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Freundschaft und Vertrauen

von

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Hallo, mein Name ist Miyako Amano und ich besuche zurzeit die Ohsaka High.
 

Gerade versuche ich mich, so weit wie möglich in die Ecke meines Platzes in der vorletzten Reihe zu schieben. Ich mache mich ganz einfach unsichtbar. Denn wenn ich nichts mache, störe ich die anderen auch nicht – hoffe ich jedenfalls.

Plötzlich fangen alle an zu tuscheln. Was ist denn nun los? Ach stimmt, heute soll ja ein neuer kommen. Nun ja, von mir aus. Solange ich meine Ruhe habe.

Er stellt sich als Shin vor, während ich mich weiterhin darum bemühe, mich mehr oder weniger heimlich in meiner Ecke zu verkrümeln. Er blickt sich um und geht dann auf die letzte Bankreihe zu. Hoffentlich setzt sich der Typ nicht so weit in meine Nähe. An seinem selbstgefälligen Grinsen hab ich schon erkannt, dass er so ein eingebildeter Macho ist. Ein bisschen ängstlich sehe ich doch auf den freien Platz neben mir. Er wird doch wohl nicht…? Oh doch, er wird. Im nächsten Moment grinst er mich unverschämt an und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen. – Schön blöd, jetzt hab ich keine Ruhe mehr! Und jetzt sitzt auch noch dieser eingebildete Kerl neben mir. Hoffentlich spricht er mich nicht auch noch an. Das würde mir gerade noch fehlen! Doch mitten in der Mathe-Stunde dreht er sich zu mir herum. Nun ja, wenn er mich anspricht, werde ich ihn ganz einfach abwimmeln.

„Hi, ich bin Shin. Und wie heißt du?“ Ich sage ihm lieber nur meinen Nachnamen, das wahrt die Distanz. „Amano“ sage ich betont kühl. Er grinst immer noch so nervtötend. „Bist du immer so frostig?“ Ich beschließe, seine Frage zu überhören und mal einen Blick auf die Tafel zu werfen. *Argh* Mathe ist so langweilig. Mein Blick schweift wieder ab und da fällt mir auf, dass der Neue interessiert begutachtet wird. Der eine oder andere abschätzige Blick fällt auf mich. Die fragen sich jetzt sicherlich, wieso er neben mir sitzt. Nun von mir aus können sie ihn gerne haben, ich lege keinen Wert auf ihn. „Du sag mal“ – was erlaubt sich der blöde Affe eigentlich? Redet mit mir als wären wir beste Freunde. „Wie heißt das Mädchen dort mit den langen braunen Haaren?“ Er meint Rika. Unsere Schulschönheit. Nun, da sie mich immer mit ihrem Fanklub schikaniert, geschieht es ihr nur recht, wenn ich ihr diesen Typen auf den Hals hetze. „Rika Kono“, antworte ich in möglichst höflichem Ton. „Aha“, meint er gelangweilt, „Die ist sicher ´ne Oberzicke.“ Was?? Ich glaub, ich hab mich verhört. Das... hat er unsere Schulschönheit wirklich gerade als Oberzicke bezeichnet? Das glaub ich jetzt nicht. Obwohl so weit ist er damit gar nicht von der Wahrheit entfernt – bei ihr täuscht das Aussehen über den Charakter hinweg. Man sagt doch immer: Eine hässliche Seele in einem schönen Körper. Dass er nicht nur ihre Fassade sieht, verblüfft mich doch ein wenig. Das geschieht eigentlich selten und nur dann, wenn sie wie bei mir ihren wahren Charakter zeigt.

Meine Gedanken schweifen ab. Seit meine beste Freundin Mizuki vor einem Jahr Selbstmord begangen hat, schikaniert mich Rika, wann immer sie kann. Mizuki war bei allen beliebt und ich glaube, Rika gibt mir die Schuld an ihrem Tod. Ich weiß nicht weshalb.

Jedes Mal, wenn ich an Mizuki denke, zieht sich mein Herz zusammen. Obwohl es nun ein Jahr her ist, tut es immer noch sehr weh. Ich vermisse sie so schrecklich. Ihr Gesicht, wenn sie lachte. Ihre Geduld und Ernsthaftigkeit, wenn ich ihr Probleme anvertraute. Ich denke, ich werde nie mehr einem Menschen so vertrauen können wie ihr. Bevor ich es verhindern kann, läuft eine Träne über mein Gesicht. Mein neuer Banknachbar hat es bemerkt und blickt mich skeptisch an. „Was ist...?“ Wieso glaubt er, dass ich es ihm erzählen möchte? Ich drehe mich abrupt zur Wand hin. Soll er doch denken, was er will. Ich nehme mir vor, in Zukunft besser aufzupassen. Ich muss meine Gefühle besser unter Kontrolle bringen, schließlich will ich mich vor diesem Idioten nicht dauernd bloßstellen. Ich werfe einen Blick auf die Tafel. Der Lehrer - er heißt Kajiwara-Sensei - hat sich schon wieder verrechnet. Ich rechne schnell das richtige Ergebnis aus, und überlege, wie ich die Stunde verbringen kann, ohne mich zu Tode zu langweilen. Ich nehme meinen Bleistift zur Hand und beginne zu zeichnen. Bald formen sich auf dem Papier Gesicht, Hals, Schultern und Haare. Ich betrachte das Gesicht meiner Figur. Weiche Linien, hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und fröhlich funkelnde Augen. - Ein Schmerz durchzuckt meine Brust. Unbewusst habe ich Mizukis Gesicht skizziert. Eigentlich könnte ich tatsächlich mal ein Bild von ihr malen. Das würde sie mit Sicherheit freuen.

„Amano! Kannst du uns bitte das Ergebnis sagen?“ Ich schrecke hoch und bemerke das genüssliche Grinsen auf dem Gesicht meines Banknachbarn. Der denkt jetzt sicher, ich weiß es nicht. Ich überfliege die Zahlen auf der Tafel und rechne kurz nach. „Amano, wie lautet das Ergebnis?“ Kajiwara-Sensei sieht aus, als würde er jeden Moment platzen. „Also, x = 2/5, y = 6/121 und z = 3/65 “, antworte ich ruhig, um ihn nicht noch mehr zu reizen. „Äh“, er sieht auf sein Heft, „Das ist falsch. Du musst dich irgendwo verrechnet haben“, stellt er fest. „Hat vielleicht jemand das richtige Ergebnis?“ Mir bleibt für einen Augenblick glatt die Luft weg. Also das ist ja wohl die Höhe! Nur weil dieser einfältige Lehrer zu blöd ist, die richtigen Zahlen einzugeben und zu geizig war, sich ein Lösungsheft zu kaufen, ist mein Ergebnis falsch. Ich rechne vorsichtshalber nochmal nach und komme zu demselben Ergebnis wie vorher. Also ist mein Ergebnis doch richtig! Ich habe schon mit sieben Jahren Mathematik-Wettbewerbe gewonnen. Meine Eltern schickten mich dorthin, es ging ihnen aber nur darum, die Preisgelder abzukassieren. Also zog ich mit 12 Jahren zu meiner Oma und mit 15 suchte ich mir dann eine eigene Wohnung. Meine Eltern lassen seitdem nichts mehr von sich hören und zahlen mir keinen Yen, ich bin mir fast sicher, dass sie schon vergessen haben, dass es mich überhaupt gibt. Nur von meiner Oma erhalte ich manchmal etwas finanzielle und natürlich moralische Unterstützung, aber ich versuche sie nicht zu sehr zu belasten, schließlich hat sie auch Probleme. Um meine Wohnung zu bezahlen, musste ich natürlich ein paar Jobs annehmen. Zur Zeit arbeite ich in ´nem Cafe` und manchmal helfe ich in einem Elektronikladen in meiner Straße aus.

„Ich habe ein Ergebnis!“, ruft mein Banknachbar laut und befördert mich damit wieder zurück zum Mathe-Unterricht. „Ich habe dasselbe Ergebnis wie“ - er wirft einen kurzen Blick auf mich - „Amano. Könnte es nicht vielleicht richtig sein?“ Er hat Kajiwara-Sensei zwar höflich kritisiert, aber er weiß ja nicht, dass dieser Lehrer überhaupt keine Kritik verträgt. Nur seine Meinung und das, was er tut ist richtig, alles andere nicht. Unser Lehrer sieht sich in der Klasse um. „Hat noch irgendjemand diese Werte ausgerechnet?“ Es folgt Schweigen. Entweder wagt sich niemand, etwas zu sagen, oder aber alle haben gar kein Ergebnis. Ich tendiere eher zu letzterem. In der letzten Zeit hat unsere Klasse echt null Ahnung, wenn´s um Mathematik geht, dabei ist das doch so einfach. „Sehen Sie, Kayashima“, wendet er sich an Shin, „Sie beiden sind die einzigen, also werden Ihre Werte wohl auch nicht stimmen.“ Shin sieht ihn böse an, doch das bemerkt unser Sensei nicht, da er sich schon wieder der Tafel zugewandt hat. Shin sieht zu mir hinüber. „Ist der immer so?“ „Oh ja“, seufze ich und verdrehe die Augen. Erst im nächsten Moment wird mir bewusst, dass ich mich ja gar nicht mit ihm unterhalten wollte. Er scheint über irgendetwas nachzudenken. Dann hebt er die Hand: „Entschuldigen Sie vielmals“ – der Ton ist eindeutig ironisch – „ Dürfte ich Sie darum bitten, die Aufgabe noch einmal vorzurechnen?“ Ach du meine Güte, der Kerl rennt doch tatsächlich in sein Unglück. Unser Lehrer drehte sich herum, sein Kopf nahm nach und nach die Farbe einer Chilischote an. Jetzt kann sich Shin auf was gefasst machen. Der Lehrer ist vielleicht dämlich, aber mindestens genauso gefährlich. Er versteht es, die Schüler schlecht bei anderen Leuten dastehen zu lassen. Einmal hat er es sogar geschafft, dass ein Schüler von der Schule geworfen wurde. Nur das kann mein Banknachbar noch nicht wissen. Angesichts der Situation tut er mir schon ein bisschen Leid. „Wir könnten doch unseren Rechenweg aufschreiben und dann mit Ihrem vergleichen“, werfe ich helfend ein. „Na gut, von mir aus. Kommen Sie nach vorn an die Tafel.“

Wen hatte er gemeint? Mich? Doch die Frage erübrigte sich, da mein neuer Banknachbar schon aufgesprungen war. Er schrieb tatsächlich den kompletten richtigen Lösungsweg an die Tafel. Ich hatte ihn wohl etwas unterschätzt. Aber Kajiwara-Sensei konnte es auch nicht recht glauben oder wollte es nicht – er stand wie versteinert vor der Tafel. Wahrscheinlich hatte sich dieser unfähige Lehrer nicht einmal den Rechenweg aufgeschrieben. Er musste zum ersten Mal in seiner Laufzeit als Lehrer und wahrscheinlich auch in seinem Leben einen Fahler zugeben. Wenn er es nicht zugab, würde er vor der Klasse als dumm dastehen. Der Gedanke gefiel mir. „Äh in der Tat…“, Kajiwara konnte seine Wut nur schwer unterdrücken, nachdem er sich schon wieder etwas gefasst hatte. „Ihr Rechenweg stützt sich auf logische Schlussfolgerungen“, er räusperte sich, „es muss mir wohl irgendwo ein kleiner Fehler unterlaufen sein. – Sie dürfen sich setzen.“ Ein kleiner Fehler? Das ganze Ergebnis war falsch! Aber eigentlich war es dieser Lehrer gar nicht wert, dass man sich länger als zehn Sekunden mit ihm beschäftigte. Mein Banknachbar hatte mich allerdings doch ein bisschen verblüfft.

Trotzdem war ich froh, dass er in Englisch und anschließend im Kunstunterricht nicht neben mir saß. Ich wollte einfach meine Ruhe haben und nicht dieses nervtötende Grinsen ertragen müssen. Die Mädchen aus unseren Kursen schienen das wohl etwas anders zu sehen. Sie tuschelten die ganze Zeit und kicherten blöd. Was fanden sie nur an ihm? Schließlich ignorierte er sie die ganze Zeit.

In Kunst bekamen wir den Auftrag ein Portrait zu zeichnen. Dabei fiel mir mein Bild aus Mathe ein. Die Idee Mizukis Portrait im Unterricht zu malen war eigentlich gar nicht so schlecht. So hatte ich genug Zeit für das Bild, da für die nächste Zeit ziemlich viele Prüfungen anstanden. Am Ende der Stunde hatte ich mehrere Skizzen angefertigt. Jetzt musste ich mir noch eine geeignete Technik überlegen. Bleistift und Pastellkreiden nicht – das verschmierte immer so sehr. Bei Portraits boten sich immer Ölfarben an. Oder vielleicht Aquarell? Ich sammelte meine Skizzen und Stifte ein und machte mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Ich musste nur noch kurz beim Schreibwarengeschäft vorbei, weil ich noch ein paar neue Pinsel und ein paar Sachen für die Schule brauchte. Ich überlegte gerade, welche Technik für Mizukis Portrait wohl besser geeignet wäre, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich zuckte zusammen und sah meinen neuen Mathe-Banknachbarn vor mir stehen, als ich mich umdrehte. Der Typ ging mir wirklich langsam auf die Nerven. Jetzt lief er mir schon nach der Schule hinterher. Ich konnte mich eigentlich nicht daran erinnern, ihn aufgefordert zu haben, mich zu verfolgen. „Was ist denn?“ „Ich habe mir gedacht, dass ich dich ein Stück begleiten kann. Wir wollen ja offensichtlich in dieselbe Richtung. Ich wohne gleich am Ende dieser Straße dort“, er zeigte auf eine kleine Seitenstraße. Erst in dem Augenblick fiel mir auf, dass ich auch schon fast zu Hause war. Das konnte nicht sein. Jetzt wohnte der auch noch in meiner Nähe. Und wenn ich Pech hatte, dann würde ich ihm jeden Tag begegnen. Na toll, welch herrliche Aussichten.

Ich ging bis zum Schreibwarengeschäft und ließ Shin einfach stehen. Als ich wieder herauskam, war er zum Glück schon verschwunden, sodass ich in Ruhe zu meiner Wohnung gehen konnte.

Zu Hause angekommen schloss ich die Tür auf und schlenderte in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Anschließend ging ich zu meinem Zimmer. Die Schultasche ließ ich in die Ecke fallen - die Hausaufgaben konnten erstmal warten. Viel wichtiger war mir jetzt das Portrait. Seit mir in Mathe diese Idee gekommen war, spukte Mizukis Bild in meinem Kopf herum. Ich suchte meine Pinsel zusammen und nahm eine rote Tube mit Ölfarbe in die Hand. - Nein - Das ist wohl doch keine so gute Idee. Die dicken Ölfarben werden das Gesicht wohl eher erdrücken, also doch lieber Aquarell. Ich nahm einen Zeichenblock zur Hand und übertrug meine Skizzen mit feinen Pinselstrichen auf das Papier.

Als es plötzlich an der Tür klingelte, blickte ich erschrocken auf. Wer konnte das sein? ich bekam eigentlich nie Besuch. Ich versuchte aufzustehen, was sich gar nicht als so einfach erwies, da meine Beine eingeschlafen waren. Ich war so in das Malen vertieft gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie unbequem ich gesessen hatte. Wie viel Zeit wohl inzwischen vergangen war? Bis ich an der Tür angekommen war und öffnen konnte, hatte es ein zweites Mal geklingelt.

Ich traute meinen Augen kaum. Da stand doch dieser arrogante Shin tatsächlich vor MEINER Tür. Woher wusste er, wo ich wohne? Ich hatte es ihm schließlich nicht gesagt.

„Äh hallo. Ich wollte dich mal fragen, ob du mir den Schulstoff von der letzten Woche geben könntest.“ Er wirkte etwas verlegen- „Ich wollte dich nicht stören“, fügte er hinzu und sah mich an. Erst da ging mir auf, wie seltsam ich aussehen musste in dem weißen Kittel und den alten Hosen, die ich immer anzog, wenn ich etwas malte. Was sollte ich nun tun? In meiner Wohnung haben wollte ich ihn eigentlich nicht, es war schon schlimm genug, dass er sie jetzt kannte, aber draußen stehen lassen? Das wäre zu unhöflich gewesen. „Also gut, komm rein. Du kannst meine Hefter mitnehmen.“ Ich führte ihn in den größten Raum der Wohnung, den ich als Aufenthaltsraum eingerichtet hatte. In der Ecke standen eine orangefarbene Couch und ein kleiner runder Tisch und an den Wänden standen zwei Schränke, die überwiegend mit meinen Büchern gefüllt waren. Ich wies auf die Couch. „Setz dich.“ Er nahm Platz und sah sich aufmerksam um. „Lebst du allein hier?“ Na toll, das hatte ich nun davon, dass ich ihn hereingebeten hatte. Schon stellte er lästige Fragen. „Ja, schon seit zwei Jahren. Ich lebe schon lange nicht mehr bei meinen Eltern.“ Hoffentlich gab er jetzt Ruhe. Er sagte tatsächlich nichts weiter und beobachtete mich nur, Aber gerade das machte mich nervös. Irgendwie hatte ich das ungute Gefühl, dass mir meine Gefühle für meine Eltern anzusehen waren und ich drehte mich schnell um. „Ich gehe jetzt die Sachen holen. Möchtest du einen Tee?“ „Ja, danke.“

Ich verließ das Wohnzimmer und suchte alle meine Hefter zusammen. Jedes Mal, wenn ich an meine Eltern erinnert wurde, wurde ich traurig. Anfangs hatte ich sie verabscheut, ja gehasst, für ihren Egoismus. Aber ich hatte sie auch vermisst, es waren schließlich meine Eltern. Nun hatte ich seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen. Meine Oma hatte mir erzählt, dass sie sich vor fast zwei Jahren hatten scheiden lassen, aber sie wusste auch nichts Genaueres oder sie erzählte es mir zumindest nicht. Ich hatte mich an ein Leben alleine gewöhnt. Alle Menschen, die mir etwas bedeuteten, hatten mich früher oder später im Stich gelassen. Mama, Papa, Mizuki - sie existierten nur noch in meiner Erinnerung. Meine Oma wohnte in einem Haus außerhalb der Stadt, sodass ich sie nur selten besuchen konnte. Und Freunde hatte ich keine.

Ich ging in die Küche und nahm die Teekanne mit dem heißen Tee und zwei Tassen mit ins Wohnzimmer. Als ich eintrat, stand Shin gerade vor meinem Bücherschrank. Er blickte auf und meinte: „Wow, du kannst ja fast ´ne Bibliothek eröffnen. Hast du die alle gelesen?“ „Mh“, ich nickte zustimmend. Er wirkte beeindruckt: „also, bis gerade eben habe ich unsere Büchersammlung zu Hause für groß gehalten, aber das hier“ – er deutete auf den größeren Schrank, der eine Längsseite des Raumes einnahm – „übertrifft unsere bei weitem. Und dann erst diese alten Wälzer, die findet man doch nur in Antiquariaten... Echt klasse!“ „Danke.“ Ich hatte nicht gedacht, dass er sich so für Bücher interessierte. Ich betrachtete die Bücherreihen lächelnd. Auch Mizuki hatte ihren Teil zu der immensen Sammlung beigetragen, da sie mir oft Romane geschenkt hatte. Da fiel mir schlagartig wieder das Portrait ein. Ich legte die Hefter auf der Couch ab, stellte die Teekanne und die Tassen auf den Tisch und flitzte in mein Zimmer. Als es vorhin geklingelt hatte war ich in aller Eile aufgestanden und hatte es einfach liegen gelassen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät! Ich betrachtete mein Werk. Es war genau das passiert, was ich befürchtet hatte. Die Farben waren verlaufen. Ruiniert war es noch nicht, aber es würde nicht mehr so werden, wie ich es mir vorgestellt hatte. Toll, jetzt musste ich wegen diesem arroganten Kerl in meinem Wohnzimmer noch mal ein neues malen! Ich ging mit dem Bild in der Hand wieder zurück zum Wohnzimmer. Shin hatte gerade meine Hefter in der Hand. „soll ich dir irgendetwas erklären?“ Er sah zwar nicht so aus, als bräuchte er Hilfe und ich musste widerwillig zugeben, das er doch intelligenter war, als ich zunächst vermutet hatte. Außerdem musste ich mir schleunigst überlegen, wie ich den Kerl am schnellsten, aber doch höflich wieder loswurde. Er blickte auf. „Mh? - Nein, ist schon ok. Das meiste habe ich davon an meiner alten Schule schon gehabt.“ Dieses selbstsichere Gerede und dieses Grinsen brachten mich schon wieder fast auf die Palme. Wie konnte ich ihn loswerden? Es sah im Moment nicht so aus, als ob er in den nächsten Minuten vorhätte zu gehen. Doch ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen: „Doch du kannst mir helfen, das hier verstehe ich nicht ganz.“ Er deutete auf eine schwierige physikalische Gleichung. Ich sah sie mir genauer an und erklärte sie ihm dann. „Ok. Ich werde dann mal gehen“, meinte er schließlich, stand auf und ging zur Tür. !wir sehen uns dann morgen!“ Wieso musste er mich daran erinnern? Das schlimme war, dass wir morgen eine Doppelstunde Mathe haben würden. Immerhin war ich ihn für heute Abend los. Ich sammelte das Geschirr ein und trug es in die Küche. Ich widmete den Hausaufgaben eine Stunde und wollte eigentlich noch ein paar Seiten meines neuen Romans lesen, war jedoch so müde, dass mir schon nach fünf Minuten die Augen zufielen.

Die Sonne schien mir ins Gesicht, sodass ich blinzeln musste. Ich wäre ja noch gern liegen geblieben in meinem schönen kuscheligen Bett, aber mein Wecker zeigte leider gnadenlos die Zeit an. „Ach“, ich streckte mich, um munter zu werden, „Was für ein schöner Tag!“ Zeit zum Frühstücken hatte ich noch genug. Ich beeilte mich trotzdem ein wenig, weil ich heute früher in der Schule sein wollte. Wir hatten gleich in der ersten Stunde Kunst und mit ein bisschen Glück könnte ich dann schon vorher anfangen. Außerdem freute sich die Lehrerin immer darüber, wenn ich ihr ein bisschen bei der Vorbereitung half. Ich nahm Mizukis Bild von meinem Schreibtisch, packte es in meine Schultasche und wollte schon losgehen, als mir einfiel, dass ich meinen Schlüssel noch nicht mitgenommen hatte.

Ich schlenderte in Richtung Schule, nachdem ich die Haustür hinter mir geschlossen hatte. Sollte ich das Bild noch einmal anfangen? Das Aquarell könnte ich zu Hause fertig malen und in der Schule könnte ich vielleicht Ölfarben nehmen...“ Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merkte, dass ich nicht mehr alleine war - bis mir jemand auf die Schulter tippte. „Hi!“ Oh Mann, was wollte der denn schon wieder? Dieser Typ war ja ne echte Plage. Warum stand der überhaupt so früh auf? „Hallo.“ „Du scheinst ja sehr erfreut darüber zu sein, mich zu sehen. Eigentlich wollte ich dir vorschlagen, zusammen zu Schule zu gehen.“ „Nun, wir sind gleich da.“ In dem Moment fiel mir ein, dass ich ihn wohl nicht so schnell loswerden würde, da wir gemeinsam Kunstunterricht hatten. Ich öffnete das große Portal und begab mich in Richtung Kunstraum. Die Hoffnung Shin doch noch abzuwimmeln, gab ich auf.

Ich hatte gerade eine Hand auf die Türklinke gelegt, als die Tür von innen mit solch einer Wucht aufgestoßen wurde, dass ich das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Shin fing mich auf und grinste mich an. „Hoppla, ich hatte nicht erwartet, dass du so stürmisch bist!“ Erst dieses nervtötende Grinsen und jetzt dieser dämliche Spruch. Dieser Kerl war wirklich unglaublich arrogant! „Wieso ich? Das war sie!“, ich zeigte auf unsere Kunstlehrerin, die gerade mit vier Kartons in der Hand im Raum nebenan verschwand und uns wohl gar nicht bemerkt hatte. Sie hatte schulterlange gefärbte Haare, eine scheinbar riesige Brille auf der Nase und sie trug eine grün-gelb gepunktete Hose sowie einen Kittel, der wohl mal weiß gewesen war, jetzt aber eher wie ein Farbkasten aussah. „Oh, wer ist das?“ Ich musste angesichts seines verblüfften Gesichtsausdrucks lachen. „Unsere Kunstlehrerin, Frau Toma. Wir werden jetzt das ganze Jahr über bei ihr Unterricht haben, gestern hatten wir nur Vertretung.“ Ich öffnete die Tür und ging zu meinem Platz. „Sie ist ein bisschen spleenig, aber ok. Such dir nen Platz - diese zwei Reihen sind noch frei“, ich deutete auf die ersten Reihen, „ich helfe ihr jetzt.“ Ich legte meine Tasche auf einem der vorderen Plätze ab und folgte der Lehrerin. Ich erfuhr von ihr, dass wir heute unsere angefangenen Porträts weiterzeichnen konnten. Anschließend forderte sie mich dazu auf, schon die Pastellkreiden, Farbkästen und die Ersatzpinsel aus dem Vorbereitungsraum zu holen.

Als ich beladen mit Kartons voller Pastellkreiden und Farbkästen, sowie dem Becher mit den Pinseln wieder den Kunstraum betrat, hatte sich Shin schon einen Platz gesucht und kritzelte irgendetwas auf einen Block. Ich legte die Sachen auf dem Lehrertisch ab und wollt mich schon wieder umdrehen, als mir auffiel, dass er sich nicht irgendeinen Platz gesucht hatte, sondern ausgerechnet den neben mir. Es fing echt an mich zu nerven. Es gab doch genug Mädchen in diesem Kurs, die er angrinsen konnte. Warum klebte der Kerl nur an mir wie ein Insekt an Fliegenpapier? Ich würde ihn einfach ignorieren. Frau Toma kam herein - mit zwei so großen Kartons in beiden Händen, sodass sie unmöglich noch sehen konnte, wo sie hinlief. Ich nahm ihr eine Kiste ab und trug sie zu einem Tisch. „ Ich würde mein Bild gern mit Ölfarbe malen. Würden Sie das erlauben? Ich kann Ihnen auch schon meine Skizze zeigen.“ Ich kramte einen Augenblick in meiner Tasche und hielt ihr mehrere Blätter hin: „Das sind meine Skizzen und das hier war mein erster Versuch sozusagen.“ Sie betrachtete die Bilder eine ganze Weile und meinte schließlich: „Ja, das sieht gut aus, Amano. Ich werde dir die Ölfarben heraussuchen. Wenn du Fragen hast, wende dich an mich.“ Sie gab mir die Zeichnungen zurück und verschwand in sekundenschnelle wieder im Vorbereitungsraum. Manche der Schüler waren der Meinung, dass sie sogar in diesem Raum übernachte. Ich musste lächeln. Ja, etwas seltsam war sie schon, aber sie war nichtsdestotrotz eine gute Lehrerin. Und wenn man ehrlich war - wer hatte sie nicht, die kleinen Macken?!

Ich ging zu meinem Platz und legte die Zeichnungen auf den Tisch, dann holte ich meinen Zeichenblock und Stifte aus meiner Tasche. Ich nahm einen Bleistift zur Hand und fertigte noch eine Skizze von Mizukis Gesicht an. Jetzt konnte ich eigentlich gleich beginnen. Ich müsste mir nur noch etwas für den Hintergrund überlegen. Frau Toma brachte mir die Ölfarben und geeignete Pinsel. Ich betrachtete die Tuben und entschied mich schließlich für den Hintergrund ein blasses pfirsichfarben bis rot zu verwenden. Ich begann gleich die Umrisse des Gesichts zu malen. Es erwies sich als gar nicht so einfach, die Farbe gleichmäßig aufzutragen, sodass ich nach Frau Toma rufen musste. Sie gab mir einen Schwamm und zeigte mir, wie ich die Farben gleichmäßig auftragen sollte. Zunächst würde ich mit Augen, Nase und Mund beginnen. Als ich damit fertig war, blickte ich hoch und stellte fest, dass sich der Raum komplett gefüllt hatte. Der Unterricht hatte schon seit einer halben Stunde angefangen. So in meiner Arbeit vertieft, hatte ich das gar nicht mitbekommen. Mir war nicht nach Gesprächen zumute, deshalb richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Bild.

Der Tag verging schneller, als ich gedacht hatte. Englisch war ganz ok und Mathe - naja. Immerhin ignorierte mich Kajiwara-Sensei heute. Ihm saß wohl der Vorfall vom letzten Mal immer noch in den Knochen. Ich musste ein Grinsen unterdrücken als ich die Blicke bemerkte, die er Shin zuwarf. Er hasste den Jungen geradezu. Es war echt erstaunlich, wie schnell mein Super-Banknachbar sich hier Feinde gemacht hatte. Aber eigentlich war das nicht mein Problem. Ach wenn mich dieser trottelige Lehrer heute nicht belästigte, war ich trotzdem froh, als es endlich zum Stundenende klingelte. Ich konnte es manchmal einfach nicht länger ertragen. Diese penetrante Stimme und der Müll den der an der Tafel fabrizierte...

Auch die nächsten Tage verliefen normal. Wenn ich mal davon absah, dass mir dieser Shin ständig hinterherlief. Vielleicht litt ich aber mittlerweile schon unter Verfolgungswahn. Wäre kein Wunder gewesen!

Als ich am Freitag in die Schule kam, freute ich mich. Diese Nervensäge war nirgendwo zu sehen. Die anderen schienen jedoch gar nicht zu bemerken, dass er fehlte. Ich hatte am Nachmittag eh noch nichts vor, also könnte ich ja mal bei ihm vorbeischauen und ihm die Hausaufgaben bringen. – Ach ja, na klar! Eine wirklich „grandiose“ Idee! Wenn er mich schon mal nicht nerven kann, dann laufe ich ihm eben hinterher! Vielleicht hatte ich wirklich bereits den Verstand verloren.

Andererseits wenn er krank war... ihm fehlte sowieso schon genug Unterrichtsstoff, den er aufholen musste. Irgendwie überwog wohl doch mein Mitgefühl, da ich mich am Nachmittag dann tatsächlich auf den Weg zu Shins Wohnung machte. Die Straße und die Hausnummer kannte ich, da er sie mir selbst gesagt hatte.

Als ich an der Tür klingelte, öffnete mir ein kleiner Junge. Ich erklärte ihm, wer ich war und warum ich hier war. Er nickte nur und führte mich ins Wohnzimmer. „Willst du... Tee?“ „Ja, bitte.“ Ich lächelte den Kleinen an. Er war ziemlich schüchtern. Irgendwie erinnerte er mich an mich selbst. Vor allem kurz nach Mizukis Tod. Er wirkte genauso hilflos und verlassen, wie ich mich damals gefühlt hatte. Zwei Minuten später kam er wieder mit einer Tasse in der Hand. „Danke.“ Er setzte sich auf einen Stuhl, blickte mich jedoch nicht an. „Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Miyako Amano. Ich wollte nach Shin sehen und ihm die Hausaufgaben bringen, weil er heute nicht in der Schule war. Ist er krank?“ „Ja, ... er hustet ständig. Und ... er hat Fieber ... glaub ich...“ „Kann ich ihn mal sehen. Vielleicht kann ich ihm helfen.“ „Wirklich?“ Er sah mich erstaunt an. „Naja“, ich musste lächeln, „ich kann’s versuchen. Wir müssen auf jeden Fall das Fieber senken.“ Shins Bruder nickte und führte mich in ein Zimmer. Bereits beim Eintreten hörte ich das Husten. Shin war sehr blass und total verschwitzt. Seine Stirn glühte vom Fieber. Wir würden ihm Wadenwickel machen und ein feuchtes Tuch auf die Stirn legen. „Holst du bitte ein paar feuchte Handtücher und ein Glas Wasser?“, wandte ich mich an Shins Bruder. Ich wickelte Shin die Handtücher um die um die Waden und legte ihm ein Tuch auf die Stirn, dann versuchte ich, ihm etwas von dem Wasser einzuflößen. Ich konnte jedoch nur die aufgesprungenen Lippen befeuchten. „Wir müssen warten, bis er aufwacht. Dann kann er etwas trinken.“ Ich ging hinaus und lehnte die Tür an. Shins Bruder blickte mich mit noch größeren Augen als zuvor an: „Woher weißt du das alles?“ „Ach, das hat mir meine Oma gezeigt. - Sag mal, hast du schon etwas gegessen? Ich noch nicht und ich hab jetzt Hunger.“ Ich grinste ihn an. „Was möchtest du essen“, fragte ich ihn, als er den Kopf schüttelte. „Du kannst kochen? Ich darf mir etwas wünschen?“ „Natürlich kann ich das. Jedes ordentliche Mädchen kann kochen! Wenn ich es kann, dann koch ich es für dich, ok?! Von mir aus kann dein Bruder mitessen, wenn er wach wird.“

„Mh, Reisbällchen ,Kushiage und Yokan.“ „Ok, wo ist die Küche?“ „Da vorne. Kann... ich... dir helfen?“ „Natürlich, gerne. Dann geht’s auch schneller“, fügte ich lächelnd hinzu. „Am besten du wäschst schon mal das Gemüse und schneidest es so“, ich zeigte ihm wie.

„Ich weiß immer noch nicht deinen Namen...“, sagte ich leise. „Oh, natürlich. Shinya Kayashima“, meinte er etwas verlegen. Ok, langsam siegte meine Neugier. Wo waren eigentlich die Eltern der beiden? Warum lebten sie alleine? Der Junge war doch gerade mal sechs oder sieben Jahre alt. „Warum bist du hier allein mit deinem Bruder?“ „Ach, normalerweise bin ich nicht mit ihm allein. Ich wohne meistens bei Oma.“ Bei seiner Oma? Ich sah die Traurigkeit in seinen Augen und beschloss, lieber zu warten, bis er mir selbst alles erzählte.

Ich hantierte mit den Töpfen. „Es ist bald fertig.“ Er sah mich an und sagte sehr leise: „Es ist fast so, wie mit Mama. Sie hatte auch solche geschickte Hände, die immer nach Kräutern geduftet haben.“ „Was ist mit deiner Mutter?“, fragte ich ihn vorsichtig und hockte mich hin. „Sie... sie ist g-gestorben. Vor zwei Jahren. Bei einem Autounfall. Papa auch. Seitdem wohne ich bei Oma, wenn Shin nicht zu Hause ist.“ Seine Worte gaben mir einen tiefen Stich ins Herz. Ich kannte das Gefühl, einen geliebten Menschen zu verlieren. In seinem Fall waren es sogar zwei. Ich sah die Tränen in seinen blauen Augen. und konnte einfach nicht anders. Ich nahm ihn in die Arme.

Ich streichelte über seinen blonden Wuschelkopf. „Ich weiß, wie sich das anfühlt. Meine Freundin ist auch gestorben. Ich...“ ich brach ab. Wie oft hatte ich mich schon gefragt warum? Warum ausgerechnet sie? Warum hatte sie nichts zu mir gesagt? Warum hatte sie sich nicht einmal von mir verabschiedet? Es war mir schwer gefallen, zu begreifen, dass sie nicht mehr da war und nie mehr wieder kommen würde. Noch heute ging es mir manchmal so, dass ich hoffte, sie wäre es, wenn es an der Tür klingelte. Oder ich sagte irgendetwas und bemerkte dann, dass sie mir keine Antwort geben würde. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Shinya sich bewegte. „Los“, ich lächelte ihn an, „wir schauen mal, ob das Gemüse schon fertig gekocht ist.“

In der Küche ließ ich mir Teller und Besteck zeigen und beauftragte Shinya, den Tisch zu decken. „Ich geh mal nachsehen, wie es deinem Bruder geht.“

Ich öffnete vorsichtig die Tür zu Shins Zimmer, doch er war schon wach. „Wie fühlst du dich?“ „Naja...“ Es war eher ein Krächzen. „Willst du was essen? Wir haben Reis und Gemüse gekocht.“ Ich half ihm beim Aufstehen und schickte ihn ins Wohnzimmer vor. Anschließend holte ich die Töpfe aus der Küche. Shinya hüpfte aufgeregt auf der Couch herum. Ich musste lächeln. „Setz dich.“ Er verschlang seine Portion in einer Schnelligkeit, die ich nicht für möglich gehalten hatte, während sein Bruder nur in seinem Essen herumstocherte. Ich ging noch mal in die Küche und setzte Tee auf.

„Hier ist etwas Tee mit Honig. Der hilft gegen die Halsschmerzen.“ Er blickte mich nur böse an. „Ich brauche deine Hilfe nicht. Wir kommen alleine klar. Danke.“ „Nun“, gab ich bissig zurück, „entschuldige, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Du bist krank. Aber offensichtlich ist meine Anwesenheit nicht länger erwünscht. Tschüss.“ Ich musste mich doch nicht dafür beleidigen lassen, dass ich nett sein und ihm helfen wollte. Shinya sprang entsetzt auf: „Nein, kannst du nicht noch bleiben? Deine Eltern werden das sicher erlauben.“ Er hielt mich am Ärmel fest. „Ich wohne nicht bei meinen Eltern, sondern alleine.“ Shin sah mich auffordernd an, sodass es mir nur mit großer Anstrengung gelang, meine wachsende Wut zu unterdrücken. „Mh. Wohnst du weit weg?“ Ich machte mir klar, dass Shinya nichts für das idiotische Verhalten seines Bruders konnte. „Nein, gar nicht. Es ist ein paar Minuten von hier, Shin kann dir sagen, wo. Du kannst mich gerne mal besuchen, wenn du willst.“ Ich zwinkerte ihm zu, nahm meinen Mantel von der Garderobe und verließ das Haus. Ich war wirklich schon wieder auf 180. Warum hatte ich ihn auch unbedingt besuchen müssen? Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Ich hatte tatsächlich schon fast vergessen, wie arrogant er doch war. So etwas Unhöfliches. Wie konnte ein solcher Fiesling nur so einen netten kleinen Bruder haben? Der kühle Abendwind wehte mir um die Nase und ich wurde langsam wieder ruhiger.

Shinya war das glatte Gegenteil. Irgendwie erinnerte er mich tatsächlich ein wenig an mich selbst. Was der Kleine schon alles verloren hatte. Mir sollte er immer willkommen sein, wenn er vor meiner Tür stand. Ich musste gähnen. Als ich meine Tür erreichte, beschloss ich, gleich zu Bett zu gehen.

Auch am nächsten Tag war Shin nicht in der Schule. War mir aber ganz Recht so. Ich würde ganz gewiss nicht noch mal so blöd sein und ihn besuchen, um ihm noch mal die Chance zu geben, mich zu beleidigen.

Zu Hause übertrug ich die Skizzen von Mizukis Porträt noch mal mit dünnem Bleistift auf das Aquarellpapier. Anschließend beantwortete ich noch ein paar Mails, unter anderem mailte ich auch meiner Oma, dass es mir gut ging. Sie hatte mich auch gefragt, ob ich sie besuchen wolle zum Mittagessen am Sonntag und ich sagte ihr zu. (Sie war eben der Meinung, ich würde nicht ordentlich essen...) Eigentlich wollte ich noch ein wenig in meinem neuen Roman lesen, aber ich war so erledigt, dass mir schon bald die Augen wie von selbst zufielen.
 

Mein Wecker piepste unaufhörlich. Verschlafen langte ich danach. Ich blinzelte und drückte das nervige Ding aus. Ich könnte noch ein bisschen liegen bleiben, aber die Sonne schien in mein Zimmer und lud mich zum Aufstehen ein. Es würde ein herrliches Wochenende werden! Also schnappte ich mir Pulli und Hose und schlurfte in die Küche um Tee aufzusetzen und nach meinem letzen Müsli zu kramen. Nach ein paar Minuten gab ich die Suche auf und entschied mich für Marmeladenbrot zum Frühstück. Gerade saß ich am Tisch und überlegte, was ich mit dem schönen Wetter anfangen könnte, als es an der Tür klingelte. Acht Uhr. Wer war das so früh? Shins Bruder blickte mich erwartungsvoll an, als ich die Tür öffnete. Er erklärte mir, dass er mit seinem Bruder schwimmen gehen würde und er mich dabei haben wolle. Naja, eigentlich ist das ja eine gute Idee, aber dann müsste ich Shin schon wieder ertragen. Shinya hatte wohl irgendetwas in meinem Gesicht gesehen, denn er sah für einen Moment ziemlich unglücklich aus. „Bitte, bitte, geh doch mit. Das wird bestimmt lustig!“

Ich seufzte innerlich, dass mich dieses Kindergesicht weich geklopft hatte. Wer konnte diesem Blick schon widerstehen? „Ok, ich komm mit. In zehn Minuten hab ich alles Wichtige eingepackt.“

Während der Zugfahrt redete ich fröhlich mit Shinya. Er wusste wirklich viel. Vor allem interessierte er sich anscheinend für die Astronomie. Mitten im Gespräch blickte er mich ernst an. „Bist du immer noch sauer auf meinen Bruder?“ „Ja, natürlich.“ Was für eine Frage, schließlich hatte er mich vorgestern erst wieder beleidigt! „Naja, er ist manchmal etwas seltsam. Er kann seine Gefühle nicht so gut ausdrücken. Ich glaube, er vermisst Mama und Papa auch sehr doll.“ Shinya sah mich traurig an. „Ja, bestimmt tut er das.“ Ich holte ein Foto aus meinem Portemonnaie und gab es ihm. „Hier, das ist meine Freundin Mizuki, von der ich dir erzählt habe.“ Er betrachtete das Bild und gab es mir wieder zurück: „Sie ist schön. Sie sieht aus wie ein Engel.“ „Ja“, ich nickte, „das war sie auch. Mein Engel. Alle hatten sie gern. Sie war zu allen freundlich und großzügig. Sie war die beste Freundin, die ich haben konnte.“ Es tat gut, darüber zu sprechen. Mir fiel auf, dass ich das bisher nie getan hatte. Es tat immer noch weh, an sie zu denken, aber ich wusste genau, dass er mich verstand. Wir beide hatten ein ähnliches Schicksal erlitten. Ich wusste, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt. Der Schmerz verblasst irgendwann, aber eine Lücke bleibt immer im Herzen zurück, die nie ganz ausgefüllt werden kann. Man lernt neue Menschen kennen, aber niemand kann dir den verlorenen Menschen ersetzen Es ist ein bisschen wie bei einem Puzzle, bei dem ein Teil verloren geht. Man kann sich ein passendes Teil basteln, aber es wird nie das gleiche sein wie das original. Ich dankbar dafür, dass ich einen so wunderbaren Menschen wie Mizuki kennen lernen durfte. „Wo sie jetzt wohl sind – Mizuki und deine Eltern?“ „Oma sagt, sie sind im Himmel und sehen von dort oben immer, was wir gerade machen“, meinte Shinya. „Ja“, ich lächelte leicht, „das glaube ich auch. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, Mizuki kann mich wirklich hören.“ Shinya beugte sich zu mir hinüber und meinte flüsternd: „Ich träume öfter von Mama. Und stelle mir vor, wie sie an mein Bett ging und mir Geschichten vorlas, als ich noch nicht in der Schule war... Willst du ein Bild von ihr sehen?“ „Ja, na klar“, ich war wirklich neugierig. Er suchte in seinem Rucksack und gab mir ein kleines Bild in die Hand. Ein Mann, der seinen Arm um seine Frau gelegt hatte, die ein Baby in den Armen hielt. Im Vordergrund stand ein Junge mit dunklen Haaren, der in die Kamera lächelte. Es war das Bild einer glücklichen Familie. Einer Familie, die ich nie gehabt hatte. Oder hatte ich sie gehabt und konnte mich nur nicht mehr daran erinnern, weil es schon so lange her war? Ich betrachtete das Foto genauer. Die junge Frau war ausgesprochen hübsch. Ich blickte Shinya an. „Deine Mutter ist sehr hübsch. Du siehst ihr ähnlich, finde ich.“

Mein Magen knurrte. „Oh Mist, ich habe nicht daran gedacht, mir Mittagessen mitzunehmen“, murmelte ich. „Ach das macht nichts“, meinte Shinya fröhlich und packte das Foto wieder in seinen Rucksack ein. „Oma hat uns genug mitgegeben.“ Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, was ihre Oma alles eingepackt hatte. Und es schmeckte wirklich köstlich!
 

Shinya und ich hatten wirklich viel Spaß im Schwimmbad. Wir rutschten gemeinsam auf der langen Rutsche und spielten Wasserball, während Shin die ganze Zeit über auf der Bank saß und auf den Boden starrte. Shinya wollte mich testen und schlug einen Schwimmwettbewerb vor. Ich musste lachen. „Nein. Das meinst du nicht ernst. Ich bin doch viel größer als du.“ „Nicht gegen mich! Gegen meinen Bruder!“ „Mh, na ja. Ich bin mir nicht so sicher, ob er gegen mich eine faire Chance hat.“ „Doch, klar. Er ist super!“ Ich blickte mich um. „Wo ist Shin eigentlich?“ „Mh“, Shinya nahm sich ein Reisbällchen aus dem Bento heraus. „Weiß nicht so genau.“ „Ich schau mal nach, wo er bleibt. Er muss schließlich auch mal das leckere Essen probieren. Bevor du alles aufgefuttert hast“, fügte ich grinsend hinzu. Er nickte nur kauend.

Ich band mir ein rotoranges Tuch um die Hüfte und machte mich auf die Suche. Das Bad war einfach riesig – er konnte praktisch überall sein. Und da ging mir plötzlich auf, dass ich SCHON wieder hinter diesem arroganten Fiesling herrannte. Ärgerlich auf mich selbst wollte ich mich schon wieder umdrehen, als ich ihn entdeckte. Er stand am Sprungturm und war von einer Schar kichernder Mädchen umringt. Was fanden die nur an diesem Idioten? Ich nahm einen Arm und zerrte ihn von den Tussen weg. „Was glaubst du eigentlich, wie lang wir schon auf dich warten?!“ Er kam nicht dazu, mir zu antworten. Wir mussten erstmal die Biege machen und uns vor diesen wahnsinnigen Girls retten, die uns wie irre hinterherliefen. Ehrlich, dachte ich zerknirscht, man könnte fast meinen, er wäre ein Popstar oder so was ähnliches. Wir versteckten uns an einer Ecke und holten tief Luft. „Ok, du hast recht. Ich war gemein zu dir, vorgestern. Es tut mir leid.“ Sollte ich ihm die Entschuldigung abnehmen? Irgendwie sah er nicht aus, als würde er es ernst meinen. Aber ich war ein friedliebender Mensch – also gut. Was soll’s?! „Stimmt. Entschuldigung angenommen.“

Shinya winkte uns zu: Da seid ihr ja endlich! Wo wart ihr so lang?“ Ich seufzte: „Naja, wir mussten uns erst vor ein paar Verrückten retten...“ Ich beließ es dabei, auch wenn mich Shinya verwundert ansah. „Ist ja auch egal. Äh – jetzt wo ihr beide wieder da seid, könnt ihr dich das Wettschwimmen machen, ja?“ Er wandte sich erklärend an seinen Bruder: „Ja, wir haben vorhin überlegt, dass ihr das mal machen sollt. Miyako-San ist der Meinung, dass du keine Chance gegen sie hast. Du machst doch mit – bitte!“ Shin sah mich stirnrunzelnd an. „Ja klar.“ „Du“, Shinya zupfte seinen großen Bruder am Ärmel, „wenn Miyako gewinnt, gibst du uns Eis aus, ja?“ Shin schien einen Augenblick zu überlegen und meinte dann mit einem überheblichen Grinsen: „Ok. Aber so weit, wird’s wohl nicht kommen...“ Ja, das war es wieder, das arrogante Gehabe und dieses Grinsen, das mich schon wieder wütend machte.

„Zwei Bahnen?“ Ich war schon mal ins Wasser gesprungen. „In Ordnung.“

Ich schlug ihn um eine ganze Länge. Ich drehte mich grinsend um: „Na, wo bleibt unser Eis?“ Am Rand jubelte Shinya: „Toll hast du das gemacht! Bisher hat das noch niemand geschafft. Er war schließlich sogar mal in einer Schwimmmannschaft“, fügte er sichtlich stolz hinzu. Ich zwinkerte ihm zu. „War ich auch, bis meine Eltern beschlossen, mich auf eine Spezialschule zu schicken und ich ständig an irgendwelchen Mathematikolympiaden teilnehmen musste...“ Von dem Geld, das ich gewann, kauften sie sich irgendwelche Dinge. Nur ich bekam nie etwas davon zu sehen. „Wir hatten oft Streit deswegen, bis ich dann auszog“, ich zuckte mit den Schultern, „und seitdem lebe ich alleine in einer Wohnung.“ Er wirkte nachdenklich. „Und warum – ...“ „Kommt her und holt eurer Eis!“
 

Die beiden begleiteten mich bis zur Haustür. Ich lächelte Shinya zu: „Tschüss, bis bald!“ IC hatte mein Angebot wiederholt, er sollte mich doch einmal besuchen kommen. Der Tag war schön gewesen. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht. Ich kuschelte mich glücklich unter meine Decke und schlief in dem Gefühl ein, dass ich den Tag wirklich genossen hatte.

Der Wecker piepste. Mist! Hatte doch glatt vergessen, ihn auszustellen. Sonntag! Ich gähnte. Naja, jetzt war ich einmal wach, also konnte ich auch aufstehen. Aber bis zum Mittagessen hatte ich eigentlich nichts weiter vor. Erstmal in Ruhe frühstücken, dann würde ich mal Shin anrufen und ihn fragen, ob ich morgen Shinya von der Grundschule abholen könnte. Vielleicht könnten wir ja anschließend ins Kino, das würde Shinya bestimmt Spaß machen und ich war schon ewig nicht mehr dort.

Gut. Die Küche war aufgeräumt. Wie war die Telefonnummer noch mal? Da fiel mir auf, dass ich sie gar nicht wusste. Macht nichts, dann werde ich eben mal bei ihnen vorbeischauen. Ich fuhr mit dem Fahrrad, weil ich anschließend ja noch zum Mittagessen bei meiner Oma eingeladen war.

Auf das fünfte Klingeln erschien ein verschlafener Shin in der Tür. „Guten Morgen“, ich grinste, „na, gut geschlafen?“ Er blinzelte noch immer in das Licht. „Mh...“ Der Rest ging in unverständlichem Murmeln unter. „Ist Shinya da?“ Er nickte: „Ja, er hat hier übernachtet.“ Ein Kinderstimmchen ertönte aus Richtung Küche: „Miyako? Bist du das?“ Doch bevor ich etwas sagen konnte, lugte schon ein blonder Schopf um die Ecke. Er freute sich: „Guten Morgen! Was machst du denn hier? Komm doch erstmal rein.“ Er hatte auch noch einen Schlafanzug an, aber er sah schon ziemlich munter aus im Vergleich zu seinem Bruder, der sich auf dem Absatz umdrehte und in die Richtung seines Zimmers schlurfte. Ich lachte und zeigte auf Shin. „Ist der immer so?“ „Ja“, Shinya grinste, „er ist ein Morgenmuffel. Früh aufstehen am Wochenende geht gar nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Was machst du eigentlich so früh hier?“ „Naja, ich wollte fragen, ob ich dich morgen von der Schule abholen soll und wir danach ins Kino gehen wollen.“ „Ja, au ja! Ich war schon länger nicht mehr im Kino.“ Er blickte sich um. „Möchtest du mit frühstücken? Ich wollte gerade den Tisch decken.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich hab schon gegessen. Ich muss jetzt auch zu meiner Oma, sie hat mich zum Mittagessen eingeladen.“ Wenn ich rechtzeitig da sein wollte, dann musste ich jetzt losfahren, sagte mir ein Blick auf die Uhr. „Ok, dann bis morgen. Ich hab um ein Uhr Schulschluss“, sagte Shinya. „Dann hol ich dich dann ab, wir haben morgen auch früher Schluss und die Volleyball-AG ... die lass ich einfach mal ausfallen!“, schloss ich grinsend und winkte noch einmal.

Ich blickte mich um. Das Wetter war einfach zu schön, um mit dem Bus zu fahren. Außerdem ging es mit dem Fahrrad schneller, weil ich die Abkürzung über einen Feldweg nehmen konnte. Es war herrlich hier. Meine Oma wohnte etwas außerhalb der Stadt, nahe an einem Waldrand. Ich hatte immer ein bisschen Schuldgefühle, wenn ich nach einiger Zeit mal wieder zu ihr fuhr. Ich würde sie gern öfter besuchen, denn seit mein Opa vor drei Jahren gestorben war, lebte sie ganz allein in dem Haus. Eigentlich war es etwas zu groß für sie und sie hatte mir auch schon angeboten, dass ich bei ihr wohnen könnte, aber ich musste natürlich ablehnen. Jeden Tag ein so weiter Weg zur Schule – nein, das würde einfach nicht funktionieren. Sie ist die beste Oma, die man sich vorstellen kann. Im Grunde ist sie die einzige aus meiner Familie, zu der ich noch Kontakt habe. Meine Eltern interessieren sich nicht mehr für mich und meine Großeltern väterlicherseits... von denen weiß ich eigentlich so gut wie nichts. Das letzte Mal, als sie uns besucht haben, war ich vier Jahre alt. Irgendein Streit zwischen ihnen und meinen Eltern hat sie dann dazu veranlasst, die Beziehung abzubrechen, aber genaues weiß ich nicht. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch leben. Ansonsten ist da noch meine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, die aber schon vor Jahren mit ihrer Tochter nach Amerika ausgewandert ist. Wir haben immer mal eine Postkarte erhalten. Telefoniert oder besucht haben sie uns nie.

Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht richtig bemerkt hatte, dass ich bereits fast vor ihrer Haustür angekommen war. Ich stellte mein Fahrrad ab und klingelte. Als sie nicht öffnete klingelte ich noch einmal. Ich sah auf meine Uhr und stellte fest dass ich ein wenig zu früh da war. Auch nicht schlecht, da hab ich heute ein bisschen mehr Zeit, um mich mit ihr zu unterhalten. Es öffnete wieder niemand. 10.00 Uhr. Ich schüttelte den Kopf. Sie müsste eigentlich schon aufgestanden sein. Es sah ihr gar nicht ähnlich. Da fiel mir ein, dass der Hintereingang meistens offen war. Also ging ich um das Haus herum. Ich hatte Glück, die Tür war tatsächlich nicht verschlossen.

Ich ging über die Kellertreppe nach oben und wäre in der Dunkelheit fast über irgendeinen Karton gestolpert. Eigentlich machte ich immer vorher Licht – es war ein wenig gefährlich, im Dunkeln diese steile Treppe hochzusteigen – aber ich hatte es eilig. Mein Bauchgefühl sagte mir nichts Gutes. Ich ging ins Wohnzimmer und ich glaube, mein Herz hörte einen Augenblick auf zu schlagen. Meine Oma lag auf dem Boden und bewegte sich nicht. Ich fasste sie am Arm und sprach sie an. Sie war bewusstlos. Oh Gott – was sollte ich nur tun? Ich musste erstmal die Panik zurückdrängen, die in mir hochstieg. Dann griff ich zum Telefonhörer und wählte die Notrufnummer. Mir wurde gesagt, dass der Rettungswagen auf dem Weg war und es waren sicher nur zwei Minuten, aber mir kamen sie wie Stunden vor. Ich konnte auch nichts tun, ich fühlte mich so nutzlos. Ich hatte keine Ahnung von Wiederbelebung – na ja, irgendwann hatte ich das schon mal im Fernsehen gesehen, aber im Moment fühlte sich mein Kopf einfach nur leer an. Ich hielt ihre Hand und versuchte sie weiterhin anzusprechen. Als die Sanitäter klingelten, ging ich wie in Trance zur Tür und öffnete. Alles fühlte sich so unwirklich an. Vielleicht war ich ja tatsächlich nur eingeschlafen und wenn ich aufwachte, dann würde Oma vor mit stehen mit ihrer Schürze und einem dampfenden Topf in den Händen. Aber das tat die nicht. Sie wurde stattdessen von Rettungsleuten auf einer Liege Richtung Tür getragen. Einer rüttelte mich am Arm: „Möchten Sie mit ins Krankenhaus fahren?“ Irgendwie musste ich wohl zugestimmt haben, auch wenn ich mich nicht recht daran entsinnen konnte, denn als ich ein paar Minuten später wieder richtig zu mir kam, saß ich im Krankenwagen. Die Rettungsleute hantierten mit verschiedenen Geräten herum und versuchten, sie wieder zu beleben.

„Ihre Großmutter hat einen Herzinfarkt erlitten. Sie haben rechtzeitig den Rettungswagen verständigt. Ihrer Großmutter geht es den Umständen entsprechend gut. Im Moment liegt sie noch auf der Intensivstation, doch sie ist stabilisiert und kann in zwei Tagen voraussichtlich schon auf normale Station verlegt werden“, teilte mir ein Arzt freundlich mit. „Wann kann ich sie besuchen?“ „Sie schläft noch und muss heute geschont werden. Deshalb würde ich Sie bitten, sie morgen zu besuche.“ Ich nickte und schüttelte dem Arzt die Hand: „Vielen Dank und auf Wiedersehen.“

Vom Krankenhaus aus lief ich nach Hause. Im Laufen fiel mir ein, dass ich ja mit dem Fahrrad gekommen war. Bei der ganzen Aufregung hatte ich völlig vergessen, dass es noch bei meiner Oma stand. Ich würde es morgen abholen. Ich brauchte jetzt erst einmal einen Tee. Meine Gedanken schwirrten regelrecht, ich hatte bereits Kopfschmerzen. Ablenkung. Musik. Ich drehte meinen CD-Player an und legte meine Lieblings-CD auf. Dann griff ich nach einem Buch aus meinem Schrank. Irgendwie funktionierte die Nummer mit der Ablenkung jedoch nicht so gut, weil meine Hände zitterten. Anstatt eines Buches fielen deshalb auch gleich mehrere aus dem Schrank. Ich bückte mich, um die Bücher wieder einzuräumen und da fiel mir ein kleines in dunkelgrünes Leder gebundenes Büchlein auf, das mit heruntergefallen war. Ich kannte es nicht. Woher kam dieses Buch? Meines war es jedenfalls nicht. Und wie kam es in meinen Schrank? Ich schlug es auf und traute meinen Augen kaum. Und doch, es war tatsächlich Mizukis Schrift. Mir ging auf, dass ich Mizukis Tagebuch in meinen Händen hielt. Ich verstand gar nichts mehr. Warum hatte sie es mir nicht gegeben, sondern in meinen Bücherschrank gestellt und mir nichts davon gesagt? Ich schlug das Tagebuch meiner besten Freundin auf. Vorne war ein Blatt sauber eingeklebt worden. Ich strich mit meinem Finger über die sauber geschriebenen Zeilen – ungläubig darüber, dass dieses Buch die ganze Zeit über in meinem Schrank gestanden hatte, ohne dass ich davon wusste – und begann zu lesen.

„Liebe Miyako!

Wenn du dieses Buch hier findest, dann... dann werde ich nicht mehr bei dir sein. Ich möchte, dass du dieses Buch bekommst, weil du in meinem Leben immer der wichtigste Mensch warst. Ich konnte nie jemandem genauso vertrauen wie dir. Ich weiß, wenn du das hier liest, dass du dich fragen wirst, warum ich das getan habe, was ich tun werde. Warum ich dich allein lasse. Ich weiß, du wirst viele Fragen haben und ich werde nicht mehr für dich da sein. Ich hoffe, dieses Buch kann dir wenigstens einige deiner Fragen beantworten.

Eigentlich gibt es keine Entschuldigung für meine Entscheidung und für das, was ich tun werde. Dennoch möchte ich dir sagen: Es tut mir Leid, Miyako. Es tut mir wirklich Leid, ich kann nicht mehr. Es geht nicht mehr. Ich habe lange gewartet und ich habe gedacht, dass ich vergessen kann, dass ich den Schmerz für dich ertragen kann, aber jetzt weiß ich, dass ich zu schwach bin. Ich halte diesen Schmerz einfach nicht länger aus, mein Herz ist zerrissen. Du wirst das verstehen – zumindest hoffe ich, dass es so ist- wenn du mein Tagebuch liest.

Du brauchst auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du es liest ^^ . Ich schenke es dir, weil ich dir nur so die Dinge mitteilen kann, die ich dir bis jetzt nie gesagt habe... sagen konnte. Vielleicht bist du jetzt enttäuscht – ja, das kann ich wirklich verstehen- du hast mir schließlich immer alles anvertraut und ich... hatte Geheimnisse vor dir. Ich... ich wusste einfach nicht, wie ich es dir sagen sollte... ich konnte es dir nicht sagen. Ich bin eine Lügnerin. Jetzt erfinde ich schon wieder Ausreden und noch dazu vor meiner besten Freundin. Es tut mir Leid. Die Wahrheit ist, dass ich meine Gefühle lange verdrängt habe, mir selbst eingeredet habe, dass es nicht so schlimm wäre...

Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Meine Eltern und meine Familie bedeuten mir nichts. Aber du bist mir wichtig, du wirst für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Ich werde dich sehr vermissen.

Weißt du... ich habe oft gezögert, doch ich kann nicht länger bleiben. Ich kann so nicht weiterleben; Es zerreißt mich.

Ich wünsche dir von Herzen alles alles Glück dieser Welt!

Du wirst für immer meine allerbeste Freundin bleiben.
 

In Liebe, deine

Mizuki
 

PS: Wenn du das Glück gefunden hast, dann halte es ganz fest. Ich weiß, dass du das schaffst, denn du bist stärker als ich.“



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