Stadt der Engel von matvo (Schatten und Licht, Band 1) ================================================================================ Kapitel 11: Flucht aus Farnelia ------------------------------- Merle lag mit ausgestreckten Armen in ihrem Bett und starrte durch das Fenster hinaus in die Abenddämmerung über Farnelia. Gleich war es soweit. Dann, wenn die Sonne vollends hinterm Horizont verschwunden ist, würde sie zuschlagen und Hitomi aus dem denkbar sichersten Raum in ganz Farnelia heraus entführen. Alles war bereit. In Merles Schreibtisch war ein konfiszierter Steckbrief versteckt und Siri hatte die erste Nachtwache bei Hitomi überhaupt. Mit einem Lächeln erinnerte sich Merle daran, wie das Mädchen immer wieder in den letzten zwei Wochen darauf gedrängt hatte, dieser Aufgabe zugeteilt zu werden. Sie ging davon aus, dass Siri nicht wirklich Schwierigkeiten erwartete. Was sollte schon passieren? Ihr ging es darum zu beweisen, dass sie während einer Nachtwache nicht einschlief. Selbstverständlich konnte immer etwas passieren! Merle wollte ihren Schützling noch diese letzte Lektion erteilen, bevor sie für eine Weile mit Hitomi untertauchen musste. Die Zeit war reif. Erstens konnte die Frau vom Mond der Illusionen wieder normal laufen und zweitens bahnte sich ein Treffen der Allianz hier in Farnelia an. Es war abzusehen, dass sich die Konferenz um Hitomi drehen würde. Warum sonst sollte König Aston von Astoria eine Sitzung der drei großen Mächte der Allianz in Farnelia einberufen, kurz nachdem eine seiner Leibwachen nach Astoria überführt worden war. Die Wache hatte eine Kopfgeldjägerbande angeführt und den lebendigen Köder geschluckt, den Merle ihnen vorgeworfen hatte. Sie hatte ihn bei dem Versuch Hitomi zu verschleppen gestellt. Wahrscheinlich empfand es Aston trotz des Fehlversuchs als praktisch, einfach nur nach Farnelia reisen zu müssen, Hitomi ächten zu lassen und sie dann gleich mitzunehmen. Merle war wild entschlossen ihm diese Suppe zu versalzen. Sie trat ans Fenster und blickte über den nächtlichen Sternenhimmel. Nicht zuletzt, weil Neumond war, hatte sie sich diese Nacht ausgesucht. Dank ihrem schwarzen Anzug sollte sie in der Dunkelheit völlig unsichtbar sein. Dennoch wird man sie später als Schuldigen ausmachen können. Dafür hatte sie gesorgt. Die Hinweise waren deutlich genug, vielleicht zu deutlich. Einen Moment lang überlegte Merle, ob sie Steckbrief nicht doch lieber verbrennen sollte, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Auch wenn ein solcher Hinweis schon von mutwilliger Dummheit zeugte, brauchte sie ihn um sich öffentlich von Van zu distanzieren. Sie seufzte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihn eine lange Zeit lang nicht mehr sehen würde. Natürlich waren sie nur Freunde, aber das machte es nicht einfacher. Er war der einzige, mit dem sie reden konnte. Umgekehrt war es leider schon seit geraumer Zeit anders. Allerdings musste sie zugeben, dass sie nie wirklich daran gedacht hatte Königin zu werden. Eine Aufgabe, der Hitomi sich stellen musste, sollte sie Van je heiraten wollen. Merle entschied, dass solche Gedanken sie nur vom Notwendigen abhielten und es draußen sowieso schon dunkel genug war. Sie legte ihr kurzes Kleid ab und schlüpfte in ihren schwarzen Overall. Dann legte sie ihre Weste mit dem Wurfmessermagazin an und kontrollierte die Taschen. Alles war an seinem Platz und so bedeckte sie schließlich die obere und unter Gesichtshälfte mit zwei Tüchern, deren Enden sie hinter ihrem Kopf zusammenband. Als letztes nahm sie noch ihren kleinen Rucksack auf den Rücken, welcher mit persönlichen und nützlichen Gegenständen gefüllt war, und zog sich Handschuhe an. Endlich ging es los! Sie öffnete ihr Fenster und warf einen Enterhaken über das Geländer des Balkons vor Vans Wohnung, die sich zwei Stockwerke über ihrer eigenen befand. Sie riskierte noch einen letzten Blick in ihr altes Zuhause, murmelte einen Abschiedsgruß und kletterte dann über das Seil auf Vans Balkon. Selbstverständlich war er nicht da. Der Rat der Volksbeauftragten machte mal wieder Überstunden. Leise brach sie die Balkontür auf. Zu einfach, wie sie feststellte. Sollte sie jemals zurückkehren, musste sie dringend ein paar Handwerker beauftragen, die Tür sicherer zu machen. Langsam schlich sie Wendeltreppe hinauf. Ein Blick durch das Geländer verriet ihr, dass Siri eingeschlafen war. Merle seufzte enttäuscht. Sie hatte sich auf eine Aufwärmübung mit ihr gefreut, doch jetzt würde die Lektion für ihren Schützling noch bitterer ausfallen, als die Mentorin es beabsichtigt hatte. Lautlos trat sie an das einzige Bett im Zimmer heran und band Hitomi ein mit Schlafmittel getränktes Tuch vor Mund und Nase. Zuletzt steckte sie ihr Opfer in einen schwarzen, mannshohen Sack. Plötzlich schreckte sie ein leises Stampfen hinter ihr auf. Überrascht drehte Merle sich um und griff gleichzeitig nach ihren zwei Dolchen. Mit dem rechten wehrte sie Siris Klinge ab, mit dem linken stach sie gefährlich nah an ihrer Gegnerin vorbei. Das Katzenmädchen staunte nicht schlecht. Ihr Schützling musste ihr Eindringen bemerkt haben und hatte so getan, als wäre sie eingenickt. Selbstzufrieden lächelte Merle, während sich Siri zur Seite abrollte und einen Schlag aus der Bewegung heraus auf Merles Knie ausführte. Mit Leichtigkeit sprang diese über den Schwertstreich hinweg. Sie landete mit ihren Stiefeln für einen Moment auf Siris Schulterblätter und stieß sich im nächsten mit aller Kraft ab. Nach einem kurzen Flug rollte sie sich ab und kam elegant wieder auf ihre Füße. Siri hingegen knallte mit ihren Oberkörper gegen die Bettkante und heulte laut vor Schmerzen auf. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, hastete Merle bereits vorwärts. Sie packte das Mädchen mit beiden Händen und stieß mit ihrem Knie durch deren Bauch gegen das Zwerchfell. Verzweifelt rang Siri nach Luft, doch sie verlor einen Moment später das Bewusstsein und sackte in sich zusammen. Merle ließ das Mädchen langsam zu Boden gleiten und drehte sie nach besten Wissen in eine stabile Seitenlage. Dann wandte sie sich wieder ihrem Ziel zu. Sie wuchtete Hitomi über ihre linke Schulter und trippelte eilig die Wendeltreppe hinunter in Vans Zimmer. Sie wollte gerade den Balkon betreten, da hörte sie, wie jemand die Treppe hinunter humpelte. „Du entkommst mir nicht!“, rief Siri keuchend. In ihrer rechten Hand hielt sie ihr Schwert, während sie sich mit ihrer linken am Geländer abstützte. Das Mädchen war zäher, als sie aussah, registrierte Merle zufrieden. Sie zog ein Wurfmesser und warf es auf das Geländer der Wendeltreppe. Ihr Schützling sah diese ihr sehr vertraute Handbewegung und wich zurück. Diese Zeit nutzte Merle, indem sie sich über das Balkongeländer schwang und sich am Seil die Wand der Villa entlang hinab gleiten ließ. Erst im letzten Moment festigte sie ihren Griff am Seil und bremste ab. Sicher traf sie mit Hitomi über der Schulter auf Mutter Erde. Vom Balkon herab rief Siri den Alarm aus und kletterte selbst am Seil hinunter. Höchste Zeit zu verschwinden, dachte sie Merle. So schnell und leise, wie sie nur konnte, rannte sie die Rampe runter, die von der höchsten Palastebene führte, auf der die Villa thronte. Auf der Ebene darunter waren die Quartiere der Bediensteten, Rohstoff- und Getreidelager, verschiedene Manufakturen und ein Pferdestall. Merle hielt direkt auf den Stall zu. Eine Wache, die gerade aus einem Lager kam, schickte sie mit einem gezielten Schlag in den Hals zu Boden. Im Stall fand sie ein bereits gesatteltes Pferd vor, so wie sie es dem Stallburschen zuvor befohlen hatte. Selbstverständlich hatte dieser keinen Schimmer gehabt, wozu Merle es brauchen würde. Sie band Hitomi über dem Rücken des Pferdes fest und saß auf. Mit Höchstgeschwindigkeit fegte sie durch die Häuserschluchten der Stadtmauer entgegen. Niemand bekam auch nur die Gelegenheit sie aufzuhalten. So manche Patrouille schrie hinter ihr her, doch sie fanden keine Beachtung. Vor einem Haus bei der Stadtmauer stoppte sie und stieg vom Pferd. Vorsichtig legte sie Hitomi an der Hauswand ab und verpasste dem Tier einen kräftigen Klaps auf den Hintern. Es rannte wiehernd davon. Dann nahm sie ihre Tücher vom Gesicht und betrat den Keller des Hauses. Drinnen standen zwei Wachen vor einem Tunnel, die vor ihr salutierten. Merle nahm eine gebieterische Haltung ein, grüßte sie und trat näher an sie heran. Plötzlich zog sie zwei mit Schlafmittel getränkte Tücher aus ihrer Weste und presste sie an die Münder der überraschten Soldaten. Ohnmächtig schlugen sie auf dem Boden auf. Wieder mit Hitomi auf ihren Schultern und zwei Tüchern vor ihrer oberen und unteren Gesichtshälfte machte sich Merle auf den Weg durch den schwarzen Tunnel. Sie wusste, das andere Ende wurde ebenfalls bewacht. Den Wagen konnte sie leider nicht benutzen, weil sonst das Überraschungsmoment verloren ging. So marschierte sie in gebückter Haltung durch die Finsternis und das mit einem Gewicht auf den Schultern, das schwerer war als sie selbst. Es dauerte bis sie wieder Licht sehen konnte. Ein weiteres Mal legte sie ihr Opfer ab und schlich dem Tunnelausgang entgegen. Sie konnte nur zwei Wachen spüren. Perfekt! Unglücklicherweise standen die direkt vor dem einzig anderen Ausgang der vor ihr liegenden Kammer. Die Soldaten konnten sie sofort sehen, wenn sie einfach so aus dem Tunnel stürmen würde. Also mussten die beiden zu ihr kommen. Merle hob lautlos einen Stein auf und ließ ihn gegen die ihr gegenüber liegende Tunnelwand prallen. Die Wachen kamen mit gezückten Schwertern herangestürmt und sprangen in den Tunnel hinein. An der Stelle, wo sie etwas gehört hatten, fanden sie nichts und so sahen sie sich verwundert um. Merle, die nahtlos mit dem Schatten verschmolzen war, nutzte ihre Chance. Aus der Hocke heraus sprang sie den Soldaten entgegen. Den einen trat sie mit voller Wucht in den Bauch, der andere kassierte einen Ellbogenschlag gegen die Schläfe. Erleichtert über den reibungslosen Ablauf holte Merle Hitomi aus dem Tunnel und trug sie in das Höhlensystem. Das Mädchen mit dem sperrigen Gepäck stoppte vor einer weiteren Kammer, in der das Luftschiff der Kopfgeldjäger vor Anker lag. Mit einem breiten Grinsen erinnerte sie sich an den Bericht der Techniker, die das Schiff unter die Lupe genommen hatten. Es besaß ein paar sehr interessante Extras, die ideal für eine Flucht waren. Mit einem Schalter, der in den Fels der Kammer eingearbeitet war, öffnete sie einen Vorhang hinter dem Schiff, der die Kammer von der Außenwelt trennte. Dahinter, das wusste sie, war die weiße Schlucht, die aus Farnelia heraus führte. Merle stieg die Rampe hoch, die durch das Hinterteil des Schiffes ins Innere führte. Sie legte Hitomi in eine der vier Kojen und schnallte sie dort fest. Dann betrat sie die Pilotenkanzel. Durch die Fensterscheibe sah sie die spitz zulaufende Schnauze des Schiffes. Lässig nahm sie auf dem linken der zwei Sitze platz, die im Cockpit waren. Die Steuerung vor ihr hatte mit dem großen Holzrat der klassischen Luftschiffe nichts mehr gemeinsam. Eher ähnelte sie der direkteren Variante eines Guymelef. Sie musste beide Hände in dafür vorgesehene Mulden legen. Ihre Handflächen wurden automatisch umschlossen und waren nun frei drehbar. Damit würde sowohl die Ruder des Schiffes, als auch die Ausrichtung der Rotoren in den Flügeln kontrollieren können. Unter ihren Fingerspitzen erfühlte Merle kleine Dellen von Knöpfen, die für die Schiffsfunktionen verantwortlich waren. Unter ihren Füßen befanden sich Pedale, mit denen sie Schub und Gegenschub des Schiffes steuern konnte. In ihren Gedanken ging Merle die erlernte Scheckliste des Schiffes durch. Nachdem sie kontrolliert hatte, dass sowohl genug Treibstoff, Kühlmittel und Löschschaum in den Tanks waren, schaltete sie die zwei Rotoren an, die in den dreieckigen Flügeln des Schiffes waagerecht zum Boden eingelassen waren. Die langsam anlaufenden Rotoren waren nötig, damit sich das Schiff in der Luft halten konnte. Während andere Luftschiffe sprichwörtlich an fliegenden Felsen hingen, reichten die vier stromlinienförmigen Steine am Heck diese Schiffes dafür bei weitem nicht aus. Der Vortrieb würde die Rotoren später entlasten, aber mehr konnten die Flügel auch nicht. Mit einem Knopfdruck aktivierte sie die Tarnung des Schiffes, wie sie auch in den großen Schlachtschiffen der Zaibacher integriert gewesen war. Für Merle war die Funktion ein Beweis, dass es sich bei dem Schiff um Zaibacher Technologie handelte. Wie waren die Kopfgeldjäger nur an dieses Schiff herangekommen? Wie waren sie an den Zaibacher Guymelef gekommen, der Hitomi entführt hatte? Fragen, auf die Merle keine Antwort hatte und die ihr Sorgen bereiteten. Mit Hilfe der Rotoren schwebte das Schiff seitwärts aus der Kammer in die Schlucht. Zuletzt startete Merle Düsen am Heck des Schiffes, die sie schon von ihrem eigenen Guymelef her kannte. Die starke Beschleunigung presste sie gegen ihren Sitz, machte ihr sonst aber nichts aus. Mit großem Geschick lenkte sie das Schiff zwischen den Felsen hindurch dem Ausgang der Schlucht entgegen, während der Rausch der Geschwindigkeit durch ihre Adern schoss. Nach wenigen Minuten ließ sie die Schlucht hinter sich. Jetzt schaltete sie auf Schleichflug um und lenkte das Schiff in die Richtung des Dorfes der Wolfsmenschen. Entspannt lehnte sie sich zurück. Bei den Wölfen, die ihr Winterquartier in einem Höhlensystem am Rande des Waldes bezogen hatten, sollte Hitomi bis auf weiteres sicher sein. Eigentlich konnte jetzt nichts mehr schief gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)