Kap. 1
Der Zug kroch nur noch. Natürlich wäre es verständlich gewesen, wenn sie
einen Berg hinauf gemusst hätten, aber sie waren in einem Tunnel, nicht mal
die leicht verschneite Umgebung konnte man hier mehr ansehen. Tore starrte
auf die Reflektion seines Gesichtes und grinste probehalber ein wenig,
richtete den Ring in der Augenbraue und fummelte an seinen Haaren herum. Er
sah so genervt aus, wie er sich fühlte.
Nichts gegen Christian. Nichts gegen die Vorstellung, sein Weihnachten doch
nicht in der Stadt, sondern in einem Dorf in Oberbayern, sehr angenehm in
der Nähe eines kleinen Skigebietes gelegen, und zudem mit einem
Studienfreund zu verbringen, nichts dagegen, aber er hatte was anderes
geplant, und das hätte er auch durchziehen sollen. Zudem nervte ihn das
stundenlange Sitzen in dieser Bummelbahn, die an jeder Milchkanne hielt.
Nachdenklich sah er sein eigenes, spitzes Gesicht an und richtete einige der
Haarspikes wieder auf, die dem superstarken Gel zum Trotz in seine Stirn
gefallen waren. Er warf Christian ihm gegenüber einen kleinen Blick zu. Der
war aber schon seit einer halben Stunde mit gerunzelter Stirn in sein Buch
vertieft.
Endgültig gegen seine Unruhe verlierend, sprang Tore auf und wollte gerade
aus dem Abteil laufen, als sie den Tunnel verließen und ihn gleißende Sonne,
von einer dicht verschneiten Wiese verstärkt, schmerzend blendete. "Na,
wenigstens das Board schleppe ich nicht umsonst mit." Zufrieden sah er zu
der sperrigen Snowboardtasche hin.
Christian schaute auf und lachte. "Hab ich dir doch gesagt. Da oben liegt
immer Schnee, manchmal mehr, als einem lieb sein kann. Schade, dass Lydia
nicht mitkommen konnte." Mit einem Gähnen legte er das Buch beiseite und
streckte sich. "Ich hoffe nur, dass Nathan pünktlich ist, um uns abzuholen.
Sonst wird das arg kalt. Die Wartehalle ist winzig, und ab und an fällt der
Strom dort aus."
Tore blickte vertrauensvoll zu seiner dicken Snowboardjacke, die über seiner
Tasche mit den überreichlich eingepackten Klamotten lag. Er machte nur ein
'Hm', während er in Gedanken einige Kreuze schlug, weil Lydia nicht dabei
war. Er hatte selten das Vergnügen mit der Flamme von Christians Herzen und
wollte diese Kontakte sicherlich auch nicht intensivieren. Wenn es nach
seiner sehr geheimen Meinung ging, dann nahm sie einen wirklich hübschen,
netten und engagierten Mann vom Markt. Einen Mann, für den er sich auch gern
in Reihe gestellt hätte, wenn... Tore biss die Zähne fester aufeinander.
Wenn da nicht all diese Probleme wären.
Zu seinem Glück kam der Ort recht bald schon in Sicht. Eingeschneite Häuser
mit hölzernen Balkonen, ein Kirchturm mit goldenem Wetterhahn. Dahinter
konnte man einen kleinen Blick auf einige Ankerlifte an Kinderhängen
erhaschen. "Na endlich! Ich kann auch nicht mehr länger sitzen bleiben!"
Übereifrig zerrte Tore seine Taschen von der Ablage herunter und ärgerte
sich wieder einmal, dass er so klein war und sich strecken musste. Hastig
zog er die weite, graue Cargohose wieder hoch und den grellorangefarbenen
Kapuzenpullover herunter.
Christian hatte weniger Probleme mit seinem Koffer, einem übergroßen
Exemplar mit grünblauen Schottenkaros, den er sich von seinen Eltern
geliehen hatte. Ohne sichtliche Anstrengung hob er ihn herab und ging zur
Tür.
"Der Schnee ist supertrocken, klasse zum Skifahren!", rief er begeistert,
als er nach draußen in die am Bahnsteig bereits ziemlich niedergetretene
Pracht sprang und sein Gepäck aus dem Zug wuchtete. Er stellte es aus dem
Weg und holte dann erst einmal einen Transportwagen. Suchend sah er sich um,
während er den Reißverschluss seiner dicken, blauen Daunenjacke schloss und
den ebenfalls blauen Schal einmal um den Hals wickelte. "Hm, Nathan ist noch
nicht zu sehen. Vielleicht steht er auch draußen."
In dem Moment schoss aus der Unterführung, durch die man den Ausgang
erreichen konnte, ein noch recht junger Golden Retriever. Bellend und vor
Begeisterung mit dem Schwanz wedelnd stürzte er zu Christian, der sich
lachend zu ihm hinunterbeugte, um ihn zu begrüßen und zu streicheln. Ein
scharfer Pfiff ertönte, und der Hund kehrte sofort wieder um und stürmte
dorthin zurück, wo er hergekommen war.
Mit einem breiten Grinsen richtete Christian sich wieder. "Das war Dunja,
die Herzensdame meines Bruders. Wir werden nicht warten müssen."
In dem Moment kam ein junger Mann in Jeans und einem dicken, olivgrünen
Parka die Treppen empor, dem man die Verwandtschaft mit Christian auf den
ersten Blick ansah. Ein wenig kleiner und mit strohblonden, verstrubbelten
Haaren statt Christians dunkelblonden hatte er jedoch das gleiche energische
Kinn und den gleichen geraden Mund, der zu einem fröhlichen Grinsen verzogen
war. Dunja trabte brav, aber noch immer wild wedelnd neben ihm her, als er
zu ihnen trat.
"Hallo, du alter Waldschrat! Schön, dich endlich mal wiederzusehen!"
Christian schloss seinen Bruder in eine herzliche Umarmung, und Nathan
erwiderte sie lachend. "Dito, Bücherwurm! Hast dich ja endlich aus deinen
verstaubten Unibibliotheken losreißen können. Ich dachte schon, sie hätten
angefangen, dich ebenfalls zu konservieren. Dann hätte deine Prinzessin
keine Freude mehr an dir gehabt."
Das trug ihm einen Knuff von Christian ein. "Besser, als im Wald Wurzeln zu
schlagen und dort zu bleiben, bis Moos auf der Westseite wächst. Oder war es
die Ostseite?"
Sie lachten, als sie sich voneinander trennten. Nathan wandte sich zu Tore
und hielt ihm noch immer grinsend die Hand hin. "Hallo."
Tore mochte es eigentlich immer, neue Leute zu treffen, aber dieses Mal war
er ein wenig nervös, weil es sich bei Nathan sehr offensichtlich um eine Art
Kompaktversion von Christian handelte. /Oh je. Gleich zwei von dieser
Sorte./ Er war ein wenig kleiner, ein wenig runder im Gesicht und deutlich
kräftiger gebaut, auch wenn er es schaffte, dabei nicht dick auszusehen.
Während die Brüder sich gutgelaunt irgendwelche Namen um die Ohren schlugen,
hockte er sich deswegen hin und streichelte die Hündin, in deren Brustfell
und Pfoten sich reichlich Schneeklumpen festgesetzt hatten.
Als er angesprochen wurde, erhob er sich hastig und nahm kurz die Hand.
"Hi." Sich nicht sicher, ob Christian ihn auch namentlich angekündigt hatte,
fügte er hinzu "Ich bin Tore." Rasch wendete er sich wieder von dem anderen
ab und hievte seine Tasche und die Snowboardtasche hoch.
Christian schob ihm den Transportwagen vor die Füße. "Du musst es dir nicht
schwerer machen als nötig, oder?"
"Was? Ne, das geht schon. Bei dem Schnee da vorn fahren die Dinger doch eh
nicht." Weil Christian den Wagen jedoch ohnehin zu schieben gedachte, und er
nicht unhöflich sein wollte, ließ Tore seine schwere Tasche neben den Koffer
fallen.
Nathan betrachtete den neusten Bekannten seines Bruders mit einer gewissen
Erleichterung. Er war nahezu immer der Meinung gewesen, dass Christian viel
zu gut aussehende Männer mit sich herumschleppte, ohne wirklich zu wissen,
was er da an seiner Seite hatte. Bereits als Teenager hatte er viel zu oft
dessen Freunde angehimmelt, ohne natürlich je eine Hoffnung auf mehr zu
haben, als dass es niemand bemerkte.
Zwar konnte man von Tore nicht sagen, dass er schlecht aussah, allein die
grauen Augen waren bemerkenswert, aber er hatte ihm mit je zwei Ringen in
den Ohren und dem einen in der Augenbraue schon mal deutlich zu viele
gepiercte Stellen. Dazu noch die spikigen Haare...
Nathan grinste leicht, als Dunja ihm mit dem Kopf gegen die Hand stieß, um
Aufmerksamkeit zu bekommen, und streichelte sie kurz. "Mädel, du kannst
nicht immer im Mittelpunkt stehen."
Wegen des Wagens mussten sie ein Stück weiter den Bahnsteig nach hinten
laufen, wo die Rampe zu finden war. Durch die zugige Unterführung ging es
direkt zu dem kleinen, zum Glück vom Schnee befreiten Parkplatz.
Nathan hatte einen großen, dunkelblauen Kombi, dessen Kofferraum für den
Hund zum Teil mit Decken ausgelegt und vom Rest des Wagens durch ein Gitter
abgetrennt war. Kaum hatte er die Klappe geöffnet, sprang Dunja auch schon
auf ihren Platz. Nathan befestigte den Koffer und die Taschen mit
Halteseilen, ehe er erst die Beifahrertür aufschloss und dann bei der
hinteren den Knopf hochzog, bevor er zur Fahrerseite ging.
"Die Zentralverriegelung hat zwei Wochen nach Kauf den Geist aufgegeben",
erklärte er auf einen fragenden Blick seines Bruders hin und zuckte mit den
Schultern. "Aber ansonsten läuft er brav. Mehr kann man von einem
Gebrauchten zu dem Preis kaum verlangen."
"Nee, echt nicht. Setz dich vor, Tore." Christian stieg bereits hinten ein
und schlug die Tür hinter sich zu.
Tore ließ sich seufzend in den Autositz fallen. Er hatte wirklich genug
gesessen, von dem Gedanken an eine weitere lange Autofahrt wurde ihm schon
ganz hampelig zu Mute. Aber da ihm nichts anderes übrig blieb, genoss er die
Aussicht auf die verschneiten Berghänge und das malerische Dorf.
"Echt hübsch hier." Er warf einen Seitenblick auf Nathan, der seine Jacke
öffnete. /Ja, nicht unhübsch. Schaut mir kräftig aus. Was arbeitet der noch
mal? Förster?/ Hastig wendete er den Blick wieder ab.
Nathan warf die Jacke nach hinten und zielgenau auf seinen Bruder, ehe er
unter Christians scherzhaftem Geschimpfe grinsend den Motor anließ und die
Heizung etwas höher drehte. "Besonders die Wälder abseits der
ausgetrampelten Touristenwege, die sind wirklich schön. Das solltest du dir
nicht entgehen lassen, wenn du dich auch nur den Hauch dafür interessierst."
Es überraschte ihn, dass Tore der ruhige Ort zu gefallen schien; er sah ihm
eher danach aus, als würde er sich nur in großen Menschenmengen und mit
lauter Musik wohlfühlen.
Tore nickte und warf einige Blicke umher. Er mochte die Stadt, das Summen
der Menschen, das Leben, und er mochte die städtischen Sportarten, vor
allem, wenn sie riskant waren. Mit Rollerblades oder dem Skateboard über
Parkbänke springen oder mit dem Mountainbike in U-Bahnschächten die Treppen
hinauf und hinab brettern. Aber zugleich konnte er Zuhause bei seinem Vater
auch stundenlang durch die Wälder streifen, und seine letzten drei Praktika
hatte er in Zeltcamps mit Überlebenstraining verbracht.
"Ich mag die Wälder, war aber noch nicht in einem Bergwald. Dafür ist es im
Winter auch ungeeignet, nicht wahr?" Munter machte er schon seine Pläne für
ein Schlittenrennen, als er einige der Rodelbahnen am Ortsausgang entdeckte.
Er grinste, als sich auf der Wiese zwei Schlitten nach rasantem Rennen
überschlugen und die zum Glück lachenden Kinder im Schnee herumkullerten.
"Cool! Rodeln gehen können wir auch, oder, Chris?"
"Auf jeden Fall! Oma hat die alten Schlitten mit Sicherheit noch im Keller
stehen. Ich muss wohl nur die Kufen entrosten."
Der Weg zu seinen Großeltern, die Nathan wesentlich öfter als seine Eltern
besuchte, war nicht allzu weit. Nach einer halben Stunde parkte er seinen
Wagen in die Einfahrt vor der Garage, in der leider nur Platz für ein Auto
war. Das große Zweifamilienhaus, das sich die alten Leute mit einer Familie
mit drei Kindern teilten, war weiß gestrichen und leuchtete mit dem Schnee
im Sonnenlicht um die Wette. Von dem Garten, der es umgab, war im Moment
nicht viel mehr als einige kahle Obstbäume, ebenso kahle Hecken und ein
freigeschaufelter Weg vom höher gelegenen Teil zur Garage hin zu sehen, den
gerade eine alte, zierliche Frau vorsichtig hinabkam. Sie hatte sich eine
braune Strickjacke übergeworfen und hielt sie vorne mit einer runzligen Hand
zu. Ihr rundes, faltiges Gesichtchen strahlte vor Freude, als Christian und
Nathan ausstiegen.
"Oma!" Christian lief ihr entgegen, umarmte sie und hob sie hoch, um sie
einmal im Kreis zu drehen, was ihr einen kleinen, halb erschrockenen Schrei
entlockte. "Lass mich runter, du verrückter Junge! Ist das schön, dass ihr
endlich da seid."
Christian tat ihr den Gefallen und ließ sie wieder gehen, sein Arm ruhte
jedoch weiterhin auf ihrer Schulter, bis sie den Rest des Weges zur Garage
gegangen waren. "Oma, das ist Tore. Tore, meine Oma."
Mit einem fröhlichen Lächeln hielt die alte Frau Tore die Hand hin. "Guten
Tag, junger Mann."
Tore hatte derweilen bereits seine Taschen aus dem Wagen gehoben, von dem
bellenden Hund umwuselt. Er wischte sich schnell noch einmal die Hand ab,
dann drückte er die Finger der Oma ein wenig und lächelte, so wohlerzogen er
konnte. "Hallo. Danke, dass ich hier sein darf."
"Ach, Horst, das ist mein Mann, und mich freut das, wenn die Kinder Freunde
mitbringen. Dann ist wieder ein wenig Leben im Haus." Sie zupfte an ihrem
weißen Dutt, dann zog sie fröstelnd die Jacke zurecht. "Lasst uns reingehen,
Kinder. Es ist eisig draußen."
Nathan war mit Christians Koffer und mit der fröhlich um ihn herum
springenden Dunja bereits vorweg gestapft, was Christian ein Grinsen
entlockte. "Manchmal sind kleine Brüder überaus praktisch, besonders, wenn
sie ein Auto und zu viel Energie haben."
Sie folgten ihm nach drinnen, wo ein alter Mann mit ausladendem Schnurbart
und grauem Haar schon auf sie wartete. Christian umarmte ihn ebenso herzlich
wie seine Großmutter, hob ihn jedoch nicht hoch. Noch einmal wiederholte
sich die Prozedur des Vorstellens.
"Ich bin noch nicht mit dem Kochen fertig, es ist ja auch noch früh." Die
alte Frau hängte ihre Strickjacke in eine von einer dunkelblauen Gardine
verborgene Garderobe, ehe sie in ihre Fellhausschuhe schlüpfte. "Wie wäre
es, ihr richtet euch ein und schaut euch dann noch mal ein wenig die
Umgebung an? Die Zugfahrt war mit Sicherheit auch lang genug, dass ihr euch
ein wenig bewegen wollt."
Kap.2
Christian grinste Tore an, als sie, nachdem sie ihn noch einmal umarmt
hatte, mit seinem Großvater im wahrscheinlich überheizten Wohnzimmer, durch
das man zur Küche gelangte, verschwand. "So, wie ich dich kenne, hat sie da
den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Wunder, dass du die Autofahrt noch
überlebt hast. Komm."
Das Zimmer, in das er Tore über eine Wendeltreppe nach oben brachte, war
nicht besonders groß und recht dunkel, dafür aber viel zu warm. Der
hellbraun gefleckte Teppich war vom Alter ausgetreten, aber sauber. Ein
Schrank aus dunklem Holz stand links der Tür, daneben eine Kommode. An der
Wand über dem großen, weißbezogenen Bett hing die gerahmte Kohlezeichnung
eines alten Fachwerkhauses. Schwere, braune Vorhänge, die mehr dem Schmuck
als einem anderen Zweck dienten, reichten bis fast auf den Boden.
"Uh, Oma hat wieder übertrieben. Schön kuschelig warm hier." Christian
lachte. "Richte dich ein, ich bin direkt nebenan. Das Bad gegenüber steht zu
deiner freien Verfügung und ist an dem netten, pausbäckigen Jungen mit dem
Pinkeltopf auf der Tür zu erkennen. Komm einfach rüber, wenn du fertig bist,
dann können wir wirklich noch mal raus."
Tore riss erst einmal das kleine Fenster auf und regelte die Heizung auf ein
Minimum. So wie die Daunenbetten aussahen, würde er sicherlich auch auf dem
Schnee noch warm darunter schlafen können. Als nächstes warf er ein T-Shirt
und eine weite, lange Hose auf das Bett und räumte Pullis und Hosen in die
Fächer des Schrankes, bevor er seine Skihose aufhängte und die warme
Unterwäsche in der Kommode verschwinden ließ.
Mit einem missmutigen Gesichtsausdruck versteckte er die Kondomschachtel aus
der Waschtasche unter seinen Socken in der zweiten Schublade. Er hatte doch
eigentlich etwas ganz anderes vorgehabt. Seufzend brachte er seinen
Kulturbeutel im braun gekachelten Bad unter, wo er sich gleich ein wenig um
seine Frisur kümmerte. Mit etwas Wasser und Energie befreite er die Haare
von dem meisten Gel und versteckte sie dann unter einem rot-grün kariertem
Tuch, das er im Nacken fest zuknotete.
Dann kehrte er noch einmal ins Zimmer zurück und leerte zwei Bücher über
Jugendpsychologie, einen Block und Stifte auf den Fußboden neben das Bett.
Lächelnd setzte er als letztes einen abgegriffenen, weichen Stofftroll mit
rotem T-Shirt und violetten Wuschelhaaren zu den Schlafsachen auf das Bett.
Er erinnerte sich, wie einer seiner Schützlinge auf dem ersten Jugendcamp
ihn in seine Tasche geschmuggelt hatte. Der Troll war von dessen Mutter
handgenäht, das hatte Tore einmal erfahren, als er ihn bewundert hatte, um
zu verhindern, dass andere Jungs sich lustig machten.
Als Tore entsetzt darüber sogar zu dem Wohnhaus des Jungen gefahren war, um
den Troll zurückzugeben, hatte die Mutter des Jungen schlicht gesagt, dass
ihr Sohn den Troll gegen seine Angst vor dem Dunkeln gehabt hatte und sehr
offensichtlich keine Angst mehr habe.
"Behalten sie ihn für den nächsten Jungen, der sich im Dunkeln fürchtet",
hatte sie gesagt und Tore wusste, dass der Junge und vielleicht auch sie
bereits wussten, dass er ihn selber würde brauchen können, mehr als jeder
andere. Nur, dass das Dunkel, vor dem er sich fürchtete, nicht außerhalb
lag, sondern in ihm.
Hastig wendete er sich ab und nahm seine Handschuhe und die dicke Jacke auf,
um damit zu Christian nach nebenan zu gehen, so dass sie sich die Umgebung
ansehen konnte. Er brannte darauf, sich auszutoben.
Auch in Christians Zimmer stand das Fenster sperrangelweit offen, was zur
Folge hatte, dass sich die Temperatur langsam einem normalen Maß näherte.
Christian warf gerade seinen leeren Koffer auf den Schrank aus hellem
Birkenholz, während Nathan, der auf dem Bett saß, mit einer Hand seinen Hund
streichelte.
Er grinste Tore an, als dieser reinkam, registrierte das rot-grünkarierte
Tuch und befand im Stillen, dass es ihm wesentlich besser stand als die
Spikes, nicht, dass er ihm das jemals sagen würde. "Gar gekocht? Ich hatte
die Heizung runtergedreht, bevor ich gefahren bin, um euch zu holen. Aber
Oma scheint gedacht zu haben, ihr werdet erfroren sein, nach der langen Zug-
und dann noch einer Autofahrt."
"Das liegt nur daran, weil sie selber so leicht friert." Christian streckte
sich mit einem Gähnen. "Ich empfehle dir, ein T-Shirt anzuziehen, wenn wir
essen nachher. Das Wohnzimmer kocht genauso. Bist du fertig?"
Tore nickte nur und lockte die hechelnde Hündin zu sich. Grinsend strich er
ihr die Ohren platt an den Kopf und stellte fest, dass Hunde alle gleich
waren. Sie schloss die Augen und leckte ihm einmal durchs Gesicht. Das Licht
draußen wurde gerade leider trüber, und so sprang er gleich wieder auf und
ging aus dem Zimmer. "Dann mal los, bevor es wieder schneit, schaut mir ganz
danach aus."
"Ich mag Schnee auch dann, wenn er noch fällt." Christian grinste, griff
nach seiner blauen Jacke und folgte Tore. Fast zwei Stunden stapften sie
durch das verschneite Dorf, lieferten sich eine wilde Schneeballschlacht,
die nach kurzem Waffenstillstand in eine zweite überging, diskutierten
Professoren und Seminare durch und kamen schließlich ein wenig aufgeweicht
und mit roten Wangen wieder zurück.
Tore fühlte sich zwar ein wenig verfroren und kaum, dass sie den deutlich
wärmeren Flur wieder betraten, auch noch rotgesichtig, aber sein Körper
bedankte sich für die Bewegung und die frische Luft. Im Hausflur schlug
ihnen gleich der Duft von Suppe entgegen, und dies erinnerte Tore daran,
dass sein Magen auch nicht gerade verwöhnt worden war. Doch zunächst mussten
Christian und er aus den Sachen, auch wenn die kleine Oma schon aus der
Küchentür geschossen kam und sie für ihre Pünktlichkeit zum Essen lobte.
Schnell rannte Tore hinter Christian die Treppen zu dem kleinen Zimmerchen
hoch und zerrte sich die Kleidung vom Körper, um sie über einen Stuhl zu
hängen, den er vor die nun angenehm warme Heizung stellte.
Nur noch mit seiner roten, engen Lieblingsshorts und einem orangefarbenes
T-Shirt bekleidet stand er vor dem Schrank und überlegte, welche Hose er
anziehen sollte, als die Oma von unten her rief, dass das Essen auf dem
Tisch stände und sie sich die Hände waschen sollten. /Wie bei meiner Oma.
Wasch dir die Hände, kämm dir die Haare. Wie sieht du nur aus, Junge! Hast
du kein ordentliches Oberhemd für den Sonntag?/
Er grinste und strich das Hemd entlang. /Ordentliches Oberhemd und
ordentliche Hose, check. Immerhin werden die mit Sicherheit zur Kirche
gehen, und da muss ich mit./
Sein Hunger und die gebührende Höflichkeit trieben ihn dann jedoch an.
Hastig zog er sich seine olivegrüne Cargohose mit reichlich Taschen an den
unmöglichsten Orten an, zurrte sie recht niedrig mit einem Gürtel auf seinen
schmalen Hüften fest und stürmte dann sogar vor Christian noch die Stiege
hinunter, um zu sehen, ob er vielleicht den Tisch decken helfen konnte.
Nathan verteilte gerade Besteck neben Tellern mit blauem Zwiebelmuster, als
die Tür geöffnet wurde und jemand mit einem angenehm kühlen Windhauch in den
Raum kam. Dunja bellte einmal kurz zur Begrüßung, was Nathan den Kopf heben
ließ. Einen kurzen Moment lang schaute er Tore an, um sich dann wieder den
Löffeln und Gabeln zu widmen.
/Fehler in der ersten Einschätzung/, dachte er bei sich und seufzte lautlos.
Mit den von frischer Luft und Kälte geröteten Wangen und dem kleinen
Grinsen, das seinen etwas schmolligen Mund umspielte, sah Tore trotz der
Piercings wirklich gut aus. Nathan korrigierte seine Liste der attraktiven
Männer, die Christian magisch anzog, um eins nach oben.
"Kann ich helfen, oder bin ich schon zu spät?" Unsicher streifte Tore den
Wohnraum mit einem Blick und bemerkte mit einem kleinen Lächeln, dass sich
eine Katze faul vor dem Kachelofen ausstreckte.
"Du kannst noch Gläser holen, wenn du magst." Nathan wies auf einen Schrank
in der Ecke, über dem eine große Uhr hing. "Oma trinkt Wasser; Chris, Opa
und ich werden uns wohl am Bier festhalten. Magst du auch eins?"
Tore überlegte einen Moment lang, dann nickte er und ging zu dem Schrank, um
die Gläser vor den Tellern zu verteilen. Der Großvater kam zugleich mit
Christian in den Raum und setzte die Suppenterrine in der Mitte ab. Seine
Frau stellte einen Brotkorb dazu und zeigte Tore, auf welchem Platz er
sitzen würde. Neben Chris und Nathan gegenüber.
Sie beteten kurz und routiniert, dann wurde eine Weile lang schweigend
gegessen, bis die Großmutter mit den Fragen begann. Chris musste vom Studium
erzählen und von seiner freundlichen Freundin; und Tore musste eine Reihe
Fragen beantworten. Er musste noch einmal berichten, wie es dazu gekommen
war, dass er weder bei seinem Vater, noch seiner Mutter, beide geschieden
und neu liiert, das Fest verbringen würde.
Er hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber schob die Schuld dennoch voll
auf seine Eltern, indem er knapp erzählte, dass diese sich nicht
abgesprochen hatten und jeder ihren Sohn beim anderen vermutete. Um von sich
abzulenken, lobte er erst das Essen und fragte dann nach den lokalen
Bräuchen zum Weihnachtsfest.
Nathan sprach fast gar nicht, sah jedoch immer wieder zu Tore hin und nutzte
die Gelegenheit, als dieser die zahllosen Fragen beantworten musste, um ihn
aufmerksamer zu betrachten. Tores Gesicht war eine Mischung aus weich und
eckig, was ihn faszinierte und den anderen Mann interessanter machte, als es
klassische Schönheit bewirkt hätte. Das kleine, spitze Kinn stand in
Kontrast zu seinen weichen Lippen, die grauen Augen, von geschwungenen
Wimpern umrahmt, und die bogenförmigen Brauen zu den Wangenknochen und der
schmalen Nase. Blonde Haare suchten sich ihren Weg an den Ohren - trotz der
Ringe sehr hübschen Ohren - unter dem Tuch hervor, das er nach wie vor trug.
Kap. 3
Tore hatte eine wirklich niedliche Art, die Lippen zu verziehen, wenn er ein
wenig unsicher grinste; eine Art, die bei Nathan prompt den Wunsch
hervorrief, sie zu küssen und an der schmolligen Unterlippe zu knabbern.
Doch er verbot sich den Gedanken sofort, kaum dass er gekommen war.
/Niemals, niemals, niemals versuchst du dein Glück bei den Freunden deines
Bruders/, sagte er sich stumm den Vorsatz vor, den er sich schon vor Jahren
auferlegt hatte. Weder hatte er Lust auf Ärger mit Christian, noch darauf,
dass dessen Freunde diesem Ärger machten, weil er einen schwulen Bruder
hatte, noch wollte er sich hoffnungslos in einen Hetero zu verlieben.
Tore bemerkte verwirrt, dass Nathan ihn gemustert hatte. Sein
Gesichtsausdruck dabei wirkte, als ob er etwas sagen wollte und lediglich
keine Chance dazu bekam. Fragend hob Tore den Kopf ein wenig mehr und sah
ihn an, um ihn vielleicht dadurch zum Sprechen zu bringen.
Nathan erwiderte den Blick, nur um festzustellen, dass er die grauen Augen
in direktem Kontakt noch viel aufregender fand. Er lächelte in dem Moment,
in dem er erwartete, dass der andere ihn fragen würde, warum er starrte,
wies dann mit einer kleinen Kopfbewegung auf Tores nahezu leeres Bierglas.
"Ich hole gleich noch ein paar Flaschen aus dem Keller, im Kühlschrank ist
nichts mehr. Magst du was Spezielles? Ich habe gestern noch zwei Kästen
gekauft. Wir haben Pils, Weizen, Dunkles und ein paar Flaschen
Alkoholfreies."
Tore blinzelte einmal. /Starrt er mich an? Das war Starren; das war in die
Augen starren./ Er fing sich dann jedoch gleich wieder und legte den Kopf
schief. /Wie sehr in die Augen starren war das?/ "Ich... komme eben mit,
dann kann ich selber sehen, und wir können den Kühlschrank auffüllen."
Energiegeladen sprang er auf und legte die Serviette neben seinen ohnehin
schon leeren Teller. "Wo geht's lang?"
Die Reaktion überraschte Nathan, doch er ließ es sich nicht anmerken.
Stattdessen beugte er sich zu seiner Großmutter, der er ansehen konnte, dass
sie es nicht mochte, dass sie aufstanden, und küsste sie auf die Wange. "Wir
sind gleich wieder da, Ömchen." Es war unfair von ihm, denn er wusste, dass
sie dem nicht widerstehen konnte, aber das störte ihn im Moment nicht.
"Chris, Weizen? Opa, ein Pils, oder?" Als die beiden nickten, erhob er sich
ebenfalls und nickte Tore zu. "Na, dann komm. Nein, Dunja, du bleibst hier",
fügte er gleich darauf an, als er sah, wie sich sein Hund hoffnungsvoll in
seiner Ecke aufrichtete, nur um dann mit einem Seufzen wieder in sich
zusammenzusinken. Er grinste, als sie das Wohnzimmer verließen und er die
Tür hinter ihnen schloss, damit die Wärme nicht entweichen konnte. "Sie
denkt immer gleich, es geht spazieren."
Tore streckte sich, um mit den Fingern an einen Querbalken zu kommen. "Och,
ich würde gleich mit ihr gehen, holt sie Stöckchen?"
"Liebend gerne. Ausdauernder, als du es dir vorstellen kannst." Nathan
beobachtete Tore aus den Augenwinkeln, als sie gemeinsam zur Treppe liefen,
ehe er dann vorging. Die ausgebeulte Hose und das weite T-Shirt ließen
ohnehin keinen guten Blick auf... /Nathan!/
"Ich gehe nachher ohnehin noch mal mit ihr. Kannst gerne mitkommen, wenn du
magst." Er öffnete die schwere Kellertür und schaltete das Licht an. Durch
den Waschkeller, in dem Waschmaschine und Trockner standen, führte er ihn
weiter nach hinten, in den nächsten Raum, dessen Wände mit Regalen voller
Vorräte verstellt waren.
Tore sah sich einmal kurz um. Wie bei seinen Großeltern. Ein Gewusel
nützlicher und einfach nur so aufbewahrter Dinge tummelte sich ordentlich in
Holzregalen an frisch geweißten Wänden. Direkt neben dem Eingang standen die
Bierkästen. "Ich komme gern mit. Diese lange Zugfahrt hat mich ganz hibbelig
gemacht."
Im Geiste notierte Nathan sich, dass er hier mal ausmisten musste, bevor er
abfuhr. "Magst du Hunde?"
Tore lud sich von den Weizenbierflaschen einige auf den Arm und balancierte
noch zwei Flaschen Dunkles dazu. "Mein Vater geht gern jagen, er hat zwei
Weimaraner."
Mit ihrer Ladung gingen sie wieder zu den anderen zurück, wo Tore
feststellte, dass die Großmutter auch in einer weiteren Sache seiner eigenen
Oma glich. Sein Teller war ungefragt noch einmal mit der leckeren Suppe
gefüllt worden. Grinsend nahm er wieder Platz und aß zuende, die
Unterhaltung war durch den Bierausflug zu anderen Themen gewechselt.
Nach dem Essen und Tischabräumen saßen sie gemeinsam mit den Großeltern im
Wohnzimmer, um weitere Fragen zu beantworten, die sich neben dem Studium
natürlich auch um die liebe Verwandtschaft drehten. Nach zwanzig Minuten und
ein paar Blicken zu Tore hin beschloss Nathan, ihn sowohl von den für ihn
vollkommen uninteressanten Themen, wie auch vom ruhigen Sitzen zu erlösen.
Innerlich schmunzelte er in sich hinein. /Ein Energiepotential scheint der
Mann zu haben, das ist unglaublich. Wirkt manchmal wie ein Kind damit./
Er stand auf, was die Hündin in ihrer Ecke hoffnungsvoll den Kopf heben
ließ. "Ich geh noch mit Dunja raus", verkündete er, und allein der Klang des
Namens ließ Dunja fröhlich aufspringen und schon mal zur Tür vorlaufen.
"Tore, willst du noch immer mit? Oder doch lieber verdauen."
"Bin gleich wieder unten, Nathan." Im Geiste notierte Tore sich als erstes
die Frage, wie man den Namen leichter auszusprechen machen konnte. Schon
wenige Minuten später gingen sie mit der bellenden und um sie herspringenden
Hündin in Richtung des nahen Waldstückes vom Haus davon. Christian hatte
nicht mitkommen wollen, sondern sich mit einem Buch auf die dicke Couch zu
der ebenso dicken Katze gelegt.
"Und da soll man ihn etwas anderes als Bücherwurm nennen." Nathan grinste
und schob die Hände tiefer in die Taschen seines dicken Parkas. Immerhin
hatte Christian die Großer-Bruder-Allüren aufgegeben, dass man kleinere
Brüder nicht mit den Freunden weggehen lassen konnte, da kleine Brüder
ohnehin nur nervten. Seitdem sie nicht mehr zusammen wohnten, kamen sie
ohnehin viel besser miteinander aus. "Was studierst du? Auch Soziologie und
Pädagogik wie Chris?"
Tore nickte erst, dann schüttelte er leicht den Kopf. "Ich studiere
Erlebnispädagogik und werde im nächsten Semester noch Psychologie dazu
nehmen. Jugendpsychologie, wenn ich endlich einen Platz bekomme." Er warf
seinem Versprechen folgend schon zum vierten Mal einen knorrigen Ast, damit
die eifrige Hündin ihn zu ihm zurückbringen konnte.
"Das ist ein wenig anders. Man kümmert sich darum, wie Freizeitheime oder
diese Manager-Testzentren aufgebaut und geführt werden sollen. Ich hab
bislang immer am liebsten mit Kindern gearbeitet, auf Überlebenscamps oder
Wandertouren." Er warf einen Seitenblick auf Nathan. "Was machst du noch
mal? Ich weiß gar nicht, ob Chris es erzählt hat." /Er ist nett... netter
als Chris sogar noch, und das ist schwer./
Nathan lachte. "Wenn mein Bruder was davon erzählt hat, dann
höchstwahrscheinlich mit dieser 'Wie kann man nur so viel Grünzeug
mögen'-Miene. Ich bin Landschaftsgärtner. Das heißt, wir machen so etwas wie
Straßenrandbegrünung, Parkanlagen pflegen et cetera. Ich liebe den Job. Und
er hat den Vorteil, dass ich Dunja fast immer dabei haben kann." Er warf
seiner Hündin einen liebevollen Blick zu. "Kleiner Racker. Seitdem muss ich
morgens nicht mehr alleine Joggen."
"Klingt auch nicht schlecht, der Job." Tore streckte sich und gähnte
verhalten. Das andere Klima nahm ihn doch ein wenig mit. "Aber da würden mir
die kreischenden, nervtötenden Kinder fehlen. Ich weiß, ich bin verrückt,
brauchste nicht noch sagen." Er grinste frech und hob dann den Kopf, als er
eben genau das hörte. Kreischende, lärmende Kinder beim Spielen.
Als sie um eine Kurve bogen, gelangten sie zu einem See, auf dem etliche
Kinder und Jugendliche Schlittschuh liefen oder sich bei einem kleinen
Hockeyspiel austobten. Er deutete zum See hin. "Siehste? So was. Hey, kann
man hier irgendwo Schlittschuhe leihen? Mist, hab meine natürlich nicht mit.
Hm, aber vielleicht..." Im Geiste planend lief Tore auf eine Gruppe Kids zu.
Es kostete ihn nur wenig Verhandlungen. Mit einem Augenbrauenpiercing war
man zur Zeit ziemlich hipp, sehr offensichtlich auch auf dem Dorf. Nur wenig
später hatte Tore einen der durchgefrorenen Jungs überredet, ihm das Paar
Schlittschuhe für die Zeit eines Hockeyspiels zu leihen. "Wenn du schon
zurückgehen willst, ich finde den Weg, Nat!" Prüfend schlug Tore mit dem
Hockeystock auf das Eis, dann zischte er los, zu den anderen. Herrlich.
Bewegung, austoben, ein schneller Sport, der seine Konzentration verlangte,
so dass er sich nicht zu fragen begann, wie attraktiv Nathan noch werden
musste, damit er ihn anbaggerte.
"Nat? Nat klingt ziemlich bescheuert", erklärte Nathan Dunja grinsend,
während er die Hündin davon abhielt, Tore begeistert zu folgen. "Nee, nee,
Mädel, da schlitterst du mir noch in einen Hockeyschläger. Außerdem kannst
du auf dem Eis kaum laufen. Aber andererseits..." Er hockte neben ihr nieder
und legte einen Arm um den warmen, schlanken Körper. "Wenn er das sagt, ist
es irgendwie... niedlich."
Gedankenverloren streichelte er Dunjas Brustfell, während er Tore mit den
Blicken verfolgte, wie er über das Eis fegte, auch nicht größer als viele
der Kinder, geschmeidig und wendig. /Ich wette, er hat kein Gramm Fett zu
viel./ Ärgerlich ertappte er sich dabei, wie er begann, sich den nackten
Körper auszumalen, ein wenig sehnig, sehr schlank, wenn man nach den
schmalen Handgelenken ging und dem, was man durch die weite Kleidung erahnen
konnte. /Wenn er behaart ist, dann nicht allzu viel. - Nathan! Hör auf!/
Doch er erinnerte sich an den Blick beim Essen zurück, die Art, wie Tore den
Kopf schief gelegt hatte. /Was wäre, wenn in all den Jahren mein holder
Bruder mal nicht an einen Hetero-Kumpel geraten wäre?/
Das Was-wäre begann sich festzusetzen, während er dem Wirbelwind auf dem
zugefrorenen See zusah. /Keine Freunde deines Bruders! Aber wenn... was
wäre, wenn er... Nur, weil er ein Freund von Chris ist, heißt es ja nicht,
dass ich... Was wäre, wenn Tore quasi meine Lydia wäre? Da könnte er nichts
dagegen sagen. Und wenn.../ Unwillkürlich musste er lachen. "Dunja, gerade
werde ich sehr albern." Dennoch konnte er sich nicht von dem Anblick lösen
und weitergehen. Und nicht einmal er glaubte sich die Ausrede, dass es
unhöflich wäre, einen Gast allein zu lassen.
Verwundert sah Tore, dass Nathan es doch tatsächlich ausgehalten hatte, die
halbe Stunde, zwei Spielzeiten, am Rand des Sees zu warten. Er winkte und
lachte ihn fröhlich an, während er Verabredungen mit den Kids für den
nächsten Tag abwehrte, weil er nicht wusste, was Chris geplant hatte.
Rasch gab er die geliehenen Schlittschuhe zurück und zog seine kalten Schuhe
wieder an, um zu Nathan zu laufen. "Whoohoo, wir haben gesiegt. Ha!" Er
hüpfte einmal. "Danke, dass du gewartet hast." /Hat er meinetwegen gewartet
oder aus Höflichkeit? Hat er mich beobachtet? Vorhin schien es mir so. Er
starrt mich an, beobachtet mich. Hm. Das kann ich auch. Er ist ja auch gut
anzustarren... netter Körper, trotz der schrecklichen Hose./ Mit
schiefgelegtem Kopf sah Tore zu Nathan auf und fragte "Sind deine Großeltern
eigentlich auch so Leute, die viel vom Kaffeetrinken und Kuchenessen
halten?" /Oh, Apfelstrudel mit Vanillesoße, ich würde sterben dafür!/
"So viel, dass du binnen drei Tagen kugelrund bist, wenn du alles isst, was
meine Oma dir auf den Teller legen will. Pflaumenkuchen hat sie für heute
geplant, wenn ich mich nicht irre." Nathan grinste, spürte noch das kleine,
nicht wirklich willkommene Kribbeln im Magen, weil Tore ihm zugewinkt hatte,
während gleichzeitig ein neues erwachte, da er mit schiefgelegtem Kopf
einfach niedlich aussah. Er pfiff nach Dunja, die abseits an ein paar Bäumen
schnupperte, um ihr zu sagen, dass sie weiter gingen und sah Tore noch
einmal kurz direkt in die grauen Augen. "Du läufst gut."
Tore grinste nur und beschloss, dass sie flirteten. Definitiv. Der Weg zum
Haus zurück wurde ihnen kurz, weil sie es über das Schlittschuhlaufen
irgendwie geschafft hatten, das Gespräch auf Sommerurlaube zu bringen und
sich gegenseitig die netten Wanderwege erzählten, auf denen man sich
herrlich austoben konnte, auf denen wunderbare kleine Hütten lagen, vor
denen man am Abend sitzen und den Tieren zusehen konnte.
Das Kaffeetrinken über redeten Tore und Christian über die nächsten
Projekte. Nathan schwieg dazu nur, was sollte er auch groß erzählen. Doch
Tore hatte nicht den Eindruck, dass es ihn störte. Vielmehr schien es Nathan
und auch ihm selber nur um so mehr Gelegenheiten zu diesen Blicken zu geben,
eine Spur zu direkt, aber dennoch nicht direkt genug, um aufzufallen.
Sie gingen nach dem Kaffee dazu über, Monopoly zu spielen, was Tore eher
langweilte und dazu brachte, seine Müdigkeit von dem Tag im Schnee zu
bemerken. Und so verabschiedete er sich an dem Abend recht bald nach dem
Abendbrot, nachdem sie besprochen hatten, was sie am nächsten Tag, dem Tag
vor Weihnachten, alles machen wollten.
"Shoppen gehen, dann mit der Gondel auf den Berg und rodeln, dann zu euren
Freunden und mit denen noch in die Disco", zählte Tore gähnend auf. "Ich
glaub, dafür werde ich meinen Schlaf brauchen. Gute Nacht zusammen." Er
gönnte sich noch einen Blick in Nathans Gesicht und befand, dass es ihm
wirklich gut gefiel, vor allen Dingen, wenn dieses kleine Halblächeln darin
stand. "Bis morgen früh. Weckt mich wer?", fragte er schon eine Spur zu
direkt an Nathan gerichtet, aber bekam von Chris eine entsprechende Zusage.
Sehr zufrieden kuschelte Tore sich in das Bett, den Troll neben sich und
sein Psychologiebuch vor der Nase. Er schlief allerdings ein, bevor er das
Licht ausschalten konnte.
Nathan verabschiedete sich knapp eine Stunde später. Seine Großeltern ließen
sich von Christian alles über Lydia erzählen, ob sie nicht endlich
Heiratspläne hatten, wie es bei dem letzten Besuch bei ihren Eltern gewesen
war, und, und, und. Er hatte keine Lust auf die fünfhundertste
Lydia-Geschichte, auch wenn er es nachvollziehen konnte. Denn es war sehr
wahrscheinlich, dass Christian der einzige der Familie war, der Nachkommen
in die Welt setzen würde.
Zwar hatte er mit seinen Großeltern nie darüber gesprochen, aber er
vermutete, dass sie im Gegensatz zu seinen Eltern ahnten, dass er schwul
war. Sie würden deswegen mit ihm aber nicht den Kontakt abbrechen, wie er es
von seinen eigenen Eltern vermutete. Immerhin hatten diese, als sie von der
Homosexualität seines Onkels erfahren hatten, diesen für nicht mehr zur
Familie gehörig erklärt.
Mit ausdruckslosem Gesicht erinnerte Nathan sich an die bösen Worte, die
sowohl sein Vater wie auch seine Mutter für den Weg seines Onkels übrig
gehabt hatten, an die religiösen Begründungen, die sie aufgezählt hatten.
Nur wenig später hatte er herausgefunden, dass er selber schwul war und nur
noch das Ziel gehabt, so schnell wie möglich auszuziehen. Statt des von ihm
erwarteten Abiturs hatte er die mittlere Reife gemacht, dann die Ausbildung,
und direkt nach seinem Wehrdienst war er vollkommen ausgezogen. Er hatte es
nicht bereut.
Langsam stieg er die Treppe hoch, in Gedanken noch immer bei den
unerfreulichen Wochen, die dem Outing seines Onkels gefolgt waren, als er
den schmalen Lichtstreifen bemerkte, der unter Tores Tür hervorkam. Noch
bevor er darüber hatte nachdenken können, hatte er angeklopft, ohne auch nur
zu wissen, was er überhaupt sagen wollte.
Aber mit einem Mal hatte er das Bedürfnis, die großen, grauen Augen zu
sehen, die den Abend über immer wieder seinen Blick erwidert hatten. Das
Lächeln, das über Nathans Gesicht huschte, verdrängte die unangenehmen
Erinnerungen. Tore hatte mit ihm geflirtet, direkt im Wohnzimmer seiner
Großeltern. Doch es kam keine Antwort. Nathan klopfte erneut. "Tore? Noch
wach?"
Als wieder keine Antwort kam, öffnete er einfach die Tür. Das Bild, das ihn
empfing, ließ sein Lächeln tiefer werden. Der junge Mann lag auf dem Bett,
ein buntes Stofftier im Arm und halb auf einem dicken Buch, und war ganz
offensichtlich am Schlafen. Seine weichen Lippen standen ein wenig offen,
und seine Miene war entspannt, wenn auch leicht erschöpft. Endlich verbargen
weder das Tuch, noch ein Übermaß an Stylinggel den Blick auf seine blonden
Haare, die ihn, zerzaust wie sie waren, kindlicher wirken ließen.
Nathan spürte bei dem Anblick das Verlangen, sich dazu zu legen, den Arm um
die schmale Gestalt zu schlingen und ihn einfach festzuhalten.
/Beschützenswert... Dabei ist er bestimmt älter als ich./ Mit einer Gebärde
und einem leisen Wort verwehrte er Dunja den Zugang, ehe er selber eintrat.
Er zog ihm vorsichtig das Buch unter dem Kopf hervor, klappte es zusammen
und legte es auf den Nachttisch, ohne den Blick von dem anderen Mann zu
lassen. Nahezu selbstständig streckte Nathan die Hand nach dem
faszinierenden Gesicht aus, wollte ihm über die Wange streicheln, doch bevor
er ihn berühren konnte, seufzte Tore leise im Schlaf, und Nathan zuckte
erschrocken zurück. /Dummkopf, tu doch so was nicht./
Lautlos machte er einen Schritt zurück, löschte das Licht und ging dann in
sein eigenes Zimmer, wo Dunja in ihrer Ecke verschwand. /Dummkopf/, dachte
er erneut. /Nur, weil er ein wenig mit dir geflirtet hat... Er hat mit mir
geflirtet. Er hat wunderschöne Augen, und er hat mit mir geflirtet./
Unwillkürlich musste er lachen. "Und das im Wohnzimmer meiner Großeltern.
Dunja, wenn er so weitermacht, kann ich ihm nicht mehr wiederstehen. Wer
hätte das gedacht. Einer von Christians Freunden ist schwul."
Rasch zog er sich um, ehe er noch einmal im Bad verschwand, um dann
ebenfalls ins Bett zu gehen. Dass er Tore wieder vor sich sah, kaum dass er
die Augen geschlossen hatte, verwunderte ihn nicht.
Tore wachte im Dunkeln auf und streckte sich gähnend, bevor er sich aus dem
Bett schwang und das Fenster öffnete. Die Sterne funkelten noch, wenn auch
schon blasser, aber den Anblick war er gewohnt. Er war noch nie ein
Langschläfer gewesen und bemerkte auch nun nach einem Blick auf seine Uhr,
dass es erst halb sieben war. Dennoch beeilte er sich, um vor den anderen
beiden in die Dusche zu kommen, vor allem, weil er ein wenig länger
brauchte.
Er suchte sich eine neue Shorts heraus. Ebenfalls eng, dieses Mal in schwarz
mit neckischen Netzteilen an den Seiten. Ein Geschenk von Schulfreunden, die
ihn hatten ärgern wollen, ohne zu ahnen, dass er diese Art Wäsche gern
anzog.
Die Dusche tat ihm gut. Er hatte einen leichten Muskelkater von der noch
ungewohnten Bewegung beim Schlittschuhlaufen, aber der ließ sich mit ein
wenig heißem Wasser wegmassieren. Anschließend zog er sich die Shorts an und
begann, sich dann für das Rasieren einzuseifen, während er mit der Handkante
den Spiegel frei wischte.
Grinsend freute er sich schon auf den Tag. Mit Chris, aber vor allem auch
mit Nathan. /Mit ihm kann man gut flirten. Ob er das, was wir tun, auch als
Flirt auffasst? Vielleicht bewerte ich das übermäßig?/ Doch dann schüttelte
er leicht den Kopf und spülte den Rasierer mit Wasser ab. /Nein. Er hat mir
direkt in die Augen gesehen. Das machen Heteros nicht, jedenfalls nicht mehr
als einmal./
Erneut erinnerte Tore sich an den Körper, dem man die körperliche Arbeit
ansah; der öfter mal ein wenig nachdenkliche Ausdruck in dem runden Gesicht
mochte gar nicht so recht dazu passen. /Bücherwurm sagt er zu Chris, aber
liest er selber wirklich nicht gern?/ Grübelnd ließ Tore den Rasierer
sinken. /Warum zum Teufel denke ich so viel über ihn nach? Ich werde ihn
noch eine Woche lang sehen, zu Silvester bin ich doch schon längst wieder
daheim. Silvester ziehe ich endlich meinen Plan durch!/ Auch wenn der
Gedanke ihm ein wenig Angst machte.
Als Nathan erwachte und das Licht einschaltete, saß Dunja bereits
erwartungsvoll vor seinem Bett und sah ihn an. In der Helligkeit blinzelnd
grinste er und rieb sich erst einmal die Augen, ehe er aufstand. "Na, Lady,
dir kann es auch nicht früh genug losgehen, hm?"
Gähnend streckte er sich, entledigte sich dann rasch seines Schlafanzugs, um
in der kalten Luft fröstelnd zu seinem Schrank zu laufen. Doch als er ihn
öffnete, fiel ihm ein, dass er den dicken Trainingsanzug am Morgen davor im
Badezimmer hatte liegen lassen, um ihn später wegzuräumen. Später hatte sich
ziemlich offensichtlich auf jetzt verzögert, denn er hatte ihn vollkommen
vergessen. Und da seine Oma es sich abgewöhnt hatte, für ihn aufzuräumen,
nachdem er ihr erklärt hatte, dass er das gar nicht leiden konnte, egal wie
gut sie es meinte, musste er noch immer dort auf dem Hocker auf ihn warten.
Als er auf den Flur trat, sah er den Lichtstreifen unter der Tür vom
Badezimmer schimmern. Unwillkürlich musste er grinsen. /Hat Chris schon
wieder vergessen, das Licht auszuschalten. Da kann er nur hoffen, dass Opa
das nicht gesehen hat, sonst geht er wieder die Wände hoch ob der
Stromverschwendung./
Er öffnete die Tür, nur um dann erst einmal für einen Moment innezuhalten.
Es war nicht Christians Schuld. Stattdessen wurde er mit einem wirklich
atemberaubenden Anblick konfrontiert, der lediglich von dem Rasierschaum im
Gesicht etwas getrübt wurde. Tore stand bis auf eine enge, schwarze Shorts,
die seinen knackigen Hintern deutlich betonte, nackt vorm Spiegel; durch die
seitlichen Netzeinsätze konnte man die blasse Haut sehen, was Nathan mehr
als sexy fand. Und dass, obwohl Tore ihm fast ein wenig zu dünn schien.
Nathans Blick glitt über die leicht abgebildeten Muskeln des Bauches und der
Oberschenkel, ehe ihm bewusst wurde, dass er starrte. /Großartig, Mann! Reiß
dich zusammen! Gott, sieht der gut aus!/
Kap. 4
"Na, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Morgen." Er trat ein, schloss
die Tür endlich hinter sich, um nicht die komplette Wärme auf den kalten
Flur entweichen zu lassen und ging zu dem Hocker in der Ecke, auf dem nach
wie vor der graue Trainingsanzug mit den blauen Streifen lag. "Dann gibt es
jetzt wohl außer mir noch einen Frühaufsteher im Haus."
Tore wich mit einem kleinen Geräusch ein wenig von der Tür zurück, dann
erinnerte er sich, dass er den Schlüssel nicht wirklich enthusiastisch
umgedreht hatte. "Oh... habe wohl..." Er fing sich, nachdem er Nathans
Abwenden zu einem kleinen Streifzug der Blicke über dessen Körper genutzt
hatte.
"Morgen. Ich brauch immer so lange, deswegen wollte ich früh ins Bad."
/Hm... nett./ Ihm gefielen die Rückenmuskeln, und der Hintern war sicherlich
auch nicht übel. /Wie er wohl ausgestattet... Tore! Verdammt noch mal! Augen
geradeaus, aber Zackzack!/ Rasch wendete Tore sich wieder dem Spiegel und
seiner Rasiererei zu. "Wenn du noch fünf Minuten wartest, dann komme ich
mit, Nat." /Scheiß auf die Frisur, das hier ist wichtiger./
/Nat... Schon wieder Nat./ Unsichtbar für Tore, dafür aber sehr breit
grinste Nathan seinen Trainingsanzug an. /Und er will mitkommen. Yay!/ Noch
bevor er seine Mimik in eine vollkommen neutrale Form gebracht hatte, drehte
er sich schon wieder um, sah den anderen Mann im Spiegel an, um nicht gleich
wieder auf den Hintern starren zu müssen. "Klar warte ich. Komm einfach zu
mir rüber, wenn du fertig bist."
Er zwinkerte ihm kurz zu, beschimpfte sich gleich darauf dafür und verließ
das Bad, um zurück in sein Zimmer zu gehen. Während er sich anzog und seine
Laufschuhe schnürte, sah er zu der erwartungsvoll wedelnden Dunja hin.
"Er kommt mit; deswegen wirst du noch ein paar Momente warten müssen",
erklärte er ihr leise und grinste schon wieder. "Jetzt sag mir mal, ob das
ein spontaner Entschluss war oder ob er öfter Joggen geht. Und wenn es
spontan war, ob es wegen mir ist. Dunja, Mädel, er sieht zum Anbeißen aus.
Ein bisschen dünn, aber... Wow."
Mit einem Lachen streichelte er ihr über den Kopf und stand auf. "Mal
schauen, ob er so schnell wie Chris aufgibt und auf der Hälfte der Strecke
umkehren will. Und wenn ja... ob ich dir deinen Morgenspaziergang kürze."
Tore hastete aus dem Bad und hechtete förmlich zuerst in die alte Unterhose;
wenn sie Joggen gehen würden, dann würde er ohnehin noch einmal duschen.
Dann stürzte er sich in ein T-Shirt, seinen Trainingsanzug und einen
Kapuzenpullover, den er darüber zog und dessen Kapuze er rasch schützend
über seine noch feuchten Haare stülpte. Die Turnschuhe waren noch nicht ganz
zugebunden, als er schon zu Nathan rüberlief. "Fertig, du wolltest doch auch
joggen, oder?" Hoffnungsvoll sah er Nathan an, während er der japsenden
Hündin auf die Flanken klopfte.
Nathan lachte leise. "Sicher wollte ich das. Mache ich jeden Morgen. Und
mittlerweile hat Dunja sich so daran gewöhnt, dass sie mir böse ist, wenn
ich es mal nicht schaffe."
Sie folgten der Hündin, die vor ihnen die Treppe heruntersprang und fröhlich
nach draußen in den Schnee stürmte, kaum dass Nathan die Tür geöffnet hatte.
Er tastete nach, ob er auch den Schlüssel dabei hatte, denn selbst, wenn sie
die gesamte Strecke durchzogen, würden sie zurücksein, bevor seine
Großeltern oder Chris wach wären; er hatte nicht vor, sie wecken zu müssen,
weil er vergesslich war.
Eine Weile liefen sie still nebeneinander her, das Knirschen ihrer Schritte
und Dunjas Hecheln die einzigen Geräusche zu der frühen Morgenstunde. Das
Dorf lag noch im Tiefschlaf. In der Nacht war wieder Schnee gefallen, so
dass auf der frischen Decke nur Spuren von Vögeln, Kaninchen und einem
schnürenden Fuchs zu sehen waren, die Dunja mit Interesse verfolgte.
Nathan stellte fest, dass er Tores Anwesenheit genoss, einfach nur, dass er
da war, auch ohne dass sie sich unterhielten. Das Echo zu seinen Schritten,
seinem Atem.
"Wie lange willst du laufen?", fragte er dennoch schließlich, als sie kurz
vor einem Scheideweg waren. "Die kleine, die große oder die Ausdauertour?
Das heißt, eine halbe, eine ganze oder zwei Stunden?"
Tore grinste ihn halb versteckt unter der Kapuze an. "Mich bekommst du nicht
tot, aber wenn wir zu lange laufen, dann machen sich die anderen vielleicht
Sorgen." Seine Füße waren eigentlich jetzt schon recht durchgefroren, aber
das würde er Nathan sicherlich nicht erzählen. /Nicht, dass er denkt, ich
bin eine Sissy./
Sie liefen nun unter Bäumen auf einem Trimmpfad entlang, der angenehm
leichte Steigungen und Senken enthielt. Unter dem Schutz der Äste lag
weniger Schnee, was das Laufen erleichterte. Tore merkte, wie seine Nase und
seine Finger den Füßen im Einfrieren folgten und lenkte sich mit Gedanken an
den heißen Typen neben sich ab.
/Nicht der übliche Schönling; um genau zu sein nicht mal mein Typ, aber...
er sieht so verdammt kuschelig aus, als ob er drauf stehen würde, einen im
Bett nicht mehr loszulassen... und als ob er mit seinen kräftigen Händen gut
massieren kann./ Genießerisch driftete Tore in seine Träume von den Dingen
ab, die ja doch nie passieren würden.
Sie waren offensichtlich eine mittlere Runde gelaufen, denn als sie
verschwitzt und verfroren wieder beim Haus ankamen, waren zwar die Mieter
und ihre Kinder schon auf und schippten den Schnee von der Auffahrt, aber
von Chris und den Großeltern war unten noch nichts zu sehen. Im Bad rauschte
die Dusche.
Tore ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und wischte sich über die Stirn.
"Yay, das hat gut getan!" Neugierig sah er sich um und fragte dann "Solange
die Dusche besetzt ist, könnten wir doch eigentlich 'ne heiße Schokolade
trinken, oder?" Suchend glitt sein Blick an den ordentlich beschrifteten
Aufbewahrungsdosen entlang.
Nathan hatte noch rasch Dunja mit einem alten Handtuch abgetrocknet, ehe er
sie in die Wohnung gelassen hatte. Jetzt lief er mit seinen ausgetretenen
Hausschuhen an Tore vorbei. "Sicher. Ich mach dir gerade eine." Er selber
gönnte sich erst einmal eine halbe Flasche Apfelsaftschorle, ehe er Kakao
aus dem Regal holte und in einer besonders großen Tasse anrührte, die er
dann schlicht in die Mikrowelle stellte. Während sie ihre Kreise drehte,
brachte er Tore ebenfalls eine Flasche Schorle. "Du auch? Wenn oben frei
ist, kannst du rein. Ich werde einfach das Bad meiner Großeltern in Beschlag
nehmen, das geht schon. Ich bin trotzdem fertig, ehe sie wach sind."
„Chris braucht ja nicht so lange. Bloß blöd, dass ich schon geduscht hatte.
Wenn ich gewusst hätte, dass hier jemand früh aufsteht und dann auch noch
joggen geht. Machst du das morgen wieder?“ Er blinzelte, dann grinste er.
„Ach nein, Chrissi meinte was von Party und Disco heute Abend, richtig?
Kommst du mit?“ Er zog sich seinen der Pullover über den Kopf und glättete
seine zu allen Seiten abstehenden Haare nachlässig.
Nathan grinste ebenfalls. „Sicher. Ihr braucht ja jemanden, der euch fährt,
wenn ihr etwas trinken und trotzdem wieder nach Hause kommen wollt. Da
kommen entweder Opa oder ich in Betracht. Dass ihr Opa dafür begeistern
könnt, ist fraglich.“ Und wenn er eine Chance hatte, mit Tore zusammen zu
sein, würde er sich die nicht entgehen lassen. Ihn tanzen zu sehen, war
bestimmt ein Erlebnis, so voller Energie wie der andere war.
Als ein deutliches Ping ertönte, holte Nathan die Tasse aus der Mikrowelle,
rührte noch einmal um und stibitzte seiner Großmutter von der Sahne, die
eigentlich für den Kuchen gedacht war, um eine nette Haube darauf zu
sprühen. Mit einem Grinsen stellte er sie vor Tore, ehe er sich ihm
gegenüber setzte. „Ich hoffe, das ist genehm.“
Tore versenkte sich nach einem kleinen Lächeln schweigend in die dampfende
Tasse und genoss den Unterschied von der kühlen Sahne an den Lippen zum
heißen Kakao. Schließlich hörte er am Poltern aus dem Obergeschoss, dass
Chris ihm die Dusche freigegeben hatte. Rasch stellte er den Becher auf die
Seite und erklärte Nathan, dass er den Kakao zum Frühstück später weiter
trinken würde, bevor er nach oben flüchtete.
Nathan direkt vor sich sitzen zu haben, in seine grünlichen Augen zu sehen
und das vergnügte Funkeln darin zu erkennen, wenn ihre Blicke sich
begegneten, schuf eine nervöse Wärme in ihm. Zudem hatte er immer mehr den
Wunsch verspürt, seine Hand über den abgeschabten Holztisch zu reichen, um
die kräftigen Finger zu berühren, denen man deutlich die Arbeit ansah.
Den Wunsch konnte er zwar kurze Zeit unterdrücken, aber als sie eine halbe
Stunde später in größerer Runde erneut an dem Tisch saßen und gemeinsam mit
Chris und den Großeltern Brot und aufgebackene Brötchen aßen, kehrte er
zurück.
Immer häufiger wurde Tores Blick zu Nathan gezogen, immer seltener schaffte
er es, rechtzeitig wegzusehen, um nicht erwischt zu werden. Dennoch ging er
zunächst mit Chris allein in das Dorf, um noch ein paar Kleinigkeiten für
Freunde aus der Uni einzukaufen und sich ein wenig umzusehen.
/Wie bekomme ich mehr über ihn heraus, wie schaffe ich es, zu erfahren, ob
er nur spielt? Er wirkt schon so erwachsen, schon so viel älter als er ist.
Eigentlich ist er doch sicher noch jünger als ich, oder?/ Entschlossen
fragte er Chris, als sie am Mittag auf dem Rückweg zum Haus waren. "Sag mal,
dein Bruder ist doch jünger als du, nicht? Er wirkt so... erwachsen. Weißt
du, was ich meine?"
Christian lachte und sah zu ihm hin. "Erwachsen? Nun ja... nicht, wenn du
ihn näher kennen lernst. Er ist durch und durch ein kleiner, nerviger
Bruder." Während er eine seiner beiden Tüten in die andere stopfte, gab er
jedoch zu "Ja, ich weiß, was du meinst. Liegt vielleicht daran, dass er
schon recht früh von zu Hause weg ist. Hat weder Abi gemacht, noch studiert.
Er wusste verdammt früh, was er wollte. Er ist einundzwanzig, arbeitet aber
schon seit über einem Jahr richtig."
"Durch und durch nerviger Bruder, hm?" Tore kickte einen Eisbrocken über die
Strasse, als sie in die kleine Gasse einbogen, in der die Großeltern
wohnten. "Meine Mutter hat mir vor einer Woche erzählt, dass ich - hurra -
einen kleinen Bruder bekommen werde. Mit ihren Vierzig ist sie noch mal
schwanger geworden. Toll."
/Erzählst du ihm jetzt, dass du schwul bist, und dass deine Mutter wörtlich
gesagt hat, dass sie hofft, dass es diesmal ein normaler Junge wird?/ Das
war der Grund, aus dem er ihr gesagt hatte, dass er beim Vater Weihnachten
feiern würde. Jener aber war gar nicht da, sondern verlobte sich auf Hawaii
mit seiner fast zwanzig Jahre jüngeren Langzeitgeliebten.
"Du kriegst einen Bruder?" Überrascht drehte Christian sich ihm zu. Er
schien etwas sagen zu wollen, grinste fröhlich, doch schnell wurde es
schief, dann schwieg er. Einen Moment später seufzte er. "Nun, weißt du,
eigentlich ist er nicht schlecht. Ich bin froh, dass es ihn gibt, egal wie
sehr ich manchmal über ihn lästere." Die Geste, mit der er sich durch die
Haare strich, wirkte ein wenig unsicher. "Das liegt bei dir etwas anders,
ich weiß." Wieder schwieg er einen Augenblick. "Aber selbst wenn es dich
nicht gerade vom Hocker haut vor Begeisterung, irgendwie klingst du ja fast
sauer deswegen. So schlecht ist es mit Sicherheit nicht."
Tore seufzte und zuckte mit den Achseln. "Ich fühle mich, als würden sie
mich als einen Fehler aus ihrer Vergangenheit ansehen. Meine Mutter war
siebzehn, und ich war ein Flower Power Unfall von den beiden. Nun haben sie
beide ihr richtiges, ordentliches Leben, und ich erinnere sie nur an die
Fehler."
Er seufzte noch einmal und entdeckte dann Nathan, der aus einem Fenster des
Hauses anscheinend nach dem Hund im Vorgarten sah. Grinsend winkte Tore ihm
zu und endete "Vermutlich werde ich nicht viel mit ihm anfangen können. Wenn
er zu studieren anfängt, bin ich längst alt."
Christian grinste ebenfalls und stieß ihm in die Seite. "Wenn du ein Fehler
bist, dann ein gut gelungener."
Nathan hatte festgestellt, dass ihm die Zeit, bis Tore zurückkam, deutlich
länger vorgekommen war, als es eigentlich hätte sein sollen. Er beschäftigte
sich damit, den Keller schon einmal durchzusehen, was er ausmisten musste.
Seine Großeltern hatten die Tendenz, Vorräte anzusammeln, als müssten sie
eine Hungerzeit durchstehen, und diese dann derart lang zu vergessen, dass
selbst bei Dosen das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Dunja leistete ihm
eine Zeitlang Gesellschaft, doch dann verlor sie die Lust und bettelte so
lange, bis er sie in den Garten ließ.
Unerwartet oft ertappte er sich dabei, aus dem Keller nach oben zu laufen,
um nach ihr zu sehen. Es war nicht so, dass er sich Sorgen um sie machte,
dass sie zu lange draußen blieb. Stattdessen schaute er immer wieder den Weg
entlang, den Tore und Christian kommen mussten, wenn sie endlich wieder
zurück waren.
Als er sie dann endlich kurz nach Mittag erblickte, blieb er einfach am
Fenster stehen, obwohl er es besser wusste. In seiner dicken Winterjacke
wirkte Tore noch kleiner und dünner und dadurch noch niedlicher, als er es
ohnehin schon war. Dann sah der andere zum Haus hin, und Nathan hatte das
Gefühl, dass sich ihre Blicke direkt trafen. Er lächelte, spürte Wärme in
sich, als der andere Mann ihm zuwinkte und hob selber grüßend die Hand.
/Ich bin mir sicher, dass er schwul ist. Schwul und nicht uninteressiert./
Während er Teewasser aufsetzte, drifteten seine Gedanken zum Frühstück
zurück. Tore hatte schon fast auffällig oft zu ihm hingesehen, doch er war
sich sicher, dass es niemand außer ihm bemerkt hatte. /Hm... vielleicht
komme ich ihm heute Abend etwas näher. Wenn er etwas trinkt, vielleicht./
Nicht, dass er mit viel rechnete, immerhin waren sie dort nicht allein und
nicht in einer Schwulendisco.
Er warf ein paar Teebeutel Pfefferminztee in eine Tasse, dann ging er zur
Haustür, um Tore und seinem Bruder zu öffnen und seine Hündin wieder
hereinzuholen. Er pfiff nach Dunja und hielt sie davon ab, direkt in den
Flur zu stürmen. Während er sie mit dem alten Handtuch trocken rubbelte,
grinste er zu Tore hoch, als dieser hinein kam. "Na, fündig geworden?"
Tore fuhr sich kurz mit den Fingern über seine wieder zu kleinen Stacheln
aufgestellten Haare und erwiderte das Lächeln mit einem kleinen Blick in die
Augen, dann strich er der Hündin einmal über den Kopf, überlegte, ob er es
dazu kommen lassen sollte, dass sich ihre Hände einmal streiften, doch zog
sich dann gleich wieder zurück. "Nein. Alles war hektisch und ausgesucht.
Ich hab aber für eure Großeltern etwas gefunden, das sie vielleicht mögen
werden. Zum Glück haben sie es dort schon eingepackt."
Er sah sich nach der Oma in der Küche um und beugte sich dann mit einem
versteckten Grinsen zu Nathan runter, um ihm vertraulich ins Ohr zu flüstern
"Ein kleines Räuchermännchen. Chris meinte, dass ihr altes zerbrochen ist."
Er richtete sich wieder auf. "Ich werde mal meine Eltern anrufen gehen. Bis
nachher."
"Bis nachher." Nathan lächelte in sich hinein und genoss den Nachhall des
Prickelns, das Tores Mund direkt neben seinem Ohr und die leise Stimme
hervorgerufen hatten. Es war fast wie ein Vorgeschmack gewesen, wie es
klingen könnte, wenn er ihm anderes sagte.
/Idiot/, dachte er belustigt und schickte Dunja mit einem Klaps weg, ehe er
aufstand. /Aber wenn er jetzt nicht von Räuchermännchen erzählt hätte, seine
Stimme vielleicht noch ein klein wenig atemlos.../
Abrupt nahm das Kribbeln in ihm zu und brachte ihn dazu, in die Richtung zu
sehen, in der Tore verschwunden war. /Warum stehe ich auf ihn? Das ist
absurd. Ein Kumpel von Chris, gepierct, zu dünn. Und mit Abstand die
schönsten, grauen Augen, die ich je gesehen habe. Plus ein wirklich süß
schmolliger Mund, von dem ich zu gerne wüsste, wie er schmeckt./
Leider nahm Christian den anderen Mann viel zu sehr in Beschlag, so dass
Nathan nach dem Mittagsessen allein mit Dunja loszog. Als er endlich nach
zwei Stunden wieder zurückkehrte, sich wesentlich besser fühlend, waren sein
Bruder und Tore oben im Zimmer, um über ein Projekt zu sprechen, während
sein Opa im Sessel einen etwas verspäteten Mittagsschlaf hielt. Bis zum
Abend bekam er ihn auch nicht wieder zu Gesicht, was ihn nicht
unbeträchtlich störte, auch wenn er es verbarg und sich verstärkt dem Keller
widmete.
Tore reichte es gerade und er wollte schon aufspringen, als Chris ihn
erlöste und ankündigte, dass sie nun rodeln gehen würden. Es war noch früher
Nachmittag, aber mehr als zwei oder drei der Touren würden sie kaum
schaffen. Leider kam dann auch noch Nebel auf, und sie schafften nur eine
Abfahrt, waren durchgefroren, und Tore wurde im Verlauf des Nachmittags
immer hibbeliger.
Dankbar kletterte er deswegen nach einem ausgefeilten Styling und längerem
Überlegen der Kleidung in den blauen Kombi, um mit Chris und Nat zu der
Dorfdisco zu fahren. /Hoffentlich lassen sie die Leute da tanzen. Ich muss
mich dringend austoben./ Er betrachtete Nathan, und ihm gefiel immer mehr,
was er sah. Statt der üblichen weiten Hosen trug der andere Mann eine weiße,
enge Jeans, die seinen Hintern betonte, dazu ein grünes Hemd, das die Farbe
seiner Augen leuchtender werden ließ. Sein Haar war jedoch zerzaust wie
immer, mit einfacher Bürste ließ es sich offensichtlich nicht in Form
bringen.
Tore selber hatte seine Haare nach der dritten Dusche an dem Tag nur mit Gel
zerstrubbelt. Dafür hatte er sich mit den Klamotten Mühe gegeben. Nach einem
längeren Hin- und Herlaufen vor dem Kleiderschrank entschied er sich, seine
enge, schwarze Hose und ein dazu passendes schwarzes Shirt mit grellem
Aufdruck und Netzteilen anstelle der Ärmel anzuziehen. Darüber trug er noch
einen orangefarbenen Pullover, aber den gedachte er bei gegebener
Gelegenheit aufzugeben.
Nervös drehte er den breiten Silberring an seinem Daumen, weil er sich
fühlte, als würde ein Überdruckventil in ihm demnächst aufgeben und er
Nathan anfallen müsste. Die Spannung zwischen ihnen war seit dem letzten
Treffen über das leichte Flirten hinaus geraten. /Selber Schuld, Tore. Aber
er geht drauf ein, spielt mit. Ob er die richtige Wahl wäre?/
Zuerst holten sie jedoch Freunde von Nathan und Chris bei deren Eltern ab.
Man musste in das Wohnzimmer gehen, mit den Eltern reden, mit den Freunden
von alten Zeiten schwärmen, und es gab schon bei beiden Besuchen die ersten
zwei Bier. Tore setzte sich extra weit von Nathan entfernt, zu Chris, um die
Zugehörigkeiten einfacher zu gestalten.
Zudem gab es ihm mehr Gelegenheit, damit zu beginnen, sich nach der Nähe und
dem Geruch von Nathan zu sehnen. Er stellte fest, dass es ein Fehler gewesen
war, sich so dicht zu ihm herabzubeugen. Nathan hatte so lecker gerochen,
sein Nacken war so dicht gewesen, hatte viel zu sehr dazu verführt, schnell
einmal zu probieren, ob der Geschmack ebenso lecker war.
Zu seinem Glück brachen sie recht bald auf und fuhren die knapp zehn
Kilometer in die kleine Diskothek im Nachbardorf. Es stellte sich als eine
Aprés-Ski-Kneipe heraus, in der auch reichlich Urlauber schon ordentlich
betrunken feierten. In einem Raum wurden Schunkellieder für ältere Gäste
gespielt, im größeren Nebenraum sorgte jedoch ein Diskjockey für ordentliche
Musik zum Abreagieren.
Tore verabschiedete sich von seinem Pullover, den er auf einer Ablage über
einer Box deponierte und stürzte sich in die Menge, während Nathan und Chris
sich noch mit ihren Freunden an die Bar begaben. Er brauchte nicht lange, um
sich ausgetobt zu haben. Einige Lieder und ein paar riskantere Bewegungen
später hatte er ein wenig mehr Platz gewonnen und seinen Kopf frei bekommen.
Frei von den Sorgen und dem Ärger um seine Eltern, frei von seinen Gedanken
und Wünschen Nathan betreffend. /Wenn ich nichts erwarte, dann kann er mich
nicht enttäuschen./
Als Tore sich das erste Mal bereits so weit von ihm weggesetzt hatte, als
sie ihre Freunde abgeholt hatten, verabschiedete sich Nathan von dem
Wunschtraum, ihm etwas näher zu kommen. Bei den nächsten wurde das noch
verstärkt, als sich das Spiel wiederholte. /Als ob er mir ausweichen würde.
Hat er es über bekommen? Will er doch nichts? Hat er sich umentschieden?
Oder ist er einfach nur... hm... schüchterner, als man es denken mag?/
Dankbar ließ Nathan sich von den anderen ablenken, als sie erst einmal an
die Bar gingen, auch wenn er Tore noch einen Blick hinterher warf. Ganz in
schwarz mit den Netzärmeln und der engen Hose sah er einfach nur sexy aus,
und Nathan hatte mit einem Mal das intensive Bedürfnis, ihm zu folgen, ihn
in den Arm zu ziehen und Besitzansprüche geltend zu machen, als er die
ersten Mädels sah, die Tore mit den Blicken folgten.
/Hör auf, Dummkopf. Entweder ist ihm das egal, oder du bist ihm egal. Beides
läuft auf eine endgültige Entscheidung hinaus./
Die nächste halbe Stunde gelang es ihm wirklich, nicht mehr an ihn zu
denken, während er in Gespräche verwickelt wurde und zwei Einladungen auf
ein Bier ablehnte, um sich an seiner Cola festzuhalten. Wenn er fuhr, trank
er grundsätzlich nicht. Doch dann zogen sich auch Christian und sein Kumpel
auf die Tanzfläche zurück und der andere mit seiner Freundin in eine
ruhigere Ecke. Nathan überlegte, ob er auch tanzen wollte, doch stattdessen
bestellte er ein Bier, und als dieses kam, ging er auf die Suche nach Tore.
Er entdeckte ihn noch immer auf der Tanzfläche, mittlerweile schwitzend und
dadurch unergründlicher Weise noch wesentlich attraktiver. Nathan konnte
nicht anders, als ihn erst einmal zu beobachten, ehe er sich kurz vor Ende
eines Songs zu ihm drängte.
"Bier? Ich dachte, du müsstest mittlerweile Durst haben."
Tore erfasste mit einem kleinen Blick in die Runde, dass es sich nur um
Nathan handelte und grinste ihn an, während er sein Hemd hochzog, um sich
einmal schnell über das Gesicht zu tupfen. Rasch ließ er seinen Hemdsaum
wieder fallen, weil diese beiden Mädchen, die ihn schon eine ganze Weile
angetanzt hatten, sich kichernd dichter in seine Nähe drängten.
"Danke, das wäre mein nächstes Ziel gewesen." Er warf einen Blick seitwärts
auf die Mädchen, dann lehnte er sich an Nathan heran und fragte ihn gegen
die nun einsetzende Musik ins Ohr "Wollen wir vielleicht weiter nach vorn
gehen? Ist so laut hier."
Nathan spürte, wie Tores Nähe ihm erneut einen angenehmen Stich durch die
Magengrube sandte. Wieder hatte er das Bedürfnis, den anderen Mann an sich
zu ziehen, um ihn zu küssen oder ihn auch einfach nur zu halten, über seinen
Rücken zu streicheln, seine Gegenwart zu spüren. "Ja, gerne", antwortete er
stattdessen, froh über das Colaglas, das seine Hände beschäftigte.
Der Barbereich war mit orangefarbene Lampen recht dämmrig erleuchtet. Tore
ging voran und schnorrte sich im Vorbeigehen eine Zigarette. Er rauchte
eigentlich nur zum Alkohol, nun wollte er zusätzlich noch gern etwas in den
Fingern haben. Aber er ließ sich noch kein Feuer geben, weil er erst
abchecken wollte, ob Nathan ihn vielleicht doch attraktiv genug für eine
kleine Knutscherei finden konnte.
Zwei Plätze in einer Ecke wurden frei, und Tore hechtete sich darauf. Sie
mussten sich dicht gegenüber sitzen, ihre Knie berührten sich schon fast,
aber das fand er noch aufregender. Die Wärme und die pure Präsenz des
anderen Körpers, das Gefühl, das seine Blicke in ihm erzeugten, dieses
Prickeln zwischen ihnen.
Wieder steigerte es sich schon fast unerträglich, Tore war wieder kurz
davor, alle Konventionen zu vergessen, alle Leute, die umherstanden, Chris,
alle anderen, die Nathan schon lange kannte, und ihn an sich zu drücken und
zu küssen. Stattdessen spielte er mit der Zigarette und trank einen großen
Schluck Bier. "Stört es dich?" Fragend hob er die Zigarette hoch.
Nathan seufzte unhörbar und fügte auf seiner Minusliste einen weiteren Punkt
hinzu, nur um festzustellen, dass es bei Tore überhaupt nicht ins Gewicht
fiel. Piercings, zu dünn, Raucher. Alles störte nicht. /Ich will keinen
Aschenbecher küssen. Aber irgendwie.../ Für einen Moment ignorierend, wo er
war, rutschte er ein wenig nach vorne, bis er sein Knie gegen Tores schieben
konnte und es leicht gegen ihn drückte. "Wenn dein Seelenheil davon
abhängt", antwortete er nur und sah ihm direkt in die Augen, bedauernd, dass
er selber kein Feuerzeug dabei hatte.
Kap. 6
Tore lachte auf und hüpfte ein wenig. Zum einen von Nathan fort, um ihn zum
Losgehen zu bringen, zum anderen, um selber ein wenig wärmer zu werden. "Das
klingt so nach Klischee!", rief er begeistert. Er seufzte und sah in den
Himmel, aus dem nun die Flocken immer dichter auf sie niederfielen.
Endlich begann er, sinnvoll zu denken. Nicht unbedingt, um die Dinge
einfacher zu machen, aber es half dennoch, seine Erregtheit zu bekämpfen,
von der er nicht wollte, dass Chris sie gleich bemerkte. "Wo wohnst du
eigentlich?"
Gedankenlos antwortete Nathan, während er überlegte, dass er es trotz
Klischee, trotz seinem eigenartigen Gefühl dabei wirklich und wahrhaftig in
Betracht zog, zu Tore zu kommen, wenn alle anderen im Bett lagen. /Was eine
Idiotie... und lohnt es sich überhaupt? Ist es für ihn denn etwas ernsteres?
Ich will nicht einfach nur einen Ferienflirt, der vorbei ist, noch ehe man
sich richtig verabschiedet hat./
Als er zu dem Energiebündel neben sich hinsah, wurde ihm bewusst, dass er zu
viel empfand dafür. Und es half auch nicht, sich vorzurechnen, dass sie sich
erst ein paar Tage kannten. "Du wohnst bei Chris in der Nähe, oder? Das sind
in etwa zwei Stunden mit dem Auto."
Tore nickte leicht. "Mit dem Auto... hab ja keins. Meine Wohnung ist zwar
schön gelegen und schön groß, aber dafür auch ziemlich teuer. Da bleibt nix
für eine eigene Karre über." Er warf der zuvor vernachlässigten Dunja einen
Ast und murmelte "Wollte nur so wissen, ob du nach dem Fest gleich abhaust
oder... so."
Unsicher begannen seine Gedanken sich zu drehen. /Was soll der Quatsch? Wir
haben einmal geknutscht, er wird dich auch gerade zum Silvesterfest
einladen, damit er sich dann mit deinen Problemen rumärgern kann, anstelle
schön mit 'ner Sahneschnitte aus dem nächsten Club zu vögeln./ Verärgert
schob er seine Hände in die Jackentasche, nachdem er den Ast besonders weit
geschleudert hatte.
Überrascht sah Nathan, wie Tores Gesicht sich verdunkelte, wie die weichen
Lippen fester zusammengepresst wurden. /Habe ich etwas falsches gesagt, als
ich die Fahrtstrecke angesprochen habe? Ist das seine Art, mir zu sagen,
dass er mehr als einen Flirt nicht in Betracht zieht?/ Er vergrub das Kinn
in seinem Schal und wandte den Blick von Tore, um auf den verschneiten Weg
zu starren, auf dem selbst ihre Spuren schon fast wieder verschwunden waren.
"Ich wollte noch ein paar Tage bleiben. Mal sehen. Silvester bin ich wieder
zu Hause."
Als ihnen an der nächsten Kurve mehrere Jungs entgegen kamen, war Nathan
froh, dass er Tore nicht mehr im Arm hielt. Im Moment konnte er gut auf
Spott und Gerüchte verzichten; das musste nun wirklich nicht am Heiligen
Abend sein. Doch irgendwie war die Stimmung abgekühlt, und sie sprachen
nicht mehr, bis sie das Haus erreichten.
Unsicher sah Tore Nathan ab und zu von der Seite her an. /Mist. War es das
jetzt? Nur weil ich nachfrage? Shit. Toll. Aber dann wäre er ja perfekt.
Einmal und nie wieder. Eigentlich... aber er ist Chris' Bruder... Shit!/
Chris kam ihnen schon aus dem Wohnzimmer entgegen. Er schien seinen Kater
überwunden zu haben und nahm Tore mit seinem Projektordner in Beschlag, den
er durchgesehen haben wollte. Missmutig aß Tore mit der Familie zu Mittag
und fragte sich wieder und wieder, was jetzt los war. /Er ist so... nicht
mein Typ, aber trotzdem, irgendwie, hat es so dermaßen gefunkt eben. Hab ich
mir das eingebildet, oder was?/
Um endlich Klarheit zu bekommen, kündigte er an "Ich werde mein Buch noch
ein wenig weiterlesen. Die Messe ist ja erst um fünf", nachdem Chris sich
zum obligatorischen Telefonieren mit Lydia verabschiedet hatte. Schnell lief
er die Treppen rauf und warf sich auf das Bett.
Nathan gelang es, ihm nicht mit den Blicken zu folgen, als er das Zimmer
verließ. Es gelang ihm ebenfalls, ihm nicht sofort hinterher zu gehen, auch
wenn er nichts sehnlicher wünschte. /Ich kann ihn doch nicht regelrecht
verfolgen, sobald er mal allein ist. Das will er vielleicht gar nicht. Oder
will er genau das? Scheiße. Er war so still. Hat mich beim Essen und danach
nicht wirklich angesehen./
Während er in der Fernsehzeitung blätterte und seinen Blick über zahllose
Märchenfilme schweifen ließ, die er als Kind so gerne gesehen hatte, dachte
er an den Kuss im Wald. An die Küsse. Er schloss die Augen und lehnte sich
im Sessel zurück, um das Kribbeln noch einmal zu genießen, Tores Geschmack
wieder auf der Zunge zu haben, die Wärme seiner Haut, die er unter den
Fingerspitzen gefühlt hatte. /Gott, es war so... gut... so richtig. So
perfekt. Das kann doch nicht sein, dass es für ihn nicht mehr war als
einfach nur irgendein Kuss. Tore war so leidenschaftlich! So...
unbeschreiblich.../
Ehe er darüber nachdenken konnte, hatte er die Zeitschrift auf den kleinen
Beistelltisch geworfen, war aufgestanden und hatte das Wohnzimmer verlassen,
um nach oben zu gehen. Vor Tores Zimmer zögerte er wieder. /Vielleicht komme
ich ihm besitzergreifend vor?/ Doch dann klopfte er an und trat nach einem
Moment ein, schloss die Tür hinter sich.
Der andere Mann lag auf dem Bett, das Buch auf dem Bauch, jedoch
unaufgeschlagen. Als der Blick der großen, grauen Augen ihn traf und Wärme
in ihm auslöste, schüttelte Nathan innerlich den Kopf. /Nein, auf keinen
Fall nur irgendein Kuss.../
Er setzte sich zu ihm auf die Matratze, während er von der Stärke des
Bedürfnisses, den anderen Mann einfach an sich zu ziehen und ihn in einen
neuen, leidenschaftlichen Kuss zu verwickeln, überrascht wurde. /Das geht
nicht. Chris würde einfach so reinplatzen, wenn er etwas will, weil er nicht
damit rechnet, stören zu können./ Stattdessen zog er ein Bein an und schlang
die Arme darum, ohne aber den Blick von Tore abzuwenden. "Wir sind vorhin im
Wald nicht wirklich zum Reden gekommen... und irgendwie scheint es mir, als
hätte es dann ein Missverständnis gegeben."
Tore legte das Buch fort und setzte sich ebenfalls auf; Nathan gegenüber
ruckelte er sich auf der dicken Decke in den Schneidersitz zurecht. Dann
senkte er den Kopf leicht und murmelte "Das Missverständnis war, dass ich
weiß, dass es ein Problem geben wird und du nicht." Er sah Nathan nicht ins
Gesicht, sondern starrte auf dessen Finger, sehnte sich mit trügerischer
Sicherheit nach ihnen. "Mich."
"Dich...?" Von einem Moment auf den anderen spürte Nathan unangenehme,
ängstliche Kälte in sich empor kriechen. /Er will doch nicht mehr als einen
Flirt. Oder er hat einen Freund. Oder er ist nicht schwul, sondern bi und
will nur eine Affäre. Oder.../ Ihm fielen tausend Dinge ein, die alles nicht
das waren, was er sich so sehnlichst wünschte.
Eine Weile lang versuchte Tore die richtigen Worten zu finden, dann erzählte
er schlicht die Version, die er auch all den Therapeuten berichtet hatte und
den Hypnotiseuren und den Heilpraktikern. "Ich war ein Unfall, auf einem
Musikfestival. Meine Mutter war mit einer ganzen Gruppe dort, sie haben das
Wochenende über gezeltet, getrunken und geraucht. Wieder daheim stellte sie
fest, dass sie schwanger ist. Wusste nicht so genau von wem, aber hat es
dann meinem Vater angehängt, der zu der Zeit ihr Freund war."
Er bemerkte Nathans verständnislosen Blick und sprach hastig weiter. "Mein
Vater ist dunkelhaarig, ein dunkler Hauttyp zudem. Meine Mutter hat eher
dunkelblonde Haare und ich... blond. Als Kind weißblond. Als ich zwei war,
hat mein Vater mich nach einem Streit genommen und zu Freunden von ihr
gebracht. Jorge, Claus und Max, die auch auf dem Festival waren. Die waren
alle blond, und in seinen Augen ist einer von denen der Vater."
Tore lachte auf. "Der Hohn. Sie sind alle schwul und lebten zu der Zeit in
einer wilden Kommune zusammen." Nathans Blick auf sein Gesicht wurde nicht
wesentlich verständnisvoller, deswegen seufzte Tore und entschuldigte sich
leise. "Der Punkt ist, ich hab einige Monate bei ihnen gelebt, während meine
Eltern einem Egotrip gefolgt sind. Als meine Mutter mit einem Mal ihre
mütterlichen Gefühle zurückentdeckte und mich dort abholte, war ich...
komisch, anders."
Er spielte unsicher mit den violetten Stirnfransen vom Stofftroll. /Gleich
geht er sicherlich weg und dann? Zurück zu Plan A. Betrinken, bis alles taub
wird und es tun./ Dann hob er den Blick und sah Nathan in die Augen. Sein
Herz machte einen kleinen Satz, und er wünschte sich so sehr, den anderen
Mann wieder zu küssen, seine Finger auf sich zu spüren, sein Begehren...
Vielleicht sogar mehr als das, vielleicht sogar ein Gefühl, das länger
halten konnte.
"Ich lasse mich nicht anfassen, nicht sehr lange jedenfalls. Streicheln und
Umarmen geht mittlerweile, Küssen, aber sobald ich... nackt bin und es
weiter geht, wird mir kalt. Es ist schon weitaus besser geworden als damals,
als ich nicht mal berührt werden wollte. Es ist so... kompliziert, weil ich
es will und zugleich Angst davon bekomme, von der niemand weiß, woher sie
kommt. Die Schwulen nicht, sie schwören, dass keiner mich angefasst hat,
meine Eltern nicht, die Therapeuten nicht und ich... erst recht nicht."
Tore schloss die Augen und ließ sich einfach fallen, den Troll fest in der
einen Hand. "Tut mir leid, dass ich das zu spät gesagt habe."
Nathan sah auf ihn hinab, während das Bedürfnis, den anderen zu berühren,
übermächtig wurde. So hilflos erschien er ihm mit einem Mal, so unendlich
klein und verletzlich, wie er sich an das bunte Stofftier klammerte, dass er
ihn nur halten wollte, um ihm zu versichern, dass alles gut werden würde. In
dem Moment wurde es egal, ob seine Großeltern oder Christian hereinkommen
würden und dass Weihnachten war.
Er ließ sich neben Tore sinken, streichelte sanft über seine Schultern,
Oberarme und den Rücken, ehe er die Hand auf seiner Taille liegen ließ. "Zu
spät? Es ist nicht zu spät. Wann hättest du es sonst sagen sollen? Hallo,
ich bin Tore, und übrigens gibt es da etwas...?" Mit der anderen Hand begann
er, Tores Haare zu kraulen, während er versuchte, Worte zu finden. "Ich...
Weißt du, es ist nicht so, dass ich einfach... dass... Ich will nicht
einfach nur mit dir ins Bett, Tore. Ich will nicht einmal nur einen
Ferienflirt. Nicht bei dir. Und wenn es nicht ausgerechnet das ist, was du
willst, nur einen Flirt, dann können wir den Rest auch mit dem Tempo
angehen, das du vorgibst."
Tore blinzelte und fragte sich, ob es an ihm lag oder ob Nathan da wirklich
genau das Gegenteil von dem tat, was er erwartet hatte. Langsam drehte er
sich in seinem Arm um, ließ den Troll unbeachtet hinter sich liegen. Mit
Blicken suchte er das freundliche, runde Gesicht vor ihm ab, nach einem
Hinweis darauf, dass Nathan dies nicht ernst meinte oder dass er wie einige
zuvor den Verständnisvollen machte, um Tore rumzukriegen.
Doch Nathans Gesichtsausdruck zeigte Erleichterung und auch sehr deutlich,
dass der junge Mann ihn gern hatte, mehr als gern. Tore erwiderte das kleine
Lächeln zaghaft, dann sagte er heiser "Ich hab es schon langsam versucht, in
meinem Tempo sozusagen. Das ist echt schief gegangen, mehr als einmal,
weswegen ich es zu Weihnachten oder Silvester nun schnell versuchen wollte.
Schocktherapie sozusagen. Wie man Leute mit Höhenangst auf einen Turm
verfrachtet."
Er schob seine Finger nervös unter Nathans Hemdkragen und spielte mit den
feinen Härchen an seinem Nacken, während er erneut in seinen Augen nach
einer Antwort suchte. "Und... für diese Schocktherapie kamst du mir so
ungeeignet vor, weil ich dich..." Er legte den Kopf ein wenig schief und
schlug dann den Blick auf Nathans Brust nieder. "Dazu hab ich dich zu gern."
Die zärtlichen Finger und die Worte ließen Nathan einen warmen Schauer den
Rücken hinablaufen, der seinen Magen zum Tanzen zu bringen schien. Mit halb
geschlossenen Augen betrachtete er den anderen Mann, während er die
Berührung schon viel zu sehr genoss. "Ich habe dich auch gern. Sehr gern.
Und egal, wie und wann du es willst, ich richte mich nach dir."
Er zog ihn an sich und suchte vorsichtig seinen Mund, um ihn zu küssen. Mit
der Zungenspitze fuhr er forschend die weichen Lippen nach, folgte der
Linie, an der sie sich trafen, um Einlass bittend. Tore schmeckte
wundervoll, und Nathan begann, sich nach mehr Nähe zu sehnen. /Egal. Nicht
jetzt und nicht hier, und erst, wenn er es will./ Allein, ihn ohne die
dicken Jacken zu halten, war schön.
Lächelnd erwiderte Tore den Kuss, aber versank nicht, gab nicht gegen seinen
Körper auf, sondern ließ Nathan los, als er vom Flur her Stimmen hörte.
"Chris kommt gleich ins Zimmer, denke ich." Er warf einen Blick auf seine
Armbanduhr und entzog sich Nathan nach einem weiteren Kuss auf die Wange.
"Es wird auch Zeit, für das Schönmachen und so weiter." Noch ein leichtes
Streicheln über Nathans Taille auf seinen Hintern, dann verteilte Tore sich
vom Bett rollend einen Klaps darauf.
"Nicht, dass du es nötig hättest", endete er dann und grinste, während er
sich ohne Scheu das T-Shirt und den Pullover zusammen über den Kopf zog.
Nathan lachte leise und gönnte sich einen Blick auf den nackten, sehnigen
Oberkörper, den er in exakt diesem Moment gerne angefasst hätte, doch so
wandte er sich nur von ihm ab, um in sein eigenes Zimmer zu gehen und sich
umzuziehen. In dem Augenblick, als er nach der Klinke griff, wurde die Tür
geöffnet.
Es war Christian, der zusammenzuckte, als er ihm so unerwartet entgegen kam,
sich aber schnell wieder fasste. "Ich wollte nur sagen, dass wir gleich
losmüssen und dass ihr euch fertig machen solltet. Aber ihr habt ja
offensichtlich selber daran gedacht."
Nathan grinste und nickte dann, während er sich an seinem Bruder vorbei
schob. "Sicher." Während er sich in seinen Anzug warf, dachte er daran, wie
Tore ihn angesehen hatte, dort auf dem Bett. Als würde er wirklich erwarten,
dass Nathan ihn weniger mögen würde, nur, weil er vielleicht nicht sofort
mit ihm schlafen konnte. Innerlich schüttelte er den Kopf, als er versuchte,
seine Haare mit Wasser in Form zu bringen. Als ob das ein Grund wäre. Das
war höchstens etwas, das in Nathan noch viel mehr den Wunsch hervorrief, ihn
zu halten, zu lieben und zu beschützen.
Tore hatte Chris' Blick mit einem Grinsen und der Erklärung "Es ging um ein
Weihnachtsgeschenk", beantwortet. Er zog sich rasch die schwarze, enge Hose
vom Vortag und ein weißes Oberhemd über, dazu ausnahmsweise einmal keine
Turnschuhe. Dann stellte er das Räuchermännchen für die Großeltern unter den
Baum zu den Geschenken dazu und das Buch, das er für Chris gekauft hatte.
In dem Moment, während die anderen schon draußen auf dem Flur ihre Mäntel
anzogen und Kleingeld für die Kollekte zurecht legten, fiel ihm auf, dass er
Nathan nicht bedacht hatte, nicht würde extra bedenken können, ohne
aufzufallen. Er hatte im Dorf tatsächlich ein kleines Geschenk gekauft, aber
es handelte sich nur um einige besondere Schokoladensorten, eher als
Dankeschön für das Mitnehmen im Auto denn als Weihnachtsgeschenk gedacht.
Als sie später in der Kirche saßen, folgte Nathan der Predigt und dem
Krippenspiel weniger aufmerksam als sonst. Immer wieder wanderte sein Blick
zu Tore hin, der in seiner schickeren Kleidung noch besser als in seinem
normalen Schlabberlook aussah. Doch weder wagte er es, ihn zu lange zu
beobachten, noch ihn zu berühren, auch wenn ihm danach war, seine Hand zu
nehmen. Während die Engel an der Krippe ihr Lied sangen, stellte Nathan
fest, dass er kein Geschenk für seinen neuen Freund hatte und nahm sich vor,
das definitiv nachzuholen.
Während Tore mechanisch die Lieder mitleierte und die Predigt an sich
vorbeirauschen ließ, zerbrach er sich den Kopf, wie er Nathan beschenken
könnte, aber ihm fiel nichts ein. Davon ein wenig verärgert, sowie von dem
Stillsitzen genervt, schaffte er es nur mit Mühe, am Esstisch vor dem im
Lichterglanz prachtvoll schimmernden Baum zu lächeln, als sie endlich wieder
zu Hause waren.
Immer wieder sah Nathan über Bratenplatten und Soßenschüsseln zu Tore hin;
er konnte einfach nicht anders. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als
er feststellte, dass der Platz, den er und Tore zugewiesen bekommen hatten,
gegenüber voneinander, nicht der schlechteste war. Er ließ seine Serviette
fallen und visierte, als er sie unter dem Tisch aufhob, Tores Beine an.
Scheinbar interessiert mischte er sich dann wieder in die Unterhaltung ein
und lobte den Braten, den seine Oma zubereitet hatte, während er einen
Hausschuh vom Fuß streifte, nach Tores Bein tastete und ihn über den Fuß und
unter der Hose über das Schienbein streichelte.
Tore verschluckte sich ein wenig an dem Schokoladenpudding mit Schuss, den
er gerade mit Genuss in sich hineingeschaufelt hatte. Dann warf er einen
kleinen Blick zu Nathan rüber und begann, das Essen mit einem Mal weitaus
interessanter zu finden. Immer wieder streiften sich ihre Blicke, während um
sie herum über Weihnachtsbräuche diskutiert wurde und die Großeltern sich zu
erinnern meinten, dass der Pfarrer dieselbe Predigt doch schon im Jahr zuvor
gehalten hatte.
Als sie mit vereinten Kräften den Tisch abräumten, um Platz zu schaffen für
warmen Punsch und Kekse und natürlich die Geschenke, gelang es Tore sogar,
Nathan leicht auf den Hals zu küssen, als er an ihm vorbei eine Schale vom
Tisch nahm. /Hm. Er riecht so lecker, und er flirtet so süß mit mir. Bin ich
verknallt? Ich muss verschossen sein in ihn, sonst würde ich nicht permanent
so dämlich grinsen./
Die Großeltern holten ihre Geschenke von den Enkeln zum Tisch heran, um dort
im besseren Licht auch die Anhängekärtchen lesen zu können. Gleich bemerkten
sie, dass auch Tore ihnen ein Geschenk machte, und es folgte eine wortreiche
Diskussion darum, ob das denn nötig gewesen wäre. Natürlich nicht, aber Tore
wehrte ihren übermäßigen Dank geschickt ab, während er sich von Chris zum
Dank für die Bücher umarmen ließ.
Chris schenkte ihm von Lydia umwerfend kreativ eingepackte und angenehmen
Duft verströmende Kerzen in drei Gläsern und ein kleines Buch mit Spielideen
für Jugendgruppen. Noch einmal umarmten Chris und er sich lachend.
Schüchtern sah er zu Nathan hin, der auf dem Sofa saß und hockte sich dann
vor ihn, um sich an seinem Knie festhaltend zu murmeln "Es ist nicht das
Geschenk, dass ich eigentlich hätte machen wollen. Ich kannte dich zu wenig
für etwas schöneres."
Nathan musste sich zusammenreißen, um sich nicht vorzubeugen und Tore
einfach auf den Mund zu küssen, als die grauen Augen ihn fast scheu ansahen,
während die Berührung ein warmes Kribbeln in ihm hervorrief. /Wenn ich ihn
wenigstens streicheln dürfte.../ Stattdessen schenkte er ihm ein Lächeln und
einen Blick, von dem er hoffte, dass er nur Tore sagte, was er empfand.
"Danke. Das ist mehr, als ich für dich habe. Das tut mir leid."
Obwohl er im Allgemeinen Papier eher rücksichtslos aufriss, nahm er sich
dieses Mal die Zeit, die Klebstreifen zu entfernen und es sorgfältig zu
entfalten. Es waren einige Tafeln Schokolade, und Nathan musste grinsen.
"Hm, aber trotzdem gut getroffen. Ich nasche hin und wieder erschreckend
gerne."
Er nutzte die günstige Gelegenheit, um Tore seinerseits kurz zu umarmen und
ihm ins Ohr zu flüstern "Das größte Geschenk bist ohnehin du."
Tore errötete ein wenig und drückte ihn als Antwort einmal schnell fester.
Dann zog er sich seinerseits auf das Sofa zurück, während die Jungs von der
Oma gestrickte Socken und Handschuhe anprobieren mussten und sich
gegenseitig ebenso noch beschenkten.
Die Geschenke von den Eltern wurden ausgepackt. Tore hatte neben einigen
grauenhaften Büchern von seiner Mutter und noch schlimmeren T-Shirts von der
Freundin seines Vaters zum Glück reichlich Geld geschenkt bekommen. Nachdem
die Eltern sich im schlechten Gewissen aalten, weil sie jeder annahmen, dass
Tore sich gegen sie entschieden hatte wegen der Neuerungen in ihrer Familie,
war die Summe deutlich aufgestockt worden.
Um der Familie mal ein wenig Luft zu lassen und um Abstand von Nathan zu
bekommen, den er sonst sicherlich noch deutlicher begann mit Blicken und
zufälligen Berührungen zu verfolgen, entschuldigte Tore sich, um seine
Eltern anzurufen.
Es lief nicht gut, seine Eltern wussten bereits, dass er sich nicht nur
gegen einen von ihnen, sondern gegen sie beide entschieden hatte. Es gab den
weihnachtstypischen Familienkrach in drei Akten. Erst Tore gegen seine
Mutter, dann seine Mutter gegen seinen Vater, dann der Vater gegen Tore. Zum
Schluss legte Tore auf, nachdem er ihnen mitgeteilt hatte, dass er vor
Ostern auch nicht mehr anrufen würde, wenn es so weiterging.
Er war zu wütend zum Essen und Feiern und vor allem zum Stillsitzen.
Stattdessen zog er seine dicken Turnschuhe wieder an, nahm seine Jacke und
rief ins Wohnzimmer, dass er mal ein wenig frische Luft bräuchte. Rasch
verließ er das Haus und beachtete auch nicht die freudig wedelnde Dunja. Er
ging über die Auffahrt zur Straße und kickte einige Eisklumpen auf die
gegenüberliegende Seite.
/Blöde Eltern. Blödes Fest. Aber Nathan.../ Er sah einmal kurz zurück und
lächelte leicht. /Das ist es doch wieder wert, dass man feiert. Ich bin ein
Geschenk, sagt er... Aber er weiß nicht wie schwierig, aussichtslos, wie
kompliziert das wird. Er denkt wie all die anderen, dass es leicht ist, dass
es nur ein wenig Zureden brauchen wird./
Tore ging aus dem Sichtfeld des Hauses und formte mit bloßen Händen einen
Schneeball, den er dann über die Gartenmauer der Nachbarn kugelte, bis eine
dicke, unförmige Rolle entstanden war. Grinsend stellte er die Rolle auf
einen Pfosten auf. /Wie aber machen wir das? Ich will ihn. Diesmal ist es
stärker als sonst. Ich will ihn spüren, so sehr, zu sehr fast schon. Aber
wenn es schief geht und ich schreie, ist das ganze Haus wach. Chris bekommt
einen Schock./
Tore lehnte sich neben dem Pfosten an. /Guten Morgen und fröhliche
Weihnachten, Chris. Ach ja. Folgendes: Ich bin schwul. Ich hab mich
verknallt in deinen kleinen Bruder... Ach ja, der ist auch schwul. Da kann
ich ihn ja schmerzloser mit einem Holzhammer erschlagen, verdammt!/
Nathan hatte aufgehorcht, als er den verärgerten Unterton in Tores Stimme
vernommen hatte, nachdem es kurz zuvor etwas lauter im Flur gewesen war.
Gerne wäre er ihm gefolgt, doch warum auch immer Tore das Haus verlassen
hatte, er wollte bestimmt allein sein. Deswegen nahm Nathan sich zusammen
und blieb, wo er war, um mit Christian seinen Großeltern die Funktionsweise
der teuren Kaffeemaschine zu erklären, die sie ihnen geschenkt hatten und
die auch Cappuccino und Espresso herstellen konnte. Obwohl sie sich diese
gewünscht hatten, war es gar nicht so einfach, es ihnen begreiflich zu
machen, und so vergaß er für eine Weile seine Gedanken um Tore. Als dieser
jedoch nach zwanzig Minuten noch immer nicht wieder gekommen war, begann er,
sich Sorgen zu machen.
/Ob er geklingelt hat und wir ihn überhört haben? Aber nein, dann hätte
Dunja gebellt, und zumindest das ist deutlich. Wenn ihm etwas passiert ist?
Nathan, hör auf, immer so schnell das Schlimmste zu befürchten! Nur, weil du
ihn magst, passiert ihm nicht plötzlich etwas, das ihm nicht passiert wäre,
wenn er dir gleichgültig wäre./ Dennoch stand er auf und streckte sich. "Ich
lasse Dunja noch mal kurz raus und schau bei der Gelegenheit nach, ob Tore
im Schnee versackt ist."
"Danke, Brüderchen."
Als Nathan Christians Miene sah, spürte er einen nervösen Stich.
Offensichtlich war auch sein Bruder der Meinung, dass Tore schon zu lange
weg war. /Hör auf, habe ich gesagt!/, schalt er sich ärgerlich. /Zwanzig
Minuten sind nun wirklich nicht die Welt./
"Bis gleich. Ich werde nicht lange weg sein." Im Flur zog er sich rasch
Stiefel und seine warme Winterjacke an, dann verließ er mit Dunja das Haus.
Die eisige Luft war angenehm nach der stickigen Hitze des Wohnzimmers,
Nathan atmete befreit auf, während seine Hündin schon wieder durch den
Schnee tobte, als hätte sie den Tag über noch keinen Auslauf bekommen. Der
dunkle Himmel war klar, und für einen Moment wünschte Nathan sich, dass er
weit außerhalb wäre, um mehr Sterne sehen zu können.
Dann jedoch schaute er sich wieder besorgt um, konnte Tore aber nicht
entdecken. Nur seine deutlichen Fußspuren führten aus dem Garten fort. Er
folgte ihnen, bis er den anderen Mann nicht allzu weit entfernt fand,
angelehnt an den Zaun der Nachbarn und mit dem Rücken zu ihm.
"Tore?" Er trat zu ihm, schob ihm nach einem kurzen Blick in die Runde die
Arme von hinten um die Taille und zog ihn dann an sich. Um die Uhrzeit war
an Weihnachten hier niemand mehr auf der Straße. Sacht drückte er ihm die
Lippen auf den kühlen Hals. "Alles in Ordnung?"
Tore zuckte leicht zusammen und merkte erst in dem Moment, wie ausgekühlt er
schon war. "Ja, alles okay, ich hab nur ein wenig frische Luft gebraucht."
Er drehte sich zu Nathan um und sah ihn kurz an, dann lächelte er und zog
den Reißverschluss von seinem Parka mit steifen Fingern auf.
"Schaut aus, als müsstest du mich auftauen." Er schob seine Arme unter dem
Parka um Nathans kräftigen Oberkörper herum und lehnte sich gegen ihn, um
aufatmend die Nase gegen den Stoff zu stupsen.
Sacht drückte Nathan ihn an sich und vergrub das Gesicht in Tores dank der
Kirche ungegelten Haaren. Er war erleichtert, dass es ihm gut ging, schämte
sich jedoch ein klein wenig, dass er so beunruhigt war. /Aber Christian war
es ja auch./
Einen Moment lang schwieg Tore noch, dann trat er seufzend einen Schritt
zurück und sagte leise "Ich... bin kein Baby, du musst dir keine Gedanken um
mich machen, Nat." Er küsste ihn einmal schnell und drehte sich dann herum.
"Ich hab mir nur Sorgen gemacht wegen Chris. Irgendwie finde ich es unfair
zu schweigen."
Tore warf einen Seitenblick auf Nathan, der von Dunja umtollt wurde und
musste spontan lachen. "Tut mir leid, tschuldigung. Das ist alles so
schnell, und wir kennen uns erst seit nicht mal drei Tagen, und ich fange
schon so an."
Auch Nathan lachte leise auf. Es machte ihn glücklich, dass Tore so dachte.
Über nur einen Ferienflirt zerbrach man sich nicht den Kopf mit so etwas.
"Erstens hat Christian sich auch gefragt, wo du bleibst, und wenn ich nicht
gegangen wäre, hätte er nach dir geschaut. Da war mir das so doch lieber.
Zumal Dunja wenigstens noch mal kurz raus musste. Für einen Spaziergang, wie
sie ihn sich wünscht, ist mir das jetzt zu spät. Und zum Zweiten..."
Er legte den Kopf in den Nacken und sah zum Sternenhimmel empor, ehe er mit
einem Lächeln zu Tore hin die Hände in den Taschen vergrub. "Ich mag es,
wenn du dir darüber Gedanken machst. Und Chris wird es auf jeden Fall
erfahren. Meine Großeltern auch. Nur nicht heute."
Dann konnte er nicht mehr widerstehen und umarmte ihn, küsste ihn auf die
Wange, den Mundwinkel und die Nase, um ihm dann in die Augen zu sehen. "Ich
könnte dir doch etwas schenken, wenn du es magst. Ich kann gut massieren.
Ich verspreche dir auch, ich fasse dich nicht weiter an als nur, um dich
durchzukneten."
Tore lachte leise auf. "Mit anderen Worten, du willst dich wirklich in Nacht
und Nebel durchs Haus schleichen? Aber 'nein' würde ich sicherlich nicht
sagen." Sie wandten sich schon wieder dem Haus zu und gingen langsam zurück.
Durch das Fenster auf der linken Seite konnte Tore den Baum der Mieter
erkennen. Die Kerzen wurden soeben zum zweiten Mal angezündet;
offensichtlich war auch Besuch da, denn zwei Wagen parkten noch auf der
Straße.
"Ich bin so verdammt froh, dass ich hier bin und nicht bei meiner Mutter in
ihrer Designerwohnung mit ihrem ekeligen Kerl, der mich immer versucht zu
therapieren, oder bei meinem Vater auf Hawaii, das wäre ja noch besser!" Er
warf einen schüchternen Blick zu Nathan hin und wollte ihn gerade fragen,
was er Silvester vorhatte, als Christian in der Tür erschien und ihnen
zuwinkte.
Tore grinste und lief zu ihm hin, warf heimtückisch mit einem Schneeball und
erklärte dann "Ich war ein wenig mies drauf wegen meiner dummen Eltern mal
wieder, kennste ja. Ich wollte euch aber nicht mit meiner Laune anstecken."
Er lachte und klopfte der Hündin auf den Rücken. "Dunja hat mich wieder
aufgemuntert."
Dunja wedelte fröhlich mit dem Schwanz, und Christian lachte. "Das kann sie
gut. Und ich finde es klasse, dass du hier bist. Besser, als dich mit deinen
Eltern rumzuärgern." Er zwinkerte ihm zu und sagte eine ganze Ecke leiser
"Zudem ist es sehr angenehm, mit einem Freund hier zu sein. So lieb sie
sind, sind meine Großeltern doch etwas anstrengend manchmal."
Nachdem Tore sich die Jacke ausgezogen hatte, legte er ihm einen Arm um die
Schulter, um ihn wieder mit ins Wohnzimmer zu nehmen. Nathan, der wie üblich
erst einmal Dunja abgetrocknet hatte, sah ihm mit einem stummen Seufzen
hinterher, ein wenig neidisch darauf, dass Christian es so einfach durfte,
Tore umarmen und drücken, selbst wenn es nur kurz war.
/Dummkopf/, dachte er mit einem leise lächelnden Kopfschütteln. /Das, was du
willst, ist weitaus mehr und gänzlich anderer Art./ Seine Gedanken wanderten
zu dem leicht amüsierten Kommentar Tores zurück, dass er wirklich nachts zu
ihm kommen wollte. Natürlich wollte er. Am liebsten wäre er gar nicht mehr
von der Seite des anderen Mannes gewichen, hätte ihn gerne schon jetzt im
Arm gehalten.
Während Dunja ihm brav die Pfoten anhob, damit er sie von Schnee und Dreck
befreien konnte, driftete er zu dem ab, was Tore ihm am Nachmittag erzählt
hatte. Dass er sich nackt nicht anfassen ließ. Dass Küssen und Umarmen in
Ordnung war, aber alles darüber hinaus... /Und keiner weiß warum. Mach dir
bloß nicht zu viele Gedanken darüber, Nathan. Noch jemand, der Therapien
ausprobiert, kann ihm mit ziemlicher Sicherheit gestohlen bleiben. Aber was
mache ich, wenn es wirklich nicht geht? Ich will ihn jetzt schon so sehr./
Gleichzeitig wusste er jedoch, dass er für diesen Mann mehr als nur Geduld
haben würde.
Erst als Dunja unruhig zu werden begann, stellte er fest, dass er schon viel
zu lange an ihr herumrubbelte. Mit einem schiefen Grinsen und einem
kräftigen Klopfen auf ihre Flanke gab er sie frei. "Tut mir leid, Süße. Ich
war in Gedanken woanders."
Er räumte das alte Handtuch weg und kam dann langsam ins Wohnzimmer
hinterher. Den Rest des Abends bemühte er sich redlich, weder dauernd zu
Tore hinzustarren, noch tausend Gelegenheiten zu suchen, um ihn rein
zufällig berühren zu dürfen. Dafür empfand er die, bei denen es wirklich
nebenbei geschah, als um so wertvoller.
Es war schon weit nach Mitternacht, als die Großeltern sich verabschiedeten
und dann noch einmal sicherlich eine halben Stunde, in der die drei Jungs
bei endgültig niederbrennenden Kerzen ihren letzten Schluck im Glas
aufschoben, während sie sich halbbetrunkenen Unsinn erzählten.
Tore genoss das Zusammensein mit Christian und Nathan, obwohl er den Mann,
in den er sich so unerwartet und heftig verschossen hatte, nicht umkuscheln
und küssen durfte. Nathan und er saßen nebeneinander auf dem Sofa und Chris
auf dem Hocker vom Sessel davor. Dies gab Tore die Gelegenheit, dichter
neben Nathan zu sitzen, weil sie leise reden wollten und sich ein wenig
heimlichtuerisch zusammenrotteten.
Doch es hatte auch den dummen Nebeneffekt, dass er zu denken begann, dass
dies ein guter Moment wäre. Um es Chris zu sagen, um dazu stehen zu können,
ohne Erklärungen, in denen Worte wie ,Damals Weihnachten... wir sind nur
noch nicht dazu gekommen...' /Ja, wann ist es denn richtig? Shit. Er ist
nicht mein Bruder. Es ist nicht meine Entscheidung, sondern seine./
Frustriert nippte er noch einmal an seinem längst kühlen Glühwein. Das gab
den Anstoß. "Ich mach mir noch einen halben Becher heiß, dann schlafe ich
sicherlich heute Nacht wie ein Stein. Nat, du auch? Chrissi ist wohl noch
abstinent nach gestern, gell?"
Er nahm Nathans Becher mit einem kleinen Blick in dessen Augen entgegen und
ging in die Küche hinüber, Dunja folgte ihm, um geräuschvoll aus dem
Wassernapf zu trinken, den Tore ihr rasch noch einmal frisch machte.
Nathan sah ihm kurz hinterher und hatte das dumpfe Gefühl zu wissen, was
Tore damit bezweckte. Doch er würde es nicht an Weihnachten sagen, das hatte
er durchaus ernst gemeint. Er hatte keine Lust darauf, dass es Christian als
verdorbenes Fest in Erinnerung bleiben würde.
Ein schneller Blick in der Runde sagte Tore, dass Nathan diesen Moment nicht
sinnvoll gefunden hatte, und ein Seufzen unterdrückend stellte er die Becher
ab. Sie blieben, nachdem die Kerzen eine nach der anderen verloschen waren,
nicht mehr lange im Wohnzimmer. Christian lüftete den Rauch noch ein wenig
aus, und Nathan ließ Dunja noch einmal in den Garten, damit sie am anderen
Morgen länger aushielt. Somit blieb Tore nur noch, die Becher und Gläser
abzuräumen und sich dann nach einem raschen Zähneputzen in sein Zimmer zu
verabschieden.
Er zog sich seine Hose und das T-Shirt über und knipste dann die
Nachttischlampe an, aber stellte sie auf den Fußboden, was zum Effekt hatte,
dass der braune Lampenschirm aus Holzlamellen nur gedämpftes Licht
verbreitete, das kaum auf das Bett hinauf reichte.
Gespannt setzte er sich am Kopfende auf und wartete, ob Nathan sein Wort
haltend tatsächlich zu ihm schleichen würde. Allein der Gedanke zauberte
einen Wirbel wilder Gefühle in seinen Bauch. Kein einziges ließ die mögliche
Kälte vermuten. /Vielleicht... Das letzte Mal, dass ich es versucht habe,
ist schon ein Jahr her, wäre es nicht toll, wenn es wegen ihm aufhören
würde? Einfach so? Nur, weil ich mich in ihn verschossen habe?/ Und das
hatte er, aber nicht zu knapp. Wie noch nie zuvor wollte er Nathan haben, um
sich haben, ihn spüren, ihn küssen. /Mal sehen, er hat massieren gesagt,
vielleicht, wenn wir uns ranpirschen.../
Nathan war in seine alte Jogginghose und das ausgeleierte T-Shirt
geschlüpft, was er hier zum Schlafen trug, und stand zähneputzend vor dem
Badezimmerspiegel. Er starrte sich in die grünen Augen und fragte sich, ob
er wirklich so zu Tore gehen wollte. Doch immerhin wollte er nicht mehr, als
ihn zu massieren. /Von wegen. Ich will viel mehr./ Das glucksende Grinsen
fiel dank der Zahnbürste sehr schräg aus, was ihn noch mehr zum Lachen
brachte und ihn Mühe kostete, um sich nicht zu verschlucken.
Während er sich den Mund ausspülte, gab er sich das feste Versprechen,
dennoch brav zu bleiben. Zwar würde er kaum verhindern können, dass er Tore
begehrte, und vermutlich würde man ihm das auch ansehen, doch das hieß noch
lange nicht, dass er über ihn herfallen musste. Nach einem letzten Blick in
den Spiegel und einem vergeblichen Versuch, seine zerzausten, blonden Haare
mit etwas Wasser zu bändigen, nahm er das Körperöl mit in sein Zimmer und
überließ Christian das Bad.
Auf seinem Bett sitzend lauschte er auf die Geräusche, die sein Bruder
machte, hörte seine Schritte und schließlich das Klappen der Tür. /Wie lange
braucht er, um einzuschlafen? Verdammt, ist das nicht egal? Ich will ihn
massieren. He, Nathan, massieren! Das gibt keine verräterischen Laute./
Dennoch wartete er nahezu eine Viertelstunde, ehe er aufstand, um zu Tore zu
gehen. Er konnte nicht verhindern, dass er breit grinste und sich wie ein
Teenager vorkam. Heimlich durch das nächtliche Haus schleichen, um seinen
Freund zu treffen, war in seinen Augen nicht besonders erwachsen. Nur kurz
klopfte er an, um dann direkt einzutreten und die Tür hinter sich wieder zu
schließen.
Ein warmes Kribbeln breitete sich in seinem Magen aus und flutete von dort
durch seinen Körper, als er den schlanken Mann auf dem Bett sitzen sah,
neben dem unsäglichen, bunten Stofftier, während Tore mit diesen
atemberaubenden, grauen Augen in einer Mischung aus Erwartung, Freude und
Belustigung seinen Blick erwiderte. Nathan lächelte und setzte sich zu ihm,
um ihm einen schnellen Kuss auf den Mund zu geben und dann die Flasche mit
Öl anzuheben. "Hier. Versprochen ist versprochen."
Tore konnte nicht verhindern, dass er breit über sein ganzes Gesicht zu
grinsen begann. "Wow, du hast dich wirklich hergeschlichen. Wie ein Schüler,
der heimlich rauchen will. Ich komme mir so... witzig vor, irgendwie wie
damals. Die erste Liebe, sich treffen in einem halb verfallenen Schuppen,
heimlich diese Pornohefte durchblättern, die ich aus der Schwulenkommune
geklaut hatte." Er lachte leise, dann küsste er Nathan noch einmal auf den
Mund. Länger diesmal und weicher. Nicht nur als Begrüßung gedacht, sondern
auch als Einladung. Er krabbelte etwas zurück und zog sein T-Shirt aus,
legte sich der Länge nach auf das Bett. "Auf den Bauch, ja?"
Nathan nickte, als die Wärme in ihm anstieg und sich Schmetterlinge dazu
gesellten, und ließ seinen Blick bewundernd über den sehnigen, wenn auch
sehr schlanken Oberkörper gleiten, jetzt, wo er es so offen durfte. Diese
leicht definierten Muskeln, die er überall bewundern konnte, gefielen ihm
besser als so mancher Mann mit deutlich mehr.
"Ich fühle mich auch etwas komisch", gestand er mit einem leisen Lachen, das
aber verstummte, als er Tore zärtlich durch die Haare streichelte, um die
Hand auf seinem Hinterkopf ruhen zu lassen und ihn näher an sich zu ziehen.
/Ich darf ihn nicht so anfassen, wie ich gerne möchte. Aber ich darf ihn
küssen./ Und das tat er auch. Liebevoll erkundete er den warmen Mund, die
weichen Lippen, die sich so perfekt auf seinen anfühlten, die Zähne und den
Gaumen, spielte mit Tores Zunge und neckte den anderen Mann, ohne ihn weiter
als so zu berühren.
Als er sich endlich zurückzog, lächelte er und sah ihm in die halb
geschlossenen, grauen Augen. "Du hast mir vollkommen den Kopf verdreht,
Tore."
Tore errötete und ließ den Blick lediglich lächelnd über Nathans Gesicht und
seine Hände streifen. Er mochte beides so gern, viel zu gern. /Und du mir,
wir sind quitt./ Aber er sagte es nicht, sondern schloss schweigend die
Augen und versuchte sich entspannt sinken zu lassen.
Noch immer lächelnd schraubte Nathan die Flasche auf und ließ sich reichlich
Öl auf die Hände laufen, um es anzuwärmen. Dann erst legte er sie auf den
durchtrainierten Rücken, um es in langsamen, streichelnden Bewegungen auf
der warmen Haut zu verteilen. Es tat gut, ihn so direkt zu berühren, und
Nathan ließ sich Zeit damit, erforschte die leichten Erhebungen der Rippen,
folgte ihnen bis zu den Seiten, ehe er wieder zurückglitt und das Rückgrat
entlang zeichnete. Nur allmählich wurden seine Griffe fester, als er nach
Verspannungen zu suchen begann.
Gern hätte Tore das Schnurren gelernt, denn das wäre die passende Antwort
auf das feste, gleichmäßige Streicheln von Nathan gewesen. Er war zu müde
für Erregung und zu wach, um einzuschlafen, so blieb er in einem
genießerischen Halbschlummer gefangen, es kam ihm vor wie ein Traum. Er
hatte sich verliebt, und sie taten rein gar nichts, versuchten nichts; die
wenigen Küsse, das leichte Streicheln und im Grunde viel zu wenig, aber
dennoch so herrlich seine Erwartungen steigernd.
Er streckte sich nach einer kleinen Weile und murmelte schlaftrunken "Ich
bin immer am Kreuz verspannt, weiß nicht wieso, vielleicht vom Skaten."
Damit zog er seine Hose eine Idee weiter herunter, gerade so weit, dass man
den Ansatz vom Po sehen konnte.
Nathan konnte nicht anders als ihn anzusehen und sich vorzustellen, wie es
wäre, ihn exakt jetzt an exakt dieser Stelle zu küssen. Doch er blieb artig,
berührte ihn nicht einmal mit den Händen dort, nur beinahe, als er eine
Verspannung weiter verfolgte, um sie wegzumassieren. "Wann immer dir danach
ist, frag einfach. Mir macht das Spaß."
"Verrückt... Aus welchem Himmel bist denn du gefallen?" Tore gähnte
verhalten, aber lächelte Nathan einmal leicht zu. "Das ist herrlich."
Nathan grinste versteckt. Es war zumindest dann großartig, wenn er jemanden
wie Tore durchkneten durfte, auch wenn er es gleichzeitig als süße Folter
empfand. Allein, ihn in dem gedämpften Licht zu betrachten, war etwas
besonderes, es zauberte mit dem weichen Schimmer des Öls Wärme auf den
schlanken Körper. Und so fuhr er damit fort, ihn zu massieren, als er nichts
mehr fand, was auch nur noch im entferntesten verhärteten Muskeln glich.
Tore schien unter seinen Händen dahin geschmolzen zu sein. Schließlich, als
er das Gefühl hatte, dass der andere Mann mehr und mehr in einen Zustand
glitt, der dem Schlaf ähnlicher als dem Wachen war, wurden seine Griffe
wieder leichter, bis er ihn erneut nur zärtlich streichelte. Er musste sich
anstrengen, um es vollkommen enden zu lassen. Die Hände leicht auf dem
mittleren Rücken ruhend beugte er sich nach vorne und küsste ihn vorsichtig
auf die Schulter.
"So, ich denke, das reicht für heute", sagte er leise und rieb seine Nase
sacht an Tores Wange. "Willst du dein T-Shirt noch anziehen, oder soll ich
dich gleich zudecken?"
Tore drehte sich herum und schlang seine Arme um Nathans Schultern, um ihn
energischer, als er es sich selber zugetraut hatte, zu sich herab zu ziehen.
"Küssen musst du mich noch einmal, sonst schlafe ich sicherlich nicht ein."
Nathan fing sich überrumpelt ab, um nicht auf ihm zu landen, konnte aber
nicht verhindern, dass Tore ihn nah genug zog, dass er seine Wärme durch das
Shirt hindurch an seiner Brust spüren konnte. Die Hitze, die durch ihn
hindurch schoss, explodierte direkt in seinen Lenden. /Ich schlafe so und so
nicht ein. Reiß dich zusammen, Mann! Gott, wie sehr ich ihn will.../
"Dein Wunsch ist mir Befehl." Er konnte seiner Stimme anhören, wie sehr er
ihn begehrte und hoffte, dass Tore es nicht ebenso erkennen konnte. Sacht
fuhr er ihm durch das kurze Haar und sah ihm in die Augen, ehe er die letzte
Entfernung vernichtete und seine Lippen auf Tores legte, um ihn weich zu
küssen.
Kap. 7
Es wurde weitaus länger und inniger, als Nathan geplant hatte, aber nicht
von wilder Leidenschaft, sondern eher von liebender Zärtlichkeit geprägt,
die seine Erregung zwar nicht verringerte, ihn jedoch mit einem warmen
Gefühl erfüllte, das ihn begreifen ließ, dass mehr für den Moment auch für
ihn nicht notwendig war.
/Verrückt/, dachte er ein wenig schwindelig, als sie sich wieder voneinander
lösten, und lächelte glücklich. /Vollkommen verrückt das ganze; und ich
glaube, ich bin vollkommen verliebt./ Rasch küsste er Tore noch einmal und
noch einmal, ehe er sich endgültig von ihm trennte.
Fürsorglich deckte er ihn zu und drückte seine Lippen erneut auf Tores
Stirn, bevor er vom Bettrand aufstand, die Lampe wieder auf den Nachttisch
stellte und nach der Ölflasche griff. "Gute Nacht; süße Träume wünsche ich
dir."
Mit einem letzten Lächeln zu Tore hin verließ er endlich dessen Zimmer, um
sich auf den wenigen Metern in sein eigenes zurück beinahe zu fühlen, als
würde er schweben.
erschien und ihnen zuwinkte.
Tore grinste und lief zu ihm hin, warf heimtückisch mit einem Schneeball und
erklärte dann "Ich war ein wenig mies drauf wegen meiner dummen Eltern mal
wieder, kennste ja. Ich wollte euch aber nicht mit meiner Laune anstecken."
Er lachte und klopfte der Hündin auf den Rücken. "Dunja hat mich wieder
aufgemuntert."
Dunja wedelte fröhlich mit dem Schwanz, und Christian lachte. "Das kann sie
gut. Und ich finde es klasse, dass du hier bist. Besser, als dich mit deinen
Eltern rumzuärgern." Er zwinkerte ihm zu und sagte eine ganze Ecke leiser
"Zudem ist es sehr angenehm, mit einem Freund hier zu sein. So lieb sie
sind, sind meine Großeltern doch etwas anstrengend manchmal."
Nachdem Tore sich die Jacke ausgezogen hatte, legte er ihm einen Arm um die
Schulter, um ihn wieder mit ins Wohnzimmer zu nehmen. Nathan, der wie üblich
erst einmal Dunja abgetrocknet hatte, sah ihm mit einem stummen Seufzen
hinterher, ein wenig neidisch darauf, dass Christian es so einfach durfte,
Tore umarmen und drücken, selbst wenn es nur kurz war.
/Dummkopf/, dachte er mit einem leise lächelnden Kopfschütteln. /Das, was du
willst, ist weitaus mehr und gänzlich anderer Art./ Seine Gedanken wanderten
zu dem leicht amüsierten Kommentar Tores zurück, dass er wirklich nachts zu
ihm kommen wollte. Natürlich wollte er. Am liebsten wäre er gar nicht mehr
von der Seite des anderen Mannes gewichen, hätte ihn gerne schon jetzt im
Arm gehalten.
Während Dunja ihm brav die Pfoten anhob, damit er sie von Schnee und Dreck
befreien konnte, driftete er zu dem ab, was Tore ihm am Nachmittag erzählt
hatte. Dass er sich nackt nicht anfassen ließ. Dass Küssen und Umarmen in
Ordnung war, aber alles darüber hinaus... /Und keiner weiß warum. Mach dir
bloß nicht zu viele Gedanken darüber, Nathan. Noch jemand, der Therapien
ausprobiert, kann ihm mit ziemlicher Sicherheit gestohlen bleiben. Aber was
mache ich, wenn es wirklich nicht geht? Ich will ihn jetzt schon so sehr./
Gleichzeitig wusste er jedoch, dass er für diesen Mann mehr als nur Geduld
haben würde.
Erst als Dunja unruhig zu werden begann, stellte er fest, dass er schon viel
zu lange an ihr herumrubbelte. Mit einem schiefen Grinsen und einem
kräftigen Klopfen auf ihre Flanke gab er sie frei. "Tut mir leid, Süße. Ich
war in Gedanken woanders."
Er räumte das alte Handtuch weg und kam dann langsam ins Wohnzimmer
hinterher. Den Rest des Abends bemühte er sich redlich, weder dauernd zu
Tore hinzustarren, noch tausend Gelegenheiten zu suchen, um ihn rein
zufällig berühren zu dürfen. Dafür empfand er die, bei denen es wirklich
nebenbei geschah, als um so wertvoller.
Es war schon weit nach Mitternacht, als die Großeltern sich verabschiedeten
und dann noch einmal sicherlich eine halben Stunde, in der die drei Jungs
bei endgültig niederbrennenden Kerzen ihren letzten Schluck im Glas
aufschoben, während sie sich halbbetrunkenen Unsinn erzählten.
Tore genoss das Zusammensein mit Christian und Nathan, obwohl er den Mann,
in den er sich so unerwartet und heftig verschossen hatte, nicht umkuscheln
und küssen durfte. Nathan und er saßen nebeneinander auf dem Sofa und Chris
auf dem Hocker vom Sessel davor. Dies gab Tore die Gelegenheit, dichter
neben Nathan zu sitzen, weil sie leise reden wollten und sich ein wenig
heimlichtuerisch zusammenrotteten.
Doch es hatte auch den dummen Nebeneffekt, dass er zu denken begann, dass
dies ein guter Moment wäre. Um es Chris zu sagen, um dazu stehen zu können,
ohne Erklärungen, in denen Worte wie ,Damals Weihnachten... wir sind nur
noch nicht dazu gekommen...' /Ja, wann ist es denn richtig? Shit. Er ist
nicht mein Bruder. Es ist nicht meine Entscheidung, sondern seine./
Frustriert nippte er noch einmal an seinem längst kühlen Glühwein. Das gab
den Anstoß. "Ich mach mir noch einen halben Becher heiß, dann schlafe ich
sicherlich heute Nacht wie ein Stein. Nat, du auch? Chrissi ist wohl noch
abstinent nach gestern, gell?"
Er nahm Nathans Becher mit einem kleinen Blick in dessen Augen entgegen und
ging in die Küche hinüber, Dunja folgte ihm, um geräuschvoll aus dem
Wassernapf zu trinken, den Tore ihr rasch noch einmal frisch machte.
Nathan sah ihm kurz hinterher und hatte das dumpfe Gefühl zu wissen, was
Tore damit bezweckte. Doch er würde es nicht an Weihnachten sagen, das hatte
er durchaus ernst gemeint. Er hatte keine Lust darauf, dass es Christian als
verdorbenes Fest in Erinnerung bleiben würde.
Ein schneller Blick in der Runde sagte Tore, dass Nathan diesen Moment nicht
sinnvoll gefunden hatte, und ein Seufzen unterdrückend stellte er die Becher
ab. Sie blieben, nachdem die Kerzen eine nach der anderen verloschen waren,
nicht mehr lange im Wohnzimmer. Christian lüftete den Rauch noch ein wenig
aus, und Nathan ließ Dunja noch einmal in den Garten, damit sie am anderen
Morgen länger aushielt. Somit blieb Tore nur noch, die Becher und Gläser
abzuräumen und sich dann nach einem raschen Zähneputzen in sein Zimmer zu
verabschieden.
Er zog sich seine Hose und das T-Shirt über und knipste dann die
Nachttischlampe an, aber stellte sie auf den Fußboden, was zum Effekt hatte,
dass der braune Lampenschirm aus Holzlamellen nur gedämpftes Licht
verbreitete, das kaum auf das Bett hinauf reichte.
Gespannt setzte er sich am Kopfende auf und wartete, ob Nathan sein Wort
haltend tatsächlich zu ihm schleichen würde. Allein der Gedanke zauberte
einen Wirbel wilder Gefühle in seinen Bauch. Kein einziges ließ die mögliche
Kälte vermuten. /Vielleicht... Das letzte Mal, dass ich es versucht habe,
ist schon ein Jahr her, wäre es nicht toll, wenn es wegen ihm aufhören
würde? Einfach so? Nur, weil ich mich in ihn verschossen habe?/ Und das
hatte er, aber nicht zu knapp. Wie noch nie zuvor wollte er Nathan haben, um
sich haben, ihn spüren, ihn küssen. /Mal sehen, er hat massieren gesagt,
vielleicht, wenn wir uns ranpirschen.../
Nathan war in seine alte Jogginghose und das ausgeleierte T-Shirt
geschlüpft, was er hier zum Schlafen trug, und stand zähneputzend vor dem
Badezimmerspiegel. Er starrte sich in die grünen Augen und fragte sich, ob
er wirklich so zu Tore gehen wollte. Doch immerhin wollte er nicht mehr, als
ihn zu massieren. /Von wegen. Ich will viel mehr./ Das glucksende Grinsen
fiel dank der Zahnbürste sehr schräg aus, was ihn noch mehr zum Lachen
brachte und ihn Mühe kostete, um sich nicht zu verschlucken.
Während er sich den Mund ausspülte, gab er sich das feste Versprechen,
dennoch brav zu bleiben. Zwar würde er kaum verhindern können, dass er Tore
begehrte, und vermutlich würde man ihm das auch ansehen, doch das hieß noch
lange nicht, dass er über ihn herfallen musste. Nach einem letzten Blick in
den Spiegel und einem vergeblichen Versuch, seine zerzausten, blonden Haare
mit etwas Wasser zu bändigen, nahm er das Körperöl mit in sein Zimmer und
überließ Christian das Bad.
Auf seinem Bett sitzend lauschte er auf die Geräusche, die sein Bruder
machte, hörte seine Schritte und schließlich das Klappen der Tür. /Wie lange
braucht er, um einzuschlafen? Verdammt, ist das nicht egal? Ich will ihn
massieren. He, Nathan, massieren! Das gibt keine verräterischen Laute./
Dennoch wartete er nahezu eine Viertelstunde, ehe er aufstand, um zu Tore zu
gehen. Er konnte nicht verhindern, dass er breit grinste und sich wie ein
Teenager vorkam. Heimlich durch das nächtliche Haus schleichen, um seinen
Freund zu treffen, war in seinen Augen nicht besonders erwachsen. Nur kurz
klopfte er an, um dann direkt einzutreten und die Tür hinter sich wieder zu
schließen.
Ein warmes Kribbeln breitete sich in seinem Magen aus und flutete von dort
durch seinen Körper, als er den schlanken Mann auf dem Bett sitzen sah,
neben dem unsäglichen, bunten Stofftier, während Tore mit diesen
atemberaubenden, grauen Augen in einer Mischung aus Erwartung, Freude und
Belustigung seinen Blick erwiderte. Nathan lächelte und setzte sich zu ihm,
um ihm einen schnellen Kuss auf den Mund zu geben und dann die Flasche mit
Öl anzuheben. "Hier. Versprochen ist versprochen."
Tore konnte nicht verhindern, dass er breit über sein ganzes Gesicht zu
grinsen begann. "Wow, du hast dich wirklich hergeschlichen. Wie ein Schüler,
der heimlich rauchen will. Ich komme mir so... witzig vor, irgendwie wie
damals. Die erste Liebe, sich treffen in einem halb verfallenen Schuppen,
heimlich diese Pornohefte durchblättern, die ich aus der Schwulenkommune
geklaut hatte." Er lachte leise, dann küsste er Nathan noch einmal auf den
Mund. Länger diesmal und weicher. Nicht nur als Begrüßung gedacht, sondern
auch als Einladung. Er krabbelte etwas zurück und zog sein T-Shirt aus,
legte sich der Länge nach auf das Bett. "Auf den Bauch, ja?"
Nathan nickte, als die Wärme in ihm anstieg und sich Schmetterlinge dazu
gesellten, und ließ seinen Blick bewundernd über den sehnigen, wenn auch
sehr schlanken Oberkörper gleiten, jetzt, wo er es so offen durfte. Diese
leicht definierten Muskeln, die er überall bewundern konnte, gefielen ihm
besser als so mancher Mann mit deutlich mehr.
"Ich fühle mich auch etwas komisch", gestand er mit einem leisen Lachen, das
aber verstummte, als er Tore zärtlich durch die Haare streichelte, um die
Hand auf seinem Hinterkopf ruhen zu lassen und ihn näher an sich zu ziehen.
/Ich darf ihn nicht so anfassen, wie ich gerne möchte. Aber ich darf ihn
küssen./ Und das tat er auch. Liebevoll erkundete er den warmen Mund, die
weichen Lippen, die sich so perfekt auf seinen anfühlten, die Zähne und den
Gaumen, spielte mit Tores Zunge und neckte den anderen Mann, ohne ihn weiter
als so zu berühren.
Als er sich endlich zurückzog, lächelte er und sah ihm in die halb
geschlossenen, grauen Augen. "Du hast mir vollkommen den Kopf verdreht,
Tore."
Tore errötete und ließ den Blick lediglich lächelnd über Nathans Gesicht und
seine Hände streifen. Er mochte beides so gern, viel zu gern. /Und du mir,
wir sind quitt./ Aber er sagte es nicht, sondern schloss schweigend die
Augen und versuchte sich entspannt sinken zu lassen.
Noch immer lächelnd schraubte Nathan die Flasche auf und ließ sich reichlich
Öl auf die Hände laufen, um es anzuwärmen. Dann erst legte er sie auf den
durchtrainierten Rücken, um es in langsamen, streichelnden Bewegungen auf
der warmen Haut zu verteilen. Es tat gut, ihn so direkt zu berühren, und
Nathan ließ sich Zeit damit, erforschte die leichten Erhebungen der Rippen,
folgte ihnen bis zu den Seiten, ehe er wieder zurückglitt und das Rückgrat
entlang zeichnete. Nur allmählich wurden seine Griffe fester, als er nach
Verspannungen zu suchen begann.
Gern hätte Tore das Schnurren gelernt, denn das wäre die passende Antwort
auf das feste, gleichmäßige Streicheln von Nathan gewesen. Er war zu müde
für Erregung und zu wach, um einzuschlafen, so blieb er in einem
genießerischen Halbschlummer gefangen, es kam ihm vor wie ein Traum. Er
hatte sich verliebt, und sie taten rein gar nichts, versuchten nichts; die
wenigen Küsse, das leichte Streicheln und im Grunde viel zu wenig, aber
dennoch so herrlich seine Erwartungen steigernd.
Er streckte sich nach einer kleinen Weile und murmelte schlaftrunken "Ich
bin immer am Kreuz verspannt, weiß nicht wieso, vielleicht vom Skaten."
Damit zog er seine Hose eine Idee weiter herunter, gerade so weit, dass man
den Ansatz vom Po sehen konnte.
Nathan konnte nicht anders als ihn anzusehen und sich vorzustellen, wie es
wäre, ihn exakt jetzt an exakt dieser Stelle zu küssen. Doch er blieb artig,
berührte ihn nicht einmal mit den Händen dort, nur beinahe, als er eine
Verspannung weiter verfolgte, um sie wegzumassieren. "Wann immer dir danach
ist, frag einfach. Mir macht das Spaß."
"Verrückt... Aus welchem Himmel bist denn du gefallen?" Tore gähnte
verhalten, aber lächelte Nathan einmal leicht zu. "Das ist herrlich."
Nathan grinste versteckt. Es war zumindest dann großartig, wenn er jemanden
wie Tore durchkneten durfte, auch wenn er es gleichzeitig als süße Folter
empfand. Allein, ihn in dem gedämpften Licht zu betrachten, war etwas
besonderes, es zauberte mit dem weichen Schimmer des Öls Wärme auf den
schlanken Körper. Und so fuhr er damit fort, ihn zu massieren, als er nichts
mehr fand, was auch nur noch im entferntesten verhärteten Muskeln glich.
Tore schien unter seinen Händen dahin geschmolzen zu sein. Schließlich, als
er das Gefühl hatte, dass der andere Mann mehr und mehr in einen Zustand
glitt, der dem Schlaf ähnlicher als dem Wachen war, wurden seine Griffe
wieder leichter, bis er ihn erneut nur zärtlich streichelte. Er musste sich
anstrengen, um es vollkommen enden zu lassen. Die Hände leicht auf dem
mittleren Rücken ruhend beugte er sich nach vorne und küsste ihn vorsichtig
auf die Schulter.
"So, ich denke, das reicht für heute", sagte er leise und rieb seine Nase
sacht an Tores Wange. "Willst du dein T-Shirt noch anziehen, oder soll ich
dich gleich zudecken?"
Tore drehte sich herum und schlang seine Arme um Nathans Schultern, um ihn
energischer, als er es sich selber zugetraut hatte, zu sich herab zu ziehen.
"Küssen musst du mich noch einmal, sonst schlafe ich sicherlich nicht ein."
Nathan fing sich überrumpelt ab, um nicht auf ihm zu landen, konnte aber
nicht verhindern, dass Tore ihn nah genug zog, dass er seine Wärme durch das
Shirt hindurch an seiner Brust spüren konnte. Die Hitze, die durch ihn
hindurch schoss, explodierte direkt in seinen Lenden. /Ich schlafe so und so
nicht ein. Reiß dich zusammen, Mann! Gott, wie sehr ich ihn will.../
"Dein Wunsch ist mir Befehl." Er konnte seiner Stimme anhören, wie sehr er
ihn begehrte und hoffte, dass Tore es nicht ebenso erkennen konnte. Sacht
fuhr er ihm durch das kurze Haar und sah ihm in die Augen, ehe er die letzte
Entfernung vernichtete und seine Lippen auf Tores legte, um ihn weich zu
küssen.
Es wurde weitaus länger und inniger, als Nathan geplant hatte, aber nicht
von wilder Leidenschaft, sondern eher von liebender Zärtlichkeit geprägt,
die seine Erregung zwar nicht verringerte, ihn jedoch mit einem warmen
Gefühl erfüllte, das ihn begreifen ließ, dass mehr für den Moment auch für
ihn nicht notwendig war.
/Verrückt/, dachte er ein wenig schwindelig, als sie sich wieder voneinander
lösten, und lächelte glücklich. /Vollkommen verrückt das ganze; und ich
glaube, ich bin vollkommen verliebt./ Rasch küsste er Tore noch einmal und
noch einmal, ehe er sich endgültig von ihm trennte.
Fürsorglich deckte er ihn zu und drückte seine Lippen erneut auf Tores
Stirn, bevor er vom Bettrand aufstand, die Lampe wieder auf den Nachttisch
stellte und nach der Ölflasche griff. "Gute Nacht; süße Träume wünsche ich
dir."
Mit einem letzten Lächeln zu Tore hin verließ er endlich dessen Zimmer, um
sich auf den wenigen Metern in sein eigenes zurück beinahe zu fühlen, als
würde er schweben.
Tore lachte noch ein Weilchen leise in sich hinein. Nathan war erregt genug,
dass er es gespürt hatte, aber wollte nichts weiter als ihn massieren, ihn
streicheln und nicht mal an unartigen Stellen. Ein schönes Gefühl, auch wenn
Tore davon ein leicht schlechtes Gewissen bekam. /Was hat er denn davon?
Nichts? Auch wenn er sagt, dass er es mag. Ich muss ihm sagen, woran er
sieht, wie weit er gehen darf, damit er sich mehr zu machen traut./
Er schlief wie ein Stein, nachdem er warm geknubbelt, gestreichelt und
herrlich romantisch geküsst worden war. Für Träume schien ihm die Energie
gefehlt zu haben. Doch trotzdem wachte Tore am Morgen gegen halb sieben
wieder auf und zog sich nach einem kleinen Badezimmerausflug seinen
Trainingsanzug und einen Kapuzenpulli an. Leise schlich er sich dann zu
Nathans Zimmer und lugte durch den Türspalt.
Eine erwartungsvoll wedelnde Dunja sah ihm entgegen, während Nathan in
seinem grauen Trainingsanzug mit den blauen Streifen auf der Bettkante saß
und sich die Schuhe schnürte. Er schaute hoch, grinste Tore an und stand
auf, nachdem er die Schleife noch einmal nachgezogen hatte, um die Tür
gänzlich zu öffnen und den anderen Mann in den Arm zu nehmen. Ihn an sich
drückend küsste er ihn eine Weile, ziemlich sicher, dass Christian so früh
nicht aufstehen würde und somit keine Gefahr bestand. Nach einem kleinen,
verschmitzten Zwinkern ließ er ihn wieder los. "Morgen, Schatz, und
fröhliche Weihnachten. Hast du gut geschlafen?"
Tore nickte und flüsterte zurück "Wie ein Stein. Herrlich." Er grinste noch
immer über das 'Schatz', als sie schon längst die Treppe hinunter liefen.
Sie verließen das Haus und folgten der fröhlich vorweg tobenden Dunja auf
den mittlerweile schon zur Gewohnheit gewordenen Pfad in den Wald. Die Nacht
über hatte es offensichtlich nicht geschneit, so dass der Schnee auf dem Weg
bereits heruntergetreten war und es sich leichter laufen ließ. Nathan
empfand die kalte Luft als sehr angenehm, ebenso wie die Bewegung, die ein
wenig seiner Unruhe, die er seit dem Kuss schon wieder verspürt hatte,
vertrieb.
Sie tobten sich aus, liefen ein schnelles Tempo, das die schneidende Kälte
vergessen lassen konnte. Tore war jedoch in Gedanken nicht bei seiner Atmung
oder bei der schönen Umgebung, sondern überlegte, wie er Nathan fragen
konnte. Wie er fragen konnte, ob er nicht mit zu ihm kommen konnte. /Ich
will mit ihm zusammen sein, und ich hab nach Silvester noch eine ganze Woche
frei, bevor ich zum Seminar muss. Ob ich ihn dann nerven würde, wenn ich in
seiner Wohnung... Vielleicht hat er ja gar keinen Platz? Mist. Wie frage ich
denn, ohne dass er denkt, dass er ja sagen muss?/
Er kam zu keinem Ergebnis, bis sie zum Haus gelangt waren. Es war zwar noch
sehr früh, aber an diesem Morgen war die Großmutter schon in der Küche, als
sie hereinschneiten und kochte bereits den starken Kaffee, den sie und ihr
Mann den Vormittag über tranken.
Deswegen kühlten Tore und Nathan sich nur schweigend am Küchentisch aus,
während die Oma Brötchenteig zum Gehen auf den Ofen setzte und dann schon
mal den Braten für das Mittagessen vorbereitete. Die Eltern von Nathan und
Christian standen zum Besuch an. /Eltern. Die werden erst Recht nicht
erfahren dürfen, was los ist. Schade./ Grummelig duschte Tore und freute
sich dennoch auf den Nachmittag, für den Christian ihm versprochen hatte,
dass sie nach Abfahrt der Eltern endlich zum Skigebiet fahren würden, um
sich die Wochenkarte bis Silvester zu kaufen.
Nathan war nicht besonders glücklich mit der Aussicht, seine Eltern hier zu
haben, und es erleichterte ihn, dass sie nur den einen Tag blieben. Allein
schon, dass sie zusammen zur Nachmittagsmesse gehen würden, nervte ihn
bereits. Und der traurige Blick, den seine Oma ihm zugeworfen hatte, weil
sich sein Vater in diesem speziellen Ton erkundigt hatte, ob außer 'den
Jungs' noch jemand da sein würde, machte ihn wütend. Warum konnten seine
Eltern nicht einfach akzeptieren, dass Onkel Johannes nun mal schwul war? Er
tat weder ihnen noch sonst jemanden damit weh.
/Sie werden niemals akzeptieren, dass ich es auch bin. Es wird genauso
laufen wie bei Johannes. 'Wir haben nur einen Sohn. Niemals zwei gehabt.'
Oder so./ Eigentlich hatte Nathan gedacht, er wäre darüber hinweg, es würde
ihn nicht mehr stören. Doch gerade jetzt, wo er diesen wundervollen Mann
getroffen und sich so heftig in ihn verliebt hatte, ärgerte er sich
besonders darüber.
Sie hatten noch nicht ganz das Frühstück beendet, als draußen im Flur das
Telefon klingelte. Bevor seine Oma auch nur vom Tisch abrücken konnte, war
Nathan bereits aufgesprungen. "Ich geh schon." Heimlich hoffte er, dass
seine Eltern wegen unwägbarer Wetterverhältnisse, Stau oder einer besonderen
Messe zu Hause absagen würden, selbst wenn die Chancen dafür verschwindend
gering waren. Was ihn am anderen Ende der Leitung empfing, nachdem er
abgehoben und sich gemeldet hatte, war auch dementsprechend nicht sein
Vater. Mit Lydia hatte er allerdings ebenfalls nicht gerechnet.
"Fröhliche Weihnachten, Nathan. Kannst du mir mein Bärchen geben?"
"Dir auch fröhliche Weihnachten. Moment nur." Nathan kehrte ins Wohnzimmer
zurück und wies grinsend mit dem Daumen nach draußen. "Für das Bärchen."
"Idiot!" Christian ließ es sich nicht nehmen, ihm etwas zu hart gegen die
Schulter zu knuffen, als er an ihm vorbei ging und im Flur verschwand.
Nachdem sie das Frühstück beendet und den Tisch abgeräumt hatten und
Christian noch immer nicht fertig zu sein schien, befand Nathan, dass er
selbst für das übliche Liebesgeturtel recht lange weg blieb. Doch gerade,
als er deswegen eine scherzhafte Bemerkung zu Tore machen wollte, die recht
viel mit Hormonüberschuss zu tun hatte, kam Christian zurück. Er war blass,
grinste gleichzeitig jedoch etwas schief und unsicher. "Ich weiß, es kommt
ein wenig überraschend, aber ich werde nachher mit den Eltern zurückfahren.
Ich... Himmel... Ich werde Vater."
"Vater?" Nathan hielt mitten in der Bewegung inne. Verwirrt starrte er
seinen Bruder an, nicht ganz sicher, ob er richtig verstanden hatte und wenn
ja, ob das ein glückliches oder eher ein missliches Ereignis war.
Tore hatte gerade sein Messer auf den Stapel zu den anderen legen wollen,
aber ließ es nun mit einem lauten Knallen auf den Teller fallen. "Was?"
/Lydia... ist schwanger? Oder was will er damit sagen?/ Er kam zu keiner
weiteren Frage, denn im Anschluss an diese Eröffnung war die Familie mehr
als aufgeregt am Diskutieren. All die vielen, kleinen Probleme, die
auftauchen würden, vermischt mit Freude, vornehmlich von Seiten der
Großeltern, die sich schon scherzend mit Uroma und Uropa riefen, was
Christian nicht wirklich aus dem Schock herauszuhelfen schien.
Endlich reichte es Tore. Er knuffte Chris unsanft und verlangte "Such dir
verdammt noch mal endlich einen Zug raus, Papi. Du willst sie doch nicht mit
ihren Eltern allein lassen, oder? Die hab ja sogar ich noch in Erinnerung."
"Papi? Oh Himmel..." Christian fuhr sich mit beiden Händen durch das
zerzauste, blonde Haar, dann umarmte er Tore einfach, doch es schien mehr,
als würde er sich festhalten. "Ich hab das Studium nicht fertig, noch lange
nicht, Lyddi auch nicht. Wir wollten noch gar keine Kinder. Lyddi ist
fertig, sie hat geweint. Aber trotzdem... trotzdem freue ich mich irgendwie,
als sei ich bescheuert." Noch einmal drückte er ihn fest, dann ließ er
wieder von ihm. "Natürlich lasse ich sie nicht allein mit ihren Eltern. Ich
gehe jetzt packen. Aber ich fahre mit Mama und Paps nach Hause, das geht
schneller. Die dürften ohnehin in spätestens einer Stunde hier sein. Und
wenn sie das hören, dann werden sie mit Sicherheit keine Einwände haben,
etwas früher zu fahren."
Aber anstatt nach oben zu gehen, starrte er Tore schuldbewusst an. "Mist.
Wir wollten... die Wochenkarte. Ich... Mist! Das tut mir leid. Aber du
verstehst das, ja? Ich kann nicht... Ich kann sie jetzt nicht allein
lassen."
Tore winkte ab und drückte ihn an sich. "Das ist um Klassen wichtiger,
Mann!" Lachend schob er Chris zu seinem Zimmer und verbrachte die nächste
Stunde damit, ihn wieder und wieder zu beruhigen, wenn ihm nach und nach die
ganzen Problemen in den Kopf kamen.
Fast war er ein wenig erleichtert, als die Eltern von Chris und Nathan
ankamen und sich der Trubel erst einmal um Chris drehte, so dass er nach
einer kleinen Vorstellung entlassen war. Er ging in den Garten raus, um
nicht zu stören und half den Kindern der Mieter dabei, ein Iglu zu bauen.
Nathan nutzte die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, um aus der
unmittelbaren Nähe seiner Eltern zu verschwinden, nachdem auch er seinem
Bruder mehrfach erklärt hatte, dass er, wenn er Hilfe brauchte, jederzeit
auf ihn zurückkommen konnte, so lange es sich nicht um Babysitten handelte.
/Lydia schwanger... Christian wird allen Ernstes Vater. Immerhin das kann
mir nicht passieren./ Er grinste und fand den Gedanken, Onkel zu werden, für
einen Moment sogar ganz lustig. Dann dachte er an Tore, und seine Laune
sackte, als er überlegte, ob sein Bruder wie sein Vater auch bald
beschließen würde, Einzelkind zu sein. /Hör auf. Mit Johannes kommt Chris
auch gut aus. Aber ich bin froh, dass wir es ihm gestern nicht gesagt haben.
Dann hätte er jetzt zwei Dinge, wegen der er sich den Kopf zerbrechen
müsste./
Er pfiff nach Dunja, die er als Entschuldigung, sich zu entfernen,
vorgeschoben hatte, griff nach seiner Jacke und verließ bereits das Haus,
noch ehe er den Reißverschluss zugezogen hatte. /Hm, und wenn Chris geht...
will Tore dann auch weg? Oder würde er bleiben, weil ich noch da bin?/
Während seine Hündin sich fröhlich in den Schnee stürzte und gleich zu Tore
tollte, sah er nur zu dem jungen Mann hin, der so selbstverständlich mit den
Nachbarskindern spielte. /Wenn er... wenn wir wirklich zusammen bleiben, und
es für ihn nicht nur eine Laune ist, dann hat Chris einen begeisterten
Babysitter, sobald das Balg etwas älter ist./ Nathan fröstelte, schloss
seine Jacke und schob die Hände in die Taschen. /Immerhin, Ömchen und Opa
sind glücklich. Das ist es doch wert./
Energisch knüppelte er seine aufkeimende Eifersucht hinunter, die ihn von
Zeit zu Zeit überfiel, weil Christian im Gegensatz zu ihm irgendwie alles
richtig zu machen schien und selbst die Dinge, die sonst als Fehler
angerechnet wurden, immer noch perfekt zu sein schienen.
Als Tore, von Dunja angesprungen, auf- und zu ihm sah, lächelte er. "Ich
gehe mit ihr spazieren. Magst du mitkommen?"
Tore runzelte die Stirn. /Ich bin in den letzten zwei Tagen schon mehr
spazieren gegangen als in meinem Leben zuvor insgesamt./ Er entschuldigte
sich dennoch bei den Kindern und ging zu Nathan hin. "Wann fährt Chris? Ich
will mich auf jeden Fall verabschieden bei ihm." Er zögerte und suchte in
den in diesem Licht eher grau-blau wirkenden Augen seines Freundes nach ein
Hinweis auf dessen Pläne. "Ich würde natürlich auch fahren. Könnte ich
vielleicht für ein paar Tage mit zu dir?"
Die ersten paar Meter, bis sie außer Sichtweite des Hauses waren, schlug
Nathan ein schnelles Tempo ein, ehe er wieder langsamer wurde und
schließlich stehen blieb, um sich gegen eine Mauer zu lehnen, die einen
Garten von der kleinen Hauptstraße trennte. "Sie werden wohl in einer Stunde
aufbrechen. Ich habe nicht vor, so lange zu gehen. Ich wollte nur..." Er
zögerte, zuckte dann mit den Schultern. "Ich wollte nur raus. Ich gebe zu,
ich habe Dunja als Ausrede genommen."
Ein wenig geistesabwesend beobachtete er seine Hündin, die enthusiastisch
zwischen den Laternen und dem Mäuerchen hin und her sprang und besonders
interessiert an einem gelben Fleck im Schnee schnüffelte. "Du bist
eigentlich zum Snowboarden hergekommen, nicht? Du kannst ja trotzdem
bleiben. Meine Großeltern wird es nicht stören. Aber wenn dir das unangenehm
ist..." Er wandte seinen Blick wieder Tore zu. "Können wir auch gerne
fahren. Ich würde mich freuen, wenn du zu mir kommst... Wenn du Zeit und
Lust hast, auch über Silvester."
Tore warf einen Blick die Strasse hinunter, dann legte er den Kopf schief,
während er abwog. Snowboarden gegen Nathan allein und nur für sich haben.
"Lieber zu dir", entschied er schließlich, vor allem, weil er sich nicht
noch einmal vorstellen konnte, in der Nacht im Haus umherzuschleichen, und
sah Nathan fragend an. "Es sei denn, du willst noch bleiben."
Nathan lachte und stieß sich von der Mauer ab. "Ich bin gerne bei meinen
Großeltern, aber ich werde sie auch noch öfter sehen. Und der Gedanke, dich
für mich zu haben, ohne jemanden zu stören, gefällt mir ausgesprochen gut,
wie ich gestehen muss. Ohne zu stören und ohne gestört zu werden." Mit einem
Mal deutlich besser gelaunt als noch vor ein paar Minuten zwinkerte er Tore
verschmitzt zu und wusste allein von dem warmen Gefühl in seinem Bauch, das
sein Freund hervor rief, dass er richtig handelte, egal was seine Eltern
denken mochten.
Tore grinste leicht. Er sah sich einmal kurz um, dann umarmte und drückte er
Nathan, bevor er ihn rasch einmal küsste. "Ich freu mich. Dann sollte ich
wohl mal packen gehen!" Schnell drehte er sich um und winkte ihm, um zu Haus
zurück zu laufen.
Überrascht blinzelte Nathan ihm hinterher. "Oh... Derart schnell hatte ich
das nicht gedacht." Aber dann lächelte er nur und folgte ihm wesentlich
langsamer, um noch die Ruhe des verschneiten Dorfes genießen zu können, ehe
er seinen Eltern wieder in die Hände fiel. /Ich bin schon eigenartig.
Einerseits ist es mir nur recht, wenn ich möglichst wenig von ihnen höre und
andererseits... andererseits will ich noch immer, dass sie mich nicht immer
mit Chris vergleichen und mich auch mal für das anerkennen, was ich bin.
Abseits dessen, was sie für mich geplant haben und was ich nicht eingehalten
habe. Aber wenn sie erst einmal erfahren, dass ich schwul bin, kann ich das
ja endgültig vergessen./
Er seufzte und lenkte seine Gedanken wieder Angenehmerem zu, zum Beispiel,
dass er Tore in weniger als drei Stunden ganz allein für sich haben würde,
wenn auch erst einmal nur im Auto, wo sie herzlich wenig würden machen
können. Schließlich fuhr sich der Wagen nicht allein. Nathan musste grinsen
und fühlte sich schon wesentlich gewappneter, um seiner Verwandtschaft
gegenüber treten zu können.
Es wurde anstrengender, als er befürchtet hatte. Seine Mutter fragte nach
Freundinnen und Frauen, die es werden könnten; sein Vater bedachte
missbilligend die Kinderphotos, die ihn mit seinem Bruder zeigten, was seine
Oma zum Glück nicht mitbekam, weswegen Nathan auch dieses Mal nicht den
schon obligatorischen Streit zur Verteidigung von Onkel Johannes begann.
Tore nippte im Sofa lümmelnd an seinem Kaffeebecher, während die Familie
sich um den Esstisch verteilt hatte, und Nathan sich beinahe anhörte wie auf
einem Prüfstand. Christian musste Heiratspläne über sich ergehen lassen,
sogleich wurde Nathan nach einer 'kleinen Freundin' gefragt, was Tore zum
Grinsen brachte. /Klein bin ich ja schon, ob ich aufzeigen sollte, um
wenigstens ein Kriterium zu erfüllen?/ Aber Nathans verbissene Miene verbot
jeden Spaß, und so hielt er sich weiterhin am Kaffee nuckelnd zurück.
Immerhin konzentrierte sich die größte Aufmerksamkeit auf Christian und
dessen baldiges Kind. Zwar waren die Eltern nicht sehr begeistert davon,
dass Lydia unverheiratet schwanger geworden war, aber sie freuten sich
dennoch über ihr baldiges Enkelchen. Nathan atmete erleichtert auf, als nach
einer ausgiebigen Verabschiedung seine Eltern und sein Bruder endlich
abgefahren waren.
Danach wurde es noch einmal fast genauso stressig, als er seinen Großeltern
erklärte, dass er mit Tore ebenfalls schon abreisen würde und versprechen
musste, bald wiederzukommen. Er atmete erst erleichtert auf, als sie das
Dorf hinter sich gelassen hatten und auf die Autobahn eingebogen waren. "So,
jetzt hast du also mal meine Eltern in Fahrt miterlebt. So sieht ein
Zusammentreffen von ihnen und mir meistens aus." Mit einem schiefen Grinsen
schaltete er einen Gang hoch. "Nur dreifach schlimmer, weil im Normalfall
länger und ohne Ablenkung."
Tore wiegte den Kopf und murmelte "Da kann ich dir versichern, dass ein
Nachmittag mit meiner Mutter und ihrem gestörten Therapeutenmacker
sicherlich noch um das Zehnfache schlimmer ist. Sie sind zwar offiziell
nicht dagegen, dass ich schwul bin, aber versuchen es mir dabei immer und
immer wieder abzutherapieren."
Er warf einen Blick auf die vorbeihuschende Landschaft und fragte leise
"Willst du wissen, was ich glaube, warum ich so... komisch bin?"
"Ja, natürlich." Nathan sah kurz zu Tore hin und nickte dann.
Tore hatte seine Turnschuhe abgestreift und stemmte nun die Füße in den
geringelten Socken gegen die Klappe vom Handschuhfach. "Ich glaube, dass die
Schwulen, die mit einem Mal zu dritt Vater von mir, gerade mal zwei geworden
waren, unheimliche Angst hatten, dass man sie als Pädophile ansieht. Hm,
vielleicht, dass sie sich selber so sehen müssen. Deswegen haben sie mich
gar nicht angefasst, wirklich gar nicht. Der eine hat sich sogar
Backofenhandschuhe angezogen, wenn er mich baden sollte."
Er warf einen Seitenblick auf Nathan. "Als meine Mutter dann zurückgekommen
ist, war ich mir sicher, dass es so sein muss, dass man mich nicht berühren
darf. Von ihr wollte ich das auch gar nicht. Vielleicht ist es ja das." Er
hob eine Hand. "Von dir wollte ich es aber... gestern Nacht und heute auch;
wenn du Ofenhandschuhe hast, wirf sie bloß weg, ja?"
Nathan musste lachen, auch wenn es insgesamt nicht zum Lachen sein sollte.
Aber das mit den Ofenhandschuhen fand er einfach niedlich. "Wenn du nicht
willst, dass ich mir die Finger verbrenne, wenn ich Plätzchen backe oder
Auflauf mache, dann werde ich sie wohl oder übel behalten müssen." Er sah zu
seinem Freund und griff dann nach seiner Hand, um sie an seine Lippen zu
ziehen und sie zu küssen, erst auf den Handrücken, dann auf die Innenfläche
und das Gelenk, während er den Blick wieder auf die Straße richtete.
"Ich will dich auch berühren. Gerade im Moment und immerzu." Als er dann
davon abließ, an den Fingerspitzen zu knabbern, und zum Überholen eines
Lastwagens ansetzte, ließ er seine Finger zwischen Tores gleiten und drückte
ihn sacht.
Tore grinste. Nathan lachte, hielt ihn nicht für einen Spinner; das tat ihm
ebenso gut wie die Zärtlichkeiten zwischen ihnen. "Nimm Topflappen. Ich
schenke dir auch welche. Nur diese Handschuhe kann ich wirklich nicht
leiden." Er warf dem blonden Mann neben sich einen weichen Blick zu, dann
glättete er ihm die Haare leicht. "Ich freu mich." Eine Kinderstimme
nachahmend fragte er unter Grinsen "Wie laaaaaaaaange noch?"
"Okay, ich steige auf Topflappen um." Wieder musste Nathan lachen; er
knuffte Tore in die Seite, ohne ihn jedoch loszulassen. "Und gedulden wirst
du dich schon noch müssen. Zweieinhalb Stunden; das schafft selbst Dunja,
also wirst auch du es können."
Kap. 8
[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]
Kap. 9
Mit einem Lächeln streckte Nathan die Hand aus und schaltete das Licht aus,
froh darüber, dass er es vom Bett erreichen konnte. Dann bemerkte er, dass
er das im Flur vergessen hatte und beschloss schon im gleichen Moment, dass
es ihm egal war. Der kleine Streifen, der durch die Tür herein fiel, würde
sie nicht vom Schlafen abhalten. Aber in dem Augenblick wollte er sich
wirklich nicht von Tore wegbewegen, nicht einmal die wenige Schritte zum
Schalter.
Er vergrub das Gesicht in den Haaren seines Freundes, genoss es, bei ihm zu
sein und ihn halten zu dürfen, genoss seinen Geruch und seine Nähe, seine
Wärme und das Gefühl der weichen Haut an seiner. /Er ist herrlich, selbst
wenn er austickt./
Langsam drifteten seine Gedanken weg, während er auf Tores gleichmäßigen
Atem lauschte. Der Wind ließ die Bäume draußen rauschen, gedämpft drang
Motorenbrummen herauf, eingehüllt in die weiche Watte seiner Müdigkeit.
Irgendwo klirrte etwas, dann bellte Dunja einmal kurz und holte ihn damit
wieder etwas weiter zurück in die Welt der Wachen.
/Hm, nein, sie kann jetzt nicht raus wollen. Wir waren vorhin/, dachte er
schläfrig und blinzelte dann verwirrt, als er Schritte hörte, die nicht von
Hundepfoten stammten. Doch bevor er die Eindrücke richtig sortiert hatte,
wurde die Schlafzimmertür aufgestoßen.
"Nathan, bist du noch wach? Tut mir leid. Ich..."
Die Stimme verstummte abrupt, und Nathan fühlte sich, als hätte ihm jemand
Eiswasser über den Kopf gekippt, als er alles in einem Moment registrierte.
Christians Stimme, Christians Stocken, Christians aufgerissene Augen und den
fassungslosen Ausdruck in dem blassen, vom Flurlicht erhellten Gesicht. /Oh
Gott, Scheiße!!/
Tores Schlafunterlage zuckte und warf ihn ab. Unsanft landete er auf der
Matratze, während er langsam wach wurde. "Wasnlos?" Grummelig wollte er
Nathan wieder an sich raffen, aber bemerkte dann den anderen Mann im
Schlafzimmer. /Chris ist hier, wie nett... Nett?/ Er grübelte schlaftrunken,
dann hob er abrupt den Kopf. "Shit. Chris?"
Christian tastete nach dem Schalter, ohne den Blick vom Bett zu lassen, dann
ging das Licht an und ließ Nathan in der unerwarteten Helligkeit blinzeln.
"Tore? Nathan? Gott verdammt, was... Das ist..."
Das erste, was Nathan auf der Zunge lag, war ein Spruch in der Art wie 'Es
ist nicht so, wie du denkst'. Aber das war es sehr wohl. Stattdessen schlug
er die Decke beiseite und stand auf. "Na großartig; dass du es so erfährst,
hatte ich nicht geplant. Auch gut. Jetzt weißt du es. Halt die Luft an, atme
tief durch und dann sag mir, warum du eigentlich hier bist. Ist alles okay?
Ist etwas mit Lydia?"
Dass Christian einen Schritt zurückwich, als er auf ihn zukam, ließ Nathans
Herz tiefer rutschen, und die Mischung aus Verwirrung, Abscheu, Wut und
Fassungslosigkeit bewirkte, dass sich etwas Kaltes in seinem Bauch zu
sammeln schien, hart, schwer und unverdaulich. /Hätte ich ihm nur nicht den
Ersatzschlüssel gegeben!/
"Du bist eine gottverdammte Schwuchtel!"
Nathan blieb stehen und presste die Lippen aufeinander. Sehr deutlich merkte
er, dass es ihm sehr wohl etwas ausmachte, von seinem Bruder so bezeichnet
zu werden. Dass ihn dieser abfällige Blick durchaus verletzte, auch wenn er
sich wieder und wieder gesagt hatte, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass
Christian mit einem Schulterzucken darüber hinweg ging. "Ich bin schwul,
richtig, aber weder gottverdammt, noch Schwuchtel."
Tore wurde kalt. Chris war doch immer so freundlich und gleichmäßig ruhig
gewesen bislang. Und nun, wie er allein da in der Tür stand. Anklagend und
seinen Bruder wütend anbrüllend. Ihm wurde bewusst, dass er nicht würde
helfen können, nur alles schlimmer machen. Deswegen setzte er sich still an
das Kopfende und zog die Decke um sich. Zum Wärmen, aber auch als Schutz.
Schweigend beobachtete Tore, wie Nathan und Chris sich gegenüber standen und
anstarrten, dann wandte Chris sich ab, offensichtlich um das Haus zu
verlassen. /Shit./
Nathan ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte gegen den Schmerz und die
hilflose Wut. "Was ist, willst du jetzt einfach gehen? Ohne ein weiteres
Wort? Willst du es machen wie Papa? Wirst du erklären, du hättest keinen
Bruder mehr? Scheiße, Chris! Das kannst du nicht!" Er folgte ihm auf den
Flur, hätte ihn am liebsten festgehalten und durchgeschüttelt. "Ich bin
schwul, nicht pestkrank! Das ist weder ansteckend, noch tut es jemandem
weh!"
Er war drauf und dran, ihm zu erklären, dass Schwule nicht automatisch jeden
Mann anmachten und dass Tore ihn bestimmt auch in Ruhe gelassen hatte, hielt
sich dann aber zurück. /Lass ihn aus dem Spiel. Noch ist er nur auf dich
sauer, Mann./
"Du bist pervers!" Es klang, als hätte Christian ausgespuckt. Er drehte sich
nicht noch einmal um, als er die Tür öffnete, nach draußen ging und sie
regelrecht behutsam hinter sich schloss. Nathan starrte ihm hinterher und
fühlte sich leer, während sich in ihm lauter kleine Stachel ausbreiteten,
die sich überall festsetzten und zu stechen begannen. Erst nur leicht, doch
dann immer schlimmer werdend.
"Scheiße", flüsterte er. Er lehnte sich gegen die Wand, schlang frierend die
Arme um seinen Oberkörper und schloss die Augen. "Das kannst du doch nicht
machen, Chris."
Tore hörte das verdächtig leise Klicken der Tür, nachdem die beiden sich nur
wenig angeschrieen hatten. Er seufzte und holte den Troll aus seiner Tasche.
Den würde er sicherlich brauchen. Dann zog er sich ein weites, langarmiges
Shirt und seine geringelten Stricksocken über und nahm für Nathan ein
T-Shirt mit in den Flur. Er küsste seinen Freund leicht auf die Schulter und
drückte es ihm in die Hand, dann ging er schweigend weiter in die Küche
durch, um einen Kakao zu kochen.
Erst als er Milch in die bauchigen, grünen Becher gegeben hatte, rief er
leise nach Nathan. "Komm her zu mir und lass dich trösten, ja? Er muss das
erst mal verkraften. Jetzt fühlt er sich betrogen und belogen und schnappt
deswegen so, aber morgen tut es ihm bestimmt schon wieder leid, Nat."
Endlich stieß sich Nathan von der Wand ab und zog das Shirt über, ehe er zu
Tore in die Küche tappte. Er umarmte ihn von hinten und lehnte den Kopf an
seine Schulter, froh darüber, nicht allein zu sein. "Idiot... Er hätte ja
nicht einfach so reinkommen müssen. Im Normalfall klopft oder klingelt man,
selbst wenn man einen Ersatzschlüssel hat. Idiot. Scheiße."
Eine Weile standen sie einfach so da, und Nathan ließ Tore nicht los, bis er
registrierte, dass seine Füße langsam die Temperatur der Bodenkacheln
anzunehmen begannen. Mit den Tassen gingen sie ins Wohnzimmer und setzten
sich aufs Sofa. Nathan griff nach der Wolldecke und breitete sie über ihre
Beine, ehe er seinen Freund wieder an sich zog. Er trank einen Schluck
Kakao, starrte dann eine Weile in die braune Flüssigkeit, auf der kleine
Schaumbläschen ihre Bahnen zogen.
"Ich hoffe, du hast recht", murmelte er schließlich. "Aber Onkel Johannes
hat das auch gehofft, als meine Eltern ihn rausgeworfen haben. Und seitdem
reden sie nicht einmal mehr von ihm. Als hätte Papa keinen Bruder." Er
seufzte und lehnte sich gegen Tore. "Immerhin ist Christian kein so
verbohrter Religionsspinner. Scheiße. Aber dass er mir einfach den Rücken
zugedreht hat. Dass er einfach gegangen ist..."
Tore hatte seinen Kakao ausgetrunken und befand für sich, dass es ohnehin
Zeit für Schokolade gewesen war. Gähnend kuschelte er sich an Nathan an und
murmelte nachdenklich "Warum ist er überhaupt hergekommen? Meinst du, etwas
mit Lydia ist schiefgelaufen?"
"Ich weiß es nicht." Nathan vergrub das Gesicht in Tores zerzausten Haaren
und starrte durch die blonden Strähnen zum Fenster hin, das abweisend und
kalt in der Schwärze der Nacht wirkte. /Verdammt. Verdammt, verdammt,
verdammt. Wenn er hierher gefahren ist, ist es ernster. Er hat kein Auto,
und jetzt steht er draußen in der Kälte. Der letzte Bus muss der sein, mit
dem er gekommen ist. Scheiße. Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen. Aber
ich habe ihn ja schlecht aufhalten können. Dafür hätte ich mich wohl mit ihm
schlagen müssen. Scheiße. Idiot! Komm zurück./
Nathan hatte seine noch halbvolle Tasse irgendwann in die Küche gebracht,
als Tore beschlossen hatte, dass Christian wohl doch nicht mehr zurückkommen
wollte. Er ging gähnend ins Badezimmer, um sich noch einmal die Zähne zu
putzen. Die Schramme auf seinem Rücken war schon bläulich und von leicht
abgeschabter Haut bedeckt.
Da Nathan noch die Tassen spülte, was Tore wie eine Entschuldigung für das
alleine in der Küche rumstehen vorkam, sah er überhaupt noch einmal aus dem
Fenster. "Du, dein Bruder steht da unten an der Straßenecke und starrt zum
Haus rüber." Christian schien nachzudenken, zu zögern. Eine Haltung, die
Tore ziemlich bekannt vorkam. "Ich glaube, dass er sich nur nicht mehr rein
traut. Geh doch mal runter und zeig ihm, dass du nicht sauer bist, Nat."
Nathan ließ die Bürste ins Spülwasser fallen und stürzte zu Tore hin. Er
warf nur einen kurzen Blick nach draußen und auf die Gestalt, die frierend
den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, dann war er auch schon wieder
im Flur. Ohne Socken schlüpfte er die Stiefel, warf sich den Parka über und
war schon fast unten, bevor er auch nur halbwegs zum Nachdenken kam. /Was
sag ich ihm? Was, wenn er mir nur wieder vorhält, ich bin pervers?/
Die Schlafanzughose war eindeutig zu dünn für das Wetter, stellte er fest,
als er das Haus verließ und die Kälte schneidend durch den Stoff drang.
Gänsehaut überzog seinen Körper, und für einen flüchtigen Moment musste
Nathan grinsen, als er daran dachte, dass es auf jeden Fall jedes Begehren
im Keim erstickte und Tore sich nicht in der Nacht mit einem überaktiven
Freund plagen musste. Dann wandte Christian den Kopf und sah zu ihm hin, und
die Gedanken an Tore waren vergessen.
Sekundenlang starrten sie sich über die Straße hinweg an, ohne dass einer
von beiden sich gerührt hätte. Nathan wollte etwas sagen und hatte doch
Angst, dass es das Falsche war, dass Christian sich wieder einfach nur
wegdrehen würde. /Gott, das ist albern! Ich stehe im Schlafanzug mitten im
Winter nachts auf der Straße und traue mich nicht, meinen eigenen Bruder
anzusprechen./
"Chris, mir ist saukalt. Wie wäre es, du kommst mit hoch, lässt mich
wahlweise Kaffee, Tee oder sonst was Warmes machen, und wir setzen das
Anstarren dann oben fort?"
Christian zögerte, dann kam er zu ihm, hielt seinen Bruder jedoch am Arm
fest, als dieser sich stumm umdrehen und zum Haus gehen wollte. Angst schoss
durch Nathan hindurch, Angst, dass er ihm lediglich sagen wollte, dass er
genau das machen würde, was sein Vater getan hatte. Sich nur noch mal
verabschieden. Oder ihn bitten, ihn in die Stadt zu fahren und sich dann nie
wieder zu melden. Oder...
"Es tut mir leid wegen eben, Nathan. Ich habe den Kopf verloren. Ich hatte
mit gar nichts gerechnet, wollte einfach nur zu dir und mich auskotzen und
dann war da... ich... und ausgerechnet Tore!" Christian verstummte, ließ
seinen Arm aber nicht los. Er wirkte verwirrt, halb erfroren und am Ende
seiner Kräfte.
Nathan hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand die Finger von der Kehle
genommen und als würde sein Herz wieder normal seine Arbeit leisten, ohne
Stolpersteinen ausweichen zu müssen. "Es ist okay, Chris. Komm einfach mit
hoch. Ich bin nicht sauer. Es war alles etwas überraschend und mit
Sicherheit nicht die Art, wie du es erfahren solltest."
Er wollte noch mehr sagen, wollte ihn fragen, warum er überhaupt mitten in
der Nacht bei ihm einfiel. Doch ein Blick in Christians Gesicht zeigte ihm,
dass sein Bruder erst mal Wärme brauchte, einen Platz auf dem Sofa und etwas
Ruhe. /Und dann kann er erzählen. Ich glaube, danach ist er wieder
aufnahmefähiger./ Dann erst fiel ihm auf, dass Christian für das Wetter auch
nicht die richtige Jacke anhatte und nach wie vor die Schuhe trug, die er
sich eigentlich für die Kirche herausgesucht hatte. /Scheiße, und damit
stiefelt er stundenlang durch den Schnee!/
Energisch machte er sich frei und schob seinen Bruder in den Hausflur und
dort in den Aufzug. "Morgen hast du eine Erkältung wie seit Jahren nicht
mehr", prophezeite er ihm, während sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte.
"Das nächste Mal, wenn du vorhast, stundenlange Wanderungen zu machen, leih
dir wenigstens meine Stiefel - und wenn du schon dabei bist, nimm auch noch
Dunja mit. Der tust du damit zumindest einen Gefallen."
Immerhin entlockte das Christian ein kleines Grinsen. Als sie in die helle
Wohnung traten, registrierte Nathan besorgt die blauen Lippen und Christians
zitternde Hände, als dieser seine Jacke an die Gardarobe hängte und sich
dann irgendwie unsicher umdrehte, um Tore anzusehen, der in der Tür zum
Wohnzimmer stand. "Tut mir leid wegen vorhin..."
"Ich koche Kaffee. Ich glaube, den brauchen wir jetzt mehr als Tee. Gibst du
ihm die Decke, Tore? Und vielleicht noch ein paar dicke Socken von mir. Die
Schublade unter dem Spiegelschrank im Schlafzimmer. Andererseits..." Ein
weiterer Blick auf seinen Bruder überzeugte Nathan davon, dass es keine
schlechte Idee war. "Baden wäre jetzt wohl besser. Sonst taust du gar nicht
mehr auf."
"Du bist eine Glucke, Nathan." Christian musste grinsen. "Ich hätte es
eigentlich wissen müssen. Das warst du schon immer, und dazu diese pinken
Kacheln!"
Dennoch schien er die Idee für gut zu befinden, denn er verschwand erst
einmal im Bad. Nathan schnitt eine Grimasse, als er das charakteristische
Geräusch des sich drehenden Schlüssels hörte.
"Das hat er vorher nicht gemacht", murrte er leise genug, dass Christian es
nicht würde hören können. "Aber immerhin ist er wieder hier und wird auch
die Nacht über bleiben, selbst wenn ich ihn dafür einsperren muss."
Tore kam mit den Socken und einer warm aussehenden Trainingshose aus dem
Schlafzimmer zurück und bemerkte leise "Das wirst du nicht müssen. Hier.
Ich... geh euch aus dem Weg." Er sah forschend in Nathans Augen. "Bis
nachher, hm?"
Nathan erwiderte den Blick einen Moment, ehe er sich vorbeugte und Tore
küsste. "Bis nachher, Schatz." Er nahm ihm die Kleidung ab, zögerte kurz und
tat dann doch, wonach ihm zumute war. Rasch zog er Tore in seine Arme und
drückte ihn fest an sich. "Danke, dass du aus dem Fenster geschaut hast. Ich
bin so froh, dass er zurück ist."
Nach einem weiteren Kuss schickte er seinen Freund dann doch mit einem
kleinen Klaps auf den Hintern und einem Grinsen dabei ins Bett, ehe er die
zweite Bettgarnitur aus dem Schlaf- ins Wohnzimmer brachte und anschließend
endlich den Kaffee aufsetzte. Während die Maschine gemütlich vor sich hin
blubberte und Nathan Tassen, Milch und Zucker zusammensuchte, begann er
nahezu automatisch, seine Liste an Argumenten, die er schon unzählige Male
gedanklich für den Fall des überraschenden Outings erstellt hatte,
durchzugehen.
Als er mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam und sein Blick auf den
Kleiderhaufen auf dem Sofa fiel, musste er grinsen. Immerhin war sein Bruder
nicht in die noch im Flur verstreuten Sachen gerannt... andererseits wäre er
davon wenigstens gewarnt gewesen. /Warum ist er überhaupt hier? Die
Autofahrt ist schon lang genug. Warum hat er mitten in der Nacht diese halbe
Weltreise mit dem Bus auf sich genommen?/
Christian sah wesentlich besser aus, als er schließlich in Nathans dicken,
blauen Frotteebademantel gehüllt ins Wohnzimmer kam. Die unnatürliche Blässe
war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Lippen hatten wieder ihre normale
Farbe angenommen. Dennoch zog er sich dankbar zusätzlich die Hose und die
Socken an und verkroch sich auch schon halb unter dem Federbett, ehe er nach
der Kaffeetasse griff. Er nahm einen kleinen, vorsichtigen Schluck und
lehnte sich mit einem leisen Seufzen zurück.
Dann wandte er den Kopf, sah Nathan eine Weile an und stellte die erste der
unvermeidlichen Fragen. "Seit wann weißt du es denn?"
/Das klingt, als sei ich krank oder schwanger./ Nathan wickelte sich in die
Wolldecke, die er sich zuvor schon mit Tore geteilt hatte, ehe er
antwortete, obwohl ihn viel mehr interessierte, warum sein Bruder
hergekommen war. Immerhin hatten sie die ganze Nacht Zeit, und er war viel
zu froh, dass Christian nicht einfach wirklich gegangen war.
Allzu lange dauerte es dann aber doch nicht. Christian war von dem Auf und
Ab des Tages, den diversen Hoch und Tiefs derart erschöpft, dass er trotz
des Kaffees ziemlich schnell begann, immer wieder wegzunicken. Nathan nahm
ihm mit einem Grinsen die Tasse ab, versprach ihm, dass sie am nächsten
Morgen weiterreden würden und kehrte, nachdem er das Licht ausgeschaltet
hatte, zu Tore zurück.
Er konnte nicht anders, als ihn einen Moment zu betrachten, wie er entspannt
und mit zerzausten Haaren in seinem Bett lag, die Augen geschlossen und tief
und gleichmäßig atmend. Wärme erfüllte Nathan und machte ihm wieder einmal
bewusst, dass es unmöglich falsch sein konnte, was er empfand. /Jemanden zu
lieben, mit ihm zusammen sein und ihn beschützen zu wollen, ist nicht
pervers. Das wirst du begreifen, wenn du darüber nachdenkst, Chris. Auch
wenn es dir jetzt komisch vorkommt./ Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken,
krabbelte er zu ihm, um sich unter der Decke an ihn zu schmiegen.
"Was ist, willst du jetzt einfach gehen? Ohne ein weiteres Wort? Willst du
es machen wie Papa? Wirst du erklären, du hättest keinen Bruder mehr?
Scheiße, Chris! Das kannst du nicht!" Er folgte ihm auf den Flur, hätte ihn
am liebsten festgehalten und durchgeschüttelt. "Ich bin schwul, nicht
pestkrank! Das ist weder ansteckend, noch tut es jemandem weh!"
Er war drauf und dran, ihm zu erklären, dass Schwule nicht automatisch jeden
Mann anmachten und dass Tore ihn bestimmt auch in Ruhe gelassen hatte, hielt
sich dann aber zurück. /Lass ihn aus dem Spiel. Noch ist er nur auf dich
sauer, Mann./
"Du bist pervers!" Es klang, als hätte Christian ausgespuckt. Er drehte sich
nicht noch einmal um, als er die Tür öffnete, nach draußen ging und sie
regelrecht behutsam hinter sich schloss. Nathan starrte ihm hinterher und
fühlte sich leer, während sich in ihm lauter kleine Stachel ausbreiteten,
die sich überall festsetzten und zu stechen begannen. Erst nur leicht, doch
dann immer schlimmer werdend.
"Scheiße", flüsterte er. Er lehnte sich gegen die Wand, schlang frierend die
Arme um seinen Oberkörper und schloss die Augen. "Das kannst du doch nicht
machen, Chris."
Tore hörte das verdächtig leise Klicken der Tür, nachdem die beiden sich nur
wenig angeschrieen hatten. Er seufzte und holte den Troll aus seiner Tasche.
Den würde er sicherlich brauchen. Dann zog er sich ein weites, langarmiges
Shirt und seine geringelten Stricksocken über und nahm für Nathan ein
T-Shirt mit in den Flur. Er küsste seinen Freund leicht auf die Schulter und
drückte es ihm in die Hand, dann ging er schweigend weiter in die Küche
durch, um einen Kakao zu kochen.
Erst als er Milch in die bauchigen, grünen Becher gegeben hatte, rief er
leise nach Nathan. "Komm her zu mir und lass dich trösten, ja? Er muss das
erst mal verkraften. Jetzt fühlt er sich betrogen und belogen und schnappt
deswegen so, aber morgen tut es ihm bestimmt schon wieder leid, Nat."
Endlich stieß sich Nathan von der Wand ab und zog das Shirt über, ehe er zu
Tore in die Küche tappte. Er umarmte ihn von hinten und lehnte den Kopf an
seine Schulter, froh darüber, nicht allein zu sein. "Idiot... Er hätte ja
nicht einfach so reinkommen müssen. Im Normalfall klopft oder klingelt man,
selbst wenn man einen Ersatzschlüssel hat. Idiot. Scheiße."
Eine Weile standen sie einfach so da, und Nathan ließ Tore nicht los, bis er
registrierte, dass seine Füße langsam die Temperatur der Bodenkacheln
anzunehmen begannen. Mit den Tassen gingen sie ins Wohnzimmer und setzten
sich aufs Sofa. Nathan griff nach der Wolldecke und breitete sie über ihre
Beine, ehe er seinen Freund wieder an sich zog. Er trank einen Schluck
Kakao, starrte dann eine Weile in die braune Flüssigkeit, auf der kleine
Schaumbläschen ihre Bahnen zogen.
"Ich hoffe, du hast recht", murmelte er schließlich. "Aber Onkel Johannes
hat das auch gehofft, als meine Eltern ihn rausgeworfen haben. Und seitdem
reden sie nicht einmal mehr von ihm. Als hätte Papa keinen Bruder." Er
seufzte und lehnte sich gegen Tore. "Immerhin ist Christian kein so
verbohrter Religionsspinner. Scheiße. Aber dass er mir einfach den Rücken
zugedreht hat. Dass er einfach gegangen ist..."
Tore hatte seinen Kakao ausgetrunken und befand für sich, dass es ohnehin
Zeit für Schokolade gewesen war. Gähnend kuschelte er sich an Nathan an und
murmelte nachdenklich "Warum ist er überhaupt hergekommen? Meinst du, etwas
mit Lydia ist schiefgelaufen?"
"Ich weiß es nicht." Nathan vergrub das Gesicht in Tores zerzausten Haaren
und starrte durch die blonden Strähnen zum Fenster hin, das abweisend und
kalt in der Schwärze der Nacht wirkte. /Verdammt. Verdammt, verdammt,
verdammt. Wenn er hierher gefahren ist, ist es ernster. Er hat kein Auto,
und jetzt steht er draußen in der Kälte. Der letzte Bus muss der sein, mit
dem er gekommen ist. Scheiße. Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen. Aber
ich habe ihn ja schlecht aufhalten können. Dafür hätte ich mich wohl mit ihm
schlagen müssen. Scheiße. Idiot! Komm zurück./
Nathan hatte seine noch halbvolle Tasse irgendwann in die Küche gebracht,
als Tore beschlossen hatte, dass Christian wohl doch nicht mehr zurückkommen
wollte. Er ging gähnend ins Badezimmer, um sich noch einmal die Zähne zu
putzen. Die Schramme auf seinem Rücken war schon bläulich und von leicht
abgeschabter Haut bedeckt.
Da Nathan noch die Tassen spülte, was Tore wie eine Entschuldigung für das
alleine in der Küche rumstehen vorkam, sah er überhaupt noch einmal aus dem
Fenster. "Du, dein Bruder steht da unten an der Straßenecke und starrt zum
Haus rüber." Christian schien nachzudenken, zu zögern. Eine Haltung, die
Tore ziemlich bekannt vorkam. "Ich glaube, dass er sich nur nicht mehr rein
traut. Geh doch mal runter und zeig ihm, dass du nicht sauer bist, Nat."
Nathan ließ die Bürste ins Spülwasser fallen und stürzte zu Tore hin. Er
warf nur einen kurzen Blick nach draußen und auf die Gestalt, die frierend
den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte, dann war er auch schon wieder
im Flur. Ohne Socken schlüpfte er die Stiefel, warf sich den Parka über und
war schon fast unten, bevor er auch nur halbwegs zum Nachdenken kam. /Was
sag ich ihm? Was, wenn er mir nur wieder vorhält, ich bin pervers?/
Die Schlafanzughose war eindeutig zu dünn für das Wetter, stellte er fest,
als er das Haus verließ und die Kälte schneidend durch den Stoff drang.
Gänsehaut überzog seinen Körper, und für einen flüchtigen Moment musste
Nathan grinsen, als er daran dachte, dass es auf jeden Fall jedes Begehren
im Keim erstickte und Tore sich nicht in der Nacht mit einem überaktiven
Freund plagen musste. Dann wandte Christian den Kopf und sah zu ihm hin, und
die Gedanken an Tore waren vergessen.
Sekundenlang starrten sie sich über die Straße hinweg an, ohne dass einer
von beiden sich gerührt hätte. Nathan wollte etwas sagen und hatte doch
Angst, dass es das Falsche war, dass Christian sich wieder einfach nur
wegdrehen würde. /Gott, das ist albern! Ich stehe im Schlafanzug mitten im
Winter nachts auf der Straße und traue mich nicht, meinen eigenen Bruder
anzusprechen./
"Chris, mir ist saukalt. Wie wäre es, du kommst mit hoch, lässt mich
wahlweise Kaffee, Tee oder sonst was Warmes machen, und wir setzen das
Anstarren dann oben fort?"
Christian zögerte, dann kam er zu ihm, hielt seinen Bruder jedoch am Arm
fest, als dieser sich stumm umdrehen und zum Haus gehen wollte. Angst schoss
durch Nathan hindurch, Angst, dass er ihm lediglich sagen wollte, dass er
genau das machen würde, was sein Vater getan hatte. Sich nur noch mal
verabschieden. Oder ihn bitten, ihn in die Stadt zu fahren und sich dann nie
wieder zu melden. Oder...
"Es tut mir leid wegen eben, Nathan. Ich habe den Kopf verloren. Ich hatte
mit gar nichts gerechnet, wollte einfach nur zu dir und mich auskotzen und
dann war da... ich... und ausgerechnet Tore!" Christian verstummte, ließ
seinen Arm aber nicht los. Er wirkte verwirrt, halb erfroren und am Ende
seiner Kräfte.
Nathan hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand die Finger von der Kehle
genommen und als würde sein Herz wieder normal seine Arbeit leisten, ohne
Stolpersteinen ausweichen zu müssen. "Es ist okay, Chris. Komm einfach mit
hoch. Ich bin nicht sauer. Es war alles etwas überraschend und mit
Sicherheit nicht die Art, wie du es erfahren solltest."
Er wollte noch mehr sagen, wollte ihn fragen, warum er überhaupt mitten in
der Nacht bei ihm einfiel. Doch ein Blick in Christians Gesicht zeigte ihm,
dass sein Bruder erst mal Wärme brauchte, einen Platz auf dem Sofa und etwas
Ruhe. /Und dann kann er erzählen. Ich glaube, danach ist er wieder
aufnahmefähiger./ Dann erst fiel ihm auf, dass Christian für das Wetter auch
nicht die richtige Jacke anhatte und nach wie vor die Schuhe trug, die er
sich eigentlich für die Kirche herausgesucht hatte. /Scheiße, und damit
stiefelt er stundenlang durch den Schnee!/
Energisch machte er sich frei und schob seinen Bruder in den Hausflur und
dort in den Aufzug. "Morgen hast du eine Erkältung wie seit Jahren nicht
mehr", prophezeite er ihm, während sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte.
"Das nächste Mal, wenn du vorhast, stundenlange Wanderungen zu machen, leih
dir wenigstens meine Stiefel - und wenn du schon dabei bist, nimm auch noch
Dunja mit. Der tust du damit zumindest einen Gefallen."
Immerhin entlockte das Christian ein kleines Grinsen. Als sie in die helle
Wohnung traten, registrierte Nathan besorgt die blauen Lippen und Christians
zitternde Hände, als dieser seine Jacke an die Gardarobe hängte und sich
dann irgendwie unsicher umdrehte, um Tore anzusehen, der in der Tür zum
Wohnzimmer stand. "Tut mir leid wegen vorhin..."
"Ich koche Kaffee. Ich glaube, den brauchen wir jetzt mehr als Tee. Gibst du
ihm die Decke, Tore? Und vielleicht noch ein paar dicke Socken von mir. Die
Schublade unter dem Spiegelschrank im Schlafzimmer. Andererseits..." Ein
weiterer Blick auf seinen Bruder überzeugte Nathan davon, dass es keine
schlechte Idee war. "Baden wäre jetzt wohl besser. Sonst taust du gar nicht
mehr auf."
"Du bist eine Glucke, Nathan." Christian musste grinsen. "Ich hätte es
eigentlich wissen müssen. Das warst du schon immer, und dazu diese pinken
Kacheln!"
Dennoch schien er die Idee für gut zu befinden, denn er verschwand erst
einmal im Bad. Nathan schnitt eine Grimasse, als er das charakteristische
Geräusch des sich drehenden Schlüssels hörte.
"Das hat er vorher nicht gemacht", murrte er leise genug, dass Christian es
nicht würde hören können. "Aber immerhin ist er wieder hier und wird auch
die Nacht über bleiben, selbst wenn ich ihn dafür einsperren muss."
Tore kam mit den Socken und einer warm aussehenden Trainingshose aus dem
Schlafzimmer zurück und bemerkte leise "Das wirst du nicht müssen. Hier.
Ich... geh euch aus dem Weg." Er sah forschend in Nathans Augen. "Bis
nachher, hm?"
Nathan erwiderte den Blick einen Moment, ehe er sich vorbeugte und Tore
küsste. "Bis nachher, Schatz." Er nahm ihm die Kleidung ab, zögerte kurz und
tat dann doch, wonach ihm zumute war. Rasch zog er Tore in seine Arme und
drückte ihn fest an sich. "Danke, dass du aus dem Fenster geschaut hast. Ich
bin so froh, dass er zurück ist."
Nach einem weiteren Kuss schickte er seinen Freund dann doch mit einem
kleinen Klaps auf den Hintern und einem Grinsen dabei ins Bett, ehe er die
zweite Bettgarnitur aus dem Schlaf- ins Wohnzimmer brachte und anschließend
endlich den Kaffee aufsetzte. Während die Maschine gemütlich vor sich hin
blubberte und Nathan Tassen, Milch und Zucker zusammensuchte, begann er
nahezu automatisch, seine Liste an Argumenten, die er schon unzählige Male
gedanklich für den Fall des überraschenden Outings erstellt hatte,
durchzugehen.
Als er mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam und sein Blick auf den
Kleiderhaufen auf dem Sofa fiel, musste er grinsen. Immerhin war sein Bruder
nicht in die noch im Flur verstreuten Sachen gerannt... andererseits wäre er
davon wenigstens gewarnt gewesen. /Warum ist er überhaupt hier? Die
Autofahrt ist schon lang genug. Warum hat er mitten in der Nacht diese halbe
Weltreise mit dem Bus auf sich genommen?/
Christian sah wesentlich besser aus, als er schließlich in Nathans dicken,
blauen Frotteebademantel gehüllt ins Wohnzimmer kam. Die unnatürliche Blässe
war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Lippen hatten wieder ihre normale
Farbe angenommen. Dennoch zog er sich dankbar zusätzlich die Hose und die
Socken an und verkroch sich auch schon halb unter dem Federbett, ehe er nach
der Kaffeetasse griff. Er nahm einen kleinen, vorsichtigen Schluck und
lehnte sich mit einem leisen Seufzen zurück.
Dann wandte er den Kopf, sah Nathan eine Weile an und stellte die erste der
unvermeidlichen Fragen. "Seit wann weißt du es denn?"
/Das klingt, als sei ich krank oder schwanger./ Nathan wickelte sich in die
Wolldecke, die er sich zuvor schon mit Tore geteilt hatte, ehe er
antwortete, obwohl ihn viel mehr interessierte, warum sein Bruder
hergekommen war. Immerhin hatten sie die ganze Nacht Zeit, und er war viel
zu froh, dass Christian nicht einfach wirklich gegangen war.
Allzu lange dauerte es dann aber doch nicht. Christian war von dem Auf und
Ab des Tages, den diversen Hoch und Tiefs derart erschöpft, dass er trotz
des Kaffees ziemlich schnell begann, immer wieder wegzunicken. Nathan nahm
ihm mit einem Grinsen die Tasse ab, versprach ihm, dass sie am nächsten
Morgen weiterreden würden und kehrte, nachdem er das Licht ausgeschaltet
hatte, zu Tore zurück.
Er konnte nicht anders, als ihn einen Moment zu betrachten, wie er entspannt
und mit zerzausten Haaren in seinem Bett lag, die Augen geschlossen und tief
und gleichmäßig atmend. Wärme erfüllte Nathan und machte ihm wieder einmal
bewusst, dass es unmöglich falsch sein konnte, was er empfand. /Jemanden zu
lieben, mit ihm zusammen sein und ihn beschützen zu wollen, ist nicht
pervers. Das wirst du begreifen, wenn du darüber nachdenkst, Chris. Auch
wenn es dir jetzt komisch vorkommt./ Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken,
krabbelte er zu ihm, um sich unter der Decke an ihn zu schmiegen.
Tore erwachte an Nathan gekuschelt und seufzte leise. Sein Troll lag auf der
anderen Seite des Bettes, unbeachtet und nicht gebraucht, was ihn glücklich
machte. /Wenn Nat so weiter macht, werde ich den Troll bald selber
weiterschenken./ Er küsste Nathans Schläfe einmal schnell.
Leise kramte Tore sich eine warme Hose, ein besonders schrilles T-Shirt und
ein Kopftuch mit blauen Blümchen aus der Tasche heraus, ehe er zuerst ins
Bad huschte, dann in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Schließlich schnappte
er sich Dunja, bevor sie einen der beiden Brüder wecken konnte und ging mit
ihr die kleine Straße entlang zu dem nahe gelegenen Park, in dem er sie von
der Leine losmachte, damit sie sich ein wenig austoben konnte.
Der Schnee war hier weniger dick, dafür aber überfroren, was den Spaziergang
abkürzte, auch wenn Tore durch die vielen Hunde, die spazieren geführt
werden wollten, gleich drei von Nathans Nachbarn kennen lernte. Als er
wieder in die Wohnung zurückkehrte und Dunjas Pfoten mit dem dafür
bereitliegenden Tuch abgewischt hatte, stieß er im Wohnzimmer auf Chris.
Verschlafen unter der Decke zusammengekauert blinzelte sein Studienfreund
ihn an. Müdigkeit, die nicht nur von einem Mangel an Schlaf herrührte,
strahlte von ihm aus. Tore lächelte ihm unsicher zu, dann holte er zwei
Becher mit Kaffee. Viel Milch für ihn, reichlich Zucker und ein Schuss Milch
für Chrissi. /Er dachte, er kennt mich. Er dachte, er kennt seinen Bruder.
Jetzt ist seine Welt mit einem Mal komplett falsch, als hätte er die ganze
Zeit etwas nicht kapiert. Hoffentlich fühlt er sich nicht verarscht./
"Morgen." Tore stellte den Becher vor Chris hin und hockte sich
vorsichtshalber in einiger Entfernung zu ihm auf die Fensterbank, die dank
Heizung angenehm wärmte.
"Morgen." Christian setzte sich auf und strich sich mit beiden Händen durch
die Haare, eher eine hilflose Geste, als dass sie bei seiner Frisur etwas
gebracht hätte. Er sah ihn nicht an, als er nach dem Kaffee griff und
vorsichtig einen Schluck trank. "Danke..." Einen Moment herrschte Schweigen.
"Schläft Nathan noch?"
Tore nickte und beobachtete die Nachbarn von ringsum, die von irgendwoher
mit Brötchentüten die Straße raufkamen. /Wo der Bäcker wohl ist?/ "Er war
ziemlich tot nach der ganzen Aufregung", sagte er dann sich zu Christian
zurück drehend.
"Hm... Na ja. War spät." Wieder trank Christian einen Schluck, ehe er auf-
und zu Tore schaute, ein kleines, schiefes Grinsen versuchend. "Ist die
Fensterbank bequem?"
Tore erwiderte das Grinsen leicht. "Sie ist warm." Er ruckelte sich ein
wenig zurecht und sagte dann mit der sonst nur für seine unartigen Kids in
den Camps bestimmten Festigkeit "Ich entschuldige mich nicht, das habe ich
mir abgewöhnt."
"Dafür, dass du schwul bist oder dafür, dass du es so ewig nicht gesagt
hast?" Christian seufzte und starrte wieder in seine Kaffeetasse. "Wenn du
das mit dem Schwulsein meinst, he, ganz blöd bin ich nicht, selbst wenn das
gestern so wirkte. Immerhin habe ich einen schwulen Onkel. Der hat sich das
auch nicht ausgesucht."
Tore senkte den Kopf. "Es klingt immer wie eine Strafe oder wie eine
Krankheit. So wie meine Tante meinte, dass es ja nicht meine Schuld sein
könnte, wenn ich schwul bin. Genauso wenig wie sie Schuld an ihrer
Zuckerkrankheit tragen würde. Aber nur zur allgemeinen Information, ich
leide nicht darunter, wenn ich einen Mann attraktiv finde, kein Stück. Ich
fühle mich wohl." Er lächelte leicht. "Jetzt sowieso. Und es beim Vorstellen
zu sagen, finde ich äußerst bescheuert. 'Guten Morgen, ich bin Tore, und ich
bin schwul', sehr geil."
Christian musste lachen. "Hi, ich bin Christian, und ich bin hetero. Klingt
auch nicht besser." Doch unvermittelt wurde sein Gesicht ausdruckslos; seine
Hände schlossen sich fester um die Kaffeetasse. "Und ist auch nicht
zwangsläufig besser. Entschuldige noch mal wegen der blöden Dinge, die ich
gestern gesagt habe. Es war nur... der letzte Tropfen in dem berühmten Fass.
Lyddi will abtreiben lassen."
Tore blinzelte und fragte leise "Wirklich? Oder war sie nur... im Schock?"
"Sie hat mir eine ganze Reihe Argumente aufgezählt. Wir sind beide noch
nicht mit dem Studium fertig, noch zu jung für eine Familie, noch nicht
bereit dafür, das Geld wird nicht reichen. Und so weiter." Christian atmete
tief durch, schien seiner Gefühlswelt Herr werden zu wollen und es doch
nicht ganz zu schaffen. "Aber... das ist unser Kind da in ihrem Bauch. So
klein das Wesen noch ist, das ist doch unser Kind! Sie kann doch nicht
einfach... Zum Schluss hat sie mich angeschrieen. Und ich bin gegangen,
bevor ich etwas sagen konnte, das mir hinterher nur leid tut. So wie gestern
haben wir uns noch nie gestritten. Wir haben überhaupt fast nie..."
Verstummend starrte er wieder nur blicklos in seine Tasse.
Tore hüpfte von der Fensterbank runter und ging zu ihm hin, drückte kurz
seine Schulter. "Ruf sie an. Das geht so nicht. Auch wenn sie noch so
schreit, das will sie nicht wirklich, nicht bei all den Kinderbücher, die
sie jetzt schon gehortet hat."
Christian schenkte ihm ein kleines, unsicheres Lächeln. "Du hast recht.
Danke." Er schob die Decke beiseite, stellte die Tasse auf den Tisch und
stand sich streckend auf. "Ich hoffe, ich wecke sie nicht. Andererseits will
ich mir nicht ihren Zorn auch noch deswegen zuziehen, dass ich sie nicht
angerufen habe, wenn sie jetzt schon wach ist."
Tore ging weiter durch das Wohnzimmer und tätschelte Dunjas Kopf. "Ich werde
mal zu Nat gehen und ihn fragen, woher all seine Nachbarn die Brötchen
haben."
Als er die Schlafzimmertür öffnete, wurde er von einem müde den Kopf
hebenden Nathan begrüßt, der ihn ziemlich zerknautscht ansah, um sich dann
wieder ganz in die Matratze sinken zu lassen. "Morgen", nuschelte er,
während ihm bewusst wurde, dass er verschlafen hatte und dass Dunja
vermutlich schon ziemlich ungehalten sein würde. Gleichzeitig erinnerte er
sich, dass sein Bruder auf seinem Sofa lag, dass dieser jetzt wusste, dass
er schwul war, dass Lydia anderer Meinung als Christian war, was das Kind
betraf, und dass er keinen Guten-Morgen-Kuss erhalten hatte, bevor Tore
aufgestanden war.
Zumindest dem letzten Zustand beschloss er abzuhelfen, als Tore
unvorsichtigerweise einen Schritt auf das Bett zu machte. Er richtete sich
kurz auf, griff sich eine Handvoll von Tores Shirt und zog ihn daran mit
einem kräftigen Ruck auf sich und in seine Arme, um ihm dann einen
energischen Kuss auf den Hals zu drücken.
Tore quietschte vergnügt und lachte, während er sich sehr wenig effektiv
gegen die Hände und Lippen seines Freundes wehrte. "Guten Morgen", brachte
er schließlich atemlos hervor. Dann rappelte er sich jedoch auf und entkam
Nathans kräftigen Armen geschickt. "Ich wollte Brötchen holen gehen, woher
bekommen deine Nachbarn die?"
Nathan beschrieb ihm den Weg, während er sich endlich aus dem Bett quälte
und von Tore darüber aufgeklärt wurde, dass er erst einmal in Ruhe duschen
und sich um seinen Bruder kümmern konnte, da er mit Dunja bereits draußen
gewesen war. Als er aus dem Schlafzimmer kam und an Christians Stimme hörte,
dass dieser offensichtlich mit seinem Schatz telefonierte, beschloss er, ihm
erst einmal nicht guten Morgen zu sagen und verschwand gleich im Bad.
Während sie dann gemeinsam frühstückten, nachdem Tore mit frischen Brötchen
zurückgekommen war, erzählte Christian, dass Lydia ihn mit dem Wagen ihrer
Eltern abholen würde und bat gleichzeitig etwas schuldbewusst darum, dass
sie vielleicht nicht unbedingt offenkundig machen mussten, dass sie ein Paar
waren. "Ich hätte gerne erst mal das eine geklärt, bevor ich mit dem
nächsten über sie herfalle." Nathan lachte und sagte ihm auf den Kopf zu,
dass sie vermutlich weniger Probleme damit haben würde als er, versprach es
aber.
Als jedoch Lydia eine Stunde später ankam, verstand er Christians Sorge, so
blass und verheult wie seine zukünftige Schwägerin aussah. Sie wurde umarmt
und mit einem heißen Tee zu ihrem Schatz ins Wohnzimmer verfrachtet. Nathan
und Tore zogen sich diskret in die Küche zurück, und Nathan schloss die
sonst nie benutzte Klappe der Durchreiche, um den beiden Ruhe zu gewähren.
Immerhin schien es zu helfen. Nach zwei Stunden wurde es ruhiger im
Wohnzimmer, und als er vorsichtig nachsah, ob die beiden noch lebten, konnte
er feststellen, dass sie sich auf dem Sofa sitzend nur noch fest im Arm
hielten und alles andere als zerstritten wirkten.
Unauffällig zog er den Kopf zurück und grinste Tore zu. "Alles wieder im
Lot, soweit ich das sehen konnte. Sie schmusen und sehen um Klassen besser
aus als vorher."
Tore erwiderte das Grinsen und flüsterte ihm zu "Schmusen, das klingt jetzt
wirklich gut." Er lauschte nach drüben und küsste Nathan dann vorsichtig und
so weich er konnte. /Wenn erst mal Chris und Lyddi weg sind... endlich.../
In der Tat verabschiedeten sich die beiden nach einem eher schweigsam
eingenommenen Essen zu viert. Lydia fragte nicht, wieso Tore da war, aber
sie schaute zwischen ihm und Nathan hin und her und legte den Kopf ein wenig
schief.
/Frauen./ Tore spießte ein Stück Kartoffelkloß auf, von der Oma gespendet.
/Wissen immer Bescheid, ätzend. Aber sie schaut nur, sagt nichts. Ob sie
denkt, dass Chris es nicht rafft?/ Fragend sah er Nathan an, der neben ihm
saß.
Nathan erwiderte seinen Blick kurz, dann grinste er und zuckte unauffällig
mit den Schultern. Er konnte sich denken, in welche Richtung Tores Gedanken
gingen, aber er würde nichts sagen. Weder, um irgendetwas zu bestätigen,
noch um etwas abzustreiten. Einerseits hatte er es seinem Bruder versprochen
und zum anderen hatte er keine Lust mehr auf Fragen und Diskussionen; erst
recht nicht nach diesem vielversprechenden Kuss, den Tore ihm in der
Küche... ja, geschenkt hatte. Sein Grinsen wurde zu einem Lächeln, und er
wandte sich wieder seinem Teller zu.
Christian und Lydia fuhren direkt nach dem Essen, und Nathan amüsierte sich
über sich selber, als er die Erleichterung registrierte, mit der er darauf
reagierte, dass sein Bruder ihn zum Abschied wie immer umarmte und auch Tore
kurz drückte. Er schloss die Tür hinter ihnen, lehnte sich dann dagegen und
sah zu Tore hin, ihn einfach nur an, ohne ein Wort zu sagen. /Weg sind sie.
Ich habe ihn wieder ganz für mich./ Und im Moment wollte er auch nicht im
Geringsten teilen. /Herrlich... allein die Augen. Und dieser weiche Mund./
Nathans Blick ließ sofort ungeahnte Hitze in Tore entstehen. /Verdammt, das
kann doch eigentlich nicht wahr sein. Es ist doch schon einmal schief
gegangen, soll das etwa... egal! Sehr egal!/ Mit einem Grinsen ging Tore auf
Hände und Knie und krabbelte schnell und Nathan nicht aus den Augen lassend
auf ihn zu, um ihn dann spielerisch anzuspringen und mit den Händen auf den
Oberschenkeln an die Tür zu pressen.
Er sah kurz in das ein wenig verwunderte Gesicht seines Freundes hoch, dann
grinste er wieder und murmelte "So? Endlich allein?" Langsam und bedächtig
rieb er seine Wange auf dem einen Oberschenkel entlang und erfreute sich an
der Reaktion, die sich daraufhin deutlich an Nathan zeigte.
Wärme durchflutete Nathan, die sich gleichermaßen in seinem Herz und seinen
Lenden sammelte, und er gab einen leisen Laut des Wohlbehagens von sich.
Sacht streichelte er ihm durch die Haare und lächelte auf ihn hinunter. Eine
Weile genoss er die Berührung, dann ließ er sich an dem glatten Holz langsam
in die Hocke sinken, während seine Hände über Tores Nacken, seine Schultern,
seinen Rücken glitten, bis sie seinen Po erreichten. Er umfasste ihn und zog
ihn leicht gegen sich, zwischen seine Beine, während er seine Lippen für
einen langen, weichen Kuss suchte.
Tore schloss die Augen und tastete mit der Zunge über Nathans Mund,
ertastete die feinen Bartstoppeln und den Unterschied zu der zarten Haut auf
den Lippen. Lächelnd öffnete er schließlich seinen Mund und lockte Nathan zu
sich, während er einen Arm um seine Schultern schlang und ihn über sich zog.
Kap.10
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