lag darin und Luca zog ihn mit gerunzelter Stirn heraus.

Catherine Mary Sullivan

stand in geschwungener Handschrift auf dem obersten Brief und Luca zog ihn aus dem Bündel.

Einmal tief einatmend und mit bebendenden Händen, öffnete Luca das Kuvert und faltete den Brief vorsichtig und zögerlich auseinander.
 

5. Januar 1899

Liebste Mary,
 

die Tage ohne dein wunderschönes Lachen ziehen sich endlos,

während unsere wenigen, trauten Stunden erbarmungslos davonzulaufen scheinen.

Ich kann nicht schlafen, ohne von dir zu träumen.

Ich kann nicht essen, aus Sehnsucht nach dir.

Ich kann nicht leben, ohne dich.

Doch ich weiß, jeder Tag, den ich ohne dich verbringen muss, bringt mich näher zu der Stunde, in der wir uns endlich wiedersehen.
 

Dein, dich liebender,
 

Graham
 

Luca starrte auf den Brief in seinen Händen, überflog Zeile für Zeile wieder und wieder.

Ihm war, als setzte sein Herzschlag für einen Moment aus, und in diesem Moment zerbarst der Rest seiner ihm noch erhalten gebliebenen Illusion von einer Familie, die er mal gehabt hatte.

Ungläubig zerrte einen weiteren Brief aus dem Stapel und faltete ihn auseinander.
 

19. Dezember 1898

Geliebte Mary,
 

du wunderschönste unter all den Blumen Londons.

Wieder sitze ich hier in meiner Kammer und verzehre mich aus Sehnsucht nach dir.

Dir, meiner Geliebten.

Wie soll ich dir meine Liebe anders beschreiben als einen Berg voller blutroter Rosen.

Vielleicht auch ein strahlender Sonnenaufgang, denn sei gewiss, es ist ein Aufgang.

Meine Liebe wird dich nie mehr loslassen, bis in alle Zeiten, das verspreche ich dir, oh meine holde Schönheit.

Was für eine Freude mein Herz erquickt, wenn ich an den nächsten Tag denke, an dem wir uns unsere Liebe gestehen werden.
 

Auf ewig Dein,
 

Graham
 

Luca wollte schreien, doch er konnte nicht. Er wollte weinen, doch er konnte nicht.

Seine Mutter hatte einen Geliebten?

Plötzlich fügte sich vor seinem Inneren Auge alles zusammen.

Ihre Unausgeglichenheit, das abrupte Aufblühen ihrer alten Schönheit, die neuen Kleider-...und der Ring.

Noch ein und noch ein Brief fiel gelesen zu Boden, bis Luca der Kopf schwirrte.

Der aller erste Brief trug das Datum 7. Juli 1898.

Auf einmal konnte Luca nicht mehr atmen. Etwas drückte ihm die Luft ab und sein stoßweise gehender Atem kam flach und gepresst.

Unnatürlich ruhig faltete er die Briefe – es waren bestimmt über 20 – wieder zusammen, steckte sie in das Bündel zurück und schob alles wieder an seinen Platz. Dann schloss er wie in Trance das Fach, zog die Nadel heraus und stand auf.

Als er in Mantel und Schuhen vor der Haustür stand, konnte er sich nicht mehr erklären, wie er da hingekommen war.

Seine Schritte lenkten ihn vom Haus weg, aus der Straße und weiter in Richtung Innenstadt. Weg von dem Ort, den er, wie ihm schien, vor langer Zeit einmal Zuhause genannt hatte.

Aus der Sicht von Jamie

Jamie hatte die Augen geschlossen und lauschte auf die Geräusche um ihn herum. Das Zwitschern der Vögel, quakende Frösche und das Summen unzähliger Insekten. Schritt für Schritt knirschte der helle Kies unter seinen Stiefeln und seine ausgestreckten Hände glitten über die Blüten der am Wegrand wachsenden Blumen. Ein leuchtendes Rot schimmerte durch seine Lider und er wandte den Kopf der Sonne zu. Ihr warmes Licht ließ seine Haut prickeln und schenkte ihm eine tiefe, innere Ruhe, wie er sie schon seit Monaten nicht mehr verspürt hatte. Tief einatmend nahm er den Duft der aberhundert blühenden Pflanzen wahr und ein winziges Lächeln spielte um seine Lippen.
 

In seinem ganzen bisherigen Leben hatte er noch nie einen so wunderschönen Garten gesehen. Nein, es war eigentlich schon kein Garten mehr, der da um Jacks Cottage herum angelegt war, es war ein regelrechter Park. Die vielen, ineinander verschlungenen Wege, welche zu Lauben oder Pavillons führten, das Geräusch und die Kühle der vielen kleinen Springbrunnen. Alles war so entspannend und verträumt, dass Jamie seine Sorgen vergaß und wie bezaubert durch die Hecken, Sträucher und Blumen streifte. Trotz der Sonne war es noch etwas kühl und ein stetiger, salzig riechender Wind fuhr durch seine Haare und ließ sie tanzen. Vor ein paar Tagen war der Friseur da gewesen und hatte ihm die langen Zotteln geschnitten. Sein Gesicht hatte von seinen täglichen Spaziergängen hier im Park wieder etwas Farbe bekommen und bald würde er vielleicht wieder genauso aussehen, wie zu der Zeit, in der er noch im „Vouge" gearbeitet hatte.
 

Es war komisch, nicht mehr zu arbeiten. Es klang verrückt, doch Jamie vermisste sein Leben im Nachtclub. Den Alltag, die anderen Jungen und überhaupt sein altes Leben. Ethan hatte ihn gestern gefragt, ob er, wenn er könnte, wieder zurückgehen würde. Jamie hatte in diesem Moment keine Antwort darauf gehabt, denn sosehr er es auch genoss, nicht mehr mit fremden Männern ins Bett steigen zu müssen, ebenso wusste er jetzt plötzlich nichts mehr mit sich und seinem Leben anzufangen.
 

Würde Jack ihn in eine Lehre schicken? Was war, wenn er nicht fähig war, etwas anderes zu tun, als Männer zu bedienen und Smalltalk zu halten?
 

Jamie blieb stehen und öffnete die Augen. Er stand am Rand des Parks und neben ihm erhoben sich alte und knorrige Bäume in den Himmel. Das Cottage lag mitten in der Natur, unzählige Meilen von dem nächsten Dorf und ein paar Tagesreisen von London entfernt irgendwo im Nirgendwo.
 

Jack weigerte sich nämlich strickt, ihm genauere Informationen zu geben, da er wahrscheinlich fürchtete, Jamie könnte abhauen und irgendwie zurück nach London gelangen bevor-... Ja, bevor was eigentlich? Bevor Jack sich nicht zu hundert Prozent sicher war, dass Jamie niemals mehr in die Prostitution zurück gehen würde?
 

Oder bis er seine Ausbildung abgeschlossen hatte? Was wollte Jack von ihm? Langsam kam er sich vor wie ein Verbrecher, der in einem wunderschönen Gefängnis saß und darauf wartete, dass sein Urteil gesprochen wurde.
 

Plötzlich horchte Jamie auf. Der Wind hatte das Geräusch von wiehernden Pferden zu ihm getragen. Jack hatte Pferde? Oder lebten sie hier wild und durchstreiften den Wald und die grünen Hügel immer auf der Suche nach Futter?
 

Schon seit er klein gewesen war, hatte er Pferde geliebt. Ihr großer, warmer Körper und die weichen Nüstern. Sanft und stark.
 

Wieder trug der Wind das Geräusch über die Bäume und Jamie ging den Waldrand entlang auf der Suche nach einem Pfad, der ihn in den Wald und zu den Pferden führte. Um den größten Teil des Grundstückes verlief eine verwitterte, etwa hüfthohe Steinmauer, doch auf dieser Seite wurde der Park nur von dem Wald begrenzt. Hinter der Mauer lagen weite, saftiggrüne Wiesen, die gewellt wie ein überdimensionales Meer anstiegen und abfielen. Auch die Bäume, die Jamie jetzt umgaben, waren grün bemoost und Efeu rankte sich an den Stämmen empor. Durch das dichte Blätterdach fielen einzelne Sonnenstrahlen und malten tanzende Muster auf den Waldboden.
 

Alles war so wunderschön, dass Jamie es gar nicht glauben konnte. London war so grau und verdreckt, doch hier auf dem Land war es, als würde man durch den Garten Eden wandeln – denn so musste das Paradies aussehen. Der Pfad führte gewunden und verschlungen immer weiter, bis ihm schließlich ein Gatter den Weg versperrte. Neugierig kletterte er darüber hinweg und stapfte auf der feuchten Wiese auf die immer lichter werdenden, letzten Baumreihen zu.
 

Schließlich trat er zwischen den Stämmen hervor und ließ seinen Blick über die endlos scheinende, grüne Fläche gleiten. Nur ein paar Meter weiter stand ein schönes, rotbraunes Pferd. Bilder aus seinen Erinnerungen stiegen auf. Der Tag vor sechs Jahren zum Beispiel, an dem er und alle anderen Kinder des Heims einen Ausflug zu einem in der Nähe liegenden Kloster gemacht hatten. Neben den vielen Gärten hatte es dort auch eine Koppel mit Pferden gegeben. Den ganzen Tag war Jamie zwischen den Pferden umhergelaufen und hatte Gras gepflückt. Er erinnerte sich noch genau an die vorsichtig schnappenden Pferdeschnauzen auf seiner Hand. Inzwischen hatten die Pferde ihn ebenfalls bemerkt und kamen langsam auf ihn zugetrabt. Wie damals griff Jamie nach einem Büschel Gras, riss die saftigen Halme ab und bot sie mit ausgestreckter Hand dem rotbraunen Hengst an.
 

Zuerst schaute ihn das Pferd nur misstrauisch an, dann machte er noch einen Schritt auf ihn zu und senkte den Kopf, um das ihm angebotene Gras zu fressen. Langsam hob Jamie die andere Hand und strich dem Hengst über die Stirn. Der Hengst ließ es willig geschehen und auch als Jamie über die kauenden Backen hin zum Hals strich, blieb das Pferd geduldig stehen und schien die Streicheleinheit sogar zu genießen. Jamie fühlte sich in den Jahren zurückversetzt und strich in Gedanken verloren über den warmen Hals des Tieres, kämmte mit den Fingern die zottelige Mähne und klopfte leicht auf das staubige Fell.
 

Auch die anderen Tiere – es waren insgesamt sieben – kamen nun auf ihn zu, doch sie blieben etwas entfernt stehen und beobachteten das Ganze.
 

Die Zeit verging wie im Fluge und Jamie merkte erst, wie spät es geworden war, als die Sonne den Himmel langsam rot färbte und die Wolken zart rosa und orange über den Himmel zogen. Gelbgoldenes Licht strahlte über die Wolkenränder und fasziniert beobachtete Jamie, wie der rotglühende Sonnenball langsam hinter den Hügeln verschwand.
 


 

„Wunderschön, nicht?" Eine bekannte Stimme ließ Jamie aufkeuchend herumwirbeln.
 

Jack stand einen Schritt von ihm entfernt und sah ihn grinsend an.
 

„Du hast mich erschreckt!", empörte Jamie sich und legte sich eine Hand auf die Brust, um seinen verschreckten Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen.
 

„Entschuldige, das wollte ich nicht."
 

Jamie nickte und sah an Jack vorbei zum Waldrand.
 

„Was machst du hier?", fragten sie plötzlich gleichzeitig und Jack begann zu lachen.
 

Der letzte Rest der Sonne verschwand und auch die überschäumende Farbenpracht verschwand mehr und mehr, bis schließlich nur noch ein graublaues Licht den Himmel erhellte.
 

„Wir sollten langsam zurück. Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich im Dunkeln zum Haus zurückfinde."
 

Ein leichter Stupser gegen die Schulter bewegte Jamie dazu, sich abermals umzudrehen und die weiche Schnauze des Hengstes zu streicheln.
 

„Wie heißt er?", fragte er Jack, und Jack trat neben ihn und klopfte dem Tier auf die Flanke.
 

„Dieser Prachtkerl hat noch keinen Namen. Ich habe ihn erst kürzlich gekauft. Ich hab noch nicht einmal dafür gesorgt, dass er zugeritten wird, eigentlich eine Schande bei so einem schönen Tier, nicht?"
 

„Wie alt ist er denn?"
 

„Zwei Jahre alt und wirklich sehr ungestüm." Jack sah ihn von der Seite an und schmunzelte. „Aber bei dir scheint er lammfromm zu sein. Du hast wohl ein Händchen für Tiere."
 

Jamie antwortete nicht, sondern schaute dem Hengst nur ruhig in die Augen und rieb ihm über die Stirn.
 

„Was hältst du davon, wenn ich sage, ich schenke ihn dir?"
 

Jamie sah abrupt auf und starrte Jack ungläubig an, dann senkte er den Blick. „Das kann ich nicht annehmen." Doch so einfach schien Jack nicht aufgeben zu wollen.
 

„Dann kannst du ihn zureiten und ihm einen Namen geben."
 

„Jack, ich weiß nicht, was ich sagen soll, ganz ehrlich, ich-... ."
 

Doch Jack winkte ab und suchte seinen Blick. „Ich möchte einfach nur, dass du wieder glücklich wirst und ein neues Leben anfangen kannst."
 

Es widerstrebte Jamie, das Geschenk anzunehmen, denn er schuldete Jack schon so viel. Wenn es irgend ging, dann wollte Jamie verhindern, dass Jack irgendwann einmal eine Gegenleistung für all das einfordern konnte. Obwohl Ethan ihm versichert hatte, dass Jack nie auch nur auf diesen Gedanken kommen würde, so hatte Jamie jedoch immer noch Bedenken, denn es konnte nicht angehen, dass Jack das alles ohne Hintergedanken und nur aufgrund eines guten Herzens für ihn tat.
 

„Nimm mein Geschenk an, Jamie. Wir haben keine Zeit mehr, lange über das Warum zu diskutieren, sonst kommen wir nie zum Haus zurück, bevor es dunkel ist."
 

Mit einem Klaps auf das große Hinterteil ließ Jack den Hengst davon galoppieren und ging schnellen Schrittes auf den Waldrand zu.
 

Verwirrt stand Jamie wie angewurzelt da, dann lief er Jack hinterher.
 

„Warum willst du ihn mir schenken?"
 

Jack ging geradeaussehend weiter. „Weil ich gemerkt habe, dass er dir gefällt und dass du ihm gefällst. Ich hab mehr Pferde als ich reiten kann und aus diesem Grund möchte ich dir diesen Hengst schenken. So einfach."
 

„Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?"
 

Ein erschreckender Verdacht stieg in Jamie auf.
 

„Du lässt mich beobachten?!"
 

Jack antwortete nicht und da wusste Jamie, dass er Recht hatte. Wütend blieb er stehen und schnaubte.
 

„Das ist ja das reinste Gefängnis hier! Oh ja, ich schlafe in einem riesigen Bett und trage teure Kleider, aber dafür wird jeder meiner Schritte anscheinend von deinen Männern überwacht und ich weiß nicht mal wo ich bin! Was soll das Ganze, Jack!?"
 

Ein paar Meter entfernt blieb Jack stehen und drehte sich zu ihm um.
 

„Ich will nur nicht, dass du aus irgendwelchen, sentimentalen Gründen davonläufst und wieder in dein altes Leben zurückrutschst. Verstehst du das nicht? Ich will dich beschützen!"
 

„Beschützen!", Jamie spuckte das Wort förmlich aus. „Indem du mich einsperrst und wie einen Gefangenen behandelst?"
 

Jack trat auf ihn zu und sah ihn fest an. „Ich glaube, dass jeder Gefangene von einem Leben, wie du es hier führst, nur träumen kann!"
 

„Dann hol dir einen Gefangenen her, aber ich kann so nicht leben."
 

Jacks Blick flackerte und Jamie bereute fast, was er gesagt hatte, doch das weiche Lächeln, das dann auf Jacks Gesicht trat, machte ihn nur noch wütender.
 

„Auch wenn du wolltest, du könntest gar nicht weg. Wie du schon sagtest, du hast keine Ahnung, wo du bist. Warum akzeptierst du nicht einfach, dass jemand dir eine Möglichkeit schenken will, ein neues Leben anzufangen?"
 

„Ein neues Leben? Meinst du, ich kann mein altes Leben einfach so vergessen und ausradieren, so als wenn es nie gewesen wäre?"
 

Jack schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, das kann und will ich gar nicht von dir erwarten. Ich möchte dir nur zeigen, dass du auch ein anderes Leben führen kannst, als das im Nachtclub."
 

Jamie schnaubte erneut und stapfte missmutig an Jack vorbei, den in der aufkommenden Dunkelheit immer schwerer zu erkennenden Weg entlang.
 

Schweigend lief er voran, bis die Bäume sie schließlich freigaben und er wieder auf den Kiesweg trat.
 

Die Lichter des Cottages leuchteten in einiger Entfernung und Jamie durchquerte, immer darauf zu, den Garten und stieg schlussendlich die steinernen Stufen zur Veranda hoch. Jack hatte ihn eingeholt und hielt ihn, bevor Jamie das Haus durch die Terrassentür betreten konnte, noch einmal am Arm zurück.
 

„Und das Pferd gehört von jetzt an dir, egal wie du über deinen Aufenthalt hier denkst. Niemand hier will dir etwas tun. Denk noch mal darüber nach, Jamie."
 

Dann ließ Jack seinen Arm los und betrat, den schweren Vorhang beiseite schiebend, das Wohnzimmer.
 

Jamie wandte sich vom Haus ab und trat an die Brüstung der Veranda.
 

Ihm gehörte jetzt also ein Pferd und Jack würde ihn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln daran hindern, von hier abzuhauen. Vielleicht sollte er sich wirklich damit abfinden – jetzt, wo er nicht einmal mehr einen Grund hatte, nach London zurückzukehren.
 

Dieser Prachtkerl hat noch keinen Namen-... .
 

Und plötzlich wusste Jamie, wie er den rotbraunen Hengst nennen sollte.
 

„Luca...", flüsterte Jamie in die Dunkelheit. „Er soll Luca heißen."

Aus der Sicht von Luca

Das Leben und Wirbeln der Stadt zog verschwommen und trist an Luca vorüber. Sein Blick war wie durch einen Tunnel ausschließlich auf die vor ihm liegenden Dinge gerichtet, doch egal was sein emotionsloser Blick einfing, nichts berührte ihn. Er fühlte sich kalt und leer.
 

Auf der einen Seite fand er es unverständlich von sich selbst, dass er anscheinend so ein Problem damit hatte, dass seine Mutter nach Jahren der Misshandlung unter seinem Vater endlich bereit war, alles aufzugeben und neu anzufangen. Denn so wie es aussah, hatte sie damit gewartet, bis alle ihre Söhne aus dem Haus waren und sie ihnen nichts mehr davon zumuten musste.
 

Auf der anderen Seite war sie eine untreue Ehefrau, die ihren Mann seit Monaten hinterging und schamlos betrog. Nicht nur seinen Vater, sondern auch ihn hatte sie betrogen, schließlich hatte er bis vor kurzem noch in ein und demselben Haus gewohnt und geglaubt, dass sie eine rechtschaffende Ehefrau war.
 

Was hatte er sich nicht für Schuldgefühle gemacht, als sein Vater ihn damals rausgeworfen hatte. Die Familie zerstört, Vaters Ehre kaputt gemacht, all das und noch viele andere Dinge hatte er sich vorgeworfen und jetzt musste er begreifen, dass das „heile" Leben, von dem er gedacht hatte, dass es existierte, alles nur noch Schall und Rauch gewesen war. Er hatte die Familie nicht in Scherben geschlagen, sondern seinen Vater und seine Mutter lediglich auf die Bruchstücke ihrer eigenen Leben gestoßen; Leben, die schon lange vor seiner Entscheidung, sie mit seiner Liebe zu Jamie zu konfrontieren, aus dem Ruder gelaufen waren.
 

Luca spürte die Kälte um ihn herum mittlerweile nicht mehr und irgendetwas hatte sich verändert. In seine Gedanken vertieft, war er stehen geblieben und hatte mit leerem Blick auf die vielbefahrene Straße gestarrt. Als er das bemerkte, geriet er ins Schwanken und taumelte einen Schritt vorwärts auf die vorbeiratternden Kutschen zu. Eine Hand packte ihn daraufhin und zog ihn hart zurück.
 

Erschrocken wirbelte Luca herum und starrte einem jungen Mann ins Gesicht. Wahrscheinlich sah der gar nicht schlecht aus, doch gerade jetzt verdunkelte Wut seine Züge und ein eigenartiger Ausdruck stand ihm in den Augen.
 

„Meinst du, das ist der einzige Ausweg?!", rief er aufgebracht, packte Luca an den Schultern und schüttelte ihn leicht.
 

„W-w-was?", stotterte dieser zurück und blinzelte leicht verstört das vor ihm hin und herschwankende Gesicht an.
 

„Ich weiß nicht, was du durchmachen musstest, aber glaubst du im Ernst, dass es eine Lösung ist, sich vor eine Kutsche zu werfen?!"
 

Der junge Mann sah wirklich aufgebracht aus und als er Luca losließ und ihm fest in die Augen sah, erkannte Luca, dass der eigenartige Ausdruck Hilflosigkeit und Verzweiflung gewesen war.
 

Verwirrt von der Heftigkeit und dem augenscheinlichen Missverständnis, wich Luca etwas ängstlich zurück. Die Verzweiflung in den Augen des Mannes nahm zu und er hob die Hände, als wolle er ihn aufhalten, doch dann ließ er sie wieder sinken und atmete tief ein und aus. Luca musterte ihn derweil.
 

Der junge Mann trug einen langen, grauen Filzmantel mit Hornknöpfen und um den Hals hatte er einen farbenfroh gestrickten Schal geschlungen. Seine Hände waren unbehandschuht. Sie sahen nicht so aus, als ob er viel mit ihnen machte, wie die Hände eines Menschen, der sich mit geistigen Dingen beschäftigte, nicht mit handwerklichen.
 

„Bitte" Luca zuckte zusammen und riss sich von dem Anblick der Hände los und sah dem jungen Mann wieder ins, nun gefasst wirkende, Gesicht. „Bitte glaub mir, nichts ist es wert, sein Leben dafür aufzugeben."
 

„Nein, ich-...", widersprach Luca und schüttelte abwehrend den Kopf. „Ich wollte nicht-... also, es war nicht das, wofür Sie es gehalten haben, Mister!", beteuerte er und verlieh seiner Stimme Nachdruck.
 

Zweifelnd sah der junge Mann ihn an und nickte dann.
 

„Ich kann dir nicht helfen, wenn du es nicht zulässt, aber bitte überleg es dir anders."
 

Etwas entnervt schüttelte Luca jetzt heftiger den Kopf. „Ich wollte mich nicht umbringen!"
 

Einige Passanten drehten sich zu ihnen um und warfen ihm entsetzte Blicke zu, dann eilten sie schnell weiter.
 

Der junge Mann nickte langsam und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
 

„Falls du irgendwann darüber reden möchtest, ich bin Michael Stantsford. Von Sonntag bis Freitag bin ich in der Sankt Marien Kapelle anzutreffen, komm doch einfach mal vorbei."
 

„Ich wollte wirklich nicht-...", doch Michael unterbrach ihn. „Pass auf dich auf."
 

Luca klappte seinen Mund zu und nickte stumm. Der junge Mann wandte sich um und ging dann – nicht ohne sich noch einmal zu dem wie angewurzelt stehen gebliebenen Luca umzudrehen – die Straße hinab.
 


 

Die Straßen wurden allmählich dunkel, als Luca nach Hause zurückkehrte. Die Straßenlaternen flammten auf und tauchten die leerer werdenden Straßen in ein goldgelbes Licht.
 

Die Verzweiflung des jungen Mannes – Michael – hatte ihn ins Grübeln gebracht. Was war, wenn sein leben wirklich keinen Sinn mehr hatte? Was, wenn Jamie ihn gar nicht suchen kommen würde? Würde er dann einfach weiterleben können? Ohne das, was ihm einen Sinn in seinem sinnlosen Leben gegeben hatte?
 

Wenn er mal so darüber nachdachte, hatte er bisher nie entscheiden dürfen, was er tat oder nicht. Seit er alt genug gewesen war, hatte er im Haushalt helfen müssen, weil auch noch seine Brüder da gewesen waren, dann hatte sein Vater ihn bei Mister Tribbles in die Lehre gegeben, ohne ihn vorher überhaupt zu fragen, ob er das überhaupt wollte. Nicht dass es ihm nicht gefallen hatte, aber es war nicht seine eigene Entscheidung gewesen. Betroffen kickte Luca eine nasse Zeitung in den Rinnstein und fuhr mit einer Hand unter seinen Mantel. Jamies Medaillon hatte er seitdem er es gefunden hatte, nicht mehr abgenommen. Es gab ihm Hoffnung und Kraft, all die Zeit ohne ihn zu verbringen. Luca sah auf und blieb stutzend stehen, dann ballten sich seine Fäuste und er spannte unbewusst den Kiefer so fest an, dass seine Zähne knirschten. Dort, am Ende der Straße, stand eine Kutsche und davor, im weichen Licht einer Laterne, zwei innig umschlungene Menschen. Der Mann wirbelte die Frau herum und die Frau lachte ausgelassen, sodass es in der kalten Nachtluft widerhallte. Lucas Mutter ließ sich von dem Mann küssen, der mit größter Wahrscheinlichkeit Graham war, und schmiegte sich noch einmal an ihn, bevor der widerwillig in die Kutsche stieg und die Tür schloss. Seine Mutter warf eine Kusshand durch die Glasscheibe und winkte, als die Kutschte langsam, dann immer schneller davonfuhr.
 

Sie sah der Kutsche hinterher, bis sie um eine Ecke bog und auch langsam das Rattern immer leiser wurde. Während seine Mutter ihrem Liebhaber hinterhergeschaut hatte, war Luca Schritt für Schritt näher gekommen, sodass ihn jetzt nur noch wenige Meter von seiner Mutter trennten. Sie hatte wohl seine sich nähernden Schritte gehört und drehte sich zu ihm um – und erstarrte.
 

„Luca-...?!"
 

Wortlos musterte Luca seine Mutter.
 

„Es ist nicht so, wie du denkst!", rief Catherine und begann, ihre unbehandschuhten Hände zu ringen.
 

Luca schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und schürzte seine rissigen, kalten Lippen.
 

„Was denke ich denn?", presste er dann hervor und blinzelte die aufsteigenden Tränen zurück.
 

Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Wange und sein Kopf schwang zur Seite. Seine Mutter stand vor ihm und starrte erst ihn, dann ihre immer noch erhobene Hand an.
 

Dann traten Tränen in ihre blauen Augen und sie stürzte auf Luca zu und umarmte ihn fest.
 

„Es tut mir leid, Luca. Es tut mir so leid... .Was denkst du jetzt von mir?", ihre Stimme klang beinahe etwas verzweifelt.
 

Mühselig befreite Luca sich aus den Armen seiner Mutter und sah betreten zu Boden. Er konnte ihr nicht sagen, dass er die Briefe schon lange gelesen hatte.
 

Dass er wusste, wie lange sie schon ihren Mann betrogen hatte.
 

Catherine strich ihm sanft über die heiße Wange, auf der sich langsam aber deutlich ihre Fingerabdrücke abzeichneten.
 

Das Schweigen zwischen ihnen wurde bedrückend und Luca murmelte:
 

„Und? Du hast einen Liebhaber, was macht das schon. Als ich mich zu Jamie bekannt hab, hab ich doch eh schon alles kaputt gemacht."
 

Sie schniefte und wischte sich unwirsch ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
 

Dann fügte er noch leiser hinzu: „Ich hätte ihn an deiner Stelle auch verlassen!"
 

Seine Mutter nahm seine Hände und sah ihn an, bis er aufschaute.
 

„Sag so was nicht, dein Vater ist ein gu-..."
 

Doch Luca unterbrach sie. „Ein guter Mensch, also?!" Er machte sich erneut los und stopfte seine Fäuste in die Hosentaschen.
 

„Um seinetwegen brauchst du mich nicht anzulügen. Früher habe ich das vielleicht auch geglaubt, hab die Prügel ohne ein Wort weggesteckt, weil ich dachte, dass er wohl schon seine Grüne hat dafür, aber seit Jamie weiß ich, was es heißt, geliebt zu werden! Und aus Nächstenliebe hat Vater mich bestimmt nicht geschlagen!"
 

„Luca-...!"
 

„NEIN! Tu doch nicht so! Du hast alles für ihn aufgegeben damals! Deinen Stand, deine Familie, alles und er dankt es dir, indem er dich beschimpft und schlägt! Das weißt du ganz genau und ich bin kein Kind mehr, also sag mir nicht, dass ich das nicht verstehen kann!"
 

Geschockt und mit großen Augen sah seine Mutter ihn an, hob die Arme um sie dann wieder kraftlos fallen zu lassen.
 

Luca ging auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
 

„Wie lange willst du es noch mit ihm aushalten?"
 

Sie schluchzte auf und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
 

Irgendwie fühlte sich das alles nicht mehr an, wie ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, sondern als gäbe er ihr – als Gleichgestellter – einen gutgemeinten Rat.
 

„Ich kann ihn nicht verlassen!"
 

„Doch. Du kannst!"
 

„Wenn er das zwischen Graham und mir erfährt, schlägt er mich tot und er hat sogar das Recht dazu!"
 

„..." Darauf hatte Luca keine Antwort, denn sie hatte Recht.
 

„Lass uns gehen."
 


 

Die Straße war dunkel und so konnte Luca ganz deutlich das Licht in dem Fenster des oberen Stockwerkes sehen. Sein Vater war schon da. Luca musste sich diese Nacht erneut einen anderen Schlafplatz suchen.
 

„Luca-... dein Vater, er-..."
 

„Ich weiß, ich geh ins „Vouge" und schlaf da. Mach dir keine Sorgen."
 

Catherine drückte schnell seine Hand, dann zog sie den Hausschlüssel aus der Rocktasche und verschwand im Haus. Luca blieb, versteckt im Schatten der Hauswand stehen und schloss bitter die Augen, als nur wenige Sekunden später das Gebrüll seines stockbetrunkenen Vaters hinaus auf die Straße klang.

Aus der Sicht von Jamie

„Jamie, Hacken runter und die Hände direkt am Widerrist!"
 

Jamie knurrte widerwillig, führte die Anweisungen aber aus. Luca registrierte diese Veränderung mit einem ungeduldigen Zucken der Ohren.
 

„Zeig ihm, dass du der Herr bist und nicht Er!", rief Sir Lambert, ein ziemlich untersetzter, kleiner Mann, der die besten Jahre schon länger hinter sich gelassen hatte, quer über das Paddock, in dem Jamie und Luca gerade einander tyrannisierten.
 

Ein ungeduldiges Schnauben von Luca und das muskulöse Hinterteil seines Hengstes ging ungeahnt schnell in die Höhe.
 

„Halt dich fest! Nicht runterfa-... Hast du dir wehgetan?"
 

Murrend und überall mit dem Staub und Schmutz ihres stundenlangen Trainings bedeckt, saß Jamie auf dem Boden und rieb sich seinen Allerwertesten.
 

Sir Lambert reichte ihm die knubbelige, jedoch erstaunlich kräftige Hand, doch Jamie blieb bockig genau da sitzen, wo er sich gerade befand und blickte missmutig zu Boden.
 

Seufzend stemmte sein Reitlehrer die Hände in die Hüften und zog die dichten, nah beieinanderliegenden Brauen zusammen. „Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es nicht leicht wird, aber wenn du jetzt aufgeben willst, kann ich das trotzdem verstehen."
 

Wut begann in Jamies Brust zu brodeln und er stand mühsam auf.
 

„Ich werde ganz bestimmt nicht aufgeben, Sir Lambert!", knurrte er und ging mit geballten Fäusten auf den am Zaun entlang tänzelnden Luca zu.
 

„Du blöder Gaul, hätte ich gewusst, was für ein Teufel du bist, hätte ich dich garantiert nicht Luca genannt", murrte er so, dass Sir Lambert es nicht hörte und packte Lucas Zügel erneut.
 

„Mein Hintern tut mir weh, als hätte ich heute schon an die zwanzig Freier erledigt! Und das ist deine Schuld!"
 

Luca schnaubte scheinheilig und scharrte mit dem Vorderhuf.
 

Mit zwei schnellen Handgriffen, packte Jamie den Sattel und stellte einen Fuß in den Steigbügel, doch gerade als er sein Gewicht verlagerte, um aufzusteigen, machte Luca einen Schritt nach hinten und Jamie verlor sein Gleichgewicht und fiel erneut auf den Hosenboden und mitten in einen dampfend frischen Haufen von Luca.
 

Bebend vor Wut, saß er da, dann brüllte er: „DU BLÖDER, BLÖDER GAUL! ICH LASS DICH ZU WURST VERARBEITEN, WENN DU MIR NOCH EINMAL KRUMM KOMMST! VERSTANDEN?"
 

Dann schrie er noch einmal frustriert auf, überhörte und übersah seinen unterdrückt grinsenden Lehrmeister und stapfte zornentbrannt auf das Gatter zu.
 

Immer noch wütend stapfte er weiter auf das Cottage zu und beschwerte sich dabei murrend bei niemand bestimmten über dieses unmögliche Pferd.
 

Seine zornigen Schritte führten ihn ehe er sich versah auf sein Zimmer und so bemerkte er das rothaarige, überaus hübsche Mädchen nicht, das an die gegenüberliegende Flurwand gelehnt dastand und ihn grinsend beobachtete.
 

„Na, hat er dich getriezt?"
 

Jamie fuhr herum und keuchte erschrocken auf. Dann funkelte er die Bedienstete böse an und knallte seine Zimmertür hinter sich zu.
 

Im Zimmer atmete er erst einmal tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Es war doch bloß ein Pferd, wollte er sich weis machen, doch Luca war nicht irgendein Pferd.
 

„Blöder Gaul...", murrte er und zog sich das Hemd aus.
 

Draußen vom Gang hörte er die Stimmen der Bediensteten und Ethan fröhlich miteinander lachen.
 

„...vielleicht durchlebt er ja gerade seine Pubertät, ich weiß ja nicht, wie es da war, aber hattet ihr viel Zeit für euch?"
 

Ethan prustete bei dem Wort „Pubertät" ungehalten los und Jamie stürmte zur Tür, riss sie auf und schrie:
 

„Ich bin ganz bestimmt NICHT pubertär!" Sowohl Ethan, als auch die Bedienstete starrten ihn an, dann lachten sie beide los und das Mädchen wandte sich leicht errötend ab.
 

Jetzt erst bemerkte Jamie, dass er mit bloßem Oberkörper und halb geöffneter Hose vor ihnen stand.
 

Nach Luft ringend richtete Ethan sich auf und schob den erneut vor Wut bebenden Jamie zurück in das Zimmer, dann wandte er sich an die Bedienstete.
 

„Emily, ich glaube wir sollten ihn nicht noch mehr ärgern. Wenn der erst einmal sauer ist, wird er so was von ungenießbar..."
 

Emily drehte sich, eine Hand vor ihre Augen gehalten, zu Ethan um und grinste breit unter ihren Fingern hindurch.
 

„Sag ich doch – pubertär!", dann brach sie in schallendes Gelächter aus und lief den Gang hinunter.
 


 

Kaum war die Tür hinter Ethan und Jamie ins Schloss gefallen, nagelte Jamie seinen Freund gegen das Holz.
 

„Sag. Dieser. Blöden. Kuh. Dass. Sie. Damit. Aufhören. Soll!", knurrte er und erdolchte Ethan mit seinem Blick geradezu.
 

Mit einiger Mühe brachte Ethan seine allzu erheiterten Züge wieder unter Kontrolle und hob beschwichtigend die Hände.
 

„Jaja... mach ich. Aber so ist sie nun mal. Sie hat's ja nicht nur auf dich abgesehen."
 

„Das ist mir so was von egal, sie soll's einfach lassen! Und", fügte er verdrossen hinzu, „hat die eigentlich nichts zu tun? Ich meine, sie ist doch eine Angestellte, oder?"
 

Jamie taxierte Ethan weiter und bemerkte erst spät, wie nah sie sich waren.
 

Doch Ethan sah ihn ruhig an und entzog sich ihm nicht.
 

Einige Momente standen sie so da, sahen sich an und schwiegen.
 

„Jamie?" Ethans Stimme riss Jamie aus seinen Gedanken und die Spannung zwischen ihnen verrauchte.
 

„Was?"
 

„Du stinkst."

Aus der Sicht von Luca

Als Luca erwachte, fühlte er ein kräftiges Ziehen im Rücken und sein Magen war unzufrieden mit der dort herrschenden Leere und beschwerte sich ziemlich vernehmlich darüber.
 

„Jaja... ich schau, dass ich was für dich finde", murmelte Luca, sich nicht bewusst, dass er mit seinem Bauch sprach.
 

Ein rascher und nicht allzu genauer Blick auf seine halb erfrorenen Extremitäten sagte ihm, dass noch alles seine ursprüngliche Farbe und Form hatte. Was Luca ungemein beruhigte. Schließlich war es Anfang Februar und die Nächte waren immer noch klirrend kalt. Doch auch jetzt, nachdem immer mehr Gegenstände mysteriöser Weise aus dem „Vouge" verschwanden, standen die Betten noch unberührt da. Luca konnte sich denken wieso, doch er hatte in der Zeit seines unfreiwilligen Aufenthaltes hier schließlich die Gedanken daran, was vor gar nicht allzu langer Zeit hier auf den Laken geschehen war, verdrängt. Vorsichtig, um nicht durch die durch das Feuer, den Schnee und die Kälte marode gewordenen Dielen zu brechen, ging Luca in eines der Badezimmer und betrachtete sich in dem gesprungenen Spiegel.
 

Seine blonden Haare standen wirr vom Kopf ab und seine Kleider waren zerknittert und schmutzig. Überall im „Vouge" standen oder lagen verkohlte Gegenstände und er brauchte diese nur zu streifen und schon war er schwarz.
 

Ohne sich dessen bewusst zu sein, strich Luca sich über den Hals. Dort wo seine Fingerspitzen gerade entlang fuhren war vor nicht allzu langer Zeit ein ziemlich übler Bluterguss gewesen. Luca musste verlegen Grinsen. Jamie hatte ziemlich zugebissen. Plötzlich Verzweiflung überkam Luca. Jamie hatte nicht die geringste Spur hinterlassen. Wie auch? Im „Vouge" hatte er eigentlich gar nicht leben dürfen, da er noch minderjährig gewesen war und außer in Lucas Herz war auch keine sichtbare Spur von ihm auf seinem Körper wiederzufinden.
 

Mit zitternden Fingern öffnete Luca trotz der Kälte sein Hemd und starrte durch den Spiegel seinen entblößten Oberkörper an. Das große, schöne Medaillon lag schwer auf seinem Brustkorb und erinnerte ihn jeden Tag aufs Neue an Jamie, damit er ihn nie vergaß.
 

Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm die Wangen entlang. Nichts. Nichts deutete daraufhin, dass Jamie je existiert hatte. Luca schloss seine Augen und erinnerte sich an die Berührungen Jamies, überall auf seinem Körper. Fast war es ihm, als ob reale Fingerspitzen ihm über seine immer kälter werdende Haut strichen, doch als er die Augen öffnete war nichts zu sehen. Luca wünschte, dass sich die Spur von Jamies Händen oder Fingern, die auf seiner Brust Kreise gezogen hatten rot aufleuchten würden, damit er sah, dass das alles wirklich einmal passiert war.
 

Doch nichts war ihm von Jamie geblieben, als die bloße Erinnerung an sein Gesicht, seine Stimme, den Geruch seiner warmen Haut.
 

Warum kam Jamie nicht? Wo war er, dass er ihn nicht suchte und wenn er ihn suchte, warum hatte er ihn dann nicht schon lange gefunden?
 

Und wenn er ihn nicht suchen konnte? Was, wenn er tot war? Nein, dieser Gedanke half gar nichts. Luca hatte sich schon viel zu lange von ihm runterziehen lassen.
 

Jamie konnte nicht umgekommen sein, das würde er spüren... jedenfalls glaubte er fest daran, dass es so sein würde.
 

Ein Kälteschauer rieselte ihm den Rücken hinab und Luca begann zu bibbern. Was dachte er sich auch dabei, halbnackt hier herum zu philosophieren.
 

Während er sich sein Hemd zuknöpfte und den Wintermantel anzog, kam ihm plötzlich eine überaus wahnwitzige Idee.
 

Was war, wenn Jamie an irgendeinen anderen Nachtclub in London verkauft worden war? Was, wenn er einfach von seinem neuen Zuhälter weggesperrt wurde und deshalb nicht nach ihm suchen konnte?
 

Die Erinnerung an sein erstes Missgeschick mit der Suche nach Jamie im „Vouge" und wie er sich voller Naivität hatte abfüllen lassen, verpasste seinem Wagemut einen Dämpfer. Doch da ihm dieser Gedanke nun gekommen war, sah er darin die einzige Möglichkeit, herauszufinden, ob Jamie wirklich in einen anderen Nachtclub gebracht worden war.
 

Unruhe überkam ihn und Luca fragte sich, wie er es anstellen sollte. Immerhin war er selber noch minderjährig und konnte nicht einfach so mir nichts dir nichts in einen Nachtclub laufen.
 

Außer, dachte er und plötzliche Übelkeit und Angst kälter als Stahl umgriffen sein Herz, ich werde einer von ihnen... .
 


 

Lange Zeit starrte Luca vor sich hin, innerlich hin- und hergerissen.
 

Isaac hatte ihm einmal erzählt, wie er versucht hatte, wegzulaufen. Die darauffolgenden Prügel, nachdem er wieder eingefangen worden war, hatte er als nicht schlimm empfunden, doch was sie danach getan hatten, um ihn wieder gefügig zu machen-... Das hatte ihn dazu veranlasst nie wieder auch nur darüber nachzudenken, wegzulaufen.
 

Doch wenn er nicht alles gab, würde er Jamie nie wiederfinden. Wenn Jamie ihn nicht suchen konnte, dann würde er, Luca, ihn eben finden.
 

Ohne lange zu zögern, packte Luca seine sieben Sachen und verließ das „Vouge" durch die Hintertür. Von dem grauen Stück Himmel über ihm, schwebten dreckigweiße Schneeflocken. Zögerlich und darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, öffnete er die Hintertür von seinem ehemaligen Elternhaus und schlich sich in die leere Küche. Dort öffnete er vorsichtig ein Tür nach der anderen und suchte etwas zu Essen zusammen. Er kam sich dabei vor, wie ein gemeiner Dieb, doch Luca schob diesen Gedanken beiseite. Schlussendlich öffnete er eine Schublade und zog Stift und Papier hervor. Seine Mutter würde vor seinem Vater wiederkommen, hoffte Luca jedenfalls, denn nun kritzelte er eine hastige Entschuldigung dafür, dass er sich die Lebensmittel genommen hatte und ein paar Zeilen zum Abschied hin. Nachdem er sich alles noch einmal genau durchgelesen hatte, sandte er ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass es seine Mutter wirklich vor seinem Vater finden würde und verließ dann das Haus erneut durch die Hintertür.
 

Luca hatte keine Ahnung, wohin er sich nun wenden sollte, also entschied er sich schlicht dafür, der Straße in Richtung Innenstadt zu folgen und sich dort in den dunkleren Gassen nach Menschen umzusehen, die so aussahen, als wüssten sie, wo man auch als Minderjähriger in einen Nachtclub kommen konnte.
 

Je weiter Luca sich der Innenstadt näherte, desto heftiger und ekelerregender wurde der durchdringende Geruch nach Unrat und animalischen Exkrementen.
 

Flach atmend und stur zu Boden schauend bahnte Luca sich einen Weg durch die immer dichter werdenden Menschenmassen. Nasse Unterröcke schlugen ihm gegen die Beine und Spritzwasser von vorbeifahrenden Kutschen sprühte ihm ins Gesicht.
 

Je weiter er in die immer dunkler und dreckiger werdenden Gassen vordrang, desto häufiger fragte er sich, wie ein Mensch – geschweige denn gleich halb London – in solchen Straßen und Häusern leben konnte. Nein, leben war nicht mal mehr der richtige Ausdruck dafür.
 

Durch seine Mutter wusste Luca, dass zwei Mal pro Woche ein Markt auf dem Platz Woodcliffroad Ecke Summersetbridge stattfand, und genau dorthin wollte er jetzt, doch er hatte keine Ahnung, wie um alles in der Welt er hinfinden sollte.
 

„Entschuldigung?", sprach er eine ältere Dame an, die ihn aber vollkommen ignorierte und weiter die Straße entlangzockelte.
 

„Sehr freundlich", murrte er und ging ein paar Schritte weiter.
 

„Sir? Sir? Wie komme ich-...?", doch auch der Mann, den er nun angesprochen hatte, wandte sich noch nicht einmal zu ihm um.
 

Waren denn alle Menschen hier taub oder so beschäftig, dass sie keine Zeit hatten, jemandem kurzerhand den Weg zu erklären?
 

Nach der fünften Person, die nicht einmal annähernd Anstalten gemacht hatte, ihm zu helfen, geschweige denn vorher erst einmal zuzuhören, ließ er sich entmutigt durch die Straßen schieben. Bis sein zielloser Blick an einem gutaussehenden Jungen in seinem Alter hängen blieb. Unerwartet erschüttert von dessen Anblick blieb er stehen und starrte den kokettierenden Farbigen einfach nur an.
 

Emíl? Konnte das wirklich Emíl sein?
 

Ein Versuch war's wert, dachte sich Luca und drängelte sich durch die schimpfenden Menschen. Die Tatsache, dass ihn jetzt auf einmal alle Leute wahrzunehmen schienen, bemerkte er garnicht.
 

„Emíl! Emíl!", rief er wieder und wieder und schließlich wandte der Angesprochene sich um.
 

Mit gerunzelter Stirn sah er Luca entgegen, dann trat der Ausdruck des Erkennens in seine Augen.
 

Kurz wandte er sich zu dem Mann, mit dem er gerade gesprochen hatte um, der sich daraufhin entfernte und lächelte Luca dann breit an.
 

„Luca! Was machst du denn hier?"
 

Luca grinste ihn außer Atem an und schluckte schnell, dann sagte er:
 

„Emíl, bin ich froh, dich zu sehen."
 

Emíl zog die Augenbrauen hoch und erwiderte: „Warum das denn?"
 

Luca schüttelte den Kopf und trat noch einen Schritt näher.
 

„Können wir hier irgendwo ungestört reden?"
 

„Ich weiß nicht...", zögerte der farbige Jungen und sah sich um. Dann schnappte er sich Lucas Hand und zog ihn in den Hauseingang hinter sich.
 

Bevor er sich versah, stand Luca in einem schwach beleuchteten Raum, der fast exakt so eingerichtet war, wie ehemalig das „Vouge" auch.
 

Ein triumphierendes Gefühl stieg in Luca auf und schnell stolperte er hinter Emíl her.
 

„Arbeitest du hier?", fragte er, doch ein warnender Blick Emíls brachte ihn zum Schweigen.
 

„Halt die Klappe, sonst bist du fällig!"
 

Irritiert über die plötzliche Drohung starrte er Emíls Hinterkopf an. Emíl jedoch, zerrte ihn unbarmherzig weiter in eines der Hinterzimmer, schloss die Tür und verriegelte sie.
 

„Was-...?"
 

Doch Emíl schüttelte den Kopf und legte ihm eine Hand auf den Mund.
 

„Sei still, bitte!", zischte er und lauschte angestrengt.
 

Auch Luca, der nun ja nichts mehr sagen konnte, saß nun still da und wartete ab.
 

„Ich glaube Larry hat nichts mitbekommen. Sonst wäre er schon längst hier... hoff ich jedenfalls, dass es so ist", sagte Emíl leise und mehr zu sich, als zu Luca und nahm die Hand von Lucas Mund.
 

„Alles okay?", fragte er den verwirrt dasitzenden Blonden schließlich und lächelte fragend.
 

Luca nickte und fuhr sich durch die Haare.
 

„Alles in Ordnung."
 

Kurze Zeit herrschte Schweigen in dem spärlich eingerichteten Raum, dessen Einrichtung nur aus einem frisch bezogenen Bett und einem großen Spiegel mit Goldrahmen zu bestehen schien.
 

„Also", unterbrach Emíl schließlich die Stille, „warum bist du hier?"

Aus der Sicht von Jamie

„Ja, richtig! Und jetzt lass ihn angaloppieren. Jamie, wie oft soll ich dir noch sagen, dass das äußere Bein nach hinten muss?!"

Grimmige Entschlossenheit im Gesicht und die goldbraunen Strähnen verschwitzt in der Stirn, befolgte Jamie alle Anweisungen Sir Lamberts und schließlich konnte er ein triumphierendes „Ha!" nicht unterdrücken, als Luca sofort parierte und zu galoppieren begann.

Ein kurzer Blick auf seinen Reitlehrer zeigte Jamie, dass sich dessen weißer Vollbart zusammen mit den Lippen zufrieden nach oben gebogen hatte.

„Mach noch ein zwei Runden, dann kannst du aufhören. Vergiss nicht das Absatteln und Putzen, ich geh schon mal."

Jamie nickte, doch er war sich ziemlich sicher, dass Sir Lambert das nicht mehr gesehen hatte. Luca schüttelte den Kopf und Jamie versteifte sich schon in Erwartung des nächsten Sturzes, doch stattdessen schnaubte sein Hengst nur laut und legte die Ohren nach vorne, und das – hatte Sir Lambert ihm erklärt – war ein sicheres Zeichen dafür, dass auch Luca Spaß an der Sache hatte.

Jamie galoppierte noch ein paar Runden, dann gab er die Hilfen, die Sir Lambert ihm immer wieder eingebläut hatte und Luca wurde, wenn auch widerwillig, langsamer und verfiel schlussendlich in ein gemütliches Traben.

„Gutes Pferd!", lobte Jamie halb zum Spaß und Luca schnaubte erneut. „Lässt du mich absteigen?"

Luca blieb stehen und rieb seinen Hals an der hölzernen Umzäunung des Paddocks.

Schwungvoll stieg Jamie von dem rotbraunen Hengst ab und hustete, als eine Staubwolke aufwirbelte.

Kurzentschlossen überquerte er den Platz und zog einen Apfel aus seiner Vespertasche.

„Da, den hast du dir verdient", rief er und wedelte mit dem rotbackigen Apfel in Lucas Richtung. Umgehend kam der große Hengst angetrabt und schnappte Jamie die großzügige Belohnung aus der Hand.

Lächelnd klopfte Jamie auf die kauenden Backen und machte sich dann an den Sattelgurten zu schaffen.

Währenddessen sprach er mit dem Pferd.

„Sag mal, bist du während der letzten zwei Stunden wirklich noch fetter geworden?", murrte er lachend und zerrte an den Gurten.

„Jack hat gesagt, wenn ich eine Woche lang nicht mehr aus dem Sattel falle, beziehungsweise", er zog den Sattel von Lucas Rücken und gab ihm einen Klaps auf den Hintern, damit der Hengst ihm den Weg freimachte, „wenn du mich eine Woche lang nicht mehr von deinem Rücken runterschmeißt, dann reiten wir aus."

Wie erwartet ließ sich der Hengst durch den Klaps jedoch überhaupt nicht beeindrucken und so schleppte Jamie den Sattel an dem ausladenden Hinterteil vorbei und in Richtung der Stallungen. Sir Lambert hatte bei seinem Verlassen netterweise das Gatter offen gelassen und so musste Jamie den Sattel nicht erst absetzen und dann wieder aufnehmen, um aus dem Paddock zu kommen.

„Und vielleicht kriege ich bei diesem Ausritt ja raus, wo ich hier bin."

Während er auf die Sattelkammer zuging, wandte er sich noch einmal zu Luca um und sah ihn warnend an.

„Wehe du machst dich jetzt aus dem Staub!"

Doch Luca sah ihn nur ruhig an, als wenn diese Option niemals für ihn in Frage käme.

Ächzend wuchtete Jamie den schweren Sattel auf seine Stange und ging dann zurück, um Luca abzureiben und schließlich in den Stall zu bringen.
 

Das Feuer prasselte in den zwei Kaminen und Jamie starrte auf die schwarzen und weißen Kästchen des Schachbretts und lehnte sich schließlich seufzend zurück.

„Schachmatt, ich seh' schon. Du hast gewonnen."

Jack lachte und lehnte sich ebenfalls zurück.

Eine Weile sagten sie nichts, dann fragte Jack plötzlich: „Sag mal, Jamie, wie läuft's eigentlich mit deinem Hengst?"

„Luca hat mich jetzt eine Woche nicht mehr abgeworfen, also, wann machen wir einen Ausritt?"

Jack lachte und Jamie studierte seine Miene. So ganz unbefangen war Jack nicht, das sah Jamie an der kleinen Furche in Jacks Mundwinkel und Jamie fragte sich, warum sein Gegenüber ihm etwas vorspielte.

„Was ist los, Jack?", fragte er ihn und das Grinsen verschwand von Jacks Zügen.

Zuerst schien Jack nach einer Ausrede zu suchen, dann zuckte er die Schultern und setzte sich aufrecht hin.

„Jamie, warum nennst du dein Pferd ausgerechnet Luca?"

Jamie atmete zischend ein. Diese Diskussion führten er und Jack nicht zum ersten Mal.

„Du hast mir Luca", er betonte den Namen extra, „geschenkt, vergiss das nicht. Ich durfte ihn nennen, wie ich wollte und ich habe ihn Luca genannt. Vielleicht hättest du erst nachdenken und mir bei bestimmten Namen eine Beschränkung auferlegen sollen, dann müsste ich nicht jedes Mal, wenn wir über mein Pferd reden eine total sinnlose Diskussion anfangen!"

Jack seufzte und beugte sich vor, ein Zeichen, dass er nun versuchen würde, an Jamies Vernunft zu appellieren. Wissend, was nun kommen würde, lehnte Jamie sich zurück und stellte sich taub.

„Jamie, eins muss ich dir anscheinend immer wieder erklären: Ich habe dir den Hengst-...", Jamie unterbrach ihn: „Luca!", Jack senkte den Kopf und sah ihn dann besänftigend an. „Ich habe dir Luca nicht geschenkt, damit du dich jedes Mal, wenn du ihn siehst an deine Vergangenheit erinnerst, sondern damit du dich auf etwas Anderes, Neues konzentrierst. Verstehst du das wirklich nicht, oder willst du es nicht verstehen?"

Tief seufzend stand Jamie auf und schaute Jack mitleidig und unverhohlen genervt an.

„Ich denke, ich bin hier nicht derjenige, der etwas nicht verstehen will, sondern du, Jack!" Dann drehte er sich um und verließ das Wohnzimmer, sich sehr wohl dem intensiven Blick Jacks, der auf ihn gerichtet war und ihm bis zur Tür folgte, bewusst.

Im Flur begegnete er Steve. Jamie nickte ihm zu und sprang dann die Stufen der großen Freitreppe in der Eingangshalle hinauf.

Im Flur begegnete er Emily, die ihn fröhlich angrinste, doch er hegte immer noch eine gewisse Abneigung gegen die rothaarige Angestellte, denn noch immer zog sie ihn bei jedweder Gelegenheit auf und verspottete ihn.

Doch bevor er in seinem Zimmer verschwinden konnte, sprach sie ihn an.

„Jamie?"

Mitten im Schritt stockte der Angesprochene, verdrehte die Augen und wandte sich dann mürrisch zu dem hübschen Mädchen um.

„Was", knurrte er recht überzeugend, doch sie schien das gar nicht zu stören. Im Gegenteil, sie kam auf ihn zu und lächelte gleichbleibend fröhlich.

„Weißt du's schon?"

„Was weiß ich schon?"

Sie lachte und schüttelte ihre rote Lockenpracht.

Unbeeindruckt sah Jamie sie an und sie setzte eine Schmollmiene auf.

„Nächste Woche veranstaltet Jack ein großes Fest. Auch die Angestellten dürfen an diesem Tag freimachen und mitfeiern!"

„Und?" Jamie verstand nicht, was sie von ihm wollte und ihr fröhliches Getue ging ihm auf die Nerven.

„Wenn möglich sollen alle mit Begleitung auftauchen!"

Verständnislos schaute Jamie sie an und erwiderte ihren gespannten Blick in keinerlei Weise.

„Tja", Jamie zuckte die Achseln, „dann werde ich wohl der Einzige sein, der ohne Begleitung dort auftaucht."

Nach ein paar Sekunden änderte sich Emilys Gesichtsausdruck und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen.

Hatte er sie etwa verlegen gemacht? Verwirrt runzelte Jamie die Stirn und fuhr erschreckt zurück, als plötzlich ein lautes Klatschen ertönte und ein beißender Schmerz durch seine Wange zuckte.

„Was-...?!"

„Du bist nicht nur total kindisch, sondern auch noch absolut unempfänglich für jedwede Andeutung und AHRG!", schrie sie ihn an und stampfte mit einem Fuß auf. Dann fuhr sie sich durch die Haare und machte auf dem Absatz kehrt. „Unsensibler Hornochse!"

Wut überkam Jamie und ungehalten schrie er ihr hinterher: „Bist du jetzt völlig durchgedreht!? Ich und unsensibel? Das ich nicht lache, vielleicht solltest du einfach mal lernen dich so auszudrücken, dass dich andere Menschen auch verstehen! Und nicht einfach Ohrfeigen verteilen, weil du der Ansicht bist, der Rest der Menschheit sei zu blöd für dein Gerede! Denk da mal drüber nach, du blöde Kuh!"

Dann riss er seine Zimmertür auf und knallte sie geräuschvoll wieder zu.

„Und dabei hab ich noch nicht einmal eine Ahnung, was genau, sie jetzt eigentlich von mir wollte!", grummelte er ungehalten und fragte sich dabei ehrlich, was sie denn so gestochen haben könnte.

Ein Lachen ließ ihn heftig zusammenfahren und sein hektischer Blick entdeckte erst nach dem zweiten Blick, dass Ethan ausgestreckt auf seinem Bett lag und ausgelassen vor sich hinkicherte.

„Ihr beide seid echt wie Katz und Maus."

„Was machst du denn hier? Und wieso Katz und Maus? Das ist doch lächerlich, Ethan, und geh gefälligst von meinem Bett runter, sonst-...!", wütete Jamie weiter, doch Ethan schien das nicht zu stören, ganz im Gegenteil, es schien ihn nur noch weiter zu amüsieren.

„Was sonst?", spottete Ethan und richtete sich auf. Das Grinsen auf seinem Gesicht quittierte Jamie mit einem wütenden Schnauben.

„Hast du echt nicht verstanden, was sie wollte?"

„Nein, meinst du, sonst hätte sie mich geschlagen?" Aufgebracht tastete er sich über die heiße Wange. „Ich wette mit dir, dass man ihre komplette Hand sehen kann, nicht?"

Ethan lachte und stand auf.

„Hör auf zu lachen, verdammt!", knurrte Jamie seinen Freund an.

Ethan verbiss sich das Lachen, grinste jedoch weiter breit vor sich hin.

„Ja, man sieht die komplette Hand." Ethan streckte die Hand aus und tippte fünfmal auf die brennende Haut.

„Eins, zwei, drei, vier, fünf Finger. Du musst sie echt wütend gemacht haben."

Jamie machte ein genervtes Geräusch und machte probeweise den Mund einmal auf und zu.

„Au, das spannt ganz schön. Diese blöde Mistkröte."

Vor sich hinmeckernd durchquerte Jamie sein Zimmer und schaute aus einem der Fenster hinaus auf den Park. Taubengraues Licht kündigte den frühen Abend an. Seufzend öffnete Jamie das Fenster und sog die angenehm warme Luft ein.

„Weißt du was?", kam Ethans Stimme von hinter ihm und Jamie drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett.

„Was denn?"

„Mir hat sie auch schon Ohrfeigen verpasst. Und zwar schon mindestens eine Hand voll."

Jamie staunte nicht schlecht, über das Geständnis seines Freundes.

„Ehrlich?"

„Ja, ich hab schon drei Monate Emily Rose Willet hinter mir. Ich sage dir, eine harte Schule."

„Aber ihr versteht euch doch?"

„Ich sag ja: Drei Monate intensives Studium des Rätsels Frau."

Jamie grinste und schloss das Fenster wieder.

„Gut, dass ich auf Männer stehe."

Ethan sah ihn ebenfalls grinsend an, dann erwiderte er mit einem bedeutungsvollen Blick zu Jamie: „Und schlecht, dass sie das auch tut..."

Aus der Sicht von Luca

„Ich will Jamie finden!"
 

Emíl sah ihn halb belustigt halb überrascht an.
 

„Spielt ihr verstecken, oder was?"
 

Luca sah ihn verwirrt an. „Nein, ich-... er, Jamie ist seit dem Brand im „Vouge" verschwunden", schloss er sein wirres Gestammel und sah zu Boden.
 

Emíl setzte sich neben ihn und sagte: „Das tut mir leid."
 

„Das heißt, du weißt auch nicht, wo er sein könnte?", hakte Luca nach und sah Emíl hoffnungsvoll an.
 

Doch Emíl schüttelte den Kopf und schwieg.
 

Schließlich brach der Farbige das Schweigen und fragte: „Und wie willst du ihn jetzt wiederfinden?"
 

„Ich habe mir gedacht, ich könnte versuchen, mich in anderen Londoner Nachtclubs umschauen und so nachforschen, ob Jamie irgendwo festgehalten wird. Sonst würde er doch bestimmt nach mir suchen, oder?"
 

Emíl wich seinem Blick aus. „Bestimmt. Nur, wie hattest du dir das mit dem nachforschen vorgestellt?"
 

„Ich wollte in ein paar Clubs anheuern, verstehst du? Um dann herauszufinden, ob Jamie da arbeitet."
 

Als Luca aufsah blickte er direkt in Emíls völlig entgeistertes Gesicht.
 

„Du willst was?! Das kann nicht dein Ernst sein!" Emíl sprang auf und seine erschüttert aufgerissenen Augen fixierten ihn ungläubig.
 

„Du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlässt, Luca! Du spielst mit deinem Leben! Du kannst nicht mal eben anfangen und dann wieder aussteigen! Verstehst du denn nicht? Wenn du erst einmal drin bist, kommst du nicht wieder raus! Und wenn du schon nicht an dich denkst, dann denk wenigstens an Jamie! Würde er wollen, dass du dich, um ihn zu finden, prostituierst?!"
 

Unfähig, Emíl zu widersprechen, saß Luca da und ließ das Gesagte auf sich niederprasseln.
 

Als Emíl verstummt, senkte sich wieder Stille über die beiden und plötzlich brüllte eine laute Männerstimme von irgendwo: „Emíl du kleine Ratte, wo steckst du schon wieder?"
 

Gehetzt blickte Emíl sich um und Luca erstarrte. Jetzt hatte er Emíl in Schwierigkeiten gebracht, nur weil der ihm hatte helfen wollen.
 

„Was kann ich tun?", flüsterte er und Emíl sah ihn verzweifelt an.
 

„Zieh dich aus, los!"
 

„Was-...?!"
 

„Nun mach schon und zerwühl das Bett!"
 

Luca riss sich seine Kleider vom Leib und auch Emíl zog sich rasch Hemd und Hose aus.
 

Stampfende Schritte näherten sich dem Zimmer und Luca krabbelte schnell ins Bett und verzog das Laken und die Decke, sodass es aussah, als hätten sie darin gerade wer weiß was getrieben.
 

„Leg dich hin!", formte Emíl lautlos mit den Lippen und Luca legte sich unter die Decke gleiten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
 

Dann legte Emíl eine genervte Meine auf und entriegelte die Tür.
 

Ein rotgesichtiger, grobschlächtiger Mann schubste Emíl ins Zimmer und sein suchender Blick blieb an Luca hängen.
 

„Larry, ich habe Kundschaft. Was willst du?"
 

Der Mann grunzte und musterte Luca grießgrimmig.
 

„Na dann, ich hoffe der Jungen bezahlt auch, wenn du mit ihm fertig bist!"
 

„Hat jemals einer nicht bezahlt, nachdem ich mit ihm fertig war?"
 

Larry grunzte noch einmal, dann drehte er sich um und Emíl schloss erleichtert die Tür hinter ihm.
 

„Du kannst dich wieder anziehen, Luca", murmelte Emíl, doch Luca blieb regungslos auf dem Bett sitzen.
 

Das gerade erlebte, ließ ihn an der Richtigkeit seines Planes zweifeln. Wenn das der normale Alltag war-... .
 

Emíl schien das Gleiche zu denken. „Na, hat dich das davon überzeugen können, dass dein Plan, so an Jamie heranzukommen das vielleicht nicht wert ist?", murmelte der Farbige leise und bedachte Luca mit einem langen Blick.
 

„Danke, Emíl", murmelte Luca ebenso leise und zog sich schnell wieder an.
 

Wortlos führte Emíl ihn aus dem Haus und ohne sich noch einmal umzublicken machte Luca sich auf die Suche nach dem nächsten Nachtclub, denn-... seine Entscheidung war schon lange gefallen.
 


 

Bei Einbruch der Nacht fand Luca endlich, was er gesucht hatte. Einen Nachtclub namens „Lapdance". Nach der Dämmerung war es sehr riskant, in einen Nachtclub zu gehen, das wusste Luca. Er würde sich noch bis morgen gedulden müssen.
 

Gegenüber war eine Kneipe, die einen Tellerwäscher suchte, gegen ein Zimmer und zwei Mahlzeiten täglich. Luca betrat die Kneipe und stellte sich bei dem Wirt vor. Der Wirt, ein bärtiger Mann in den Fünfzigern, zog die Nase hoch und spuckte aus und traf den Abfalleimer mit unwahrscheinlicher Sicherheit. Luca wusste nicht, ob er beeindruckt oder angeekelt sein sollte.
 

„Du willst hier für eine Nacht arbeiten, Bengel?"
 

„Ja, Sir, wenn das möglich wäre."
 

Der Wirt brummte und nickte zur Küchentür. „Da drin wartet ne Menge Arbeit auf dich."
 

Luca nickte und betrat zögerlich die Küche. Eine dicke Köchin rührte gerade in einem großen, gusseisernen Topf, voll mit einer Suppe, deren Farbe undefinierbar war.
 

Mit einem Gefühl der Übelkeit im Magen, dachte Luca an die Lebensmittel, die glücklicherweise noch in seinem Beutel waren.
 

„Du kannst gleich anfangen, die Sachen da drüben abzuwaschen, Junge", schnauzte die Köchin und spuckte mit ebenso großer Treffsicherheit wie ihr Mann – jedenfalls vermutete Luca, dass der Wirt ihr Mann war – in einen Abfalleimer neben der Schnittbank.
 

Das Abwaschwasser in seinem Trog war mit einer schillernden Fettschicht überzogen und Luca konnte nicht hinsehen, als er den ersten Teller in die Hand nahm und in die widerliche Brühe tauchte.
 

Der Abend zog sich in die Länge und als Luca endlich alles abgewaschen hatte, war er froh, sich endlich in seine kleine Kammer zurückziehen zu können. Zufrieden, eine so gute Lösung für diese eine Nacht gefunden zu haben, aß er seine letzten Lebensmittel und kaum war er auf die harte Matratze gesunken, schlief er auch schon tief und fest.
 


 

Als der nächste Morgen graute, erwachte Luca nicht wirklich ausgeruht, denn er hatte schlecht geträumt und das Bett war auch nur dem Namen nach eines.
 

Grußlos ließen der Wirt und die Köchin ihn ziehen und Luca war froh aus dieser Schenke heraus zu sein.
 

Gegenüber lag nun das „Lapdance" und ein mulmiges Gefühl schlich sich Luca in den Magen.
 

„Vielleicht nehmen die ja auch Tellerwäscher", murmelte er trocken und trat tief einatmend durch die schwingende Doppeltür.
 

Warum sahen sich alle Nachtclubs eigentlich so dermaßen ähnlich, dass man, wenn man sie erst einmal betreten hatte, nicht mehr wusste, in welchem genau man sich gerade befand?
 

Gut ein Dutzend junger Männer seines Alters saßen auf den mit rotem Leder bezogenen Sesseln und tranken Kaffee.
 

„Sieh an, noch nicht mal dunkel draußen und schon die erste Kundschaft. Crack, hast du eine neue Stellung erfunden, oder warum rennen dir alle Typen so dermaßen hinterher?"
 

Viele der Jungen lachten, und einer – ein großer, dunkelhaariger Junge – lief rot an und schlug dem Sprecher gegen den Hinterkopf.
 

Luca stand da, unfähig sich zu bewegen und schaute von einem grinsenden Gesicht zum nächsten.
 

Plötzlich erhob sich ein rotblonder Junge, mit kinnlangen Korkenzieherlocken und giftgrünen Augen kam auf Luca zugeschlendert.
 

„Och, Seamus...lass den armen Jungen...", feixten die anderen Jungs und Luca wich unbewusst ein Stück zurück.
 

Kaum eine Handbreit vor ihm, blieb besagter Seamus dann stehen und Luca spähte zu ihm hoch.
 

„Na, Kleiner, hast du dich verlaufen?" Die Jungen grölten vor Lachen. Doch Luca spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss und sah zu Boden.
 

Seamus rückte ihm noch näher und Luca trat zurück, doch kaum wich er zurück, kam Seamus hinterher, bis Luca schließlich mit dem Rücken an die Wand stieß.
 

Es herrschte gespannte Stille, bis Seamus schließlich flüsterte: „Hast du dich echt verlaufen, oder... willst du, dass ich es dir besorge?"
 

Bevor er es verhindern konnte, kam ein leises Keuchen über Lucas Lippen und Seamus drehte sich zu den Jungen um und reckte seinen Daumen in die Höhe.
 

Allen Mut zusammennehmend, schob Luca Seamus bestimmt von sich und sah ihm, zwar immer noch unnatürlich rot im Gesicht, fest in die grasgrünen Augen.
 

„Braucht ihr hier vielleicht einen Tellerwäscher?"
 

Die Jungen grölten erneut vor Lachen und sogar Seamus wandte sich ab und lachte haltlos.
 

Doch plötzlich knallte irgendwo eine Tür und eine weibliche, cholerisch klingende Stimme brüllte: „Was ist das hier für ein Lärm!?"
 

Eine weißblonde, vollbusige Frau mit blassem Teint und rotgeschminkten Lippen war im ersten Stock an die Brüstung getreten und sah mit wütendem Blick auf die Schar Jungen herab, deren Gelächter sofort verstummte.
 

Die Blondine in ihrem weißen Flanellmorgenrock schien ihnen Respekt einzuflößen, denn alle murmelten plötzlich leise Entschuldigungen.
 

„Will ich auch gemeint haben." Sie wollte sich gerade umwenden, da blieb ihr eiskalter Blick an Luca hängen. „Und wer bist du, Junge?" Die rotlackierten, überlangen Fingernägel der Frau klackerten ungeduldig auf der Brüstung.
 

Luca wusste nicht, was er sagen sollte und herumstottern wollte er vor diesen Typen ganz sicher nicht, also sagte er gar nichts und wartete ab.
 

„Hat dich einer kommen sehen?" Luca schüttelte schnell den Kopf.
 

„Komm rauf und dann die zweite Tür von rechts!", bellte die Frau und warf, ungeduldig an ihrer Zigarette, die in einem silbernen Zigarettenhalter steckte ziehend, noch einen warnenden Blick auf ihre Jungs herab.
 

Unsicher trat Luca auf die Treppe zu, sich der vielen Augen, die auf ihm ruhten, sehr wohl bewusst.
 

Zögerlich klopfte er an und die schon bekannte Frauenstimme rief ihn ungeduldig herein.
 

„Guten Tag."
 

Die Blondine wedelte abschätzig mit der Hand und bedeutete ihm, sich auf dem roten Stuhl vor ihrem Schreibtisch niederzulassen.
 

Luca wartete. Sie las das Dokument schweigend zuende, dann seufzte sie, legte ihre ebenfalls mit roten Nägeln ausgestatteten Füße auf den Schreibtisch, zog an ihrer Zigarette und musterte ihn interessiert. Dass ihr Morgenrock hochgerutscht war und dabei einen Großteil ihrer hellen, glatten Beine entblößte, schien sie nicht im Geringsten zu stören.
 

„Was machst du also hier?", fragte sie und ihre eisblauen Augen bohrten sich in seine.
 

Sowohl ihr für eine Frau sehr ungewöhnliches Auftreten, als auch der Respekt, den die Jungen ihr zollten, ließen Luca vermuten, dass sie hier in diesem Nachtclub die gleiche Stellung hatte, wie Viktor einst im „Vouge".
 

„Ich wollte mich um die Stelle eines Tellerwäschers bewerben, falls Sie einen suchen", schoss es ihm aus dem Mund und er errötete erneut.
 

Die Frau lachte, nahm ihre langen Beine vom Tisch und beugte sich zu ihm vor und präsentierte ihm einen gewagten Ausschnitt ihrer Brust.
 

„Ein Tellerwäscher sagst du?" Wieder musterte sie ihn und Luca bangte in Gedanken einige Sekunden, dann nickte sie und lächelte ihn wohlwollend an.
 

„Also gut. Dann hat das „Lapdance" ab heute eben einen süßen, kleinen Tellerwäscher! Und – was noch nicht ist, kann ja noch werden, nicht wahr?" Sie lachte wieder und streichelte ihm mit einem ihrer Klauenbewährten Finger über die Wange. „Du kannst gehen, sag den anderen Jungen, sie sollen dir kein Haar krümmen, oder ich streich ihnen das Trinkgeld, klar? Wir wollen doch nicht, dass so ein unschuldiger, süßer Junge geärgert wird, nicht wahr?"
 

Luca nickte widerstrebend und verließ das Büro. Kurz bevor er die Tür schloss, rief sie ihm noch hinterher: „Ach übrigens, ab jetzt bin ich für dich die Madame, verstanden?"
 

„Verstanden", gab Luca zurück und schloss die Tür.
 

Als er an die Brüstung trat, war der Raum unter ihm leer. Was die anderen Jungen wohl dazu sagen würden, dass er ab jetzt der Tellerwäscher hier sein würde. Würden sie es gut aufnehmen, oder würden sie ihn verachten? Immerhin mussten sie für ihren Unterhalt und ihre Unterkunft ganz andere Dinge tun. Na und wenn schon, dachte Luca, er hatte es geschafft. Er war in einem Nachtclub angestellt, ohne dafür mit fremden Männern schlafen zu müssen. Und über die Jungen, falls sie ihn denn akzeptierten, könnte er gut an Informationen über die Stars und Besetzungen der anderen Nachtclubs in London bekommen.
 

Die letzten Wochen hatte er sich so unglaublich nutzlos gefühlt, doch jetzt konnte er selber etwas dafür tun, dass Jamie und er wieder zueinander fanden.
 

„Oh Jamie,", flüsterte er leise, „egal wo du bist, ich liebe dich, hörst du? Ich liebe dich. Und ich werde dich finden!"

Aus der Sicht von Jamie

40.Kapitel Jamie
 


 

Die nächsten Tage verbrachte Jamie damit, sich auch das Cottage aufs Genaueste anzusehen. Wenn er nicht gerade Reitunterricht hatte, schlenderte er durch die zahllosen Korridore, betrat und durchstreifte die unzähligen Gästezimmer und Räume, von denen er geglaubt hatte, dass sie nur in Schlössern und Universitäten zu finden seien. Zum Beispiel fand er, wie Emily ihm schon bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte, eine Bibliothek und darüber hinaus noch einen Kartenraum, diverse Lesezimmer mit weichen Sesseln und Kaminen. An jeder Ecke schien sich ein Badezimmer zu befinden aber das Erstaunendste, was Jamie fand, war das hauseigene Casino.
 

Mehrere Spieltische – sowohl Pokertische und andere Brettspiele, als auch Billard und Tischkricket, eine Bar und sogar Dartscheiben gab es dort. Der Raum schien seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein und so lag auf allen Tischen eine feine Staubschicht und die Regale der Bar waren ebenfalls verstaubt. Bis auf ein paar Schleifspuren, die vermuten ließen, dass der eine oder andere Angestellte sich ein bisschen von dem teuren Alkohol in den Flaschen bedient hatte, war alles unberührt. Dann war Jamie der Stuhl vor einem der bodentiefen Fenster aufgefallen. Irgendwie passte dieser Stuhl dort nicht hin. Irgendjemand hatte ihn aus einem Zwölferkreis um einen Pokertisch entfernt und dort ans Fenster gestellt, wozu wusste Jamie nicht. Er war näher herangetreten und hatte sich auf dem Stuhl niedergelassen. Durch die Scheibe konnte man hinaus auf den Park schauen. Ein paar Augenblicke hatte Jamie dort gesessen und hinausgeschaut, dann hatte er seine Erkundungstour durch Jacks Zuhause fortgesetzt.
 

Auch gerade jetzt durchstöberte Jamie wieder das Haus nach versteckten Räumen und interessanten Dingen, doch eine undeutliche Stimme, die seinen Namen rief, hielt ihn davon ab, die Klinke eines weiteren Raumes herunterzudrücken und er wandte sich um und ging in die Richtung zurück, aus der die Stimme ihn gerufen hatte.
 

Sobald er einige Gänge weiter um die Ecke herumtrat, hinein in den Korridor in dem sich sein Zimmer befand, sah er Ethan, der mit an den Mund gelegten Händen dastand und gerade erneut nach ihm rufen wollte.
 

„Ah, da bist du ja endlich! Wo warst du denn? Warte:", Ethan streckte eine Hand aus und sah ihn mit spöttisch zusammengekniffenen Augen an, „du warst wieder auf Erkundungstour, richtig?"
 

„Halt die Klappe, Ethan", murrte Jamie. „Was willst du denn?"
 

Theatralisch seufzend kam Ethan auf ihn zu und nahm ihn bei der Schulter. „Die Gäste kommen demnächst an und du solltest dich ein bisschen hübsch machen, findest du nicht?"
 

„Nein", knurrte Jamie wenig begeistert, sich in Schale schmeißen zu müssen. Seit er aus dem „Vouge" heraus war, hatte er Gefallen daran gefunden, in Schlabberkleidung herumzulaufen.
 

Doch Ethan ignorierte seine Antwort und schob ihn durch die Zimmertür.
 

Jamie musterte Ethan und stellte fest, dass sein Freund das Hemd weit aufgeknöpft hatte und dass sich eine undeutliche Spur roter Male über seine Brust zog.
 

Bedeutungsvoll und mit hochgezogenen Augenbrauen deutete er auf diesen Umstand und Ethan errötete leicht und boxte ihn in die Seite.
 

„Als ich die Nachricht erhielt, hatte ich eben auch etwas Besseres zu tun... guck nicht so!"
 

Doch Jamie grinste nur spöttisch und ließ sich von Ethan ins Bad bugsieren.
 

Ohne große Umstände, knöpfte Ethan ihm das Hemd auf und zog es ihm aus, dann schnappte er sich ein Tuch und machte Anstalten, es in ein Becken mit erhitztem Wasser zu tauchen, als Jamie seine Hand festhielt.
 

„Und jetzt machst du mit mir weiter, wo du mit Stevie aufgehört hast?", bemerkte er sarkastisch und Ethan streckte ihm die Zunge heraus.
 

„Was sagt der eigentlich dazu, dass du in deiner Vergangenhit mit mir rumgevögelt hast?"
 

Irgendetwas in Jamie war auf Krawall gebürstet und er hatte das dringende Bedürfnis Streit anzufangen, doch Ethan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und hielt ihm nur wortlos den Lappen hin.
 

Jamie nahm ihn und wusch sich.
 

„Nichts. Ihn stört es nicht."
 

Jamie schnaubte und bedachte Ethan mit einem eindeutigen Blick.
 

„Nein ehrlich, er sagt, wenn er sich Gedanken darum machen würde, mit wem ich ihn erstens schon alles betrogen habe, bevor ich hier herkam, und zweitens mit wem ich überhaupt irgendwann einmal geschlafen habe, würde er wahnsinnig werden, als konzentriert er sich lieber auf das Hier und Jetzt."
 

Zweifelnd sah Jamie seinen Freund an, doch Ethan schien das ernst zu meinen und auch daran zu glauben, was Steve ihm gesagt hatte.
 

Da begann Ethan zu kichern und sah ihn verschwörerisch an.
 

„Aber weißt du was? Am Anfang, da war er so unerfahren und tollpatschig, das war manchmal echt zu süß. Da musste ich immer daran denken, wie ich mit dir rumgemacht hab, damit ich nicht schlappmachte, wenn er mal wieder irgendein Problem hatte."
 

Jamie grinste belustigt und stellte sich die Szene vor.
 

„Mal ganz ehrlich: Das weiß Stevie doch ganz bestimmt nicht, oder?"
 

Ethan schüttelte lachend den Kopf und schnappte Jamie den Lappen weg.
 

„Und wehe du verrätst ihm das!"
 

Jamie schüttelte den Kopf und wechselte dann das Thema. Wenn er daran dachte, wie glücklich Ethan mit Steve war, dann erinnerte er sich nur umso mehr an Luca und sein eigenes Unglück und das führte dazu, dass er schlechte Laune bekam.
 

„Weißt du, wer alles kommt? Und was soll dieser Schwachsinn, dass jeder mit Begleitung kommen muss?"
 

Ethan sah ihn mit großen Augen an. „Jamie, du hast es immer noch nicht geschnallt, oder?"
 

„Was denn, verdammt?", empörte Jamie sich und stemmte die Hände in seine Hüften.
 

„Mal ganz ehrlich, Jamie, du bist manchmal so was von schwer von Begriff..."
 

„Ethan!", knurrte Jamie und zog die Türen seines Kleiderschrankes auf.
 

„Also gut. Jack möchte, dass du wieder unter Menschen kommst. Deswegen das mit der Begleitung."
 

„Seid ihr denn keine Menschen?"
 

Ethan seufzte und deute auf ein bordeauxfarbenes Seidenhemd, doch Jamie schüttelte den Kopf und hielt nach einem ganz bestimmten Hemd Ausschau.
 

„Jamie, er möchte, dass du mit anderen Menschen in Kontakt kommst."
 

„Heißt dann andere Menschen, andere Männer?"
 

Mit den Schultern zuckend sah Ethan ihn an und machte eine ausholende Geste.
 

„Nicht unbedingt... ich meine, Emily hat's ja auch bei dir versucht. Vielleicht solltest du dich bei ihr entschuldigen und sie fragen, ob sie deine Begleitung werden möchte", schlug Ethan vor und sah ihn fragend an.
 

„Emily?!", rief Jamie und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Ethan seufzte ungehalten. Doch Jamie blieb dabei.
 

„Niemals!"
 


 

„Emily! Emily, bitte warte mal einen Moment!"
 

Die Angesprochene blieb stehen und wandte sich zu der Person um, die gerade ihren Namen gerufen hatte. Verblüffung breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
 

„Du? Was willst du?", fragte sie argwöhnisch und packte den Besen, den sie in den Händen trug fester.
 

Jamie blieb schliddernd vor ihr stehen und kam aus dem Gleichgewicht, da sich der lange Läufer unter seinen Füßen wellte und er darüber stolperte.
 

Das Mädchen grinste verstohlen und sah ihn geradeheraus an.
 

„Ähm ich..."
 

„Ja?"
 

„Ich wollte mich... bei dir entschuldigen, weißt du?" Unsicher sah Jamie in ihre grünen Augen und versuchte ein entschuldigendes Lächeln.
 

„Weswegen denn? Ich wüsste nicht, wieso du dich bei mir entschuldigen solltest!", bemerkte sie schnippisch und wandte sich zum Gehen.
 

„Emily, warte mal bitte!", rief Jamie und griff nach ihrem Ärmel.
 

„Es tut mir leid, dass ich dich nicht gefragt habe, ob du nicht meine Begleitung beim Fest werden möchtest, ehrlich!"
 

Sie dachte kurz nach und drehte sich dann zu ihm um. Ungläubige Falten gruben sich in ihre Stirn und ihre Augen blitzen argwöhnisch.
 

„Ach ja? Wer sagt denn, dass ich da mit dir hingehen will?"
 

Jamie stockte der Atem. Er war aufrichtig verwirrt.
 

„Hä? Ich dachte-..."
 

Emily brachte ihn resolut zum Schweigen.
 

„Also, was ist jetzt?"
 

Die Verwirrung musste ihm sehr deutlich ins Gesicht geschrieben sein, denn sie behielt ihre Geduld und obwohl Jamie sich schon innerlich auf eine weitere Ohrfeige vorbereitet hatte, musterte sie ihn nur spöttisch und fragte: „Fragst du mich nun, oder nicht?"
 

„Ach so... Ähm, ja... also...", Jamie räusperte und sammelte sich. „Möchtest du mit mir zum Fest gehen, Emily?"
 

Sie tat erneut, als müsse sie überlegen, dann neigte sie den Kopf zur Seite und strahlte ihn unverblümt an.
 

„Ja, Jamie, ich möchte."
 

Jamie schluckte und atmete beruhigt aus.
 

„Dann ist ja alles gut. Ich seh dich dann in der Eingangshalle?"
 

Emily nickte und wandte sich zum Gehen, da fielen Jamie Ethans mahnende Worte ein.
 

„Ach Emily?"
 

Sie sah über die Schulter, ging aber weiter.
 

„Danke!"
 

Ihr Lachen hallte über den Flur und als sie um die Ecke bog, rief sie: „Sag Ethan: Gute Arbeit!"
 

Verdutzt stand Jamie da und spürte, wie die altbekannte Wut über dieses freche Mädchen wieder in ihm hochstieg.
 

„Blödes Miststück", knurrte er und stapfte säuerlich zurück zu seinem Zimmer, wo Ethan auf ihn wartete, um das Ergebnis ihres Plans zu erfahren.

Aus der Sicht von Luca

41.Kapitel Luca
 


 

„Vorsicht, bitte!" Luca schlängelte sich durch die stehenden und lachenden Menschen. Auf der einen Hand balancierte er ein Tablett mit leeren Champagnergläsern und in der anderen Hand hatte er eine leere Sektflasche. Es war Anfang März und Luca arbeitete nun schon seit knapp vier Wochen hier im „Lapdance" und bis jetzt machte es ihm sogar Spaß den Kellner zu spielen und der späte Abwasch machte ihm keine allzu großen Probleme, denn so wie er es sich seit er mit Jamie zusammen gewesen war gewünscht hatte, hatte er nun den gesamten Vormittag frei. Trotz der langen Zeit hatte er noch keine einzige wirklich glaubwürdige Information über Jamie gefunden, was wahrscheinlich daran lag, dass die Jungen hier ihn mieden und obwohl nicht unfreundlich, dennoch reichlich distanziert behandelten. Doch Luca konnte es ihnen nicht verdenken.
 

Sein Blick glitt über die vielen Männer und hin und wieder sah er auch einen der Jungs mit einem von ihnen verschwinden. Dann verspürte er eine tiefe Erleichterung, und Dankbarkeit, dass so was nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Zwar hatten hin und wieder ein paar Männer nach ihm gefragt, doch die Madame hatte sie, zu Lucas grenzenloser Überraschung, jedes Mal abgewimmelt.
 

Seine Augen blieben an der wasserstoffblonden, ausgenommen hübschen Frau in einem paillettenbestickten, hellen Kleid hängen und als hätte sie seinen Blick bemerkt, wandte die Madame sich zu ihm um und winkte ihn zu sich. Luca hob die Schultern und nickte zu seinen vollen Händen hinab. Die Madame nickte gnädig und Luca huschte schnell in die Küche, stellte das Tablett ab, wusch sich die Hände und eilte dann zurück in den Barraum, um der Madame seine Aufwartung zu machen.
 

„Madame?", sprach er seine Chefin an und diese wandte sich lächelnd zu ihm um.
 

„Ah, Luca", begann sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Dieser Herr hier-..." Sie sprach weiter, doch Luca hörte ihr nicht mehr zu. Jetzt war es also doch so weit gekommen. Er sollte auch andere Dienste anbieten. Fragen schossen ihm durch den Kopf, er wusste weder ein noch aus. Worauf hatte er sich dort eingelassen?
 

Er würde weglaufen, noch heute Nacht!
 

„Luca!" Luca schreckte hoch und sah die Madame entschuldigend an.
 

„Entschuldigen Sie,", wandte sie sich ebenfalls entschuldigend dreinschauend an den Kunden, „Luca wird Ihnen sicher gerne zuhören, nicht wahr Luca?"
 

Luca musterte den Mann vor sich. Groß, schlank, vielleicht Mitte Zwanzig. Dunkelbrauens, fast schwarzes Haar. Fremdländisch, aber gutaussehend. Ein Blick in dessen braune Augen verriet Luca nichts. Vielleicht war dieser Typ auf mehr als Reden aus, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall waren es keine brutalen Augen und das erleichterte Luca schon ein wenig.
 

Ehe er sich versah, stand er mit dem Mann alleine da und Unsicherheit ließ ihn leicht zittern.
 

„Hallo, ich bin Juan José Armaro Fernandez", stellte der junge Mann sich vor und Luca hörte einen starken, aber sehr angenehmen Akzent. Er vermutete eine spanische Herkunft, konnte es aber nicht wirklich eindeutig bestimmen, denn außer dem typisch spanisch klingenden Namen, hatte er noch nie einen Spanier Englisch sprechen gehört.
 

„Meinen Namen kennen Sie ja schon", antwortete Luca steif, weil er sich dachte, dass es besser wäre, den Kunden auf Abstand zu halten.
 

Juan lachte melodisch und wider willen musste Luca sich eingestehen, dass ihm der junge Mann sehr sympathisch erschien.
 

„Ein wenig Trotz. Wie erfrischend. So etwas findet man sehr selten in diesen Clubs."
 

Luca wartete ab, was wohl als Nächstes käme und Juan wies gleich darauf auf eine kleine Sitzecke. Luca presste die Lippen zusammen, setzte sich jedoch.
 

„Sonst sind hier alle immer so lasziv und sehr zuvorkommend, das mag ich nicht. Was sagst du dazu?"
 

„Ich denke, dass Sie bei mir nicht mit jedweder Laszivität oder Anschmiegsamkeit rechnen können, das sage ich Ihnen dazu", erwiderte Luca kühl und ganz entgegen seiner Erwartung begann der Mann zu grinsen.
 

„Ich glaube, Sie erliegen hier gerade einem Missverständnis, Luca", lachte er und fuhr sich durch das dichte Haar.
 

Luca begann zu zweifeln. Was war hier los? Was wollte dieser Mann von ihm?
 

Der junge Mann schien seinen fragenden Blick richtig verstanden zu haben und lächelte.
 

„Ich glaube ich sollte mich erklären, nicht wahr? Also, kennen Sie einen gewissen Jamie Stuart-Masen?"
 

Luca stockte der Atem, dann nickte er heftig. Sein Herz raste erst, dann stolperte es ungehalten vor sich hin.
 

„Ja, bitte erzählen Sie mir alles, was Sie wissen!"
 

Juan hob entschuldigend die Schultern und schüttelte den Kopf.
 

„Ich kann Ihnen leider nichts über diesen Jamie sagen, denn ich kenne ihn nicht." Der junge Mann senkte den Blick und seine eine Augenbraue zuckte leicht.
 

„Aber ich habe ihn vor ein paar Wochen getroffen und ich habe mitbekommen, wie er sich mit jemanden über eine Person unterhielt, die er wohl suchte."
 

Lucas Herz schlug ihm bis zum Hals.
 

„Und?"
 

Der Mann lächelte traurig.
 

„Ich habe mich in die Unterhaltung eingemischt und diesem Jamie mitgeteilt, dass ich einen Jungen kenne, der auf seine Beschreibung passt, denn ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Und, nun kommt der unangenehme Teil meiner Geschichte. Er hat mich gebeten Ihnen etwas auszurichten, falls Sie wirklich der sind, als den ich Sie dargestellt habe."
 

Jamie sucht mich, dachte Luca überglücklich und gespannt, wie diese Nachricht wohl lauten würde, schwieg er gespannt.
 

„Ich soll Luca ausrichten, dass er nicht mehr nach Jamie suchen soll-..."
 

Luca fiel.
 

„Weiterhin soll ich ihm sagen, dass Jamie ihn immer noch liebe, ihn aber nicht weiter mit seinem Lebenswandel belasten könne und da besagter Jamie nicht aus seinem Gewerbe herauskäme, würde er Sie darum bitten, ihm zu verzeihen, ihn zu vergessen und ein glückliches Leben ohne ihn zu verbringen, denn Sie hätten etwas Besseres als ihn verdient."
 

„Nein!", hauchte Luca. „Nein! Nein! NEIN!" Tränen rannen ihm über das Gesicht, doch er beachtete sie nicht. Er beachtete nichts mehr. Nicht die erschrocken zu ihm hinschauenden Leute, nicht das laute Schluchzen, das wie von alleine aus der Kehle kam und nicht das Krachen, das ertönte, als er aufsprang, den Tisch umwarf und aus dem Nachtclub stürmte.
 

Draußen angekommen bekam er Kopfschmerzen, denn in seinem Kopf dröhnte ein viel zu lautes, schrilles Geräusch. Immer wieder rief er „Nein!", doch das, was Juan ihm dort drinnen gesagt hatte lief immer wieder in seinen Ohren ab, schien sich in sein Herz zu brennen und ihn schier zu zerreißen.
 

Blind vor Tränen stolperte er die kalten Straßen entlang, bis ihm schließlich klar wurde, dass dieses laute, schrille Geräusch seine eigene, schreiende Stimme war.
 

Jamie wollte ihn also nicht mehr? Womit hatte er das verdient?! Womit!? Er wollte ihn nicht mehr verletzen?! Dann sollte er gefälligst zu ihm zurückkommen! Unbändige Wut, die seinem tiefen Schmerz entsprang, durchflutete ihn und Luca wollte nur noch um sich schlagen und alle Menschen blindlings verletzten, so lange, bis ihm sein eigener Schmerz nicht mehr als so alles umfassend erscheinen würde.
 

Luca schrie es heraus und spürte, wie ihm trotz der Wut sein Herz zerbrach. Es war ein Gefühl, als wenn Messer ihm direkt unter den Rippen in den Körper stachen und alles in ihm sich zu einem einzigen, schmerzhaften Knoten zusammengeschlossen hätte.
 

Eine Brücke tauchte in der Dunkelheit auf. Unter ihr floss munter und dreckig ein kleiner Bach. Erneut überwältigte Luca der Schmerz und er krümmte sich zusammen.
 

Seine Beine stolperten und Luca ließ sich fallen. Schluchzend und fest zusammengerollt ließ er sich den Abhang hinunterrollen, doch der Fluss verschmähte ihn und sein Körper stockte, bevor er in das kalte Wasser fallen konnte.
 

Unter der Brücke war ein kleines, sandiges Plätzchen und da Luca keine Kraft mehr hatte, sich aufzurichten, zog er sich unter den Brückenbogen und blieb zusammengerollt und bebend liegen.
 

Seine Gedanken schossen kreuz und quer durch seinen pochenden Kopf.
 

Ja, er wollte Jamie dafür, dass er ihm das hier antat hassen, aber verdammt noch einmal er konnte es einfach nicht.
 

„Jamie, du hirnrissigster aller Idioten, wenn du doch nur zu mir zurückgekommen wärst, ich hätte schon einen Weg gefunden, mit deinem Leben klarzukommen, nur dass du mir so was antust, damit habe ich nie gerechnet. Und du Dreckskerl weißt tief in dir drin ganz genau, dass ich dieses Leben nie gewollt hätte", stammelte er im Flüsterton und von leisen Schluchzern unterbrochen, dann grub er seine Hände in die Haare und raufte sie unter Tränen solange, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.
 

Als der Morgen schließlich graute, war Luca so erschöpft, dass er einfach keine Tränen mehr hatte und nach einer Weile, in der er benommen dalag und die Brückenunterseite anstarrte, begann er leise zu singen.
 


 

Everything will slip away,
 

Share in Pieces will we lay.
 

When memories fade into emptiness,
 

Only time will tell it´s tell,
 

If this is our end now.
 


 

Es war eine Liedzeile, woher wusste Luca nicht mehr, doch dass sie ihm gerade jetzt in den Sinn kam…
 

Er hatte noch nie gut gesungen, doch gerade jetzt hatte er das Bedürfnis der Welt zu zeigen, wie es ihm innerlich ging. Und da er schon lange keine Kraft mehr zum Schreien hatte, kamen nun diese wenigen Zeilen immer und immer wieder von seinen Lippen, bis auch der noch übriggebliebene Rest seiner Stimme brach.
 

Kraftlos blieb er liegen, auch als die Sonne immer höher Stieg, den Zenit übertrat und sich langsam wieder senkte, hatte er das Gefühl einfach liegen bleiben zu müssen, da sein Körper sonst in aberhundert Stücke zerbrechen würde.
 

„Wann das wohl wieder aufhört, Jamie?", murmelte er leise und ein trauriges Lächeln huschte über seine gesprungenen Lippen.
 

„Dieser Schmerz ist so heftig, ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage... und dann?" Vor Lucas verschwommenem Blick tauchte ein Gesicht auf.
 

Der Mund dieses Gesichtes bewegte sich, doch Luca hörte die Stimme nicht.
 

Das Gesicht verschwand und Luca fragte sich, ob das eben doch nur seiner Fantasie entsprungen war.
 

Müde schloss er seine Augen wieder und wollte sich gerade einer wohltuenden Schwärze anheim fallen lassen, da ergoss sich etwas Eiskaltes über sein Gesicht und unwillkürlich versuchte er zu schreien. Doch seine gemarterte Stimme brachte nur ein heiseres Krächzen heraus.
 

Geräusche strömten wieder auf ihn ein, als hätte das kalte Nass ihm seine Sinne zurückgegeben und Luca öffnete seine Augen.
 

Brennendes Dreckwasser lief ihm in die Augenwinkel und schnell wischte er mit dem Ärmel über die Augen.
 

Verwirrt und noch immer benommen richtete Luca sich auf und wartete, bis sich sein Kreislauf beruhigt hatte. Dann sah er sich um.
 

Eine kräftige Frau stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und sah ihn unfreundlich und ungeduldig an.
 

„Das Schlafen unter den Brücken ist nicht erlaubt!", fuhr sie Luca an und bückte sich mürrisch nach dem Eimer zu ihren Füßen. Ihr graubraunes, geflicktes Kleid ließ vermuten, dass sie eine Wirtin war.
 

Luca nickte stumm und rappelte sich auf. Eine merkwürdige Leere füllte ihn aus und Luca wusste nicht, ob er dankbar dafür sein sollte, oder sich lieber den Schmerz zurückwünschen sollte, damit er wenigstens noch spürte, dass er existierte.
 

Jetzt fühlte es sich an, als wäre er ein Geist. Undeutlich war ihm bewusst, wie schrecklich er aussehen musste; verdreckt, verstrubbelt und danke seines Sturzes die Uferböschung hinab, mit aufgeschlagenen Händen und Knien versehen.
 

„Wenn ich dich noch einmal hier erwische, dann setzt's was und dann ruf ich die Bullen, damit sie dich in `ne Zelle stecken, verstanden?"
 

Wieder nickte Luca, doch nun beeilte er sich, von der aufgebrachten Frau wegzukommen.
 

Ziellos durchstreifte Luca die Stadt. Sein ganzes Hab und Gut befand sich noch im „Lapdance", doch er hatte nicht den Mut und die Kraft jetzt dorthin zurückzukehren. Irgendwann würde er vielleicht wieder dorthin gehen können, doch es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie dann noch dort wären.
 

Doch zum Glück hatte sein Misstrauen den anderen Jungen gegenüber ihn in sofern gerettet, dass er all sein Bargeld immer in einem kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel trug. Und so hatte er wenigstens die Möglichkeit, sich nun, nachdem er erneut arbeitslos war, noch ein paar Tage, wenn nicht sogar Wochen, von dem Ersparten zu ernähren.
 

Trostlose Gleichgültigkeit lenkte Lucas Schritte und so blieb er erstaunt stehen, als er bemerkte, dass ihn seine Schritte wieder in die Straße geführt hatten, in der das „Vouge" gewesen war.
 

„Werd ich denn nie von diesem vermaledeiten Ort wegkommen?", fragte er sich und seufzte in Erinnerung daran, dass hier alles begonnen und geendet hatte.
 

Doch nicht nur sein Leben mit Jamie hatte hier Anfang gefunden, sondern auch das Leben welches er geführt hatte, bevor er sich in einen Prostituierten verliebt hatte.
 

Vater, Mutter, Brüder. Alle hatten sie hier gelebt und doch war die Erinnerung merkwürdig durchscheinend, im Gegensatz zu denen, die mit dem Haus nebenan zu tun hatten.
 

Was wohl aus seiner Mutter und seinem Vater geworden war?
 

Von merkwürdiger Beklemmung erfüllt, blieb Luca vor dem alten Elternhaus stehen. Die Fenster waren dunkel und auch aus dem Kamin stieg kein Rauch in den schmutzig grauen Himmel empor.
 

Um diese Uhrzeit war Vater nicht zu Hause, also wagte Luca es, an die hohe Holztür anzuklopfen. Nichts rührte sich.
 

Mutter könnte beim Einkaufen sein, dachte Luca und wandte sich zum Gehen, als die Tür sich dann doch öffnete und ein fremder Mann ihn erstaunt musterte.
 

„Was kann ich für dich tun, Junge?"
 

Verwirrt starrte Luca den Mann an. Dann platze es aus ihm heraus.
 

„Wer sind Sie und was tun Sie im Haus meiner Mutter?"
 

Mindestens genauso verwirrt starrte der Mann zurück, dann begann er zu grinsen.
 

„Warst lang nicht zu Hause, Bursche, was?"
 

Überrumpelt von dieser Frage schüttelte Luca den Kopf. Der Mann öffnete die Tür weiter und winkte ihn zu sich.
 

Misstrauisch trat Luca näher, blieb jedoch weit genug auf Abstand, um sich möglichen Handgreiflichkeiten sofort entziehen zu können.
 

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich, Junge. Welche willst du zuerst hören?"
 

Luca antwortete nicht.
 

„Also, dein Vater ist tot und die Frau Mutter unauffindbar. Das ist die schlechte." Der Mann wartete auf eine Reaktion seitens Luca, doch dieser stand nur wie versteinert da und starrte zu Boden.
 

„Na ja, und wenn du schnell bist, kannst du noch ein paar Sachen vor der Zwangsauktion retten. Wir schaffen hier alles raus, was nicht niet- und nagelfest ist", lachte der Mann und machte eine einladende Geste ins Innere des Hauses, doch Luca reagierte erneut nicht.
 

Mit den Gedanken weit fort, ließ er den Auktionshelfer einfach stehen, drehte sich um und ging davon. Dann stockte er und wandte sich noch einmal um.
 

„Sir?"
 

Der Mann, der gerade die Tür wieder schließen wollte, sah ihn fragend an.
 

„Sagen Sie, an was ist mein Vater gestorben?"
 

Achselzuckend sah der Mann ihn an.
 

„Ich denk mal an `nem ordentlichen Herzkasper, so viel wie der gesoffen hat. Nichts für ungut, natürlich", fügte er mit entschuldigendem Blick noch hinzu.
 

„Ach nein, ist schon gut. Dankeschön", murmelte Luca und sah zum Himmel.
 

Dieses Jahr würde kein Schnee mehr fallen.

Aus der Sicht von Jamie

Irgendwie war Jamie aufgeregt.
 

Gleich würden die ersten Gäste eintreffen. Zwar waren sie fast eineinhalb Wochen zu früh, aber Jack hatte reichlich Zimmer zur Verfügung, um alle unterzubringen. Da Ethan ihn ja ungnädiger Weise dazu gedrängt hatte, ihnen seine Aufwartung zu machen, hatte er sich ein hellblaues Seidenhemd angezogen und an den Beinen trug er eine weite Leinenhose und Lederstiefel.
 

„Da hat sich ja einer schick gemacht", spottete Jack, als er Jamie kommen sah. Als Jack sich wieder umdrehte, zog Jamie ihm ungesehen eine Fratze und Ethan brach in unterdrücktes Kichern aus.
 

Schließlich saßen sie alle zusammen mehr oder weniger wortkarg und in gespannter Erwartung im Wohnzimmer und warteten darauf, dass ein Bediensteter ihnen die Ankunft des ersten Gastes mitteilen würde.
 

Plötzlich sprach Jack Jamie an.
 

„Du Jamie, was hältst du davon, wenn wir morgen einen Ausritt machen? Ich hatte es dir ja versprochen und es sieht aus, als wenn das Wetter morgen genau richtig wird. Was sagst du?"
 

Jamie lächelte und nickte. „Ja, von mir aus gerne, wann willst du denn los?"
 

Jack überlegte einen Moment, dann sah er ihn an und meinte: „Wie wäre es mit kurz nach dem Frühstück?"
 

„Musst du dich nicht um deine Gäste kümmern?", warf Ethan überrascht ein Jack wandte sich zu ihm um.
 

„Nur weil die bis zum Fest hier wohnen dürfen, heißt das ja noch lange nicht, dass ich den Bespieler für sie machen muss, oder?", lachte er und stand auf ein kurzes, deutliches Klopfen an der Wohnzimmerflügeltür hin auf.
 

„Kommt, wir sollten die Speichellecker meines Vaters wenigstens begrüßen, wie es sich gehört, nicht wahr?"
 

Ungläubig saß Jamie da und starrte Jack an, der ohne Eile auf die Tür zuging. Diese Seite des sonst so vernünftigen und ausgeglichenen Jack kannte er nicht.
 

„Mach deinen Mund zu, oder es kommen Fliegen rein", neckte Ethan leise und schlug Jamie sanft auf den Hinterkopf.
 

Immer noch etwas platt von dieser offensichtlichen Respektlosigkeit Jacks gegenüber seinem Vater und dessen Freunden, schloss er seinen Mund und stand auf, um den anderen in die Einganshalle zu folgen.
 


 

Der Geruch von salziger Gischt und weiten Flächen voller Heidekraut strömte durch Jamies Nase und benebelte ihn auf eine wunderbare Art und Weise. Die beruhigende Wärme und stete Bewegung des starken Pferdekörpers unter sich, der Wind in seinem Haar und auf seiner Haut; das alles gab ihm ein tiefes Gefühl von Frieden.
 

„Jack?", rief er der vor ihm hergaloppierenden Person zu, die sich im Sattel umwandte und sich dann zurückfallen ließ.
 

Jamie wartete, bis Jack neben ihm war, dann fragte er: „Sagst du mir, wo wir hinreiten?"
 

Wohlwissend, was Jack antworten würde, wartete er ab.
 

„Nein, Jamie, das geht nicht. Bitte, fang jetzt keine Diskussion an, ich wollte nicht mit dir streiten. Heute mal ausnahmsweise nicht."
 

Jamie überging Jacks Sarkasmus und schmollte halbherzig.
 

„Sagst du mir wenigstens wohin – rein auf die Landschaft bezogen – wir hinreiten?"
 

Lachend gab Jack seiner Stute die Sporen und sie machte einen Satz nach vorne. Dennoch hielt er das Pferd noch eine Weile im Trab.
 

„Tut mir wirklich leid, Jamie, dich erneut enttäuschen zu müssen, aber diesmal soll es eine Überraschung sein!", rief er und ließ die Zügel schießen, sodass seine Stute von dannen preschte und die überrumpelten anderen beiden hinter sich ließ.
 

Perplex und auch unzufrieden mit der erneuten Absage, gab Jamie Luca ebenfalls die Sporen und in wenigen Augenblicken hatte er zu Jack aufgeholt.
 

Eine Zeit lang, lieferten sie sich auf dem ins Unendliche weiterzugehende Feld ein Kopf-an-Kopf-Rennen, dann verlangsamte Jack auf einmal sein Pferd und brachte die Stute tänzelnd zum Stehen.
 

„Was ist?", fragte Jamie außer Atem und mühte sich Luca, dem die Sache anscheinend zu großen Spaß gemacht hatte, als dass er sich jetzt wieder mit einem langsameren Tempo zufrieden gab, zu zügeln und musste noch ein paar Kreise reiten, bevor er den wilden Hengst wieder unter Kontrolle hatte.
 

Luca schnaubte unwillig.
 

Zu beschäftigt, um großartig auf die Landschaft geachtet zu haben, wurde Jamie erst auf die nah vor ihnen abfallende Klippe aufmerksam, als Jack ihn darauf hinwies.
 

Staunend und zutiefst beeindruckt, stieg er ab und näherte sich den rau ins Nichts abstürzenden Klippen bis auf ein paar Schritte. Dann beugte Jamie sich vor, um hinabzusehen.
 

„Das ist ja-...", stotterte Jamie und trat ungläubig zurück.
 

„Beeindruckend, nicht wahr?" Jack lächelte, der ebenfalls abgestiegen war und hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen in den Sprühregen, den der Wind, über den Klippenrand trug.
 

Jamie nickte sprachlos und starrte hinaus auf das endlose Meer.
 

Lange standen sie einfach nur da und schauten hinaus, dann stieg Jack wieder auf und sagte geheimnisvoll: „Komm, ich zeig dir einen noch viel schöneren Ort."
 

Jamie konnte sich beim besten Willen keinen noch schöneren Ort vorstellen, als diesen hier, doch widerspruchslos folgte er Jacks Beispiel, gab ein paar Hilfen und Luca begann ohne Mucken hinter Jacks Stute hinterzutraben.
 

Immer noch völlig gefangen genommen von dieser wunderschönen Landschaft, konnte Jamie gar nicht genug bekommen von den Dingen, die er gerade zum ersten Mal in seinem Leben sah. Jack tat es ihm nach und staunte, doch bestimmt nicht zum ersten Mal wie Jamie, über diese wunderschöne Landschaft.
 

Schließlich stieg Jack erneut ab, nahm das Zaumzeug seiner Stute und band die Zügel an einen alten, verwitterten Baustamm.
 

„Wo gehen wir denn jetzt hin?", fragte Jamie und stellte sich vor, wie erbarmungslos diese grauen Wassermassen wohl gegen die Klippe schlugen und sich dort brüllend brachen.
 

„An den Strand", antwortete Jack schlicht, doch Jamie fiel die Kinnlade herunter.
 

„Aber-... da werden wir doch von den Wellen zermalmt?!"
 

Jack lachte leise. „Steig ab und binde Luca da an. Die Pferde müssen hier bleiben. Aber nimm bitte deine Satteltasche mit."
 

„Warum das denn?" Jamie stieg ab und band Luca an.
 

„Da ist unser Picknick drin", grinste Jack und Jamie starrte ihn an.
 

Picknick?" Bis jetzt hatte Jamie noch nicht einmal mitbekommen, dass er überhaupt Satteltaschen hatte.
 

Geduldig beobachtete Jack, wie Jamie neugierig in die Satteltasche lugte. Jamie sah auf und begegnete Jacks Blick. Eine Weile schauten sie sich an, dann wandte Jack sich ab und ging einen kaum erkennbaren Pfand die Klippe hinab. Jamie sah ihn langsam verschwinden und als Jacks Kopf gänzlich verschwunden war, löste sich seine Starre.
 

„Jack, warte!", rief er, nahm die Satteltasche und folgte Jack.
 

Doch kaum war er über den Klippenrand getreten, blieb er erneut stehen. Vor ihm lag ein grauer, kurzer Strand, der fast einer kleinen Bucht glich. Links, rechts und hinten von grobem, felsigen Gestein umgeben und auf der letzten Seite schwappte und wälzte sich das graue Wasser stetig auf den teils nassen, teils feinen und trockenen Sand. Jack war schon am Strand unten angekommen und bückte sich manchmal, um hier und da Treibholz aufzusammeln. Jamie stolperte den engen Pfand hinab und trat das erste Mal in seinem leben auf einen Sandstrand. Das feine, von Jahrmillionen der Brandung zermalmte Gestein wich unter Jamies Stiefeln.
 

Fasziniert von dieser fließenden Masse unter seinen Füßen, kniete Jamie sich hin und grub seine Hände tief in den warmen Sand. Der plötzliche Gedanke, wie kindisch er sein Verhalten vor Jack aussehen musste, erhob sich Jamie und trat auf Jack zu, der gerade damit beschäftig war, das Treibholz zu einem Stapel zusammenzufügen.
 

„Hast du die Tasche?", fragte Jack ohne aufzusehen und entzündete das Treibholz mit einem geschickten Schlag zweier Steine aufeinander.
 

Jamie nickte und ließ sie vor Jack auf den Sand fallen.
 

„Dann lauf bitte noch einmal hoch, und hol die beiden Pferdedecken, dann müssen wir uns nicht in den Sand setzten."
 

Etwas verstimmt darüber, dass Jack ihn so herumkommandierte, machte Jamie sich auf, um das Verlangte zu holen. Beim Gehen fiel ihm auf, dass Jack sein Pferd vorhin auf der Klippe zum ersten Mal freiwillig beim Namen genannt hatte. Jamie erkannte zudem, dass die Klippe gar nicht so karg war, wie es einem beim ersten Hinsehen vorkam. Überall wuchsen kleine, verkrüppelte Bäumchen und Moose hatten jeden noch so kleinen Fleck Erde zwischen dem Gestein bewachsen. Gräser drängten sich aus den kleinsten Ritzen und hier und da entdeckte Jamie sogar winzige Blumen.
 

Die Pferde hatten sich wohl oder übel damit abgefunden, angebunden worden zu sein und grasten friedlich vor sich hin. Jamie erlöste sie von den Sätteln und legte die rauen Satteldecken zusammen. Dann nahm er sie auf und stieg den schmalen Grad an der Klippe hinab zurück.
 

Als er den Strand erreicht hatte, sah er, dass Jacks Feuer unterdessen freudig vor sich hinprasselte.
 

Wortlos warf Jamie ihm eine Decke zu und breitete seine eigene auf dem unebenen Untergrund aus.
 

„Und?", fragte Jack und sah Jamie aufmunternd an und tat es ihm nach, indem er die Decke auseinander faltete und sich dann darauf sinken ließ.
 

Jamie gab sich einen Ruck. Er musste endlich mal über seine Vorbehalte gegenüber seinem Gönner und Geber hinwegkommen. Das war Jack gegenüber ungerecht und nachdem er nun schon vier Monaten bei ihm lebte vollkommen überflüssig.
 

„Wunderschön. Diese Landschaft ist einzigartig. Ich habe so etwas noch nie gesehen."
 

Jack lächelte glücklich und auch Jamie lächelte.
 

Seufzend ließ Jack sich auf den Rücken fallen und schloss geblendet von der hochstehenden Sonne die Augen.
 

„Schon seit ich klein war, habe ich diese Küste immer geliebt. Diese raue Schönheit und die faszinierenden Farben, angefangen vom taubengrau des Meeres oder dem saftigen Grün der Klippen bis hin zu den glühenden Sonnenuntergängen hier am Wasser." Er seufzte erneut. „Einfach traumhaft, nicht?"
 

Jamie nickte und beobachtete das auf und ab der Wellen kurz bevor sie auf den Strand aufliefen.
 

„Wunderschön, ja", murmelte er und legte das Kinn auf die angezogenen Knie.
 

Lange Zeit sagten sie nichts, sondern genossen einfach die natürlichen Geräusche um sich herum. Das beständige Rauschen der Brandung, die Schreie und Rufe, der über ihnen kreisenden Meeresvögel, das Gluckern der Steine, wenn das Wasser sie erfasste und sie übereinander und untereinander her rollen ließ.
 

Schließlich raschelte es hinter Jamie und er wandte sich um. Jack hatte sich aufgerichtet und nach der Satteltasche gegriffen.
 

Grinsend überreichte er ihm ein dick bebuttertes Brot und eine kalte, gut gewürzte Fleischscheibe.
 

„Mit den besten Grüßen aus der Küche stibitzt", gab Jack lachend zu und fuhr sich, nachdem er Jamie das karge Mahl ausgehändigt hatte, verlegen durchs Haar.
 

Jamie grinste und wartete, bis auch Jack sich seine Vesper aus der Tasche genommen hatte, wünschte ihm einen Guten Appetit und biss in das Brot.
 

Zufrieden kauend, beobachtete Jamie nicht zum ersten Mal an diesem Tag, den jungen Mann neben sich aus den Augenwinkeln.
 

Ein komisches Gefühl beschlich ihn und schließlich wand er sich fast schamvoll ab.
 

„Ja, das hat gut geschmeckt!", verkündete Jack träge und Jamie zwang sich, ihn doch anzusehen. Lächelnd und mit einem überaus zufriedenen Ausdruck im Gesicht hatte Jack sich zurückgelegt und die Augen geschlossen.
 

Hatte der jetzt ernsthaft vor, zu schlafen? Jamie beobachtete Jack eine Weile, doch der rührte sich nicht mehr und irgendwann gab Jamie es auf und wandte sich wieder, die Knie angezogen und das Kinn oben drauf, dem Meer zu.
 

Lange saß er so da, doch irgendwann stellte sich aufgrund seines ebenfalls gut gefüllten Magens ein verlockendes Gefühl der Schwere in ihm ein und er legte sich seufzend auf den Rücken und schloss müde seine Augen.
 


 

Jamie wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als ihn etwas weckte, das er nicht einordnen konnte.
 

Als erstes fiel ihm auf, dass das schimmernde Rot hinter seinen Lidern verschwunden war. Dann bemerkte Jamie, dass ein maskuliner Geruch, den er durchaus ansprechend fand, bei jedem Atemzug in seine Nase und in seine Lunge strömte.
 

Unsicher öffnete er die Augen und erstarrte.
 

Das, was ihn vorm hellen Licht der Sonne geschützt hatte, war Jacks Gesicht. Und der Duft, den er eingeatmet hatte, war der Geruch von Jacks Körper, der sich viel zu nah über ihm befand.
 

Unfähig etwas zu sagen, schaute Jamie einfach geradeaus in die rehbraunen Augen seines Gegenübers.
 

Langsam beugte Jack sich vor und obwohl Jamie wusste, oder besser ahnte, was jetzt folgen würde, entzog er sich Jack nicht, sondern blieb liegen und wartete ab.
 

Jacks Lippen berührten die Seinen und ein kurzes, intensives Prickelnd durchfuhr Jamie. Sein Kopf war wie leergefegt und sein Körper unfähig, auf die so lange nicht gespürte Berührung zu reagieren.
 

Jack ließ von ihm ab und sah ihn stumm an.
 

Erneut wollte Jack ihn küssen, doch etwas in Jamie regte sich und er drehte seinen Kopf zur Seite, sodass Jacks Lippen nur seine Wange streiften.
 

„Ich kann nicht, Jack", flüsterte Jamie, zu seiner eigenen Schande fast bedauernd.
 

Als hätte Jack geahnt, was oder besser gesagt wer, Jamie davon abhielt, sich küssen zu lassen, flüsterte er ebenso leise zurück: „Jamie, Luca ist tot."
 

„Ich weiß", gab Jamie traurig zurück und sah Jack in die Augen.
 

„Es ist an der Zeit, dass du das endlich hinter dir lässt und neu anfängst. Du kannst nicht dein ganzes Leben einem Toten hinterher trauern. Ich weiß, dass du ihn geliebt hast, aber nichts wird ihn dir je zurückbringen. Schau nicht mehr zurück, Jamie."
 

Irgendwo wusste Jamie, dass Jack recht hatte und mit einiger Überwindung gelang es ihm, Lucas Bild von seinem angestammten Platz vor seinem Inneren Auge zu verdrängen, obwohl er sich dabei unendlich schlecht vorkam.
 

Jamie öffnete seine Augen wieder und eine lange Zeit sahen Jack und er sich schweigend an, dann beugte sich Jack zu ihm hinab und küsste ihn genauso sanft wie zuvor. Und obwohl er spürte, wie etwas in ihm in diesem Augenblick zerbrach, blieb er regungslos liegen und versuchte die aufkommenden Tränen zurückzuhalten.

Aus der Sicht von Luca

Luca wusste nicht, warum ihm, als er da einsam und nun wirklich völlig verloren auf dem Bürgersteig gestanden hatte, ausgerechnet der junge Pfarrer eingefallen war, der ihn vor ein paar Wochen auf der Straße für einen verzweifelten Selbstmörder gehalten hatte.
 

„Falls du irgendwann darüber reden möchtest, ich bin Michael Stantsford. Von Sonntag bis Freitag bin ich in der Sankt Marien Kapelle anzutreffen, komm doch einfach mal vorbei."
 

Ein bitteres Lachen entrang sich seiner Kehle und Luca fragte sich, wie viel Jamie von dem alten Luca noch in ihm finden würde, falls er ihm jemals wieder begegnen sollte.
 

Immer mehr und öfter stellte Luca fest, dass er unglaublich zynisch und hart reagierte, auf Dinge, über die er früher gelacht hätte. Auf dem Weg zur Sankt Marien Kapelle zog er die traurige Bilanz: Seit er Jamie kennen gelernt hatte, hatte er seine Familie entehrt, sie verloren – nun eben gänzlich, da sein Vater tot und seine Mutter unauffindbar war. War obdachlos gewesen, hatte sich in einem Nachtclub verdingt und insgesamt so ziemlich alles verloren, bis auf sein Leben. Falls man seine einzige und große Liebe zu all den anderen Dingen dazuzählen wollte, auch die.
 

Doch wen wollte er hier eigentlich für das alles verantwortlich machen? Er hatte sich doch selber dafür entschieden, so zu leben. Nunja, er hatte sich nicht gerade dafür entschieden, so zu enden, wie es nun gekommen war, doch im Grunde konnte er Niemanden außer sich selbst dafür verantwortlich machen.
 

Eine Verkettung unglücklicher Zufälle oder wie auch immer man es nennen wollte.Schicksal vielleicht?
 

Die Kapelle zu der er unterwegs war, lag nicht weit entfernt und eine knappe Stunde später stand Luca auf dem gepflasterten Vorplatz einer kleinen, aber durchaus hübschen Kapelle. Dem Stand der Sonne nach musste es früher Abend sein und in ein oder zwei Stunden würde die Sonne hinter den Dächern verschwinden und bald danach untergehen.
 

Es kostete Luca einige Überwindung, als er durch das schwere Holztor getreten war und es mit einem hörbaren Bollern hinter ihm zuschlug.
 

Mit gesenktem Kopf blieb Luca stehen und wollte im Grunde nichts lieber, als wieder aus dem Gotteshaus hinausstürmen, denn er fühlte sich schrecklich sündig, was er wohl auch war.
 

„Na mein Sohn, was kann ich für dich tun?", fragte eine bekannte Männerstimme und Luca hob zaghaft den Kopf.
 

Vor ihm stand, in schwarzem Talar, Michael Stantsford. Auch in Pfarrer Michaels Augen glomm Erkennen auf und er streckte Luca lächelnd beide Hände entgegen, die dieser jedoch nicht ergriff.
 

„Was führt dich hierher, mein Junge?"
 

Luca sah ihn unentwegt an. „Wie alt seid Ihr, Vater?"
 

Michael sah ihn verwirrt an, dann antwortete er: „Neunundzwanzig, warum fragst du?"
 

Luca ergriff ein eigenartiges Gefühl. „Habt Ihr schon einmal gesündigt?"
 

Pfarrer Michael schaute ihn immer verwirrter an, dann nickte er.
 

„Natürlich habe ich schon einmal gesündigt. Ich bin ein Mensch und Menschen sind prädestiniert dafür, dass sie sündigen. Deshalb brauchen wir unseren allmächtigen Vater, damit er uns Unvollkommenen die Sünden vergibt."
 

Luca spürte, dass er an die Grenzen der Respektlosigkeit stieß, doch das berührte ihn nicht im Geringsten.
 

„Habt Ihr auch schon einmal besseren Gewissens gesündigt?"
 

Der Pfarrer dachte nach und schüttelte schließlich, nun beinahe ungläubig schauend, seinen Kopf. Dann begann er zu lächeln und fragte schließlich ruhig:
 

„Kann es sein, dass du mir etwas beichten möchtest, mein Sohn?"
 

Damit hatte Luca nicht gerechnet. Er hatte noch nie gebeichtet, denn seine Mutter hatte seit ihrer Hochzeit die Kirche größtenteils gemieden. Außer Ostern oder Weihnachten waren sie nie in der Kirche gewesen und dann auch nur, um sich das Gerede der Leute zu ersparen.
 

Doch Luca dachte darüber nach und entschied, dass es vielleicht gar nicht schlecht wäre, mal mit jemandem über sein Leben zu sprechen.
 

Doch plötzlich durchfuhr es ihn siedendheiß und er wagte nicht, dem Pfarrer in die Augen zu sehen.
 

Er hatte willentlich mit einem Jungen verkehrt und nicht nur, dass dieser Junge sein Geliebter gewesen war, sondern er war auch noch ein Prostituierter gewesen.
 

Luca wandte sich wortlos um und wollte gerade die Kirche verlassen, da rief der Pfarrer hinter ihm her.
 

„Es gibt keine Sünde, die nicht durch Buße wieder ausgemerzt werden könnte. Du kannst dein Leben von vorne beginnen. Bereue und alles, was du je getan hast wird dir vergeben werden!"
 

Luca stockte. Ihm würde alles vergeben werden?
 

War es denn eine Sünde, dass er liebte? Nur weil es nicht Mädchen waren, die er liebte?
 

Das knirschende Geräusch, als Luca sich langsam umdrehte, hallte laut in der leeren Kirche wieder.
 

Luca schluckte. „Ja, Herr Pfarrer, ich habe etwas zu beichten."
 

Ohne seinen Blick zu heben, folgte Luca Michael zu dem Beichtstuhl und betrat die kleine Kammer. Er ließ sich auf die harte, hölzerne Kniebank nieder und faltete seine Hände.
 

„Nun mein Sohn,", begann Pfarrer Michael und seine Stimme klang gedämpft durch das verhängte Gitter zwischen ihnen, „Welche Sünden möchtest du bekennen?"
 

Erneut musste Luca schlucken, dann begann er leise zu erklären.
 

„Ich liebe-... habe einen Jungen geliebt." Luca wartete Michaels Reaktion ab, doch der sagte nichts und so sprach er weiter.
 

„Ich habe mit ihm... verkehrt und das aus freiem Willen. Hinzu kommt, dass dieser Junge ein-...ein... einer der käuflichen Jungen war, die in den meisten Nachtclubs dieser Stadt arbeiten. Aber er hat das nicht freiwillig gemacht und wollte eigentlich mit mir fliehen, doch-..." Luca holte Luft und sammelte sich. „Nachdem sich die... Umstände geändert haben, habe ich in einem Nachtclub gearbeitet, jedoch nur als Tellerwäscher und Kellner!", fügte Luca schnell hinzu und horchte, ob der Pfarrer jetzt etwas dazu sagen würde, doch der Mann Gottes enthielt sich jedem Kommentar. „Ich weiß, dass das gegen das Gesetz ist, doch ich wollte Jamie wiederfinden und ich hatte nie die Absicht mich zu verkaufen und gerade habe ich erfahren, dass mein Vater tot ist und meine Mutter sich mit einem anderen Mann abgesetzt hat, ohne sich auch nur von mir zu verabschieden!", ein leises Schluchzen seinerseits machte Luca darauf aufmerksam, dass ihm unbemerkt heiße, salzige Tränen die Wangen hinab rannen.
 

Schamvoll, dass er sich in der Gegenwart eines Fremden so gehen lassen hatte, schlug Luca die Hände vors Gesicht und unterdrückte weitere Schluchzer.
 

Pfarrer Michael ließ ihn sich beruhigen, dann räusperte er sich.
 

„Bereust du, dass du mit diesem Jungen verkehrt hast?"
 

Luca spürte den unbändigen Schmerz, den Jamies Nachricht an ihn in ihm heraufbeschworen hatte. War seine Liebe zu Jamie wirklich nur eine teuflische Versuchung gewesen, der er erlegen war?
 

Vielleicht war dieser Moment gerade der Augenblick, in dem er sich entscheiden musste. Würde er sein altes Leben hinter sich lassen, oder würde er immer mit dem Schmerz darüber leben wollen, dass er seine einzige und große Liebe verloren hatte? Wäre er überhaupt fähig, je wieder eine Beziehung zu einem Menschen aufzubauen?
 

Ja, auf einmal wollte Luca bereuen! Er wollte glauben, dass er neu beginnen können würde. Luca wollte vergessen, einfach nur noch vergessen!
 

„Ich-... Ich bereue es."
 

„Bereust du, dass du überhaupt einen Jungen geliebt hast?"
 

„Ich bereue es." Luca bebte und immer noch liefen ihm die Tränen in Bächen das Gesicht hinab.
 

„Bereust du, dass du das Gesetz gebrochen hast, indem du unerlaubter Weise als Minderjähriger in einem Nachtclub gearbeitet hast?
 

„Ich bereue es", schluchzte Luca und vergrub erneut sein Gesicht in den Händen.
 

Eine Weile schwieg der Pfarrer, dann sagte er ruhig und ernst: „Dir sei vergeben, mein Sohn."
 

Eine ungeheure Erleichterung durchströmte Luca.
 

Doch der Pfarrer war noch nicht fertig mit ihm.
 

„Zur Strafe wirst du bis zum Herbst in dem Kinderheim der Sankt Marien Kapelle unentgeltlich arbeiten. Du wirst jeden Tag dieser Zeit als Bußzeit abarbeiten und ich werde dir jede Woche erneut die Beichte abnehmen."
 

„Ja, Vater", murmelte Luca und erhob sich. Gegenüber erhob sich Pfarrer Michael ebenfalls und eine plötzliche Scham erfüllte Luca, sodass er spürte, wie er rot wurde. Nun wusste Michael, was er alles getan hatte. Eigentlich müsste er ihn verachten, doch als Luca aus den Augenwinkeln das Gesicht des Pfarrers betrachtete, sah dieser höchstens tieftraurig aus.
 

„Hast du eine geeignete Unterkunft für diese Nacht?", fragte der Pfarrer ihn nun und Luca schüttelte widerwillig den Kopf.
 

„Gut. Dann kommst du gleich heute Abend mit in das Heim und wirst dort deine Arbeit als Hilfsarbeiter gleich heute Abend beginnen."
 

Luca nickte ergeben und stand regungslos und abwartend da, bis der Pfarrer sich eilig entfernte und in der Sakristei verschwand.
 

Ich könnte abhauen, dachte Luca, doch sogleich schämte er sich für diesen Gedanken, denn wollte er nun seine Sünden vergeben bekommen, oder nicht?
 

Das Geräusch zweier Paar Füße, die auf ihn zukamen, rissen Luca aus seinen Gedanken. Pfarrer Michael kam in Begleitung eines Jungen auf ihn zu.
 

Der Junge hatte braunes Haar, graublaue Augen und er war etwa so alt wie Luca, vielleicht ein wenig älter. Er trug eine Kutte, jedenfalls musste es eine sein, denn die kleidartige Bekleidung des Jungen sah aus, wie in Jamies Erzählungen über die Mönche des Klosters, in dem er damals als Kind einmal gewesen war.
 

Wollte der Pfarrer ihn etwa sofort auf die Probe stellen? Luca sah den beiden misstrauisch entgegen.
 

„Luca, das ist Jeremie, ein Novize aus dem kleinen Kloster außerhalb von London. Kennst du es?"
 

Luca starrte Jeremie an und nickte beklommen.
 

„Jeremie wird dich ins Heim begleiten, denn auch er arbeitet dort. Er ist sozusagen der Oberbefehlshaber, wenn ich mal nicht anwesend bin." Der Pfarrer lachte herzlich und Jeremie grinste Luca vorbehaltlos an.
 

Unsicher nickte Luca. Michael musterte ihn noch einmal kurz, dann hob er verabschiedend die Hand und entfernte sich.
 

Jeremie und Luca sahen einander an, bis der Ältere die Schultern zuckte und auf das Kirchenportal zuschritt, es öffnete und Luca ebenfalls hindurchtreten ließ, bevor er es wieder hinter ihnen beiden schloss.

Aus der Sicht von Jamie

Was habe ich nur getan...?
 

Jamie fühlte sich merkwürdig leer. Fühlte man sich so, wenn man auch das letzte Bisschen an Hoffnung verloren hatte? Jamie fuhr sich mit den Händen rau über das Gesicht. Der Flur war dunkel. Jack und er waren später als geplant zurückgekommen.
 

Die Tür zu seinem Zimmer ging leise auf und fiel mit einem Klicken hinter ihm ins Schloss.
 

„Jamie?"
 

Jamie fuhr zusammen, dann erkannte er Ethan, der in seinem Bett saß und ihm entgegensah.
 

„Was machst du denn hier?", fragte Jamie ihn halb laut und begann, sich auszuziehen.
 

Ethan prustete. „Wonach sieht es denn aus?"
 

Jamie zuckte die Schultern und wusch sich mit etwas Wasser aus der Waschschüssel das Gesicht und die Hände.
 

„Ich hab auf dich gewartet."
 

Stille legte sich über die beiden und nur Jamies Füße auf dem dicken Teppichboden waren zu hören.
 

„Alles in Ordnung mit dir?", fragte Ethan leise und rückte ein Stück zur Seite, damit Jamie sich neben ihn legen konnte.
 

Jamie brummte und wandte ihm den Rücken zu. Er würde Ethan nicht erklären können, was er fühlte. Er wusste es ja selber nicht einmal so genau. Irgendwie fühlte er sich schuldig, mit Jack rumgemacht zu haben. Und gleichzeitig auch so traurig, weil er seine einzige, große Liebe jetzt wirklich aufgegeben hatte. Und das Schlimmste war, falls Luca doch überlebt haben sollte – so abwegig und verzweifelt dieser Gedanke auch sein mochte – jetzt hatte er ihn betrogen. Er hatte Luca betrogen und das machte Jamie wirklich zu schaffen.
 

Doch Ethan ließ ihn nicht in Ruhe, sondern schmiegte sich an seinen Rücken und legte einen Arm um seine Taille.
 

„Jamie, ich bin dein Freund. Wenn du Kummer hast, und – widersprich mir nicht –, du hast definitiv welchen, dann kannst du mit mir darüber reden!"
 

Ethan klang leicht beleidigt.
 

Doch Jamie dachte nicht daran, Ethan irgendetwas mitzuteilen und schwieg beharrlich. Eine Zeit lang verharrte Ethan noch so, dann grummelte er irgendetwas und ließ sich auf den Rücken fallen.
 

Wieder breitete sich die Stille aus.
 

„Jamie?" Jamie ignorierte ihn.
 

„Ich hab mich von Steve getrennt."
 

Kurzzeitig stoppte Jamie der Atem, dann fuhr er herum und starrte Ethan entgeistert an.
 

„Was hast du?!"
 

Ein Grinsen, das so garnicht zu dem eben Gesagten passen wollte, lag auf Ethans Lippen.
 

„Ach was? So bekommt man also deine Aufmerksamkeit?", fragte der Schwarzhaarige seinen Gegenüber süffisant.
 

„Argh, du Blödmann!", rief Jamie und schlug nach Ethan, der sich lachend über das Bett und aus Jamies Reichweite kugelte.
 

„Hörst du mir denn jetzt zu?"
 

Jamie setzte sich auf und funkelte Ethan böse an. „Hab ich eine Wahl? Du laberst mich doch auch ohne meine Zustimmung dicht und meine Ohren kann ich leider nicht verschließen!"
 

„Hey-...", Ethan nahm sein Gesicht zwischen die Hände und zwang Jamie so, ihn anzuschauen.
 

„Was ist da am Strand mit Jack passiert, mhm?"
 

Spürend, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, wollte er sein Gesicht abwenden, doch Ethan ließ ihn nicht.
 

„Hat er dich geküsst?" Ethan sah ihn fest an, jedoch lag in seinem Blick keine Spur einer möglichen Verurteilung deswegen.
 

Jamie nickte.
 

„Habt ihr sonst noch etwas gemacht?"
 

Nein, sie hatten sich nur geküsst. Nur! Jamie lachte leise und bitter auf, dann schüttelte er den Kopf.
 

„Ich hab ihn verraten, Ethan!", flüsterte Jamie heiser und senkte beschämt den Blick.
 

„Nein Jamie, du hast niemanden verraten! Luca ist tot!"
 

„Und wenn nicht?!", entgegnete Jamie hitzig, schämte sich aber sofort dafür. Ethan musste ihn für bescheuert halten, wenn er nach so langer Zeit immer noch nicht einsah, dass Luca tot war. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, daran zu glauben, so sehr er das auch versuchte.
 

Klug genug, nicht darauf zu antworten, schwieg Ethan und sah ihn einfach nur an. Dann nahm er ihn in die Arme und Jamie hielt sich an ihm fest.
 

Einen langen Moment hielten sie sich umarmt, dann gab Ethan ihn frei und legte sich wieder hin. Jamie tat es ihm nach und starre ins Dunkel.
 

Schließlich brach Ethan die Stille erneut, als er leise fragte: „Du hast es gemocht, nicht?"
 

Jamie holte bebend Luft. „Ja, das hab ich wohl...", gab er schließlich mit halb erstickter Stimme zu und rieb sich mit den Händen durchs Gesicht.
 

„Wo ist eigentlich Steve?", fragte Jamie, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
 

Ethan brummte etwas und murmelte dann: „Er muss für ein paar Tage nach London. Irgendetwas sehr wichtiges, seiner Aussage nach..."
 

Kurze Zeit schwieg er, dann wälzte er sich abrupt zu Jamie herum und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
 

„Ich kann mir nicht vorstellen, was an dieser Sache so dringend sein soll!"
 

Erst schaute Ethan ihn noch eine Weile lang böse an, dann begann er urplötzlich zu grinsen.
 

„Meine Güte, Jamie!", rief er aus. „Ich glaube ich bin eifersüchtig!" Ethan lachte und warf sich wieder auf den Rücken. „Ich und eifersüchtig, dass ich das noch mal erleben darf!"
 

Selbst Jamie musste Widerwillen grinsen und gähnte anschließend herzhaft.
 

„Ethan, lass uns schlafen. Ich glaube, ich weiß, was Steve in London will und Nein, ich werde es dir nicht verraten. Du könntest von selbst drauf kommen, es ist wirklich ziemlich offensichtlich."
 

Ethan seufzte tief und zog die Decke bis zum Kinn. „Gut, schlafen wir."
 

Wohlige Wärme breitete sich unter der Decke aus und Jamies Gedanken drifteten weg. Irgendwann gab auch Ethan das Grübeln auf, kuschelte sich dicht an seinen Freund und nach einer Weile wurden seine Atemzüge tief und gleichmäßig. Ein leises Lächeln legte sich auf Jamies Lippen und bald darauf schlief auch er ein. Und dann begann er zu träumen.

Aus der Sicht von Luca

Tipp zum Anhören, während des Lesens: "Hurt" von Johnny Cash

http://de.youtube.com/watch?v=SmVAWKfJ4Go
 

Luca starrte aus dem Fenster der Kutsche und wusste nicht so recht, ob er sich nun höflicherweise mit dem Pfarrer unterhalten sollte oder nicht. Dieser Jeremie hatte sich, sobald sie bei der Kutsche angekommen waren, auf den Kutschbock gesetzt und der Pfarrer hatte Luca die Tür zur Kutsche aufgehalten. Er hatte das Gefühl, dass ihm, seit er sich so unglücklich verliebt hatte, sein Leben mehr und mehr aus den Händen geglitten war und das Gefühl ständiger Verzweiflung und Hilflosigkeit hatte sich in seinen Gedanken festgesetzt.
 

Die Landschaft war größtenteils vom Schnee befreit und erste, zarte Sprösslinge gaben den Wäldern links und rechts eine Ahnung von dem später aufleuchtenden, saftigen Grün des Frühlings. Dennoch war der Boden noch gefroren und die Kutsche holperte über den unebenen Weg dahin, sodass es Luca irgendwann etwas unwohl wurde.
 

Die Stimme des Pfarrers riss ihn schließlich aus seiner Starre und ließ ihn aufsehen.
 

Michael sah ihn lächelnd und freundlich an, dennoch suchte Luca in seinen Zügen nach Zeichen der Ablehnung und des Ekels, es wäre nicht so als dass er das nicht verdient hätte.
 

„Das Kloster liegt ein bisschen außerhalb, deswegen müssen wir so lange fahren. Ich hoffe, dass dir die Abgeschiedenheit nichts ausmacht."
 

Luca schüttelte den Kopf.
 

„Nein, es ist sogar genau richtig, schließlich will ich weg von alldem Anderen."
 

Michael nickte langsam und bedächtig, dann schwieg er wieder und Luca sah weiter zum Fenster hinaus.
 

Zu seiner Linken sah er in der Ferne eine kleine Ansammlung von Häusern auftauchen und sah den Pfarrer fragend an. Der nickte lächelnd.
 

„Das ist das Sankt Marien Kloster, ganz recht."
 

Luca nickte schweigend und beobachtete, wie die paar Gebäude immer näher rückten.
 


 

Schließlich hielt die Kutsche klappernd und holpernd vor dem größten Gebäude des Klosters.
 

„Die Kinder werden schon beim Abendessen sein, komm, vielleicht bekommst du auch noch etwas ab", sagte Pfarrer Michael gutgelaunt, klatschte in die Hände und ging auf die kleine Doppeltür aus dunklem, wettergegerbten Holz zu. Luca betrachtete das Gebäude.
 

Grobe Backsteinmauern und ein tief herab gezogenes Reetdach, zersplitterte Rahmen und spakige Fensterscheiben. Alle Gebäude schienen ziemlich heruntergekommen, doch wie sollte es auch anders sein. Ein Kloster warf wahrscheinlich nicht mal genug ab, um die dort lebenden Menschen zu ernähren, geschweige denn um die Anlage in Schuss zu halten.
 

Von seinem jetzigen Standpunkt aus konnte Luca noch zwei weitere Gebäude sehen. Das eine war wahrscheinlich ein Schuppen in dem die Geräte gelagert wurden, die man für die Pflege der hinter ihm liegenden Koppel, auf der tagsüber vermutlich Kühe oder Schafe weideten, brauchte. Das andere Gebäude, das als einziges doppelstöckig war, sah er nur teilweise, weil das Haupthaus die Sicht darauf versperrte. Es war ebenfalls aus grobem Klinker doch das Dach sah besser aus, als das des Haupthauses.
 

„Luca!", rief der Pfarrer erneut und Luca wandte sich von der Umgebung ab und trat auf die offene Tür zu. Als er hindurchtrat spürte er sofort die Wärme, die den Raum erfüllte. Der Duft von heißem Eintopf waberte durch den Raum und sein Magen meldete sich lautstark.
 

Als er eingetreten war, hatten unzählige Kinderstimmen durcheinander geklungen, doch je länger er dort im Rahmen stand, desto leiser wurde es im Raum.
 

Plötzlich lief ein kleines, blondes, vielleicht sechs Jahre altes Mädchen auf ihn zu, griff ungestüm nach seiner Hand und zerrte den überrumpelten Luca auf den hinteren der beiden langen Tische zu, wo sie anscheinend vorher gesessen hatte. Ihre rückenlangen, zerzausten Locken fielen ihr ebenso quirlig über die Schultern, wie ihre tanzenden Schritte ihn durch den Raum führten. Sie trug ein braunes, grobwollenes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und ihre Füße steckten in abgetragenen Lederstiefeln.
 

„Du sitzt neben mir!", verkündete sie mit ihrer hellen, kindlichen Stimme und schubste Luca auf den Platz neben sich.
 

„In-...In Ordnung", stotterte Luca, setzte sich und schob seine Beine unter den Tisch. Das allgemeine Gerufe und Gerede hatte wieder eingesetzt und so konnte Luca sich unbemerkt umschauen.
 

Der Raum war recht groß und in jeder Wand befand sich eine Tür. Außerdem waren Fenster in die hintere Wand eingelassen, durch die man auf einen Hinterhof sehen konnte, in dem noch ein weiteres, kleines Haus, vielleicht die Küche, stand. Die zwei langen Tische aus dunklem Holz nahmen fast den gesamten Platz ihm Raum ein und auf den Bänken, die an den Tischen standen, saßen schätzungsweise zwanzig Kinder. Noch einmal ging die Doppeltür auf und alle Kinderköpfe wandten sich zu dem Neuankömmling hin, doch als sie Jeremie erkannten, nahmen sie sofort wieder ihre Gespräche auf und beachteten den Jungen nicht weiter. Doch Luca beobachteten sie immer noch. Immer wenn er hochsah, begegnete er einem neugierigen Blick und hier und da tuschelten einige Kinder miteinander. Luca konnte schwer erkennen, wie alt die einzelnen Kinder waren, doch es gab wohl einige unter ihnen, die fast in seinem Alter waren.
 

„Platz da! Jetzt lasst mich doch mal durch hier, Kinder!", ertönte eine durchdringende Frauenstimme und Luca schaute erstaunt auf und sah eine ziemlich dralle Dame in den besten Jahren auf sich zukommen. Ihr Kleid schnürte die üppige Oberweite einladend zusammen, doch anstatt auf ihren Busen zu schauen, starrte Luca auf die dampfende Schale in ihren fleischigen Händen.
 

„Der Junge muss schließlich auch was zwischen die Zähne kriegen, schaut ihn euch doch an, nicht mal als Bohnenstange würde ich den in meinen Garten kriegen!", rief sie und einige der Kinder lachten fröhlich.
 

Luca errötete und sah zu Boden.
 

„Brauchst ja nicht gleich eingeschnappt zu sein, mein Junge", beschwichtigte sie ihn und als Luca protestieren wollte, drückte sie ihn an ihre ausladende Brust und tätschelte ihm den Kopf.
 

„Schön, schön, ein neues Gesicht und ein neuer Magen, den ich stopfen kann, wunderbar!"
 

„Felicity! Lass doch den Jungen, er soll ja nicht gleich ersticken!", rief Pfarrer Michael erheitert und erhob sich von seinem Platz zwischen den Kindern.
 

Felicity rückte ein Stück von Luca ab und dankbar für das bisschen Platz, wich Luca gleich noch ein Stück vor ihr zurück.
 

„Also lieber Herr Pfarrer, ich ersticke hier niemanden", erwiderte die Frau etwas pikiert und stellte Luca die Schüssel vor die Nase, „und gegen eine liebevolle Begrüßung können sogar Sie nichts sagen. Predigen Sie nicht immer Liebt euren Nächsten, wie euch selbst?"
 

Der Pfarrer verzog gequält das Gesicht und einige Kinder lachten erneut.
 

„Nein, Felicity, gegen eine liebevolle Begrüßung spricht wirklich nichts, Hauptsache der Gast ist danach nicht aufgrund Luftmangels gestorben."
 

Felicity schnaubte und verschwand durch die Tür, die in den Hinterhof führte. Luca sah sie in der Küche verschwinden. Die Köchin also, er hätte es sich denken können.
 

„Du musst schon essen, sonst wird's kalt", ertönte die Stimme des Mädchens neben ihm und Luca griff nach dem Löffel, der neben der Schüssel lag und tauchte ihn in den Eintopf.
 

„Ich bin übrigens Kitty. Einfach Kitty. Und wer bist du?" Ihre zwei strahlenden, blauen Augen schauten ihn erwartungsvoll an und Luca rührte verlegen in der Schüssel.
 

„Jetzt sag schon!", drängte Kitty. „Oder ist es ein Geheimnis? Bist du vielleicht auf der Flucht vor dem Gesetz? Ein Gesetzloser so wie Robin Hood?" gespannt sah sie ihn
 

an.
 

„Ich heiße Luca. Luca Sullivan. Und ich bin leider nicht Robin Hood", gab er lächelnd zurück.
 

„Aber auf der Flucht bist du trotzdem." Luca schaute überrascht auf und blickte in ein paar pechschwarzer Augen. Ein blasser, knochiger Junge sah ihn unverwandt an und strich sich schließlich das schulterlange, glatte schwarze Haar aus dem Gesicht und hinter die Ohren. Er mochte vielleicht 12 oder 13 Jahre alt sein, doch seine Augen ließen ihn um Jahre älter wirken.
 

Luca warf Kitty einen Blick zu, doch die starrte den Jungen verärgert und offen feindselig an, dann sagte sie: „Beachte den gar nicht. Der sagt immer so komisches Zeug."
 

„Mein Name ist Gillian, und du bist also Luca?", fragte der blasse Junge, ohne auf Kitty zu achten.
 

Nickend senkte Luca seinen Blick und begann seinen Eintopf zu essen.
 

Eine Weile ließen sie ihn essen, dann wippte Kitty ungeduldig auf ihrem Platz hin und her und fragte schließlich: „Und-... und was machst du jetzt hier, Luca? Hast du auch keine Eltern mehr?"
 

Erst wollte Luca mit Nein antworten, dann nickte er nur stumm.
 

„Oh. Ich auch nicht. Aber bist du nicht zu alt, um dann noch ins Heim zu kommen?", löcherte sie ihn weiter und Luca stellte sich auf ein längeres Verhör ein, doch als er gerade antworten wollte, sagte ein Stimme hinter ihm: „Nun lasst Luca doch erst einmal zuende Essen. Er ist bestimmt erschöpft und ihr fragt ihn so rücksichtslos aus." Obwohl Pfarrer Michaels Tadel sanft gewesen war, errötete Kitty und senkte beschämt den Kopf. Doch Gillian sah den Pfarrer trotzig an und stützte sein Kinn auf die gefalteten Hände.
 

„Entschuldige bitte, Luca. Es kommt nicht oft vor, dass ich einen Neuankömmling mitbringe, also sind die Kinder dementsprechend neugierig."
 

„Ist schon in Ordnung, ich hab nichts dagegen, wenn sie mich ausfragen", antwortete Luca leise und löffelte den letzten Rest Suppe aus der Schale.
 

„Dann ist ja alles gut. Kitty?"
 

Das Mädchen hob den Kopf und sah den Pfarrer erwartungsvoll an.
 

„Magst du Luca nach dem Essen ein wenig herumführen, sodass er alles hier kennen lernt?"
 

Aufgeregt nickte die Kleine heftig und strahlte Luca an. Unwillkürlich musste Luca ebenfalls lächeln.
 

„Danke, das ist lieb von dir." Mit diesen Worten drehte Pfarrer Michael sich um und verließ den Raum durch eine der Türen.
 

Luca sah ihm hinterher.
 

„Da geht's in die Kapelle. Der Herr Pfarrer bereitet jetzt die Abendandacht vor", erklärte sie ihm pflichtbewusst und Luca nickte.
 

„Wenn du fertig bist, können wir ja gleich losgehen, ja?"
 

Unsicher sah Luca sich um, und bemerkte, dass alle anderen Kinder ihre Schüsseln vor sich auf dem Tisch stehen lassen hatten. Anscheinend sammelte Felicity sie nach dem Essen ein und wusch sie dann in der Küche ab.
 

Wieder nickte Luca und stand auf. Kitty sprang ebenfalls von der Bank hoch und griff nach seiner Hand. Zuerst wollte Luca sie zurückziehen, doch dann ließ er zu, dass sie ihn daran durch den Raum zog, auf die anderen Tür zu.
 

„Dahinter ist das Klassenzimmer."
 

„Ein Klassenzimmer? Ihr habt hier Unterricht?" Kitty sah ihn verwundert an.
 

„Ja, wir müssen doch Lesen und Schreiben lernen damit wir später auch eine Arbeit bekommen!"
 

Das war bestimmt eine Idee von Pfarrer Michael. Normalerweise erhielten Heimkinder keine schulische Ausbildung. Jamie konnte weder richtig schreiben noch lesen. Nur das Rechnen hatte er damals im „Vouge" sehr schnell gelernt. Abrupt verdrängte Luca diesen Gedanken und schüttelte leicht den Kopf.
 

„Was ist?", fragte Kitty sofort und sah Luca besorgt an. Doch Luca lächelte beruhigend und sie grinste zurück. Ihm fiel auf, dass sie mehrere Zahnlücken hatte.
 

„Kannst du auch Lesen und Schreiben?", fragte sie ihn und Luca nickte.
 

„Toll, dann kannst du uns ja bei den Hausaufgaben helfen, der Herr Lehrer gibt immer so schwere Sachen auf... ."
 

Luca nickte und sie zog ihn weiter.
 

„Sag mal, sprichst du eigentlich nicht gerne? Du nickst immer nur, oder schüttelst den Kopf", fragte Kitty und führte ihn auf den Hof vor dem Haupthaus.
 

„Ich bin nur-... ich bin nur etwas erschöpft, weißt du?"
 

„Ja, das sagte der Herr Pfarrer ja schon."
 

Sie überquerten den Hof und gingen um das Haupthaus herum auf den Hinterhof, den Luca bereits durch die Fenster im Speisesaal gesehen hatte.
 

„Das da", begann Kitty, „ist die Küche und gleich daneben ist das Backhaus. Felicity wohnt da. Sie ist unsere Köchin und putzt auch in allen Häusern."
 

„Aha", machte Luca, damit Kitty sich nicht noch mal darüber beschwerte, dass er so ungesprächig war.
 

„Dort drüben ist die Bibliothek, aber da darf keiner außer dem Herr Pfarrer rein, weil das nämlich auch noch sein Arbeitszimmer ist", betonte Kitty und deutete auf den Raum, der an die Kapelle angrenzte.
 

Das gesamte Gebäude war L-förmig, wobei die Bibliothek den kleinen Strich darstellte und das Klassenzimmer, die Kapelle und der Speisesaal den großen Teil.
 

Ein kleiner Glockenturm erhob sich aus dem Teil des Daches, der sich über der Kapelle befand und die Glocke wurde wohl über ein Seil, das durch den Dachstuhl bis in den Altarraum zu reichen schien, betätigt.
 

„Komm, es geht weiter", meinte Kitty munter und zog ihn auf das Gebäude zu, dass er vorhin nur teilweise hatte sehen können.
 

„Das ist das Heim. Hier drin sind zwei Schlafsäle, einer für Mädchen und einer für die Jungen. Außerdem noch eine Toilette und ein Waschraum. Willst du rein?"
 

„Ja, gerne", antwortete Luca ihr und sie zog ihn auf die Tür zu.
 

„Der Herr Pfarrer schließt die Tür jeden Abend um acht Uhr ab, damit wir nicht nachts durch die Gegend streunen."
 

Die Tür quietschte in den Angeln, als Kitty sie aufdrückte und hinter Luca wieder schloss.
 

Der Raum, in den sie beide getreten waren, erinnerte Luca an ein Wohnzimmer und Kitty bestätigte seine Vermutung, als sie ihm erklärte, dass dieser Raum der Aufenthaltsraum sei.
 

„Hier dürfen wir spielen oder lesen oder was wir wollen, wenn es draußen regnet oder wir abends vor der Nachruhe noch Zeit haben."
 

Luca sah sich um und entdeckte den großen Kamin. Kitty folgte seinem Blick und lachte.
 

„Der wird gleich angemacht, wenn alle anderen auch vom Essen zurückkommen. Komm, ich zeig dir die Schlafsäle."
 

Links und rechts an den Wänden führten steile Treppen hinauf zu den Schlafsälen. Oben verband ein schmaler Balkon die beiden Türen miteinander, sodass man, ohne die Treppe auf der einen Seite herabsteigen zu müssen, zu dem anderen Schlafsaal gelangen konnte.
 

„Links sind die Mädchen, rechts die Jungen. Also musst du rechts rauf. Komm!"
 

Sie sprang die Stufen vor ihm hinauf und er erhaschte durch ihren hochhüpfenden Kleidssaum einen Blick auf ihre dünnen, mit blauen Flecken und Schrammen übersäten Beine.
 

Oben angekommen, machte sie schnell die Tür auf und Luca blickte in einen Raum indem sich an beiden Seiten je fünf Betten gegenüberstanden.
 

Kitty betrachtete die Betten, von denen alle belegt schienen, und sah ihn dann mit gerunzelter Stirn an.
 

„Hier ist ja gar kein Platz mehr für dich."
 

„Ja, da hast du Recht. Ich soll wohl woanders schlafen", gab Luca zurück und zuckte mit den Schultern.
 

Unten ging die Tür auf und sie beide traten wieder hinaus auf die Treppe und sahen auf die in den Raum strömenden Kinder hinab.
 

Als auch der letzte den Raum betreten hatte, kam noch Pfarrer Michael durch die Tür und schloss sie hinter sich. Luca entdeckte Jeremie, der vor dem Kamin hockte und ein Feuer zu entfachen schien.
 

„Ah, Luca, Kitty. Kommt doch runter zu uns."
 

Hintereinander stiegen sie die Treppenstufen hinab und gesellten sich zu den anderen Jungen und Mädchen. Der Pfarrer winkte Luca zu sich.
 

„Luca, der Schlafsaal oben ist belegt, wie du sicher schon festgestellt hast", sagte Michael, als Luca neben ihn getreten war. Dann deutete er auf eine Tür unter dem balkonartigen Vorsprung.
 

„Dort ist ein Angestelltenzimmer. Eigentlich ist es für eine Kinderfrau gedacht, aber ich denke, da wir keine Kinderfrau angestellt haben, steht es dir frei, in diesem Zimmer zu wohnen, solange du hier bist."
 

Luca nickte.
 

So sah es also aus.
 

Sein neues Zuhause.

Aus der Sicht von Jamie

Schweißgebadet und heftig atmend erwachte Jamie. Luca! Luca war bei ihm gewesen, hier, genau hier neben seinem Bett! Die kalten, klammen Hände vors Gesicht geschlagen, sah Jamie sich hektisch im Zimmer um.
 

Mit der Zeit kehrten die Erinnerungen zurück und Verzweiflung schnürte ihm die Luft ab. Er hatte Jack geküsst. Freiwillig.
 

Ein leises Rascheln neben ihm, ließ Jamie herumfahren. Ethan.
 

Kurz kam ihm der Gedanke seinem Freund alles zu erzählen, so wie sie sich früher alles erzählt hatten, doch irgendetwas hielt ihn davon ab.
 

Vorsichtig, um ihn nicht versehentlich zu wecken, oder ihn noch wacher zu machen, als er schon war, strich Jamie Ethan über die schwarzen Locken und sagte ihm leise, dass er nur mal auf Toilette wolle. Ethan atmete tief ein, drehte sich dann auf die andere Seite und rührte sich nicht mehr.
 

Ungeduldig und wegen der durchgeschwitzten Klamotten leicht frierend, schlug Jamie die dicke Decke weg und durchquerte im Dunkeln das Zimmer.
 

Die Tür knarrte leise, als er sie öffnete und sofort danach wieder hinter sich schloss.
 

Dunkel und still lag der lange Flur vor ihm. Der dicke Läufer unter seinen nackten Füßen erstickte jedes Geräusch und so bemerkte es niemand, als er flink im Bad verschwand. Dort schaltete er das Licht an. Grell erleuchtete es den kleinen Raum und Jamie blickte in den Spiegel. Wie viel war noch von dem Jamie übrig geblieben, der er vor ein paar Monaten noch gewesen war? Näher an die spiegelnde, glatte Oberfläche herantretend, suchte Jamie nach irgendwelchen Spuren. Doch er konnte nichts finden. Nichts, dass darauf hindeutete, wer und was er einmal gewesen war.
 

Plötzliche Bitterkeit stieg in ihm auf und mit einer raschen Bewegung streifte er sich das Pyjamaoberteil über den Kopf und stopfte es in den Wäschekorb.
 

Dann stützte er seine Hände auf den Waschbeckenrand und starrte sich selbst in die Augen.
 

Starrte sich an und forschte nach-... nach was, das konnte er sich selbst nicht erklären.
 

Nachdem sie ihn aus dem „Vouge" weggeholt hatten, war nichts mehr von ihm übriggeblieben, als ein Name und ein Körper.
 

Jamie Stuart-Masen.
 

Es war, als würde er nicht mehr existieren, als wenn alles was er gewesen war nur noch eine Erinnerung war. Blass und ungenau.
 

Was hatte er denn noch? Keine Familie, wie die Jungen im „Vouge" es für ihn gewesen waren, inklusive Viktor. Kein richtiges Zuhause, denn das Cottage gehörte noch nicht einmal Jack, sonder dessen Vater, geschweige denn, dass er sich hier in irgendeiner Weise heimisch fühlte. Und zu guter Letzt: Er hatte keinen Beruf mehr.
 

Bis auf die verbesserten äußeren Umstände war er de Facto wieder dort, wo er mit 12 Jahren gewesen war.
 

Ohne Zuhause, Waise und arbeitslos.
 

Ein Fünkchen Selbstironie hob seine Mundwinkel und humorlos auflachend stieß Jamie sich vom Waschbeckenrand ab und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.
 

Je länger er wieder reglos so dastand und der Stille um ihn herum lauschte, desto weiter durchforstete er seine Erinnerungen nach Dingen, die ihm zeigte, woher er kam, was er war und... wer seine Eltern gewesen waren.
 

Jamie zuckte zusammen. Nie war ihm dieser Gedanke gekommen, all die Jahre nicht!
 

Immer hatte er sich eher Gedanken darum gemacht, wo er morgen sein würde und nicht darüber, wo er eigentlich herkam. Niemand im Heim hatte ihn damals nach seinen Eltern gefragt. Noch nicht einmal nach seiner Mutter. Stuart. Masen. Welcher Name gehörte zu wem?
 

Das Bild des Medaillons, das er besaß seit er denken konnte, tauchte vor seinem Inneren Auge auf. Wo war es?
 

Er hatte es nie wirklich beachtet, weil die Gesichter auf den Bildern im Inneren des Medaillons ihm nichts sagten, doch gerade in diesem Augenblick wünschte er sich, es in der Hand halten zu können, um diese beiden Menschen zu betrachten.
 

Wo war das Medaillon? War es vielleicht beim Brand im „Vouge" zerstört worden? Hatte ein Bettler es gefunden, als er in den verkohlten Resten wühlte?
 

Leise, sich nähernde Stimmen rissen Jamie aus seinen Gedanken.
 

Nachdem er einige Sekunden reglos gelauscht hatte, schaltete er leise das Licht aus und blieb wartend im Dunkel stehen.
 

„... schläft bestimmt schon. War ja auch ein anstrengender Tag heute."
 

„Warum? Was war denn?"
 

Jamie erkannte Jacks und Steves Stimmen. Sie passierten die Badezimmertür und gingen weiter den Flur hinab.
 

„Ich hab ihm Cornwall gezeigt", antwortete Jack. Steve schwieg und Jamie vermutete, dass sie sich ansahen. Die Schritte verstummten in einiger Entfernung und eine Tür wurde knarrend geöffnet.
 

„Siehst du, sie schlafen", flüsterte Jack und wieder knarrte die Tür zu Jamies Zimmer.
 

Kurze Zeit Stille und Jamie hielt den Atem an, dann fragte Steve: „Wollen wir noch einen Trinken, oben im Casino?"
 

Anstatt einer Antwort verebbten die Schritte langsam und schließlich kehrte wieder vollkommene Ruhe ein.
 

Lautlos huschte Jamie über den Flur zurück ins Zimmer und kroch schnell unter die Bettdecke. Eigentlich wollte er noch weiter über sein Leben nachgrübeln, da das alles ihn verständlicher Weise ziemlich beschäftigte, doch kaum hatte er die Augen wieder geschlossen, fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
 


 

Ein forsches Klopfen an der Zimmertür weckte Jamie am nächsten Morgen und gähnend streckte er sich.
 

„Herein?", rief er schließlich und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Die Tür flog auf und Ethan schreckte ebenfalls aus dem Schlaf.
 

Emily stürmte ins Zimmer und riss nacheinander alle Fenster weit auf.
 

Grummelnd zog der Lockenkopf sich die Decke über den Kopf und wälzte sich auf den Bauch.
 

„Los, los! Aufstehen die Herren!"
 

Grinsend richtete Jamie sich auf, reckte sich noch einmal. Emily hatte sich gerade zu ihnen umgedreht, doch als sie Jamie anblickte, errötete sie heftig und wandte sich blitzschnell von ihm ab.
 

Mit gerunzelter Stirn gähnte Jamie erneut ausgiebig. Dann fiel ihm auf, warum es Emily unangenehm war, ihn anzusehen. Er hatte doch gestern Nacht sein Oberteil ausgezogen und die heruntergerutschte Decke entblößte nun seine freie Brust.
 

„Guten Morgen, Emily!", rief er grinsend und schob die Decke komplett von seinem Körper und schwang die Beine über den Bettrand.
 

„Guten Morgen, Sir", erwiderte sie und sah immer noch zu Boden, nicht ohne dabei nervös mit ihrer Schürze zu spielen. Jamie fand es äußerst erheiternd, dass er die sonst so vorlaute Angestellte so aus der Fassung bringen konnte. Er kam auf sie zu und blieb dann stehen, um sie zu mustern. Ihr hektischer Blick huschte zu seinen zweifelsohne amüsiert funkelnden Augen hoch und schreckte gleich darauf wieder zu Boden.
 

„Warum hat sie es denn so eilig, dass wir aufstehen?", fragte Jamie sie und strich sich leicht über die Brust.
 

Emily wich einen kleinen Schritt vor ihm zurück und murmelte: „Der Herr Johnson wünscht, mit Ihnen beiden das Frühstück einzunehmen." Jack wollte also mit ihnen frühstücken. Irgendwie stieß der Gedanke daran, Jack so früh wieder unter die Augen treten zu müssen, Jamie schlecht auf. Doch plötzlich schien ihm, als hätte jemand in seinem Kopf einen Hebel umgelegt und er konnte die Gedanken an Jack komplett ausblenden. Wie automatisch hoben sich seine Mundwinkel und kräuselten sich ironisch kokett. Sich etwas vorbeugend, den Kopf leicht zur Seite geneigt schaute er Emily tief in die Augen und sah dann mit einem halb gespielten, halb echten Seufzen auf den Boden.
 

„Dann werden Ethan und ich wohl lieber mal zusehen, damit der Herr nicht warten muss, nicht?" Gekonnt flackerte sein Blick wieder vom Boden hoch und direkt in die Augen der junge Bediensteten und auf einmal wurde ihm bewusst, dass er sie gerade auf die Art und Weise einschüchterte, wie er es mit den Kunden im „Vouge" oft getan hatte. Ohne es zu bemerkten war er in die laszive Verhaltensweisen zurückgefallen, die er ihm „Vouge" täglich gebraucht hatte.
 

„Verdammt!", flüsterte er unterdrückt, trat oder eher stolperte er einen Schritt zurück und kniff die Lippen fest aufeinander. Verwirrt schaute Emily ihn an.
 

„Nicht du!", murmelte er knapp und entließ sie mit einem fahrigen Handwedeln, dem sie auch sofort, ja fast erleichtert, wie Jamie auffiel, folgte.
 

Als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und stöhnte leise auf.
 

„Was ist los, Jamie?", fragte Ethan hinter ihm ruhig und Jamie drehte sich um. Mit vom Schlafen zerzausten Locken und das Schlafhemd halb von der Schulter gerutscht, sah Ethan ihn fragend an.
 

Seufzend ließ Jamie sich auf das Fußende des Bettes fallen und schloss die Augen.
 

„Sie-,... nein... er hat alles wieder heraufbeschworen...", murmelte Jamie leicht verzweifelt, zog die Beine an die Brust, schlang die Arme darum und bettete seine Stirn auf die Knie.
 

Ethan kam näher gerückt und legte sein Kinn auf Jamies gebeugte Schulter.
 

„Meinst du Jack oder den Kuss?", fragte er leise und sein warmer Atem strich Jamie über die Wange.
 

„Den Kuss-... nein, eigentlich auch Jack, oder-... Ich weiß es einfach nicht." Seinen Kopf leicht schüttelnd, vergrub er die Stirn noch weiter zwischen den Knien und seufzte. „Aber es ist auf einmal alles wieder da. Ich dachte es wäre fort, aber eben, da hab ich gemerkt, dass-... Ethan,", er hob den Kopf und drehte sich zu seinem besten Freund um. „Ich dachte, ich wäre anders geworden, weißt du? Ich dachte, das andere Leben wäre vorbei und ich könnte endlich mal neu anfangen, aber dann passiert so was dummes, unwichtiges-..."
 

Ethan unterbrach ihn. „Jamie, ein Kuss ist nicht unbedeutend. Du siehst doch, dass dieser eine Kuss dich so-... so aufgewühlt hat, dass du unwillkürlich in deine alten Gewohnheiten zurückfällst."
 

Auf einmal kam Jamie sich kindisch vor. Was musste Ethan von ihm denken?
 

Erst verkroch er sich Monate in seinem Zimmer und wurde zur wandelnden Leiche, und nun da er wieder einigermaßen am Leben teilnahm, erwartete er, dass alles anders und neu sei. Das Leben im „Vouge" und alles drum herum war einfach ein Teil von ihm und das würde sich nie wieder ändern, er würde es akzeptieren müssen und einfach versuchen müssen, von nun an den richtigen Weg zu gehen. Aber dass er gleich so rumheulte, weil er einmal in sein altes Leben zurückgerutscht war... .
 

„Tut mir leid. Ich glaube, ich hab grad etwas überreagiert."
 

Ethan schnaubte und rollte sich wieder auf den Rücken. „Nein, Jamie, hast du nicht. Und du bist auch nicht kindisch, weil du dachtest, jetzt nach so langer Zeit wäre alles vergessen, was du mal gewesen bist. Ehrlich nicht", räumte Ethan ein und tätschelte Jamie mit einer Hand leicht den Rücken. „Du bist du nicht der einzige hier, der noch täglich mit seiner Vergangenheit kämpft", fügte er leise hinzu und stand dann schwungvoll auf.
 

Stirnrunzelnd sah Jamie Ethan an und fragte sich, woran Ethan wohl noch zu knabbern hatte. Doch woher sollte er wissen, was Ethan noch zu schaffen machte, wenn er nichts – na ja, fast nichts – über seinen besten Freund wusste?
 

Sich ächzend streckend und mit allen Knochen knackend, tapste Ethan durchs Zimmer und lehnte sich aus dem weit geöffneten Fenster.
 

„Ahhhh! Herrlich diese frische Luft, nicht? Sie riecht so-...", scheinbar vergeblich nach dem richtigen Wort suchend wedelte Ethan mit einer Hand durch die Luft, die Augen genießerisch geschlossen und die Nase im leichten Windhauch, der durch das Fenster ins Zimmer wehte. Schließlich gab er es auf und murmelte: „So frisch eben"
 

Jamie musste lachen.
 

Die Gedanken der letzten Nacht hatte er fast vergessen, doch ein neuer Wunsch hatte ihn gepackt. Er wollte endlich mehr über Ethan wissen und wo der doch die frische Luft so liebte... .
 

„Ethan, lass uns nach dem Frühstück doch ein Spaziergang machen, ja?" Jamie stand auf und lehnte sich von hinten an Ethans Rücken. „Dann zeig ich dir ein bisschen die Umgebung und wir picknicken irgendwo in den Hügeln, ja?"
 

Kichernd drehte Ethan sich zu ihm um und Jamie trat einen Schritt zurück.
 

„Wenn du mich so niedlich darum bittest, kann ich ja wohl schlecht Nein sagen, oder?"
 

Mit diesen Worten, durchquerte er den Raum und tauchte seine Hände in die Waschschüssel, um sich gleich darauf das Gesicht zu waschen.
 

„Ich bin nicht niedlich!", entrüstete Jamie sich etwas zu spät und Ethan prustete zwischen seinen triefenden Händen hindurch und besprühte das Tischchen, auf dem die Schüssel stand mit Wassertröpfchen.
 

„Doch", gab Ethan lachend zurück und griff nach einem der flauschigen Handtücher, dann trocknete er sich das Gesicht ab und schaute über die Schulter zu Jamie.
 

Der stand mit in die Hüften gestemmten Händen da und taxierte seinen besten Freund mit einem wütenden Blick.
 

„Bin ich nicht!", behauptete Jamie weiterhin stoisch, bewegte sich jedoch nicht vom Fleck.
 

Ethan seufzte und zog sich an, dann warf er Jamie seine Klamotten aufs Bett und machte eine zur Eile rufende Geste.
 

„Kommst du jetzt, oder wolltest du Wurzeln schlagen?"
 

„Ich bin nicht niedlich. Sag das!"
 

Die Augenbrauen hebend tauchte Ethan eine Hand erneut in die Schüssel, schöpfte ein wenig davon und ließ es aus der hohlen Hand in die Schüssel plätschern.
 

Dann streckte er blitzschnell die Finger und eine Ladung Tröpfchen regnete auf Jamie herab.
 

Du-…!", knurrte Jamie auf und stürzte sich auf den unterdrückt lachenden Ethan. Zusammen landeten sie auf dem Bett und obwohl Jamie Ethan die ganze Sache nicht wirklich übel nahm, kitzelte er ihn dennoch erbarmungslos durch, bis Ethan mit Lachtränen in den Augen und nach Luft japsend unter ihm lag. Auch Jamie atmete heftig und räusperte sich schließlich umständlich, was Ethan erneut zum Lachen brachte.
 

Plötzlich flog die Tür erneut auf und als Jamie aufblickte, sah er Jack im Rahmen stehen.
 

PS: Tut mir leid, dass das Kapitel erst so spät kommt, aber bei mir läufts grad privat ziemlich scheiße und ich komm nicht wirklich oft zum Schreiben, ich hoffe ihr habt Verständnis...<3 Vielen Dank!

Eure Saju

Aus der Sicht von Luca

Als Luca später am Abend das Zimmer betrat, das der Pfarrer ihm zugewiesen hatte, konnte er ein Seufzen nicht unterdrücken. Das Bett bestand aus einem Holzrahmen mit einer Matratze aus einem alten, strohgefüllten Sack. Daneben stand ein kleiner, grob gezimmerter Nachtschrank mit einem Kerzenleuchter und einer Bibel darauf und zu guter Letzt füllte ein klobiger, wurmstichiger Schrank eine gesamte Ecke des kleinen Kabuffs aus. Schräg oberhalb des Nachtschrankes reflektierte die Scheibe eines winzigen Fensters das Licht seiner Kerze. Dahinter schimmerte nachtschwarz der Himmel.

Doch im Grunde war es Luca vollkommen egal, wie das Zimmer aussah. Ihm war alles egal geworden. Schließlich wusste er weder mehr, was nun aus seinem Leben werden sollte – denn Pfarrer wollte er auf keinen Fall werden – geschweige denn, was der Sinn dieses mickrigen einfach-nur-weiterlebens sein sollte.

Schweigend und mit leeren Gedanken zog Luca sich aus, legte die vor Schmutz starrenden Kleider in den Schrank und legte sich in das harte Bett. Morgen, sagte er sich, morgen würde kommen und dann wieder gehen und danach kommt der nächste Tag und vielleicht finde ich ja eines Tages wieder etwas, dass all das hier erträglich macht. Vielleicht. Dann machte er die Augen zu und versuchte so gut es eben ging, mit all den fremden und ungewohnten Geräuschen um sich herum, zu schlafen.

Hier und da zerriss noch ein böses Wort oder ein geärgerter Schläfer lautstark die Stille, dann kehrte allmählich Ruhe ein.

Luca seufzte und drehte sich auf die Seite. Plötzlich hörte er ein leises Knarren und seine Zimmertür öffnete sich einen Spalt.

Er fuhr hoch und rutschte mit dem Rücken eng an die kalte Wand. Ein kleiner Lichtschein fiel durch den Spalt, wahrscheinlich kam es von der noch glimmenden Glut im Wohnzimmer, und gleich darauf schob sich ein kleines Mädchen durch die Tür.

„Kitty?“, fragte Luca leise und seine angespannte Haltung schwand. Das Mädchen nickte und schniefte leise.

„Ich-...“, sie hickste und strich sich mit den Fingern ein paar lockige Strähnen aus dem Gesicht, „Gillian hat-... er...“, erneut hickste sie und schluchzte dann leise vor sich hin.

Betroffen rutschte Luca zur Bettkante und stieg aus dem Bett. Barfuß kam er auf Kitty zu und ließ sich vor ihr in die Hocke sinken.

„Was hat Gillian gemacht?“, fragte er leise und strich Kitty über die Wange. Sie war nass und kalt.

Wieder schniefte Kitty, dann murmelte sie: „Er hat mir Lady Genever weggenommen und gesagt ich sei zu alt für hässliche Puppen und dann hat er sie auf den Schrank im Jungenschlafsaal geworfen.“

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Luca Kitty und strich ihr abwesend übers Haar. Einerseits lenkte Kitty ihn von seinen eigenen, weniger schönen Gedanken ab aber auf der anderen Seite fragte er sich, ob es klug wäre, sich jetzt schon in die Streitigkeiten der Kinder einzumischen. Schließlich hatte er keine Ahnung davon, wer hier die Wahrheit erzählte und wer log.

„Komm, wir setzten uns erst einmal auf mein Bett, ja? Dann kannst du mir erzählen, wer denn Lady Genever ist.“

Immer wieder leise vor sich hin hicksend, tapste Kitty zu seinem Bett und hockte sich auf die Bettkante. Luca setzte sich daneben und sah sie aufmunternd an.

„Jetzt erzähl doch mal. Lady Genever, der Name sagt mir etwas, aber ich weiß nicht mehr genau, wer das ist.“

Jetzt sah Kitty ihn mit kindlich schockierten, großen Augen an und schüttelte dann tadelnd den Kopf.

„Du kennst Lady Genever nicht? Das ist die wunderschöne Frau von König Artus gewesen! Aber König Artus wirst du doch wohl kennen, oder?“

Luca überlegte. Früher hatte seine Mutter seinen beiden größeren Brüdern immer Geschichten erzählt, doch nachdem die beiden Kinder vor ihm ihr Kindesalter nicht überlebt hatten, hatte sie nie wieder irgendeine Geschichte erzählt. Aber William und Paul hatten oft Ritter gespielt und dabei war immer eine König Artus gewesen und ein anderer... wie war der Name noch gleich gewesen? Sir Lancelot, richtig.

Das letzte hatte er wohl laut ausgesprochen, denn Kitty nickte heftig und strich sich erneut, doch nun eifrig, die Haare aus dem Gesicht.

„Sir Lancelot war der beste Ritter in der Tafelrunde, nach König Artus. Den kennst du also. Das ist aber nicht viel.“

Anscheinend hatte Kitty den Streit mit Gillian vergessen und so wie sie ihn jetzt ansah, ein bisschen unzufrieden und schon fast mitleidig, musste Luca einfach lächeln.

„Also“, sie rutschte komplett auf sein Bett und verschränkte die Beine im Schneidersitz, „König Artus wurde König, weil er ein ganz tolles Schwert aus einem Stein gezogen hat.“

Luca zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. „Wie soll denn ein Schwert in einen Stein gekommen sein?“

Einen Augenblick lang dachte Kitty darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist nicht wichtig.“

„Ah, achso.“ Luca schmunzelte. Erzählte sie ihm die Geschichte jetzt nur, damit sie nicht wieder schlafen geh musste?

„Ja, so war das. Dann wurde er König und Merlin, ein ganz starker Zauberer, stand ihm zur Seite, weil König Artus nämlich noch ganz jung war, als er König wurde.“

„Und wann kommt Lady Genever vor?“

Kitty kicherte fröhlich und beugte sich vor. „Die kommt schon ganz bald, weil König Artus war nämlich noch immer sehr jung, als er die Lady das erste Mal sah.“

Sie lehnte sich zurück und sah ihn bedeutungsvoll an.

Erneut kicherte das kleine Mädchen und warf dabei ihre langen Locken über die Schultern.

„Er hat sie gesehen, als er die Tafelrunde bei ihrem Vater abgeholt hat. Das war nämlich ein Geschenk für ihn, weil Artus doch jetzt König war. Sie saß im Garten und da hat er sich einfach so in sie verliebt... .“

Schwärmerisch schaute Kitty in die Ferne und wollte gerade weitererzählen, als Luca sie unterbrach.

„Und warum heißt deine Puppe jetzt Lady Genever?“

Als wenn das eine ganz blöde Frage gewesen wäre, verdrehte das Mädchen die Augen.

„Weil meine Lady Genever wunderschön ist und bald wird ein ebenfalls wunderschöner Artus kommen und sie heiraten. Und dann haben sie ganz viele Kinder und ganz viel Geld und müssen nie wieder Hungern, deshalb natürlich!“

„Ja, natürlich!“, pflichtete Luca sofort bei und nickte. „Aber nachdem du mir das nun erklärt hast, muss ich dich leider wieder ins Bett schicken.“

Sofort traten wieder Tränen in Kittys Augen und liefen ihr die kleinen Wangen hinab.

„Hey“, machte Luca beruhigend, doch Kitty schluchzte hemmungslos weiter.

„Wenn ich wieder in mein Bett gehe, dann kommt Gillian wieder und zieht mir an den Haaren oder nimmt mir mein Kopfkissen weg, oder-...“, „Ist ja gut!“, rief Luca leise und versuchte erneut, sie etwas unbeholfen zu trösten.

Langsam beruhigte das kleine Mädchen sich und schließlich fragte sie mit bebender Stimme: „Luca, kann ich nicht heute Nacht bei dir schlafen?“

„Ich, ähm...“, stotterte Luca überrascht und überlegte, ob das wohl so in Ordnung wäre. Doch dann dachte er an den ersten Eindruck, den Gillian heute Nachmittag bei ihm hinterlassen hatte und nickte langsam.

„Ja, aber nur dieses eine Mal!“ Zum Dank fiel ihm Kitty jauchzend in die Arme und unbewusst breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
 

Kurz darauf lag er auf dem Rücken und lauschte dem leisen Atmen des Mädchens neben sich. Es war ein komisches Gefühl, das erste Mal nach so langer Zeit nicht alleine zu schlafen. Plötzlich murmelte Kitty etwas im Schlaf und drehte sich zu ihm um. Ihr Kopf stieß gegen seine Schulter und ehe er sich versah, hatte sie sich an ihn geschmiegt. Verdutzt und etwas peinlich berührt, lag er stocksteif da und wünschte sich, endlich einschlafen zu können. Er hätte sie wieder nach oben schicken sollen, wenn das jetzt jeden Abend so weiterging... . Ja, was dann eigentlich? Dann würde er sich wieder daran gewöhnen müssen, mit jemanden sein Bett zu teilen? Das hatte er erst einmal gemacht und Jamie war etwas ganz anderes gewesen als nun dieses kleine, unschuldige Mädchen. Unschuldig im wahrsten Sinne des Wortes. Kitty konnte ja schließlich nichts dafür, dass sie ihn im Augenblick an Jamie erinnerte. Sie war einfach nur ein kleines Mädchen, dass bei ihm Schutz gesucht hatte, weil ein Lausbengel ihr die Puppe weggenommen hatte. So einfach war das. Diese Situation hatte überhaupt gar nichts mit Jamie zu tun. Nicht im Geringsten.

So denkend, begann Luca langsam wegzudriften und irgendwann schlief er schließlich ein.
 

Eine winzige Anmerkung: Meine Beta muss im Moment voll viel lernen und hat einfach nicht die Zeit dazu, meine Kapitel durchzusehen. Deshalb habt bitte Verständnis dafür, dass die Kapitel immer erst etwas später kommen, ja?

Ich glaube, damit würdet ihr ihr ein bisschen Stress abnehmen =^,^= Dankeschön!

Aus der Sicht von Jamie

Das Grinsen in Jacks Gesicht erlosch nicht gänzlich, doch es flackerte einen Moment lang, dann wurde es um eine Spur kühler, blieb jedoch bestehen.

Doch als hätten sie sich still miteinander verständigt, blieben Jamie und Ethan völlig unberührt in der Position verharren, wie Jack sie vorgefunden hatte.

„Was ist denn los, Jack?“, fragte Jamie zuckersüß, setzte sich provokant auf Ethans Brust und beobachtete amüsiert, wie Jacks Brauen ärgerlich zusammenrückten. Insgeheim fragte er sich, ob Jack wusste, dass er und Ethan früher öfters miteinander geschlafen hatten. Wenn ja, musste Jack bei ihrem Anblick wahrscheinlich gerade ziemlich leiden. Was Jamie nur recht war, schließlich hatte er ihm mit seiner Aufdringlichkeit auch reichlich zugemutet.

Doch auf einmal trat Steve hinter Jack ins Zimmer und blickte grinsend auf Ethan hinab.

„Und ich dachte allen Ernstes immer, dass die Dominanz im Bett vom Körperbau abhängt!“ Dann lachte der schwarzhaarige Matrose ausgelassen und Ethan schubste Jamie ebenfalls grinsend von sich und rutschte aus dem Bett, um seinem Liebhaber in die Arme zu fliegen und ihn mit einem schelmischen Kuss auf den Mundwinkel zu begrüßen.

„Man lernt doch nie aus“, stellte Steve nickend fest und grinste den auf die Unterarme aufgestützt daliegenden Jamie herzlich an. Ein leises Schnauben von Jack ließ sie alle drei zu dem jungen Mann blicken. Jack stand mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen gelehnt da, dann stieß er sich ab und rief im Gehen über die Schulter: „Ich gehe jetzt essen, es würde mich wirklich freuen, wenn ihr euch vielleicht auch endlich dazu herablassen könntet, es mir gleich zu tun!“ Ein paar Sekunden war es still und Jamie fragte sich, ob die beiden anderen Jacks Aufforderung überhaupt mitbekommen hatten, doch da brachen sie in unterdrücktes Lachen aus und Jamie zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Da scheint einer aber mächtig schlechte Laune zu haben. Komm, Jamie, wir sollten unseren Herrn Gastgeber nicht noch länger warten lassen“, schlug Ethan vor und griff sich seinen Morgenmantel von der Lehne eines Sessels am Fenster.

Als Jamie nickte und sich ebenfalls aus dem Bett rollte, spürte er kurz Steves Blick auf sich und als er aufsah, begegnete er seinen dunklen Augen und sah den forschenden Ausdruck. Es schien, als suche er nach einer Art Bestätigung und Jamie vermutete augenblicklich, dass es etwas mit der prekären Anfangssituation zu tun hatte. Also war Steve doch nicht so vertrauensselig ihm gegenüber, wie Ethan es ihm versichert hatte.
 

Schließlich saßen sie alle wieder im Esszimmer und die Stimmung war ungewohnt angespannt. Steve und Ethan unterhielten sich angeregt, da Ethan von seinem Liebsten verlangt hatte, dass dieser ihm alles von seiner Londonreise erzählte. Und so saß Jamie still da, kaute auf seinem gebratenen Schinken herum und vermied es tunlichst, Jack in die Augen zu sehen. Doch dieser schien es darauf angelegt zu haben und jedes Mal, wenn Jamie auch nur ansatzweise hochsah, spürte er sofort Jacks bohrenden Blick auf sich. Schließlich hatte Ethan Steve wohl lang genug ausgefragt und wandte sich zu Jamie um.

„Wann wollen wir denn los, Jamie?“, fragte er gut gelaunt und schob sich ein Stück Rührei in den Mund. Sowohl Steve, als auch Jack sahen ihn fragend an, doch Ethan antwortete für ihn.

„Wir wollten heut ein Picknick machen, irgendwo hier in der Nähe. Picknicken und ein bisschen Spazieren gehen.“

Jacks Blick lag erneut eindringlich auf ihm und als er aufschaute schienen sie ihn aufs Genaueste zu analysieren. Misstrauen lag in Jacks Augen und ihm schien diese ganze Angelegenheit ziemlich wenig zu gefallen.

„Ihr wollt also Spazieren gehen? Seit wann bist du so gut auf frische Luft zu sprechen, Jamie?“, hakte er auch gleich nach und der scharfe Unterton war unverkennbar.

Die angespannte Stimmung im Raum war nun fast körperlich spürbar und Jamie begann innerlich zu kochen. Was bildete dieser Typ sich eigentlich ein? Er war es doch gewesen, der ihm einen harmlosen Spaziergang, nein, eher einen Spazierritt, angedreht und ihn dann überrumpelt und geküsst hatte. Erwartete Jack jetzt, dass er es ihm nachmachen und beim Picknick über Ethan herfallen würde? Erneut spürte Jamie, wie die alte Kühle ihn zu übermannen drohte und diesmal ließ er es wohlweißlich geschehen.

„Ach Jack, seit wann hast du denn etwas gegen kleine Ausflüge?“

Voll überraschter Empörung erhob Jamie sich, schlug sich geziert die Hand vor den Mund und sah von einem zum anderen. In Ethans Blick lag etwas flehentliches, doch Jamie ignorierte ihn. Dann schnellte sein Blick wieder zurück zu Jack und nun bohrte er sich ebenso kalt, wie Jamie sich gerade innerlich fühlte, in Jacks geweitete Augen.

„Oder denkst du, dass ich vielleicht mit Ethan das Gleiche anstelle, was du es anscheinend gerne auf deinen Ausflügen mit deinen Begleitern anstellst?“

Die auf seine Worte folgende Stille war brüllend laut.

„Na, ist es das, Jack?“, flüsterte Jamie eiskalt, stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich ein wenig zu Jack hin. Der ließ nach Luft schnappend sein Besteck klirren auf den Teller fallen und stürmte aus dem Zimmer.

Noch ein paar Sekunden blieb Jamie stehen und sah auf die immer noch offenstehende Tür, dann ließ er sich langsam wieder zurück auf seinen Stuhl sinken und starrte wütend auf seinen Teller. Am liebsten hätte er jetzt irgendetwas mit voller Wucht gegen die Wand geworfen, doch das hätte den anderen nur gezeigt, wie sehr ihn das alles ebenfalls mitnahm.

„Jamie?“, fragte Ethan leise, doch Jamie ignorierte ihn und starrte weiter vor sich hin. Konnten die beiden nicht einfach verschwinden? Und plötzlich schämte er sich für das, was er gerade getan hatte. Doch das würde er nicht zugeben. Nicht jetzt, wo Jack ihn wissentlich so ins Chaos gestürzt hatte.

„Steve, kannst du uns eben ein paar Minuten allein lassen? Ich komm gleich zu dir, ja?“, sagte Ethan und Jamie hörte, wie er ihn kurz küsste. Dann schob Steve seinen Stuhl zurück und verließ ebenfalls den Raum. Einen Moment schwiegen sie beide, dann kam Ethan zu ihm und zog Jamie mitsamt seinem Stuhl zurück.

„Was hat dir das jetzt gebracht?“, fragte Ethan ihn, doch Jamie schnaubte nur und sah auf seine Oberschenkel. Doch so einfach ließ Ethan sich nicht abwimmeln und legte eine Hand unter sein Kinn, um ihn zu zwingen, ihn anzusehen.

Trotzig sah Jamie ihn an und zischte dann: „Weil er es einfach drauf angelegt hat. Was soll denn bei einem Spaziergang passieren? Nicht nur, dass er mich jede Minute des Tages beobachten lässt“, Ethan sah ihn erstaunt an, „ja, das tut er, ich hab ihn gefragt und er hat es nicht bestritten! Und jetzt kriegt er einen Eifersuchtsanfall, nur weil ich mit meinem besten Freund ein wenig ungestört sein will und wahrscheinlich vermutet er auch noch, dass das ein Trick von mir ist, um herauszufinden, wo ich bin, um abzuhauen!“ Jamie holte Luft und schaute Ethan eindringlich an.

„Verstehst du jetzt, warum mir eben der Kragen geplatzt ist?“

Überrascht stieß Ethan die Luft durch die Zähne aus und zog sich den Stuhl neben Jamie heran, um sich hinzusetzten.

„Das wusste ich nicht.“ Dann kicherte der Lockenschopf und sah Jamie belustigt an.

„Jack scheint ganz schön vernarrt in dich zu sein.“

Vernarrt!?“, rief Jamie verächtlich und stand ruckartig auf. „Ethan, ich fühle mich so, wie in der Zeit, in der ich schon im „Vouge“ war, aber noch nicht gearbeitet habe, verstehst du?“

Verwirrt schüttelte Ethan den Kopf. Jamie machte ein hilflose Geste und fuhr sich durch die Haare. Dann trat ein paar Schritte in den Raum hinein, wandte sich von Ethan ab und schaute durch die bodentiefen Fenster hinaus auf die Terrasse, die hell im warmen Sonnenlicht glänzte.

„Es ist einfach ein mieses Gefühl, von allen beobachtet zu werden, weil sie nur darauf warten, dass man endlich bereit ist. Jack steht doch nicht seit gestern auf mich. Der hat mich doch nur deswegen aus dem Club rausgeholt, weil er mich endlich für sich haben wollte! Nur von Luca hat er nichts gewusst, da ist es ihm natürlich sehr recht gewesen, dass Luca-...dass er... .“ Er machte eine kurze Pause, presste die Lippen aufeinander und kniff die Augen zu. Dann sprach er weiter.

„Verstehst du? Seit ich hier bin wartet er auf eine Gelegenheit, mich endlich flachlegen zu können. Das ist es doch, was er will! Aber ich will nicht mehr von irgendwem als dessen Eigentum angesehen werden, ich will endlich mal frei sein, Ethan! Er beobachtet mich, tickt völlig aus, wenn ich etwas mit dir machen will, bei dem er mir nicht seine Spione hinterherschicken kann und wenn ich dann mit ihm alleine bin, fängt er an, mich zu-... zu küssen!“ Erneut musste Jamie tief Luft holen, weil er so schnell und so viel auf einmal gesprochen hatte. Seine Schultern sackten nach vorne und erneut fuhr er sich durchs Haar. Hinter ihm stand Ethan auf und kam zu ihm, dann legte er ihm die Arme um die Taille und schmiegte seine Stirn gegen Jamies Nacken.

„So hab ich das noch nicht gesehen. Jamie, ich glaube nicht, dass Jack so strategisch denkt.“

Laut schnaubend drehte Jamie sich in Ethans Armen um und sah ihn geradeheraus und etwas zynisch an.

„Ethan er ist ein Marineoffizier! Schon vergessen?“

Nun seufzte auch Ethan und ließ ihn los.

„Ich glaube, dass du Jack das alles nur unterstellen willst. Du kannst einfach nicht mit dem Gedanken leben, dass dich jemand anderes als Luca genauso lieben könnte. Ist es das?“

„Nein!“, widersprach Jamie sofort, doch im Nachhinein wusste er dennoch, dass etwas Wahres dran war, an dem, was Ethan gesagt hatte.

„Siehst du?“, überging Ethan seinen Ausruf und legte ihm eine Hand an die Wange.

„Vielleicht solltest du Jack nur mal eine winzige Chance geben. Er hat sich jetzt so lange geduldet und er ist auch nur ein Mann, Jamie“, lachte Ethan leise und gab ihm eine spielerische Ohrfeige.

„Und Männer sind nun einmal das schwache Geschlecht. Also sei nicht so hart zu ihm.“ Jamie sah auf und zog die Augenbrauen hoch, als er Ethan unterdrückt lachen sah.

„Was lachst du?“, fragte er ihn, doch Ethan trat erst ein paar Schritte zurück, bevor er ihm antwortete.

„Was?“, fragte Jamie noch einmal und Ethan begann endgültig zu lachen und japste fast unverständlich: „Obwohl du in hart doch wohl genau das ist, was Jack will!“

Dann drehte er sich um und rannte aus dem Zimmer, um Jamies Schlägen zu entgehen.



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Von:  Brooky
2009-06-21T20:34:49+00:00 21.06.2009 22:34
Ist das schön ;__;
gott...ich liebe die Story jetzt schon und ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...sie ist einfach so...ergreifend und traurig und niedlich und schön und ach, was noch alles zuglech ;___;
Ich werd morgen weiter lesen, aber bis hier hin gefällt sie mir einfach nur gut und ich freue mich, wenn ich morgen weiter lesen kann^^
So süß :___:
LG
Bine
Von:  Toastviech
2009-01-13T21:30:06+00:00 13.01.2009 22:30
ICh mag Ethan nicht, da er zu JAck hält und Jack mag ich nicht weil er JAmie luca entzieht.
*heul*
GIB MIR JAMIE X LUCA WIEDER.
Ich leide, auch wenn die Kapis so geil sind.
Aber sie zehren so sehr.
obwohl, wenn sich JAck ärgert finde ich das klasse!^^
lg Toasty
Von:  ReinaDoreen
2009-01-12T21:30:45+00:00 12.01.2009 22:30
Ich denke Jamie hat ganz gut erfasst was da abläuft und welches Interesse Jack an ihm hat. Immer mehr drängt sich der Gedanke auf, das Jack alles tut um Luca aus Jamies Leben für immer verschwinden zu lassen. Und deshalb bin ich ja der Meinung dieser Mann der damals zu Luca gesagt hat das Jamie ihn nicht mehr sehen will ist geziehlt von Jack geschickt worden.
Ethan ist in der Beziehung naiv oder er spielt geziehlt mit. Ich kann mich da nicht entscheiden was ich denken soll.
Reni
Von:  Yumicho
2009-01-07T18:22:12+00:00 07.01.2009 19:22
Genau, die Mehrheit sagt nein! xD
Hallo erstmal~ <3
Kitty is jah süß *_____*
Obwohl ich grad Schiss vor kleinen Kindern hab xD [*hat eben Supernatural angeschaut* Uuuh ~.~]
Aber ist echt wieder toll geworden (:

Uuuuh, was ich gesehen hab - Jeremie sieht ja aus wie Jared Padalecki! xD [achneee, auch sein Bild xD'']

Hoffentlich geht's bald weiter <3~
Mit vielen Grüßäään, deine Yumäää xD

Von:  midoriyuki
2009-01-06T22:05:58+00:00 06.01.2009 23:05
*umkuschel*
Awww ich werde mich auch wahnsinnig beeilen;_;
Wirklich wirklich wirklich;_;

Und, wie ich dir schon gesagt habe*muahaha* ist das Kapitel einfach toll x3
Luca ist einfach wirklich so ein liebevoller Charakter und auch als er überlegt wie schwer es ihm fällt mit jmd. anderem als Jamie in einem Bett zu schlafen...hach das ist einfach toll, weil man merkt wie verdammt wichtig er immer noch für ihn ist <3
Ich mag das Kapitel <3

Und werd mich wirklich beeilen..*schlechtes Gewissen hab*

Hab dich lieb <3
Von:  Toastviech
2009-01-06T21:24:18+00:00 06.01.2009 22:24
Kein Problem, wir leser wollen keinen Streß machen!^^
Vorallem wenn die Kapis so geil sind, wie auch dieses wieder hier.

Aber eine Sache stört mich dann doch:
JAMIE UND LUCA SOLLEN WIEDER ZUSAMMEN SEIN!
ICh halte diese Ferne einfach nicht mehr aus, es quält mich.Bitte , ich flehe schon, hab ein Herz und vereine sie wieder. BITTE.
Dieses Warten ist kaum auszuhalten.

MAch doch mal ne Rundfrage:
Haltet ihr die Trennung von Jamie und Luca aus?

Ich wette die MEhrheit sagt nein.
Ach bitte vereine sie wieder.
*schluchz*

Lg Toasty
Von:  get_moldy
2008-12-30T23:25:09+00:00 31.12.2008 00:25
wo bleibt da bitte deine erzihericshe moral???
hallo gummi???? nein einfach in n arsch rein
*roffel*

hihi
naja wenigstens haben se des bekommen was se wollten
Von:  get_moldy
2008-12-30T22:45:13+00:00 30.12.2008 23:45
hmm im suff machen viele scheiße aber an lucas stelle wäre ich schon längst ausgezogen
und wenn ich auf der straße leben würde
schöner wie daheim wäre es allemale

irgendwie tuen mit beide voll leid
seufz sollen glücklich werden und kinder bekommen
ups das geht ja net *seufz* noch mehr leid tuen mir jetzt die beiden
hoff mal das jamie kein aids hat,....
luca noch jungfrau....

omg mach ich mir viele gedanken
nunja erst mal wieterlesen ne

ich liebe diese geschichte xxd
kapittel gehen immer so schnell vorbei
liest sich halt gut
und kommisüchtig bin i au no
hihi
Von:  get_moldy
2008-12-30T22:30:08+00:00 30.12.2008 23:30
jaja wenn die mutter net zu nem anderen mann geht....
hihi anschaffen gehen lol
luca hat schon so n glück was prostitution angeht xxd und falls so wäre würd ich mir mal überlegen ob er überhaupt der sohn seines vaters is^^

trotzdem luca is immerno knuffig *seufz*
Von:  get_moldy
2008-12-30T13:26:07+00:00 30.12.2008 14:26
hihi knuffig wie sich luca so versteift
nunja sollten sich mal ausreden weil luca denkt des is nur jamies job??
mal sehen was die zwei sonst noch alles machen *neugierig*
und ethan is voll komisch drauf xxd vllt hat er gemerkt das jamie luca net wie n normalen stricher behandelt

schon dämlich in n puff zu gehen und jemand frohe weihanchten zu wünschen
aber irgendwie *knuffig *^^



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